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German Pages 414 Year 2014
Maike Didero Islambild und Identität
Sozial- und Kulturgeographie
Band 1
Maike Didero (Dr. rer. nat.) lehrt Stadt- und Bevölkerungsgeographie an der RWTH Aachen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Migration und Stadtentwicklung sowie Diskurs- und Praxistheorien.
Maike Didero
Islambild und Identität Subjektivierungen von Deutsch-Marokkanern zwischen Diskurs und Disposition
Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der RWTH Aachen.
Der vorliegende Druck sowie das zugrundliegende Forschungsprojekt wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert (»Der Einfluss des deutschen Islambildes auf die Alltagsgestaltung und raumbezogene Identitätsbildung muslimischer Araber in Nordrhein-Westfalen« PF 350/8-1). D 82 (Diss. RWTH Aachen University), 2013
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Prolog | 7 1
Einleitung | 11 1.1. Theoretisch-methodisches Dilemma: Diskurs und Praxistheorien? | 13 1.2. Überblick über die Arbeit | 16 2
Identität und Raum: Theoretische Grundlagen | 19 2.1. Subjekt, Diskurs und Identität | 22 2.1.1. Identität, Selbst-Verständnis, Zugehörigkeit? Eine erste Begriffsklärung | 22 2.1.2. Das Subjekt von Descartes bis Foucault: Zweifel und Re-Definitionen | 27 2.1.3. Das poststrukturalistische Subjekt: Artikulationen und Hegemonie | 32 2.1.4. Die symbolische Herrschaft: Subjekt, Sprache und Gesellschaft bei Bourdieu | 39 2.1.5. Das eingesetzte und (wider-)sprechende Subjekt: Performativität nach Butler | 52 2.1.6. Versuch einer ersten Synthese: Subjekte zwischen Diskurs und Disposition | 57 2.2. Identität und Raum? Raumbezogene Zugehörigkeiten zwischen Diskurs und Alltagsleben | 59 2.2.1. Raumsemantiken – zwischen Selbst- und Fremdidentifizierung | 60 2.2.2. Raumbezogene Zugehörigkeiten – von Orten und Biographien | 65 3
Kulturelle Grenzziehungen: Das deutsche Islambild | 75
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Empirischer Zugang | 103
3.1. Das deutsche Islambild – Stand der Forschung | 76 3.1.1. Das Islambild in den Medien | 79 3.1.2. Das Islambild in der Bevölkerung | 85 3.2. Gehört der Islam zu Deutschland? Die Sarrazin-Debatte | 92 3.3. Zwischenfazit | 99 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Stand der Forschung: Marokkanische Migration nach Deutschland | 103 Feldzugang, Auswahl und Rekrutierung der Interviewpartner/-innen | 111 Qualitatives Forschungsdesign | 114 Narrative Identitäten als performative Praxis untersuchen | 119 4.4.1. Von narrativen Identitäten zu translocational positionalities | 119 4.4.2. Positionierungsanalyse | 125 4.4.3. Vorgehen bei der empirischen Analyse | 131
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Narrative Identitäten | 135 5.1. Amal: „Ich war nicht zufrieden, wie ich gelebt hatte“ | 136 5.1.1. Ansprache, Interviewsituation und Einstiegserzählung | 136 5.1.2. Feinanalysen – zentrale Sequenzen | 141 5.1.3. Zusammenschau | 163 5.2. Raif: „Ich hatte ein Vorurteil gegen Deutsche“ | 166 5.2.1. Ansprache, Interviewsituation und Einstiegserzählung | 166 5.2.2. Feinanalysen – zentrale Sequenzen | 170 5.2.3. Zusammenschau | 188 5.3. Majida: „Ich hatte in meinem Leben immer Glück gehabt“ | 192 5.3.1. Ansprache, Interviewsituation und Einstiegserzählung | 192 5.3.2. Feinanalysen – zentrale Sequenzen | 197 5.3.3. Zusammenschau | 211 5.4. Zwischenfazit – Narrative Identitäten | 214 6
Thematische Querschnittsanalyse | 217 6.1. Translokale Positionierungen | 217 6.1.1. Studienmigrant/-innen | 218 6.1.2. Arbeits- und Familienmigrant/-innen | 221 6.1.3. ‚Deutschländer‘: Die Kinder- und Enkelgeneration | 225 6.2. Wohnorte, Netzwerke und Zugehörigkeiten | 229 6.2.1. Stadträume und Wohnstandorte | 231 6.2.2. Translokale Netzwerke, Mobilität und Zugehörigkeiten | 250 6.3. Sprachen und Mediennutzung: Einbindung in transnationale Diskursfelder? | 268 6.3.1. Sprachgebrauch und Sprachkompetenzen | 268 6.3.2. Nachrichtenmedien: Präferenzen und Nutzungsmuster | 286 6.4. Religion: vielfältige Praktiken, Positionierungen und Anrufungen | 295 6.4.1. Religiosität als mehrdimensionales Phänomen | 295 6.4.2. Religiosität von Muslimen in Deutschland | 299 6.4.3. Bedeutung von Religion im Kontext narrativer Identitäten | 308 6.5. Das deutsche Islambild: Anrufungen und Artikulationen | 314 6.5.1. Islambild und Medienkonsum: Ausgesetzt sein/sich konfrontieren lassen | 315 6.5.2. Artikulationen im (Medien-)Diskurs: „das Bild korrigieren“? | 319 6.5.3. Das Islambild im Alltag | 334 6.5.4. Zwischenfazit: 9/11 als Zäsur? | 345 7
Diskussion und Fazit | 349 7.1. Wann wird das deutsche Islambild (ir-)relevant für narrative Identität und Alltagsleben? | 349 7.2. Schlussbetrachtung | 362 Literatur | 373 Anhang | 409
Prolog
Wo beginnen? Diese Frage, die sich all meinen Interviewpartner/-innen stellte, sobald ich sie aufforderte ihre Lebensgeschichte zu schildern, stellt sich an dieser Stelle auch mir. Im Folgenden wird ebenso viel die Rede sein von Subjektpositionen wie von Positionierungspraktiken. Von daher erscheint es nur allzu fair und angemessen, wenn zunächst auch die Autorin ihre Karten offenlegt und sich einer kurzen Reflexion unterzieht, wo ihre Geschichte, ihr Bezug zu dem Geschriebenen beginnt. Auch hier gibt es eine Vielzahl möglicher Anfänge. Es könnte in einem Düsseldorfer Arbeiterstadtteil beginnen. Wohnhaft in einem angrenzenden Stadtteil hatten meine Eltern mich aufgrund der guten außerschulischen Angebote dort auf dem Gymnasium angemeldet. Weiße Deutsche ohne elterlichen Migrationshintergrund stellten in meiner Klasse eine nur sehr knappe Mehrheit dar. Daher verdanke ich auch meine erste Begegnung mit der arabischen Sprache einem Klassenkameraden, dessen Eltern aus Marokko stammten. Eines Tages sollte dieser seinen Namen und andere Wörter auf Arabisch an die Tafel schreiben. Dabei belehrte unser Englisch-Lehrer ihn und auch uns, dass es im Arabischen ja völlig egal sei, welche Vokale man benutzen würde – statt Jamal könnte er genauso gut Jimil, Jemel oder Jumul heißen. Ebenso gut könnte die Geschichte aber auch an einem Essener Gymnasium beginnen, auf das ich wechselte, nachdem in NRW die Ökonomisierung der Schulen Einzug gehalten und den Lehrern ihre Lust auf außerplanmäßiges Engagement ausgetrieben hatte. Von meinen Klassenkameraden aus der Unterstufe hatte es jeder Zweite nicht bis zur Oberstufe geschafft: Wer nicht sitzen geblieben war, war auf Real- oder Hauptschule gewechselt oder hatte sich mit dem Fachabitur begnügt. In Essen erlebte ich dann zum ersten Mal, was es bedeutet, diskursiv positioniert zu werden: Eine Klassenkameradin, deren Vater aus Palästina stammte und deren Mutter Serbin war, wusste auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada und in den Nachwehen der Balkankriege nicht, wo sie anfangen und wo aufhören sollte, sich zu verteidigen und hegemoniale (Medien-)Images zurechtzurücken. Dessen ungeachtet jedoch pflegte sie eine stabile Freundschaft mit einer kroatisch-stämmigen Klassenkameradin. Es könnte aber auch in Südfrankreich beginnen, wo ich am Ende meiner Ausbildung den Beschluss fasste, nach Deutschland zurückzukehren und doch zu studieren. Eine Sprache sollte es sein: Arabisch klang spannend. Islamwissenschaft studieren? Warum nicht. Konnte kulturelles Wissen doch dem Erlernen einer Sprache nur zuträglich sein. Die frankophonen Kommentare in meiner Umgebung „Arabisch brauchst du doch nicht studieren: Da gehst du in die cités von Toulon und gut ist“ beschloss ich zu ignorieren – ebenso wie die latent bis offen rassistische Haltung, die
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diesen Kommentaren bisweilen zugrunde lag. Auch die sich bereits im Jahr 2000 meiner Mutter aufdrängende Frage, ob ich mich denn als Frau wirklich dieser Männergesellschaft entgegen stellen wollte (ihr war schnell klar, dass es für mich mit dem Buchwissen nicht getan sein würde) konnte mich nicht abhalten. Sich mit einer Sprache eine ganze, zudem politisch brisante, Region zu erschließen, erschien mir vielversprechend. Welche Bedeutung der Region und meinem Studienfach im internationalen Kontext bereits ein Jahr später zukommen würde, ahnte ich jedoch nicht. Nicht zuletzt dieser Studienwahl ist es geschuldet, dass sich nun der eigentliche Anfang für meine folgenden Ausführungen an einem anderen Ort findet: Im Norden Marokkos nämlich, wohin mich meine Betreuerin zu Beginn dieses Forschungsprojekt reisen ließ (hierfür gilt ihr mein nachhaltiger Dank), um mir einen Eindruck von den Orten und Lebenskontexten zu verschaffen, denen viele meiner deutschmarokkanischen Interviewpartner/-innen entstammen: Es ist mein vorletzter Tag in Marokko. Nachdem ich zwei Wochen lang von mehreren Gastfamilien mit großer Wärme, Offenheit und Gastfreundschaft aufgenommen worden bin, befinde ich mich nun auf dem Rückweg. An einem späten Vormittag im März 2010 bin ich mit einem Sammeltaxi am Bahnhof von Oujda angekommen. Die Stadt ist sehr schön, aber andere Touristen? Fehlanzeige. Ich scheine die Einzige zu sein, die sich durch die Straßen bewegt, ohne hierher zu gehören, ohne ein alltägliches Anliegen zu haben. Auf dem Weg in den Souq komme ich an der großen Moschee vorbei. Es ist Mittag: Das große Freitagsgebet wird per Lautsprecher auf den Platz übertragen. Erstaunt bleibe ich stehen: Anders als in Kairo, wo die Moscheen stets unverständlich zu krächzen pflegten, ist hier die Übertragung kristallkar und der Imam bemüht sich um ein einfaches, deutliches Hocharabisch. Was ich nun höre, und – zu meinem Erstaunen – in weiten Teilen auch verstehe, lässt mich ebenso fasziniert wie schockiert verharren. Denn der erste, möglicherweise stärker theologische Teil der Predigt ist bereits vorbei. Nun wendet sich der Prediger den aktuellen Zwischenfällen in Israel/Palästina zu. Die emotionalen Darstellungen des Leidens der Palästinenser hatte ich in den letzten Tagen bereits im Fernsehen verfolgt. Der Imam aber kommt vom einen zum anderen: von der Gewalt in Palästina zu den Konflikten in Irak und Afghanistan. Seine Kritik an den US-amerikanischen Kriegsherren und den neo-kolonialen Besetzungsmächten lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Aber auch die UN und „die Europäer“ bekommen ihr Fett ab: die UN? Ein zahnloser Tiger. Und die Europäer? Zerstritten, macht- und kraftlos, ohne Interesse an dem, was außerhalb ihres wohlsituierten Kontinents vorgeht, ohne wirkliches Mitgefühl für die Leiden der Anderen. Während sich die Machtpolitiker in neokoloniale Machtspiele verwickeln ließen, interessierten sich die Massen nur für „Wein, Weib, und Gesang“: Trinken und feiern, den ganzen lieben Tag, das könnten sie. Aber das sei auch schon alles. Der Imam schließt die Predigt mit den üblichen Gebetsformen. Nachdenklich mache ich mich auf den Weg in die sich langsam füllenden Straßen des innerstädtischen Markts. Wieder und wieder stelle ich mir die Frage: Ist das das Bild, das den „anderen“ in den Kopf kommt, wenn sie mich sehen? Sind das die Assoziationen, an denen sie ihr Verhalten mir gegenüber ausrichten werden? An einem Ort, an dem ich niemanden kenne, und mich niemand kennt und die Gespräche dementsprechend im Rahmen von Alltagsgeplänkel bleiben, kann ich die Antwort auf meine Fragen nicht finden. Am Abend steige ich in den Nachtzug nach Casablanca, wo ich am nächsten Morgen wieder in die beruhigende Anonymität einer Großstadt
P ROLOG
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eintauche, bevor ich am Abend nach Deutschland zurückfliege: Dorthin, wo sich endgültig niemand mehr nach mir umdrehen wird, wo ich mich im öffentlichen Raum bewege; sichtbar und doch unsichtbar. Wie aber ergeht des denjenigen, die hier mit mir leben, und denen diese Unsichtbarkeit immer wieder abhandenkommt? Die identifiziert werden, als „anders“, als „Araber“, als Muslime? Die einer Beschreibung und Bestimmung dessen, was und wer sie „sind“, nicht nur einmal, flüchtig, im Vorbeigehen, ausgesetzt werden, sondern fortwährend, wiederholt, über mediale Kanäle wie über zwischenmenschliche Begegnungen jeder Art? Wie fühlen sie sich? Wie sehen sie sich selbst und die Gesellschaft, die sie tagtäglich umgibt? Sind die Anrufungen aus ihrer Sicht seit Anfang des Jahrtausends drängender geworden? Hat sich für sie etwas verändert? Ihr Alltagsleben vielleicht, oder ihre Definition dessen, wer sie sind und wo und zu wem sie gehören? Dies sind die zentralen Fragen, denen ich in dieser Arbeit nachgehen möchte. –––––––– Zunächst jedoch möchte ich die Gelegenheit nutzen, all denjenigen zu danken, ohne deren Hilfe die vorliegende Monographie nicht zustande gekommen wäre. Dies sind zunächst meine Gesprächspartner/-innen, die bereit waren, mir trotz der sie belastenden, hitzigen medialen Debatten des Jahres 2010 Rede und Antwort zu stehen. Bei aller Notwendigkeit zur (auch) objektivierenden Analyse subjektiver Wahrnehmungen und Erkenntnisse hoffe ich, dass es mir auf den folgenden Seiten gelingt, ihre Sichtweise der Welt erfolgreich einzufangen und dem Leser und der Leserin verständlich zu machen. Mein größter Dank gilt meiner Betreuerin Carmella Pfaffenbach, die mir in jeder Phase dieser Arbeit unterstützend zur Seite stand und mir auch über die von der DFG finanzierte Projektphase hinaus in ihrer Arbeitsgruppe die Möglichkeit gab, an der Niederschrift meiner Dissertation zu arbeiten und so das Forschungsvorhaben zu einem guten Ende zu führen. Danken möchte ich ebenfalls Georg Glasze für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten zu übernehmen. Zusammen mit Annika Mattissek und den anderen Teilnehmern des DFG-Forschungsetzwerkes „Diskursforschung“ hat er diese Arbeit in einem sehr frühen Stadium auf einen realistischen Pfad gelenkt. Für ihre Kommentare, Anregungen und Korrekturen von verschiedenen Teilen und Fassungen dieser Arbeit danke ich Dorothee Barenbrügge, Veronika Deffner, Anne Kersting, Petra Schulze Ising und Cornelia Möller. Christina Ergler sowie Johannes Schroer gilt mein besonderer Dank für ihre ausführlichen, konstruktiven und immer hilfreichen Kommentare und Korrekturvorschläge. Bei der Erstellung der Grafiken und Karten standen mir Achim Ehrig und Johanna Kähler mit Rat und Tat zur Seite. Vielen Dank auch ihnen für ihre Hilfe. Meiner Familie und meinen Freunden danke ich für Geduld, Nachsicht und Ermutigungen in dieser manchmal nervenaufreibenden Zeit. Bei meinen Kolleg/-innen am Institut bedanke ich mich für anregende fachliche Diskussionen ebenso wie für die regelmäßige Erinnerung daran, dass auch ein diskursiv konstituiertes Subjekt gelegentlich der Nahrung bedarf. Für die Finanzierung der Forschung und Teilzuschüsse zu den Druckkosten dieser Monographie ist der DFG (Forschungsprojekt: „Der Einfluss des deutschen Islambildes auf die Alltagsgestaltung und die raumbezogene Identitätsbildung muslimischer Araber in Nordrhein-Westfalen“) sowie der RWTH Aachen (Lehr- und Forschungsgebiet Kulturgeographie) zu danken. Aachen, im November 2013
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Einleitung
Muslime haben Konjunktur. Nicht nur in den Medien, sondern, mit einer gewissen Zeitverzögerung, auch in der Wissenschaft gewinnt diese soziale Gruppe in den letzten Jahren an Sichtbarkeit. Dies gilt für Deutschland ähnlich wie für andere westeuropäische Länder. Den Kontext, in den diese „Islamisierung der Debatten“ (Tiesler 2007) einzuordnen ist, verdeutlicht die erste umfassende quantitative Studie zu „Muslime[n] in Deutschland“. Diese befragte ihre Untersuchungsgruppe nach deren „Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt“ (Brettfeld und Wetzels 2007). Die im Auftrag des Bundesministeriums des Innern durchgeführte Studie erschien sprechenderweise in den vom Ministerium aufgelegten „Texten zur Inneren Sicherheit“. Die hier exemplarisch zutage tretende Verknüpfung von Migrations-, Kriminalitäts- und Religionsdebatten hat sich seit geraumer Zeit als hegemonialer Topos in Medien und Wissenschaft etabliert (Butterwegge 31.10.2007). Das in diesem Dreiklang eingeschriebene deutsche Islambild ist dabei nicht nur stark negativ konnotiert, sondern, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auch mit einer sozial-räumlich wirksam werdenden, ausschließenden Funktion ausgestattet. Das derart skizzierte Diskursfeld, das während der empirischen Forschung zu dieser Arbeit Inhalt einer heftigen öffentlichen Debatte wurde, kann dabei aus postkolonialer wie aus diskurstheoretischer und humangeographischer Perspektive als vorläufiger Zwischenstand in einer historischen Entwicklung betrachtet werden, die sich mit Edward Said bis in den kolonialzeitlichen Orientalismus und den für diesen kennzeichnenden Antagonismus zwischen uns/hier (im christlichen Abendland) und ihnen/dort (im islamischen Orient) zurückverfolgen lässt. Das medial und gesellschaftlich konstituierte Islambild ist seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre von Autoren aus den verschiedensten Sozial-, Human- und Kulturwissenschaften verstärkt analysiert, diskutiert und kommentiert worden (vgl. Überblick in Kap. 3.1). Die Frage jedoch, wie das Islambild und die damit einhergehenden Debatten von denjenigen wahrgenommen werden, die sich in Deutschland als Muslime sehen oder gesehen werden, wird nicht nur auf gesellschaftspolitischer Ebene zu selten gestellt (Kiyak 1.8.2011). Sie stellte auch zu Beginn dieses Forschungsprojektes eine „eklatante Forschungslücke“ (Leibold et al. 2006, 6) dar. Welche Folgen haben die das deutsche Islambild kennzeichnenden „generalisierende[n] Abwertungen, Verdächtigungen und Distanzierungen“ (Leibold et al. 2006, 6) für die derart Kategorisierten? Wie geht es ihnen damit? Wie sehen sie sich selbst und ihre Position in der
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Gesellschaft? Hat sich ihr Alltagsleben in den letzten zehn Jahren verändert? Und wie wirken sich die Debatten auf das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland aus? Diese Fragen stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Dabei geht es mir nicht um die Sichtweisen und Positionen von prominenten Akteuren im politischen oder religiösen Feld, wie sie bspw. in der Dissertation von Spielhaus (2011) behandelt wurden. Was hier interessiert, sind die Folgen und Auswirkungen einer negativ konnotierten Anrufung als Muslime auf das Alltagsleben und die Identitätskonstruktionen von ‚normalen‘, in Deutschland lebenden muslimischen oder vermeintlich muslimischen Bürgern. Es geht also um diejenigen, die normalerweise nicht im Rampenlicht stehen und keine Möglichkeit haben, ihre Sicht der Dinge einem größeren Publikum zu vermitteln. Diese „alltäglichen Personen“ habe ich unter denen gesucht, die als Muslime nicht nur im Zentrum der aktuellen Debatten stehen, sondern als „visible minority“ darüber hinaus für jeden (vermeintlich) als solche identifizierbar sind. Im Zentrum des Interesses stehen jene „Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie […] der Türkei und [den] arabischen Ländern“, denen von Seehofer, Sarrazin und Isensee eine im Vergleich zum Rest der zugewanderten Bevölkerung geringere Integrationsfähigkeit, fehlender Integrationswillen sowie verminderte Intelligenz zugeschriebenen werden (siehe Kap. 3.2). In Ergänzung zu vielen bisher vorliegenden Studien zu Zuwanderern und/oder Muslimen in Deutschland, die sich primär auf die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland beziehen, beschäftigt sich diese Arbeit mit marokkostämmigen Zuwanderern und ihren Kindern. Obwohl die insgesamt ca. 170.000 Personen mit marokkanischem „Migrationshintergrund“1 in Deutschland nach den türkeistämmigen Zuwanderern die zweitgrößte Teilgruppe aus der medial konstruierten Weltregion ‚Arabische Welt und Türkei‘ darstellen, ist über sie bisher vergleichsweise wenig bekannt. Der somit erfolgende Rückgriff auf eine (auch) nationalstaatlich definierte Untersuchungsgruppe ist dabei nicht als Rückfall in einen unreflektierten „methodologischen Nationalismus“ (Glick Schiller und Ca÷lar 2009, 180) zu verstehen.2 Stattdessen wird die Arbeit zeigen, wie sehr sich bereits Personen unterscheiden, die in einem einzigen derart definierten ‚Raumcontainer‘ geboren und aufgewachsen sind. Bereits an diesem Raumausschnitt kann daher gezeigt werden, wie wenig hilfreich und aussagekräftig die den deutschen Mediendiskurs dominierenden homogenisierenden Regionalisierungen vom Typ „arabische Staaten und Türkei“ sind. Es wird mir also gerade auch in der Darstellung meiner empirischen Ergebnisse darum gehen, die groben Pinselzüge der Mediendarstellungen durch einen detaillierteren Blick zu ersetzen.3
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Quelle: Statistisches Bundesamt. Sonderauswertung Mikrozensus (2009). Zu einer kritischen Reflexion des Begriffs „Migrationshintergrund“ vgl. Kap. 4.1. Zur Frage, inwiefern Marokko in Deutschland zu Recht als ein Teil der „arabischen Welt“ gilt, vgl. u.a. Popp (2004) sowie Kap. 4.1 und 6.3. Vgl. Wimmer und Glick Schiller (2002; 2003, 567); Glick Schiller (2005, 440) und Beck (2008, 301). Diesem Bestreben mag die Länge meiner Ausführungen geschuldet sein. Angesichts der aktuellen Debatten erschienen mir diese Differenzierungen jedoch dringend geboten.
E INLEITUNG
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Zum Zweiten, und dies ist genauso wichtig, ermöglichte mir die nationalstaatliche Herkunft als „Hilfskategorie“ in diesem Fall meine Feldforschung ergebnisoffen anzugehen. Indem ich meine Interviewpartner unter der ihnen vertrauten Herkunftskategorie „Personen aus Marokko oder mit Eltern, die aus Marokko kommen“ rekrutierte (vgl. ähnl. Pütz 2004, 53), konnte ich eine vorschnelle Reproduktion der Anrufung als „Muslime“ und eine hieraus resultierende Vorab-Festlegung ihrer vorrangig religiösen Identität vermeiden.4 Im Sinne einer solchen, möglichst offenen Herangehensweise habe ich auch als empirisch-methodischen Zugang eine Mischform aus narrativ-biographischen sowie problemzentrierten Interviews gewählt. Gezielte Fragen nach der Bedeutung von Religion allgemein oder der Rezeption des deutschen Islambildes im Speziellen wurden darin erst in einem abschließenden Nachfrageteil eingebracht. Die im empirischen Teil dieser Arbeit beschriebenen Erkenntnisse beziehen sich dabei auf insgesamt 40 Interviews, die ich im Laufe des Jahres 2010 mit Personen marokkanischer Abstammung in Nordrhein-Westfalen (Großraum Aachen, Köln und Bonn) geführt habe.
1.1. T HEORETISCH - METHODISCHES D ILEMMA: D ISKURS UND P RAXISTHEORIEN ? Aus der hier verfolgten Fragestellung nach der Wahrnehmung, Wirkung und den Folgen des deutschen Islambildes für die Alltagsgestaltung und Identitätskonstruktionen von Deutsch-Marokkanern/-Marokkanerinnen ergibt sich eine gewisse theoretisch-methodische Spannung: Denn einerseits lässt sich das deutsche Orient- und Islambild in seiner Eigenschaft als diskursiv konstituierte Kultur-Raum-Konstellation als idealtypischer Gegenstand einer humangeographischen Diskursforschung identifizieren, die zentral danach fragt „wie räumliche Grenzen gezogen werden und raumbezogene Identitäten konstituiert werden“ und dabei untersucht, wie durch die Verknüpfung von räumlichen und sozialen Differenzierungen (wir/hier – ihr/dort) „Bereiche des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ abgegrenzt werden“ (Glasze und Mattissek 2009b, 15). Aus dem breiten Spektrum diskursanalytischer Ansätze (vgl. Überblicke u.a. in Glasze und Mattissek 2009b, 30-32) erscheint besonders eine poststrukturalistische Perspektive geeignet, um die Konstitution des islamischen Orients als antagonistisches und „konstitutives Außen“ der europäisch-westlichen Welt diskursanalytisch zu dekonstruieren (Attia 2009, 48; vgl. auch Husseini de Araújo 2011). Andererseits jedoch fordert die Auswertung der narrativ-fokussierten Interviews, um die es im Hauptteil dieser Arbeit gehen wird, einen anderen, ergänzenden theoretischen Zugang. Um die Frage zu beantworten, wie das Islambild wahrgenommen wird und welche Folgen und Konsequenzen ihm auf einer alltäglichen wie auch selbstbezüglichen Ebene zugesprochen werden, muss der analytische Blick neu ausgerichtet werden. Denn hier geht es nicht primär um intersubjektive sprachliche und gesellschaftliche Strukturen, sondern um das durch diese konstituierte Subjekt. Benö-
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Insofern stellte in diesem Fall die Gefahr einer Re-Ethnisierung der Gesprächspartner/innen (vgl. Badawia et al. 2003 und Mecheril et al. 2003) das geringere Übel dar.
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tigt wird in diesem Fall also letztlich ein subjektzentrierter Analyseansatz. Besonders die Heterogenität meiner Interviewpartner/-innen und die sehr unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Positionierungen, die sie im Laufe der Interviews einnahmen sowie der Umstand, dass die eine (z.B. eine in Marokko geborene studentische Mitarbeiterin) weder nachvollziehen konnte noch glauben mochte, was die andere (z.B. eine in Bonn geborene deutsch-marokkanische Sozialarbeiterin im gleichen Alter) erzählte, ließen für mich bei der Analyse der Interviews die Frage nach dem Warum virulent werden: Woher kommen diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die soziale Welt? Und wie lassen sie sich erklären? Eine mögliche Antwort und Annäherung an diese Fragen bietet Bourdieus Theorie der Praxis. Mit ihrem „doppelten Bruch“ zwischen objektivistischen und subjektivistischen Sichtweisen (vgl. Kap. 2.1.4) richtet sie den Blick genau auf die uns hier interessierende Frage. Warum und wie Akteure bestimmte Welt-Sichten entwickeln, lässt sich nach Bourdieu durch ihre Einbindung in strukturelle Zwänge (contraintes structurales) erklären. Akteure konstruieren ihre Weltsichten also keineswegs als freie, universelle und bewusste Subjekte (vgl. Lippuner 2005b, 140). Welchen Blick sie auf den sozialen Raum richten, hängt von ihrem Standpunkt in diesem Raum ebenso ab, wie von der vermittelnden Instanz der Dispositionen. Nur vermittels des Habitus als „Produkt der Interiorisierung der Strukturen der sozialen Welt“ können Subjekte eben diese soziale Welt erfassen (Bourdieu 1987a, 155, 1992, 143). Der sich für meine Fragestellung folglich als hilfreich und weiterführend anbietende Rückgriff auf Diskurs- und Praxistheorien ist in der sozialgeographischen Forschung nach dem ‚cultural turn‘5 bisher vergleichsweise unerprobt. Zumeist wurde bisher entweder aus primär diskurstheoretischer Perspektive danach gefragt, „wie in überindividuellen Diskursen Kulturen und Kulturräume hergestellt werden“, oder es wurde aus handlungstheoretischer6 Sicht erkundet, wie „individuelle Akteure in ihren Handlungen kulturelle Differenzen“ reproduzieren (Glasze und Thielmann 2006, 3).7
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Für einen Überblick über die teilweise auch unter dem Label der „Neuen Kulturgeographie“ zusammengefassten Forschungsperspektive vgl. u.a. Beiträge in Gebhardt et al. (2003a) und Gebhardt et al. (2007). Geographische Arbeiten bezogen sich unter diesem Label bis Ende der 1990er Jahre meist auf strukturationstheoretische Konzepte in Anlehnung an Giddens bzw. Werlen. Nicht gemeint waren hiermit die rationalen und normorientierten „Handlungstheorien“, die aus soziologischer Sicht den verständigungsorientieren Handlungstheorien (unter die als „praxeologische Ansätze“ u.a. auch die Theorien von Giddens und Bourdieu gefasst werden) antagonistisch gegenüber gestellt werden (vgl. Reckwitz 2000 und 2004a; Pütz 2004, 23). An Bourdieu angelehnte praxistheoretische Forschungskonzepte haben in der deutschen Geographie dagegen erst in jüngeren Jahren ein breiteres Echo erfahren (vgl. hierzu u.a. Rothfuß 2004; Boeckler 2005; Lippuner 2005a, b; Dirksmeier 2009; Deffner 2010; Sakdapolrak 2010). Als dritten Strang theoretisch fundierter sozial- bzw. kulturgeographischer Arbeiten, der sich zumindest mittelbar ebenfalls an die linguistische Wende in der Geographie anschließen lässt, sind an der Luhmann’schen Systemtheorie orientierte Forschungsbeiträge zu nennen (Glasze und Pütz 2007, 3; Gebhardt et al. 2007, 15; vgl. u.a. Pott 2005; Miggelbrink und Redepenning 2004; Redepenning 2006; Goeke 2007).
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Erste Annäherungen zwischen „textualistischen“ (Reckwitz 2008), diskurstheoretischen Ansätzen einerseits sowie praxis- bzw. subjektzentrierten kulturtheoretischen Ansätzen andererseits lassen sich bereits in frühen Arbeiten der politischen Geographie bzw. kritischen Geopolitik finden. Diese werden aus heutiger Perspektive jedoch hinsichtlich der Inkompatibilitäten kritisiert, die sich aus der Vermischung eines intentional handelnden Akteursverständnisses mit einem poststrukturalistisch ausgerichteten Diskurs- und Gesellschaftsverständnis ergeben (vgl. Reuber 2012, 170f.). Aktuellere geographische Arbeiten, die sich in Anlehnung an Giddens und Werlen aus strukturationstheoretischer Perspektive mit der sprachlichen Konstitution von Raum befassen (vgl. u.a. Schlottmann 2005, Felgenhauer 2007), werden aus ähnlichen Gründen als eher begrenzt anschlussfähig an poststrukturalistisch fundierte diskurstheoretische Forschungen beschrieben (Felgenhauer 2009, 276).8 Mit ihrem Versuch, aufbauend auf die o.g. Arbeiten und im Anschluss an die Critical Discourse Analysis, eine „handlungsorientierte linguistische Diskursanalyse zur Erfassung raumbezogener Identitätsangebote“ zu entwerfen, machte Christiane Marxhausen einen weiteren Schritt hin zu einer Annäherung von Diskurs- und Handlungstheorien. Aufgrund ihrer Fokussierung auf die sprachliche Konstitution von „Raumidentitäten“ kann sie auf die hier interessierende Frage nach dem Zusammenhang von Diskurs und Subjektkonstitution jedoch keine weiterführenden Hinweise liefern. Denn die Frage, die hier beantwortet werden soll, ist nicht die danach, wie Raum durch Sprache hergestellt wird [das haben andere, u.a. die obenstehenden Arbeiten, bereits geleistet]. Das Erkenntnisinteresse liegt vielmehr darin, zu untersuchen, wie sich diese sprachlich konstruierten (Raum-)Diskurse im Alltagsleben und in den Identitätskonstruktionen individueller Akteure niederschlagen. Somit geht es hier nicht darum, Geographie, wie bei Marxhausen, als (handlungszentrierte) Textwissenschaft zu definieren. Vielmehr soll aus umgekehrter Perspektive erkundet werden, wie Geographie als (diskursiv fundierte) „raumbezogene Gesellschaftswissenschaft“ (Glasze und Mattissek 2009b, 13) verfolgt werden kann, ohne dabei auf das Konzept eines exklusiv intentional-bewusst handelnden Subjekts zurückgreifen zu müssen und so „epistemologische Verwirrungen“ (Reuber und Wolkersdorfer 2003, 53) in Bezug auf das Verhältnis zwischen Diskurs und Identität (Subjekt) zu riskieren. Dies ist, wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, durchaus möglich. Eine vertiefte Beschäftigung mit praxistheoretischen Ansätzen nach Bourdieu und Butler wird zeigen, dass diese nicht notwendigerweise in einem erkenntnistheoretischen Widerspruch zu poststrukturalistischen Identitäts- und Subjektkonzepten stehen.9 Durch Berücksichtigung sowohl diskurstheoretischer als auch praxistheoreti-
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Zur Frage wie die von Felgenhauer (2007) für die geographische Forschung aufbereitete Argumentationsanalyse doch auch in poststrukturalistisch-diskursanalystisch fundierten empirischen Untersuchungen anschlussfähig gemacht werden kann, vgl. jedoch Husseini de Araújo (2011). Die vorzunehmende Verschränkung von Bourdieus Theorie der Praxis mit poststrukturalistischen Ansätzen ist dabei keinesfalls dem Bedürfnis geschuldet „Bourdieu aus seiner selbst gewählten Einzelposition im Feld der sozialwissenschaftlichen Denkschulen zu erlösen“ (Fuchs-Heinritz und König 2011, 324), sondern resultiert aus der vorliegenden Frage-
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scher Zugänge wird es möglich, meine Interviewteilnehmer/-innen als einerseits diskursiv (und damit auch sozial) konstituierte und subjektivierte Subjekte zu verstehen. Andererseits wird berücksichtigt, dass die derart subjektivierten Personen gleichzeitig auch denkende, handelnde und sprechende Akteure sind. Somit lassen sich an dieser Stelle drei zentrale Ziele dieser Arbeit benennen: Es wird erstens darum gehen, ein konzises und in sich kompatibles Subjekt- und Identitätsverständnis als Grundlage für die empirische Analyse zu erarbeiten (Kap. 4.4.1) sowie, darauf aufbauend, eine angemessene Analysemethodik zu entwickeln (Kap. 4.4.2 und 4.4.3). Zweitens ist mithilfe dieses theoretisch-methodologischen Gerüsts im Hauptteil der Arbeit auf die Frage zu antworten, wie das deutsche Islambild von meinen Interviewpartner/-innen wahrgenommen wird und inwiefern es für sie alltags- und identitätsrelevant wird (Kap. 5 und 6). Aus geographischer Perspektive wird dabei ein besonderer Fokus auf der Frage liegen, wie unterschiedliche Dimensionen von Identität und Raum zusammenhängen und zusammenwirken. Drittens wird es darum gehen, das medial homogenisierende Bild der ‚arabischen und türkischen Migranten‘ aufzubrechen und zu dekonstruieren (vgl. hierzu u.a. Kritik in Spielhaus 2011). Dies nicht nur, indem in der übergreifenden Querschnittsanalyse die Vielfalt und Diversität von Blickwinkeln und sozialen Positionierungen zwischen den Interviewpartner/-innen aufgezeigt wird (Kap. 6.1), sondern auch indem mithilfe des Analysekonzepts narrativer Identitäten und der damit einhergehenden Positionierungsanalyse auch die von einer Person im Rahmen eines Interviews eingenommenen mannigfaltigen und möglicherweise auch widersprüchlichen Subjektpositionen aufgedeckt werden (Kap. 5).
1.2. Ü BERBLICK ÜBER DIE ARBEIT Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Dabei stellen die ersten beiden Kapitel eine theoretische Annäherung an die Fragestellung dar. Hier wird zunächst aus einer gesellschafts- und subjekttheoretischen Perspektive das der folgenden empirischen Analyse zugrunde zu legende Verständnis von ‚Identität‘ und ‚Subjekten‘ erarbeitet. Der mehrdeutige und nicht unproblematische Begriff der Identität wird in diesem Zusammenhang durch die Unterscheidung zwischen Selbst- und FremdIdentifizierungen, Selbst-Verständnis sowie Zugehörigkeit präzisiert. Aufbauend auf dieser Differenzierung kann das folgende dritte Kapitel aus einer stärker geographisch fokussierten Perspektive den Zusammenhängen nachspüren, die sich zwischen den drei Identitätsdimensionen einerseits und Orten und Räumen andererseits ergeben. Hierbei wird – analog zu dem im ersten Kapitel diskurs- und praxistheoretisch fundierten Subjektkonzept – auch in diesem Teil auf Raumsemantiken ebenso einzugehen sein wie auf nicht zuletzt auch körperlich erfahrene Alltagsräume und Sozialisationskontexte.
stellung, die eine tiefere Thematisierung des Symbolischen benötigt, als dies mit Bourdieu allein zu leisten wäre, und andererseits einen Einbezug von Disponiertheiten erfordert, die allein mit diskurstheoretischen Ansätzen nicht hinreichend erfasst werden könnten.
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Um die Frage beantworten zu können, worauf sich meine Gesprächspartner/ -innen beziehen, wenn sie zu den oben skizzierten Islamdebatten in Medien und Politik Position beziehen, wird das folgende vierte Kapitel zunächst den aktuellen Stand der Forschung zum deutschen Islambild (d.h. den in Medien und Gesellschaft verbreiteten Vorstellungen über ‚den Islam‘ und ‚die Muslime‘) zusammenfassen und, auf Grundlage der in den ersten beiden Kapiteln erarbeiteten theoretischen Perspektiven, besonders hinsichtlich seiner raumbezogener Dimension kritisch diskutieren (Kap. 3). Kapitel 4 stellt den Stand der Forschung sowie einige grundlegende Erkenntnisse zur gewählten Untersuchungsgruppe vor, bevor hierauf aufbauend der Feldzugang und die Auswahl der Interviewpartner/-innen ebenso dargelegt werden kann wie der qualitative Forschungszugang. Zuletzt wird im Rahmen dieses Kapitels eine den theoretischen Vorgaben angepasste Analysemethodik entwickelt und vorgestellt. Im dritten Teil der Arbeit (Kapitel 5 und 6) folgt die Darstellung der empirischen Analyse. Diese erfolgte aus zwei komplementären Perspektiven. Eine detaillierte Analyse von drei kontrastierenden Einzelfällen zeigt auf, wie innerhalb eines Interviews diverse Subjektpositionen eingenommen und wieder verlassen werden und wie Identitäten temporär und interaktiv im Interviewkontext her- und dargestellt werden. Somit kann eine Vielzahl räumlicher und identifikativer Bezüge aufgedeckt werden, ohne eine vorschnelle Fokussierung auf die Frage religionsbezogener Aspekte vorzunehmen. Die darauf folgende Darstellung der übergreifenden Querschnittsanalyse aller geführten Interviews betrachtet die Erkenntnisse aus dem ersten Teil aus einer weiter gefassten Perspektive. Hier wird gezielter danach gefragt, wie sich unterschiedliche Faktoren (wie biographische Verläufe und Positionen im sozialen Raum, Sprachkenntnisse und Medienkonsum oder unterschiedlich ausgeprägte Formen persönlicher Religiosität) auf die Wahrnehmung des deutschen Islambildes auswirken. Der vierte und letzte Teil der Arbeit umfasst mit Kapitel 7 die Diskussion der zentralen Forschungsfrage nach der Bedeutung des deutschen Islambildes für Identitätskonstruktionen und Alltagsleben der von mir befragten Personen sowie ein abschließendes Fazit.
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Identität und Raum: Theoretische Grundlagen Theoretische Grundlagen “Identity is a slippery concept, and not only contested but contestable.” (ANTHIAS 2008, 6)
Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Raum bzw. nach dem Verhältnis von Identitäts- und Raumkonstruktionen und -konstitutionen. Diese Fragestellung wird im Rahmen der jüngeren sozial- und kulturgeographischen Forschung nach dem ‚cultural turn‘ aus zwei komplementären Perspektiven bearbeitet, die beide für die hier vorliegende Fragestellung von Bedeutung sind (vgl. Überblick in Pott 2007).1 So wird erstens die „Räumlichkeit kollektiver Identitätsformen“ (Pott 2007, 33) untersucht, wobei die Frage nach der räumlichen ‚Niederschlagung‘ kollektiver Identitäten durch die umgekehrt gelagerte Fragestellung nach der diskursiven Konstitution räumlicher Identitäten komplementiert wird (vgl. hierzu auf unterschiedlichen Maßstabsebenen mit Bezug auf städtische, regionale und nationale Raumbilder u.a. Lossau 2002; Mattissek 2008; Mose 2007). Aus dieser Forschungsperspektive lässt sich für das hier vorliegende Projekt die Frage ableiten, wie es um die raum- und identitätskonstitutive Funktion des deutschen Islambildes bestellt ist: Inwiefern wird ‚der Islam‘ und werden ‚die Muslime‘ als Chiffre für ‚das Andere‘ gesetzt, von dem sich ‚das Eigene‘ abgrenzen lässt? Inwiefern handelt es sich hier also um eine Kategorie, mit deren Hilfe versucht wird, eine ‚deutsche Identität‘ zu fixieren, indem festgeschrieben wird, was sie nicht ist oder nicht sein soll? Die hier angesprochene mögliche, reale, tatsächliche oder wünschenswerte Zughörigkeit von Islam und Muslimen zu der „imagined community“ (Anderson 2006) einer ‚deutschen Nation‘ wurde in den letzten Jahren sowohl in den Mainstream-Medien als auch in den Tiefen des Web 2.0 kontrovers debattiert (vgl. hierzu Kap. 3.2). Neben dieser Frage nach der „Territorialisierung des Eigenen und des Fremden“ (Reuber 2012, 48) interessiert sich die neuere kultur- und sozialgeographische Forschung aus einem zweiten, komplementären Forschungsimpuls heraus jedoch ebenso
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Für eine frühe und stärker sozialpsychologisch gelagerte Diskussion des Themas ‚Identität und Raum‘ vgl. u.a. Weichhart (1990). Zu der Ende der 1980er Jahre in der deutschsprachigen Geographie geführten Kontroverse über „regionale Identitäten“ und „regionales Bewusstsein“ vgl. Blotevogel et al. (1987; 1989); Hard (1987) und Werlen (1992).
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für die „Raum- und Ortsbezüge von Individuen und Gruppen im Rahmen ihrer alltäglichen Identitätskonstruktionen“ (Pott 2007, 29). Diese werden, so die Annahme, von intersubjektiven, häufig auch emotionalisierten Orts- und Raumdiskursen ebenso gerahmt wie von (auch) körperlich erfahrenen und erfahrbaren Räumen und Raumbewegungen (Mobilität). Gerade aus einer migrationsgeographischen Perspektive ist der letztere Aspekt von besonderer Signifikanz. Denn ob und welche Raum- und Ortsbezüge für die Konstitution und Konstruktion individueller Identitäten eine Rolle spielen, ist durchaus umstritten. Vielfach wird die Frage gestellt, ob Lebenswege und Ortsbezüge in der heutigen Zeit nicht zunehmend als transnational, translokal oder gar vollständig ‚deterritorialisiert‘ gedacht werden müssen.2 Dementsprechend gilt für die deutschsprachige Stadt- und Bevölkerungsgeographie weiterhin das Ziel, die „räumlichen Dimensionen des sozialen Lebens von Zuwanderern in ihrer Vielfalt und Tiefe“ zu thematisieren (Meyer 2007, 34). Aufbauend auf den Erkenntnissen aus der Sekundärdatenanalyse zum deutschen Islambild wird es folglich im Hauptteil dieser Arbeit genau um diese Frage gehen. Welche Orts- und Raumbezüge werden von meinen Gesprächspartner/-innen als Teil ihrer alltäglichen (bzw. im Interviewkontext nicht ganz so alltäglichen) Identitätskonstruktionen her- und dargestellt? Welche Zusammenhänge ergeben sich zwischen diesen räumlichen und anderen möglichen Dimensionen individuell-subjektiver Identitätskonstruktionen? Und in welchem Verhältnis stehen schließlich die intersubjektiv-diskursanalytisch rekonstruierbaren Raum-, Kultur- und Gesellschaftskonzepte zu den subjektiven Verortungen im Rahmen dieser Diskurse? Um diese Fragen im Rahmen der Empirie angemessen erörtern zu können, wird es nicht nur notwendig sein, das Verhältnis zwischen ‚Identität‘ und ‚Raum‘ näher auszuloten – wozu selbstverständlich eine Offenlegung des zugrunde gelegten Verständnisses von Ort und Raum gehören wird (vgl. Kap. 2.2.1). Ähnlich wie ‚Raum‘ ist darüber hinaus auch ‚Identität’ ein Begriff, der zum scheinbar natürlichen, evidenten Repertoire alltäglicher Kommunikationsleistungen gehört, jedoch sehr viel dieser Eindeutigkeit und Evidenz einbüßt, wenn man sich die Vielzahl der divergenten und oft widersprüchlichen und inkompatiblen Sinnzuweisungen, Forschungsfragen und erkenntnistheoretischen Perspektiven vor Augen führt, die mit ihm einhergehen. Von daher möchte ich erstens, in Einklang mit der oben zitierten Soziologin Floya Anthias (2008) und ihrem Kollegen Rogers Brubaker (2000), argumentieren, dass es auch für die kultur- und humangeographische Erforschung identitätsrelevanter Fragestellungen hilfreich ist, den „umstrittenen und strittigen“ Begriff der Identität aufzubrechen und in verschiedene Dimensionen zu differenzieren, um so zumindest einem Teil der Verwirrung vorzubeugen, die daraus entsteht, dass der Begriff der Identitäten in sehr divergenten Kontexten und erkenntnistheoretischen Perspektiven angewendet wird. Hierfür bieten sich die von Brubaker und Cooper (2000) ausgearbeiteten Überlegungen als Grundlage an, die im Folgenden daher kurz zusammengefasst und vorgestellt werden.
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Für eine frühe kritische Debatte von Raum und (post-)migrantischer Ethnizität vgl. Pott (2002), für Studien zur Transnationalität von Zuwanderern in Deutschland vgl. u.a. Glorius (2007) und Schmiz (2011), zur Translokalität im außereuropäischen Kontext vgl. Verne (2012).
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Zweitens jedoch verweist die Beschäftigung mit dem Begriff und dem Konzept von ‚Identität’, wie es nicht zuletzt auch das folgende Teilkapitel zeigen wird, auch auf die noch einmal grundlegendere Frage nach dem ‚Subjekt‘ – also der Person, über deren Identität (oder Nicht-Identität) gesprochen werden kann bzw. die aus der eigenen Perspektive über sich berichtet. Gerade wenn es geographischer Forschung nicht um die Re-Konstruktionen individueller, mentaler Vorstellungen von Identität und Raum gehen soll, sondern um eine gesellschaftstheoretisch fundierte Annäherung an die Frage nach dem Verhältnis zwischen Identität und Raum, ist die Auseinandersetzung mit der zugrunde zu legenden Vorstellung vom (handelnden, sprechenden, zu untersuchenden) Subjekt unabdingbar. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Subjekt, Diskurs und Handlungsmacht, ist dabei ein zentraler Streitpunkt zwischen eher praxistheoretisch orientierten Konzepten „raumbezogener qualitativer Sozialforschung“ (Rothfuß und Dörfler 2013, 17) und poststrukturalistisch orientierter geographischer Diskursforschung. Aber auch innerhalb und zwischen unterschiedlichen Ansätzen der Diskursforschung lassen sich divergente Auffassungen finden (vgl. Überblicke in Mattissek und Reuber 2004, Glasze und Mattissek 2009b, Diskussion in Keller 2012): Wie ‚frei‘ ist das Subjekt? Wie souverän und autonom trifft es Entscheidungen? Wird es einseitig und passiv durch Diskurse eingesetzt oder ist es in der Lage, Diskurse gezielt und eigenmächtig zu manipulieren? Dies sind die Fragen, an denen sich die Geister scheiden und Forscher/-innen inner- und interdisziplinäre Abgrenzungen markieren. Ausgehend von der vorliegenden Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen dem deutschen Islambild (bzw. der damit einhergehenden Konstitution räumlichsozial-kulturell gedachter Entitäten) einerseits und den Auswirkungen einer solchen „Anrufung“ (vgl. hierzu Kap. 2.1.3 folgend) auf die Subjekt- und Identitätskonstitution von als Muslim/-a identifizierbaren, in Deutschland lebenden Personen andererseits, wird hier die Frage aufgeworfen, ob (poststrukturalistisch orientierte) Diskurstheorien und praxeologische Forschungsansätze Bourdieu’scher Provenienz tatsächlich so weit auseinanderliegen, ihre erkenntnis- und subjekttheoretischen Grundlagen so inkompatibel und antagonistisch sind, wie es die disziplininterne Debatte derzeit Glauben macht. Hierfür wird es daher im folgenden Kapitel notwendig sein, etwas ausführlicher in die verschiedenen theoretischen Konzepte einzusteigen. Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Kontributionen zur „Dezentrierung“ des cartesianischen Subjekts (Kap. 2.1.2) wird zeigen, dass von einer „früh-naiven Lesart von Foucault“ (Rothfuß und Dörfler 2013, 17) in der deutschsprachigen Geographie nicht auszugehen ist; eine ‚spät-kritische‘ Lesart zeigt sein Subjekt als ebenso unterworfen wie frei. Andererseits wird deutlich, dass eine vollständige Ausblendung des Psychischen (zugunsten des Sozialen und Symbolischen) in Bezug auf die Frage nach der Konstitution des Subjekts keine zufriedenstellenden Antworten liefert. Eine solche – von Foucault abgelehnte – Erweiterung findet sich bei den Politikwissenschaftlern Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Durch ihren Anschluss eines zunächst formal-linguistisch hergeleiteten diskurstheoretischen Identitätskonzepts an die psychoanalytische Objektbindungstheorie nach Lacan bieten sie nicht nur das ideale Werkzeug, um in Kap. 3 das deutsche Islambild kritisch zu diskutieren, sondern erlauben es auch, das Verhältnis zwischen Diskurs und (menschlichem) Subjekt als wechselseitige Artikulation zu bestimmen (vgl. Kap. 2.1.3).
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Die eingangs aufgeworfene Frage jedoch, warum einige meiner Interviewpartner/-innen so deutlich divergierende Sichten auf sich selbst und die sie umgebende soziale Welt erkennen lassen, und welche Bedeutung in diesem Kontext ihren räumlich verorteten lebensweltlichen Erfahrungen und Lebenswegen zukommt, erfordert ein relationales Verständnis sozialer Beziehungen, wie es sich bei Bourdieu findet. Die Grundzüge seiner Theorie der Praxis3 werden zunächst allgemein als Grundlage für die empirische Analyse darzulegen sein. Auf die Konzepte symbolischer Macht und Herrschaft sowie auf die auch von Bourdieu aufgeworfene Frage nach der Bedeutung von Sprache und Sprechen für die Konstitution der sozialen Welt und die Positionierungs- und Distinktionsmöglichkeiten sozialer Subjekte anderseits möchte ich dabei näher eingehen. Denn hier lauert meiner Meinung nach eine gewisse Gefahr, zu verkürzten Interpretationen zu gelangen, die das Subjekt als (allzu) machtvollen und autonomen Akteur erscheinen lassen (vgl. Dirksmeier und Helbrecht 2008, 18; Dirksmeier 2010, 7). Bourdieu bietet die Möglichkeit, das deutsche Islambild als sozial relevante Sicht- und Teilungskategorie zu betrachten. In Ergänzung hierzu offeriert Butlers Konzept der Performativität einen ‚Hebelpunkt‘, um der Frage nachzugehen, wie sich konkrete Begegnungen und Erlebnisse, d.h. solche Interaktionen, in denen eben diese Differenzlinien performativ aktualisiert und zur Identifizierung und Anrufung der Subjekte eingesetzt werden, auf die Subjektkonstitution auswirken.4 Durch die aus praxeologischer Perspektive mögliche und erforderliche Ausweitung des Blicks auf verschiedene soziale Sicht- und Teilungsprinzipien wird eine Binnendifferenzierung und Dehomogenisierung der in den Blick genommenen diskursiv konstituierten Gruppe der ‚Muslime in Deutschland‘ möglich, wie sie durch eine Fokussierung auf die De- und Re-Konstruktion geographisch relevanter, politisierter Identitätsgruppen (vgl. hierzu Meyer 2004, 2005 zu den „vier Kulturen“ in Ceuta und Melilla) nur sehr schwer realisiert werden könnte. Der Einblick in die subjektkonstitutive Wirkung von Sprechakten, wie sie Butler besonders in ihrer Monographie „Haß spricht“ erörtert, bietet somit eine Art ‚Schlussstein‘ für das der empirischen Analyse zugrunde zu legende Verständnis des Verhältnisses zwischen Subjekt, Diskurs und sozialen Machtund Ungleichheitsverhältnissen. Dieses wird in einer kurzen Synthese (Kap. 2.1.6) zusammengeführt, bevor ich, hierauf aufbauend, ausführlicher auf die räumlichen Bezüge von Identitäts- und Subjektkonstitution eingehen werde (Kap. 2.2).
2.1. S UBJEKT , D ISKURS
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2.1.1. Identität, Selbst-Verständnis, Zugehörigkeit? Eine erste Begriffsklärung In ihrer Auseinandersetzung mit dem sozialwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs der Identität seit den 1960er Jahren kommen der amerikanische Soziologe Rogers
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Oder auch Theorie der Praktiken; vgl. Meier (2004). Vgl. hierzu besonders Butler (2001 und 2006); zur Performativität vgl. auch Strüver und Wucherpfennig (2009).
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Brubaker und der Historiker Frederick Cooper zu dem Schluss, dass „identity talk“ und „identity politics“ zwar ebenso reale wie bedeutsame Phänomene seien. Als konzeptionelle Grundlage für sozialwissenschaftliche Analysen tauge der inzwischen hoffnungslos mehrdeutige und oft mit konträren Annahmen verknüpfte Begriff der Identität jedoch nur sehr bedingt (2000, 5f.). Während Vorstellungen von Identität im Sinne eines ‚In-sich-gleich-Seins‘ über Zeit (individuelle Identität)5 oder über verschiedene Individuen (‚kollektive‘ Identität) sich als zutiefst problematische Annahmen erwiesen haben, wäre andererseits bei den entgegengesetzten, poststrukturalistisch fundierten Vorstellungen von Identität als zerstreut, divergent und widersprüchlich häufig unklar, worin die Erklärungskraft der entsprechenden Vorannahmen läge und warum diese unbedingt unter dem Label ‚Identität’ zu führen seien (Brubaker und Cooper 2000, 11). Sie schlagen daher vor, den problematischen Begriff der ‚Identität’ durch drei miteinander zusammenhängende, aber deutlich zu differenzierende, analytische Zugänge zu identitätsrelevanten Fragestellungen zu ersetzen. Ihre analytische Unterscheidung zwischen • • •
sozialen Praktiken und Prozessen der Identifizierung und Kategorisierung einem impliziten, handlungsleitenden Verständnis des Selbst und der eigenen Position in der Gesellschaft sowie Vorstellungen und Empfindungen gruppenspezifischer Zugehörigkeit(en),
wird im vorliegenden Forschungsprojekt genutzt, um nicht nur die Fragestellung der Arbeit allgemein zu schärfen (s.u.), sondern auch um ein prägnanteres Verständnis der räumlichen Bezüge dieser drei Dimensionen entwickeln zu können (Kap. 2.2). Prozesse der Identifizierung und Kategorisierung Als ersten Analysegegenstand weisen Brubaker und Cooper Prozesse der Selbst- und Fremdidentifizierung anhand von sozial etablierten Kategorien bzw. Differenzlinien aus. Praktiken der Selbst- und Fremdidentifizierung seien zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen sozialen Kontexten nachweisbar. Im Gegensatz zu der Annahme eines „stabilen und konstanten Identitätskerns“ sind Prozesse der Selbst- und Fremd-Identifizierung eine dem sozialen Leben inhärente Komponente (Brubaker und Cooper 2000, 14). So werden Individuen in verschiedensten Situationen dazu aufgefordert, sich selbst zu identifizieren, oder sie werden in diesen Situationen von anderen menschlichen Akteuren vorgestellt und/oder identifiziert. Eine solche Identifizierung kann einerseits relational erfolgen. Relationale Verhältnisse definieren sich darüber, in welcher Beziehung zwei Sprecher oder Protagonisten einer Erzählung zueinander stehen (z.B. im Familienverbund Vater/Tochter, oder über gesellschaftliche Rollen, z.B. Lehrer/-in, Schüler/-in). Wie der Gender-Gap in diesem Beispiel schon andeutet, beruhen Selbst- und Fremdidentifizierungen andererseits aber auch auf sozial etablierten, häufig binär und antagonistisch angeordneten Kategorien, über die soziale Gruppen anhand von Differenzlinien konstruiert werden (z.B. Staatsangehörigkeit, Geschlecht oder Religionsangehörigkeit).
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Entsprechende Vorstellungen beziehen sich häufig auf die sozialpsychologische Entwicklungstheorie nach Erikson (1959).
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Unter Verweis auf Foucaults Konzept der „Gouvernementalität“ und Bourdieus Überlegungen zu „symbolischer Herrschaft“ betonen Brubaker und Cooper in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung, die staatlichen Institutionen für die Etablierung bestimmter Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt zukommt. Während auch individuelle Praktiken der Selbst- und Fremdidentifizierung in einer gewissen Spannung zueinander stehen, liegt der Identifizierung und Kategorisierung von individuellen Subjekten durch staatliche Institutionen ein deutlich asymmetrisch ausgeprägtes Machtverhältnis zugrunde. Indem eine bestimmte Kategorie (z.B. ‚Personen mit Migrationshintergrund‘, ‚Muslime‘) nicht nur offiziell definiert, sondern auch im Rahmen von staatlichen Herrschafts- und Ordnungsmaßnahmen wie offiziellen Erhebungen, statistischen Analysen oder Gesetzen angewandt und umgesetzt wird, werden die Subjekte der Staatsherrschaft in diese Kategorien machtvoll eingeschrieben (Brubaker und Cooper 2000, 15f.). Zuletzt gehen Brubaker und Cooper davon aus, dass für eine Identifizierung kein „Akteur“ im eigentlichen Wortsinn (d.h. als intentional handelndes, menschliches Wesen) benötigt wird, sondern Personen genauso gut auch durch anonyme Diskurse oder „public narratives“ kategorisiert und identifiziert werden. Obwohl sich empirische Analysen zwar häufig auf konkrete diskursive Praktiken beziehen würden bzw. beziehen müssten, liegt für sie die auf die Subjekte ausgeübte Macht der diskursiven Formationen nicht in diesen einzelnen Enunziationen6 begründet, sondern „in their anonymous, unnoticed permeation of our ways of thinking and talking and making sense of the social world“ (Brubaker und Cooper 2000, 16). Dabei geht es ihnen keinesfalls darum, Diskurse „als Akteure im Sinne von Individuen“ zu definieren oder ihnen „analog zu Akteuren Handlungsmacht“ zuzuweisen, wie es Marina Richter (2006, 107) in ihrer ersten Adaptation des Brubaker’schen Konzepts für die deutschsprachige Migrationsgeographie kritisch bemängelt. Vielmehr sind – so viel ist für die vorliegende Arbeit bereits jetzt festzuhalten – Diskurse als die jeder Form von Gesellschaftlichkeit zugrunde liegenden „Formen und Regeln öffentlichen Denkens, Argumentierens und Handelns“ (Mattissek und Reuber 2004, 232) zu verstehen, die als solche ganz selbstverständlich auch die Kategorien, Formen und Regeln für die Selbst- und Fremdidentifizierung sozial und diskursiv eingesetzter Subjekte bereitstellen. Das Missverständnis, dem Richter an dieser Stelle unterliegt, klärt sich also dann, wenn man nicht auf dem Konzept eines starken, autonomen und intentional handelnden Akteurs beharrt, sondern – wie im folgenden Kapitel zu leisten sein wird – einen alternativen, konsequent gesellschaftstheoretisch fundierten Subjektbegriff entwickelt, mit dessen Hilfe sich Subjekte als handelnde und sprechende menschliche und soziale Wesen untersuchen lassen, die jedoch in ihrem Denken und Handeln in diskursiv und sozial etablierte Strukturen stets ein- und rückgebunden bleiben. Selbst-Verständnis Für ihr zweites Alternativkonzept beziehen sich Brubaker und Cooper auf die in der sozialwissenschaftlichen Analyse genutzte Funktion des Identitätsbegriffs als „nicht automatistische“ Erklärung für individuelle und kollektive Entscheidungen, Hand-
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Brubaker und Cooper (2006, 16) sprechen von „instantiations“.
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lungen und Alltagspraktiken. Dieser Funktion ordnen sie den Begriff des „SelbstVerständnisses“7 (self-understanding) zu. Dieses definieren sie als „a dispositional term that designates what might be called 'situated subjectivity': one’s sense of who one is, of one’s social location, and of how (given the first two) one is prepared to act“ (Brubaker und Cooper 2000, 18). Ein Selbst-Verständnis ist somit zu verstehen als eine Art Disponiertheit bzw. ein Set an Dispositionen. Diese werden zwar in und durch Diskurse formiert. Ebenso können sie jedoch im Sinne eines „sens pratique“ im Handeln implizit und unbewusst wirksam werden, ohne dass sie sprachlichdiskursiv expliziert werden müssten. Entscheidend dabei ist, dass diese Definition nicht von einem in sich und über Zeit konstanten Selbst-Verständnis ausgeht. Vielmehr können sich Personen in bestimmten zeit-räumlichen und sozialen Settings in verschiedener Weise als gesellschaftlich positioniert erfahren und unterschiedliche Aspekte ihres SelbstVerständnisses als handlungsleitend interpretieren. Während sich externe Kategorisierungen und Identifizierungen auf das jeweilige Selbst-Verständnis auswirken und es machtvoll mitformen, so lässt es sich für Brubaker und Cooper (2000, 14) immer nur als autoreferenzielle Kategorie untersuchen. Das heisst, nachvollzogen werden kann das in einer bestimmten Situation wirksame Selbst-Verständnis (das in dieser Definition dem Habitus-Begriff bei Bourdieu sehr ähnlich ist; vgl. Kap. 2.2.4) nur anhand der hiervon angeleiteten Alltagspraktiken oder seiner Reflexion in sprachlichdiskursiv artikulierten Praktiken der „Selbst-Repräsentierung“ und „Selbst-Identifizierung“ (Brubaker und Cooper 2000, 18). Diese können den impliziten handlungsleitenden „praktischen Sinn“ und das unbewusste, stumme Wissen über die eigene Positionierung in der sozialen Welt jedoch nie vollständig wiedergeben und rekonstruieren. Die Subjekte sind sich selbst nicht (vollständig) transparent.8 Zugehörigkeit Als dritten Teilaspekt herkömmlicher Vorstellungen von Identität, für den es ein Alternativkonzept zu entwickeln gilt, weisen Brubaker und Cooper (2000, 19) das aus, was traditionell als ‚kollektive Identität‘ definiert wird, d.h. „the emotionally laden sense of belonging to a distinctive, bounded group, involving both a felt solidarity or oneness with fellow group members and a felt difference from or even antipathy to specified outsiders“. Den Begriff der ‚kollektiven Identität‘ sehen sie insofern kritisch, als mit ihm sowohl sehr enge gefühlte und gelebte Zugehörigkeiten als auch eher lose Affinitäten zu oder Identifikationen mit bestimmten Gruppen erfasst werden. Dieser kritischen Haltung möchte ich mich in dieser Arbeit anschließen. Denn erstens evoziert dieser Begriff ein (real-existentes) Kollektiv, dem eine solche gruppenbezogene Identität zugeordnet werden könnte. Eine solche Vorstellung eines vorgängig und essenziell gedachten Kollektivs ist jedoch dezidiert zurückzuweisen, wenn man – wie hier –
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Um genau diese Begriffsbedeutung aufzurufen, wird „Selbst-Verständnis“ im Folgenden analog zu „self-understanding“ mit Bindestrich geschrieben. Inwiefern eine objektivierende Sicht auf diese subjektiven Selbst-Sichten ggf. nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, wird im Folgenden mit Bezug auf Bourdieu noch ausführlicher zu diskutieren sein.
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davon ausgeht, dass die (Gruppen-)kategorien, auf die sich Gefühle sozialer Zugehörigkeiten beziehen, keine vorgängige Wirklichkeit darstellen, sondern vielmehr diskursiv und sozial konstituiert sind. Selbst wenn sich verschiedene Personen auf ein gemeinsames Merkmal beziehen; sie also auf der Grundlage eines bestimmten Merkmals (z.B. Religion) eine gemeinsame Wir-Identität konstruieren, werden sie immer noch verschiedene Vorstellungen davon haben, was dieses Merkmal beinhaltet und was die hierüber definierte Gruppe ausmacht. Diese Problematik der Vorstellung „kollektiver Einheiten“ und auf „Einheitlichkeit beruhender Identitäten“ lässt sich umgehen, indem man die von Brubaker und Cooper entwickelte Definition von „gruppenbezogener Zugehörigkeit“ übernimmt. Soziale Zugehörigkeit beruht ihnen zufolge in der Regel auf einem als Gemeinsamkeit definierten Merkmal, wird häufig (aber nicht notwendigerweise) durch reale soziale Beziehungen etabliert und/oder bestärkt und beinhaltet drittens eine emotionale Dimension gefühlter Gemeinschaftlichkeit und Zugehörigkeit.9 Indem diese Definition gruppenbezogene Zugehörigkeit konsequent aus der Perspektive des einzelnen Subjekts rekonstruiert, wird den irreführenden Konnotationen des Begriffs der kollektiven Identität vorgebeugt. Durch den konsequenten Einbezug der emotionalen Dimension läuft das Konzept darüber hinaus nicht Gefahr, die Rationalität und Reflexivität von Identitätsarbeit überzubetonen, wie dies bei solchen sozialpsychologischen Identitätstheorien der Fall ist, die die affektiven Bezüge von Wir-Identitäten weitgehend ignorieren (vgl. Kraus 2006, 152). Mithilfe der vorgenommenen Differenzierung zwischen den drei Dimensionen von Zugehörigkeit (Gemeinsamkeit – commonality, soziale Beziehungen – connectedness, emotionale Verbundenheit – belonging) lassen sich drittens unterschiedliche Formen und Grade von sozialer Verbundenheit wesentlich differenzierter erfassen, als dies mit dem „Catch-all“-Begriff der Identität möglich wäre. So belegen nicht zuletzt die empirischen Untersuchungen für diese Arbeit, dass die Identifikation mit einer Gruppe nicht automatisch mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe einhergehen muss (vgl. Kap. 4.3.3 und 6.2.2). Auch wenn Selbst- und Fremd-Identifikationen also nicht von Fragen der Zugehörigkeit abzukoppeln sind, ist es sinnvoll und hilfreich, diese beiden Dimensionen analytisch zu unterscheiden. Ähnlich wie bei Hall, der aus poststrukturalistischer und postkolonialistischer Theorieperspektive darauf aufmerksam macht, dass Bedeutungen sich verschieben, aber weder endlos noch wahllos gleiten (vgl. Kap. 4.4), zeigt sich auch hier, dass mögliche Gefühle und Formulierungen von Zugehörigkeiten begrenzt sind: Zum einen durch die Diskurse, die das Denk- und Sagbare bestimmen und die Kategorien vorgeben, mit denen man sich identifizieren kann, und an die als bedeutungsvolle Merkmale von Gemeinsamkeit angeknüpft werden kann.10 Zum anderen spielt auch
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Brubaker und Cooper (2000, 20) beziehen sich hier dezidiert auf den von Max Weber geprägten deutschen Begriff des „Zusammengehörigkeitsgefühls“; die beiden anderen Aspekte entnehmen sie einer auf Charles Tilly (1978) zurückgehenden Definition von „groupness“ als „catness and netness“. 10 So könnte bspw. theoretisch eine Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚Grünäugigen‘ hergestellt und empfunden werden. Dies ist in der ‚Realität‘ (d.h. dem sozialen Gefüge in Deutschland im Jahr 2012) jedoch unwahrscheinlich, da diese Kategorie diskursiv nicht etabliert ist und
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das sozial konstituierte subjektive „Selbst-Verständnis“ eine Rolle. So ist davon auszugehen, dass bestimmte Positionen im sozialen Raum und die damit einhergehenden Dispositionen den Möglichkeitsraum sozialer Zugehörigkeiten ebenfalls umschreiben und beschränken: „Für die subjektiven Identifikationen, Orientierungen und Handlungsweisen ist es relevant, welche Position das Subjekt im sozialen und gesellschaftlichen Raum einnimmt und über welche Möglichkeiten der Verortung und von Identifikationen, aber auch über welche Handlungsund Entfaltungsmöglichkeiten, es auf den verschiedenen sozialen Ebenen verfügen kann.“ (Riegel und Geisen 2007, 12)
Ausgehend von den in diesem Kapitel vorgenommenen Differenzierungen kann nun das Forschungsinteresse der Arbeit folgendermaßen präzisiert und reformuliert werden: Es stellt sich erstens die Frage, inwieweit die von mir befragten DeutschMarokaner eine verstärkte Fremd-Identifizierung anhand der sozial etablierten Kategorie ‚Religionszugehörigkeit‘ wahrnehmen und wie sie diese erleben. Zweitens ist danach zu fragen, wie sich eine solche Fremd-Identifizierung auf a) ihre SelbstIdentifizierungen, b) ihr handlungsleitendes Selbst-Verständnis und c) ihre sozial und raumbezogenen Empfindungen und Konzepte von Zugehörigkeit auswirkt. Bevor diese Fragen in Kapitel 5 und 6 anhand der empirischen Erkenntnisse aus diesem Forschungsprojekt diskutiert werden können, ist jedoch zunächst ab- und herzuleiten, wie das oben skizzierte Verständnis einer in Abhängigkeit von symbolischen und materiellen bzw. materialisierten Verhältnissen sozialer Ungleichheit gedachten Subjektkonstitution gesellschaftstheoretisch fundiert und begründet wird. 2.1.2. Das Subjekt von Descartes bis Foucault: Zweifel und Re-Definitionen Möchte man verstehen, woran sich die aktuellen diskurs- und sozialwissenschaftlichen Debatten über den „menschlichen Faktor“ (Keller 2012) entflammen, so gilt es zunächst, einen kurzen Blick in die Geschichte zu werfen. Die vielfache Rede von einem in der Postmoderne „de-zentrierten“ Subjekt deutet darauf hin, dass dieses zu einem bestimmten Zeitpunkt als „zentriert“ gedacht und verstanden worden sein muss. Diese „Zentrierung“ des Menschen, der als denkendes, verstehendes und sinngebendes Subjekt als Ausgangspunkt von Welterkenntnis gesetzt wurde, geht in die Zeit der Renaissance, des Humanismus und der Aufklärung zurück. In der Philosophie überlagerte zu dieser Zeit die Idee eines „souveränen Individuums“ zunehmend die zuvor vorherrschenden Vorstellungen einer festen Verankerung des Menschen in gotteszentrierten Weltbildern. Als einer der ersten definierte der Philosoph René Descartes dieses „Subjekt der Aufklärung“ als rational denkenden, bewusst handelnden und der Selbst-Reflexionen befähigten Akteur – weshalb die Vorstellung eines
mit ihr keine intersubjektive Bedeutung verknüpft ist. Sozialpsychologische Experimente haben allerdings gezeigt, dass auch fiktive, „künstliche“ Differenzkategorien wie „reds“ oder „blues“ als Kristallisationspunkte für Gruppenkonstitution und Zugehörigkeiten wirksam gemacht werden können (Brubaker et al. 2004, 40; Brubaker 2007, 109).
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weitgehend autonom handelnden Subjektes häufig auch als „cartesianisches Subjekt“ bezeichnet wird (Hall 1999, 402f.). Allerdings wurde auch dieses moderne Subjekt „inmitten von metaphysischen Zweifeln und Skeptizismus ‚geboren‘“ (Hall 1999, 401) und war daher von Anfang an als „konstitutiv ambivalent“ gedacht worden (Keupp und Hohl 2006, 9).11 Obwohl also aus der Perspektive einer poststrukturalistisch orientierten Humangeographie nach dem „cultural turn“ und „linguistic turn“ hinsichtlich von Subjekttheorien eine ganz entscheidende Wende im Werk von Michel Foucault begründet zu sein scheint, so zeigt eine interdisziplinäre Perspektive, dass seiner philosophischen Neukonzeption des Subjektbegriffs bereits vielfältige Zweifel, Re-Definitionen und De-Zentrierungen des Subjektbegriffs vorausgingen, die in anderen Wissenschaftstraditionen entwickelt wurden. Anders als Kellers (2012) Beitrag zum Subjektkonzept insinuiert, sind sich auch poststrukturalistisch argumentierende Theoretiker dieses wissenschaftshistorischen „Erbes“ durchaus bewusst. So führt Stuart Hall (1999) in der Entwicklung seines Verständnisses von sozialer Identität insgesamt sechs verschiedene Quellen und Etappen auf, die zu der heute vorherrschenden Vorstellung eines „dezentrierten“ Subjekts ohne festen, in sich selbst und über Zeit identisch bleibenden Wesenskern geführt haben: Eine frühe Kritik an dem cartesianischen Subjekt sieht er in den soziologischen Theorien begründet, die die Einbindung des Individuums in Gruppenprozesse und kollektive Normen fokussierten und danach fragten, wie Subjekte durch Einbindung in soziale Prozesse und Beziehungen geformt werden. Speziell den Symbolischen Interaktionismus nach Mead und die Rollentheorie nach Goffmann sieht Hall hier als bedeutsame Grundlagen für fortführende Konzepte (Hall 1999, 406). Ein zweiter, sehr zentraler Anstoß zur Dezentrierung des spätmodernen Subjektes ist in der strukturalistischen und poststrukturalistischen Linguistik begründet, auf die sich in der Folge des „linguistic turn“ auch kultur- und sozialwissenschaftliche Arbeiten zunehmend rückbeziehen (vgl. u.a. Gebhardt et al. 2003b, 11; Glasze und Pütz 2007). Nach Ferdinand de Saussure ist Sprache (langue; im Gegensatz zu parole – Sprechereignissen) als überindividuelles, regelhaften System zu verstehen, das menschliche Vorstellungen vorstrukturiert. Die Struktur der Sprache besteht in der letztlich arbiträren Zuordnung von Signifikant (Bezeichnung) und Signifikat (Bezeichnetes, Konzept; vgl. Glasze und Mattissek 2009b, 21f.). Poststrukturalistische Ansätze (z.B. nach Derrida) betonen zusätzlich, dass eine in diesem System erzeugte Bedeutung nie endgültig fixiert werden kann, da Bedeutungen stets relational konstituiert werden. Wenn ein Signifikant in und durch Wiederholungen von neuen, anderen Signifikanten abgegrenzt wird, kommt es so zu Bedeutungsverschiebungen (Glasze und Mattissek 2009b, 21). Aus einer linguistischen Perspektive kann ein Subjekt somit nicht als autonomer Autor der eigenen Aussagen gelten, da das Den-
11 Vgl. auch Keller (2012, 88) mit Verweis auf Nietzsche. Diese Ambivalenz rückte jedoch in vielen seit dem 19. Jahrhundert entwickelten Theorien aus dem Blick. Nicht nur soziologische, sondern auch psychologische Handlungstheorien definierten menschliches Handeln über die diesem zugrunde liegende (rationalistische) Intention und Zielantizipation (vgl. Straub 2006, 55).
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ken immer schon sprachlich vorstrukturiert ist (Hall 1999, 410; s.a. Konersmann 2007, 68).12 Die dritte bedeutende Dezentrierung des autonomen, sich-selbst bewussten Subjektes mit seiner gesicherten und vereinheitlichten Identität erfolgte durch die „Entdeckung“ des Unterbewussten durch Freud. In der Psychoanalyse wurde die Vorstellung etabliert, dass der Mensch nicht mehr Herr im eigenen Hause des Bewusstseins ist. Das „Ich“ findet sich reduziert auf eine Vermittlungsinstanz zwischen dem „Über-Ich“ als gesellschaftlichem Kontrollprinzip und dem „Es“ der Triebsteuerung (Charlier 2001, 52-62). In seiner Adaptation der Freudތschen Theorien betont Lacan (s.u.), dass die wahrgenommene Einheit und Ganzheit des „Ich“ vom Kleinkind „nur graduell, partiell und unter großen Schwierigkeiten gelernt“ wird (Hall 1999, 409; Herv. i.O.).13 Neben neo-marxistischen Theorien der 1960er Jahre, die die historische Situiertheit menschlichen Handelns betonen sowie der feministischen Kritik an einem immer als implizit männlich konzipierten Subjektbegriffs (vgl. u.a. Klinger 2006), nennt Hall schließlich das Werk von Foucault als vierten einflussreichen Wegbereiter hin zu einer post-modernen und poststrukturalistischen Subjektkonzeption. Obwohl Foucault von Kritikern die vollständige Exorzierung des Subjekts vorgeworfen wird, stellt er selbst in einer Rückschau das Subjekt in das Zentrum seines Erkenntnisinteresses: „Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist das allgemeine Thema meiner Forschung“ (Foucault 1994, 243). Dabei argumentiert er jedoch vehement gegen „die idealistischen Vorstellungen eines autonom handelnden Subjekts mit vordiskursivem Bewusstsein und Handeln“ (Strüver 2009, 70f.) und spricht sich gegen einen erkenntnistheoretischen Weg aus, der „dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt“ und „zu einem transzendentalen Bewußtsein führt“ (Foucault 2008, 15; vgl. Albert 2008, 153). Der Vorwurf der Verbannung des Subjekts aus seinem Werk ist somit nicht haltbar, jedoch verständlich, da das Subjekt in seinen Theorien hinter die Vorbedingungen seiner Existenz zurücktritt. 14 Was Foucault interessiert, sind die Bedingungen von Subjektivität; d.h. „die verschiedenen Verfahren […] durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden.“ (Foucault 1994, 243) „Wissensformate“, „Machtsysteme“ und „Selbstpraktiken“ (Foucault 1986a, 10ff.) stellen für ihn die drei zentralen „Weisen der Objektivierung [dar], die Menschen in Subjekte verwandeln“ (Foucault 1994, 243). Da sich Foucault diesen drei Dimensionen der Subjektivierung in seinem umfangreichen Werk aus verschie-
12 Albert (2008, 155) verortet die linguistische Einschränkung des Subjekts auf vier Ebenen: „auf phonetischer Ebene muss das sprechende Subjekt aus einem festgelegten Vorrat distinkter Laute auswählen“; „auf syntaktischer Ebene muss es seine Gedanken in eine Satzmuster bereits gegebene Form bringen“; „auf semantischer Ebne muss es sich voneinander abgegrenzter Kategorien bedienen“ und „auf pragmatischer Ebene muss das Subjekt konventionell festgelegte Formen der Akzeptabilität wahren.“ Um sprechen zu können (bzw. um verstanden zu werden), „muss das Subjekt in den Grenzen des Sagbaren bleiben“ und dafür einen ‚diffusen Tabu-Bereich‘ des Nicht-Sagbaren akzeptieren“. 13 Zu Lacans Kritik am cartesischen Cogito vgl. Gondek (2001, 133ff.). 14 Vgl. u.a. „Das Subjekt und die Macht“ (Foucault 1994), wo die Abhandlung über das Subjekt dem vorrangigen Ziel der Analyse von Machtverhältnissen untergeordnet bleibt.
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denen Richtungen annähert, unterliegt auch sein Subjektbegriff einer gewissen graduellen und perspektivischen Verschiebung (vgl. Nonhoff 2006, 151). In einer ersten, häufig als „archäologisch“ bezeichneten Phase seines Werkes schließt Foucault an linguistische Theorien an, indem er auf die Bedingtheit des Subjekts durch die Vorgängigkeit der Sprache verweist (vgl. Albert 2008, 155; Foucault 1974, 390; Nonhoff 2006, 152). Die Existenz eines sprechenden oder schreibenden Menschen weist er jedoch nicht zurück. Er betont lediglich, dass eine Person nicht als alleiniger Autor des Gesagten gelten kann (vgl. Foucault et al. 2007, 21). Foucaults Erweiterung besteht in der Einführung einer Unterscheidung zwischen Sprache und Diskurs: Sprache wird definiert als System, das eine endliche Menge an Regeln für eine potenziell unendliche Menge an Aussagen zur Verfügung stellt. Diskurs definiert er als „Feld der diskursiven Ereignisse“, d.h. als die begrenzte Anzahl tatsächlich formulierter Sprachsequenzen (Foucault 1981, 42). Die zentrale Frage danach, warum eine bestimmte Aussage an einer bestimmten Stelle steht (und keine andere), kann, entsprechend der Annahme einer Vorgängigkeit sprachlicher und epistemischer Strukturen, nicht durch Rückgriff auf die Intentionen eines sich selbstbewussten Subjekts beantwortet werden, sondern erfordert die Erforschung der den Aussagen zugrunde liegenden Struktur des Diskurses (Albert 2008, 156). Indem Diskurse Positionen bereitstellen, von denen aus Menschen als Subjekte sprechen können (vgl. Foucault 1981, 139 und 285; Nonhoff 2006, 153), begrenzen die Diskurse die Menge des Sagbaren (zu dem, wie gezeigt, auch die Kategorien gehören, mit und anhand derer ein Subjekt sich selbst und andere identifizieren kann). Mit genau dieser, in Diskursen begründeten, „identifikatorischen“ Macht beschäftigt sich Foucault u.a. in der als „genealogisch“ beschriebenen Phase seines Werkes. Ihn beschäftigt die „Machtform, die aus Individuen Subjekte macht“, indem sie „das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muß und das andere in ihm anerkennen müssen.“ (Foucault 1994, 246) Diese Macht der Subjektivierung, „die das Individuum an es selbst fesselt und dadurch anderen unterwirft“ (Foucault 1994, 247), hängt für ihn unmittelbar mit Mechanismen von (ethnisch, sozial oder religiös begründeter) Herrschaft und/oder Formen der (ökonomischen) Ausbeutung zusammen. Ausgehend von der Bedeutung des modernen Staates, der „eine zugleich individualisierende und totalisierende Form der Macht“ ausübt, schreibt Foucault (1994, 247) dieser subjektivierenden und klassifizierenden Machtform für aktuelle gesellschaftliche Konfliktkonstellationen jedoch eine besonders hohe Relevanz zu.15 Wichtig ist dabei, Foucaults Machtverständnis insoweit zu präzisieren, als für ihn Macht nicht nur restriktiv, sondern auch produktiv wirkt. Gesellschaft ist nicht ohne Regulierungen als Orientierungsrahmen denkbar. Machtverhältnisse sind demnach unhintergehbarer Teil von Gesellschaftlichkeit.16 Macht und Freiheit bleiben eng verbunden: „Macht wird nur auf ‚freie Subjekte‘ ausgeübt und nur sofern diese ‚frei‘ sind“ (Foucault 1994, 255). Nur wenn Subjekten verschiedene
15 Zentrale Oppositionen bzw. Oppositionsbewegungen zielen ihm zufolge gegen die Macht der Männer über Frauen, der Eltern über die Kinder, der Medizin(er) über die Bevölkerung und der Verwaltung über das Leben der Leute (Foucault 1994, 247). 16 Wobei bestimmte Machtverhältnisse problematisch sein können (Albert 2008, 160).
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Handlungsoptionen offen stehen, kann auf sie Macht ausgeübt werden „indem ihnen eine Handlungsalternative nahegelegt oder versperrt wird und sie sich der Macht beugen oder um den Preis mehr oder weniger schwerer Sanktionen widersetzen können“ (Albert 2008, 160f.). Ausgehend von der subjektkonstitutiven Disziplinarmacht und den Disziplinartechnologien, die u.a. durch staatliche Organe ausgeübt werden, wendet Foucault sich in seinen späteren Arbeiten subtileren Formen der Subjektivierung zu. Er fragt danach, welches die „Formen und Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt“ (Foucault 1986a, 29). Es geht also um „Technologien des Selbst“ (vgl. hierzu Strüver 2009, 74); um jene Formen und Praktiken, „in denen man sich selbst zum Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich nehmen soll, um sich umzubilden, zu verbessern, zu läutern, sein Heil zu schaffen“ (Foucault 1986b, 59). Der Schwerpunkt seiner Fragestellung verschiebt sich von der Frage, wie Diskurse Subjekte determinieren, zu der Frage „wie sich Subjekte ‚selbst‘ und als ‚freie‘ konstituieren, um gegenüber den Macht- und Diskursverhältnissen eine gewisse Distanz zu gewinnen“ (Sarasin 2008, 13). Da jedoch Subjekte nicht außerhalb der Macht stehen, wird ein Subjekt auch dann durch Normen konstituiert, „wenn es gegen sie opponiert, weil es sich auch dann auf die normativen Kategorien und Differenzierungen beziehen muss. Ohne eine solche Bezugnahme könnte es nicht als Subjekt sprechen, würde also gar nicht erst gehört werden.“ (Albert 2008, 165) Opposition und Widerstand sind folglich möglich, jedoch nur von Innen heraus, in Form von Subversion (vgl. Macherey 1991, 186; und Kap. 6.5). Somit wird deutlich, dass Subjekte auch aus einer Foucault’schen Perspektive existieren. Sie konstruierten sich nicht nur selbst als ‚frei‘, sondern ein gewisser Freiheitsrahmen stellt auch die Bedingung der Möglichkeit ihrer Einbindung in gesellschaftskonstitutive Machtverhältnisse dar. Öffnet sich Foucault jedoch in der späten Phase seiner Forschung zunehmend für eine Vorstellung von einer „inneren, psychischen ‚Landschaft‘ der Subjekte“ (Hall und du Gay 1997, 13), so hindert ihn sein ambivalentes Verhältnis zur Psychoanalyse17 daran, in diese Richtung Anschlüsse zu suchen. Eine Antwort auf die Frage, wie sich das wechselseitige Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt genau darstellt, und welche Mechanismen bei der psychischen Konstituierung des Subjekts konkret greifen, lässt sich daher mit Foucault nur schwer beantworten. Mit ihren Bezügen auf Lacans psychoanalytischer Theorie sowie der Weiterentwicklung von Althussers Konzept der „Interpellation“ von Subjekten bieten die Politikwissenschaftler Ernesto Laclau und Chantal Mouffe hier eine hilfreiche Ergänzung und Weiterführung.
17 So differierte seine Haltung zu den Theorien Freuds und Lacans von seiner Sicht auf die Analysepraxis der jeweiligen Anhänger der Theorien (Pinguet 1991, 44f.). Grundsätzlich wies Foucault die als Determinanten und Schranken des Bewusstseins gehandelten Strukturen (z.B. die ödipalen Familienstrukturen) jedoch als historisch situierte Diskursmuster zurück, die selbst einer Diskursanalyse zu unterziehen, jedoch nicht als Erklärung zu akzeptieren seien (Sarasin 2008, 12f.; vgl. hierzu ähnl. kritisch Bourdieu 1976, 197f.).
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2.1.3. Das poststrukturalistische Subjekt: Artikulationen und Hegemonie Zur Entwicklung ihrer Diskurs- und Hegemonietheorie greifen Laclau und Mouffe (1990, 1985) auf post-marxistische Konzepte von Althusser und Gramsci zurück, die sie mit poststrukturalistischen Ansätzen, besonders mit Derridas radikalisierter Semiotik, verschneiden. Für die hier vorliegende Frage nach den Auswirkungen des deutschen Islambildes auf die Alltagsgestaltung und Identitätskonstitution von Muslimen in Deutschland sind die diskurs- und gesellschaftstheoretischen Konzeptionen von Laclau und Mouffe in zweierlei Hinsicht relevant. Erstens hat sich ihr „radikal anti-essentialistische[s] Verständnis von Gesellschaft“ und ihr „radikal konstruktivistisches Verständnis von Identität“ (Glasze und Mattissek 2009a, 154) als hilfreich erwiesen, um zu untersuchen, wie imaginierte Gemeinschaften (‚kollektive Identitäten‘) diskursiv konstituiert werden. Wie eine Reihe kulturgeographischer Arbeiten gezeigt hat (vgl. u.a. Mattissek 2008; Brailich et al. 2008; Dzudzek 2011; Glasze 2011; Husseini de Araújo 2011), eignet sich ihre Theorie besonders gut, um der Frage nachzugehen, wie in Vorstellungen von sozialen Kollektiven und/oder politischen Gemeinschaften „Differenzierungen von Eigenem und Fremden mit räumlichen Differenzierungen verknüpft werden“ (Glasze und Mattissek 2009a, 154). In diesem Fall wird dieser Theorieansatz daher in Kap. 3.2 zum Einsatz kommen, um zu diskutieren, welche Rolle und Funktion dem deutschen Islambild für die diskursive Etablierung einer imaginären ‚deutschen Nationalgesellschaft‘ zukommt. Mit der Diskurs- und Hegemonietheorie nach Laclau und Mouffe kann also danach gefragt werden, durch welche Mechanismen soziale Differenzlinien etabliert werden, mit deren Hilfe Individuen sich und andere identifizieren, unterscheiden und ein- und ausgrenzen. Sie eignet sich somit sehr gut, um die erste Identitätsdimension nach Brubaker und Cooper (= Prozesse und Kategorien der Selbst- und Fremdidentifizierung) zu untersuchen. Zweitens ist hier jedoch auch der Frage nachzugehen, ob und wie sich die Etablierung bestimmter, sozial relevanter Differenzlinien auch auf das handlungsleitende Selbst-Verständnis von sozial und diskursiv konstituierten Subjekten auswirkt (= zweite Identitätsdimension nach Brubaker). Hierfür wird im zweiten Teil dieses Kapitels detaillierter auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Diskurs einzugehen sein, wie es besonders von Laclau (1990) unter Rückgriff auf das post-marxistisch interpretierte Konzept der Interpellation nach Althusser (1977) sowie die poststrukturalistisch angelegte Psychoanalyse nach Lacan (1973) erarbeitet wurde. Eine für die konkrete Fragestellung hilfreiche Diskussion und Weiterführung des poststrukturalistischen Subjektbegriffes nach Laclau und Mouffe findet sich darüber hinaus bei Nonhoff (2006, 149-175). Diskurs und Hegemonie Im Anschluss an Derrida wird bei Laclau und Mouffe der Diskursbegriff temporalisiert und dadurch gleichzeitig destabilisiert. Da die soziale Welt nicht auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden kann, und ihr nicht ein einzige, sondern eine Vielzahl von Begründungsmustern und Sinnkonstruktionen zugrunde liegen, ist sie durch
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eine „Überdeterminiertheit“18 gekennzeichnet (vgl. Glasze und Mattissek 2009a, 157; Laclau und Mouffe 1991, 162f.). Durch die partielle Fixierung und Verknüpfung von bestimmten Signifikanten („Knotenpunkte“ oder „points de capiton“), die Laclau und Mouffe als „Praxis der Artikulation“ bezeichnen, werden Bedeutungen temporär fixiert. Ein Diskurs entsteht aus dieser Perspektive durch die fortlaufende Praxis der Artikulation: einzelne Sinnelemente [differentielle Positionen oder „flottierende Signifikanten“ (vgl. Marchart 1998, 8)] werden – temporär – miteinander verknüpft und verbunden, und somit als „Momente“ in den Diskurs eingebunden (Laclau und Mouffe 1991, 155). Diskurse stellen demnach den Versuch dar, „das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren“ (Laclau und Mouffe 1991, 164). Die „Umwandlung“ von Elementen zu Momenten vollzieht sich jedoch immer nur partiell. Auf Dauer verhindert die „Offenheit des Sozialen“, d.h. die nicht zuletzt in der Polysemie der Sprache begründete „überdeterminierte, symbolische Dimension einer jeden sozialen Formation“ (Laclau und Mouffe 1991, 165) eine vollständige, endgültige Schließung des der Gesellschaftlichkeit zugrunde gelegten Bedeutungssystems. Diskurse sind somit stets durch Brüche, Lücken und Ambivalenzen gekennzeichnet. Eine „Gesellschaft“, gedacht als festgefügtes, geschlossenes und mit sich selbst identisches System, ist aus dieser Perspektive eine Illusion.19 Für bestimmte raumzeitliche Konstellationen jedoch können sich bestimmte Diskurse als (scheinbar) universal und alternativlos präsentieren. Eine solche Expansion eines Diskurses zu einem „dominanten Horizont sozialer Ordnung“ (Glasze und Mattissek 2009a, 160) bezeichnen Laclau und Mouffe mit dem von Gramsci entlehnten und seiner ökonomistischen Grundlage entledigten Begriff der „Hegemonie“. Beispiele für hegemonial etablierte Diskurse (bzw. „Projekte“) stellen nach Reckwitz (2011, 304) z.B. die bürgerliche Gesellschaft, der Neoliberalismus oder die wohlfahrtsstaatliche Massendemokratie dar. Die oben erwähnte Illusion eines einheitlichen sozialen Gebildes und/oder einer politischen Gemeinschaft mit einheitlichen und gleichen Interessen (hierzu zählt in diesem Kontext auch der marxistisch begründete Klassenbegriff) wird sprachlich und gesellschaftlich etabliert, indem eine Vielzahl an unterschiedlichen Positionen und Interessen (Diskursmomente) als äquivalent gesetzt wird. Indem die Diskursmomente in Bezug auf einen gemeinsamen „Knotenpunkt“ äquivalent gesetzt werden, wird die „Logik der Differenz“ nach Innen durch die „Logik der Äquivalenz“ überprägt. Um einen gemeinsamen Nenner für möglichst viele Diskursmomente darstellen zu können, muss dieser Knotenpunkt selbst möglichst unspezifisch bzw. sinnenleert sein, weshalb er auch als „leerer Signifikant“ bezeichnet wird (Glasze und Mattissek 2009a, 165; der Begriff der ‚Demokratie‘ könnte hier ebenso ein Beispiel sein wie ‚der Islam‘, ‚der Nationalstaat‘ oder ‚Deutschland‘). Möglich wird die Überprägung von Unterschieden und Interessensdifferenzen nach Innen nur, indem der Knotenpunkt (und die anderen Glieder der Äquivalentket-
18 Vgl. Reckwitz (2011, 303f.) zur Herkunft des Begriffs bei Althusser und Freud. 19 Den Begriff der ‚Gesellschaft‘ – verstanden als geschlossene, konsensuale Einheit – ersetzen Laclau und Mouffe daher durch den offeneren Begriff des „Sozialen“ (vgl. Reckwitz 2011, 309, Glasze und Mattissek 2009a, 157 und Moebius und Gertenbach 2008, 4136).
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te) von einem als antagonistisch gesetzten „radikalen Anderen“ abgegrenzt werden. Indem es ermöglicht, die zusammengefassten Elemente (z.B. Staatsangehörige im Nationalstaat) als „gleich“ und zusammengehörig zu definieren, bedingt das „konstitutive Außen“ somit einerseits eine zusammenfassende Wirkung nach innen. Andererseits jedoch unterminiert das als antagonistisch gesetzte Diskurselement den universalistischen Gültigkeitsanspruch eines hegemonialen Diskurses, indem es seine Kontingenz aufzeigt und somit jede vollständige Schließung verhindert (Laclau 1990, 168). Hieraus ergibt sich also bereits an dieser Stelle die Frage, inwiefern ‚der Islam‘ und ‚die Muslime‘ im Rahmen aktueller nationalstaatlicher Diskussionen in Deutschland ein solches „konstitutives Außen“ darstellen, mit dessen Hilfe versucht wird, eine nicht definierbare deutsche „Leitkultur“ zu definieren und eine – unmögliche – einheitliche nationale Identität zu etablieren (vgl. hierzu Kap. 3.2). Subjekte als Artikulationen im Diskurs Subjekte werden bei Laclau und Mouffe definiert als die Gesamtheit aller kulturellen Subjektpositionen, „die der Einzelne sich durch die Vermittlung gesellschaftlicher Diskurse einverleibt“ (Reckwitz 2011, 308). Physische Individuen stellen somit die „Bedingung der Möglichkeit von Diskursen“ dar. Prädiskursiv gedachte Individuen bleiben jedoch eine theoretische Größe: Sobald Personen sprechen und handeln, tun sie dies „immer als mit Sinn versehen, differente und spezifische Individuen“ (Nonhoff 2006, 156). Ebenso wie es keine außerdiskursive soziale Welt gibt, gibt es folglich auch keine außerhalb der symbolischen Ordnung des Diskurses stehenden (nicht subjektivierte) Individuen. Um zu erklären, wie und warum Individuen in und durch Diskurse konstituiert und zu Subjekten gemacht werden, greift Laclau (ähnlich wie Butler, vgl. Kap. 2.1.5) auf das von dem marxistischen Philosophen Louis Althusser (1977) geprägte Konzept der „Interpellation“ zurück (vgl. Laclau 1981a). Althusser hatte die Funktion von Ideologie bei der Konstitution von Subjekten untersucht. Ihm zufolge werden Subjekte durch „ideologische Staatsapparate“, d.h. Institutionen wie Familie, Schule oder Kirche, „interpelliert“. Diese lehren und definieren, was ein Arbeiter, Unternehmer, ein Mann oder eine Frau ist und rufen Individuen somit in bestimmte, gesellschaftlich definierte Subjektpositionen ein.20 Nachdem bereits Pêcheux das Konzept der Anrufung sowohl in Bezug auf Ideologien als auch Diskursen diskutierte (vgl. Heath 1978, 69f.), wird es bei Laclau und Mouffe endgültig vom Ideologiebegriff abgetrennt und auf Diskurse übertragen: Subjekte werden durch Diskurse „interpelliert“ und in bestimmte Subjektpositionen einberufen (Glasze und Mattissek 2009a, 162; Nonhoff 2006, 159). In der ersten Ausarbeitung dieses Subjektbegriffs in „Hegemony and socialist strategy“ stellt sich die Beziehung zwischen Diskurs und Subjekt noch als eine vergleichsweise einseitige dar: Diskurse rufen die Subjekte in ihre Subjektpositionen;
20 Althusser wird u.a. von Paul Hirst vorgeworfen, von diskurs- und gesellschaftsvorgängigen Subjekten auszugehen (Heath 1978, 70). Nonhoff (2006, 154) wendet dagegen ein, dass auch Althusser zufolge, Kinder bereits vor ihrer Geburt subjektiviert werden (als Mädchen, Junge, Thronfolger). Ein nicht subjektiviertes Individuum existiert somit nur in der Theorie (vgl. zur Debatte auch Hall und du Gay 1997, 8f. und Angermüller 2005, 77).
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qua Artikulierung werden Subjekte zu Elementen des Diskurses. Die Instabilität von Subjekten ergibt sich dabei durch den „dislozierend wirkenden Antagonismus der Diskurse“ (Reckwitz 2011, 308): Da der Diskurs nie geschlossen werden kann, gilt dies auch für die Subjektpositionen, die er bereitstellt. Im Zeitverlauf bedeutet dies, dass die durch Artikulationen konstituierten Subjekte immer wieder Bedeutungsverschiebungen erfahren, indem sie in andere Relationen eingebunden werden, oder die diesen zugrunde liegenden Äquivalenzketten verschoben und neu verknüpft werden. Subjekte können so über die Zeit verschiedene, auch sich widersprechende Subjektpositionen einnehmen, ohne dass sich das physische Individuum notwendigerweise grundlegend bzw. schlagartig ändert (Nonhoff 2006, 157). In seinen späteren Überlegungen begründet Laclau (1990, 210) in der Dislokation, d.h. dem konstitutiven Mangel des Diskurses, eine gewisse Freiheit der Subjekte: Da der Diskurs Lücken und Brüche aufweist, stellt er zwar Subjektpositionen zur Verfügung, determiniert jedoch nicht, wie diese einzunehmen sind. Die Distanz zwischen der im Diskurs angelegten Unentscheidbarkeit und der notwendigen Entscheidung macht die Existenz eines Subjektes unumgänglich, „welches sich konstituiert, indem es die Distanz, den Bruch im Diskurs[,] immer aufs Neue und in letztlich nie befriedigender Weise überbrückt“ (Nonhoff 2006, 162; vgl. Laclau 1990, 30). Letzthin ist also die Artikulation zwischen Diskurs und Subjekt als eine wechselseitige Beziehung zu denken, die das Subjekt als ein im Diskurs beschränkt freies, handelndes Wesen konstituiert: Einerseits „re-artikuliert [...] der Diskurs kontinuierlich verschiedene Subjektpositionen und deren Verhältnis zueinander“, andererseits aber „treten Subjekte durch Akte der Artikulation in den Diskurs ein, performieren Akte der Artikulation und halten damit Diskurse in Bewegung“ (Nonhoff 2006, 159). Das heißt, dass im Moment der Artikulation Subjekte immer schon diskursiv konstituiert sind. Gleichzeitig jedoch können sie eine bestimmte diskursiv bereitgestellte Subjektposition durch ihre Artikulation verändern.21 Die Notwendigkeit von Artikulationen und Identifizierung mit bestimmten Subjektpositionen wird zum einen diskurstheoretisch dadurch erklärt, dass das Subjekt als Element des Diskurses „Anteil an der Unabgeschlossenheit der diskursiven Struktur hat“ und durch einen Mangel an „struktureller Identität“ (Laclau 1990, 44) gekennzeichnet ist. Diesem muss es kontinuierliche Akte der Identifikation entgegensetzen (Nonhoff 2006, 163). Zum anderen bietet Lacans psychoanalytische Theorie eine plausible Erklärung für eine immer schon gescheiterte menschliche Identität an. Angeregt durch Žižek (1990) integriert Laclau diesen psychoanalytischen Ansatz in den späteren Teil seines Werkes. Ohne der Komplexität von Lacans Theorie auch nur annähernd gerecht zu werden, sollen im Folgenden einige zentrale Annahmen vorgestellt werden, die zu einem vertieften Verständnis des reformulierten Subjektbegriffs bei Laclau verhelfen: Lacans (1973) psychoanalytische Theorie bezieht sich stark auf Freud, wobei er dessen Theorie andererseits weitreichend umarbeitet. Durch Rückgriff auf struktura-
21 Nonhoff (2006, 162) erläutertet dies am Bsp. der Aufnahme der „Sozialen Markwirtschaft“ in das Parteiprogramm der SPD, wobei durch diese neue Artikulation sich sowohl die Bedeutung von „SPD“ veränderte als auch das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ein verändertes Gewicht erhielt.
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listische Denker wie Lévi-Strauss und Saussure (vgl. Gondek 2001, 147f.) sowie Sartres (1991) Intersubjektivitätstheorie entfernt er sich von den biologistischen Vorannahmen und der fundamentalistischen Trieblehre Freuds (Honneth 1988, 74f.). Lacan gehört somit zu den Objektbeziehungstheoretikern, die sich von Freuds „EinPersonen-Psychologie“ abgrenzten (Dews 2001, 230, 235). Nach Lacan ist das Subjekt in seinem Sein angewiesen auf den Anderen.22 Die Subjektwerdung des Kleinkindes (Infans) erfolgt durch seine Einbindung in persönliche Beziehungen (in der Regel: die Eltern) und die ihn und sie umfassenden gesellschaftlichen Strukturen. Ein Kleinkind nimmt sich zunächst nicht als eigenständiges Subjekt wahr, sondern lebt in einem Gefühl des Einsseins mit der Natur (jouissance). Dies ändert sich erst, wenn es sich in den Augen der anderen oder in Form seines eigenen Spiegelbildes erstmals selber ‚sieht‘ und somit als Subjekt erkennt. Nach Lacan provoziert dies jedoch eine erste Entfremdung: Das Kind identifiziert sich mit etwas, das es in seiner Totalität nicht fühlt, an einem Ort, an dem es selbst nicht ist (im Spiegel). Selbsterkenntnis ist also nur in der Form eines Verkennens möglich (Glasze und Mattissek 2009a, 163). Bereits in diesem – dem Imaginären zuzurechnenden – Stadium ist das Subjekt durch einen Mangel gekennzeichnet. Dieser Mangel wird durch den Eintritt des Kindes in die Welt der Sprache verschärft. Ab diesem Eintritt in die Dimension des Symbolischen muss das Kind seine Bedürfnisse durch die Engführung der sprachlichen Signifikanten transportieren. Hierdurch erklärt Lacan die uneinholbare Entfremdung, die das Subjekt als ein begehrendes konstituiert (Braun 2007, 96, 99f.). Mit dem Eintritt des Kindes in die Sprache und der damit verbundenen Unterwerfung unter das Gesetz des Diskurses rekonzipiert Lacan den Freudތschen Ödipus- und Kastrationskomplex als symbolischen Prozess:23 Ab diesem Zeitpunkt muss die enge Bindung zwischen Kleinkind und Mutter aufgehoben werden, um dem Kind das Erwachsenwerden zu ermöglichen (Braun 2007, 120). Das Gesetz, das diese zu starke Bindung untersagt, ist das des symbolischen Vaters: es ist das Gesetz, das die Herrschaft der Kultur über die Natur herstellt und das Kind der Ordnung der Sprache unterwirft (Roudinesco und Plon 2004, 744). Indem das Kind sich der symbolischen Herrschaftsordnung und dem System der Differenzen unterwirft, die nach Lacan die Grundlage von Gesellschaftlichkeit sind, wird es als Subjekt konstituiert (vgl. Albert 2008, 154; Burke 1992, 100). Das Subjekt strebt nun danach, seinen primordialen Mangel zu kitten, z.B. indem es sich mit bestimmten Subjektpositionen identifiziert. Die frühkindliche Entfremdung jedoch, die dem Bereich des „Realen“ zugeordnet wird, kann im Symbolischen nie eingelöst werden (Reckwitz 2011, 308). Eine Identität – verstanden als fester Wesenskern – ist von Anfang an gescheitert und kann niemals erreicht werden (vgl.
22 Vgl. hierzu aktuelle Erkenntnisse der medizinischen Psychologie, u.a. McLaughlin (2012). 23 Butler (2000a, 137f.) versteht das Inzesttabu bei Lacan als transzendental und kritisiert, hierdurch würden Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität festgeschrieben und politischen Kämpfen entzogen (vgl. Distelhorst 2007, 89; Dews 2001, 236). Psychoanalytiker wenden ein, dass Lacan den Phallus als symbolisches Objekt des unerfüllten Begehrens beider Elternteile definiert (Signifikant), das „unabhängig von den physischen Gegebenheiten“ zu sehen ist (vgl. Widmer 2001, 33). Dennoch auftretende geschlechtsspezifische Unterschiede seien kulturspezifisch zu erklären.
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Dörfler 2001, 30). Die Vorstellung einer solchen Identität entsteht nur als imaginäre Schließung eines Subjekts, „das sich so als relativ einheitlich und kohärent erfahren kann“ (Arndt 2008, 72). Im Rahmen der Hegemonietheorie wird das „Subjekt als Mangel“ insofern noch weiter dezentriert als bei Lacan, als Laclau und Mouffe davon ausgehen, dass ein Subjekt in Relation zu verschiedenen Diskursen steht. Durch Artikulationen können sich verschiedene und auch gegensätzliche Diskurse im Subjekt kreuzen, so dass ein Subjekt nicht nur nacheinander, sondern auch gleichzeitig unterschiedliche, auch gegensätzliche Subjektpositionen einnehmen kann (Nonhoff 2006, 163). Identität als Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ wird somit re-definiert als „articulated set of elements“ (Laclau 1990, 32), als „kontingente und temporäre Struktur, die verschiedene Elemente verbindet“ und so eine Illusion von „Einheit und Zugehörigkeit vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit sozialer Bruchlinien“ erzeugt (Glasze und Mattissek 2009a, 162). Zwischenstand Auf der Suche nach dem Zusammenhang von Diskurs, Subjekt und Identität lässt sich an dieser Stelle zunächst Folgendes festhalten. Erstens kann ein Diskurs nach Laclau definiert werden als „Ensemble der Phänomene gesellschaftlicher Sinnproduktion, das eine Gesellschaft als solche begründet“ (Laclau 1981b, 176, zitiert nach Bührmann und Schneider 2008, 44f.). Als symbolische Ordnung des Sozialen regulieren Diskurse somit nicht nur sprachliche Praktiken, sondern auch alle sozialen Praktiken, die, wenn sie relevant sein sollen, immer schon mit Sinn versehen und somit in diskursive Strukturen eingebunden sind. Innerhalb von Diskursen wird nicht nur das Denk- und Sagbare definiert. Auch die Kategorien, mit denen Personen sich und andere identifizieren, sind in diese symbolische Ordnung der sozialen Welt eingeschrieben. Mit Rückblick auf Foucault konnte zweitens gezeigt werden, dass Individuen insofern als Effekt von Diskursen zu verstehen sind, als sie in und durch Macht-/Wissensordnungen subjektiviert werden. Dennoch bleibt auch für Foucault die Freiheit des Subjekts die Bedingung für seine Unterwerfung. Drittens konnte mithilfe der Diskurs- und Gesellschaftstheorie von Laclau und Mouffe das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt näher bestimmt werden. Aus poststrukturalistischer Perspektive sind weder Diskurse noch die von ihnen bereitgestellten Subjektpositionen endgültig schließ- oder fixierbar. Genau in diesem „Mangel“ des Diskurses tritt das Subjekt als notwendige Größe auf. Subjekte werden einerseits durch Diskurse in bestimmte Subjektpositionen gerufen. Der Prozess der Subjektkonstitution wird jedoch andererseits als Artikulation, d.h. als wechselseitiger Prozess, konzipiert. Subjekte treten in den Diskurs ein, indem sie sich mit einer bereitgestellten Subjektposition identifizieren, die sich wiederum durch diese Artikulation verändern kann. Mit ihrem diskurstheoretischen Konzept von ‚Identität’ als über ein antagonistisches Außen und einen leeren Signifikanten nach innen etablierte Äquivalenzstruktur bieten Laclau und Mouffe einen überzeugenden Analyseansatz für die Mechanismen, über die Vorstellungen sozialer und politischer Einheiten, mit oder ohne inhärente räumliche Bezüge (wie z.B. ‚die Deutschen‘, ‚die Muslime‘), sprachlich konstituiert und politisch relevant gemacht werden. Durch den Anschluss an Lacans Theorie der Subjekt-Werdung im Kindesalter, können sie darüber hinaus nicht nur diskurstheoretisch herleiten, sondern auch psychoanalytisch begründen, warum Subjekte sich im-
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mer wieder neu mit Subjektpositionen identifizieren und sich in Diskursen artikulieren müssen. Eine Problematik ergibt sich jedoch aus dem Umstand, dass das Subjekt bei Laclau und Mouffe primär als ein politisches konzipiert wird, d.h. als durch Dislokationen bedingt und in Prozessen der politischen Entscheidungsfindung hervorgebracht. Durch diesen Fokus auf die Kontingenz gesellschaftlicher Strukturen und individueller Subjektivität, lässt sich nur schwer erfassen, welche Bedeutung das „Soziale“ für die Entwicklung eines subjektiven Selbst-Verständnisses spielt. Dies wird definiert als alles, „dessen politischer, da kontingenter und somit zu entscheidender Hintergrund nicht mehr offenbar ist“ (Arndt 2008, 49). In dieser Hinsicht wenden die Politikwissenschaftler Nonhoff (2006) und Arndt (2008) ein, dass auch aus einer poststrukturalistischen Perspektive die Bedeutung des Sozialen für die Konstitution von Subjekten bzw. die Etablierung eines handlungsleitenden Selbst-Verständnisses nicht vollständig ausgeschlossen oder zurückgewiesen werden kann. So gibt Arndt (2008, 49) zu bedenken, dass die durch Diskurse bereitgestellten Subjektpositionen meist nicht völlig neu artikulierte Äquivalenzketten darstellen, sondern zumindest teilweise auf „sedimentierte und nicht mehr hinterfragte Subjektivierungsorte [und] soziale Rollen“ zurückgreifen. Auch Nonhoff (2006, 166) geht davon aus, dass Entscheidungen aus der Vergangenheit den Kontext für weitere Artikulationen und Entscheidungen darstellen. Dies bedeutet, dass, auch wenn theoretisch alles mit allem zu artikulieren wäre, in der Praxis eine Entscheidung zwar kontingent, aber nicht beliebig ist. Wenn Subjektivität nun als Effekt einer Vielzahl von Entscheidungen gesehen wird, muss zeitlich gesehen ebenfalls vor einer bestimmten Entscheidung bereits eine Form von Subjektivität bestehen. Dies erklärt für Nonhoff (2006, 166), warum Subjektivität zwar auf verschiedene Subjektpositionen verstreut und nie zur Gänze etabliert ist, jedoch trotzdem einen gewissen Grad an Stabilität aufweist. Auch wenn Subjekte keine geschlossene Identität erlangen, können sie durch Artikulationen partielle Repräsentationen ihrer selbst realisieren, die mit der Zeit sedimentieren und so zu einer Ressource des Selbst-Verständnisses werden (Arndt 2008, 72). Ein vertieftes Verständnis dessen, was bei Brubaker und Cooper „SelbstVerständnis“ genannt wird, das in Form von bestimmten Dispositionen handlungsleitend fungiert und, wie gezeigt, auch den Möglichkeitsraum für raumbezogene Zugehörigkeiten einschränkt, ist für die hier vorliegende Arbeit jedoch erstens notwendig, um die eingangs bereits erwähnten sehr unterschiedlichen Sichtweisen und Positionierungen meiner Interviewpartner/-innen zu erklären. Zweitens wird nur hierüber zu erläutern sein, wie sich das deutsche Islambild auf subjektiv empfundene und formulierte Zugehörigkeiten auswirkt. Ich möchte nun argumentieren, dass sich in den praxistheoretischen Ansätzen Bourdieus eine an die bisher entwickelte Konzeption eines Subjekts als diskursiv und sozial konstituiertem Individuum anschlussfähige Theorie findet, mit deren Hilfe genau diese Schnittstelle zwischen Subjekt und kontingenter, aber in bestimmter Weise sedimentierter, sozialen Welt zu erfassen ist. Mit seinem Konzept des Habitus bietet Bourdieu nicht nur eine Erklärung für die Funktionsweise einer derart sedimentierten Sozialität. Mithilfe seiner Feld- und Kapitalkonzepte lassen sich darüber hinaus auch die Konsequenzen individueller Positionierungen im sozialen Raum genauer in den Blick nehmen, die weder mit Laclau und Mouffe noch mit Foucaults Konzept diskursiver Subjektpositionen ausreichend differenziert be-
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leuchtet und diskutiert werden können (vgl. hierzu Kritik in Hall und du Gay 1997, 10). Dass ein praxeologisch angelegtes Analysekonzept dem bisher erläuterten nicht diametral gegenübersteht, sondern vielmehr als komplementärer Zugang zu bewerten ist, werde ich im zweiten Teil des Kapitels mit Rückgriff auf Bourdieus Überlegungen zur symbolischen und sprachlichen Konstitution der sozialen Welt zeigen (vgl. besonders Bourdieu 1987a). 2.1.4. Die symbolische Herrschaft: Subjekt, Sprache und Gesellschaft bei Bourdieu Warum Bourdieu? Mit seinem erkenntnistheoretischen Zugang, den er als praxeologisch kennzeichnet, stellt Bourdieu darauf ab, den Dualismus zwischen Objektivismus und Subjektivismus zu überwinden (Stäheli 2000, 58).24 Dem Objektivismus, zu dem er sowohl Marx und Durkheim als auch den Strukturalismus von Lévi-Strauss, Althusser und de Saussure rechnet, wirft Bourdieu vor, die „sozialen Fakten wie Dinge zu behandeln“ (1987a, 148), d.h. die dem Sozialen zugrunde liegenden Strukturen unter völliger Abstraktion von der Primärerfahrung und Eigenperspektive sozialer Akteure zu konzipieren (Bourdieu 1976, 147-161). Das Problem der subjektivistischen Erkenntnisweise dagegen, zu der Bourdieu die Phänomenologie nach Schütz, aber auch den Interaktionismus von Goffmann und die Ethnomethodologie nach Garfinkel rechnet, sieht er darin, dass diese zwar die Primärerfahrungen und Vorstellungen der sozialen Akteure zur Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis machen, damit jedoch eine irreleitende Kontinuität von Alltagserfahrung und wissenschaftlich-theoretischen Erkenntnissen implizieren. Hierbei wird übersehen, dass „die Handelnden nie genau wissen, was sie tun“ und daher ihr Handeln mehr Sinn hat, als sie es selbst wissen (Bourdieu 1987b, 127). Um dieses Mehr an Sinn herausarbeiten zu können, reicht es nicht aus, wissenschaftliche Erkenntnis als Konstruktion zweiter Ordnung aus der als unmittelbar wirkend definierten Wahrnehmung der Akteure abzuleiten. Stattdessen gilt es für Bourdieu, den vom Objektivismus eingesetzten Bruch zwischen Primärerfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis beizubehalten, um den unterschiedlichen Erkenntnisweisen und Logiken der Alltagspraxis und der wissenschaftlichen Praxis gerecht zu werden, ohne jedoch Vorstellungen, die sich die Akteure von ihrer Praxis machen, vollständig auszuklammern (vgl. Schwingel 2009, 53). Insofern eignet sich ein praxeologischer Ansatz nach Bourdieu auch für die vorliegende Arbeit in idealer Weise, um einerseits an den subjektiven Erfahrungen und Weltkonstruktionen der Interviewten anzusetzen und diese ernst zu nehmen, andererseits jedoch nicht bei einem rein „einfühlendverstehenden“ Ansatz stehen zu bleiben, sondern das Gesagte auf die dahinter liegenden und in dem Gesagten zutage tretenden symbolischen und sozialen (Diskurs-) Ordnungen hin zu befragen und somit zu objektivieren.
24 Zu Bourdieus „Kritik der scholastischen Sicht“ vgl. vertieft Lippuner (2005b, 181-196).
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Habitus, Feld und Positionierungen in der sozialen Welt Ausgehend von dem Gesamtziel eines zwischen objektivistischen und subjektivistischen Kultur- und Gesellschaftstheorien vermittelnden Erkenntnisinteresses25 leitet Bourdieu (1976) das Ziel seiner „Theorie der Praxis“ ab: Es geht ihm um eine Untersuchung, die nicht nur das „von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen“ berücksichtigt, sondern darüber hinaus „die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trachten“, in die Analyse miteinbezieht (Bourdieu 1976, 147; Herv. i.O.). Um den dieser Relation zugrunde liegenden „doppelte[n] Prozeß der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität“ (Bourdieu 1976, 147) erklären und untersuchen zu können, entwickelt Bourdieu sein Konzept des Habitus. Menschliches Handeln, das betont Bourdieu an vielen Stellen, ist weder als voluntaristischer Akt noch als bewusstes Befolgen von Regeln zu verstehen, sondern wird durch ein Set an Dispositionen erzeugt, in denen „eine Prädisposition, eine Tendenz, ein Hang oder eine Neigung“ angelegt ist (Bourdieu 1976, 446; Herv. i.O.). Zu diesen Dispositionen gehören erstens Handlungsschemata, zweitens Wahrnehmungsschemata, die die alltägliche (sensuelle) Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren sowie drittens Denkschemata. Denkschemata umfassen sowohl jene Alltagstheorien und Klassifikationsmuster, mit denen Akteure die soziale Welt interpretieren und ordnen als auch implizite ethische Normen und ästhetische Maßstäbe zur Bewertung kultureller Objekte und Praktiken (vgl. Schwingel 2009, 62). Ein Gesamtset oder System „dauerhafter Dispositionen“ bezeichnet Bourdieu (1976, 165) als Habitus. Dieser ist durch eine inhärente Dialektik gekennzeichnet. Es handelt sich um „strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“ (Bourdieu 1976, 165). Strukturierend wirkt ein Habitus, indem er den Akteuren einen „Sinn für das Spiel“ (sens pratique) vermittelt, der ihre alltägliche Handlungspraxis implizit anleitet. Somit beinhaltet der Habitus einen Sinn für die eigene und für andere Positionen in der Gesellschaft, d.h., er vermittelt jenen „sense of place“, der für Brubaker und Cooper die Grundlage des Selbst-Verständnisses bildet. Die dem Habitus zugrunde liegenden Dispositionen sind jedoch nicht angeboren, sondern werden im Laufe der Sozialisation erworben und inkorporiert. Sie sind somit sozial strukturiert. An dieser Stelle grenzt Bourdieu sich deutlich von phänomenologischen Ansätzen ab. Die Vorstellung eines universalen und transzendentalen Egos weist er zurück. Stattdessen betont er, dass die Art und Weise, wie Akteure die soziale Welt wahrnehmen, klassifizieren und beurteilen, gerade nicht universell angelegt ist, sondern entscheidend dadurch geprägt wird, von welchem „Standpunkt“ (point de vue), aus welcher Position im sozialen Raum, diese Welt betrachtet wird (Bourdieu 1987a, 155). Das heißt, die jeweilige Position in der sozialen Welt strukturiert die Wahrnehmung und das Handeln vermittels des Habitus. Eine scheinbar unmittelbare Wahrnehmung ist nur dadurch – und nur dann – möglich, wenn die externen Strukturen, die zuvor im Habitus inkorporiert wurden, mit jenen übereinstimmen, die aktuelle Handlungen rahmen. Wenn dies zutrifft, können Praktiken objektiv an ihr Ziel an-
25 Für eine ausführlichere Diskussion und Einordnung vgl. Reckwitz (2000; 2004a; 2008).
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gepasst und somit rational erscheinen – ohne dass jedoch die Akteure notwendigerweise wissen, warum dies so ist (Bourdieu 2007, 150). In einem Habitus schlagen sich sedimentierte subjektive Erfahrungen und Lebenswege ebenso nieder wie die diese Erfahrungen rahmenden sozialen Relationen und Positionierungen (vgl. Moebius 2011, 58).Vermittelt wird der Habitus ab der frühesten Kindheit über die Lebensbedingungen der Familie, die durch die Verfügbarkeit über ökonomisches, kulturelles sowie soziales Kapital gekennzeichnet sind (s.u.). Diese objektiven sozialen Bedingungen werden zumeist unbewusst inkorporiert, das heißt in die Körper eingeschrieben: Durch die Ermahnungen der Erwachsenen, wie man zu sitzen oder zu sprechen hat, aber auch indem Kinder unwillkürlich die Mimik, Gestik und Haltung der Erwachsenen in ihrer Umgebung nachahmen. Über zutiefst unbewusste Empfindungen und Erfahrungen prägt sich nicht nur die umgebende Objektwelt in den Habitus ein, sondern auch die in diesen Objekten materialisierten gesellschaftlichen Verhältnisse (Bourdieu 1987b, 142, vgl. auch Kap. 2.2.2). Während Bourdieu (1987b, 113) den „ursprünglichen Erfahrungen“ des Kindheitsmilieus eine besondere Prägekraft attestiert, schließt er andererseits nicht aus, dass der Habitus im biographischen Verlauf durch neue und andersartige Erfahrungen immer wieder modifiziert und verändert wird (Schwingel 2009, 80f.). Veränderungen können beispielsweise dann angestoßen werden, wenn die fraglose Kongruenz von Habitus und „Habitat“, d.h. der symbolisch geordneten, sozialen Welt, nicht (mehr) gegeben ist, und so bestimmte Erlebnisse die habituell vermittelten Wahrnehmungs- und Denkschemata in Frage stellen (vgl. u.a. Mafaalani 2011, 6). Eine derartige Konstellation kann erstens der Eintritt in ein unbekanntes, neues, soziales Feld sein (s.u.) oder/und eine Veränderung des sozialen Umfelds aufgrund einer Migrationsentscheidung (vgl. Kap. 2.2.2). Zweitens kann es aber auch (geographisch immobile) Situationen geben, in der sich das soziale Umfeld schneller verändert, als es der Habitus vermag. Eine solche „Hysterestis“ des Habitus weist Bourdieu im Algerien der Kolonialzeit nach. Aufgrund seiner Feldforschung kommt er zu dem Schluss, dass die Kolonialherrschaft die gesellschaftlichen Strukturen dort so schnell und so tiefgreifend veränderte, dass der Habitus vieler Algerier den sozialen Strukturen quasi ‚hinterherhinkte‘. Auf die hier aufgeworfene Frage, ob, wann und wie schnell sich Habitus und soziale Strukturen verändern (oder eben reziprok reproduzieren), wird im Folgenden Kapitel mit Bezug auf Butlers praxistheoretisch fundiertes Konzept der Performativität zurückzukommen sein. Sinnvoll erscheint es in jedem Fall, die jeweils spezifische Konstellation von Raum, Zeit und Sozialem zu berücksichtigen (Reckwitz 2004b, 52): Denn einerseits geben Soziologen zu bedenken, dass in ‚modernen‘, westlichen Gesellschaften, die durch schnellen strukturellen Wandel, erhöhte soziale Mobilität, weniger starr festgeschriebene soziale Laufbahnen sowie den hierdurch erleichterten Zugang zu neuen, unbekannten Feldern gekennzeichnet sind, Situationen immer wahrscheinlicher werden, in denen Habitus und objektive soziale Strukturen nicht so übereinstimmen, dass eine reibungslose, unbewusste Reproduktion der Strukturen gesichert wäre (Schwingel 2009, 78f.; Krais 2004, 104f.). Andererseits ist jedoch weiterhin davon auszugehen, dass ein einmal ausgeprägter spezifischer Habitus danach trachtet, sich „vor Krisen und kritischer Befragung [zu schützen], indem er sich ein Milieu schafft, an das er soweit wie möglich vorangepasst ist“ (Bourdieu 1987b,
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114). Das sieht man beispielsweise daran, dass beim Eintritt in ein neues soziales Feld oder eine neue soziale Sphäre Freundschaften eher und leichter mit denjenigen geschlossen werden, die über einen ähnlichen Habitus verfügen und/oder ähnliche Lebenserfahrungen aufweisen – von derartigen Präferenzen und Erfahrungen berichteten auch meine Interviewpartner/-innen. Was ist unter einem „sozialen Feld“ zu verstehen? Mit dem Begriff und Konzept des Feldes entwickelt Bourdieu eine Alternative zu Vorstellungen von der Gesellschaft als „einheitliche, durch eine gemeinsame Kultur oder globale Autorität integrierte Totalität“ (Lippuner 2005a, 158). Bourdieu geht zwar nicht so weit wie Laclau und Mouffe, die den Begriff der Gesellschaft kategorisch zurückweisen [s.o.]. Aber ähnlich wie die Diskurstheoretiker nimmt auch er an, dass sich Gesellschaften – insbesondere in ihrer aktuellen, (post-)modernen Form – aus einer Vielzahl mehr oder weniger autonomer Kräfte- oder Spielfelder zusammensetzen, die sich nicht unter eine einzige gesellschaftliche Logik subsumieren lassen, sondern jeweils spezifischen „Spielregeln“ unterliegen. Sowohl die Regeln innerhalb der Felder als auch die Ausdifferenzierung verschiedener Felder selbst sind dabei auf eine historische Genese zurückzuführen. Bourdieu nennt hierzu beispielhaft das ökonomische Feld, das sich erst mit einem vereinheitlichten Markt und dem Aufkommen spezialisierter Wirtschaftssubjekte als autonomes Feld konstituiert hat sowie das kulturelle Feld, das sich erst durch die Objektivierung kultureller Traditionen mithilfe der Schrift sowie der Weitergabe und Aneignung dieser Traditionen im Rahmen eines Schulsystems herauskristallisierte. In Bezug auf die Eingliederung von Migranten in Deutschland stellt genau dies eine zentrale Erkenntnis bereit: Personen, die nie in ein autonomes kulturelles Feld eingebunden worden waren [dies trifft z.B. für Frauen aus dörflichem Umfeld in den Berbergebieten Marokkos zu], hatten keinerlei Chance, einen Habitus zu entwickeln, der ihnen das Erlernen der deutschen Sprache oder generell die Aneignung von Wissen, das in einem durch ein solches autonomes Feld geprägten sozio-kulturellen Setting für selbstverständlich gehalten wird, erleichtert, ermöglicht oder nahelegt (vgl. Kap. 6.3.1). Festhalten lässt sich somit an dieser Stelle, dass ‚die‘ Gesellschaft nach Bourdieu als mehrdimensionaler sozialer Raum zu begreifen ist, der verschiedene Felder als Subräume beinhaltet (vgl. Lippuner 2005a, 158). Aufgespannt werden die Felder durch ein Netz an Relationen zwischen den sozialen Akteuren, wobei sich deren Positionen aus den ihnen verfügbaren Ressourcen ableiten lassen. Bourdieu (1983) benennt in seinen Schriften das kulturelle, ökonomische und soziale Kapital als drei zentrale Formen solcher „Ressourcen“. Diese statten den Einzelnen mit „Verfügungsmacht“ aus und eröffnen oder beschränken so bestimmte Handlungsoptionen und Lebensbedingungen (vgl. Deffner 2010, 45). Das ökonomische Kapital bezeichnet in diesem Kontext ganz klassisch alle Formen materiellen, geldwerten Besitzes. Wesentlich interessanter für die hier vorliegende Fragestellung ist jedoch das soziale und kulturelle Kapital. Kulturelles Kapital findet sich für Bourdieu in drei Formen: als objektiviertes, institutionalisiertes und inkorporiertes kulturelles Kapital. Das inkorporierte Kulturkapital (Bildungskapital) besteht aus den kulturellen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Individuums. Da diese Kapitalsorte vollständig körpergebunden ist, kann sie nur unter Aufbringen einer bestimmten Zeit erworben werden; der Erwerb ist nicht delegierbar (Bourdieu 1983, 186). Die Inkorporierung erfolgt entweder stra-
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tegisch-bewusst (z.B. in Form von schulischer, beruflicher oder universitärer Bildung) oder aber unbewusst, so z.B. durch Übernahme einer bestimmten schicht- oder regionalspezifischen Sprechweise. Als Ergebnis seiner bildungssoziologischen Untersuchungen hält Bourdieu fest, dass es nicht primär die schulische Bildung ist, die den Erwerb von inkorporiertem Kulturkapital prägt. Vielmehr entscheide das familiäre Umfeld sehr wesentlich darüber, ob einem Kind das Erlernen bestimmter Fähigkeiten „leicht, schwer oder nahezu unmöglich gemacht wird“ (Fuchs-Heinritz und König 2011, 165). Den meritokratisch fundierten Schulsystemen vieler westlicher Staaten wirft Bourdieu vor, die in sie ein- und durch sie fortgeschriebene Reproduktion sozialer Ungleichheiten sehr effektiv zu verschleiern (Bourdieu 1983, 187, vgl. auch Schultheis 2008, 43 sowie Bourdieu und Passeron 2005). Auf diese Beobachtung wird in Kap. 6.1.3 für die in Deutschland aufgewachsenen und ausgebildeten Gesprächspartner/-innen (die sogenannte „zweite Generation“) näher einzugehen sein. Das institutionalisierte Kulturkapital bezeichnet dagegen all jene Titel, Schulund Berufsabschlüsse, die unabhängig von den Körpern der Individuen existieren (Bourdieu 1983, 189f.). Die Sanktionierung und Anerkennung von schulischen und beruflichen Titeln obliegt in komplexen, bürokratisierten Gesellschaften in erster Linie dem (National-)Staat. Die Bedeutung und besondere Brisanz dieses kulturellen Kapitals, „das durch Titel schulisch sanktioniert und rechtlich garantiert ist“ (Bourdieu 1983, 189f.), zeigt sich im Kontext der internationalen Migration von Student/innen und Akademiker/-innen (vgl. Kap. 6.1.1): Da die institutionelle Anerkennung die Konvertierung von inkorporiertem kulturellem Kapital in ökonomisches Kapital vereinfacht oder erst ermöglicht, bedeutet eine Nicht-Anerkennung von im Heimatland erworbenen Abschlüssen für Migranten einen doppelten ökonomischen Verlust: des in den Erwerb ihrer Abschlüsse investierten ökonomischen und (Zeit-)Kapitals einerseits sowie des ihnen entgehenden ökonomischen Gegenwerts ihrer Abschlüsse auf dem Arbeitsmarkt andererseits.26 Das soziale Kapital als dritte zentrale Kapitalform definiert Bourdieu als „die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ (Bourdieu 1983, 190f.)
Das Ausmaß des sozialen Kapitals einer Person bemisst sich demnach einerseits über die Anzahl sozialer Beziehungen und andererseits über die Kapitalausstattung der miteinander in Beziehungen der Reziprozität stehenden Personen. Was Bourdieu in diesem Fall besonders interessiert, sind dabei jedoch weniger die konkreten, individuell ausgeprägten Beziehungsnetzwerke, sondern stärker das soziale Kapital, das
26 Nur der Vollständigkeit halber aufgeführt sei hier das objektivierte kulturelle Kapital, das für die vorliegende Arbeit keine Relevanz besitzt. Dieses umfasst all jene Dinge, in denen kulturelles Wissen materialisiert wurde (z.B. in Form von Büchern, Maschinen, Instrumenten), und die daher relativ unmittelbar in ökonomisches Kapital konvertierbar sind (Bourdieu 1983, 188f.).
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sich aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ergibt (z.B. durch Mitgliedschaften in Organisationen, Clubs etc., aber auch zu Familienverbänden; vgl. hierzu Fuchs-Heinritz und König 2011, 170f. und Albrecht 2002, 205f.). Bourdieu geht dabei davon aus, dass die gegenseitige Anerkennung der Mitglieder einer solchen Gruppe durch symbolische und materielle Austauschbeziehungen innerhalb der Gruppe gesichert wird. Gleichzeitig jedoch erfolgt immer auch eine Abgrenzung nach außen. Bourdieu fragt also an dieser Stelle u.a. danach, wie und warum sich die von Laclau und Mouffe symbolisch und linguistisch bestimmten ‚kollektiven Identitäten‘ in konkreten sozialen Strukturen niederschlagen. Da „mit der Einführung neuer Mitglieder in eine Familie, einen Clan oder einen Club […] die Definition der ganzen Gruppe mit ihren Grenzen und ihrer Identität aufs Spiel gesetzt und von Neudefinitionen, Veränderungen und Verfälschungen bedroht“ wird (Bourdieu 1983, 193), fühlen sich soziale Gruppen auch in diesem Fall durch „Dislokationen“ [M.D.] gefährdet. Auch hier werden daher im Gegenzug Schließungsmechanismen entwickelt. Diese wirken entweder durch direkte Kontrolle (wie z.B. durch Aufnahmebedingungen in einer Organisation, familiäres Mitspracherecht bei Ehepartnern oder aber Staatsbürgerschaftsrecht für einen Nationalstaat) oder aber indirekt. Indirekt und somit „unsichtbar“ wirken Institutionen, „die auf die F[ö]rderung legitimer und den Ausschluss illegitimer Kontakte abzielen“. Dies erfolgt, indem beispielsweise für bestimmte Gesellschaftsschichten angemessene und „passende“ Praktiken, Orte oder Anlässe definiert werden (also z.B. für die „herrschende Klasse“ bestimmte Sportarten und Hobbys, vornehme Wohngegenden und exklusive Schulen sowie soziale „Events“ wie Bälle oder Jagden; Bourdieu 1983, 193). Mit Bourdieus Habitus- und Feldkonzept lässt sich somit zunächst allgemein herleiten, wie im Prozess der Subjektkonstitution innerhalb spezifischer sozialer Felder ein bestimmtes Selbst-Verständnis konstituiert wird. Zusammengenommen verweisen Bourdieus Habitustheorie und seine Konzeption von Sozialkapital darüber hinaus auch auf den einschränkenden und ermöglichenden Rahmen, innerhalb dessen sich ein Gefühl von Zugehörigkeit entwickeln kann. Welche Rolle Orte und Räume für die Konstitution eines Selbst-Verständnisses (= Set an Dispositionen) sowie die hierauf bezogenen und hieraus entwickelten, subjektiv empfundenen und formulierten Konzepte von Zugehörigkeit spielen, wird, hierauf aufbauend, im Kapitel 2.2 diskutiert. Auf die Bedeutung von ökonomischem und kulturellem Kapital für die Lebensgestaltung im Kontext internationaler Migration wird in Kap. 6.1 (Beschreibung der subjektiven Lebenswege und gesellschaftlichen Positionen meiner Interviewpartner/innen) sowie 6.3 (Erläuterung ihrer Sprachkenntnisse als Grundlage für ihre Einbindung in unterschiedliche Medien- und Gesellschaftsdiskurse) noch einmal ausführlicher zurückzukommen sein. Zuvor jedoch soll anhand von Bourdieus Konzept der symbolischen Herrschaft noch einmal ausführlicher diskutiert werden, inwiefern sich sein „strukturalistischkonstruktivistischer“ (Bourdieu 1987a, 147)27 Theorieansatz an die bisher ausgeführten poststrukturalistischen Gesellschafts- und Diskurskonzepte als anschlussfähig erweist, und welche für die vorliegende Arbeit entscheidenden Unterschiede sich
27 Bourdieu spricht im frz. Original (Niederschrift einer Vorlesung an der Universität San Diego) von „constructivist structuralism“ und/oder „structuralist constructivism“.
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möglicherweise ergeben. Diese Frage wird in dem darauffolgenden Kapitel durch eine Auseinandersetzung mit dem Performativitätskonzept nach Butler vertieft und erweitert, bevor, hierauf aufbauend, das Kap. 2.1.6 ein zusammenfassendes Konzept von Subjekts- und Identitätskonstitutionen zwischen Diskurs und Dispositionen präsentiert. Die symbolische (Un-)Ordnung der sozialen Welt Dort, wo Bourdieu sich mit der symbolischen Ordnung der sozialen Welt auseinandersetzt, fragt er, ähnlich wie Foucault (s.o.), danach, wie Herrschaft unter der Bedingung bürgerlicher und demokratischer Verhältnisse funktioniert, die ohne traditionelles, „direktes“ Machtzentrum auskommen (Krais 2008, 46). Die Antwort auf diese Frage liegt für beide in einer Macht, die unpersönlich, relational und dezentral wirkt, dabei alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt und auf der individuellen Ebene einverleibt wird und somit „gefügige Körper“ hervorbringt (vgl. Moebius 2007, 242)28. Vermittelt werden diese Formen der Herrschaft und Gewalt über Kultur, d.h. über bestimmte, scheinbar selbstverständliche Sicht- und Seinsweisen (Krais 2008, 52). Anders als Foucault interessiert sich Bourdieu jedoch primär für gesellschaftliche Ungleichheiten und divergierende Kräfteverhältnisse. Aus dieser Perspektive fragt er danach, inwieweit symbolische Ordnungen zur Reproduktion oder Stabilisierung dieser Verhältnisse beitragen. „Symbolische Herrschaft“29 funktioniert für Bourdieu nach dem Prinzip des „Anerkennens und Verkennens“: vermittelt durch den Habitus und den darin verankerten Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern erscheinen den Subjekten nicht nur bestimmte kategoriale Unterschiede als ‚natürlich‘ und selbstverständlich gegeben, sondern auch die dadurch hervorgerufenen und legitimierten sozialen Unterschiede. Asymmetrische gesellschaftliche Kräfteverhältnisse werden somit anerkannt (reconnu), da die symbolische Herrschaft, die sie einsetzt, aufgrund ihrer Inkorporierung im Habitus, in ihrer Willkürlichkeit und Kontingenz nicht erkannt wird (méconnu) und
28 Das heißt, dass – im Gegensatz zu Vertretern der „reflexiven Modernisierung“ (Beck, Giddens, Lash) – auch Individualisierungsprozesse nicht primär als Freisetzungsprozesse der Individuen interpretiert werden, sondern „als bestimmte Vergesellschaftungsmodi produktiver/ symbolischer Macht, die zu Praktiken des Individuellen [...] anreizen, also kulturelle Codes konstituieren, mit deren Einverleibung die Subjekte ‚individualistisch‘ werden“ (Moebius 2007, 243). Foucault und Bourdieu widersprechen somit Philosophen wie Habermas, die von der Möglichkeit eines „herrschaftsfreien Diskurses“ ausgehen (Krais 2008, 46). 29 Die Unterscheidung zwischen Gewalt, Macht und Herrschaft ist bei Bourdieu nicht trennscharf. Unter „Symbolischer Herrschaft“ (domination) wird jedoch häufig ein symbolisch verschleiertes, asymmetrisches gesellschaftliches Kräfteverhältnis verstanden. Symbolische Gewalt bezöge sich dann auf die Praktiken, die diese Verhältnisse reproduzierten (Krais 2008, 53). Symbolische Macht (pouvoir) wäre das Potenzial, „symbolische Gewalt zur Durchsetzung von symbolischer Herrschaft einsetzen zu können“ (Suderland 2008, 250). Bourdieus symbolische Herrschaft scheint insofern mit der „kulturellen Gewalt“ nach Galtung (1993) zu korrespondieren, als jene ebenfalls „strukturelle Gewalt“ verdeckt und legitimiert.
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unbewusst ihre Wirkung entfaltet (vgl. Peter 2004, 49; Bourdieu 2001a, 216f.). Somit lässt sich erklären, warum bestimmte symbolische (und darauf aufbauende soziale und politische) Ordnungen vergleichsweise stabil sind, obwohl in ihnen „fundamentale soziale Ungleichheiten und Herrschaftsbeziehungen eingelagert sind“ (Krais 2008, 52). Anzumerken ist an dieser Stelle allerdings, dass die symbolische Herrschaft sowohl von den „herrschenden Klassen“ als auch den „beherrschten“ (d.h. mit beschränkten oder verminderten Lebens- und Verwirklichungsmöglichkeiten ausgestatteten) sozialen Gruppen30 inkorporiert wurde (bzw. wird, vgl. folgendes Kapitel – Butler). Das bedeutet, dass symbolische Gewalt zwar u.U. so wirkt, dass hierdurch eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe in ihrer privilegierten Position bestätigt wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die entsprechende Gruppe symbolische Gewalt bewusst-strategisch einsetzen kann; sie wird vielmehr selbst durch die symbolische Ordnung konstituiert und geformt (vgl. Alkemeyer und Rieger-Ladich 2008, missverständlich Dirksmeier 2010, 7). Als besonders wirkungsvolle Ausprägungen symbolischer Herrschaft identifiziert Bourdieu erstens den Neoliberalismus (vgl. bes. 1998a). Diesem wirft er u.a. hinsichtlich dem damit einhergehenden und in Schul- und Ausbildungssystemen integrierten Prinzip der Meritokratie vor, zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten auf gesellschaftlicher Ebene zu führen, diese Reproduktion jedoch gleichzeitig über das Leistungsprinzip extrem wirkungsvoll zu verschleiern (vgl. Schultheis 2008, 4331). Als zweite, hier ebenfalls relevante Form symbolischer Herrschaft weist Bourdieu (1997a, 2005a) den Geschlechterunterschied aus. Dieser wird ihm zufolge von klein an durch soziale Praktiken hergestellt und einverleibt, ist dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich und erscheint somit als ‚natürlich gegeben‘: „Das gesellschaftliche Deutungsprinzip konstruiert den anatomischen Unterschied. Und dieser gesellschaftlich konstruierte Unterschied wird dann zu der als etwas Natürliches erscheinenden Grundlage und Bürgschaft der gesellschaftlichen Sichtweise, die ihn geschaffen hat.“ (Bourdieu 2005a, 23)
Weil der Geschlechtsunterschied natürlich erscheint – es aber nicht ist – muss sich die „andro-zentrische Sicht […] nicht in legitimatorischen Diskursen artikulieren“ (Bourdieu 2005a, 21); die sozialen Differenzierungen und Hierarchisierungen qua Geschlecht, die die „männliche Herrschaft“ (Bourdieu 1997, 2005) stützen, werden unhinterfragt und nachhaltig reproduziert (vgl. Dölling 2004, 81f.; Krais 2008, 54). Angesichts Bourdieus Vorstellung von Macht als allumfassend und seinem Verständnis von symbolischer Herrschaft als sich selbst reproduzierend stellt sich die Frage, ob und wie in diesem theoretischen Rahmen Widerstand und gesellschaftliche Veränderung denkbar sind (vgl. Böhlke 2007, 75). Sowohl in der feministischen Rezeption seiner „männlichen Herrschaft“ (s.o.) als auch allgemein mit Bezug auf seine bildungstheoretische Studie (auf Französisch erschienen unter dem Titel „la repro-
30 Zum Gegensatz und der Funktionsweise ungleicher Gesellschafts- und Raumproduktion vgl. u.a. Überblick in Deffner (2010, 186). 31 Dass dies auch in Deutschland im Jahr 2012 (noch) gilt, zeigen aktuelle Studien, vgl. u.a. Bertelsmann Stiftung (2011a).
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duction“; 1970; dt. „Die Illusion der Chancengleichheit“; 1971) oder sein sicherlich bekanntestes Werk über „Die feinen Unterschiede“ (1982); [„la distinction“ (1979)], erscheint es oft so, als sei sein Konzept von Gesellschaftlichkeit fast ausschließlich durch die Reproduktion und Stabilität der zugrunde liegenden Strukturen gekennzeichnet. Diesem Eindruck tritt Bourdieu jedoch in seiner späteren Auseinandersetzung mit der Rezeption seines Werkes entgegen (vgl. u.a. Bourdieu 1987a). Besonders günstige Bedingungen für solche Veränderungen von Sinnstrukturen sieht er dann gegeben, wenn habituell angelegte Wahrnehmung- und Bewertungsschemata einerseits und beobachtbare soziale Realität andererseits zu stark auseinanderklaffen, weil sich die Habitus-Struktur-Homologie von der Strukturseite her auflöst. 32 Aber auch auf einer wesentlich alltäglicheren und grundlegenderen Ebene erkennt Bourdieu ein Potenzial für Veränderungen der sozialen Welt. So sind für ihn die sozialen Felder immer auch Schauplatz symbolischer Kämpfe. Hier sei daran erinnert, dass die sozialen Felder (z.B. das wissenschaftliche, künstlerische, ökonomische oder religiöse Feld) danach unterschieden werden können, was in ihnen als erstrebenswert gilt, d.h. welche Ziele vorgesehen sind, und mit welchen Einsätzen, welchen Kapitalsorten, diese Ziele legitim verfolgt werden können. Innerhalb eines Feldes bemühen sich die Akteure unter Einsatz der ihnen verfügbaren Ressourcen und gemäß der im Feld vorherrschenden Spielregeln (und des nur in Bezug auf das jeweilige Feld bestimmbaren Wertes ihrer Kapitalausstattung) ihre eigene Position zu erhalten oder zu verbessern. Quer über alle sozialen Felder stellt die Akkumulation von sozialer Anerkennung (die sich je nach Gesellschaftsform und Feld in Form von „Ehre“, „Respekt“ oder „Prestige“ präsentiert) ein zentrales Ziel dar. Kämpfe um Anerkennung können somit als fundamentale Dimension sozialen Lebens und Antriebsfaktor menschlichen Handelns angesehen werden (Bourdieu et al. 1986, 155ff.; s.a. Kap. 7.1). Insofern sich soziale Anerkennung auf bestimmte andere Kapitalsorten bezieht bzw. aus diesen abgeleitet oder in diese umgetauscht werden kann (z.B. Prestige, wie es aus einem schulischen oder universitären Titel abgeleitet werden kann und in ökonomisches Kapital in Form von Einkommen konvertierbar ist), wird sie von Bourdieu (1987a, 161) auch unter dem Begriff des „symbolischen Kapitals“ diskutiert. Das „symbolische Kapital“ ist dabei keine ‚greifbare‘ Kapitalart wie die drei anderen, sondern kennzeichnet den spezifischen und kontingenten Wert, der diesen zugemessen wird.33 Schon allein weil die Akteure innerhalb der Felder ständig miteinander um Anerkennung, Positionen und Handlungsmacht konkurrieren, sind die Felder durch Wandel, Konflikte und symbolische Kämpfe gekennzeichnet. Darüber hinaus jedoch ent-
32 So sieht Bourdieu in den Begünstigungen der Beamtenklasse in der DDR und UdSSR und dem darin angelegten Widerspruch zum Gleichheitsprinzip des Sozialismus einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenbruch der politischen Systeme, denen hierüber Legitimität entzogen wurde (Böhlke 2007, 72). 33 „Ich nenne symbolisches Kapital eine beliebige Sorte von Kapital [...], wenn sie gemäß Wahrnehmungskategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien, Klassifikationssystemen, kognitiven Systemen wahrgenommen wird, die zumindest zu einem Teil das Produkt der Inkorporierung der objektiven Strukturen des betreffenden Feldes sind" (Bourdieu 1998b, 150).
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brennt eine zweite Sorte symbolischer Kämpfe um die Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, aus denen sich der spezifische Wert einer Kapitalsorte ergibt. In diesen symbolischen Kämpfen geht es weniger um eine Verbesserung der eigenen Situation gemäß der bestehenden Spielregeln, sondern vielmehr darum, die Spielregeln selbst zu ändern, die den Wert der Kapitalarten festlegen und die Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt vorgeben (vgl. u.a Bourdieu 1987a, 159). Das „enjeu“, der Einsatz oder Spielball dieser Kämpfe besteht darin, einen bestimmten Diskurs, ein Sicht- und Teilungsprinzip der sozialen Welt, als hegemonial durchzusetzen. Diese Konzeption des Sozialen als Raum, in dem Kämpfe um Hegemonie und die symbolische (Be-)Deutung der sozialen Welt ausgetragen werden, erinnert nun an die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe. Und tatsächlich: obwohl Bourdieu durch seinen praxisnahen und empirischen Forschungsansatz zunächst einen ganz anderen Blick auf die soziale Welt richtet als die theoretisch-philosophisch und linguistisch argumentierenden Politikwissenschaftler, nähert Bourdieu sich dort, wo er über die symbolische Ordnung der sozialen Welt nachdenkt, ihren Konzepten deutlich an. So geht auch er davon aus, dass sich die soziale Welt (d.h. die Felder und der soziale Raum, der diese umfasst) der objektiven Wahrnehmung als symbolisches System präsentiert, „das nach der Logik der Differenz […] organisiert ist“ (Bourdieu 1992, 146; Herv. i.O.). Die Wahrnehmung der sozialen Welt, die im Endergebnis in einer „gemeinsame[n] Alltags-Welt oder zumindest doch einen Minimalkonsens über die soziale Welt“ resultiert, ist dabei das „Produkt einer doppelten Strukturierung“ (Bourdieu 1992, 146f.): Zum einen bilden sich – statistisch erfassbare – wahrscheinliche Verknüpfungen zwischen bestimmten Elementen heraus. Derart artikulierte „Elemente“ sind für Bourdieu beispielsweise bestimmte Konsummuster oder Geschmackspräferenzen, die für Personen mit einem bestimmten Habitus und/oder einer bestimmten Kapitalausstattung typischer oder wahrscheinlicher sind als für andere (so ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die von mir befragte, marokkanische Ärztin in einem Eigenheim wohnt und einen Flügel besitzt, als dies für eine von mir befragte Altenpflegerin der Fall ist). Diese „feinen Unterschiede“, die sich in real wahrnehmbaren und statistisch erfassbaren Alltagspraktiken und Lebensstilen ausprägen, stellen nach Bourdieu die „objektive“ Seite der doppelten Strukturierung dar. Zum anderen wird auf der subjektiven Seite die Wahrnehmung aber auch durch bestimmte sprachlich verankerte Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster strukturiert, die z.B. in Form konträr gesetzter Adjektivpaare (schwer/leicht, brilliant/stumpf) das subjektive Geschmacksempfinden prägen. Auch wenn Bourdieu davon ausgeht, dass aufgrund der unbewusst inkorporierten symbolischen Ordnung der sozialen Welt die Reproduktion der sozialen Strukturen der wahrscheinlichere Fall ist, schließt er eine Veränderung nicht grundsätzlich aus. Dies begründet er, ganz ähnlich wie die Poststrukturalisten, mit der Kontingenz der Elemente sowie der Temporalität der Artikulationen zwischen ihnen:34
34 Die er in den „Feinen Unterschieden“ in synchroner statt diachroner Perspektive betrachtet, weshalb sie dort statisch erscheinen.
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„[….] les objets du monde social, comme je l'ai indiqué, peuvent être perçus et exprimés de diverses façons, parce qu'ils comportent toujours une part d'indétermination et de flou et, du même coup, un certain degré d'élasticité sémantique : en effet, même les combinaisons de propriétés les plus constantes sont toujours fondées sur des connections statistiques entre des traits interchangeables; et, en outre, elles sont soumises a des variations dans le temps de sorte que leur sens, dans la mesure où il dépend du futur, est lui-même en attente et relativement indéterminé.“ (Bourdieu 1987a, 159) (Herv. MD) 35
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„Doch die Objekte der sozialen Welt können, wie bereits erwähnt, auf unterschiedliche Arten wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht werden, weil sie stets ein Moment von Unbestimmtheit und Unschärfe und zugleich einen bestimmten Grad an semantischer Elastizität beinhalten: Tatsächlich sind selbst die Kombinationen der konstantesten Eigenschaften auf statistischen Verbindungen zwischen nicht austauschbaren (sic!) Merkmalen begründet; überdies sind sie zeitlichen Variationen unterworfen, so daß ihr Sinn in dem Maße, wie er von der Zukunft abhängt, selbst provisorisch und relativ unbestimmt ist.“ (Bourdieu 1992, 147)
Ähnlich wie es Laclau und Mouffe in ihrer Hegemonietheorie postulieren, ergibt sich auch für Bourdieu aus genau dieser potenziellen Offenheit von Bedeutungsstrukturen die Bedingung der Möglichkeit politischer Auseinandersetzungen über die Art und Weise, wie die soziale Welt wahrgenommen und klassifiziert werden kann: „Cet élément objectif d'incertitude – qui est souvent renforcé par l'effet de la catégorisation, le même mot pouvant couvrir des pratiques différentes – fournit une base à la pluralité des visions du monde, elle-même liée à la pluralité des points de vue; et, du même coup, une base pour les luttes symboliques pour le pouvoir de produire et d'imposer la vision du monde légitime.“ (Bourdieu 1987a, 158)
„Dieses objektive Element von Unsicherheit – häufig verstärkt noch durch den Kategorisierungseffekt, wobei ein und dasselbe Wort unterschiedliche Praktiken abdecken kann – liefert eine Grundlage für die Pluralität von Weltsichten, die ihrerseits an die Pluralität der Gesichtspunkte gebunden ist; und in eins damit eine Grundlage für die symbolischen Kämpfe um die Macht zur Produktion und Durchsetzung der legitimen Weltsicht.“ (Bourdieu 1992, 147)
In der Fortführung seiner Argumentation betont Bourdieu allerdings, dass eine Kategorisierung dann besonders gut „funktioniert“, wenn sie sich auf objektiv vorliegende Affinitäten und soziale Unterschiede beziehe (Bourdieu 1992, 153). Dies klingt zunächst nach einem ‚Rückfall‘ in den Objektivismus. Eine nähere Betrachtung relativiert diesen Eindruck jedoch. So präzisiert Bourdieu im Folgenden, dass es ihm da-
35 Zur allgemeinen Problematik von Übersetzungen als eine erste Text-Interpretation vgl. Husseini (2009) und Bruns und Zichner (2009). Da dieses Problem in der bisher vorliegenden deutschen Übersetzung von „choses dites“ sehr augenfällig wird, und die darin enthaltenen Aussagen für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung sind, zitierte ich in diesem Fall auch das französische Original, worauf ich ansonsten zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichte.
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rum geht, dass bei derartigen Klassifikationen und Gruppenkonstitutionen zwar ein wirksames Kriterium zur Abgrenzung von Innen und Außen existieren muss [vgl. konstitutives Außen bei Laclau und Mouffe sowie bei Brubaker die gemeinsame Eigenschaft, anhand derer Zugehörigkeit definiert werden kann]. Dieses Kriterium könne jedoch „quelconque“, also letztlich beliebig sein, solange es aufgrund der gegebenen Dispositionen als wirksames Kriterium anerkannt wird: „En fait, comme une constellation qui, selon Nelson Goodman, commence à exister seulement lorsqu’elle est sélectionnée et désignée comme telle, un groupe, classe, sexe (gender), région, nation, ne commence à exister comme tel, pour ceux qui en font partie et pour les autres, que lorsqu'il est distingué, selon un principe quelconque, des autres groupes, c'est-à-dire à travers la connaissance et la reconnaissance.“ (Bourdieu 1987a, 164)
„Wie […] ein Sternbild erst dann zu existieren beginnt, wenn es selegiert und als solches bezeichnet wird, so beginnt tatsächlich eine Gruppe, Klasse, ein Geschlecht, eine Region, eine Nation erst eigentlich zu existieren, und zwar für die jeweiligen Mitglieder wie für die anderen, wenn sie oder es entsprechend einem bestimmten (sic!) Prinzip von den anderen Gruppen, Klassen usw. unterschieden wurde, das heißt vermittels Erkennen und Anerkennen.“ (Bourdieu 1992, 153)
Die Annahme, dass eine derartig vorgenommene Kategorisierung dann „funktioniert“, wenn ihr „objektive“ Strukturen entsprechen, erklärt sich auch mit Blick auf Bourdieus Klassenkonzept:36 Soziale Klassen werden bei Bourdieu gerade nicht als objektiv vorliegende Tatsachen bestimmt, sondern als Konstruktionen definiert: "Was existiert, ist ein sozialer Raum, ein Raum von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als herzustellende." (Bourdieu 1998b, 26; Herv. i.O.) Das heisst, es handelt um „Klassen auf dem Papier“ (Bourdieu 1992, 140). Ob sich derart hergestellte theoretische Klassen (bzw. wissenschaftlich oder/und allgemein diskursiv konstituierte Klassifikationen oder Gruppen) im politischen Feld durch politische Akteure so ‚aktivieren‘ lassen, dass die derart bezeichneten Personen (oder: die durch die entsprechenden Signifikanten „vernähten“ Partikularinteressen) ein Gruppenbewusstsein entwickeln, sich also als „Klasse für sich“ konstituieren und als solche agieren, dies hängt für Bourdieu nun – unter anderem – davon ab, inwiefern die so klassifizierten Personen aufgrund ihrer Nähe im sozialen Raum tatsächlich ähnliche Lebensbedingungen und Probleme aufweisen und somit auch ähnliche Interessen und Ziele entwickeln (können) (Bourdieu 1992, 141). Zusammenfassung, Einordnung und Fortführung Auch wenn Bourdieu die sozialen Strukturen als „objektive Strukturen“ bezeichnet, nimmt er keinen realistischen oder positivistischen Standpunkt ein [wie es z.B. Vertretern der Critical Discourse Analysis vorgeworfen wird (vgl. Angermüller 2011, 130)]. Denn er geht davon aus, dass die objektiven Strukturen durch menschliche
36 Wie sich die Missverständlichkeit, die aus Bourdieus Konzept der objektiven Strukturen resultiert, auch auf der erkenntnistheoretischen Ebene auflösen lässt, erläutert u.a. Lippuner (2005a, 169ff.).
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Praktiken – die der Forscher/-innen inklusive – hergestellt werden. Bourdieus Habituskonzept eröffnet dabei die Möglichkeit, zu untersuchen, wie Subjekte einerseits sozial und diskursiv konstituiert werden, wobei sie andererseits als handelnde (aber eben nicht autonom handelnde) Akteure in und durch (diskursive) Praktiken (re-)konstruierend auf soziale Strukturen einwirken. Bourdieu bietet uns also eine Vermittlungsposition zwischen „rekonstruktivistischen“ und „dekonstruktivistischen“ Diskursanalysen an, die allerdings deutlich stärker den letzteren zuneigt (vgl. Angermüller 2011, 130). Wie gezeigt werden konnte, geht auch Bourdieu davon aus, dass weder „soziale Probleme“ noch soziale Gruppen oder politische bzw. politisierte Interessengemeinschaften als vorgängige Strukturen oder soziale Konstanten zu verstehen sind.37 Allerdings, und hier liegt die wesentliche Erweiterung und Abweichung von rein poststrukturalistisch argumentierenden Theoretikern, ermöglicht es Bourdieus „strukturalistischer Konstruktivismus“, danach zu fragen, wie sich – bei aller Kontingenz und Temporalität sozialer Strukturen – gerade auch bereits vorgängig (re-)produzierte und sedimentierte Sprechakte, Kategorien und Formen von Gesellschaftlichkeit auf die Habitus- und Subjektkonstitution auswirken. Er liefert also einen fundierten Analysezugang zu der „sedimentierten Sozialität“, die, wie in Kap. 2.1.3 erläutert, aufgrund des anders gelagerten Erkenntnisinteresses, mit der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe kaum erfasst und untersucht werden kann. Mit Bourdieus Theorie der Praxis lassen sich somit an dieser Stelle zwei für die empirische Analyse zentrale Annahmen formulieren: Erstens ist davon auszugehen, dass es die jeweils sozial und diskursiv vorstrukturierte Position des Individuums im sozialen Raum ist, die seinen oder ihren Blick auf eben diesen Raum bedingt. Zweitens ist anzunehmen, dass eine gewisse Nähe im sozialen Raum bzw. die damit einhergehende Ähnlichkeit von Lebenssituationen und Dispositionen die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich Personen, die von Außen als Angehörige einer bestimmten Gruppe fremd-identifiziert werden, nicht nur selbst als Angehörige dieser Gruppe definieren, sondern darüber hinaus mit anderen Mitgliedern der derart konstituierten Gruppe identifizieren, solidarisieren und ein Gefühl der gruppenbezogenen Zugehörigkeit entwickeln. Aus dieser theoretischen Perspektive werden die nachfolgend darzustellenden Unterschiede in den Selbst- und Weltrekonstruktionen meiner Interviewpartner/-innen nachvollziehbar. Um jedoch, ausgehend von diesen Grundannahmen, die Frage beantworten zu können, ob, wann, wie und warum bzw. unter welchen Umständen eine FremdIdentifizierung als Muslim/-a dazu führt, dass sich die angerufene Person in eine entsprechende Subjektposition artikuliert; um also zu klären „[…] what the mechanisms are by which individuals as subjects identity (or do not identify) with the ‚positions‘ to which they are summoned; as well as how they fashion, stylize, produce and ‚perform‘ these positions, and why they never do so completely, for once and all time, and some never do, or are in a constant, agonistic process of struggling with, resisting, negotiating
37 Bezeichnenderweise denkt Bourdieu (1987a, 29) in einem Interview auch darüber nach, ob die aktuell wahrnehmbaren (und durch ihre Verfügungsmacht über ökonomisches und kulturelles Kapital abgrenzbaren) sozialen Klassen nicht erst mit und durch das von Marxisten und Post-Marxisten entwickelte Klassenkonzept „geschaffen wurden“.
52 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT and accommodating the normative of regulative rules with which they confront and regulate themselves“ (Hall und du Gay 1997, 14).
– hierfür wird es notwendig sein, in einem letzten subjekttheoretischen Schritt auf das Konzept der Performativität einzugehen, wie es von Judith Butler entwickelt wurde. Ohne an dieser Stelle das ebenso komplexe wie kontroverse Butler’sche Werk vorstellen oder die Voraussetzungen und Implikationen ihres Denkens in der angemessenen Komplexität erörtern zu können,38 möchte ich folgend kurz einige ihrer Konzepte vorstellen, die mir für die empirische Analyse hilfreiche Werkzeuge an die Hand geben. Butlers Überlegungen zur Funktionsweise und Wirkung diskriminierender Sprache, die sie in ihrer Monographie „Haß spricht“ (2006) ausführt, erscheinen dabei in Bezug auf die Frage nach der Wirkung eines negativ konnotierten Islamdiskurses besonders aufschlussreich. 2.1.5. Das eingesetzte und (wider-)sprechende Subjekt: Performativität nach Butler Wie Bourdieu geht Butler davon aus, dass sich die Gesellschaft und ihre Ordnung im Körper materialisieren und durch den Körper reproduziert werden. Butler nimmt dabei jedoch eine stärker post-strukturalistische Perspektive ein. Dabei steht sie Laclau und Mouffe sehr nah, wenn sie von der Unschließbarkeit von Strukturen und der Instabilität von Subjektpositionen ausgeht, die sich anhand eines konstitutiven Außen abgrenzen lassen (vgl. Kämpf 2011, 347). Gleichzeitig distanziert sie sich von dem von ihr wahrgenommenen „Formalismus“ der Hegemonietheorie,39 indem sie im Anschluss an Foucault, Althusser, Austin und Derrida den Fokus ihrer Forschung auf einzelne Sprachakte richtet und hieraus eine Theorie der Performativität entwickelt. Butler betont noch deutlich stärker als Bourdieu, dass der Körper selbst in seiner Materialität unter keinen Umständen und zu keiner Zeit etwas Natürliches, Ursprüngliches ist, sondern immer schon einen Effekt der naturalisierenden Wirkung kultureller Normen darstellt (Bublitz 2002, 39f.). Zentrales Thema für Butler ist die Hinterfragung sexueller Identität. So darf auch die Zweigeschlechtlichkeit nicht als „kulturell zugeschriebene Bedeutung eines vorgegebenen anatomischen Geschlechts verstanden werden“, sondern ist als „diskursives Produkt“ zu verstehen (Strüver und Wucherpfennig 2009, 112). Mit ihrem Konzept der Materialisierung setzt sich Butler somit vom Konzept des radikalen linguistischen Konstruktivismus ab (Bublitz 2002, 38), indem sie andererseits Bourdieus Überlegungen zur körperlichen Hexis40 aufgreift und radikalisiert (vgl. Butler 2006, 239ff.).
38 Für einführende Überblicke in ihr Werk vgl. u.a. Bublitz (2002) und Salih (2003). 39 Zu Ähnlichkeiten und Unterschieden der Theorien von Butler und Laclau vgl. Beiträge in Butler et al. (2000) sowie Distelhorst (2007). 40 Die körperliche Hexis bezeichnet die spezifisch körperliche, dauerhafte Einverleibung sozialer Erfahrungen durch die Inkorporierung der sozialen Ordnung (Doxa), die sich in der körperlichen Haltung und Konstitution ausprägt (vgl. Barlösius 2006, 187).
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Der Prozess der Subjektivierung, der Unterwerfung eines Körpers unter die (Geschlechter-)Norm, ist dabei für Butler kein einmaliges Ereignis. Soziale Normen und Subjektpositionen werden in vielfältigen Wiederholungen und performativen Praktiken eingeübt und eingeschliffen (vgl. Butler 1995, 32). Durch diese Wiederholungen entsteht ein Naturalisierungseffekt; kulturelle Geschlechternormen und hegemoniale Vorstellungen erscheinen als natürlich gegeben, als normal und richtig: „Damit operiert diskursive Macht verstellt und erscheint als Natur der Dinge“ (Bublitz 2002, 38f., vgl. Strüver und Wucherpfennig 2009, 113), d.h. die gesellschaftlichen Normen werden Teil der Doxa und des Habitus und somit dem unmittelbaren Bewusstsein entzogen, sie wirken als symbolische Gewalt. Der Körper fungiert also auch bei Butler als „Schnittstelle von Gesellschaft und Subjekt“ (Bublitz 2003, 74); er stellt die „Verkörperung von durch Sprache strukturierte[n] Normen [dar], die die Wahrnehmung und Erfahrung beeinflussen“ (Strüver und Wucherpfennig 2009, 116). Diese Subjektivierungsprozesse setzen nach Butler bereits vor der Geburt ein und schlagen sich im Körper und einem bestimmten Habitus nieder. Butlers besonderes Interesse gilt dabei der Performativität, d.h. den vielfältigen, immer wieder neu einsetzenden und erfolgenden sprachlichen Anrufungen, die an der Subjektkonstitution mitwirken: „Anrufungen, die ein Subjekt in die Existenz rufen, d.h. gesellschaftliche performative Äußerungen, die mit der Zeit ritualisiert und sedimentiert worden sind, sind für den Prozeß der Subjektbildung ebenso zentral wie der verkörperlichte, partizipatorische Habitus. Von einer gesellschaftlichen Anrufung angerufen oder angesprochen zu werden heißt, zugleich diskursiv und gesellschaftlich konstituiert zu werden. [...] So gesehen leistet die Anrufung als performative Äußerung die diskursive Konstitution des Subjekts, die unlösbar an seine gesellschaftliche Konstitution gebunden ist.“ (Butler 2006, 240)
Was hier also bereits deutlich wird, ist, dass der Prozess des „Identifiziert werdens“ nichts ist, das dem Subjekt äußerlich bleibt. Fremd-Identifizierungen wirken als Akt der Setzung: Die Normen „richten sich im Körper ein, da Menschen als kategorisierte Individuen erkennbar sein müssen, um überhaupt gesellschaftlich agieren zu können“ (Strüver und Wucherpfennig 2009, 117f.).41 Butler geht dabei davon aus, dass Sprechakte illokutionär, also unmittelbar konstitutiv und produktiv wirken. In Bezug auf hate speech, diskriminierende und verletzende Sprache, bedeutet ein solches illokutionäres Sprechaktmodell, dass ein Sprechakt nicht lediglich Verletzungen hervorruft oder beschreibt, sondern vielmehr „in der Äußerung selbst die Ausführung der Verletzung [ist], wobei ‚Verletzung‘ als gesellschaftliche Unterordnung verstanden wird. Was der Sprechakt also tut, ist das Subjekt in einer untergeordneten Position zu konstituieren“ (Butler 2006, 36). Die Frage, wer spricht, wessen Anrufung es ist, die das Subjekt konstituiert, beantwortet Butler diskurstheoretisch, indem sie auf die bürokratische und disziplinäre Diffusion der souveränen Macht verweist, die „das Gebiet einer Macht hervor[bringt], die ohne Subjekt verfährt und dabei zugleich das Subjekt konstituiert“ (Butler 2006, 59). Das heißt nicht, dass es keine Subjekte gibt, die sprechen, wohl
41 Vgl. Bourdieu (2005b, 126): „Die soziale Welt ist auch Wille und Vorstellung, und sozial existieren heißt auch, wahrgenommen werden und als distinkt wahrgenommen werden.“
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aber, dass Subjekte die Bedeutung des Diskurses, den sie (re-)produzieren nie vollständig kontrollieren können. Daher können auch performative Anrufungen nie letztursprünglich auf den Sprecher als Urheber zurückgeführt werden. Das nicht zuletzt, da ein Sprecher selbst als Subjekt „angerufen“ und eingesetzt worden sein muss (Butler 2006, 67), um im Bereich des Verständlichen sprechen zu können. Die hier mitschwingende Frage nach dem Verhältnis zwischen Subjekt, Diskurs und Handlungs- bzw. „Sprach“-Macht beantwortet Butler zunächst scheinbar recht eindeutig: „Stellen wir uns die durchaus plausible Szene vor, daß eine Person sich umdreht, um gegen den Namen zu protestieren, den man ihr zugerufen hat. ‚Das bin ich nicht, das muß ein Irrtum sein!‘ Und nun stellen wir uns vor, daß der Name sich weiterhin aufzwingt, den Raum umgrenzt, den sie einnimmt, und weiterhin eine gesellschaftliche Position konstituiert. Unabhängig von den Protesten wirkt der Name weiter. Die Person wird – allerdings in der Entfernung zu sich selbst – weiterhin durch den Diskurs konstituiert.“ (Butler 2006, 58f.)
In dieser Weiterführung von Althussers Metapher (vgl. Kap. 2.1.3) geht Butler folglich davon aus, dass ein Subjekt immer in irgendeiner Art und Weise durch den Diskurs konstituiert wird – ob es will oder nicht. In unserem Fall wäre also anzunehmen, dass als Muslime in Deutschland lebende (und identifizierbare) Personen durch die medialen und gesellschaftlichen Vorstellungen, Bilder und Images über ‚den Islam‘ und ‚die Muslime‘ angerufen und in eine bestimmte Subjektposition einberufen werden – ob sie es wollen oder nicht. Wenn jedoch die einseitige Einsetzung des Subjekts durch den Diskurs bereits alles wäre, dann wäre kein sozialer und diskursiver Wandel denkbar: Die Subjekte würden durch Diskurse und gesellschaftliche Strukturen eingesetzt und würden diese reproduzieren. Gesellschaftliche Veränderungen gäbe es nicht. Wie aber bereits mit Bezug auf Foucault und Laclau und Mouffe (Kap. 2.1.2 und 2.1.3) gezeigt, ist das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt als eine doppelseitige Artikulation zu betrachten. Dementsprechend fragt auch Butler in ihren subjekttheoretischen Konzeptionen danach, inwiefern in diesen Artikulationen auch ein Potenzial für gesellschaftliche Veränderungen eingeschrieben sein könnte. Sie nennt drei zusammenhängende Gründe dafür, warum die einfache Reproduktion der hegemonialen Ordnung durch die Akteure irritiert und destabilisiert wird: die (Selbst-)Konstitution des Subjekts, die Materialität des sprechenden Körpers sowie die Repetitivität der Praktiken. Der erste destabilisierende Faktor liegt in der (psychischen) Konstitution des Subjekts: „Zwar hat der gesellschaftliche Diskurs die Macht, ein Subjekt durch Aufzwingen seiner eigenen Bedingungen zu formen und zu reglementieren. Diese Bedingungen werden jedoch nicht einfach angenommen oder verinnerlicht; psychisch werden sie nur durch jene Bewegung, durch die sie verborgen und ‚gewendet‘ werden.“ (Butler 2001, 183) Durch diese Transformation der Macht zu einer psychischen Instanz wird ein Element der Unsicherheit und des Widerstandes eingeführt, da das Subjekt „im Prozess seiner Konstitution das überschreitet, was das Subjekt erst hervorbringt“ (Bublitz 2002, 129). Es ist also immer mehr als seine konstitutiven Bedingungen. Dieses „Mehr“ betrifft für Butler insbesondere die Materialität des Körpers, der mehr ist als die Sedimentierung der Sprechakte, die ihn konstituiert haben. Auch
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wenn also Rassen- oder Geschlechterdiskriminierung „im und als das Fleisch des Adressaten lebt und gedeiht […] und die einzelnen Verleumdungen mit der Zeit akkumulieren, […] den Anschein des Natürlichen annehmen und die Doxa gestalten“, so geht Butler (2008, 248) dennoch davon aus, dass „der Körper diese kulturelle Bedeutung in dem Moment zu verunsichern vermag, in dem er die diskursiven Mittel enteignet, mit denen er selbst hergestellt wurde.“ Da der Körper niemals vollständig der Norm unterworfen werden kann, die Anrufung der symbolischen Ordnung das Subjekt in seiner lebbaren Realität immer verfehlt (vgl. Bublitz 2002, 115), können auch „die rhetorischen Effekte des sprechenden Körpers niemals vollständig kontrolliert oder festgelegt werden“ (Butler 2006, 243). Es handelt sich folglich um eine „Situation eingeschränkter Kontingenz“ (Butler 2006, 243). Das dritte destabilisierende Element ist nach Butler darin begründet, dass sowohl die Subjektivierung als auch die Materialisierung des Körpers kontinuierliche Prozesse sind, die somit auch immer offen für Veränderungen und Verschiebungen sind. Wiederholung und Repetitivität sind für Butler unumgänglich, da eine Struktur nur so lange Struktur bleibt, wie sie in diskursiven Praktiken und performativen Sprechakten wieder eingesetzt und bestätigt wird. Das Risiko des „Scheiterns“ bestimmter Sprechakte (also dass sie nicht das tun, was sie bewirken sollen) erklärt sich für Butler dabei nicht nur aufgrund der o.g. Materialität des körperlichen Sprechens oder der möglicherweise fehlenden sozialen Autorisierung des Sprechers (s.u.). Sie begründet die grundsätzliche Kontingenz des Sprechens auch sprachtheoretisch (anders als Laclau und Mouffe, aber mit ähnlichem Ergebnis) mit der „Iterabilität“ von Sprechakten. Hier bezieht sie sich auf Derrida, der in seiner Erweiterung von Austins Sprechakttheorie postuliert, dass sich die Kraft von Sprechakten (oder Zeichen) nicht aus einem früheren Gebrauch ableiten lässt, sondern dass die Kraft von Sprechakten in ihrer Wiederholung und Wiederholbarkeit liegt, durch die ein Bruch mit vorhergehenden Kontexten und eine Dekontextualisierung – man könnte auch sagen die ReArtikulierung einer Äquivalenzkette – möglich wird (Butler 2006, 230ff.). In diesem Punkt, d.h. in Bezug auf die Frage nach dem Zusammenhang von Diskurs, Subjekt und (Sprach-)Macht, bezieht sich Butler kritisch auf Bourdieu, der sich in „Was heißt sprechen?“ (2005b) ebenfalls mit der Sprechakttheorie beschäftigt. Dem mit Austin einsetzenden linguistischen Formalismus wirft Bourdieu in diesem Kontext vor, bei der Frage nach den Erfolgsbedingungen eines performativen Sprechakts die Bedeutung der sozialen Stellung der Sprecher zu ignorieren. Diese ist für ihn jedoch entscheidend dafür, ob ein Sprechakt als „autorisiert“ und „wahr“ rezipiert wird oder als „Betrug“, als Usurpation: „In Wirklichkeit ist der Sprachgebrauch, also Form wie Inhalt des Diskurses, von der sozialen Position des Sprechers abhängig, die über seine Zugangsmöglichkeit zur Sprache der Institution, zum offiziellen, orthodoxen, legitimen Wort entscheidet“ (Bourdieu 2005b, 103). Er schließt hieraus, dass die „Macht der Wörter“ nichts anderes sein könne „als die delegierte Macht des Sprechers“ (Bourdieu 2005b, 102).42
42 Hier ist anzumerken, dass sich Bourdieus Text auf offizielle, d.h. institutionalisierte und hierarchisierte Kommunikationssituationen (z.B. zwischen Armeeangehörigen oder im Rahmen kirchlicher Riten) bezieht, während er alltägliche, z.B. familiäre Kommunikati-
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Obwohl Butler die Bedeutung von reziproken Machtstrukturen für Kommunikationssituationen und soziale Interaktionen generell anerkennt, 43 wendet sie ein, dass es nicht die soziale Position eines Sprechers/einer Sprecherin alleine sein kann, die darüber entscheidet, ob Wörter Dinge tun oder nicht – denn dies würde eine stetige Reproduktion der symbolischen und sozialen Ordnung implizieren, die jeden Wandel undenkbar mache. Sie fragt daher, ob nicht auch solche Situationen und Sprechakte denkbar sind, in denen die Legitimation, aus der autorisierte Sprecher/-innen und Sprechakte ihre Autorität beziehen, selbst in Frage gestellt wird; Situationen also „in denen die Äußerung tatsächlich als Effekt der Äußerung selbst eine Verschiebung in der Begrifflichkeit der Legitimität performiert“ (Butler 2006, 229) und somit eine kritische Perspektive auf bestehende Institutionen erzwingt (Butler 2006, 246). Die Macht, derartige Veränderungen zu bewirken, liegt für Butler in der Sprache, d.h. genauer gesagt in der Iterabilität von Sprechakten begründet. Durch das in den einzelnen Sprechakten immer eingebettete Risiko des Fehlschlagens und durch die Möglichkeit des Bruches mit vorhergehenden Kontexten, werden Bedeutungsverschiebungen denkbar und „subversive Resignifikationen“ möglich. Hiermit bezeichnet Butler die Option, dass auch hate speech, also diskriminierend und beleidigend benutzte Begriffe und Kategorien, von denjenigen, die so bezeichnet werden, den hegemonialen Diskursen „entwunden“ und – zumindest potenziell – in anderer, verschobener, positiver und widerständiger Bedeutung wieder angeeignet werden kann. In Bezug auf die Frage, ob dies wirklich immer möglich ist, konzediert Butler jedoch, dass „besonders im Fall von hate speech Kontexte mit bestimmten Sprechakten in einer Weise zusammenhängen, die nur sehr schwer zu erschüttern ist“ (Butler 2006, 252). Somit sei immer danach zu fragen, „wie es kommt, daß bestimmte Äußerungen leichter mit ihrem Kontext brechen als andere oder warum bestimmte Äußerungen die Kraft haben zu verwunden, wohingegen es anderen nicht gelingt, überhaupt eine solche Kraft auszuüben“ (Butler 2006, 234). Mit Bourdieu lässt sich dieser Imperativ für die vorliegende Forschung insofern ergänzen, als nicht nur danach zu fragen sein wird, welche Äußerungen und Anrufungen stärker verletzen und subjektivieren als andere, sondern auch der Frage nachzugehen sein wird, welche Rolle die Positionierungen im sozialen Raum sowie die diesen zugrunde liegenden Machtbeziehungen hierbei spielen. Während Bourdieu mit seinem Konzept des Habitus also letztlich eine Erklärung dafür anbietet, warum es nicht (bzw. so selten oder so langsam) zur Destabilisierung bestimmter symbolischer, sozialer und politischer Ordnungen kommt, obwohl ungleiche Lebensbedingungen eigentlich destabilisierend wirken müssten, situiert sich Butlers Erkenntnisinteresse genau spiegelverkehrt: Sie versucht mit ihrem Konzept der Performativität zu beantworten, warum und wie Widerstand gegen die herrschende symbolische Ordnung denkbar ist, obwohl (oder gerade weil) das Subjekt durch
onssituationen nicht kommentiert (wobei er wohl auch hier auf die inhärenten Machtbeziehungen und ihre Bedeutung für innerfamiliäre Kommunikation verweisen würde). 43 So ist für sie „eines der stärksten Argumente für die staatliche Regelung von hate speech, dass bestimmte Äußerungen – wenn sie aus einer Machtposition heraus gegenüber einer bereits untergeordneten Person ausgesprochen werden – den Effekt haben, ihren Adressaten neuerlich zu unterwerfen“ Butler (2006, 48).
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die es konstituierende Macht unterworfen ist. Wo Bourdieu also nach dem Wahrscheinlichen fragt, fragt Butler nach dem Möglichen (vgl. Butler 2000b, 267).44 Genau diese Spannung zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Möglichen bedeutet für die hier vorliegende, empirische Untersuchung eine hilfreiche Öffnung und Erweiterung. So wird es möglich, einerseits die sozialen Rahmenbedingungen nicht aus den Augen zu verlieren, und andererseits dennoch danach zu fragen, ob und wie in einzelnen Sprechakten und Interaktionen – die in den Erzählungen über Positionierungen und Selbst-Identifizierungen zitiert und produziert werden – statt einfacher Reproduktion der sozialen Strukturen auch Widerstand gegen diese Strukturen denkbar ist (vgl. Kap. 6.5). Hinsichtlich der Forschungsfrage leistet Butlers Performativitätskonzept somit zweierlei: Zum einen re-formuliert sie Bourdieus Habitustheorie in einer Art und Weise, die die Kompatibilität dieses Ansatzes mit diskurstheoretischen Ansätzen deutlich macht und die Anschlussfähigkeit der hier genutzten diskurs- und praxistheoretischen Konzepte sicher stellt. Zum anderen liefert sie mit ihren Überlegungen zur performativen Distanzierung von Anrufungen durch diskriminierende und verletzende Kategorien und Begriffe sowie der Eröffnung der Möglichkeit subversiver Begriffsaneignung das Rüstzeug, das wir benötigen, um in der empirischen Analyse den Widerständigkeiten diskursiv konstituierten Subjekte nachzugehen. 2.1.6. Versuch einer ersten Synthese: Subjekte zwischen Diskurs und Disposition Ausgehend von den bisher erarbeiteten Theorieansätzen kann nun ein erstes Zwischenresümee zum Zusammenhang zwischen Diskurs und Identität gezogen werden. Dieses wird in der unten stehenden Grafik (Abb. 1) veranschaulicht:
44 Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven erklärt sich auch, warum Bourdieu (bes. 2005) rapiden gesellschaftlichen Wandel für unwahrscheinlich hält, während Butler deutlich optimistischer davon ausgeht, dass Resignifizierung und damit auch sozialer Wandel theoretisch immer möglich sind (vgl. Reckwitz 2004b). Dass Butler hierbei u.U. etwas zu optimistisch ist (Bublitz 2002, 88), erklärt Reckwitz durch ihren Fokus auf avantgardistische Gesellschaftsstrukturen (während Bourdieu traditionelle bzw. bürgerliche Gesellschaftsformen betrachtet). Dass man jedoch mit ihren Theorieansätzen auch ein und dieselbe Gesellschaftsstruktur sehr fruchtbar analysieren kann, mag die Präsidentschaftskandidatur des französischen Komikers Coluche 1981 verdeutlichen: Butler würde darauf verweisen, dass dieser mit seiner Kandidatur (= performativer, illokutionärer Akt) Wähler zu mobilisieren und das politische Etablissement zu irritieren vermochte. Bourdieu würde dagegen die Mechanismen der Schließung und die dem politischen (und medialen) Feld zugrunde liegenden Machtbeziehungen hervorheben, die dafür sorgten, dass Coluches Medienpräsenz verhindert bzw. zensiert wurde und er am Ende seine Kandidatur zurückziehen musste – es ihm also nicht gelang, sich mit seiner unautorisierten Sprache und seiner als unflätig empfundenen Sprechweise einen Platz im politischen Feld zu erobern. Auch die im politischen Feld gültigen Regeln konnte er durch sein subversives Handeln nicht nachhaltig verändern. Je nachdem wie man das Ziel und die Funktion dieses spezifischen Sprechaktes definiert, kann er also sowohl als „erfolgreich“ als auch als „fehlgeschlagen“ gelten.
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Ein Selbst-Verständnis, das ich mit Brubaker und Cooper (2000) als implizites Wissen über sich selbst und seine soziale Position definiert habe, entwickelt und verändert sich im Laufe des Lebens. Als Set von Dispositionen (Habitus) macht es bestimmte Handlungen wahrscheinlicher als andere. Diese Dispositionen wirken sich in Form eines „sens pratique“ auf die subjektive Praxis in verschiedenen biographisch erlebten Handlungssituationen aus. Abbildung 1: Biographische Konstitution eines Selbst-Verständnisses
Quelle: Eigene Abbildung, © M. Didero
Diskurse stellen im Rahmen des hier verfolgten Subjektverständnisses die Subjektpositionen (sowie die jeweils hierdurch aufgerufenen Äquivalenz- und Differenzkategorien) bereit, in die sich Subjekte durch Artikulationsprozesse „einklinken“ können. Eingeschrieben in diese symbolische Ordnung der sozialen Welt sind auch die Identitätskategorien, mithilfe derer Subjekte sich selbst und andere identifizieren. Darüber hinaus werden hierüber die jeweils in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern in unterschiedlicher Form geltenden Regeln und Ziele definiert sowie der symbolische „Wert“, der bestimmten Arten von Kapital zukommt, bestimmt. Diese symbolische Ordnung der Welt schlägt sich jedoch, und dies ist die andere, die objektivierte Seite, in ganz konkret wirksamen und erfahrbaren Lebensbedingungen nieder. Eine bestimmte Ausstattung mit sozialem, kulturellem, ökonomischem und symbolischem Kapital eröffnet und beschränkt in spezifischen Situationen die Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Subjekte und weist ihnen einen bestimmten Platz im sozialen Raum zu.
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Aktualisiert werden sowohl Diskurse als auch Habitus und Selbst-Verständnis in konkreten Interaktionen und Sprechakten. Diese werden einerseits durch linguistische und soziale Bedingungen gerahmt. Da andererseits eine Regel ihre Anwendung nie vollständig determinieren kann, bieten die einzelnen Sprechakte jedoch immer auch Potenzial zur Subversion und Verschiebung – ohne dass sich die Subjekte dabei vollständig aus den diskursiv vorgegebenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata befreien können. Während also einerseits die in die Hexis inkorporierten sozialen Strukturen und die zuvor bereits wirksam gewordenen Anrufungen die subjektive Interpretation einer folgenden Situation sowie die hieraus abgeleiteten Handlungsweisen rahmen, wird hierdurch andererseits die Kontingenz dieser Situationen ebenso wenig aufgehoben wie die von Selbst-Sichten und Selbst-Identifizierungen, die zwar in einem ganz bestimmten Maße beschränkt, jedoch nicht determiniert werden. Die Konstitution des Subjektes erfolgt somit immer im Modus eingeschränkter Kontingenz. Auf die methodologischen Folgen und Konsequenzen dieses Subjektverständnisses – also die Frage, was es bedeutet, wenn eine Person über sich selbst und die eigene Biographie erzählt und sich selbst in diesem Kontext in bestimmter Art und Weise und unter Rückgriff auf bestimmte soziale Sicht- und Teilungsprinzipien identifiziert – werde ich in Kap. 4.4 zurückkommen. Zunächst gilt es jedoch, das hier entwickelte Konzept der Subjekt-Konstitution danach zu befragen, welche Bedeutung Räumen und Orten hierbei zukommt.
2.2. I DENTITÄT UND R AUM ? R AUMBEZOGENE Z UGEHÖRIGKEITEN ZWISCHEN D ISKURS UND ALLTAGSLEBEN Auf die Aussage, dass Raum wichtig ist („space matters“), können sich Geographen ohne Weiteres einigen. Ebenso würden die meisten der Annahme zustimmen, dass Raumbezüge auch bei Identitätskonstruktionen eine Rolle spielen. Wie eingangs bereits angedeutet, ist dabei jedoch durchaus umstritten, wie dieser Zusammenhang aussieht, welcher „Raum“ dabei gemeint ist, und ob Raum für Identitätskonstruktionen immer eine Rolle spielt.45 Aufgrund ihrer Verortung in der Sozial-, Kulturund/oder Migrationsgeographie weisen die Beiträge zu dieser Diskussion unterschiedliche Blickwinkel und divergente Theoriehorizonte auf. Wenn im Folgenden nach der Bedeutung von Räumen und Orten für die Konstitution und Konstruktion von Identitäten gefragt wird, kann dieses Forschungsfeld daher nicht in Gänze dargestellt werden. Stattdessen wird es darum gehen, exemplarisch einige zentrale Konzepte und Argumentationen aufzugreifen, mit deren Hilfe sich zunächst theoretisch
45 Aus einer für die vorliegende empirische Fragestellung leider weniger hilfreichen theoretisch-philosophischen Argumentationslinie heraus lässt sich Raum allerdings als zwingend notwendige Voraussetzung für die „Identitätskonstruktion des Eigenen“ definieren, da „[d]ie Apperzeption, aufgrund derer es dem Eigenen möglich wird, über den Umweg des andere[n] Körpers auf ein fremdes Alter Ego zu schließen, nicht stattfinden [kann], wenn kein Raum vorhanden ist, in dem der andere Körper erkannt wird“ (Wißmann 2011, 187).
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herausarbeiten lässt, welche Bedeutung Orts- und Raumbezüge im Rahmen der drei von Brubaker und Cooper herausgearbeiteten Identitätsdimensionen (Identifizierung, Selbst-Verständnis und Zugehörigkeit) haben können. Die Annäherung an diese Thematik erfolgt dabei analog zum bisher vorgestellten Theorierahmen aus zwei komplementären Richtungen. Hinsichtlich der Frage, welche Rolle Orte und Räume für Prozesse des „Identifiziert-Werdens“ und das „Sichselbst Identifizieren als“ spielen, gilt es zunächst, Raumdiskurse und Raumsemantiken in den Blick zu nehmen. Hierauf aufbauend wird es im empirischen Teil möglich sein, das deutsche Islambild auf seine Raumbezüge hin zu untersuchen und deren ein- und ausgrenzende Funktion zu problematisieren (vgl. Kap. 3.2). Zweitens können auch die in den Interviews re-produzierten Bezüge hinsichtlich „natio-ethnokultureller“ Einheiten (Mecheril 2003b) thematisiert und konzeptionell eingeordnet werden. Die gerade durch die ausgrenzende Wirkung des deutschen Islambildes aufgeworfene Frage nach individuell-subjektiv empfundenen, raumbezogenen Zugehörigkeiten jedoch, auf die insbesondere in Kap. 6.2 einzugehen sein wird, erfordert eine Erweiterung des Blickwinkels. Denn auch wenn sich Raum-/Kultur-Semantiken als Knotenpunkte identifizieren lassen, in die sich Konzepte von Zugehörigkeiten einklinken können, so lässt sich allein unter Bezug auf diskursiv konstituierte Raumbilder nicht ableiten oder erklären, ob und hinsichtlich welcher sozialen und/oder räumlichen Kategorien aus subjektiver Sicht eine Zugehörigkeit tatsächlich empfunden bzw. ausgedrückt wird. Für diese Erklärung – das hat sich aus der empirischen Analyse der hier vorliegenden Interviews ergeben – ist ein Einbezug von Alltagsräumen (im Sinne biographisch er- und gelebter Orte) unumgänglich. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird es folglich darum gehen, auch hierfür einen angemessenen theoretischen Rahmen zu entwickeln. 2.2.1. Raumsemantiken – zwischen Selbst- und Fremdidentifizierung Vor dem bisher erarbeiteten theoretischen Hintergrund lässt sich argumentieren, dass Raumbegriffe eine von mehreren Arten von Kategorien darstellen, die als Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt wirksam werden können und somit als Bezugsgrößen für Selbst- und Fremdidentifikationen bereitstehen. Diese Bezugsgrößen haben jedoch keinen stabilen, inneren „Wesenskern“, sondern lassen sich unter Bezug auf die Diskurs- und Hegemonietheorie nach Laclau und Mouffe als eine spezifische Gruppe tendenziell leerer bzw. „flottierender“ Signifikanten definieren. Gerade weil sie folglich nicht auf ein eindeutig bestimmbares, eindeutiges Signifikat (d.h. einen abgrenzbaren Raumausschnitt inklusive einer eindeutig definierbaren Bedeutung) verweisen, wird Raumbegriffen – auch theorieübergreifend – ein „großer Einfluss auf die gesellschaftlich etablierten Lesarten und Deutungsmuster von Wirklichkeit“ (Mattissek 2008, 95) zuerkannt, die sich als solche auch auf soziale Praktiken auswirken bzw. darin niederschlagen.46
46 Vgl. hierzu auch Schlottmann (2007, 10), Miggelbrink und Redepenning (2004, 324) sowie Pott (2005, 92f.), der Raum aus systemtheoretischer Perspektive als „spezifische, kontext-
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Diese Bedeutung resultiert insbesondere aus dem Umstand, dass Raumbegriffe potenziell mit einer Vielzahl anderer Bezugssysteme verbunden werden können: Je nachdem, in welche Äquivalenzrelationen sie zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext eingebunden sind, werden mit Raumbegriffen nicht nur territoriale Grenzziehungen assoziiert, sondern gleichzeitig auch wirtschaftliche, politische und/oder kulturelle Unterschiede verknüpft (Mattissek 2008, 95). Indem Raumsemantiken somit auch als „Kurzformel“ für Soziales47 Verwendung finden, tragen sie zu einer Objektivierung und Naturalisierung der durch sie kokonstituierten gesellschaftlich-räumlichen Unterschiede bei (Glasze und Mattissek 2009a, 170). Dies wird z.B. dann deutlich, wenn ein Interviewpartner sein Erstaunen darüber äußert, dass ein in Deutschland aufgewachsener Kommilitone es bis zum Studium geschafft hat, „obwohl der aus Nador kommt, also von [einer] dieser ganz normalen nordmarokkanischen Familien“. Ebenso wie für diesen Interviewpartner evoziert auch für andere Personen im „Süden“ bzw. „Westen“ Marokkos, der Begriff „Nordmarokko“ nicht nur wirtschaftliche Unterentwicklung und Armut, sondern auch Analphabetismus, kulturelle „Rückständigkeit“ und Traditionsgebundenheit (vgl. hierzu Kap. 6.1).48 Wie wenig der Signifikant „Norden“ dabei jedoch mit einem territorial-räumlich abgrenzbaren Signifikat verknüpft ist, mag ein Gespräch verdeutlichen, das ich mit einer jungen Marokkanerin in Selouane führte. Samira zeigte mir Fotos von Hochzeiten, die sie in ihrer Stadt und den umgebenden Dörfern und Städten besucht hatte, wobei sie eine davon mit dem Satz kommentierte: „So feiern sie im Norden.“ Angesichts der wenigen Kilometer, die uns zum Zeitpunkt des Gesprächs im Norden vom Mittelmeer als nördlicher Grenze Marokkos trennten, wurde sehr schnell klar, dass sich dieser räumliche Signifikant nicht auf eine kartographische Verortung bezog, sondern als Kurzformel für eine bestimmte, für „die Bevölkerung im Norden Marokkos“ typisch gesetzte Ausprägung von (Heirats-)Traditionen und Ritualen verwendet wurde – d.h. letztlich eine soziale Gruppe bezeichnete, zu der sich die Sprecherin, obwohl sie nachweislich im geographischen Norden lebte, nicht hinzurechnete.
abhängige und nicht notwendige Form der Beobachtung der Welt“ definiert, die sich „im Unterschied zu anderen Beobachtungsformen […] daran erkennen [lässt], dass sie auf (räumlichen) Leitunterscheidungen wie hier/dort, nah/fern oder oben/unten basiert. Mit ihrer Hilfe werden (in der Kommunikation, im Prozess der Beobachtung) räumliche Grenzen sowie über Grenzen konstituierte Räume konstruiert. Als soziale Herstellungsleistung verweisen diese stets auf ihre Herstellungskontexte und damit auf Beobachtungen und Beobachter, von deren Unterscheidungen abhängt, was als ‚Raumgrenzen‘, ‚Orte‘, ‚Stadtteile‘ usw. erscheint und in Form dieser Konstruktion soziale Folgewirkungen entfalten kann.“ 47 Dieser Begriff geht auf Werlen (1992, 17) zurück, der entsprechende räumliche Kategorien jedoch als „Kürzel für unterschiedliche Grade der Mittelbarkeit von Interaktionsformen“ bzw. „Orientierungs- und Differenzierungskategorie[n]“ oder auch die „Bedingungen des Handelns im physisch-materiellen Kontext in Bezug auf Kommunikation“ definiert. 48 Anders als bei Verne (2012, 224f.) konstatiert, wird diese spezifische raumbezogene Äquivalenzkette sowohl an verschiedenen Orten in Marokko als auch bei unterschiedlichen Personen in Deutschland in sehr ähnlicher Weise rekonstruiert.
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Als Kategorien für die Fremd-Identifikation und Anrufung von Subjekten werden Raumbegriffe folglich deswegen relevant, weil sie nicht nur eine Zuordnung von Personen zu bestimmten physisch-geographischen Raumausschnitten ermöglichen, sondern darüber hinaus auch auf erwartete Eigenschaften oder Praktiken dieser Personen verweisen.49 Derartige, diskursiv konstituierte und performativ re-artikulierte Verknüpfungen von territorial-räumlichen Begrifflichkeiten mit äquivalent gesetzten sozio-kulturellen Vorstellungen von ‚typischen‘ Eigenschaften und Handlungsweisen der hierüber lokalisierten und identifizierten Personen lassen sich auf den verschiedenen, hier interessierenden Ebenen der alltäglichen Face-to-Face-Kommunikation (z.B. auch im Interviewkontext), aber auch in medialen Darstellungen und nicht zuletzt auch in wissenschaftlichen Konzepten und Zugängen beobachten.50 Von den hier vorgestellten ‚Raum-Kultur-Gesellschafts-Koalitionen‘ bzw. „Raumgestalten“ (Werlen 1997, 44) sind zwei für die hier vorzunehmende Analyse des deutschen Islambildes von besonderer Relevanz. Der erste dieser „Isomorphismen“ (Massey 1999, 21) betrifft das Konzept von „Kulturräumen“, wie es sich in jeweils unterschiedlichen Kontexten und Zielsetzungen von Hegels Kulturtheorie über die in der deutschen Geographie konzipierten „Kulturerdteile“ bis hin zu Huntingtons „clash of civilisations“ nachzeichnen lässt.51 Seit dem 11. September 2001 erweist sich diese wissenschaftlich vorstrukturierte „Aufteilung der Welt nach kulturellen Gesichtspunkten“ (Wolkersdorfer 2006, 14) – ebenso wie die darin eingebettete dichotome Grenzziehung zwischen ‚dem Westen‘ und ‚dem Orient‘ – auch in den Medien, der Politik und der Alltagskommunikation als zunehmend „hegemoniales Schema einer Gliederung der Welt“ (Glasze und Thielmann 2006, 2). Während im internationalen Kontext der „Kampf der Kulturen“ als immanente Wahrnehmungs- und Bewertungsfolie für Krisen und Konflikte wirkt (Reuber und Strüver 2009), lassen sich auf nationaler Ebene, u.a. im Kontext der deutschen Zuwanderungspolitik, gehäuft Argumentationen finden, die auf einer Vorstellung von territorial verorteten und zeitlich fixierten „Kulturen“ basieren (vgl. Kap. 3.2). Die hiermit angesprochene Thematik der Zuwanderungspolitik verweist auf die zweite, für die folgende Analyse zentrale, Kategorie: Das historisch ebenfalls auf der gedanklichen Gleichsetzung von Territorium, Kultur und Volk (bzw. Gesellschaft) beruhende Konzept der Nation bzw. des Nationalstaats. Dass die nationalstaatliche Ordnung als „wirkungsvollste hidden geography des sozialwissenschaftlichen Mainstreams“ (Lossau und Lippuner 2004, 203; Herv. i.O.) eingestuft werden kann,
49 Vgl. hierzu Schlottmann (2007, 10), die die„[a]lltägliche Verortung von Eigenschaften in Verbindung mit der Verwendung von Toponymen“ als „Topographisierung“ definiert und von „Topologisierung“ und „Chorologisierung“ als divergierende Funktionen von „RaumSprache“ abgrenzt. 50 Vgl. hierzu Pott (2002, 96) mit krit. Bezug auf die Migrations- und Segregationsforschung. 51 Für eine kritische Diskussion des von Kolb in Anschluss an Vorstellungen von Ratzel, Hettner und Schmitthenner (1962) formulierten Kulturerdteilkonzepts vgl. u.a. Ehlers (1996, 340) und Dürr (1987) sowie Kreutzmann (1997), Wolkersdorfer (2006) und Reuber und Wolkersdorfer (2002) mit Bezug auch auf Huntington (1996). Ein alternatives „Konzept selektiver Kulturräume“ findet sich bei Scheffer (2007).
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und als solche nicht nur den alltäglichen, sondern auch den wissenschaftlichen Blick auf die Welt vorstrukturiert, wird verständlich(er), wenn man sich vor Augen führt, dass der Begriff der Nation nicht nur einen „diskursiven Knotenpunkt im Sinne von Laclau und Mouffe“ darstellt (Schulz 2007, 226), sondern aufgrund seiner realpolitischen Umsetzung im System der Nationalstaaten auch als ein sich selbst (re-) produzierendes Dispositiv wirkt (Mose 2007, 120). Durch die Etablierung einer gemeinsamen Sprache und eines nationalstaatlich regulierten Bildungswesens (vgl. hierzu Kap. 6.3.1), aber auch mittels anderer Herrschaftsinstrumente wie der Volkszählung, der Landkarte oder auch des (National-Geschichts-)Museums, werden Nationalstaaten nicht nur als „imagined community“ symbolisch etabliert,52 sondern darüber hinaus auch als alltägliche Lebenswirklichkeit erleb- und erfahrbar gemacht (vgl. Anderson 2006, 163-186).53 Es kann daher nicht weiter erstaunen, dass nationalstaatliche Semantiken bis heute nicht nur in der Alltagskommunikation eine zentrale Rolle u.a. für die oben erläuterten Praktiken der Selbst- und Fremd-Identifizierungen von territorial verortet gedachten Personen und Praktiken spielen,54 sondern häufig genug auch den wissenschaftlichen Blick lenken (vgl. kritisch u.a. Beck 2008). So beruht nicht zuletzt die in der Migrationsforschung übliche Unterscheidung zwischen der Binnenmigration und der internationalen Migration (als Forschungsfeld, in dem neben der Frage nach Migrationsmotiven und -prozessen auch das ‚Problem‘ gesellschaftlicher Integration oder Assimilierung verhandelt wird) auf der Annahme signifikanter „natio-ethnokultureller“ Einheiten (Mecheril 2003b). Was bedeuten die vorstehenden Überlegungen nun für die folgenden empirischen Analysen? Zum einen werden sich die o.g. Konzepte als hilfreich erweisen, um im folgenden Kapitel darzulegen, wie gerade die „Koalition“ nationalstaatlicher Semantiken mit großregionalen Konzeptionen von „Kulturkreisen“ zur unmittelbaren Relevanz des deutschen Islambildes für die in Deutschland lebenden Muslime beiträgt. Indem die in der deutschen Presse und Bevölkerung kursierenden Vorstellungen über ‚den Islam‘ und ‚die Muslime‘ kritisch durchleuchtet werden, kann gezeigt werden, dass sich der aktuell hegemonial erscheinende Antagonismus der sozialen Kategorien ‚Deutsch‘ und ‚Muslimisch‘ nicht zuletzt aus der damit verknüpften „Politik der Verortung“ (Lossau 2002) speist.55
52 Zur Bedeutung von Zensuskategorien wie bspw. der seit 2005 in Deutschland neu etablierten statistischen Kategorie „Personen mit Migrationshintergrund“ vgl. Kap. 2.1.1. und 4.1. 53 Vgl. Glasze und Mattissek (2009a, 167) zur Möglichkeit, das Anderson’sche Konzept „imaginierter Gemeinschaften“ diskurstheoretisch zu schärfen, indem die gemeinsame Sprache oder Geschichte als Knotenpunkt (leerer Signifikant) definiert wird, der nicht Abbild einer existierenden Gemeinschaft ist, sondern diese Gemeinschaft „erst durch die gemeinsame Identifikation der einzelnen Elemente mit diesem Knotenpunkt“ herstellt. 54 Zur Bedeutung nationalstaatlicher Semantiken (banaler Nationalismus) in der Alltagskommunikation vgl. u.a. Miggelbrink und Redepenning (2004). 55 Vgl. hierzu Pott (2007, 44): „Vorgestellte Gemeinschaften – ‚die Türken‘, ‚die Muslime‘, ‚die christlichen Deutschen‘ – werden durch Lokalisierung zu quasi-natürlichen, scheinbar objektiven, homogenen und antagonistischen Akteuren.“
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Zum anderen wird es darum gehen, mit einem entsprechenden Analysefokus, auch die in den Interviewsituationen her- und dargestellten narrativen Identitäten (vgl. Kap. 4.4) daraufhin zu befragen, inwiefern meine Interviewpartner/-innen auf verschiedene (u.U. ko-konstitutive) Kultur- und Raumbegriffe zurückgreifen, um sich selbst oder andere zu identifizieren, bestimmte Denk- oder Handlungsmuster zu erklären oder auch emotional empfundene (raumbezogene) Zugehörigkeiten zu artikulieren. Aufgrund der für die vorliegende Arbeit gewählten diskursanalytischen – und damit auch sozialkonstruktivistischen – kulturgeographischen Forschungsperspektive gilt dabei ganz selbstverständlich, dass ‚Kultur‘ ebenso wie ‚Ethnizität‘ oder ‚kollektive Identität‘ als Konzepte „under erasure“ zu behandeln sind. Als diskursiv konstituierte und performativ re-konstruierte Kategorien können diese in ihrem Gebrauch beobachtet werden (vgl. Pütz 2004, 27). Nicht sinnvoll wäre es jedoch, sie als analytische Konzepte ‚von außen‘ in die Forschung einzubringen (vgl. hierzu ausführlicher Pott 2002 und 2005). Anschlüsse an ein aus der Sozialanthropologie entwickeltes Verständnis von „Ethnizität, Rasse und Nationalität [als] fundamentale Formen der Wahrnehmung, Deutung und Repräsentierung der sozialen Welt“ (Brubaker 2007, 31)56 einerseits sowie ein philosophisch fundiertes Verständnis von „Transkulturalität als Praxis“ (Welsch 1999, Pütz 2004) andererseits bieten für die vorliegende Arbeit ein hilfreiches Fundament, um die im empirischen Material auftauchenden „ethno-natiokulturellen“ Begrifflichkeiten als soziale und kulturelle (da Bedeutung schaffende) Grenzziehungsprozesse zu begreifen, und diese Praktiken „als Konstruktion entlang Zugehörigkeit und Ausschluss markierender Symbole“ zu untersuchen, ohne dabei die „theoretische[.] Position der Nicht-Existenz von homogenen Kulturen“ (oder ethnischer Gruppen) aufgeben zu müssen (Pütz 2004, 27, vgl. hierzu auch Meyer 2007, 26f. und Boeckler 2005, 45).57 Ethnizität, Nationalität und Kultur können somit zusammenfassend als sozial konstruierte Kategorien definiert werden, die als Sicht- und Teilungsprinzipien [vision und di-vision (Bourdieu 2005b, 95)] der sozialen Welt fungieren. Mit diesen Kategorien werden Individuen nicht nur angerufen und identifiziert (bzw. subjektiviert), sondern in vielen Fällen auch (geographisch) lokalisiert und verortet.
56 Zu den Grundlagen und Entwicklungen eines Konzepts von Ethnizität als soziale Praxis vgl. Barth (1969); Barth (2007, 10); Jenkins (1997); Brubaker (2004); Wimmer (2008, 59 und 2009, 246) sowie Beiträge in Müller und Zifonun (2010). 57 Ähnlich wie Bourdieu formuliert Welsch ein praxisorientiertes Kulturkonzept. Indem er jedoch betont, dass verschiedene Versatzstücke von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern sowie von Konsumptions- und Produktionsweisen ökonomischer und kultureller Güter ständig neu und unterschiedlich gemischt werden, wodurch unterschiedliche, aber nicht abgrenzbare Lebensweisen temporär geprägt werden, verweist er stärker als Bourdieu auf die Dynamik kulturellen Wandels. Auch Welschs Auffassung von Subjekten als in multiple und heterogene, symbolische Ordnungen und Diskursfelder eingebunden und daher mit multiplen Zugehörigkeiten und hybriden Identitäten ausgestattet (1999, 198), schließt noch dezidierter an poststrukturalistische Subjektbegriffe und die Konzeption von Identitäten als „articulated set of elements“ (Laclau 1990, 32) an.
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Ob und in welchen Kontexten sich eine bestimmte Person nun selbst mithilfe einer derart diskursiv konstituierten Kategorie identifiziert (ich als Deutsche/-r, Kölner/-r, Europäer/-in) und inwiefern sie sich in bzw. mit Bezug auf das durch den entsprechenden Signifikanten abgegrenzte Raum-/Gesellschafts-Konglomerat als zugehörig fühlen kann, ist eine Frage, für die die jeweilige Ausprägung der hegemonial wirksamen Raumsemantiken zwar eine große Rolle spielt, die sich jedoch auf der Ebene der Raumdiskurse allein nicht erschöpfend beantworten lässt. Die für die Formulierung von ortsbezogenen Zugehörigkeiten ebenfalls zentralen, biographisch erlebten, erinnerten und imaginierten Orts- und Raumbezüge werden daher im Folgenden näher erläutert. 2.2.2. Raumbezogene Zugehörigkeiten – von Orten und Biographien Eine Frage, die ich selbst explizit fast nie gestellt habe, die jedoch von meinen Gesprächspartner/-innen sehr regelmäßig auf die eine oder andere Weise in das Gespräch eingebracht wurde, betraf den Begriff von ‚Heimat‘ und subjektiv empfundene, (auch) ortsbezogene Gefühle von Zugehörigkeit. Solche emotionalen Ortsbezüge und Ortsbindungen wurden in den narrativen Erzählungen häufig sehr eng an die persönlichen, biographischen Erfahrungen von Wanderung(en) und räumlicher Mobilität verknüpft. In nicht wenigen Fällen kristallisierte sich dabei ein vehementer Widerspruch zwischen hegemonialen, überindividuell konstruierten Zugehörigkeitsräumen (wie oben skizziert und in Bezug auf das Islambild in Kap. 7.1 aufgegriffen) einerseits sowie subjektiv-biographisch fundierten Konzepten von raum- und gesellschaftsbezogener Zugehörigkeit andererseits heraus. Um diese für die vorliegende Arbeit zentrale Spannung und Diskrepanz zwischen hegemonialen Diskursen einerseits und biographisch legitimierten Ansprüchen auf Zugehörigkeit (bzw. auch das Fehlen einer solchen „counter-narrative“) andererseits empirisch untersuchen und erklären zu können, ist im Folgenden zunächst ein theoretisch fundiertes Verständnis dafür zu entwickeln, welche Bedeutung nicht nur Raumsemantiken, sondern auch alltäglich erlebte und erinnerte, räumliche Lebenskontexte für die Konstitution von Subjekten, ihre Dispositionen und ihre raumbezogenen Zugehörigkeiten spielen. Hierfür soll zunächst eine Konzeptionierung von ‚Raum‘ und ‚Ort‘ skizziert werden, mit deren Hilfe die Wechselwirkungen von Raum, Dispositionen und Beheimatungen in den Blick genommen werden können, ohne in eine „Raumfalle“ (Lossau und Lippuner 2004, 206) zu tappen. In einem zweiten Teil werden die daraus resultierenden Konsequenzen für die empirische Forschung im (Post-)Migrationskontext thematisiert, bevor abschließend ein Analyseraster für die hier angestrebte Untersuchung raumbezogener Zugehörigkeiten formuliert werden kann. Konzeptionelle Grundlagen Die Körpergebundenheit und Leiblichkeit menschlichen Handelns und Erlebens (die bereits mit Bezug auf Bourdieu und Butler in Kap. 2.1 thematisiert wurde) begründet aus phänomenologischer Perspektive auch „die Erfahrung der Welt als eine räumliche“ (Werlen 2009, 379). Die Körpergebundenheit und Situiertheit menschlicher Praktiken bleibt trotz der Bedeutungsverschiebung von (unmittelbaren) Face-to-FaceKontakten zu (mittelbaren) medial-vermittelten Informationen auch in spät-modernen
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Gesellschaften bestehen: Auch wenn ich telefoniere oder im Internet surfe, befinde ich mich an einem spezifischen Ort auf der Erdoberfläche. „Räumlichkeit“ ist folglich „für das an Wahrnehmung gebundene Bewusstsein […] unvermeidlich und unhintergehbar (gehört sozusagen zur ‚conditio humana‘)“ (Hard 2009, 300). Escobar (2008, 289) resümiert treffend: „We are, in short, placelings.“ Auch Bourdieu weist uns darauf hin, dass die Inkorporierung des Habitus immer (auch) raumgebunden „mit dem ganzen Leib in den und durch die Bewegungen und Ortsveränderungen“ (Bourdieu 1987b, 142) erfolgt – wodurch sich sowohl die umgebende Objektwelt als auch die in diesen Objekten materialisierten, gesellschaftlichen Verhältnisse in den Körper und die Dispositionen einschreiben. Es sind folglich sowohl die sozialen Beziehungen und Relationen als auch die ‚Räume‘, in denen diese sozialen Interaktionen stattfinden, die für die Entwicklung von Dispositionen von Bedeutung sind. Lässt sich also von einer phänomenologischen Warte aus argumentieren, dass – weitgehenden Globalisierungstendenzen zum Trotz – lokale Lebenskontexte bzw. „gelebte Räume“ für individuelle Biographien und die Konstitution von Subjekten und deren Identitätsdimensionen auch heute noch von Bedeutung sind, ist allerdings kritisch danach zu fragen, welche (und wie viele) Orte dies sein sollen/können und wie diese zu verstehen sind. Anders als in Arbeiten, die zu Beginn der 1990er Jahre den Zusammenhang zwischen lokalen Lebenskontexten, Identitätskonstruktionen und raumbezogenen Bindungen am Beispiel städtischer (Wohn-)Quartiere als spezifische, abgegrenzte Alltagsräume untersucht haben (vgl. Gebhardt und Schweizer 1995; Reuber 1993; Sachs 1993; Weiss 1993), ist aus der hier eingenommenen, biographischen Perspektive auf Raum und Mobilität erstens zu berücksichtigen, dass im Zeitverlauf einer Biographie nicht nur verschiedene (Wohn-)Orte und Alltagsräume von Bedeutung sein können, sondern dass zweitens dank moderner Kommunikationsmittel soziale Beziehungen mit Personen an verschiedenen Orten häufig nicht nur konsekutiv, sondern auch simultan aufrechterhalten werden (vgl. Pries 2008, 237). Beide Erkenntnisse haben im Bereich der Migrationsforschung zu einer Neuausrichtung der Forschungsperspektive geführt. Im Zentrum steht hier der Begriff der Transnationalität bzw. der Transnationalisierung. Geprägt wurde dieser Begriff zunächst in der Politikwissenschaft, um hiermit grenzüberschreitende Beziehungen und Verflechtungen von nicht staatlichen Akteuren von den internationalen Beziehungen zwischen Nationalstaaten abzugrenzen (Pries 2008, 170-182; Vertovec 2009, 28f.). In der Folgezeit wurde der Begriff des Transnationalismus in verschiedenen Disziplinen der Migrationsforschung aufgegriffen,58 um die durch verbesserte und vergünstigte Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten erleichterte, grenzüberschreitende Mobilität von Migranten sowie deren Einbettung in pluri-lokale Netzwerke zu untersuchen (Basch et al. 1994; Glick Schiller et al. 1992). Ob derartige transnationale Sozialbeziehungen von Migranten ein wirklich neues Phänomen darstellen, ist unter den Forschern durchaus umstritten. Als veränderte Forschungsperspektive ist es jedoch der Transnationalismusforschung zugutezuhal-
58 Vgl. Morawska (2003) für einen interdisziplinären Überblick – bezeichnenderweise wird die Geographie hier allerdings nicht erwähnt. Für die empirische Anwendung des Konzeptes in der deutschen Geographie siehe Glorius (2007) und Schmiz (2011).
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ten, dass sie den Blick der traditionellen Migrationsforschung substanziell erweitert hat: Wo zuvor Stufentheorien der Assimilation59 Migration als einmaligen, unidirektionalen Prozess mit anschließender Eingliederung in eine neue NationalGesellschaft in den Blick nahmen, und Esser noch 2001 eine Mehrfachintegration in verschiedene, nationalstaatlich konzipierte Gesellschaften als „zwar oft gewünschte[n], theoretisch jedoch kaum realistische[n] und auch empirisch sehr seltene[n] Fall“ abwertet, der „allenfalls für Diplomatenkinder oder für Akademiker in Frage [käme]“ (Esser 2001, 20f.), werden vor dem Hintergrund einer angenommenen Transnationalisierung über staatliche Grenzen hinweg aufgespannte Handlungs- und Mobilitätsräume, Beziehungsnetzwerke sowie multiple, individuelle und kollektive Identitäten und Lebensweisen auch für ganz ‚normale‘ Arbeitsmigranten (vgl. Kap. 6.2.2) denkbar und empirisch erfassbar.60 Kritisiert wurde das Konzept des Transnationalismus jedoch unter anderem für den – in vielen darauf aufbauenden Forschungskonzepten letztlich fortgesetzten statt konsequent dekonstruierten – Bezugs auf den Nationalstaat als dominante räumliche Einheit (vgl. Herzig und Thieme 2007, 1097). Ahmed (1999), Ley (2004), Smith (2011, 184) und andere Autoren weisen kritisch darauf hin, dass sich viele Forscher/innen, die auf einen Transnationalismus-Ansatz zurückgreifen, sehr einseitig auf bestimmte, hochmobile Gruppen konzentrieren. Dies sei aufgrund des gewählten Blickwinkels und des damit einhergehenden Forschungsinteresses verständlich. Es führt jedoch dazu, dass die Mobilität und Fluidität von „Transmigranten“ in solchen Studien zu stark hervorgehoben wird, während die strukturellen Hindernisse und Grenzen von Mobilität ebenso aus dem Blick geraten wie die (auch) notwendige körperliche Präsenz der Migranten an bestimmten Orten und die daraus resultierende Situiertheit und „embeddedness“ ihrer Alltagspraktiken. Ein dezidierter Fokus auf translokale Beziehungen, Netzwerke und Alltagswelten kann daher auch als Reaktion auf derartige Kritiken gelten. Aus einer solchen Perspektive wird der Blick wieder stärker auf die lokalen Lebenskontexte gerichtet, in die auch transnationale Migranten eingebettet bleiben. Der Fokus eines solchen „transnationalism from below“ (Smith und Guarnizo 1998) auf Relationen zwischen verschiedenen Lokalitäten (local-local relations) wird im vorliegenden Projekt genutzt, um nicht nur einen einzigen Lebensort, sondern eine Vielzahl an Orten und lokalen Lebenskontexten auf ihre „biographische Relevanz“ hin zu befragen (Dürrschmidt 1997, 64ff.). Den vorliegenden empirischen Umsetzungen eines solchen „grounded transnationalism“ wird allerdings von einigen Autoren und Autorinnen eine immer noch zu starke Verhaftung in (trans-)nationalstaatlichen Kontexten vorgeworfen (vgl. u.a. Brickell und Datta 2011, 10f.). Dies führt dazu, dass in Studien über Migrationsphänomene oft nur die lokalen Lebenskontexte der Migranten im jeweiligen Herkunftsund Aufnahmeland betrachtet werden, während darüber hinaus gehende Verflechtungen unberücksichtigt bleiben (Verne 2012, 17). Angesichts dieser Kritik fordern z.B.
59 Vgl. u.a. Theorien und Konzepte von Park und Burgess (1921), Eisenstadt (1954),Taft (1957) und Gordon (1964); Überblicke in Han (2005, 42-58) und Treibel (1999, 83-101). 60 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Essers Assimilationskonzept findet sich bei Mecheril (2003a, 35-42).
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Brickell und Datta (2011, 10f.) sowie Smith (2011, 185) dazu auf, die Erforschung trans-lokaler Beziehungen erstens konsequent auch auf nicht trans-nationale Kontexte auszuweiten (d.h. auch auf innerstaatliche Beziehungsnetzwerke und Mobilitätsformen wie z.B. Binnenmigration und multi-lokale Haushalte). Zweitens sollte Translokalität quer zu und unabhängig von hierarchisch geordneten Maßstabsebenen konzipiert werden.61 Eine solche Perspektive lässt sich meiner Meinung nach dann besonders gut umsetzen, wenn Translokalität (wie von Brickell, Datta und Verne vorgeschlagen) als inhärente Eigenschaft von Orten verstanden wird. Was hierfür benötigt wird, ist ein relationales Verständnis von ‚Raum‘ und ‚Ort‘ wie es aus geographischer Perspektive u.a. von Doreen Massey (2010) entwickelt wurde. Auf der Basis eines prozesshaften Verständnisses von Raum als „product of practices, relations, connections and disconnections“ (Massey 2006, 89f.) „[which] is never finished; never closed“ (Massey 2010, 9), werden auch lokale Lebenskontexte („places“) als relationale, temporäre und spezifische, aber nicht abgrenzbare (somit potenziell immer translokale) Konstellationen definiert: „places may be imagined as particular articulations of social relations, including relations ‚within‘ the place and those many connections which stretch way beyond it“ (Massey 1999, 22).62 Ausgehend von einer solchen Definition von biographisch potenziell bedeutsamen Orten als translokale „fluid cross-border space[s] in which social actors interact with local and extra-local institutions and social processes in the formation of power, meaning and identities“ (Smith 2001, 174), wird es im Folgenden möglich, über den Zusammenhang von Raum, sozialen Strukturen und der Konstitution von Subjekten und Dispositionen nachzudenken, ohne in die „Raumfalle” (Lossau und Lippuner 2004, 206f.) zu tappen, die Bourdieus eigenen Überlegungen zum Zusammenhang von physischem und sozialem Raum (1991; Bourdieu 1997b) regelmäßig angelastet wird.63 Eine gute Ausgangsbasis bietet hier Escobar. Seine Definition von Menschen als „placelings“ begründet er, indem er auf die auch dieser Arbeit zugrunde gelegten Dialektik von räumlichen und sozialen Prozessen und Praktiken verweist. Diese koppelt er an ein translokales Ortsverständnis im Sinne Masseys: „Place is, of course, constituted by sedimented social structures and cultural practices. Sensing and moving are not presocial; the lived body is the result of habitual, cultural and social processes. […] This means recognizing that place, body and environment integrate with each other; that places gather things, thoughts and memories in particular configurations; and that place, more an event tha[n] a thing, is characterized by openness rather than by a unitary self-identity.
61 Zu der hier angesprochenen Kritik an hierarchischen, abgrenzbaren Maßstabsebenen (scale) vgl. u.a. Marston (2000); Marston et al. (2005); Moore (2008) und MacKinnon (2011). 62 Für korrespondierende Definitionen von „translocality“ vgl. u.a. Smith (2001), Mandaville (2001) und Freitag und Oppen (2010). Im Überblick bei Verne (2012, 18f.). 63 Vgl. hierzu ausführlicher Lippuner (2005a und 2005b). Deffner (2010, 47) weist allerdings hinsichtlich der Kritik einschränkend darauf hin, dass Bourdieu sich zwar mit der Frage der körperlich-räumlichen Verortung von Praktiken beschäftigt hat, sich als Ethnologe und Soziologe jedoch nie als „Raumwissenschaftler“ oder „Raumtheoretiker“ verstand.
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[…] This also means that people are not only ‚local‘; we are all indissolubly linked to both local and extralocal places through what might be called networks.“ (Escobar 2008, 289)
Dispositionen, die zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten (aber nicht abgrenzbaren) Ort, im Rahmen bestimmter sozialer Beziehungsnetzwerke konstituiert werden, können aus dieser Perspektive somit als Vermittlungsinstanz zwischen „individuellen Praktiken und den durch diese selbst strukturierten und sie strukturierenden Strukturen“ (Deffner 2012, 98 nach Bourdieu 1976, 165) gefasst werden. Sie fungieren als Re-Produktionsinstanz von materiellen wie immateriellen (symbolischen und sozialen) räumlichen Lebenskontexten. Abbildung 2: Strukturierte und strukturierende Dispositionen
Quelle: Eigene Abbildung, © M. Didero
Wie in der Grafik oben angedeutet, lassen sich die drei Dimensionen materieller, symbolischer und sozialer Strukturen, die in die Dispositionen eingeschrieben werden, weder in der sprachlichen, theoretischen Kommunikation ‚über‘ Raum noch in der körperlich-leiblichen Erfahrung von Raum (in der o.g. Definition) voneinander entkoppeln: Durch die Inkorporierung des Habitus „mit dem ganzen Leib in den und durch die Bewegungen und Ortsveränderungen“ (Bourdieu 1987b, 142) schreiben sich sowohl die umgebende Objektwelt als auch die in diesen Objekten materialisierten, gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die damit verknüpften, symbolischen Bedeutungen und Werte in den Körper und die Dispositionen ein. Diese Dispositionen wiederum prägen raumwirksame sowie durch Raumwirkungen beeinflusste Praktiken. Hierunter fallen nicht nur Distanzüberwindungen sowie real-räumlich-körperliche, juristische oder symbolische Ein- und Ausschlussprozesse, sondern auch Erlebnisse, Vorstellungen und Erwartungen, die mit ‚Räumen‘ und
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‚Orten‘ verknüpft werden (Deffner 2012, 98). In und durch diese (sozialen und räumlichen) Praktiken können wiederum ebendiese Strukturen reproduziert und/oder verändert werden (vgl. Kap. 2.1 Dialog Bourdieu/Butler): Diskurse, Artefakte und soziale Strukturen sind somit aufeinander bezogen, aber niemals endgültig determiniert oder zeitlich fixiert: Weder lässt sich ‚die‘ Gesellschaft im Raum ablesen, noch determiniert ‚der‘ Raum ‚die Gesellschaft‘. Konsequenzen für die empirische (Post-)Migrationsforschung Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen ergeben sich aus dem bisher dargelegten Verständnis des Zusammenhangs von Orten, sozialen Strukturen und der Genese von Dispositionen für Forschungsprojekte, die sich, wie das hier vorliegende, mit der Bedeutung von Räumen und Orten in einem (Post-)Migrationskontext befassen? 1) „Raumerleben“: Wenn (Raum-)Wahrnehmung und Bewegung im Raum nicht als vor-soziale Tatsachen zu fassen sind, sondern immer durch Inkorporierung sozialer Strukturen in den Habitus vorgeprägt werden, so ist davon auszugehen, dass auch Orte und Räume nicht unabhängig von der sozialen Stellung und Subjektivierung des Einzelnen wahrgenommen und erlebt werden. Was jemand an einem bestimmten Ort erlebt, und wie er oder sie es erlebt, ist dann nicht nur abhängig von der bestimmten Konstellation materieller Artefakte und sozialer Beziehungen an diesem speziellen Ort, sondern hängt auch von seinen oder ihren bis zu diesem Zeitpunkt inkorporierten Dispositionen und seiner oder ihrer Position im sozialen Raum bzw. den in verschiedenen, relevanten gesellschaftlichen Feldern eingenommenen Positionen ab.64 Somit liegt eine Art dreidimensionale, „translokale“ Positionierung vor: • • •
Personen leben an einem Ort der – wie oben gesehen – als translokal zu definieren ist. Sie sind dabei in ego-zentrische, potenziell multilokale Netzwerke eingebunden und können multiple Ortsbezüge und Zugehörigkeiten formulieren (s.u.). Durch ihr symbolisches, ökonomisches und kulturelles Kapital sind sie in einem oder mehreren sozialen Feldern positioniert, wobei sie durch diskursiv konstituierte Anrufungen in multiple Subjektpositionen artikuliert werden können (vgl. Kap. 2.1).
64 Definiert als „network of networks“ lassen sich Felder als „transnational“ definieren, sobald diese Netzwerke nationale Grenzen überschreiten (Glick Schiller 2005, 442). Definiert man, in Anlehnung an Bourdieu, ein Feld über die darin geltenden „Regeln“ des Spiels, so wird z.B. für das Feld der Bildung, der Wissenschaft oder der Wirtschaft deutlich, dass Felder sowohl durch (potenziell „globale“) Diskursregeln als auch nationale oder subnationale Regeln und Gesetze geprägt sein können. Während somit ein Feld von einem anderen (wenn auch nicht trennscharf) abgegrenzt werden kann, ist eine „verräumlichte“ Abgrenzung der Felder nicht möglich: Sie sind in einer globalisierten Welt per se trans-lokal und trans-national ausgestaltet (vgl. hierzu aus anderer Perspektive auch Beck 2008).
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Die hieraus resultierende, subjektspezifische „multi-positionality“ (Smith 2011, 184)65 bzw. „translocational positionality“ Anthias (2008, 15f.)66 hilft zu erklären, warum beispielsweise Eltern und Kinder oder Ehemann und Ehefrau in der gleichen Stadt (oder in der gleichen Wohnung) wohnen können und dabei jedoch nicht nur unterschiedliche ‚Alltagsräume‘ (im Sinne alltäglicher Interaktionsräume) er-leben, sondern unter Umständen auch an den gleichen ‚Orten‘ (z.B. in einem Supermarkt oder in einer S-Bahn) ganz unterschiedliche Erfahrungen machen (vgl. hierzu Kap. 5.2.3), oder aber die gemachten Erfahrungen gemäß ihrer Dispositionen unterschiedlich interpretieren und bewerten. 2) Mobilität und Beheimatung: Ausgehend von dem bisher Erläuterten, ist außerdem davon auszugehen, dass die spezifische translokale Positionierung, in der ein Kind aufwächst und seine Erstsozialisierung erfährt, nicht nur allgemein seine weitere Biographie prägt, sondern auch seine oder ihre zukünftigen Wohn(raum-)Präferenzen beeinflusst. Bourdieu (1982, 137) verweist in diesem Kontext darauf, dass die unterschiedlichen Charakteristika der häuslichen Umwelt – das „diskrete[n] Gleiten auf dem beigefarbenen Teppichboden“ oder „der nüchterne[n] Kontakt mit grellfarbenem Linoleum“; der „unmerkliche[n] Duft von Parfüm“ oder der „scharfbeißende[n] Geruch von Putzmitteln“ – in die individuellen Dispositionen eingehen und so spätere Präferenzen und Lebensstile beeinflussen. In seiner Studie zur „Heimat in der Großstadt“ weist auch Reuber nach, dass die Kindheimat, d.h. „der Ort, an den ein Individuum seine erste raumbezogene Bindung entwickelt […], [auch] Auswirkungen auf raumbezogene Wahrnehmungsund Bewertungsvorgänge im Laufe der Biographie hat“ (Reuber 1993, 62). Auch aus psychologischer Perspektive wird dem Ort der Primärsozialisation eine besondere Bedeutung zugewiesen, da Kinder sich im Laufe der Latenzphase (ab ca. sieben Jahren) zum ersten Mal die außerhäusliche Wohnumwelt aktiv aneignen und sich die hier gemachten Erfahrungen besonders nachdrücklich einprägen (Abel 2011). Aus dem hier verfolgten Verständnis von Translokalität ist hierzu allerdings zu ergänzen, dass eine solche frühe Sozialisierung nicht nur das unmittelbare Wohnumfeld umfasst, sondern dass dieses durch bestimmte translokale Verbindungen gekennzeichnet ist und unterschiedlich stark durch die „Durchflüsse“ von Ideen, Waren und Personen charakterisiert wird. Eine Kindheimat kann somit auch durch kopräsente sowie medial vermittelte Kontakte zu Personen an ‚anderen Orten‘ gekennzeichnet sein.67 Erfolgt eine räumliche Dislozierung des Körpers, so ist angesichts des oben erarbeiteten Raumverständnisses die zentrale Frage nicht die nach der zurückgelegten,
65 Smith (2011, 184) erklärt: „the people one selects to interrogate as markers of and dwellers in translocal geographies are always already positioned or situated […] -- they are raced, classed and gendered, with or without papers, possessing or lacking resources, tied to religious creeds or not, having differing degrees of political and social capital and so forth.” 66 Auf beide Begriffe sowie das damit zusammenhängende Konzept der Intersektionalität wird in Kap. 4 näher einzugehen sein. 67 Vgl. hierzu allg. Pries( ތ2010, 160ff.) aktualisierende Ausführungen in Bezug auf Schützތ Konzept der ‚sozialen Umwelt‘.
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kartographisch messbaren Distanz. Entscheidend ist in diesem Kontext vielmehr, inwieweit sich die alltägliche, die „vertraute“ Lebenswelt verlagert: Sobald ein Wohnstandortwechsel mit einer vollständigen Veränderung der alltäglichen Umwelterfahrungen [Raum und soziale Interaktionsmöglichkeiten] einhergeht, so ist davon auszugehen, dass hierdurch eine substanzielle Neuorientierung notwendig wird (PeißkerMeyer 2002). Wie schwer oder leicht eine Neu-Beheimatung dann jedoch fällt, hängt von den sozial und individuell-biographisch geprägten Dispositionen ab. Unter anderem kann die Erfahrung von Mobilität zu den habituell erworbenen Dispositionen gehören. Wenn dies der Fall ist, wird eine Adaptation an eine veränderte Lebensumwelt leichter fallen, als wenn eine regelmäßige Neu-Orientierung nicht habituell eingeübt und als Selbstverständlichkeit inkorporiert wurde. Zweitens stellt sich die Frage, aus welchen und in welche sozialen Konstellationen migriert wird: Kommt jemand an einen neuen Ort, an dem seine oder ihre Dispositionen mit den dort angetroffenen übereinstimmen, wird ihm oder ihr eine Beheimatung an diesem Ort und unter diesen Menschen einfacher fallen, als wenn eine solche Habitus-Kongruenz nicht gegeben ist. Einen typischen Fall von Habitus-Kongruenz und mobilitätsaffinen Dispositionen beschreibt Julia Verne für die von ihr begleiteten jungen suahelischen Händler: „when [they] […] reach Sumbawanga […], a place to which they have never been before, they soon develop a familiarity with the place, encouraged by encountering well-known practices and attitudes in the homes of their relatives. Mobility being a central part of their identity further contributes to the immersion in these places as if they were their own homes.“ (Verne 2012, 238).
Umgekehrt ist jedoch anzunehmen, dass für Frauen oder Männer, die in einem dörflichen, landwirtschaftlichen und sozial sehr homogenen Kontext als Analphabet/-in aufgewachsen sind, ein Umzug bzw. eine Wanderung in eine größere Stadt immer dann eine substanzielle Anpassungsleistung bedingt, wenn sie dort mit den Herausforderungen einer verschriftlichten und bürokratisierten (und darüber hinaus ggf. auch sozial sehr viel heterogeneren) Alltagswelt konfrontiert werden. Ob diese neue Lebenswelt im gleichen Nationalstaat, vielleicht nur wenige Kilometer von ihrer alten entfernt, oder aber jenseits der nationalen Grenze, z.B. in Deutschland, liegt ist dann zunächst von zweitrangiger Bedeutung.68 In Einklang mit neueren Forschungsarbeiten zum Zusammenhang von Raum und Identität und die dort erfolgte Abwendung von historischen, stark romantisierenden Auffassungen von ‚Heimat‘ als biographisch fixiert, an einen einzigen, bestimmten Ort gebunden und positiv konnotiert,69 kann und soll Beheimatung auch hier als po-
68 Zweitrangig heißt jedoch nicht bedeutungslos: Wichtig ist die Grenzüberschreitung unter anderem hinsichtlich des unter Umständen hierdurch notwendig werdenden Spracherwerbs oder der rechtlichen Regulierungen, die am neuen Wohnort gültig sind oder eine Wanderung dorthin einschränken. 69 Vgl. u.a. Daum (2007) und Gebhardt et al. (1995) zur Problematik des Heimatbegriffs in Bezug auf die Blut-und-Boden-Politik der Nationalsozialisten und der daraus resultieren-
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tenziell jedem Individuum offenstehende Praxis, d.h. als ergebnisoffener Prozess und aktive Tätigkeit verstanden werden (Daum 2007). Demnach können neben dem Ort der kindlichen Sozialisation eine Vielzahl weiterer Orte und Räume in das individuelle Selbstkonzept einbezogen und mit Bedeutung belegt werden. 3) Raum, Zeit und Dispositionen: Immer dann, wenn ein solcher Ortswechsel gleichzeitig auch einen Eintritt in ein neues „Feld“ bzw. eine andere Konstellation von sozialen Beziehungen, Ideen und Artefakten bedeutet, können sich in der Konsequenz – auf Dauer – auch die subjektiven habituellen Dispositionen verändern (müssen es jedoch nicht zwangsläufig). Es sind jedoch nicht nur die Dispositionen, die sich verändern. Wie ebenfalls gezeigt, sind auch translokale Orte temporäre Konstellationen. So kann es dazu kommen, dass solche Orte, an die – da sie „für die Erinnerung […] das sinnlich Anschaulichere [sind]“ und daher eine „stärkere assoziative Kraft [entfalten] als die Zeit“ (Werlen 1992, 19) – bestimmte Erinnerungen geknüpft werden, bei erneutem Aufsuchen nicht wieder ‚hergestellt‘ werden können. So erzählte beispielsweise eine Interviewpartnerin, dass sie heute im Ramadan nicht mehr nach Marokko reist, da sie dort das Gefühl und die besondere Atmosphäre, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnert, nicht wieder finden kann. Raumbezogene Zugehörigkeiten Zusammenfassend kann an dieser Stelle das in Kapitel 2.1.1 vorgestellte Konzept der „Zugehörigkeit“ um eine entscheidende Komponente erweitert werden. So lässt sich die Frage „Wohin gehöre ich?“ zum einen mit Rückgriff auf eine soziale Dimension (soziale Kategorie oder soziale Gruppe) beantworten. Aufgrund der Körperlichkeit von Praktiken und der Verortung sozialer Beziehungen kann sich ein Gefühl von Zugehörigkeit zum anderen jedoch nicht nur auf Personen, sondern auch auf die Orte und Räume beziehen, an denen Zugehörigkeit erlebt, erinnert oder imaginiert wird (vgl. Malkki 2008, 282). Zugehörigkeit, in der hier übernommenen Definition von Brubaker und Cooper, beinhaltet immer auch eine emotionale Komponente (belonging). Dies gilt auch für raum- oder ortsbezogene Zugehörigkeiten: Im Gegensatz zu Wohnstandort- oder Wanderungsentscheidungen, die nicht notwendigerweise emotional, sondern häufig auch rational, zweckbezogen begründet werden (als praktisch, praktikabel, sinnvollere Alternative; vgl. Reuber 1993, 120), wird ‚Heimat‘ und ‚zu Hause sein‘ in der Regel über ein Gefühl definiert. Heimat ist dort, wo ich mich wohlfühle, wo es mir gut geht (hedonistisches Heimatkonzept nach Mecheril 1994). Wenn Beheimatung als offener Prozess gefasst wird, ist dies – zumindest theoretisch – zunächst überall möglich. Jedoch wird es vergleichsweise wenige Menschen geben, die sich – nach der Devise „Heimat ist da, wo ich bin.“ (egozentrisches Heimatkonzept nach Mecheril) – tatsächlich immer sofort und dauerhaft zu Hause fühlen, unabhängig davon, in welche raum-zeitliche und soziale Konstellation sie gerade eingebunden sind. In der Regel wird eine von mehreren Voraussetzungen notwendig sein, damit sich eine Person
den Ausklammerung der Frage nach Identität und Raum in der deutschen Geographie bis zur Debatte über regionale Identitäten in den 1980er und 1990er Jahren.
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„in place“ fühlt. Ein essenzieller Faktor dabei ist die „Passung“ des Habitus – in einem Umfeld, wo objektive Sozialstrukturen mit meinen inkorporierten Dispositionen übereinstimmen, werde ich mich leichter beheimaten können, als dort, wo diese Übereinstimmung nicht gegeben ist; wo sie in einem Anpassungsprozess erst mühsam hergestellt werden muss oder aufgrund der Hysterestis des Habitus zunächst ausbleibt.70 Ein Gefühl der „Passung“ und der Vertrautheit an einem Ort kann durch einen Prozess der aktiven Aneignung, des „Sich-vertraut-Machens“ mit der physischen und sozialen Umwelt erfolgen. Auch wenn es nicht notwendigerweise daran gebunden ist, wird ein solches Gefühl von Vertrautheit und emotionaler Bindung an einen Ort durch eine lange Wohndauer erleichtert. ‚Heimat‘ wird allerdings nur dann daraus, wenn – siehe oben – sich die betreffende Person an diesem Ort auch wohlfühlt und nicht nur gezwungenermaßen dort lebt. Ein letzter entscheidender Faktor für ortsbezogene Zugehörigkeiten sind soziale Kontakte und Netzwerke. ‚Heimaten‘ und Zugehörigkeiten können auch personengebunden empfunden und formuliert werden (personales Heimatkonzept nach Mecheril). Die empirische Analyse (vgl. Kapitel 6.2.1) belegt, dass in der Tat soziale Kontakte einen entscheidenden Einfluss auf Wohnstandortentscheidungen und lokale Ortsbindungen ausüben (vgl. Reuber 1993, 129). Während dabei einerseits stimmige soziale Kontakte das Wohlfühlen an einem spezifischen Ort stärken und unterstützen können, können andererseits über translokale soziale Netzwerke auch translokale Zugehörigkeitsgefühle ermöglicht werden. Um im zweiten Teil dieser Arbeit herausarbeiten zu können, wie diese unterschiedlichen Formen von Zugehörigkeit von meinen Interviewpartner/-innen erlebt und bewertet werden, und dabei zu fragen, inwieweit diese biographisch-habituell begründeten Ansprüche auf Zugehörigkeit durch Raumdiskurse und Raumsemantiken beeinflusst, durchkreuzt oder unterstützt werden, ist im folgenden Kapitel zunächst das deutsche Islambild im Überblick darzustellen und auf seine Raumrelevanz hin zu durchleuchten.
70 Mecheril spricht von einem „rationalen Heimatkonzept“ das Beheimatung dort ermöglicht, wo eine Person mit geltenden Normen und Regeln übereinstimmt. Dies ist jedoch aus einer Bourdieu’schen Perspektive in zweierlei Hinsicht zu kurz gegriffen: Erstens wird übersehen, dass das Gefühl „am richtigen Ort zu sein“ oft gerade nicht rational-reflexiv begründet wird, sondern unbewusst, durch ein Gefühl der Passung und den vergleichsweise reibungslosen Ablauf sozialer Praktiken entsteht. Zweitens bedeutet die Beschränkung auf Normen und Regeln eine analytische Engführung gegenüber dem aussagekräftigeren Konzept des Habitus.
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Kulturelle Grenzziehungen:: Das deutsche Islambild
Das deutsche Islambild
„The English are racist not because they hate the Blacks but because they donތt know who they are without the Blacks. They have to know who they are not in order to know who they are.“ (HALL 1989, 16)
Anhand der bisher vorliegenden Forschungsbeiträge zeichnet dieses Kapitel die in Deutschland vorherrschenden Darstellungen und Vorstellungen über ‚den Islam‘ und ‚die Muslime‘1 nach. Eine Vielzahl der hierzu vorliegenden Arbeiten befasst sich speziell mit dem Islambild in den Medien. Begründet wird dieser Forschungsfokus damit, dass die meisten Deutschen sehr wenig direkten, persönlichen Kontakt zu Muslimen pflegen und daher ihr Wissen über Muslime und den Islam zumeist aus den Massenmedien beziehen (Hafez und Richter 2007b, 40). Andererseits rezipieren auch die Muslime in Deutschland selbst diverse Medien sowie die darin verbreiteten Themen und Images, die somit auch für die Konstruktion ihres Selbstbildes relevant werden. Erst in den letzten Jahren sind auch Informationen zu den Vorstellungen ‚der Deutschen‘ über den Islam und ihre Haltungen zu Muslimen erhoben worden. Da davon auszugehen ist, dass auch diese Auffassungen und Meinungen meinen Interviewpartner/-innen in ihrem Alltagsleben begegnen, sollen die Erkenntnisse aus Medien- und Meinungsforschung zusammengenommen als eine Art ‚Vergleichsfolie‘ für den empirischen Teil dieser Arbeit genutzt werden. Aufbauend auf den hier gewonnenen Einblicken kann ich in Kap. 6.5 der Frage nachgehen, inwiefern meine Interviewpartner/-innen mediale und alltägliche Islambilder ähnlich oder anders wahrnehmen als die Wissenschaftler/-innen. Im Anschluss daran kann ich diskutieren, ob und welche der genannten Charakteristika deutscher Islamdarstellungen für sie in besonderer Weise alltags- und identitätsrelevant werden.
1
Abweichend vom Rest der Monographie übernehme ich in diesem Kapitel zum Zweck der Einheitlichkeit und der besseren Lesbarkeit die in den zitierten Quellen am häufigsten genutzte Form des generalisierenden maskulinen Plurals („Muslime“), der hier genderübergreifend zu verstehen ist, solange es nicht anders gekennzeichnet ist.
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Angesichts der inzwischen erreichten, hohen Breite und Fülle inter- und multidisziplinärer Beiträge zur Islambildforschung (vgl. Karis 2011 zum Medienbild) ist ein vollständiger und umfassender Überblick an dieser Stelle nicht zu leisten.2 Stattdessen wird es darum gehen, die Entstehung und Wandlung dieses Forschungsfeldes in Deutschland kurz zu skizzieren, um anschließend erst für den Bereich der Medien, dann für die Öffentlichkeit (Demoskopie) zentrale Forschungsergebnisse zusammenzufassen. Im Anschluss werde ich auf die aktuellen Debatten zum Thema „Islambild und Integration“ eingehen. Diese werden besonders hinsichtlich der darin sehr deutlich zutage tretenden kulturalisierenden und territorialisierenden Dimension des deutschen Islambildes zu diskutieren sein.
3.1. D AS
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– S TAND DER F ORSCHUNG
Auch wenn er nicht der erste war, der sich kritisch mit dem westlichen Orient- und Islambild auseinandersetzte (vgl. Attia 2009, 53ff.), so kann Edward Saids Werk „Orientalism“ (1978) dennoch als Initialzündung für die bis heute andauernde weltweite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bild des Islams in Medien und Öffentlichkeit gelten. In Deutschland wurden seine Interventionen zunächst nur im innerdisziplinären islamwissenschaftlichen Kontext rezipiert. Erst im Anschluss an den zweiten Golfkrieg 1991 rückten mediale Islamdarstellungen verstärkt in den Fokus der deutschen Sozial- und Kultur- und Kommunikationwissenschaften.3 Als erster Krieg mit westlicher Beteiligung nach Ende des Ost-West-Konfliktes, „in dem kulturell und religiös gestützte Ideologien eine wichtige Rolle spielten“ (Hafez 2002a, 26), wurde der Golfkrieg als symptomatisch für einen geopolitischen Epochenwechsel wahrgenommen: Das bisherige „Feindbild Kommunismus“ schien durch ein neues „Feindbild Islam“ abgelöst worden zu sein (vgl. u.a. Bernard et al. 1994; Kuske 1994; Mowlana 2000). In der hierdurch eingeläuteten ersten Phase einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem deutschen Islambild wurden zumeist sozialpsychologische Ansätze aus dem Repertoire der Stereotypen- und Feindbildforschung verfolgt. Entsprechende Beiträge waren sowohl in der Soziopsychologie (Kempf 1994), der Politikwissenschaft (Hippler und Lueg 1993) als auch in der Islam- (Klemm und Hörner 1993) und Religionswissenschaft (Medienprojekt Tübinger Religionswissenschaft 1994) verortet. Thematisch beschäftigten sich erste Untersuchungen unter anderem mit der Kriegsberichterstattung im zweiten Golfkrieg und dem darin re-produzierten Islambild (vgl. u.a. Kempf 1994; Gerhard und Link 19934). Andere Beiträge zielten auf eine Abgrenzung der islamwissenschaftlichen Erkenntnisse von dem in den Reportagen und Publikationen des selbsternannten Islamexperten Peter Scholl-Latour generierten Bild des Islams (Klemm und Hörner 1993). Zu ersten Überblicksbeiträgen über die historische Entwicklung und Genealogie des deutschen (bzw. europäischen)
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Ausführliche Bibliographie in Steeger-Strobel (2004), aktueller Überblick in Karis (2011). Zu der damit einher- bzw. vorausgehenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Neuausrichtung und interdisziplinären Öffnung der Islamwissenschaft vgl. Hafez (2002a, 27f.). Gerhard und Link (1993) lieferten einen ersten diskursanalytischen Zugang zum Islambild.
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Orient- und Islambildes (Kuske 1994) traten Artikel, die aus stärker feministischer und anti-rassistischer Perspektive die Mediendarstellungen von (nicht nur, aber auch) muslimischen Migranten und Migrantinnen in Deutschland in den Blick nahmen (Amanuel 1996; Huhnke 1996; Toker 1996, vgl. allg. Beiträge in Butterwegge et al. 1999). In diesem Kontext attestierte beispielsweise Iman Attia den deutschen Medien bereits 1994 eine Tendenz zum „antimuslimischen Rassismus“ (Attia 1994).5 Die meisten dieser ersten Forschungsbeiträge zum deutschen Islambild boten jedoch nur eine sehr schwache empirische Fundierung. Häufig wurde mit einer „hochselektiven Quellenbasis“ gearbeitet (Hafez 2002a, 19). Dies änderte sich ab 1998, als mit den Qualifikationsarbeiten von Detlef Thofern (1998), Kai Hafez (2002a, b) sowie Sabine Schiffer (2004) deutlich detailliertere und theoretisch wie methodologisch stärker fundierte Analysen des Islambildes in deutschen Printmedien vorgelegt wurden (vgl. Kap. 3.1.1). Anders als es die Publikationsdaten suggerieren, bezogen sich jedoch alle drei Autoren in ihren Analysen auf einen Pressekorpus, der ganz (Hafez und Thofern) oder hauptsächlich (Schiffer) vor dem Stichdatum des 11. September 2001 lag. Die an diesem Tag erfolgten Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon haben – gemeinsam mit weiteren islamistisch begründeten Gewalttaten (u.a. Madrid 2003, Theo van Gogh 2004, London 2005) – zur verstärkten Thematisierung von ‚Islam‘ und ‚Muslimen‘ in deutschen (und internationalen) Medien beigetragen (Leibold 2009, 145). Insofern ist wenig erstaunlich, dass diese Medienaufmerksamkeit auch in der Wissenschaft ihren Nachhall gefunden hat. Seit Mitte der 2000er Jahre kann daher eine dritte Phase der Forschung zum deutschen Islambild abgegrenzt werden. Thematisch-konzeptionell bauen viele der seitdem publizierten Forschungsbeiträge auf den o.g. früheren Arbeiten auf. So untersuchen z.B. Farrokhzad (2002, 2006) und Paulus (2007, 2008) erneut Mediendarstellungen muslimischer Frauen; dies erfolgt nun allerdings aus einer stärker diskursanalytisch ausgerichteten Perspektive.6 Andere empirische Studien konzentrieren sich auf die Analyse bestimmter „diskursiver Ereignisse7“. Ausführlichere empirische Untersuchungen jedoch finden sich fast nur in Studienabschlussarbeiten (Brema 2010; Imran 2004; Namin 2009; Röder 2007; Wellgraf 2008). Eine inhaltsanalytisch angelegte Dissertation (Wöhlert 2007) beleuchtet erstmals die Darstellung „muslimischer und arabischer Akteure“ in USamerikanischen und deutschen Zeitungen, beschränkt sich dabei zeitlich jedoch auf ein sehr schmales Zeitfenster um den 11. September 2001.
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Vgl. die von Micksch (2009) unter diesem Titel herausgegebene Essay-Sammlung. Zum Forschungsstand zu Migrantinnen in den Medien vgl. Lünenborg und Bach (2009). In Anlehnung an Spielhaus (2011, 63ff.) sollen mit diesem Begriff Ereignisse bezeichnet werden, die „Auslöser für größere Debatten und Medienaufmerksamkeit“ sind. Für ein Beispiel dafür, wie im Rahmen solcher „diskursiven Ereignisse“ hegemoniale Diskurse reartikuliert werden, vgl. Cohen und Muhamad-Brandner (2012) zur Diskussion über die Berliner Rütli-Schule 2006. Vgl. auch Jäger (2009) und Piasecki (2008) zum Karikaturenstreit sowie Reuber und Strüver (2009) zum 11. September aus geogr. Perspektive.
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Auch die historische Perspektive auf das deutsche Islambild wird in der aktuellen dritten Forschungsphase aufgegriffen. Zu nennen sind hier insbesondere die Überblicksdarstellung aus postkolonialer Perspektive von Attia (2009) sowie die Beiträge von Höfert (2009), Lange (2009), Naumann (2009) und Tafazoli (2009) in dem von Schneiders (2009) herausgegebenen Sammelband zur „Islamfeindlichkeit“ (der trotz unterschiedlich fundierter Beiträge einen guten Überblick über aktuelle Erkenntnisse und Debatten zum deutschen Islambild bietet). Aufgegriffen wurde zuletzt auch der bei Schiffer (2004) angelegte und sehr kontrovers diskutierte Versuch, die rhetorischen Stilmittel, die das aktuelle Islambild kennzeichnen, mit denjenigen zu vergleichen, die zuvor bereits den deutschen Antisemitismus prägten (vgl. Benz 2009; Schiffer und Wagner 2009). In Bezug auf die untersuchten Medien hat sich inzwischen das Spektrum ausgeweitet: neben den dominant vorliegenden Printmedienanalysen (i.d.R. Tageszeitungen und wöchentliche Magazine) wurden inzwischen mehrere Untersuchungen zu Darstellungen von Islam und Muslimen in Fernsehsendungen und TV-Nachrichten durchgeführt (vgl. u.a. Hafez und Richter 2007b und Schenk 2009).8 Auch IslamDarstellungen im Internet rückten zuletzt in den Blick. Die Beschäftigung mit Blogs und Online-Foren (Web 2.0) als „teilöffentliche“ mediale Formate ermöglichte Einblicke in ein sehr spezielles Feld der (Islam-)Diskursgenese (vgl. Schiffer 2009 und Gerhold 2009). Erst seit wenigen Jahren liegen auch quantitative Daten zum Islambild in der deutschen Bevölkerung vor (vgl. u.a. Leibold und Kühnel 2006; Hard 1987; Köcher 15.12.2004; Noelle und Petersen 17.05.2006; Decker et al. 2010 sowie Pollack 2010; Friedrichs 2011; Yendell und Friedrichs 2012).9 Obwohl sich das deutsche Islambild Ende der 2000er Jahre somit als Boomthema und „etablierter Wissenschaftstopos“ präsentiert (Hafez 2009, 99) – ergibt sich aufgrund der Vielzahl disziplinärer Perspektiven und des weiterhin meist nur begrenzten empirischen Materials aus den genannten Forschungsbeiträgen kein eindeutiges oder ganzheitliches „Bild des deutschen Islambildes“. Was sich allerdings aus den Beiträgen rekonstruieren lässt, ist ein gewisser Kanon an Themen und Konnotationen, die für die Islamdarstellung in deutschen Medien (und der deutschen Bevölkerung) kennzeichnend sind. Dies soll im Anschluss erfolgen, um hierauf aufbauend in der empirischen Analyse die Aussagen meiner Interviewpartner/-innen danach befragen zu können, welche dieser Aspekte für sie in welcher Art und Weise alltags- und identitätsrelevant werden. Für dieses spezifische Anliegen wird es genügen nachzuzeichnen, wann, wie oft, in welchen Kontexten und mit welchen Assoziationen und Konnotationen in deutschen Medien auf den Begriff des ‚Islam‘ bzw. die Kategorie der ‚Muslime‘ zurückgegriffen wird. Was für die hier vorliegende Forschungsfrage als letztlich irrelevant ausgeklammert bleiben kann, ist die aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive vehement diskutierte Frage, ob in den deutschen Medien ein
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Für eine erste Analyse von TV-Beiträgen zum Thema Islam vgl. Kuske (1994, 276f.), zur Darstellung muslimischer Migrantinnen im Fernsehen vgl. Toker (1996), Ruhrmann et al. (2006) und Paulus (2008). Vgl. Gietz et al. (1994) für eine frühe Straßenumfrage zum Islambild.
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„postmodernes Feindbild“ (Kliche und Adam 1997) 10 oder eine „aufgeklärte Islamophobie“ (Hafez 2002b, 227) zu erkennen ist.11 3.1.1. Das Islambild in den Medien Bereits in der ersten umfassenden Inhaltsanalyse der Darstellung von Islam, Christentum und Judentum in der Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ im Zeitraum von 1950 bis 1989 resümiert Thofern (1998, 93): „Die Berichterstattung zum Islam konzentriert sich geographisch auf die ‚Krisengebiete‘ Naher Osten und Iran. Sie bezieht sich hinsichtlich der Sachgebiete am häufigsten von den drei Religionen auf Politik. Die Berichterstattung handelt, bezogen auf die Sachthemen, auffallend oft von Konflikten des Glaubens und der Lehre mit staatlichen Personen und Institutionen.“
In seiner Textanalyse konstatiert Thofern (1998, 136ff.), dass Muslime vor allem durch ihr abweichendes (d.h. fanatisches oder extremistisches) Verhalten sowie eine irrationale Hinwendung zu ihrer Religion charakterisiert werden. Vorherrschendes Motiv der Darstellung des Islams ist die Rückständigkeit der Religion (in ¾ der Artikel) sowie eine empfundenen Bedrohung durch den Islam, die in fast jedem zweiten Artikel auftaucht. Die von Thofern festgestellte Zunahme der Berichterstattung mit Bezug auf den Islam seit der iranischen Revolution 1978 wird auch von Hafez (2002a) in seiner umfassenden Untersuchung des „Nahost- und Islambildes der deutschen überregionalen Presse“ bestätigt. In der sowohl quantitativ als auch qualitativ angelegten Analyse der Auslandsberichterstattung von SZ, FAZ, Spiegel und Stern (1955-1895) bestätigt Hafez (2002a, 294f.), dass ein seitdem gewachsenes (jedoch im Gesamtumfang immer noch beschränktes) Interesse am ‚Islam‘ sich weniger auf die religiösen Aspekte, sondern stärker auf die politische Bedeutung der Religion, d.h. besonders auf das Phänomen des „politischen Islams“ fokussiert. Im Vergleich mit der Auslandsberichterstattung über andere Weltregionen kommt Hafez zu dem Schluss, dass das Außergewöhnliche der Nahost-Berichterstattung nicht der hohe Anteil von Berichten mit einer negativen Ereignisvalenz ist (eine überdurchschnittliche Repräsentanz von Gewalt und Konflikten betrifft auch andere Weltregionen). Die Besonderheit des Nahost- und Islambildes der deutschen Presse liegt vielmehr in der „extremen Negativbelastung eines zentralen Kulturmusters (wie des Islams)“ (Hafez 2002a, 296). Kennzeichnend für die Islamdarstellungen ist eine Gleichsetzung von Fundamentalismus und Islam12 bzw. eine Assoziationskette von Islam über politischen Islam und Fundamentalismus hin zu Gewaltphänomenen.
10 Vgl. Karis (2011) Kritik des Feindbildbegriffes, die besonders hinsichtlich essayistischer Beiträge zur Islambilddebatte (z.B. Hoffmann 2000 und Sokolowsky 2009) berechtigt ist. In dem o.g. Artikel scheint er jedoch z.B. Amir-Moazamis (2007) nuancierte Diskursanalyse zur Kopftuchdebatte ebenso zu übersehen wie ihre Kritik am „Feindbildbegriff“. 11 Dies gilt auch für die medienwissenschaftliche Frage nach der „Qualität“ islambezogener Berichterstattung (vgl. Imran 2004). 12 Vgl. hierzu auch die explorative Diskursanalyse von Kliche und Adam (1997) Kap. 3.2.
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Darüber hinaus konstatiert Hafez (2002a, 302) ein politisierendes SpiegelbildDenken: „Während der Islam als Religion […] kaum thematisiert wird“, wird er in vielen Fällen als ein „den Normen und Leitvorstellungen der westlichen politischen Kultur“ unterlegenes „politisch-kulturelles Gegenkonzept“ dargestellt. Die derart charakterisierte, tendenziell negativ konnotierte Berichterstattung über den Islam ist jedoch weder absolut, noch zeitlich konstant. So betont Thofern (1998, 138) die Ambivalenz expliziter Bewertungen in der Berichterstattung, die teilweise auch „Sichtweisen und Entwicklungen des Islams als nachvollziehbar hinstellt und Verständnis für diese Aspekte aufbringt“. Hafez verweist auf die Komplexität der aus verschiedenen Bildern und Diskurssträngen bestehenden Beiträge mit Islambezug. Darüber hinaus unterliegen die Islamdarstellungen u.a. im Zusammenhang mit weltpolitischen Ereignissen auch „konjunkturellen Schwankungen“, wobei „Thematisierung und Nicht-Thematisierung oder die Vielfalt und Einheit der [genutzten] Frames […] das Resultat von Themen- und Framing-Konkurrenzkämpfen“ sind (Hafez 2002a, 303). Solche Schwankungen in der Presseberichterstattung über Islam und Muslime werden auch in den (bislang wenigen) systematischen Medienanalysen von Quellen nach 2001 sichtbar. So zeigen sowohl Wöhlert (2007, 89f.) als auch Imran (2004)13 und Brema (2010)14, dass zentrale Diskursereignisse15 (hier: Anschläge vom 11. September 2001, Attentate in Madrid und London) die Anzahl der publizierten Artikel zum Thema Islam und Muslime jeweils sprunghaft ansteigen lassen.16 Unmittelbar nach den Ereignissen nimmt nicht nur die absolute Anzahl, sondern auch der Anteil an Artikeln mit negativer Ereignisvalenz zu (allerdings konstatiert Brema (2010) für den Zeitraum von 1998 bis 2008 insgesamt einen gleichbleibenden Anteil negativ konnotierter Berichterstattung). Was die Inhalte und Terminologie der Mediendarstellungen angeht, so lassen sich ebenfalls Veränderungen erkennen: Nachdem bereits Thofern nach 1978 eine Verschiebung der Charakterisierung muslimischer Akteure von „streng gläubig“ hin zu „extremistisch“ feststellen konnte, zeigt Imran (2004), dass nach den Anschlägen im Jahr 2001 Muslime nicht nur häufiger typisiert werden, sondern sich auch die Begrifflichkeiten noch einmal verschieben: Im September 2001 wurden Muslime zumeist nicht nur als islamistisch, sondern auch als fundamentalistisch, radikal, extremistisch und kriegerisch beschrieben (Imran 2004, 110). Die nach den Anschlägen
13 Basis: Artikel aus FAZ, SZ, Welt, FR 1.1.-20.9.2001, (16 Ausgaben vor, 8 nach 11.9.) 14 Basis: Artikel aus „Der Spiegel“ 1998-2008 (jeweils 8. Ausgabe) 15 Bezeichnet werden hiermit für das deutsche Islambild relevante Ereignisse sowie die sich hieraus entwickelnden und teilweise weit über das Einzelereignis hinausgehenden medialen und öffentlichen Debatten. Damit soll jedoch weder ein „Diskurs über ein Ereignis” (Spielhaus 2011, 64) gemeint sein, noch gehe ich davon aus, dass solche Ereignisse „die Richtung und die Qualität des Diskursstranges, zu dem sie gehören, grundlegend beeinflussen“ (Jäger und Zimmermann 2010, 16f., vgl. Friedrich 2011b, 10). 16 Brema konstatiert einen langfristigen „peak“ von 2001-2006 und eine Abnahme der Intensität der Berichterstattung im Jahr 2008. Eine neuere Auswertung liegt hierzu noch nicht vor. Anzunehmen ist jedoch, dass die „Sarrazindebatte“ (vgl. Kap. 3.2) 2010 einen erneuten „peak“ verursachte.
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von 2001 deutlich häufiger auftretende Koppelung des Themas „Terrorismus“ mit dem Begriff des Islams konnte sich langfristig als neuer Topos des medialen Islambildes etablieren (vgl. Imran 2004, 115f.; Wöhlert 2007, 105f.). Abbildung 3: Thematisierung ‚Islam‘ in ARD und ZDF (2005/06)
Quelle: Eigene Abbildung nach Hafez und Richter 2007b, 41
Dieser neue Topos17 bestätigte sich auch in einer Analyse der Islamdarstellungen in ARD und ZDF. Fast ein Viertel der analysierten Sendungen (7/2005-12/2006) befassten sich mit dem Thema ‚Terrorismus und Extremismus‘ (Hafez und Richter 2007a, 2007b). Es dominierten erneut konfliktbezogene Themen, während alltagsoder religionsbezogene Fragen nur in jeder fünften analysierten Sendung diskutiert wurden (vgl. Abb. 3 oben). Neu bzw. verschoben präsentiert sich der räumliche Fokus der problematisierenden Darstellungen. Wurde der ‚Islam‘ zuvor primär in Bezug auf außenpolitische Themen verhandelt, so tauchen nun innenpolitische „Integrationsprobleme“ als neuer Verhandlungskontext des Islambildes auf.18 Darüber hinaus setzten sich die Sendungen 2006 zunehmend mit einer befürchteten „internen“ Bedrohung durch muslimische Extremisten auseinander (Hafez zitiert typische Sendungstitel wie „Hassprediger in Deutschland“, „Terroristen als Nachbarn“ und „Nachwuchs für die Parallelgesellschaft“). Eine solche räumliche Refokussierung ist angesichts der zahlreichen Diskursereignisse im Jahr 2006 wenig erstaunlich (vgl. Tab. 5 im Anhang: Debatte um den Einbürgerungstest für Muslime im Januar, Karikaturenstreit im Februar,
17 Kuske (1994) postuliert zwar, der muslimische Terrorismus sei bereits seit Ende der 70er (bes. im Kontext der RAF-Berichterstattung) in der deutschen Inlandsberichterstattung präsent gewesen. Ein Beleg oder empirischen Nachweis dieser These fehlt jedoch. 18 In Medien und Politik lässt sich die Verknüpfung von religionsbezogenen Themen und Zuwanderung bereits Mitte der 90er nachweisen, vgl. u.a. Spiegel 46/1997, 72f., SpiegelSpecial-Liebe 5/1995, 51ff. bzw. Amanuel (1996) zur Darstellungen von Musliminnen in der Zeitschrift Brigitte Anfang der 1990er Jahre. Allerdings zeigen alle durchgeführten Medienanalysen einen deutlichen Anstieg der Artikel und Darstellungen zu diesem Thema nach 2000/2001.
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Festnahme der deutschen „Kofferbomber“ im August, Islamkonferenz, Regensburger Papstrede sowie die Absetzung der Oper Idomeno im September 2006). Angesichts dieser Debatten, in denen zwei zentrale Themenstränge des Islamdiskurses gekoppelt werden (das ‚alte‘ Thema Fundamentalismus und Gewalt und das ‚neue‘ Thema Integration von Muslimen in Deutschland) rückte im Jahr 2005/2006 der dritte Themenstrang der Islamdarstellungen in den Medien – die Diskussion über Frauenrechte und Geschlechterrollen im Islam – etwas in den Hintergrund (vgl. Abb. 3). Dieser Themenstrang hatte sich bereits in den 70er Jahren etablieren können, als zum ersten Mal argumentiert wurde, dass „die türkische Kultur vornehmlich durch den Islam geprägt sei und dieser wiederum den Frauen eine niedrigere Stellung als dem Mann einräumt, [weshalb] Mädchen und Frauen in türkischen Familien unterdrückt“ werden (Çelik 2006, 72 unter Verweis auf Schiffauer 1983, 82ff.). Anfang der 90er Jahre hatte sich der Topos der „unterwürfige[n], mißhandelte[n] muslimische[n] Frau“ (Huhnke 1996, 131) in Wissenschaft wie Medien bereits etabliert. Eine größere Sichtbarkeit gewann er allerdings erst nach der Jahrtausendwende,19 wobei besonders die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchstreit im Fall Ludin (Sept. 2003)20 sowie die „Ehrenmord“-Debatte nach der Ermordung von Hatun Sürücü (Feb. 2005) dazu beitrugen, dass dieser Themenkomplex zu einem zentralen Topos im Rahmen des deutschen Islambildes wurde (Farrokhzad 2002, 80). Die entsprechenden Darstellungen sind jedoch nicht einheitlich oder monolithisch. So kann Röder (2007) in ihrer Analyse der Spiegel-Berichterstattung zeigen, dass muslimische Frauen nicht nur in der Opferrolle, sondern ebenso in der Rolle der „modernen“ Frau, der politischen Akteurin oder (seltener) als Extremistin oder „Orientalin“ dargestellt und diskutiert werden. Ebenso kommt Amir-Moazami (2007, 115) zu dem Schluss, dass zwar „auch im deutschen Diskurs eine Polarität zwischen ‚westlich-emanzipierter‘ und ‚muslimisch-unterdrückter‘ Frau gezeichnet wurde“, die entsprechenden Kommentare jedoch deutlich zurückhaltender seien als in den vergleichbaren französischen Debatten. Das Kopftuch allerdings (das heute unter Ausblendung aller anderen Verwendungszusammenhänge und Kleidungstraditionen fast exklusiv als muslimisch konnotiertes Symbol Verwendung findet) fungiert auch in Deutschland als „Verdichtungssymbol“ (Schiffer 2005, 25). Das bedeutet, dass dem Kopftuch als Symbol für den politischen Islam/Islamismus nicht nur ein „politischer Charakter“ zugewiesen wird (vgl. Kasten), sondern es gleichzeitig auch als Zeichen einer „differenten ‚Kultur‘“ bzw. einer „‚kulturellen‘ Segregation“ interpretiert wird (Amir-Moazami 2007, 115, 120ff.). Indem Kopftuchträgerinnen zur Illustration von Negativ-Berichterstattung im Kontext von Integrations- und Zuwanderungsdebatten eingesetzt werden, werden sie „zur Verkörperung der Idee einer hermetisch abgeschlossenen ‚Parallelgesellschaft‘ von in Deutschland lebenden Einwanderern und Einwanderinnen stilisiert“ (Hentges 2006, 106). Somit kulminieren in dem Kopftuch als Verdichtungssymbol letztlich alle drei Stränge der deutschen Mediendarstellungen zum Islam: Bedrohung/Extre-
19 Vgl. Röder (2007), empirische Basis: Artikel zu Musliminnen im Spiegel 1975-2005. 20 Der Lehrerin Ludin war im Juli 1998 vom Stuttgarter Oberschulamt untersagt worden, ihr Kopftuch beim Unterricht an einer öffentlichen Schule zu tragen (vgl. ausführlicher zu diesem Fall Amir-Moazami 2007, 103-106).
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mismus, Rückständigkeit und Unterdrückung der Frau sowie kulturelle Differenz/ Integrationsverweigerung. Das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen als „Kopftuchexperte“ In dem folgenden, der Homepage im Februar 2010 entnommenen Statement des Landesamtes spiegelt sich nicht nur exemplarisch die den dominierenden deutschen Diskurs kennzeichnende politische Rahmung des muslimischen Kopftuches. Es zeigt auch eine für die Kopftuchdebatte (1998-2003) symptomatische Haltung, die vermeint, „die ‚versteckten‘ Botschaften des Kopftuches im Grunde besser zu kennen als bedeckte Frauen selbst“ (Amir-Moazami 2007, 116): „Das Kopftuch als politisches Symbol: Ein zentrales Anliegen islamistischer Organisationen ist es, das Tragen des Kopftuchs auch in Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu ermöglichen. Das Kopftuch im Islam: Im Koran selbst findet sich keine explizite Vorschrift zum Kopftuch. […] Gleichwohl argumentieren Islamisten wie auch viele konservative islamische Gelehrte, dass muslimische Frauen verpflichtet seien, ihr Haar vor Fremden zu verhüllen. Das Tragen eines Kopftuches kann prinzipiell mehrere Bedeutungen haben. Viele Frauen in muslimischen Ländern behalten damit nur eine traditionelle Kleidungsweise bei; andere beugen sich damit dem sozialen Druck ihres Umfelds. Zunehmend dient das Kopftuch aber auch der Abgrenzung von Nichtmuslimen und vermeintlich verwestlichten, dekadenten Musliminnen. Gerade in westlichen Ländern wird durch das Kopftuch häufig eine bewusste Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck gebracht. Das Kopftuch als „Fahne“ der Islamisten: Für Islamisten ist das Kopftuch […] ein demonstrativer und zentraler Ausdruck ihrer politischen Überzeugung […]. Das Kopftuch kann somit für Islamisten ein offensiv eingesetztes Agitationsinstrument zur Verbreitung ihrer Ideologie sein.“ (www.verfassungsschutz.hessen.de/Islamismus > Islamistische Organisationen > IGMG > Kopftuch, Abruf: 12.2.2010 (heute gelöscht) Hervorhebungen: MD
Folgendes kann also für die Darstellung von Islam und Muslimen in deutschen Medien festgehalten werden: Kennzeichnend für die Darstellungen ist neben den negativen Konnotationen eine auch im internationalen Vergleich auffällige Betonung kultureller Differenz. Dies bedeutet, dass in der Außenberichterstattung z.B. Repressionen durch autoritäre Regime, die von der Politikwissenschaft vielfach als Mit-/Hauptursache politischer Gewalt angesehen werden, häufig ausgeblendet und Gewalt stattdessen rein religiös erklärt wird (Hafez und Richter 2007a, 45). In der innenpolitischen Berichterstattung hat eine „Islamisierung“ von Migrations- und Integrationsdebatten stattgefunden: „[D]er arabische oder türkische Muslim hat den südeuropäischen ‚Gastarbeiter‘ und den schwarzen Asylbewerber als dominantes Ausländerstereotyp ab[gelöst]“ (Butterwegge 31.10.2007). In Bezug auf die tendenziell eher aus medienwissenschaftlicher Perspektive interessierende Frage, welche Einflussfaktoren die Islamdarstellungen in Presse, Funk
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und Fernsehen bestimmen,21 divergieren die Auffassungen der Autoren z.T. deutlich. Einig sind jedoch fast alle hinsichtlich der im journalistischen Feld wirksamen Mechanismen: Über die (notwendige) Selektion von Themen und Erklärungszusammenhängen werden erstens bestimmte Themen, Begriffe bzw. Zusammenhänge in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, während andere Aspekte ausgeblendet bleiben (Schiffer 2005, 24f.). Zweitens bedeutet das im Medienbetrieb vorherrschende Prinzip des „fast thinking“ (Wellgraf 2008, 132), dass neue Ereignisse oder mit diesen in Zusammenhang stehende Personen sehr schnell in bereits zuvor etablierte „frames“ (d.h. Rahmen der Interpretation und Deutung) ‚einsortiert‘ werden. Dies führt dazu, dass einmal etablierte Kollokationen und thematische Rahmungen in folgenden Kontexten häufig aufgegriffen und mit den neuen, zu erklärenden Ereignissen verknüpft werden. So zeigen z.B. Cohen und Muhamad-Brandner (2012) am Beispiel der Rütli-Schule, wie bestimmte Anliegen der Lehrer in der medialen Diskussion selektiv aufgenommen und u.a. auf die „bekannte“ Problemgruppe arabischer/türkischer/muslimischer junger Männer refokussiert wurden.22 Gemäß der in der Medienwissenschaft etablierten „Agenda-Setting-Theorie“ ist dann drittens davon auszugehen, dass diese „Frames“ nicht nur den Medienschaffenden helfen, neue Ereignisse schneller zu interpretieren und zu Nachrichten zu verarbeiten. Auch die Medienrezipienten werden hierdurch beeinflusst. Denn selbst wenn die Medien nicht vorgeben können, was eine Person denkt, oder wie sie eine bestimmte Information bewertet, so haben die Nachrichtenmedien einen weitreichenden Einfluss darüber, worüber eine Person nachdenkt (s.o. Selektionsfunktion der Nachrichtenmedien). Ob und inwieweit die oben vorgestellten, im Umfang stark angestiegenen und inhaltlich negativ konnotierten Medienberichte zu Islam und Muslimen gemäß der Agenda-Setting-Theorie auch in der deutschen Bevölkerung zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Islambild geführt haben, wird im folgenden Kapitel untersucht. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit nicht nur in den Medien, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit ein „von Angst und Unbehagen geprägtes [Islam-]Bild“ vorherrscht (Hafez und Richter 2007b, 44). Dies ist insofern von Bedeutung, als da-
21 Die interessantesten Ansätze bieten hier Hafez (2009) und Wellgraf (2008, 132). Hafez unterscheidet aus systemtheoretischer Perspektive zwischen Einflüssen auf Makroebene (Systemumwelt, z.B. Elitenmeinungen und Umweltsysteme, z.B. politisches Wirtschaftssystem), Mesoebene (der Medienorganisation, Informationsprozesse etc.) sowie Mikroebene (Journalisten als individuell und beruflich sozialisierte Individuen). Wellgraf plädiert dafür, Medienprodukte mit Foucault als Re-Produktionen von Diskursen zu untersuchen (denen sowohl die Journalisten als auch ihre Aussagen unterliegen), die den spezifischen „Spielregeln“ des journalistischen Feldes (Bourdieu) unterworfen sind (die sich z.B. in öffentlichen und privaten Medien durch unterschiedliche Einflüsse aus dem politischen und wirtschaftlichen Feld unterscheiden) und die drittens und letztens durch unterschiedliche technologische Möglichkeiten und Beschränkungen geprägt werden (weshalb sich, wie bei Wellgraf gezeigt, Darstellungen von muslimischen Migranten in Funk, Fernsehen und Printmedien im Detail durchaus unterscheiden). 22 Zur visuellen Umsetzung der in diesem Kontext erfolgenden Ko-Konstitution von Ethnizität und Geschlecht vgl. Lünenborg (2011, 103) am Beispiel der Bild-Zeitung.
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von auszugehen ist, dass sich eine solche negative und misstrauische Grundhaltung Muslimen gegenüber auch in den Interaktionen mit den von mir befragten DeutschMarokkaner/-innen ausprägen wird (vgl. hierzu Kapt. 6.5.3). 3.1.2. Das Islambild in der Bevölkerung Die im Folgenden vorgestellten Informationen über Einstellungen in der deutschen Bevölkerung zum Thema Islam und Muslime stammen unter anderem aus den vom Institut für Demoskopie Allensbach (IfDA) durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsumfragen.23 Auch die Langzeituntersuchung der Universität Bielefeld zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (GMF) berücksichtigt seit 2003 mehrere Items zu Islam/Muslimen (zuletzt: Heitmeyer 2012a).24 In einem Projekt der WWU Münster wurde zuletzt in Deutschland und vier weiteren europäischen Ländern die „Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt“ untersucht (Friedrichs 2011; Yendell und Friedrichs 2012).25 Ergänzende Daten liefert eine im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) durchgeführte Umfrage zu Christentum, Islam und Muslimen in Deutschland (Wilamowitz-Moellendorff 2003)26 sowie eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Auftrag gegebene Studie zu rechtsextremistischen Haltungen in der deutschen Bevölkerung (Decker et al. 2010).27 Das Polaritätsprofil, das vom IfDA anhand von 21 Items mit Bezug auf ‚den Islam‘ und ‚das Christentum‘ erhoben wurde (vgl. Abb. 4), liefert ein vergleichsweise differenziertes Bild von den in der deutschen Bevölkerung verbreiteten Assoziationen zum Islam. Die Erhebung zeigt, dass die Eigenschaften, die in besonderem Maße mit dem Christentum verbunden werden, d.h. Nächstenliebe, Wohltätigkeit, Achtung der Menschenrechte, Engagement für Benachteiligte sowie Friedfertigkeit, in besonders geringem Maße mit dem Islam assoziiert werden (2004 und 2006 im Schnitt unter 10% Zustimmung). Umgekehrt wurden die drei Items, die dem Christentum am seltensten zugeordnet wurden, besonders häufig dem Islam zugeschrieben. Dies betraf an erster Stelle „die Benachteiligung der Frau“, die 2006 von 91% der Befragten mit dem Islam, jedoch nur von 17% mit dem Christentum assoziiert wurden. Ebenso wurde „Fanatismus und Radikalität“ zu 83% dem Islam zugeordnet; „Gewaltbereitschaft“ sahen fast 2/3 der Befragten als typisch für den Islam an. Dies betrifft die beiden Religionen in ähnlicher Stärke zugeschriebene Opferbereitschaft, den missionarischen Eifer oder die Bereitschaft, auf materielle Dinge zu verzichten. Auch tiefe Frömmigkeit (als tendenziell neutrale bzw. je nach Kontext negativ od. positiv bewertete Eigenschaft) sahen 2006 60% der Befragten als Islamtypisch und 40% als Christentum-typisch an. Derartige Nuancen werden in der 2010 durchgeführten europaweiten Befragung der WWU Münster nicht mehr sichtbar, da
23 Fragen und Antworten können in Köcher (2009) nachgelesen werden, Köcher (15.12.2004); Noelle und Petersen (17.05.2006) liefern Interpretationen. 24 Befragung jeweils in der Jahresmitte; z.B. 2010: Mai/Juni, Stichprobe: 2000 Personen 25 Sommer 2010; Stichprobe NL, FR, PT, DK, D-West, D-Ost: jeweils mind. 1000 Personen; Daten nach Alter, Geschlecht und Bildungshintergrund gewichtet. 26 Dezember 2002, Stichprobe: 2000 Personen, Daten politisch gewichtet. 27 April 2010; Stichprobe: dt. Bev. 14-90 Jahre, West: 1.907 Personen, Ost: 504 Personen
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diese nur vier als eindeutig positiv und fünf als negativ bewertete Items abgefragt hatte (Friedrichs 2011, 204; vgl. Abb. 4 Drei- und Vierecke).28 Im Ergebnis bestätigt diese Umfrage, dass sich der von Noelle und Petersen (2006) beobachtete Negativtrend des Islambildes (auf einem allerdings hohen Niveau) stabilisiert hat. Abbildung 4: Vorstellungen von Christentum und Islam
Quelle: Eigene Abbildung; Daten: Friedrichs 2011 und Köcher 2009
Dass die in den hier zitierten quantitativen Surveys benutzen Fragen keineswegs neutrale Erhebungs- und Messinstrumente eines ‚so‘ vorliegenden Islambildes in der Bevölkerung sind, sondern als Mit-Konstrukteure dieses Bildes gelten müssen, zeigt
28 Gefragt wurde nach Gewaltbereitschaft, Friedfertigkeit, Achtung der Menschenrechte, Fanatismus, Toleranz und der Rolle der Frau, Rückwärtsgewandtheit, Engstirnigkeit, Solidarität.
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sich besonders dort, wo nach der kulturellen Dimension des deutschen Islambildes gefragt wird. Eine solche Perspektive findet sich u.a. in den GMF-Surveys, die zwei Fragen zur Messung potenzieller kultureller Distanz beinhalten. Dem ersten hierzu eingebrachten Statement, „Der Islam hat eine bewundernswerte Kultur hervorgebracht.“ stimmten 2003 noch 63% der Befragten zu (2005: 50%). Die zweite abgefragte Aussage, „Die muslimische Kultur passt durchaus in unsere westliche Welt.“ [Herv. MD], dagegen wurde 2003 von zwei Drittel der Befragten abgelehnt (2005: 74%, 2011: fast 60%; Leibold et al. 2006, 4; Leibold et al. 2012, 184). Scheint die erste Aussage, mit der die Wertschätzung ‚des Islams‘ erhoben werden soll, noch vergleichsweise unproblematisch gelagert, 29 so wird in der zweiten Aussage nicht nur ein Antagonismus zwischen „der muslimischen Kultur“ und „Uns/Wir“ artikuliert [Herv. MD]. Darüber hinaus wird das ‚Wir‘ auch ‚im Westen‘ verortet (wo „die muslimische Kultur“ nicht fraglos ihren Platz hat). Auch wenn die Befragten der Aussage zustimmen oder diese ablehnen können: die Dualität zwischen ‚muslimischer‘ und ‚westlicher‘ Welt wird so in jedem Fall reiteriert. Kritisch erscheint ein auf diese Weise rekonstruierter Dualismus besonders dann, wenn er durch eine Konflikthypothese ‚unterfüttert‘ wird. Ein solcher Fall lag bei den Umfragen des IfDA vor. Hier fragten die Forscher: „Was meinen Sie: können Christentum und Islam friedlich nebeneinander existieren, oder sind diese Religionen zu verschieden, wird es deshalb immer wieder zu schweren Konflikten kommen?“ „Was meinen Sie: können westliche und islamische Welt friedlich nebeneinander existieren, oder sind diese Kulturen zu verschieden, wird es deshalb immer wieder zu schweren Konflikten kommen?“
Bestätigten 2004 55% der Befragten die Konflikthypothese zu Islam/Christentum, waren es 2006 bereits 61%. Im gleichen Jahr stimmten auch 65% der Befragten der Prognose zu, dass es „in Zukunft zu Konflikten zwischen der westlichen und der arabisch-muslimischen Kultur [sic!]30 kommen werde“ (Noelle und Petersen 17.05.2006). In sehr deutlichem Anschluss an Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ – hier definiert als „ernster Konflikt zwischen Islam und Christentum“ – resümieren Noelle und Petersen:
29 Ersetzt man in dieser Frage ‚den Islam‘ durch ‚das Christentum‘, so wird sehr deutlich, dass auch in dieser Frage eine kulturell-religiöse Homogenität angenommen wird, die es angesichts der empirisch nachweisbaren Vielfalt „muslimischer“ Lebenswelten zu hinterfragen gilt. Leibold et al. (2006, 5) zeigt jedoch, dass die meisten Deutschen in Bezug auf ‚den Islam‘ tatsächlich eine sehr geringe „Differenzierungskompetenz“ haben, d.h. überwiegend die islamischen Glaubensrichtungen für sehr ähnlich halten bzw. diese persönlich kaum auseinanderhalten können. 30 Gefragt wurde nach „der islamischen Welt“. Wie jedoch aus dem Text ersichtlich, wird diese als arabisch geprägter „Kulturraum“ imaginiert (Muslime, die z. B. in Indonesien oder auf dem Balkan zu Hause sind, werden dagegen ignoriert; vgl. krit. Bauriedl 2007, 141).
88 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „[Zwar] versichern zwei Drittel der Befragten, die Gefahr gehe […] nur von einzelnen Radikalen aus, doch das Grundgefühl ist ein anderes. Am deutlichsten wird dies an der Frage: ‚Man hört ja manchmal den Begriff ,Kampf der Kulturen‘. Damit ist ein ernster Konflikt zwischen Islam und Christentum gemeint. Was meinen Sie: Haben wir zur Zeit einen solchen Kampf der Kulturen, oder würden Sie das nicht sagen?‘ […] Heute sagen 56 Prozent der Deutschen, die Gesellschaft stehe bereits jetzt in einer solchen Auseinandersetzung, nur noch 25 Prozent vertreten die Ansicht, das könne man nicht sagen. In den Köpfen der Bürger hat der ‚Kampf der Kulturen‘ bereits begonnen.“ (17.05.2006) [Hervorhebungen MD]
Inwieweit eine solche – wieder in die öffentliche Debatte eingespeiste Analyse – zur De-Konstruktion eines negativen Islambildes beiträgt, oder aber die Verbreitung und Stabilisierung der Idee eines „Kulturkampfes“ unterstützt, sollte zumindest kritisch hinterfragt werden. Auch darüber, ob die Einschätzungen heute ähnlich ausfallen würden oder nicht, kann nur spekuliert werden: Neuere Daten liegen nicht vor, und die 2006 vom IfDA erhobenen Meinungen und Aussagen standen im unmittelbaren zeitlichen Kontext des Streits um die dänischen Mohammed-Karikaturen. 31 Die im Sommer 2010 von der Universität Münster durchgeführte Erhebung interessierte sich ebenfalls für das Konfliktpotenzial multireligiöser Gesellschaften, formuliert ihre Fragen jedoch mit einem dezidierten Fokus auf mögliche ambivalente Haltungen zu dieser Thematik. So wurde sowohl nach einer Bereicherung als auch dem Konfliktpotenzial von a) „einer zunehmenden Vielfalt von religiösen Gruppen in unserer Gesellschaft“ und b) der „zunehmenden Anzahl der Muslime“ gefragt. Im Ergebnis zeigte sich, dass in allen Ländern (mit Ausnahme Deutschlands) „sowohl die zunehmende religiöse Pluralität als auch die steigende Anzahl der Muslime […] durchaus als Bereicherung betrachtet werden“ (Yendell und Friedrichs 2012, 279; vgl. Abb. 5 unten). Während in Portugal die Wertschätzung religiöser und muslimischer Pluralität dominiert, ist in Frankreich (mit einer signifikanten muslimischen Minderheit) zumindest eine Tendenz zur stärkeren Wertschätzung zu erkennen. Für Dänemark und die Niederlande ergibt sich ein ambivalenteres Bild. In Deutschland dagegen korrespondiert eine geringe Zustimmung zur Bereicherungshypothese mit der höchsten Zustimmung zur Konflikthypothese. Kommen Yendell und Friedrichs allerdings zu dem Schluss, die Bevölkerung Deutschlands sei „im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn […] weniger offen für kulturelle Vielfalt“ (2012, 280), so zeigt die im GMF-Survey offen gestellte Frage nach der Bereicherung durch „verschiedene kulturelle Gruppen“ [Herv. MD] eine deutlich höhere Zustimmungsrate (42% voll, 43% eher) als die oben genannte Frage nach der Bereicherung durch religiöse Gruppen. Die Abwehrmechanismen in Deutschland scheinen sich also weniger gegen Diversität allgemein, als gegen ganz bestimmte Minderheiten (d.h. u.a. die Ko-Kategorie Muslime/Ausländer s.u.) zu richten. Insgesamt wird ‚den Deutschen‘ eine ambivalente Haltung zu gesellschaftlicher
31 Dieser „Aktualitätseffekt“ wurde z.B. bei der Frage nach akut in Deutschland erwarteten „Spannungen mit der muslimischen Bevölkerung“ sichtbar: während im Oktober 2001 49% und 2002 39% derartige Spannungen erwarteten, waren es im Mai 2006 58% (Köcher 2009, 827).
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Diversität attestiert; Zick und Küpper (2012, 165f.) sprechen von einer Art „Pendeln zwischen Neugier und Angst“. Abbildung 5: Einstellungen zu Konfliktpotenzial und kultureller Bereicherung durch religiöse Pluralität
Quelle: Eigene Abbildung nach Yendell und Friedrichs 2012, 279
Auffällig in der Umfrage der WWU war, dass überall die persönliche Haltung zur religiösen Gruppe der Muslime negativer ausfiel als Atheisten, Buddhisten, Juden, Hinduisten oder Christen (in dieser Reihenfolge) gegenüber. Überwiegend negativ zu Muslimen positionierten sich jedoch erneut nur die Befragten in Deutschland (Yendell und Friedrichs 2012, 275). Insofern scheint nur folgerichtig, dass die deutschen Befragten auch deutlich seltener den Bau von Moscheen32 oder Minaretten befürworten. Auch wenn sich die Ergebnisse der unterschiedlichen Befragungen nur bedingt vergleichen lassen, so scheint die Ablehnung von muslimischer Religionspraxis in Deutschland innerhalb der letzten zehn Jahre zugenommen zu haben. So wünschten sich in der 2002 durchgeführten Umfrage der KAS zwar rund 2/3 der Befragten, Muslime sollten „bei ihrer Religionsausübung auf die deutsche Bevölkerung stärker Rücksicht nehmen“. Andererseits waren aber fast ebenso viele der Meinung: „Die in Deutschland lebenden Muslime sollten ihre Religion ohne Einschränkungen ausüben dürfen“. Der konträr formulierten These: „Deutschland ist ein christliches Land. Muslimische Gebräuche haben hier nichts zu suchen“ stimmten nur knapp 20% der Befragten zu, während 78% in Westdeutschland und 67% in Ostdeutschland widersprachen. Auch gegen eine Moschee in der eigenen Nachbarschaft hatten gut 60% der Befragten nichts einzuwenden („würde mich nicht stören“; WilamowitzMoellendorff 2003). Bei der Befragung des IfDA im Mai 2006 dagegen wurde deutlich, dass „selbst erhebliche Eingriffe in das Grundrecht der Religionsfreiheit […] von einem großen Teil der Bevölkerung befürwortet“ werden: So waren 40% damit einverstanden, dass man „die Ausübung des islamischen Glaubens in Deutschland stark einschränken“
32 West-D: 28%, Ost: 20%, DK 55%, FR 66%, NL 67%, PT 74% (Yendell und Friedrichs 2012, 275).
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sollte, „um zu verhindern, dass es zu viele radikale gewaltbereite Moslems in Deutschland gibt“.33 Bei der FES-Umfrage im April 2010 waren sogar insgesamt 58% der Befragten der Meinung, dass „für Muslime in Deutschland die Religionsausübung erheblich eingeschränkt werden [sollte]“ (West: 54%, Ost: 76%; Decker et al. 2010, 134).34 Diese Aussagen zeigen, dass ein negativ konnotiertes Islambild nicht im Bereich des Imaginären verbleibt, sondern in Form von Akzeptanz oder Ablehnung religiöser Praktiken ganz konkrete Auswirkungen auf die Alltagsgestaltung von Muslimen haben kann. Abbildung 6: Ablehnung von Muslimen und empfundene kulturelle Ferne
Quelle: Eigene Abbildung nach Leibold et al. 2012, 184
In den GMF-Surveys wurde darüber hinaus auch versucht, die „generelle Ablehnung von Muslimen“ zu ermitteln.35 Hierzu wurde nach der Zustimmung zu den beiden
33 Hier ist zu ergänzen, dass zu dieser Zeit 46% der Befragten einen islamistisch motivierten Terroranschlag in Deutschland erwarteten und 42% angaben, manchmal „direkt Angst zu haben“, ob unter den in Deutschland lebenden Muslimen „nicht auch viele Terroristen sind“ (Noelle und Petersen 2006). 34 Der Anteil der Befragten, die zustimmten „Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Araber unangenehm sind“, war von 2003 (44,2%) zu 2010 (55,4%) ebenfalls deutlich gestiegen. 35 Leibold und Kühnel (2006, 137) sprechen von „Islamophobie“ bzw. „Islamfeindlichkeit“. Abgesehen von der allg. Problematik des ersten Begriffes (hier definiert als „generell ablehnende Einstellungen gegenüber Muslimen, pauschale Abwertungen der islamischen Kultur und distanzierende Verhaltensabsichten gegenüber Muslimen.“) scheinen mir beide
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Aussagen „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.“ und „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden.“ gefragt (vgl. Abb. 6 oben). Auffällig an diesen beiden Fragen ist die damit erfolgende Kennzeichnung von Muslimen als Personen, die Fremdheitsgefühle evozieren, oder denen als „Zuwanderern“ ggf. die Einreise verboten werden könnte. Ausgehend von der hier implizit aufgerufenen Gleichsetzung von „Muslimen“ mit “Ausländern“36 kann kaum verwundern, dass eine Zustimmung zu Aussagen wie „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland.“ oder „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.“ die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die betreffenden Personen auch negative Einstellungen zu Muslimen zu Protokoll geben (vgl. Leibold 2009). Unabhängig von der genauen Formulierung wird jedoch auch in anderen Studien nachgewiesen, dass eine fremdenfeindliche Haltung (Yendell und Friedrichs 2012, 288f.), eine politisch rechtsorientierte bzw. rechtspopulistische Einstellung (Heitmeyer 2010, 14) oder ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild (Decker et al. 2010, 134f.) mit einer hohen Zustimmung zu islam- und muslimkritischen Aussagen korreliert. Negative Meinungen zum Islam bzw. ablehnende Haltungen in Bezug auf Muslime in Deutschland hängen also weniger von der individuellen Religiosität bzw. Religionsangehörigkeit,37 als vielmehr von den politischen Einstellungen und dem sozio-ökonomischen Status der Befragten ab.38 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der deutschen Bevölkerung in Bezug auf den Islam ein auch im internationalen Vergleich auffällig negatives Bild vorherrscht. Dieses ist durch Konnotationen wie Benachteiligung der Frau, Intoleranz, Fanatismus und Gewaltbereitschaft geprägt. Neben diesen negativen Assoziationen sowie dem ebenfalls abgefragten und zumindest für das Jahr 2006 nachgewiesenen Gefühl der Bedrohung durch in Deutschland lebende Muslime wurde in den Umfragen auch eine sehr geringe Akzeptanz von im öffentlichen Raum sichtbaren Zeichen muslimischer Religionspraxis offenbar. Die generalisierte Ablehnung von Muslimen
Termini angesichts der gestellten Frage nach der Ablehnung von Muslimen als Personen bzw. Gruppe hier irreführend. 36 Roy (2010, 123f.) merkt hierzu kritisch an, dass sich die letztlich problematische Vermischung ethnischer und religiöser „Marker“ nicht zuletzt auch in kritischen Beiträgen und Kampagnen gegen Islamfeindlichkeit wiederfindet. 37 Yendell und Friedrichs (2012, 283) zeigen, dass in Ost- und Westdeutschland (Daten separat ausgewertet aufgrund angenommener unterschiedlicher religiöser Sozialisation in BRD und DDR) die Charakterisierungen des Christentums deutlich differieren, die des Islams jedoch kaum. Friedrichs (2011, 210f.) weist für Kirchenmitglieder und Konfessionslose sehr ähnliche Meinungen zum Islam nach, obwohl letztere das Christentum deutlich weniger positiv beurteilen (und eine etwas negativere Haltung zum Islam einnehmen). 38 In den GMF-Surveys wird von einem zusammenhängenden „Syndrom“ gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (in Bezug auf verschiedene soziale Gruppen) ausgegangen. In diesem Kontext wird von einem Einfluss ökonomischer Positionierungen sowie von Gefühlen sozio-ökonomischer Verunsicherung ausgegangen. Vgl. Mansel et al. (2012) zum Zusammenhang von Prekarisierung und Fremdenfeindlichkeit. Zu unterschiedlichen Haltungen zu Islam/Muslimen nach Einkommensklassen siehe Heitmeyer (2012b, 33).
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als soziale Gruppe unterliegt zeitlichen Schwankungen und divergiert je nach sozioökonomischem und politischem Hintergrund der Befragten. Sie korrespondierte bisher in hohem Maße mit generell ablehnenden Haltungen in Bezug auf Ausländer. Für die Zukunft prognostiziert Leibold (2009, 152) jedoch ein Auseinanderdriften von „Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie“ [bzw. generell ablehnende Haltungen gegenüber Muslimen, MD]. Ausschlaggebend für die bereits heute erkennbare, zunehmende Divergenz zwischen abnehmenden negativen Haltungen gegenüber Ausländern und zunehmender Ablehnung von Muslimen (vgl. Dolezal et al. 2010) ist nach Leibold die „im Verlauf der voranschreitenden Integration stärkere Thematisierung einer kulturell-religiösen Spannungslinie zwischen muslimischer Minderheit und christlich geprägter säkularer Mehrheitsgesellschaft“. Mit dieser Spannungslinie, die die Mediendebatten des Untersuchungsjahres 2010 dominierte, wird sich das folgende Kapitel daher noch einmal detaillierter beschäftigen müssen.
3.2. G EHÖRT DER I SLAM ZU D EUTSCHLAND ? D IE S ARRAZIN -D EBATTE Bei der Konzeption dieses Forschungsprojektes war davon ausgegangen worden, dass in einigem zeitlichen Abstand zu den letzten islamistisch konnotierten Attentaten im Jahr 2010 eine Art ‚normalisierter‘ Islamdiskurs zu beobachten wäre. Dass dies nicht der Fall war, sondern ab dem Spätsommer die mediale Debatte über Muslime in Deutschland sowohl im Umfang als auch im Grad der Polarisierung noch über das zuvor bekannte Maß hinauswuchs, lag im Wesentlichen an der im August 2010 vom damaligen Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin publizierten Monographie „Deutschland schafft sich ab“. Die Kernthese dieses Werkes erklärt er in einem Interview wie folgt: DIE ZEIT: Herr Sarrazin, […] um es vorweg zu sagen: Ihr neues Buch hat uns verzweifeln lassen, weil es als rassistisch missverstanden werden kann. Thilo Sarrazin: Auf Ihren Vorwurf des Rassismus will ich gar nicht eingehen. Denn damit bestätigt man ja zur Hälfte das, was man ablehnt. Ich bin kein Rassist. […] Das Buch zielt nirgends auf ethnische, sondern auf kulturelle Abgrenzungen. Das ist auch deutlich zum Ausdruck gebracht. ZEIT: „Da lesen wir Ihr Buch ‚Deutschland schafft sich ab‘ doch anders. Die Kernthese lautet, dass die deutsche Gesellschaft schrumpft und verdummt, weil bildungsferne Deutsche und bildungsferne muslimische Migranten mehr Kinder kriegen […].“ Sarrazin: „Ich stelle ein Zusammenwirken unterschiedlicher Elemente fest. Erstens: Die natürliche Bevölkerungsdynamik unseres Volkes nimmt ab. Zweitens: Die Geburtenrate ist schichtbezogen – die Unterschicht bekommt mehr Kinder. Diese Schiefe führt dazu, dass das intellektuelle Potenzial der Gesellschaft stark schrumpft, auch ohne Zuwanderung. Drittens: Gemessen an den durch Demografie und Geburtenstruktur ausgelösten Defiziten, ist die Zuwanderung nicht passend. Besonders die Zuwanderung aus islamischen Ländern stellt für das europäische kulturelle Modell eine Gefährdung dar“ […]
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Sarrazin: „Für türkische Schüler gilt wie für alle Schüler: Ein schlechter Bildungserfolg ist das Ergebnis schlechter Schulleistungen.“ ZEIT: „Woran liegt das denn, dass die türkischen Schüler nicht gut mitmachen?“ Sarrazin: „Das ist offenbar ein kulturelles Problem.“ ZEIT: „Dann ist es ja änderbar.“ Sarrazin: „Das kulturelle Problem ist in der Gruppe der muslimischen Migranten verankert und kann gegen deren Willen kaum verändert werden. Schwimmunterricht und Kopftücher, generell die Rolle der Frauen und Mädchen, sind dafür die Symbole. Auch der Umstand, dass sich die Türken und die Araber zu großen Teilen kaum Mühe geben, Deutsch zu lernen, ist ein Ausdruck fehlenden Interesses an der Mehrheitskultur und mangelnder Bildungsbereitschaft.“ (Quelle: http://www.zeit.de/2010/35/Sarrazin)
In seinen häufig nur selektiv und unzureichend belegten Thesen (vgl. hierzu Foroutan et al. 2010) schlägt Sarrazin einen weiten Bogen von der Genetik und der „Vererbbarkeit von Intelligenz“39 über die in seinen Augen unangemessenen Ansprüche von Hartz-IV-Empfängern bis zur oben bereits dargestellten Annahme einer mangelnden Bildungs- und Integrationsbereitschaft arabischer und türkischer Zuwanderer in Deutschland. Ein Themenpotpourri also, das von Friedrich und Schultes (14.4.2011) ebenso pointiert wie zutreffend als „Bauchladen der Ausgrenzungsdiskurse“ bezeichnet wurde (zur Leistung-Einwanderung-Islam-Demographie-Debatte vgl. ausführlicher auch Friedrich und Schultes 2011). Auch wenn es sein Habitus und seine Positionierung als „Tabubrecher“ suggerieren, so stellt weder Sarrazins Warnung vor einer demographisch bedingten „Überfremdung“ im Allgemeinen,40 noch seine These von der „Gefährdung der europäischen Kultur durch den Islam“ ein Novum oder einen „marginalisierten Diskurs“ dar.41 Dennoch scheint Sarrazin im Herbst 2010 sehr offensichtlich einen Nerv getroffen zu haben: Seine Monographie war nicht nur ein Verkaufsschlager (Butterwegge 2012, 14). Auch die Debatte über seine Thesen wurde hochemotionalisiert und mit umfassender Medienpräsenz geführt (vgl. hierzu Beiträge in Deutschlandstiftung Integration 2010 und Analysen in Friedrich 2011a). Bei Umfragen stimmten dabei rund 60% der Befragten Sarrazin zumindest überwiegend zu (Luca 30.09.2010). 44%
39 So sieht er nicht nur ‚Kultur‘ sondern „auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem [als] verantwortlich“ an (Sarrazin 2010, 316). Zu der hier aufscheinenden ‚hybriden‘ „Kombination von biologistischem und Kulturrassismus“ vgl. ausführlicher Butterwegge (2012). 40 Vgl. u.a. die von DIW Präsident Zimmermann in der FAZ vertretene Überfremdungsthese (pwe 07.08.2003) sowie ein vergleichbares Zitat des bekannten Demographie-Professors Herbert Birg (zitiert in Bade 2007, 45). 41 Bereits Anfang 2010 formulierte Prof. em. Josef Isensee: „[…] die letzte Ursache, daß Integration heute zum ungelösten und, soweit absehbar, zum unlösbaren Problem für Deutschland und für die ähnlich betroffenen Länder des abendländischen Kulturkreises geworden ist, liegt an der Integrationsresistenz des Islam, an seinem fundamentalen Widerspruch zum Geist der Moderne“ (Bitburger Gespräche 1/2010: „Integration als Konzept“, Nachdruck in FAZ 28.1.2010).
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meinten, man könnte sich nun trauen, den Islam offener zu kritisieren (Spiegel online 11.10.2010). Obwohl bereits zuvor in Umfragen islamkritische Haltungen geäußert und insbesondere in Blogs und Kommentaren im Internet auch offen islamfeindliche bis rassistische Meinungen vertreten worden waren (vgl. hierzu Gerhold 2009, Schiffer 2009, Shooman und Spielhaus 2010), herrschte in der Bevölkerung nachweislich das Gefühl vor, dass sich das „Feld des Sagbaren“ im Kontext dieser Debatte signifikant verändert und noch weiter verschoben hat:42 „Wissenschaftler, die sich kritisch zur aktuellen Islam-Debatte äußern, bekommen Morddrohungen, werden in Blogs und in Hass-E-Mails beschimpft. Die Rede ist von ‚verkackter Moslemlogik‘. Die Wissenschaftler werden als ‚Kamelficker‘ und ‚islamische Hetzer‘ bezeichnet. Erschreckend ist, dass viele der Beschimpfungen ganz offen erfolgen. ‚Distanzlose und unhöfliche E-Mails kommen unter voller Namensnennung‘, so Naika Foroutan. ‚Diese Menschen hätten sich wahrscheinlich, bevor diese Debatte losging, noch nicht in dieser Form geäußert.‘“ (Bösel und Neumann 13.10.2010)
Noch in den Nachwehen dieser aufgeladenen Debatte lancierte Bundespräsident Christian Wulff am 3. Oktober 2010 ein inhaltlich überzeugendes (wenn auch einschläfernd vorgetragenes) Plädoyer für ein Deutschland der Einheit und Vielfalt.43 Im Rahmen seines Plädoyers für ein zukünftiges Gemeinschaftsgefühl, „das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter anlegt“, erklärte Wulff, dass neben Judentum und Christentum „der Islam […] inzwischen auch zu Deutschland [gehört]“. Diese Aussage, vom damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble zur Initiierung der Islamkonferenz 2006 erstmals öffentlich postuliert, entfachte im Kontext der „Sarrazin-Debatte“ eine kontroverse und teilweise empörte Diskussion (Nordbruch 2011, 13). Widerspruch und ‚Korrekturen‘ kamen u.a. von dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer. In einem Interview mit dem Focus betonte er: „Wir haben eine christlich geprägte Wertetradition mit jüdischen Wurzeln. Keine andere. Dazu gehört auch die Toleranz gegenüber anderen Religionen.44 Aber andere Religionen können nicht prägend für unsere gewachsene Werteorientierung sein.“ (Focus Online 09.10.2010, Herv. MD) Nicht nur Seehofers Parteikollege, der Bundesinnenminister Hans-PeterFriedrich, bekräftigte im Vorfeld der Islamkonferenz im März 2011 diese Haltung.45 Auch in der CDU, die 2001 einen „weltoffenen Patriotismus“ als Grundlage ihrer
42 Ich konzentriere mich hier auf den Diskursstrang ‚Islam‘. Zu der hierüber hinaus gehenden, allgemeineren „Diskursverschiebung nach rechts“ vgl. Friedrich (2011a, 24). 43 Abrufbar unter http://www.bundespraesident.de (letzer Zugriff: 31.20.2012). Kritisch zu der auch hier auftauchenden Differenzierung von Zuwanderung nach ökonomischer „Verwertbarkeit“ vgl. Friedrich (2011a). 44 Zur Problematik des „Toleranzbegriffes“ besonders in diesem Kontext vgl. Peter (2010). 45 „‘Selbstverständlich gehören die Muslime, die in Deutschland leben, zu dieser Gesellschaft […]. Aber es bleibt dabei: Die Prägung des Landes und der Kultur aus vielen Jahrhunderten der Wertmaßstäbe ist christlich-abendländisch.‘ Diese Differenzierung sei ‚wichtig und notwendig‘, unterstrich der Minister“ (29.3.2011).
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Zuwanderungspolitik deklariert hatte und „die Identität unserer deutschen Nation“ als geprägt „durch unsere Verfassungsordnung, durch die gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur“ gesehen hatte (CDU 2001), verschieben sich 2010 Inhalt und Ton. Unter der Überschrift „Deutsches Interesse statt Multi-Kulti“ 46 werden nun „die christlich-jüdische Tradition, die Philosophie der Antike, die Aufklärung und unsere historischen Erfahrungen“ als „Grundlage für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und […] die Leitkultur in Deutschland“ proklamiert. Gegen „Integrationsverweigerer“ und „Parallelgesellschaften“ wird „ein starker Staat“ ausgerufen (CDU 2010, 9f., s.u.). Wie man sich einen derart „typischen Integrationsverweigerer“ bzw. eine typische Integrationsverweigerin vorzustellen hat, das wissen nicht nur die Journalisten des Merkur-Online (vgl. Abb. 7). Auch für den Politiker Seehofer ist evident, dass „die Integrationsfähigkeit von Zuwanderern […] auch von ihrer Herkunft abhängt“. Für ihn ist nicht nur „klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun“ [Herv. MD]. Er zieht daraus auch „auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen“ (Focus Online 09.10.2010). Abbildung 7: Merkur-Online, Bericht über CDU-Parteitagsantrag
Quelle: www.merkur-online.de (24.10.2010, abgerufen: 31.10.2012)
46 Zu der hier als beendet erklärten „rot-grünen Multikulti-Politik“ merkt Amir-Moazami an, dass „die Rhetorik von multikulti“ in keinem Verhältnis zu realen Politikveränderungen steht und dennoch ein fester Glauben entstanden sei, wonach „Deutschland ernsthaft multikulturelle Politikstrategien verfolgt und institutionalisiert hätte“ (2007, 138, Herv. i.O.).
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Somit taucht in der politischen und journalistischen Debatte im Jahr 2010 eine Definition von „Kultur“ auf, die diese nicht nur historisch verankert und als unveränderlich definiert, sondern sie auch mit „Religion“ bzw. religiösen Werten gleichsetzt („jüdisch-christliche Tradition“; vgl. Abb. 8) und dabei ganz selbstverständlich territorial verortet und als abgrenzbar imaginiert („Kulturkreise“). Ausgehend von diesen religiös definierten und territorial verorteten Kulturräumen wird dann die Schließung einer nationalen Grenze für bestimmte Zuwanderer ‚evident‘ und legitimierbar (wenn auch u.a. aus menschenrechtlichen Beschränkungen nur begrenzt umsetzbar). Abbildung 8: Die Süddeutsche berichtet über CDU-Parteitagsantrag
Quelle: www.sueddeutsche.de (20.10.2010, abgerufen: 31.10.2012)
Während biologistische rassistische Argumentationen erst durch Sarrazin wieder weitgehend „salonfähig“ wurden (vgl. Broden 2012; Butterwegge 2012), hatte sich die Interpretation von ‚Integrationsproblemen‘ als primär kulturell konnotierte Fragestellung bereits zuvor als hegemoniale Interpretationsfolie durchsetzen können.47
47 Einen „kulturalistisch geprägten Integrationsbegriff“ wies bereits Amir-Moazami (2007) in ihrer Analyse der deutschen Kopftuchdebatte nach. Exemplarisch ist hier auch die Integrationsdefinition der Studie zu „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“: „Integration liegt […] vor, wenn die betreffenden Personen sowohl bestrebt sind, ihre traditionelle Herkunftskultur zu bewahren als auch gleichzeitig bereit und fähig sind, die wesentlichen Beschaffenheiten der neuen Mehrheitskultur zu übernehmen.“ (Frindte et al. 2011, 110)
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Welche Funktion und welche Folgen hat eine solche kulturalisierte „Politik der Verortung“ (Lossau 2002)? Für Naika Foroutan „kann Sarrazin vor allem als Katalysator deutscher Befindlichkeiten verstanden werden, der eine Debatte um die nationale Identität angestoßen hat, die […] sich darauf konzentriert im Zuge der irrlichternden, verzweifelten Suche nach der Frage „Was ist deutsch im 21. Jahrhundert?“ zumindest Jene zu benennen, die das Gegenteil darstellen sollen: „die“ Muslime als die ewigen Fremden.“ (Foroutan et al. 2010, 57)
Insofern können die aktuellen Debatten über Muslime und ‚den Islam‘ in Deutschland als ein Versuch eingeordnet werden, das prinzipiell offene „Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten [und] ein Zentrum zu konstruieren“ (Laclau und Mouffe 1991, 164). Die Frage nach dem „Eigenen“ wird beantwortet, indem es „mit Hilfe leerer Signifikanten (in diesem Kontext sind das vornehmlich ‚Moderne‘, ‚Aufklärung‘, ‚Demokratie‘, ‚Freiheit‘, ‚Emanzipation‘, subsumiert unter ‚Westen‘)“ vom Islam als ‚konstitutives Außen‘ abgegrenzt wird“ und dabei die als „eigen“ definierten Werte hegemonial gesetzt werden (Attia 2009, 48). Das ausgegrenzte „konstitutive Außen“ ist jedoch nicht nur Bedingung für die hegemoniale Wirkung nach innen. „Gleichzeitig unterminiert sich der hegemoniale Diskurs selbst, da ‚der Islam‘ auch solche Elemente enthält, die ‚westliche‘ Subjekte als ‚eigene‘ definieren (z.B. Religiosität) und er mit anderen Diskursen in Konkurrenz gerät, die auf ähnliche (z.B. Judentum) oder auch andere (z.B. Geschlechterdiskurs) Weise als konstitutives Außen das ‚Eigene‘ markieren.“ (Attia 2009, 49) Die Irritation bleibt somit bestehen. Erneute Versuche, „eine endgültige Naht zu etablieren“ (Laclau und Mouffe 1991, 254), sind die Folge. Betrachtet man derartige Grenzziehungen („boundary drawing“) als dem Sozialen generell zugrunde liegende Prozesse „[which] define contours of normality and eliminate difference“ (Sibley 1988, 40), so lassen sich doch bestimmte Phasen von akuter, u.a. medial beschleunigter und verstärkter Sichtbarkeit und Dominanz solcher Ab- und Ausgrenzungsprozesse beobachten: „A condition, episode, person or group of persons emerges to become defined as a threat to societal values and interests.“ (Cohen 2002, 1) Eine moral panic „[which] articulate[s] beliefs about belonging and not belonging, about the sanctity of territory and the fear of transgression“ (Sibley 1988, 40) lässt sich einigen Autoren zufolge heute sowohl in Deutschland als auch in anderen ‚westlichen‘ Ländern in Bezug auf muslimische Minderheiten beobachten (vgl. Schiffauer 2006 und Beiträge in Morgan und Poynting 2012). Geht man davon aus, dass „[d]ie Merkmale, entlang derer Zugehörigkeit verweigert oder zugebilligt (oder aufgenötigt) wird, variieren, […] jedoch nicht beliebig [sind]“ (Attia 2009, 68), so stellt sich die Frage, warum es gerade die Religion ist, die als Differenzlinie heute dominant sichtbar wird, und auf die auf den Feldern von Politik, Medien und Gesellschaft zurückgegriffen wird, um eine prinzipiell unabschließbare deutsche ‚nationale Identität‘ zu „vernähen“. Wie bereits an anderer Stelle ausführlicher dargestellt (Didero 2013), lassen sich drei parallel verlaufende Prozesse erkennen, die hierzu beigetragen haben: Erstens lässt sich der Islam als Europas „lasting trauma“ (Said 1978, 59) betrachten, das spätestens seit den Kreuzzügen als das zentrale antagonistische „Andere“
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etabliert worden war. Ein hieran anknüpfendes und im internationalen Diskurs bereits in den 1990er Jahren angelegtes „Leitbild der Polarisierung zwischen den Kulturen“ wurde im Anschluss an die Attentate vom 11. September 2001 noch einmal „polarisiert und akzentuiert“ (Reuber und Wolkersdorfer 2003, 50). Zweitens führte die durch die terroristischen Attentate verstärkte Wahrnehmung von Muslimen als das „gefährliche Andere“ (vgl. Allievi 2005, 4) im außenpolitischen Kontext dazu, dass auch die deutsche Innenpolitik plötzlich eine „Islamische Präsenz“ in Deutschland entdeckte. Im Rahmen einer neu ausgerichteten Sicherheitspolitik wurden Muslime (die sich in Deutschland derzeit noch überwiegend aus Nachkriegs-Migranten und ihren Kindern bzw. Enkeln zusammensetzen; vgl. Azzaoui 2009, 2) einerseits scharf beobachtet (Stichwort „Schläfer“; vgl. Jonker 2005, 118f.). Andererseits bot die 2006 einberufene Islamkonferenz48 den inzwischen in Deutschland ‚angekommenen‘ bzw. hier geborenen Muslimen erstmals die Möglichkeit, an einer Debatte über den Status und die Rolle des Islams in dem vom Staatskirchenrecht reglementierten deutschen religionspolitischen Feld teilzunehmen.49 Forderungen von muslimischen Akteuren nach Gleichstellung und freier Religionsausübung wurden dabei in den letzten zehn bis zwanzig Jahren von einer zunehmenden Sichtbarkeit religiöser Symbole im öffentlichen Raum flankiert (z.B. von kopftuchtragenden Frauen in der Arbeitswelt oder von ‚echten‘ Moscheebauten in den Städten). Die Kopftuchdebatte (vgl. Amir-Moazami 2007) sowie diverse lokale Moscheebaukonflikte (vgl. u.a. Schmitt 2003) zeugen in diesem Kontext von einem Gefühl der Gefährdung bzw. der symbolischen und materiellen ‚Landnahme‘ des öffentlichen Raumes durch derartige Veränderungsprozesse (vgl. Allievi 2005, 12; auf die aus einer Anti-Moschee-Bewegung hervorgegangene Partei, Pro-NRW, werde ich in Kap. 5.1 zurückkommen). Einen dritten zentralen Einflussfaktor beschreiben Schiffauer (2006), Oberndörfer (2009) und Peter (2010). Demnach lässt sich der in Deutschland seit Anfang des Jahrtausends beobachtbare „Wechsel der diskursiven Formation“ (Reuber und Wolkersdorfer 2003, 50), mit dem aus ‚Gastarbeitern‘ erst ‚Ausländer‘ und dann ‚muslimische Migranten‘ wurden, nur erklären, indem neben den internationalen (Sicherheits-)Diskursen und den Veränderungen im deutschen religionspolitischen Feld auch die deutsche Zuwanderungspolitik bzw. die damit verbundenen Diskurse in den Blick genommen werden. Schiffauers zentrale These ist, dass „die Attentate vom 11. September 2001 zwar der Anlass, nicht aber die eigentliche Ursache für die gegenwärtige Angst vor dem Fremden sind“ (Schiffauer 2007, 112). Die allgemein durch Zuwanderungsprozesse hervorgerufenen Irritationen und die Infragestellung des Nationalstaats (bzw. seiner Souveränität, Identität und seines Selbst-Verständnisses; vgl. Giger 2007, 174; Ko-
48 Zu den Verhandlungsprozessen der Islamkonferenz vgl. Peter (2010) und Azzaoui (2011), die u.a. die im Rahmen der Konferenz erfolgende Ethnisierung von Religion bzw. Muslimisierung von Zuwanderern kritisch beleuchten. 49 Diese Debatte war für die Gastarbeitergeneration bis Anfang der 1980er Jahre aufgrund ihres für temporär gehaltenen Aufenthalts in Deutschland noch weniger dringlich (vgl. Tiesler 2007, 25). Zu den (religions-)rechtlichen Rahmenbedingungen vgl. u.a. Oebbecke (2010); Waldhoff (2010) und Wall (2010).
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opmans 2005, 233) wurden in Deutschland, nach einem letzten Aufflammen in der Asyldebatte Anfang der 1990er Jahre, zu Beginn des Jahrtausends neu akzentuiert. Den Grund hierfür sieht Schiffauer in der Statusänderung der Zuwanderer, die durch Einbürgerungen zunehmend zu Staatsbürgern mit vollen Rechten werden. Dabei wirkt die von der rot-grünen Bundesregierung 1999 initiierte Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts zu einem modifizierten ius soli besonders irritierend, da seitdem zum ersten Mal, unabhängig von Herkunft und Abstammung, auch für in Deutschland geborene Kinder von Ausländern ein Grundrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft besteht.50 Die durch die Einwanderung und Einbürgerung generell hervorgerufenen Veränderungen hinsichtlich der Figuration von Etablierten und Außenseitern (Elias und Scotson 1993) werden in Bezug auf die aus o.g. Gründen zunehmend als ‚Muslime‘ wahrgenommenen deutschen Zuwanderer aus der Türkei und den arabischsprachigen Ländern besonders akut: Durch ihre Einbürgerung „werden Personen, die bislang als Andere im ‚Außenbereich‘ der islamischen Welt angesiedelt waren, zum Teil des Binnenraums.“ Wenn sich jedoch „das Andere […] im Inneren des Eigenen wiederfindet, wird die weltordnende Funktion von Innen und Außen in Frage gestellt“ (Schiffauer 2007, 113).
3.3. Z WISCHENFAZIT Insgesamt ergibt sich ein ambivalentes Bild, was die Darstellungen von Muslimen in den deutschen Medien und der deutschen Öffentlichkeit betrifft. Einerseits lassen sich in den Medien durchaus auch nuanciertere und kritische Artikel zum Themenkreis „Islam und Muslime“ finden (vgl. u.a. Wiedemann 2012, Lau 2012 und Langzeitanalyse in Karis 2013). Andererseits jedoch zeigen Analysen von Schulbüchern (Georg-Eckert-Institut 2011; vgl. u.a. Kronfeldner et al. 2010, 62f.), dass Kinder auch in den kommenden Jahren mit dem Bild von Muslimen als den ‚Anderen, außerhalb‘ aufwachsen werden. Diese eher kritische Sicht der Debatten stützen auch die jüngsten Analysen von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer et al. 2012), die vielen Teilen der deutschen Bevölkerung eine deutlich abwertende Haltung gegenüber vermeintlich schwächeren Minderheiten – wie z.B. Sozialhilfeempfängern, Ausländern, Juden und/oder Muslimen – attestieren. In den deutschen Medien hat die Anzahl der Berichte über Muslime und ‚den Islam‘ seit 2001 deutlich zugenommen. Die Sichtbarkeit der Thematik hat sich somit deutlich erhöht. Inhaltlich waren die zentralen Assoziationen zum Islam mit Rückständigkeit, Extremismus und Frauenfeindlichkeit jedoch bereits zuvor etabliert. Ein neueres Phänomen ist lediglich die Äquivalentsetzung von Islam und (islamistischem) Terrorismus. Verschoben hat sich darüber hinaus besonders der geographische Fokus der Debatten: Wo zuvor Muslime als die ‚gefährlichen und schwachen Anderen außerhalb‘ thematisiert worden waren, rückten in den letzten zehn Jahren die deutschen Muslime als die ‚bedrohlichen Anderen innerhalb‘ in den Blick.
50 Zu den rechtlichen Änderungen und der Optionsregelung (u.a. StAG § 4 Abs. 3, § 29) vgl. Hailbronner (2010), historische Perspektive in Brubaker (1992) und Oberndörfer (2009).
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Dieser veränderte Blickwinkel (und auch die in der deutschen Bevölkerung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch stärkere Ablehnung von Muslimen und ihren religiösen Symbolen und Praktiken) wird verständlicher, wenn man die ebenfalls seit Anfang des Jahrtausends vollzogenen Veränderungen im migrationspolitischen Feld in Deutschland in Betracht zieht. Die lange verleugnete Realität eines ‚Zuwanderungslands Deutschland‘ wird seitdem als Tatsache anerkannt.51 Der von der rot-grünen Bundesregierung 1998 angestoßene Versuch, diese Erkenntnis in entsprechend reformierte rechtliche Regulierungen von Zuwanderung, Integration und Staatsangehörigkeit zu transferieren, ließ die Frage akut werden, „wer ‚wir‘ sind und wer ‚wir‘ sein wollen“ (Mecheril 2011, 52). Einbürgerungen sowie das seit Januar 2001 gültige modifizierte ius soli sorgten dafür, dass abweichend von der jahrzehntelang gültigen ethnischen Definition von Staatsangehörigkeit zunehmend auch „sichtbare Minderheiten“ juristisch vollgültige Staatsbürger wurden. Diese Veränderungen sorgten nicht nur auf begrifflicher Ebene für Irritationen (so kann die neue statistische Kategorie der „Menschen mit Migrationshintergrund“ (MmM) als Antwort auf die hierdurch ausgelöste ‚Problemlage‘ gelten). Die erneut „aufflackernden politischen Debatten um Integration oder um eine ‚deutsche Leitkultur‘“ zeigen dabei sehr deutlich, „welche Machtkämpfe, Dynamiken und Verschiebungen einen raumbezogenen Identitätsbegriff wie das ‚Deutsche‘ kennzeichnen“ (Reuber 2012, 51). Ein Bezug auf die soziale Kategorie ‚Muslim‘ – der ein bedeutender Teil dieser „MmM“s aufgrund ihrer nationalen Herkünfte zugerechnet wird – stellt in diesem Kontext einen probaten Antagonismus bereit, mit dessen Hilfe „jene Differenzen“ wieder hergestellt werden können, „die durch natio-kulturelle Ordnungen symbolisiert und produziert werden“ (Mecheril 2003a, 55). Die Definition Deutschlands über seine „christlich-jüdische Tradition“52 kann dabei als Versuch verstanden werden: „eine Identitätsklammer zu schaffen, die die vorhandenen, oft erheblichen inneren sozialen Differenzen und Spannungen entsprechender Gemeinschaften (wie z.B. ökonomische Gegensätze, Klassengegensätze, Gegensätze der Geschlechter etc.) verstecken, überdecken, moderieren und fallweise sogar überbrücken kann“ (Reuber 2012, 47).
Wie sehr sich eine derartige religiös-kulturelle Lesart der Welt als „idée-force“ (Bourdieu 2001b, 51) inzwischen hat durchsetzen können, zeigt die politische Debatte um die präferierte Aufnahme von christlichen Flüchtlingen aus dem umkämpften Syrien oder die Begründung des deutschen Entwicklungsministers Niebel, deutsches Militär sollte nach Mali geschickt werden, da „die radikalen Islamisten [dort] nicht Mali, sondern […] unsere Lebensform“ bedrohten (www.tagesschau.de 23.10.2012). Für die in Deutschland lebenden Muslime bedeutet die Etablierung einer religiösen Kategorie als Sicht- und Teilungsprinzip der deutschen Gesellschaft jedoch, dass sie
51 Dies jedoch von den verschiedenen politischen Lagern unterschiedlich schnell. CSUPolitiker postulierten noch 2010 „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ (Focus Online 16.10.2010). 52 Hier hat ebenfalls eine bemerkenswerte Verschiebung stattgefunden von „christlichabendländlich“ hin zu einer begrifflichen Inklusion des „jüdischen“ (wodurch der Islam als Gegenentwurf bzw. Ausgeschlossenes noch augenfälliger wird).
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nicht nur als gefährlich, rückständig oder extremistisch wahrgenommen werden. Durch die Äquivalentsetzung von ‚Migranten‘ und ‚Muslimen‘ werden sie als derart diskursiv konstituierte Gruppe auch als „fremd“ und „nicht zugehörig“ definiert. Resultat ist „a discourse of exclusion, which imposes on Muslims the role of the strange other, who does not belong to German society“(Spielhaus 2010, 21)͘ Geht man davon aus, dass „[e]ine nationale Kultur ein Diskurs [ist] – eine Weise, Bedeutungen zu konstruieren, die sowohl unsere Handlungen als auch unsere Auffassungen von uns selbst beeinflusst und organisiert“ (Hall 1999, 416), so stellt sich die Frage, wie der Diskurs, der über den leeren Signifikanten „christliches Deutschland“ organisiert wird, diejenigen beeinflusst, die hierdurch angerufen, subjektiviert und verortet werden.
4
Empirischer Zugang
Bevor in Kapitel 5 und 6 anhand der empirisch gewonnenen Erkenntnisse eine Antwort auf die oben gestellte Frage erarbeitet wird, möchte ich im folgenden Kapitel zunächst einige grundlegende Informationen über die von mir gewählte Untersuchungsgruppe und ihre Wanderungsgeschichte bereitstellen. Im Anschluss werde ich in konkreter auf meinen Feldzugang sowie die Auswahl und Rekrutierung meiner Interviewpartner/-innen eingehen (Kap. 4.2) und das gewählte empirische Forschungsdesign erläutern (Kap. 4.3). Im letzten Teil dieses Kapitels wird es schließlich darum gehen, auf der Grundlage des bisher erarbeiteten Subjekt- und Identitätsverständnis zu reflektieren, was es bedeutet, wenn subjektivierte Individuen im Rahmen eines Interviews in und durch performative Praktiken über sich selber erzählen und berichten. Aus dieser Reflexion heraus habe ich einen spezifischen Analysezugang abgeleitet, der besonders der Einzelfallanalyse diente und den ich in Kap. 4.4. vorstellen werde.
4.1. S TAND DER F ORSCHUNG : M AROKKANISCHE M IGRATION
NACH
D EUTSCHLAND
Wie eingangs erwähnt, stellen marokkostämmige Personen die größte Gruppe unter den deutschen Einwohnern mit familiären Wurzeln in Nahost/Nordafrika dar. Da sie mit ca. 170.000 Personen jedoch nur 1% der Gesamtgruppe der Personen mit „Migrationshintergrund“1 ausmacht, ist sie bisher kaum in den Fokus deutscher Forschungsarbeiten gerückt. Zu den wenigen bisher vorliegenden wissenschaftlichen Studien gehören erstens Publikationen, die vom Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten Anfang der 1990er Jahre herausgegeben wurden. Für den spezifischen lokalen Kontext der Stadt Frankfurt werden hier mit Blick auf die Frage gelingender sozialer Integration allgemeine soziokulturelle Informationen aufbereitet (Weber 1992), die berufliche Situation junger marokkanischer Männer und Frauen dargestellt (Weigt und Lorke
1
In diese Kategorie werden alle Personen eingeordnet „die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ (www.destatis.de: Fachserie 1 Reihe 2.2. Anhang 1).
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1994) sowie die Lebenssituation einiger junger Frauen porträtiert (Weigt 1996). Eine ähnliche Thematik wurde von Rahim Hajji (2009) gewählt, der in seiner Dissertation am Beispiel von jungen Frauen in Bonn eine Typologie von Sozialisationsprozessen in Familien mit marokkanischem Migrationshintergrund entwickelte. Ein zweiter Themenkomplex betrifft die spezifische Situation marokkanischer Studienmigranten in Deutschland. So haben Penitsch (2003) und Roggenthin (2000) die Lebenssituation und Identitätsprägung marokkanischer Studenten in Berlin und dem Rhein-Main-Raum untersucht und aufgearbeitet. Vertiefte Kenntnisse über den Herkunftskontext marokkanischer Migranten in Deutschland sind insbesondere einer Gruppe von Geographen zu verdanken, die sich seit Anfang der 1990er Jahre mit dem Migrationssystem Deutschland-Marokko beschäftigte. Ähnlich wie in der im Vorfeld erschienenen Dissertation von Waltner (1988) galt auch in diesen Arbeiten das Hauptinteresse den Auswirkungen dieser Migration auf der Provinz Nador, einer der Haupt-Herkunftsregionen in Marokko (Berriane et al. 1996; Kagermeier 1995; Popp 2000). Gleichzeitig sind diesem Forschungsansatz auch viele wertvolle Informationen über die Herkunft, Zusammensetzung und regionale Verteilung marokkanischer Migranten in Deutschland zu verdanken (z.B. Berriane 1994; Berriane 1996; Kagermeier 2004). Eine ähnlich herkunftslandorientierte Perspektive verfolgt auch eine jüngerer Überblicksstudie der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die primär nach dem möglichen Beitrag der marokkanischen Diaspora zu einer positiven Entwicklung im Heimatland fragt (Schüttler 2007). Was die bisher vorliegenden Publikationen nicht – oder nur sehr eingeschränkt – ermöglichen, ist eine fundierte sozialstrukturelle Analyse der marokkanischstämmigen Bevölkerung in Deutschland. Dies liegt vor allem an der eingeschränkten Aussagekraft der Sekundärstatistiken. Eine breit angelegte quantitative Befragung, wie sie beispielsweise in Belgien oder den Niederlanden durchgeführt wurde (z.B. Crul und Heering 2008; Saaf et al. 2009), die dieses Manko teilweise beheben könnte, liegt für Deutschland nicht vor. Daher sind die folgend zitierten Zahlen und Daten in jedem Fall nur als Näherungswerte zu verstehen. Erst mithilfe der detaillierten Ergebnisse des Zensus 2011, die für Ende 2013 erwartet werden, werden sich genauere soziodemographische Daten über marokkanischstämmige Einwohner in Deutschland ableiten lassen. Nichtsdestotrotz lässt sich anhand der genannten Quellen sowie einer Reihe von Sekundärstatistiken ein aussagekräftiges Bild über Verlauf und Charakteristik der marokkanischen Migration nach Deutschland zeichnen. Eine Besonderheit der marokkanischen Migration nach Deutschland ist ihre hohe Konzentration, sowohl in Bezug auf die Herkunfts- als auch in Bezug auf die Aufnahmeregionen (Berriane 2007, 266; vgl. Abb. 9 und 13 unten). Zurückzuführen ist diese Besonderheit auf die spezifische Ausgangslage zu Beginn der Wanderungsbewegungen. Nachdem bereits Ende der 1950er Jahre vereinzelte Pioniere – meist über andere europäische Staaten, insbesondere Frankreich – nach Deutschland gekommen waren, setzte die Hauptphase der Einwanderung erst nach Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und dem Königreich Marokko 1963 ein (Berriane 2007, 263). Angeworben wurden die Arbeiter für die deutsche Industrie im Rif, einer durch Erzbergbau gekennzeichneten Region im Nordosten Marokkos. Anhand der Meldungen im marokkanischen Konsulat Frankfurt errechnete Berriane (1996, 170), dass 1974 73% der marokkanischen Gastarbeiter in Deutschland aus der Provinz Na-
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dor, im Rif stammen sowie weitere 5% aus der östlich angrenzenden Provinz Oujda. Die Provinz Nador war zu diesem Zeitpunkt auch allgemein die Region mit der höchsten Abwanderungsrate männlicher Arbeiter (Bonnet und Bossard 1973, 14). Abbildung 9: Herkunft marokkanischer Zuwanderer in Deutschland 1975 und 1993
Quelle: Eigene Abbildung nach Berriane 1996, 170; Kartographie: A. Ehrig.
Für diese hohe Abwanderungsrate gab es mehrere Gründe: Erstens stellt diese Region eine klassische Auswanderungsgegend dar. Aufgrund der vergleichsweise dichten Besiedlung einer von wiederholten Trockenperioden gekennzeichneten und wenig fruchtbaren Region hat sich bereits ab dem 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ein System saisonaler und dauerhafter Wanderungen entwickelt und zwar zwischen Ostmarokko und dem Nordwesten (al-Gharb) einerseits sowie dem östlich angrenzenden Algerien andererseits (Berriane 1996, 160). Insbesondere nach der Etablierung der französischen Kolonialherrschaft in Algerien ab den 1830er Jahren boten die großen landwirtschaftlichen Betriebe der französischen Kolonisten den nach einer besseren wirtschaftlichen Situation suchenden Rif-Bewohnern Arbeit und Einkommen und verstärkten somit die Abwanderung ins Nachbarland (Berriane 2007, 265). Zweitens stellte die Etablierung des spanischen Protektorats im Norden Marokkos im Jahr 1912 einen wichtigen Einschnitt in die Entwicklung des Nordostens Marokkos dar. Durch die Aufteilung Marokkos zwischen den spanischen und französischen Kolonialmächten wurde der Norden Marokkos von dem restlichen, unter französischer Protektoratsherrschaft stehenden Teil Marokkos abgeschnitten. Die traditionell von Nord nach Süd verlaufenden Handelsbeziehungen wurden unterbrochen. Neue wirtschaftliche Impulse blieben aus, da Spanien sein Protektoratsgebiet hauptsächlich als Rohstofflieferant betrachtete, darüber hinaus jedoch kein Interesse an einer wirtschaftlichen Entwicklung aufwies (Popp 1996, 29–32). Diese Marginalisierung der Region verstärkte sich noch nach der Unabhängigkeit des Landes 1956. Zwar wurden beide Landesteile wieder vereinigt, jedoch kam die mangelhafte verkehrstechnische Erschließung und Infrastrukturausstattung des Nordens nun erst recht zum Tragen. Zusätzlich wurden auch die Migrations- und Handelsbeziehungen nach Algerien abrupt beendet, nachdem Algerien im Anschluss an seine Unabhängigkeit 1962 die Grenze nach Marokko geschlossen hatte (Popp 1996, 42). Hinzu kam die Schließung wichtiger Industriestandorte in den nordöstlichen Provinzen Ma-
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rokkos sowie eine Missernte, die zur desaströsen wirtschaftlichen Lage in der Region beitrugen und somit den Auswanderungsdruck weiterhin erhöhten (Waltner 1988, 371, zit. nach Hajji 2009, 8). Gefördert wurde die Abwanderung aus dieser Region drittens auch aufgrund von politischen Erwägungen. Haas (2007) verweist darauf, dass nach der Unabhängigkeit die neue marokkanische Regierung – ähnlich wie zuvor die französische Kolonialherren – die Auswanderung aus den zuvor weitgehend autonomen, tribal organisierten Berbergebieten explizit unterstützte. Besonders im Rif, wo ökonomische und politische Spannungen in den späten 50er Jahren zu einer Reihe von Aufständen führten, schien die forcierte Auswanderung ein probates Mittel, um diese Spannungen zu entschärfen (Haas 2007, 12, 14). Abbildung 10: Zielgebiete der marokkanischen Gastarbeiter 1970-1976
Quelle: Eigene Darstellung nach Bossard 1979, Kartographie: A. Ehrig
Dieses Interesse korrespondierte mit den Intentionen europäischer Staaten, die nach dem Abebben der Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem südeuropäischen Raum nun auf der Suche nach neuen Arbeitskräftereservoirs waren. Folglich wurden 1963 die ersten Anwerbeverträge zwischen Marokko, Frankreich und Deutschland geschlossen. 1964 folgten Verträge mit Belgien und 1969 mit den Niederlanden. Insgesamt nahm Frankreich als ehemalige Kolonialmacht den höchsten Anteil marokkanischer Gastarbeiter auf (Berriane 1996, 165). Während sich jedoch im Südteil Marokkos während der Protektoratszeit bereits eine auf Frankreich gerichtete Migrationstradition entwickelt hatte, waren im vormals spanischen Protektoratsgebiet im Norden die Beziehungen, Bindungen und Sprachkenntnisse eher auf Spanien als auf Frankreich ausgerichtet (vgl. Haas 2007, 6f.). Da Spanien jedoch Ende der 60er Jahre selbst noch eher ein Auswanderungs- als ein Einwanderungsland war (als bedeutende Wanderungsziele für marokkanische Arbeitssuchende etablierten sich Spanien und Italien erst ab den späten 1980er Jahren; vgl. Fondation Hassan II 2007), bot es sich für die marokkanische Regierung an,
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Anwerbeinteressenten aus den anderen europäischen Ländern gezielt in diese Region zu lenken. Dementsprechend strömten in den 60er und 70er Jahren die meisten Arbeitsmigranten aus dem Rif in die Industrieregionen Belgiens, Deutschlands und der Niederlande (Berriane 1996, 167) sowie nach Schweden (Haas 2007, 12; vgl. Abb. 10 oben). Die Zuwanderung nach Deutschland wurde dabei durch die bereits zuvor etablierten Handelsbeziehungen der Metallwirtschaft unterstützt. Für die Zuwanderer war Deutschland besonders aufgrund des im Vergleich zu Frankreich höheren Lohnniveaus interessant (Berriane 1996, 168; Bonnet und Bossard 1973, 36). Obwohl die erste angeworbene Gruppe Minenarbeiter waren, die für den Steinkohleabbau in Deutschland rekrutiert wurden (Schüttler 2007, 6), setzte sich in Deutschland sehr bald das Baugewerbe als größter Arbeitsmarkt für marokkanische Gastarbeiter durch, gefolgt vom Eisenhüttenwesen und der Metallindustrie (Bonnet und Bossard 1973, 30). Die Zuwanderung erfolgte vor allem nach Düsseldorf und in das Ruhrgebiet sowie in den Großraum Frankfurt in Hessen (Kagermeier 2004, 442). Dort hatte u.a. Opel Arbeiter für sein Rüsselsheimer Werk rekrutiert. In dieser ersten Phase der Anwerbung waren es hauptsächlich Männer, die nach Deutschland kamen. Da die Wanderung zunächst als temporäre, zirkuläre Migration angelegt war, kamen sie in der Regel alleine nach Deutschland, auch wenn 84% der Arbeitsemigranten verheiratet waren (Bossard 1979; Berriane 1996, 69f.). Abbildung 11: Wanderungsbilanz marokkanischer Staatsbürger (1964–2010)
Quelle: Eigene Abbildung nach Hajji 2009, 10
Als in Folge der Ölkrise 1973 und der daraus resultierenden Wirtschaftskrise die Arbeitslosenzahlen in Deutschland signifikant anstiegen, löste die Bundesregierung die Anwerbeverträge auf. Obwohl in den folgenden Jahren die Zahlen der marokkanischen Einwanderer zurückgingen (siehe Abb. 11), gelang es dennoch nicht, die Zuwanderung dauerhaft zu stoppen (Hajji 2009, 11). Grund hierfür waren unter anderem mehrere politische Beschlüsse. Als Rückkehranreiz gedachte Maßnahmen wie die Abschaffung des Kindergeldes für im Ausland lebende Kinder ab 1975/96 und
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die aufgehobene steuerliche Berücksichtigung dieser Kinder ab 1978 bewirkten das Gegenteil ihrer Intention. Anstatt in ihr zunehmend instabiles und repressiv beherrschtes Heimatland zurückzukehren (Haas 2009, 3), begannen viele Arbeiter ihre Familien nach Deutschland nachzuholen. Aus einer temporären, zirkulären Migration wurde in vielen Fällen eine auf Dauer gestellte Verlagerung des Lebensschwerpunktes nach Deutschland (Haas 2007, 8). Diese folgende zweite Phase der Zuwanderung ist in erster Linie durch ihren hohen Frauenanteil gekennzeichnet (vgl. Hajji 2009, 11f. sowie Abb. 11 oben). Das geringe Durchschnittsalter verweist darauf, dass zwischen 1974 und 1986 vor allem Ehefrauen und jüngere Kinder im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland nachgeholt wurden. Später kamen dann auch ältere Kinder und Jugendliche, die bis zum Ende ihrer Erstausbildung in Marokko verblieben waren. Seit Ende der 1980er Jahre/Anfang der 1990er Jahre lässt sich eine dritte Einwanderungsphase abgrenzen. Diese ist sowohl durch einen erneuten Anstieg der durchschnittlichen Anzahl der Zuwanderer gekennzeichnet als auch durch eine stärkere Diversifizierung der Zuwanderungsgruppen und Wanderungsstrategien. Erstens wurden weiterhin im Rahmen des Familiennachzugs Kinder der ersten Gastarbeitergeneration nachgeholt. Allerdings machen Kinder unter 16 Jahre nun einen wesentlich geringeren Anteil an den Einwanderern aus als in den Jahren zuvor (vgl. Hajji 2009, 12). Zweitens holen seit den frühen 90ern insbesondere die Kinder der ersten Gastarbeitergeneration im Rahmen der Familienzusammenführung Ehepartner nach Deutschland, die sie beispielsweise bei einem Urlaubsaufenthalt in Marokko geheiratet haben (Kagermeier 2004, 445). Abbildung 12: Marokkanische Studierende an deutschen Universitäten
Quelle: Eigene Abbildung; Daten: Statistisches Bundesamt
Eine dritte wichtige Gruppe marokkanischer Zuwanderer nach Deutschland besteht aus marokkanischen Abiturienten (vgl. Abb. 12). Diese haben seit Anfang der 1990er Jahre Deutschland als eine Alternative zu frankophonen oder englischsprachigen Studienangeboten im Ausland entdeckt. Bei den Studenten handelte es sich besonders zu Beginn ähnlich wie bei den Gastarbeitern um eine primär maskuline Wande-
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rung. Dies lässt sich zum einen aus den oben aufgeführten Studierendenzahlen ableiten, korrespondiert zum anderen auch mit den anhand der narrativen Interviews erhobenen Informationen. Obwohl sich also die sozio-demographischen Merkmale und die Zusammensetzung der eingewanderten Bevölkerung im Laufe der mittlerweile 50-jährigen Migrationsgeschichte zwischen Deutschland und Marokko verändert und diversifiziert haben, so lässt sich in Bezug auf die Herkunfts- und Zielgebiete dieser Migration eine erstaunlich starke Stabilität erkennen (vgl. Abb. 9 und 13). Erklären lässt sich diese relative Stabilität unter anderem durch die große Bedeutung, die individuelle Netzwerken und ‚Hören-Sagen‘ für die Migrationsentscheidung spielen und gespielt haben (vgl. Berriane 1996, 168f. und Interviews). Mittels seiner Analyse von Konsulardaten aus Frankfurt und Düsseldorf weist Berriane (2007, 282) diesen Netzwerkeffekt auch sehr kleinräumig für verschiedene Stämme der Provinz Nador nach. Während sich einige Stämme auf den Frankfurter Raum ausgerichtet haben, finden sich andere primär an Rhein und Ruhr wieder (vgl. ähnl. Bonnet und Bossard 1973, 17). Abbildung 13: Räumliche Verteilung marokkostämmiger Einwohner in Deutschland
Quelle: Eigene Abbildung; Kartographie: A. Ehrig
Nicht nur in Bezug auf die Herkunftsgebiete der marokkanischen Migranten bleibt der Nordosten dominant (1993 kommen noch immer 60% der im Frankfurter Konsulat registrierten Marokkaner aus der Provinz Nador).2 Auch die Zielregionen bleiben
2
Quelle: Berriane (1996, 183). Die abweichende Darstellung der entsprechenden Abbildung in Kagermeier (2004, 442) wird hier nicht übernommen, da im Rahmen dieser Publikation die Datengrundlage der Darstellung nicht hinreichend belegt wird.
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erstaunlich stabil: Während 1972 89% der Marokkaner in Nordrhein-Westfalen und Hessen lebten (Bonnet und Bossard 1973, 28), sind es 2010 immer noch 79% der insgesamt 63.570 marokkanischen Staatsbürger, die in diesen beiden Bundesländern leben (siehe Abb. 13).3 Noch Hajji (2009, 13) bemängelt, dass es zwar statistische Daten zur Anzahl marokkanischer Staatsbürger in Deutschland gibt, diese jedoch keinen Rückschluss auf die gesamte Subpopulation marokkostämmiger Einwohner in Deutschland zulasse. Dieses Manko liegt in der vergleichsweise hohen Einbürgerungsquote von Marokkanern in Deutschland begründet. Nachdem Anfang der 1990er Jahre erstmals ein Recht auf Einbürgerung eingeräumt wurde, war es für Marokkaner vergleichsweise einfach, sich für diesen Schritt zu entscheiden. Da sie nicht die Möglichkeit haben, ihre marokkanische Staatsbürgerschaft abzugeben (vgl. Haas 2009, 8f.) werden sie in Deutschland im Rahmen einer Ausnahmeregelung unter Duldung von Zweistaatlichkeit eingebürgert. Bis 2005 wurden in der Statistik alle eingebürgerten Personen ungeachtet einer etwaigen zweiten Staatsangehörigkeit jedoch nur noch als Deutsche aufgeführt. Dies hat sich inzwischen geändert. Im Mikrozensus 2005 wurden vom Statistischen Bundesamt erstmalig Informationen über „Personen mit Migrationshintergrund“ erhoben. Während die Angemessenheit einer solchen sehr breitangelegten Sammelkategorie diskutabel ist, werden durch die entsprechende Datenerhebung dennoch erstmalig Aussagen über die absolute Anzahl und das Verhältnis von ausländischen Staatsbürgern zu eingebürgerten Personen sowie von Erstmigranten zu Personen der zweiten (und folgenden)4 Einwandergeneration möglich. Auf Grundlage des Mikrozensus 2009 lässt sich folglich die Einschätzung treffen, dass zusätzlich zu den rund 64.000 marokkanischen Staatsbürgern inzwischen ca. 106.000 Deutsche mit ursprünglich marokkanischen Wurzeln in Deutschland leben (vgl. Abb. 13 oben). Von den insgesamt 170.000 Personen, die in die Kategorie „Personen mit marokkanischem Migrationshintergrund“ fallen, sind dabei ca. 94.000 als Erwachsener oder Kind selbst zugewandert, während ca. 76.000 bereits in Deutschland geboren worden sind (Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2009, Sonderauswertung).
3
4
Errechnet für Anzahl marokkanischer Staatsbürger nach dem Ausländerzentralregister (Destatis FS 1 Reihe 2 (2010) Stand 15.11.2011); eine nur gering abweichende Zahl von 78% ergibt sich auf Basis der Hochrechnung des Mikrozensus 2009 für Personen mit marokkanischem Migrationshintergrund (Quelle: Sonderauswertung Statistisches Bundesamt). Hier liegt eine wesentliche Krux dieser Sammelkategorie: da aufgrund des vergleichsweise restriktiven Einbürgerungsregimes die Einbürgerungsraten in Deutschland zu den niedrigsten im europäischen Vergleich gehören und bis zum Jahr 2000 aufgrund des herrschenden ius sanguinis Kinder von Nicht-EU-Ausländern in Deutschland i.d.R. als Ausländer geboren wurden, ist es derzeit nicht auszuschließen, dass auch Personen, die bereits in der 3. oder 4. Generation in Deutschland leben, unter diese Kategorie gefasst werden.
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4.2. F ELDZUGANG , AUSWAHL UND R EKRUTIERUNG DER I NTERVIEWPARTNER /- INNEN Für die vorliegende Arbeit habe ich im Großraum Aachen-Köln-Bonn von Mai bis Dezember 2010 insgesamt 40 narrative Interviews mit Personen marokkanischer Herkunft geführt. Eine Fokussierung der Interviews auf NRW bot sich aufgrund der bereits erläuterten starken Konzentration marokkanischer Migranten in dieser Region an. Der Großraum Aachen, Köln, Bonn bot darüber hinaus den Vorteil, sehr unterschiedliche städtische Lebenskontexte in die Analyse einbeziehen zu können und somit der Frage nach der Bedeutung des unmittelbaren Lebensumfeldes aus einer vergleichenden Perspektive nachgehen zu können. Die Städte, in denen die Interviews durchgeführt wurden, variieren nicht nur in der Größe von Köln als Millionenstadt über die mittleren Großstädte Aachen und Bonn (ca. 250.000 bzw. 320.000 Einwohner), bis hin zu Mittelstädten wie Bergheim (ca. 62.000 Ew.), Eschweiler (ca. 55.000 Ew.) oder Baesweiler (ca. 28.000 Ew.). Sie weisen auch unterschiedliche Anteile an Personen mit Migrationshintergrund bzw. ausländischen Staatsbürgern einerseits und marokkanischen Migranten andererseits auf (vgl. Tab. 1). Tabelle 1: Untersuchungsstädte – Einwohnerstruktur Einwohner NRW (2009)
17,87
Ausländer
Auslän-
Marok-
Marok in
Marok in
der in%
kaner
% Ew.
% Ausl.
1.87 Mio.
10,5
33.745
0,20
1,8
246.865
34.440
14,0
639
0,25
1,9
Köln (2011)
1.036.117
174.650
16,9
2.137
0,21
1,2
Bonn (2011)
318.602
41.164
12,9
1.587
0,50
3,9
Bergheim (2011)
61.596
8.470
13,8
870
1,41
10,3
Eschweiler (2010)
55.443
4.432
8,0
257
0,45
5,8
Alsdorf (2011)
46.795
5.352
11,4
236
0,50
4,4
Baesweiler (2012)
27.702
3.529
12,7
266
0,96
7,5
Aachen (2011)
Mio.
Quellen: A: Sonderauswertungen (Bürgerbüro der Stadt Baesweiler, Stadt Alsdorf Fachgebiet Bürgerdienste, Statistikstelle der Bundesstadt Bonn, Stadt Aachen Abteilung Statistik, Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln) B: Stadt Eschweiler 2010 (Statistischer Jahresbericht 2010), MAIS NRW 2011 (Zuwanderungsstatistik 2010)
Auch hinsichtlich von innerstädtischen Segregationstendenzen unterscheiden sich die Städte. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Datenlage in den Untersuchungsstädten ist hier eine vergleichende statistische Darstellung nicht möglich. Bei der Gewinnung
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von Interviewpartnern wurde jedoch versucht, sowohl Personen zu befragen, die in stärker segregierten Stadtteilen wohnen (so z.B. in Bonn, Bergheim und Baesweiler, wo sich Stadtteile mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil marokkanischer Migranten unter der Wohnbevölkerung finden lassen) als auch Personen, die in stärker durchmischten Städten und Stadtvierteln leben (bes. in Aachen und Köln). Die Auswahl der Gesprächspartner richtete sich an dem Prinzip maximaler Variation aus (Kleining 1982; Flick 2010, 165). Angestrebt wurde eine möglichst große Variationsbreite insbesondere in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildungsstatus, Migrationsgeschichte und Grad der Religiosität. Dabei habe ich primär nach Personen gesucht, die bereits vor dem Jahr 2000 in Deutschland lebten. Da sich der Feldzugang als vergleichsweise schwierig erwies,5 konnte diese Anforderung nicht durchgängig aufrechterhalten werden. Die Mindestaufenthaltsdauer der Gesprächspartner lag jedoch bei fünf oder sechs Jahren, sodass alle über die besonders relevante Phase der Verknüpfung von Migrations- und Islamdiskursen Auskunft geben konnten. Kontaktiert habe ich die meisten Interviewpartner über verschiedene Organisationen und Vereine (Moschee- oder Sportvereine, Integrationsagenturen, Weiterbildungsorganisationen). Darüber hinaus rekrutierte eine marokkanische Studentin einige Interviewpartner/-innen im Raum Köln auch über persönliche Netzwerke, Internetplattform und lokale Institutionen. Das ursprüngliche Ziel Kontakte durch ein Schneeballsystem herzustellen, erwies sich nur in Ausnahmefällen praktikabel. Die überwiegende Mehrheit der Interviewpartner bot höchstens eine Vermittlung an Familienmitglieder, bevorzugt Geschwister, an. Da jedoch möglichst kontrastreiche Beispiele gesucht wurden, erschien dies zumeist wenig hilfreich. Die meisten Gespräche habe ich in ‚öffentlichen‘ Räumen (Cafés, Bildungsstätte, Arbeitsplatz, Moschee) durchgeführt, nur wenige fanden in den Wohnungen der Interviewpartner/-innen statt. Bis auf zwei Ausnahmen handelte es sich um einmalige Gesprächstermine, die zwischen 30 und 120 Minuten dauerten (im Schnitt 60-90 min). Obwohl ich bei der Anfrage der Interviews anbot, diese auch auf Französisch oder – mithilfe einer Dolmetscherin – auf Marokkanisch-Arabisch oder im entsprechenden Berber-Dialekt zu führen, konnten mit der Ausnahme zweier auf Französisch geführten Interviews sowie einer Gruppendiskussion, in der zwischen Tarifit, Marokkanisch-Arabisch und Deutsch gedolmetscht werden musste, alle anderen Gespräche auf Deutsch geführt werden. Außer der Gruppendiskussion durfte ich alle Gespräche aufnehmen, so dass sie für eine volle Transkription zur Verfügung standen.6 Ergänzend habe ich im Anschluss an die Gespräche ein Postscript erstellt, in dem ich Interviewsituation und Atmosphäre, nicht aufgenommen Gesprächsteile (Einleitung und Ausklang) sowie auffällige nonverbale Reaktionen notiert habe. Zusätzlich zu den formalen Interviewterminen konnte ich durch teilnehmende Beobachtung und informelle Gespräche im Rahmen von Deutsch-Sprachkursen und den Aktivitäten eines Deutsch-Marokkani-
5 6
Vgl. ähnliche Problematik bei Abdel-Samad (2006, 192) und Hajji (2009, 58). Die an der Diskussion teilnehmenden Frauen hatte eine Aufnahme abgelehnt. Vgl. hierzu auch Gärtner (2009, 44), deren marokkostämmigen Interviewpartnerinnen ebenfalls in der Mehrheit eine Aufnahme ablehnten. Als Grund dafür wurde ihr das islamische Bilderverbot genannt, das die Frauen offensichtlich auch auf Aufnahmen der Stimme übertrugen.
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schen Kulturvereins ergänzende und vertiefende Informationen gewinnen. Hierüber erhielt ich auch Einblicke in Lebenskontexte, die ich in einer formalen Interviewsituation so nicht hätte erreichen können (s.u.). In Bezug auf das allgemeine Ziel eines qualitativen Sampling – die Abbildung von Varianz bzw. Heterogenität im Untersuchungsfeld – (Lamnek 2010, 172), lässt sich festhalten, dass dies durch jeweils ca. zehn Interviews in Aachen, Köln, Bonn sowie den drei genannten Mittelstädten gut zu erreichen war. Nicht nur sind Männer und Frauen insgesamt ungefähr gleichstark vertreten, auch das Alter der Gesprächspartner reicht von 16 bis 53 Jahren, während das Bildungsniveau von einer Person ohne jegliche formale Bildung bis hin zu zwei Personen mit Promotionsabschlüssen variiert. Die Herkunftsorte der Familien in Marokko variieren ebenfalls regional vom Nordosten über die Atlantikküste bis hin zum Atlasgebirge und Agadir im Süden; größere Städte wie Rabat und Marrakesch sind ebenso vertreten wie Dörfer in ländlichen Räumen. Obwohl die Mehrzahl der Interviewten in Marokko geboren ist, bieten neun in Deutschland geborene sowie vier im Kleinkind- und Grundschulalter zugewanderte Interviewpartner ebenfalls vertiefe Einblicke in die Situation von in Deutschland als ‚Kindheimat‘ aufgewachsenen Personen.7 Über die Varianz hinaus geht es bei einem qualitativen Sampling jedoch darum, „eine bestimmte Bandbreite sozialstruktureller Einflüsse zu erfassen, indem theoretisch relevant erscheinende Merkmale in der qualitativen Stichprobe in ausreichendem Umfang durch Einzelfälle vertreten sind“ (Kelle und Kluge 1999, 53). Die Möglichkeit, eine solche „theoretische Sättigung“ zu erreichen, d.h. einen Punkt an dem in Bezug auf eine bestimmte Kategorie oder Untersuchungsgruppe durch Einbezug zusätzlicher Fälle „keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden können, mit deren Hilfe der Soziologe weitere Eigenschaften der Kategorie entwickeln kann“ (Glaser und Strauss 2010, 77), hängt dabei von der Zugänglichkeit der jeweiligen Gruppen ab (Merkens 2010, 288). Diese war in meinem Fall nicht für alle in gleicher Weise gegeben: Während daher für die Gruppe der aus Marokko stammenden Studenten sowie der in Deutschland geborenen Kinder marokkanischer Einwanderer eine weitgehende theoretische Sättigung angenommen werden kann, gilt dies für Frauen und Männer der ersten Gastarbeitergeneration nicht in gleichem Maße. Wie bereits von Gärtner (2009) in ihrer Studie über die Bedeutung von Integrationskursen für die Integration marokkanischer Frauen in Bonn konstatiert, antworten Frauen der ersten Generation mit geringen Deutschkenntnissen in informellen Gesprächen zwar gerne auf Fragen und erzählen von ihrem Leben. Vor einem formalen Interview schrecken die meisten jedoch zurück. Dieser Problematik konnte im vorliegenden Forschungsprojekt begegnet werden, indem zusätzlich zu den beiden aufgezeichneten Interviews mit Migrantinnen der ersten Gastarbeitergeneration auch informelle Gespräche sowie die oben erwähnten Gruppendiskussionen als Informati-
7
Da die genannten Personen ähnliche Selbstdarstellungen in Bezug auf ihre Zugehörigkeiten vornahmen, werden sie hier – abweichend von gängigen Kategorisierungen (vgl. z.B. Fincke 2009, 83f. sowie Crul und Vermeulen 2003, 679) – als Angehörige der zweiten Generation zusammengefasst. Ein weiterer, mit 14 Jahren zugereister Gesprächspartner nimmt dagegen eine deutlich andere Positionierung ein, wird also auch hier der 1,5. Generation zugerechnet.
114 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT
onsquelle genutzt werden. Diese protokollierten Informationen können zwar nicht für eine detaillierte Feinanalyse genutzt werden, tragen jedoch zu einem dennoch aussagekräftigen Bild über die Migrationsbiographien und Alltagssorgen dieser Frauen bei. Was die männlichen Gastarbeiter der ersten Generation angeht, so standen mir aufgrund meiner persönlichen Eigenschaften (als junge, nicht muslimische Frau) ähnliche informelle Zugänge leider nicht offen. Meinen vielfältigen und wiederholten Bemühungen zum Trotz, eine größere Anzahl an Gesprächen mit Personen dieser Gruppe zu führen, bleiben hier die Auskünfte auf einen einzigen Fall beschränkt. Auch über vermittelnde Dritte mit prinzipiell guten Kontakten zu dieser Gruppe gelang es mir nicht, weitere Interviewtermine zu vereinbaren. Erschwert wurde die Rekrutierung von Interviewpartner aus dieser Gruppe nicht zuletzt dadurch, dass viele Männer der ersten Generation ihren Ruhestand aktuell entweder vollständig oder teilweise in Marokko verbringen und somit für ein Interview in Deutschland schwerer zu erreichen waren. Die daraus resultierende Einschränkung der Forschungsergebnisse kann allerdings insofern relativiert werden, als dass über das geführte Interview in Kombination mit den Erzählungen der Kinder über ihre Väter zumindest ein grundlegender Einblick in deren Lebenswelten generiert wurde. Zum anderen ist als erstes Ergebnis der Feldforschung bereits hier festzuhalten, dass die Relevanz des Islambildes bzw. die Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen, für all diejenigen besonders stark ist, die sich entweder intellektuell mit den deutschen Medien und der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen und/oder denjenigen, die auf dem Berufs- und Arbeitsmarkt Diskriminierungen erdulden oder befürchten müssen. Dies trifft für viele der in den 60er/70er Jahren eingewanderten Arbeits- und Heiratsmigranten oder Migrantinnen deutlich weniger zu als für die Studienmigranten/Studienmigrantinnen oder die Kinder der zweiten Generation. So war beispielsweise der Gruppe marokkanischer Frauen, mit denen ich im November 2011 am Rande ihres Deutschkurses sprach, weder die Person Thilo Sarrazin bekannt noch kannten sie seine Thesen.
4.3. Q UALITATIVES F ORSCHUNGSDESIGN Für den empirischen Zugang wurde im vorliegenden Fall ein qualitatives Forschungsdesign gewählt. In Einklang mit den hiermit einhergehenden Prämissen der Offenheit und Flexibilität erfolgte der Feldzugang daher in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten (vgl. Flick et al. 2010; Reuber und Gebhardt 2011, 98). Bereits Anfang 2008 wurden in der Städteregion Aachen acht explorative Interviews mit Personen marokkanischer Herkunft durchgeführt. Die Fragen in diesen Leitfaden-Interviews betrafen biographische Hintergründe und institutionelle Affiliationen, das deutsche Islambild sowie alltägliche Aktionsräume und deren Veränderungen. Ein wichtiges Ergebnis dieser Exploration war die konsequente Einbeziehung einer gendersensiblen Perspektive sowie eine methodische Modifizierung des Interviewtyps der Hauptuntersuchung (s.u.). Ebenfalls der Vorbereitung der Interviews in Deutschland diente ein 3-wöchiger Forschungsaufenthalt in Marokko im März 2010. Die Unterkunft in drei verschiedenen Gastfamilien in Rabat und zwei Kleinstädten im Nordosten Marokkos sowie ein
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zweiwöchiger Einführungskurs in den marokkanisch-arabischen Dialekt vermittelten mir Kenntnisse über zwei Herkunftsregionen marokkanischer Migranten in Europa. Bereits diese selektiven Einblicke in unterschiedliche Kontexte familiärer Sozialisation verdeutlichten die Vielfalt der Lebensbedingungen und Lebensweisen in marokkanischen Familien. Die während dieser Reise gewonnenen Erfahrungen, Kenntnisse und Einsichten stellten sowohl für die Interviewführung als auch für die anschließende Analyse nützliches Hintergrundwissen bereit. Angesichts der Forderung nach Gegenstandsangemessenheit qualitativer Methodik (Flick et al. 2010, 22) und aufgrund der Erfahrungen aus den Vorgesprächen in Aachen wurde für die im dritten Schritt geführten 40 Hauptinterviews ein biographisch-narrativer Zugang gewählt. Dieser Interviewtyp schien aus zweierlei Gründen besonders angemessen. Erstens ermöglicht es ein solcher Zugang, „die Sinn- und Bedeutungszuschreibungen des Handelnden in den entsprechenden Situationen zu rekonstruieren und damit letztlich das Verhältnis von Subjekt und ‚Struktur‘ (etwa in Form dominanter Diskurse) zu thematisieren“ (Pütz 2004, 37). Da die befragten Personen aufgefordert werden darzustellen, wer sie sind, und wie sie dazu geworden sind, kann ein narratives Interview als ein performativer Akt betrachtet werden, bei dem Subjekte „im Rahmen strukturell wirkender Differenzsysteme“ Identität herstellen (Pütz 2004, 37; vgl. Anthias 2002, 499). Dies bedeutet, dass sich narrative Interviews gerade für die vorliegende Frage nach Identitätskonstruktionen im Diskurs ein besonders geeignetes Instrument darstellen. Zweitens bot ein solcher methodisch offener und lebensgeschichtlich orientierter Zugang einen weiteren wichtigen Vorteil: Die Interviewpartner/-innen konnten all diejenigen Aspekte ihrer Persönlichkeit und ihrer Biographie einbringen, die sie für relevant hielten (vgl. Rosenthal 2005, 137). Das Gespräch wurde daher nicht vorzeitig durch das von mir eingebrachte Forschungsinteresse am Islambild verengt. Nach Lamnek (2010, 350) unterscheiden sich narrative Interviews von anderen Arten qualitativer Interviews durch ihre besonders stark ausgeprägte Offenheit. Diese betrifft nicht nur den wenig strukturierten Interviewablauf, sondern vor allem auch die theoretische Fundierung. So soll der oder die Forschende zuerst ohne ein fest ausgearbeitetes theoretisches Konzept mit der Datenerhebung beginnen (Reuber und Pfaffenbach 2005, 131). Gemäß dieser Prämisse beschränkte sich auch in diesem Fall die Vorbereitung auf die Interviewphase auf die Erarbeitung eines allgemeinen und grundlegenden Überblicks über verschiedene Diskurs- und Praxistheorien. Die in Kapitel 2 vorgestellten sowie im Folgenden der Analyse zugrunde gelegten theoretischen Konzepte wurden erst im Anschluss an die Interviewführung in einem wechselseitigen Prozess zwischen einer ersten Materialsichtung und einer explorativen Fallanalyse sowie vertiefter Theorielektüre ausgearbeitet. Das Hauptinteresse eines narrativen Interviews gilt der Evozierung einer Stegreiferzählung. Diese kann je nach Interessenschwerpunkt den gesamten Lebensverlauf (biographisches Interview) oder bestimmte Phasen/Ereignisse ansteuern (episodisches Interview; vgl. Schütze 1976; Flick 2010, 229; Hopf 2010, 355). Obwohl das Verfahren heute stark mit der Biographieforschung verwoben zu sein scheint (vgl. u.a. Rosenthal 1995), kann es generell auf alle Fragestellungen angewendet werden, bei denen es um in Erzählungen rekonstruierbare biographische Erfahrungen und Alltagswissen geht (vgl. u.a. Flick 1996, 150ff.; Küsters 2009).
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Wie alle qualitativen Interviews beginnt auch ein narratives Interview mit einer ersten Erklärungs- und Aufwärmphase. Hierauf folgt dann die Erzählaufforderung. Diese soll offen, aber möglichst klar und präzise formuliert werden (Hopf 2010, 356). Im Anschluss erfolgt die Haupterzählung, die im Idealfall von dem Gesprächspartner/-innen autonom gestaltet wird. Die Interviewerin beschränkt sich in dieser Phase auf aktives, erzählunterstützendes Zuhören. In einer dritten Phase stellt die Interviewerin Verständnis- oder Detaillierungsfragen. Erst ganz zum Schluss sollen dann auch gesprächsexmanente, weiterführende Fragen in das Interview eingebracht werden (Küsters 2009, 63). Die von mir benutzte Einstiegsfrage orientierte sich an dem in der Biographieforschung üblichen Frageimpuls (vgl. Fuchs-Heinritz 2005, 256; Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997, 141). Da ich meinen Gesprächspartner/-innen zunächst die Möglichkeit gab, eigene Rückfragen zu meinem Forschungsprojekt zu stellen, fiel der auf die Einstiegsdiskussion folgende konkrete Erzählimpuls unterschiedlich und oft recht kurz aus: „Ja. Zuerst würde ich Sie gern bitten, einfach … ja, so, sich vorzustellen, Ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Alles, was Ihnen einfällt, was Ihnen wichtig ist. Ich werde versuchen Sie nicht zu unterbrechen, und wenn ich Nachfragen hab, dann schreib‘ ich mir das auf und dann ...“ (Interview mit Hachem, Juni 2010, Aachen).
Häufig folgte auf den Erzählimpuls eine kurze Aushandlungsphase, in der sich die Interviewpartner/-innen an die für sie ungewohnte Situation und Aufgabe herantasteten (vgl. Reuber und Pfaffenbach 2005, 143f.). Die Erzählphase fiel je nach den Dispositionen der Interviewpartner/-innen eher monologisch-narrativ oder stärker interaktiv-dialogisch aus. Denn obwohl Erzählen keine notwendigerweise schichtabhängige Kompetenz sein muss (Lamnek 2010, 380), erwiesen sich in der sehr spezifischen Situation ‚Interview‘ Sprachkenntnisse, Selbstbewusstsein, Vertrautheit mit einer solchen Situation sowie die persönliche Erzählfreudigkeit als begünstigende Faktoren. Fehlendes Einlassen auf die Situation oder ein nicht erfolgreich hergestelltes Vertrauensverhältnis dagegen erschwerten einen narrativen Zugang und führten eher zu einem Wechselspiel von Fragen und Antworten. Um ein solches ‚Ping-Pong‘-Interview möglichst zu vermeiden, und die für ein narratives Interview begünstigende Atmosphäre zu schaffen, habe ich mich für eine möglichst ‚weiche‘ Gesprächsführung entschieden. Dabei ging es mir darum, die in dieser Situation angelegte symbolische Gewalt zu mindern, indem ich den Interviewten durch Tonfall und Inhalt der Fragen zu signalisieren versuchte, dass ich sie in ihrem ‚So-Sein‘ respektiere – ohne dabei jedoch so zu tun, als sei die gesellschaftliche Distanz zwischen uns irrelevant (vgl. Bourdieu 1997c, 781). Ein solches Vorgehen bot sich gerade in Bezug auf das Erkenntnisinteresse Islam/Islambild an, da der in den explorativen Interviews sehr deutlich gewordene Rechtfertigungsdruck durch eine entspannte und vertraute Atmosphäre zumindest verringert werden konnte. Besonders gut funktioniert die Herstellung einer offenen, vertrauensvollen und wenig(er) hierarchisierten Gesprächssituation in den Fällen, in denen sich Interviewerin und Befragte in Bezug auf Dispositionen und/oder Lebensweg sehr ähnlich sind (Bourdieu 1997c, 781). Dies traf in meinem Fall besonders auf die jüngeren, in Deutschland aufgewachsenen Frauen zu. Aber auch in anderen Fällen konnte ich eine
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„Komplizinnenschaft zwischen Frauen“ als Möglichkeit zur Überwindung gesellschaftlicher Hindernisse nutzen (Bourdieu 1997c, 785). Mein nicht vorhandener Migrationshintergrund führte dazu, dass bestimmte Dinge nicht für selbstverständlich verständlich gehalten wurden, sondern mehr oder ausführlich erklärt wurden. Dies erleichtert einerseits die Interpretation der entsprechenden Passagen. Andererseits birgt diese Konstellation jedoch die Gefahr einer kulturalisierenden (Selbst-)Deutung (vgl. u.a. Einzelfallanalyse Raif). Ein mögliches „Doppelspiel der gegenseitigen Bestätigung von Identitäten“ (Bourdieu 1997c, 789f.) ist daher im Einzelfall kritisch zu reflektieren (vgl. u.a. Zitate von Achraf). Die für die vorliegende Forschungsfrage wichtigen Themen wie die persönliche Religiosität oder das mediale Islambild wurden in den biographischen Erzählungen zwar oft, aber nicht immer, angeschnitten. Andere für die Antwort auf die Fragestellung der Arbeit relevante Themen wie die Sprachkompetenzen oder der Medienkonsum wurden meist nicht von selbst angesprochen. Daher schloss ich an die unterschiedlich langen narrativen Sequenzen und den hieraus generierten gesprächsimmanenten (Verständnis-)Nachfragen einen dritten, stärker leitthemenorientierten Fragekomplex an. Um verschiedenen Aspekten der Alltagsgestaltung sowie Orts- und Raumwahrnehmungen und raumbezogenen Identitätskonstruktionen nachspüren zu können, bat ich meine Gesprächspartner/-innen unter anderem, mir den Ablauf eines normalen Tages sowie ihren jeweiligen Wohnort zu beschreiben, fragte sie nach den Gründen für ihre Wohnstandortwahl und danach, ob sie für die Zukunft weitere Umzugs- oder Migrationspläne erwägen. Darüber hinaus bat ich sie, ihre sozialen Netzwerke in Form einer vorbereiteten Netzwerke-Karte zu visualisieren, um so über den lokalen Lebenskontext hinaus vertiefte Einblicke in eine etwaige translokale/transnationale Lebensgestaltung zu erhalten (vgl. Kapitel 6.2.2). Ebenfalls in fast alle Gespräche eingebrachte Fragen betrafen die Sprachnutzung im Familien- und Freundeskreis sowie die Frage, welche Medien zu Informationszwecken genutzt werden. Um herauszufinden, ob und inwiefern der 11. September 2001 als ‚Zäsur‘ wahrgenommen wird, und welche Bedeutung den seitdem erfolgten diskursiven Verschiebungen zukommt, fragte ich meine Interviewpartner/-innen ganz allgemein nach den in Deutschland in den letzten zehn Jahren wahrgenommenen Veränderungen. Erst ganz am Ende des Gesprächs brachte ich eine Frage nach der persönlichen Bedeutung von Religion und Religiosität oder der Wahrnehmung des deutschen Islambildes in den Medien ein. Bei den Interviews handelt es sich also um eine Mischform aus einem stärker narrativen und einem stärker problemzentrierten Gesprächsteil, wie er sich bereits in verschiedenen anderen Forschungskontexten bewährt hat (Fuchs-Heinritz 2005, 180). Analog zu diesem gedoppelten methodischen Zugang erfolgte auch die Analyse in zwei Schritten: Um die Frage nach der Rolle und Bedeutung des Islambildes für das SelbstVerständnis, die Selbst-Identifikation und die Formulierung von Zugehörigkeiten der Interviewpartner/-innen angemessen beantworten zu können, habe ich aus den stärker biographisch-narrativ geprägten Interviews drei kontrastierende Fälle für eine vertiefte Einzelfallanalyse ausgewählt. Da sich andere Interviews aufgrund der eingeschränkten Sprachkenntnisse der Interviewpartner/-innen oder der stärkeren Steuerung durch die Interviewerin für eine
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solche Analyse nicht anboten (die zudem für alle 40 Interviews auch aus zeitlichen Gründen nicht durchführbar gewesen wäre), habe ich die Einzelfallanalyse durch eine fallübergreifende Analyse aller transkribierten Interviews ergänzt. Hierfür wurden alle transkribierten Interviews mithilfe von MaxQDA in Anlehnung an das von Flick (1996; 2010, 402-409) entwickelte Vorgehen thematisch codiert. Dieser methodische Zugang bietet ähnlich einer qualitativen Inhaltsanalyse den Vorteil, auch größere Textmengen auswerten zu können. Die Analyse der Einzelaussagen bleibt dabei jedoch stärker an den gesamten Einzelfall sowie den Aussagekontext zurückgebunden. Die Sub-Codes wurden in diesem Fall induktiv aus den Interviewmitschriften entwickelt, während die übergeordneten Codes (Migrationsbiographien, Netzwerke, Selbst- und Fremdidentifizierungen, Raumbezüge, Sprachen, Medien, Religion und Islambild) aus der an die Interviews herangetragenen Fragestellung abgeleitet wurden (siehe hierzu auch Abb. 15). Abweichend von dem bei Flick (1996, 2010) beschriebenen Vorgehen habe ich apriori keine zu untersuchenden Gruppen vordefiniert. Stattdessen ging es mir darum, ergebnisoffen nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in den Selbstdarstellungen und Positionierungen zu suchen. Die in Kap. 6.1 dargestellte Zusammenfassung von Personen mit möglichst ähnlichen (Migrations-)Biographien und aktuellen sozialen Positionierungen erfolgte erst im Anschluss an die Analyse und ist als deren Ergebnis zu verstehen. Thematisch ging es in der übergreifenden Analyse um die Sprach- und Mediennutzung der Befragten, ihre raumbezogene Zugehörigkeiten, ihre individuelle Religiosität sowie um ihre persönliche Perspektive auf das deutsche Islambild. Bevor die Ergebnisse dieser übergreifenden Analyse in Kap. 6 vorgestellt werden, geht es jedoch zunächst um die Einzelfallanalysen, anhand derer die Frage beantwortet werden soll, wie Diskurse und soziale Positionierungen im Rahmen narrativer Interviews (re-)produziert und artikuliert werden. Hierfür ist im Folgenden zunächst noch einmal auf die in Kap. 2.1.1 vorgenommene Ausdifferenzierung des Identitätsbegriffs zurückzukommen. Hierauf aufbauend wird zu diskutieren sein, welche Anforderungen an eine angemessene Analysemethodik sich aus den erläuterten subjekttheoretischen Annahmen ableiten. Neben ‚klassischen‘ Auswertungsstrategien narrativ-biographischer Interviews, wie sie im deutschen Sprachraum im Wesentlichen von Gabriele Rosenthal und Wolfram Fischer (Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Rosenthal 1995) entwickelt und von Robert Pütz (2004) in die kulturgeographische Forschung eingebracht wurden, berücksichtigt die erarbeitete Analysemethodik auch Ansätze, die zuletzt eine stärkere Anbindung von Diskurs- und Biographieforschung diskutiert und erprobt haben (vgl. u.a. Beiträge in Völter et al. 2005 sowie Spies 2009, 2010). Mithilfe der als ‚Scharnier‘ zwischen Theorie und Empirie wirkenden Positionierungsanalyse (vgl. u.a. Bamberg 1997) wird im letzten Teil des Kapitels das konkrete Vorgehen bei der empirischen Analyse erläutert.
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4.4. N ARRATIVE I DENTITÄTEN P RAXIS UNTERSUCHEN
| 119
ALS PERFORMATIVE
4.4.1. Von narrativen Identitäten zu translocational positionalities In der Synthese des hier erarbeiteten Subjektverständnisses (Kap. 2.1.6) habe ich argumentiert, dass ein Selbst-Verständnis als implizites Wissen über sich selbst definiert werden kann. Es entwickelt und verändert sich im Laufe des Lebens in einem reziproken Prozess durch soziale Interaktionen und Anrufungen. Als „sens pratique“ leitet es die Handlungspraxis in den Interaktionen an. Die konkrete Handlungspraxis wird durch die den Subjekten verfügbare Kapitalia und die durch diese beschriebene Positionierung im gesellschaftlichen Raum (bzw. in verschiedenen sozialen Feldern) ebenso geprägt wie durch die im jeweiligen Feld wirksamen symbolisch vermittelten und reproduzierten Machtverhältnisse. Während diskursive Formationen die Identitätskategorien und Subjektpositionen (sowie die jeweils hierdurch aufgerufenen Äquivalenz- und Differenzkategorien) bereitstellen, in die die Subjekte einberufen werden und mithilfe derer sie sich selbst identifizieren können, werden die diskursiven Formationen ihrerseits in einzelnen Sprechakten „reiteriert“. Mit Butler lässt sich dabei argumentieren, dass das Sprechen in einem solchen Moment zwar durch linguistische und soziale Bedingungen reguliert und regiert wird. Da eine Regel jedoch nie ihre Anwendung determinieren kann, bieten Sprechakte auch Potenzial zur Subversion und Verschiebung. Dies bedeutet andererseits jedoch nicht, dass sich der oder die Sprecher/-in dabei von den diskursiv vorgegebenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata befreien könnte oder gar die „souveräne Macht“ über das Gesagte ausüben würde (Butler 2006, 60). Eine spezifische Form von Sprechakten im Rahmen sozialer Interaktionen, namentlich das Erzählen über sich selbst im Kontext eines narrativen Interviews, bildet die Grundlage der folgenden empirischen Analyse. Welche erkenntnistheoretischen und methodologischen Konsequenzen sind hieraus abzuleiten? Bereits in der neueren, auf dem konstruktivistischen Paradigma aufbauenden Biographieforschung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich bei der in einer Interviewsituation erzählten Lebensgeschichte um ein Artefakt handelt (vgl. hierzu u.a. Pütz 2004). Auch wenn der oder die Befragte also von bestimmten subjektiven Erfahrungen und Ereignissen berichtet, so bedeutet dies nicht, dass von einer Homologie von Erfahrung und Erzählung auszugehen wäre.8 Die Erzählungen verweisen daher zwar auch auf eine erlebte und erinnerte Vergangenheit. Die notwendige, nicht unbedingt strategisch-willkürlich, sondern weitgehend unbewusst getroffene Auswahl der erzählten Episoden erfolgt jedoch aus der aktuellen Lebenssituation heraus. Auch Bewertungen, Interpretationen und „Rahmungen“ des Erlebten werden auf der Grundlage der bisher sedimentierten Erfahrungen und inkorporierten sozialen Kategorisierungen vorgenommen. Dies bedeutet, dass sich in dem Erzählten zwar bestimmte vergangene Erlebnisse und Erfahrungen niederschlagen, diese jedoch in ei-
8
Vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr (2010, 222) zur Homologieannahme bei Schütze.
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ner bestimmten Situation vor dem Hintergrund des bis dahin gewonnenen SelbstVerständnisses re-artikuliert werden. Die erzählten Biographien spiegeln somit keine „wahren“ oder „faktischen“ Lebensläufe wider (Pütz 2004, 40).9 Untersuchungsgegenstand kann daher nur die im narrativen Interview her- und dargestellte Realität, jedoch keine dahinter liegende objektive biographische Gestalt sein (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 97). Dementsprechend kann das Ziel der Forschung nicht die Wiedergabe „authentischer“ Lebensgeschichten sein. Aussagen über das „gelebte Leben“, wie es beispielsweise die konsequente Anwendung der biographischen Methode nach Rosenthal (1995) verlangen würde, sind – in meinem Fall besonders aufgrund der hier gewählten weichen, wenig investigativen Gesprächsführung (s.o.) – nur sehr eingeschränkt möglich. Stattdessen gilt es, die Interviews als „performative Praxis“ zu untersuchen. Denn was im Interview gesagt wird (und was verschwiegen wird) und wie es im Gespräch dargestellt wird, wird zum einen durch allgemeine linguistische und diskursive Regeln bestimmt. Darüber hinaus wird das Gespräch jedoch immer auch durch die Eigenschaften der Beteiligten als gesellschaftlich positionierte Subjekte und ihre daraus resultierenden Machtpositionen gerahmt und beeinflusst (s.o. und vgl. Bourdieu 1986, 71 und 1997c). Die in einem Interview hervorgebrachte Lebensgeschichte muss daher als „interaktive und konstruktive Leistung“ all derjenigen gelten, die an dieser Situation beteiligt sind (Dausien und Mecheril 2006, 159; Herv. i.O.). Autobiographische Erzählungen verweisen immer auch auf strukturell wirksame Differenzsysteme. Daher können und sollen sie danach befragt werden, wie „strukturelle Rahmenbedingungen in Biographien eingeschrieben werden“ (Pütz 2004, 38); bzw. auf welche Verschränkungen zwischen Subjekt und Gesellschaft sie verweisen (Rosenthal 2005, 61). Somit lassen sich an dieser Stelle bereits zwei wichtige Kritikpunkte an biographischer Forschung bzw. narrativ-biographischen Interviews entkräften: Erstens geht es nicht um das Verständnis des Lebens eines Individuums, sondern um die her- und dargestellte Lebensgeschichte eines diskursiv und gesellschaftlich konstituierten Subjekts. Diese kann nur mit Bezug auf gesellschaftliche Prozesse und Rahmenbedingungen untersucht und interpretiert werden (vgl. Kritik in Bourdieu 1986, 72). Zweitens wird die Situativität und der Konstruktionscharakter des im Interview herausgeforderten „Selbst-Geständnisses“ (vgl. hierzu Foucault 1977, 77) bzw. der „production de soi“ (Bourdieu 1986, 70) von der neueren Biographieforschung nicht nur anerkannt, sondern auch methodisch berücksichtigt. Untersuchungsgegenstand ist nicht das „gelebte Leben“, sondern die in einer spezifischen Interviewsituation hervorgebrachte „narrative Darstellung und Herstellung von jeweils situativ relevanten
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Daher gilt hier wie für alle qualitativ-verstehende Verfahren, dass die von der Forscherin vorgenommenen Interpretationen als Konstruktionen (mindestens) zweiter Ordnung gelten müssen (bzw. dritter Ordnung, wenn man den Transkriptionsprozess als „erste Übersetzung“ und „Neu-Schrift“ mündlicher Aussagen berücksichtigt, vgl. Bourdieu (1997c, 797). „Dekonstruktionen und/oder Rekonstruktionen von Handlungszusammenhängen“ können somit „keinen Anspruch auf Repräsentativität und intersubjektive Überprüfbarkeit“ (Reuber 1999, 43) erheben, sondern unterliegen den Gütekriterien Plausibilität, interpretative Stimmigkeit und interne Validität (vgl. Pütz 2004, 40).
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Aspekten“ der subjektiven Lebensgeschichte. Dieser spezifische Untersuchungsgegenstand lässt sich mit Lucius-Hoene und Deppermann (2004, 56) als „narrative Identität“ definieren.10 Eine solche Selbst-Narration stellt aus diskurstheoretischer Perspektive einen „Wahrheitsdiskurs“ dar, der das Subjekt, von dem er zu sprechen vorgibt, im Akt des Sprechens erst erschafft. Und weil, wie in Kap. 2 bereits theoretisch erörtert, „die bloße Äußerung schon – unabhängig von ihren äußeren Konsequenzen – bei dem, der sie macht, innere Veränderungen bewirkt“ (Foucault 1977, 80f.), wirkt selbstverständlich auch die im Interviewkontext situativ und interaktiv produzierte „Wahrheit über sich selbst“ als „Selbstanrufung des Subjekts“ (Schäfer und Völter 2005, 169) auf Letzteres zurück. Dies bedeutet, dass die im Interview re-produzierten „epistemische[n] und praktische[n] Orientierungen“ auf das Selbst-Verständnis, das Handeln und das autobiographische Sprechen der Interviewten zurückwirken und diese auf die Zukunft hin verändern können (Schäfer und Völter 2005, 169). Umgekehrt geht die neuere diskurstheoretisch orientierte Biographieforschung davon aus, dass biographische Erzählungen immer auch auf die „gesellschaftliche[n] Regeln, Diskurse und soziale[n] Bedingungen“ verweisen, durch die die Subjekte konstituiert wurden und die daher „ihrerseits u.a. mit Hilfe biographischer Einzelfallanalyse[n] strukturell beschrieben und re-konstruiert werden können“ (Dausien et al. 2005, 7f.). Somit lässt sich für das Analysekonzept (vgl. Abb. 14 unten) abschließend festhalten, dass autobiographische Erzählungen als „forms of social interaction“ und „performed identities“ zu analysieren sind (Anthias 2002, 498f.). Es sind „narratives of location and positionality [...] in which the narrator, at a specific point in time and space, is able to make sense of and articulate their placement in the social order of things“ (Anthias 2002, 501). Die Erzähler/-innen blicken dabei von einer spezifischen (translokalen) Position im gesellschaftlichen Raum aus auf biographischhistorische Ereignisse. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart des Erzählens werden die Erzähler/-innen dabei von unterschiedlichen Diskursen angerufen und sind in verschiedene Arten symbolischer Herrschaft eingebunden. Diskurse wirken dabei nicht nur subjektivierend, sondern legen über die Tausch- und Gegenwerte der verschiedenen Kapitalia auch die erreichbaren Positionierungen im sozialen Raum fest und rahmen somit die daraus resultierenden subjektiven Handlungsund Entwicklungsmöglichkeiten.
10 Der Begriff der „narrativen Identität“ geht auf den Philosophen und Sprachanalytiker Ricœur (1996, 2005) zurück.
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Abbildung 14: Erzählen als sozial situierte performative Praxis untersuchen
Quelle: Eigene Abbildung, © M. Didero
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Wie lässt sich nun die nicht zuletzt auch von Bourdieu (1986, 70f.) kritisierte „biographische Illusion“ eines mit sich selbst als identisch und biographisch konstant angenommenen und dabei doch nur durch den Akt der Benennung konstituierten Subjektes11 nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch methodisch aufbrechen? In dem o.g. Artikel verweist Bourdieu darauf, dass eine Lebensgeschichte als Summe unterschiedlicher Platzierungen und Deplatzierungen im sozialen Raum zu verstehen ist, die immer nur in ihrem jeweiligen Kontext analysiert und interpretiert werden können. „Zusammengehalten“ wird eine Person (und ihre Biographie) nur durch den Namen (le nom propre), der ihr eine soziale Identität verleiht und dafür sorgt, dass sie als dieselbe erscheint, obwohl sie sowohl diachron unterschiedliche Positionen und „Zustände“ (états) im gleichen sozialen Feld einnimmt als auch synchron gesehen eine Vielzahl an Positionen in unterschiedlichen Feldern ausfüllt. Genau an dieser Vielfalt der von einer Person eingenommenen Positionen und den daraus resultierenden mannigfaltigen Möglichkeiten der Selbst- und Fremdidentifizierung setzt Stuart Hall mit seinem Identitätskonzept an. Für ihn sind Identitäten letztlich nichts als „Geschichten, die wir uns über uns selber erzählen“ (Hall 1995, 66). Diese Geschichten sind nie eindimensional. Sie werden in vielfältiger Art und Weise quer über verschiedene, sowohl intersektional wirksame als auch oft antagonistisch erscheinende, Diskurse, Praktiken und Positionen konstruiert (Hall und du Gay 1997, 4). Aus poststrukturalistischer Perspektive ist dabei zu beachten, dass „die Geschichte, die ein Subjekt von sich erzählt“, nie ganz mit diesem identisch ist. Denn mit Lacan ist davon auszugehen, dass der „subjektive Kern des Individuums“ in der Selbsterzählung nicht vorkommen kann, „da er nicht repräsentierbar ist“. Dennoch ist die Geschichte „ähnlich genug, um eine gewisse Kohärenz zu erreichen und sich zumeist als selbsttransparentes Subjekt wahrzunehmen“ (Arndt 2008, 63; vgl. Distelhorst 2007, 120). Während Hall sich u.a. in Anschluss an Laclau und Mouffe (vgl. Kap.2.1.2) vehement gegen die Idee von Identität als „unified essence“ oder „innere Wahrheit“ ausspricht, und diese stattdessen als einen sein Ziel immer verfehlenden Prozess des ‚Sich-Selbst-Identifizierens und -Positionierens‘ beschreibt,12 so betont er andererseits, dass eine bestimmte diskursiv bereitgestellte Subjektposition eingenommen werden muss – und sei es noch so kurz – um überhaupt etwas sagen zu können bzw. um in soziale Interaktionen eintreten zu können: „You have to stop, because if you donތt you cannot construct meaning. You have to come to a full stop, not because you have uttered your last word, but because you need to start a new sentence which may take back everything you have just said.“ (Hall 1995, 66)
11 Vgl. hierzu auch die kritische Diskussion der in der dekonstruktiven Biographieforschung auftauchenden Formulierung eines „mit sich selbst identischen Subjektes“ bei Schäfer und Völter (2005, 174f.). 12 „Identities are, as it were, the positions which the subject is obliged to take up while always ‚knowing‘ (the language of consciousness here betrays us) that they are representations, that representation is always constructed across a ‚lack‘, across a division, from the place of the Other, and thus can never be adequate – identical – to the subject processes which are invested in them.“ (Hall und du Gay 1997, 6)
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Indem autobiographische Erzählungen mit Hall also hinsichtlich der darin jeweils nur temporär eingenommenen Subjektpositionen und „Artikulationen im Diskurs“ untersucht werden (vgl. hierzu ausführlicher Spies 2009 und 2010), dabei jedoch andererseits auch mit Bourdieu das „Positioniert-Sein“ eines Subjektes in verschiedenen sozialen Feldern berücksichtigt wird, können die in Kap. 2 aufgeworfenen und oben ausgeführten erkenntnis- und subjekttheoretischen Annahmen konzeptionell umgesetzt werden. Um die Wechselseitigkeit von performativen Akten des „Sich-im-Interviewkontext-Positionierens“ und im Sprechen reflektierten und re-konstruierten gesellschaftlichen Positionen zu erfassen, hat die Soziologin Floya Anthias (2008) den englischen Neologismus „positionality“ geprägt (zu Deutsch: „Positionieren/Positionierung“). Mit dem Adjektiv „translocational“ möchte sie dabei darauf verweisen, dass die Positionen eines Subjekts in einem oder mehreren sozialen Feld(ern) durch verschiedene, oft intersektional (d.h. gleichzeitig, sich überkreuzend und überlagernd) wirksam werdende Kategorien symbolischer Herrschaft gerahmt werden. Diese Kategorien, die als gesellschaftliche Sicht- und Teilungsprinzipien wirksam werden und als soziale Platzanweiser funktionieren können, werden in performativen Akten des Sich-Identifizierens (bzw. Sich-Positionierens) re-iteriert. Mit dem Begriff der „Translocational positionality“ lässt sich folglich die „biographische Illusion“ aufbrechen und ein Anschluss an die in Kap. 2.2 erarbeitete Definition von (Lebens-)Orten als multiple, temporäre und translokale Konstellation realisieren: Ein immer schon subjektiviertes Subjekt nimmt eine bestimmte Position im sozialen Raum ein, die jedoch nicht einheitlich ist, sondern quer zu verschiedenen sozialen Feldern liegt und durch verschiedene Kategorien symbolischer Herrschaft reguliert wird. Eine „Biographie“ setzt sich aus mehreren konsekutiv eingenommenen „translocational positionalities“ zusammen, wobei sich von einer eingenommenen Position zur nächsten sowohl die sozialen als auch die geographischen Koordinaten der betreffenden „translocational positionality“ ändern können. Eine biographische Erzählung erfolgt also von einem bestimmten, aber nicht einheitlichen, sondern vielfältigen und in sich brüchigen und widersprüchlichen Punkt im gesellschaftlichen und geographischen Raum aus. Sowohl die aktuelle als auch die vergangenen translocational positionalities werden im Erzählen re-produziert. Mit welchen Instrumenten und Methoden lassen sich nun die in den biographischen Erzählungen her- und dargestellten „translocational positionalities“ als performative Praxis untersuchen? Konkret bieten sich zwei empirische Analysezugänge an: Die im Rahmen der diskursiven Psychologie entwickelte Positionierungsanalyse (vgl. u.a. Bamberg 1997; Davies und Harré 2001; Harré und Lagenhove 1999; Hollway 1984) bietet einen probaten Zugang, um aus den Interviewtexten die vielfältigen, temporär eingenommenen Positionierungen der Interviewpartner/-innen in einem ergebnisoffenen Prozess herauszuarbeiten. Da dieser Ansatz bislang nicht zu dem etablierten Kanon empirisch-geographischer Forschung gehört, wird er unten stehend näher erläutert. Zweitens hat sich auch das in der feministischen Forschung entwickelte Konzept der Intersektionalität für die vorliegende Fragestellung als hilfreich erwiesen. Dies besonders deshalb, weil eine intersektionale Perspektive auf die De-Homogenisierung diskursiv konstruierter Gruppenidentitäten zielt, und sich insofern anbietet, um die sozial konstruierte Gruppe der ‚Muslime‘ analytisch aufzubrechen (vgl. zum
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Konzept aus geogr. Perspektive u.a. Bauriedl et al. 2010; Büchler 2009; Fredrich et al. 2007; Herzig und Richter 2004; Pratt und Hanson 1994; Segebart und Schurr 2010; Valentine 2007; Strüver 5/2010 und 2012). Im Gegensatz zu älteren Konzepten von „double jeopardy“ und Mehrfachdiskriminierung betonen Intersektionalitätsansätze, dass Identitäts- und Differenzkategorien nicht additiv zu verstehen sind, sondern gleichzeitig und verschränkt wirksam werden, wobei sich diese Zusammenhänge und Wirkungen im Laufe der Zeit ändern und verschieben können: „Das Konzept der Intersektionalität kritisiert alle Formen von reifizierender Identitätspolitik […] und vermag die komplexe Durchkreuzung von Herrschaftsverhältnissen im verkörperten Subjekt zu erfassen“ (Strüver 5/2010, 7).13 Im vorliegenden Projekt soll diese Forschungsperspektive daher genutzt werden, um im Anschluss an eine offen gestaltete Positionierungsanalyse gezielt danach zu fragen, welche Dimensionen und Kategorien sozialer Ungleichheiten im Gespräch vielleicht nicht genannt werden, für die jeweilige Positionierung im sozialen Raum und den subjektiven Blick darauf jedoch möglicherweise dennoch relevant sind (Clifford 1999, 266). Es geht also um die Einführung eines „objektivierenden Blicks“ auf das Erzählte. Der von Nina Degele und Gabriele Winker (2007 und 2009) entwickelte Mehrebenenansatz der Intersektionalitätsanalyse liefert in diesem Kontext zusätzliche Anregungen dafür, wie autobiographische Erzählungen auf die Zusammenhänge zwischen sozialen Differenzkategorien, gesellschaftlichen Strukturen und biographischen Ereignissen, Erlebnissen und Positionierungen hin untersucht werden können. Demnach sind die Interviewtranskripte danach zu befragen, wie sich Subjekte über soziale Praxis, „d.h. soziales Handeln und Sprechen“ vermittels temporärer Identitätskonstruktionen in spezifischen sozialen Kontexten selbst entwerfen, und ob und inwiefern sie dabei „den Einfluss bestimmter symbolischer Repräsentationen [stärken oder vermindern] und gesellschaftliche Strukturen“ stützen oder sie infrage stellen (Winker und Degele 2009, 27). 4.4.2. Positionierungsanalyse Positionierungen bezeichnen zunächst allgemein „die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen aufeinander bezogen als Personen her- und darstellen“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004b, 168). In Ergänzung zu der in der biographischen Forschung typischen Frage nach den temporären Aspekten von narrativen Identitätskonstruktionen („Wie bin ich zu
13 Einigen Autorinnen zufolge trifft der Begriff der Interdependenz die ständige innere Verwobenheit von Differenzen besser als die Intersektionalität, die eine nur temporäre Kreuzung von Differenzlinien zu implizieren scheint (Walgenbach 2007, 60f.; Knapp 2008, 138). Ich schließe mich jedoch Winker und Degele (2009, 13) an, die darin nur eine Verschiebung der Benennungsproblematik sehen und daher für den inzwischen etablierten Begriff der Intersektionalität optieren. Für eine kritische Diskussion von Intersektionalitätskonzepten u.a. hinsichtlich ihrer Eigenschaft als „traveling theory“ und der Übertragbarkeit der drei als „Achsen der Differenz“ (Knapp 2003) gehandelten sozialen konstruierten Differenzkategorien „race – class – gender“ vgl. u.a. Knapp (2005); Klinger (2006); Soiland (2008); Davis (2008a), Davis (2008b).
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der/dem geworden, die/der ich heute bin?“) fokussiert eine Positionierungsanalyse die qualitative Dimension narrativer Identitätskonstruktionen. Die Frage „Was bin ich für ein Mensch?“ bzw. „Als was für ein Mensch möchte ich in dieser konkreten Interviewsituation gesehen werden?“ beantworten die Erzähler/-innen dabei entweder explizit über selbstbezügliche Zuschreibungen (z.B. „ich als Muslim“, „für mich als Frau“ oder „Ich bin keine, die Geld verschwendet.“) oder indirekt und implizit, indem sie sich selbst (Selbstpositionierung) in Bezug auf andere Personen (Fremdpositionierung) in einer bestimmten Art und Weise darstellen. Eine Positionierungsanalyse zielt darauf ab, herauszuarbeiten, wie sich die Befragten im sozialen Raum lokalisieren und wie sie sich in Relation zu anderen sozialen Positionen, zu Werthaltungen, Normen, Macht und Wissenssystemen, verorten (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 62). Im Gegensatz zu anderen Autoren/Autorinnen, die Diskurse als „storied resources“ untersuchen, zwischen denen Sprecher/-innen im Moment des Sprechens frei wählen können, fundiert die Forschergruppe um den Psychologen Michael Bamberg ihre Positionierungsanalyse in (poststrukturalistischen) Diskurstheorien. Subjekte werden als durch Diskurse „positioniert“ betrachtet. Diese Diskurse werden im Erzählen als performative Praxis artikuliert und re-produziert. Dabei ist aufgrund der Unentscheidbarkeit und Unabgeschlossenheit des Diskurses sowohl Reproduktion als auch Verschiebung von Sinn denkbar (vgl. Laclau und Mouffe). „Thus, master narratives and dominant discourses constrain and enable the personal construction of meaning in particular, predictable ways, without, however, restricting [i.e. determining MD] the individual’s choice of what to narrate or how to word the account“ (Talbot et al. 1996, 1).
Unter Rückgriff auf die ethnomethodologische Konversationsanalyse, Narrationsanalyse sowie die discoursive psychology entwickelte Bamberg somit ein Instrumentarium, mit dem sich Identitätskonstruktionen als performative Praxis im Sinne Judith Butlers untersuchen lassen (vgl. Bamberg 2003). Positionierungen werden dabei auf drei Ebenen analysiert: •
•
•
Erstens ist danach zu fragen, wie die Erzähler/-innen das erzählte Ich sowie die anderen beteiligten Akteure in der Erzählung zueinander positionieren (Ebene 1 – Positionierung innerhalb des erzählten Ereignisses). Zweitens soll untersucht werden, wie die Erzähler/-innen das erzählte Ich in der Vergangenheit mit Bezug auf das erzählende Ich in der Gegenwart positionieren (Ebene 2 – selbstbezügliche Positionierung). Drittens ist zu analysieren, wie die Erzähler/-innen sich (auch vermittels der Ebenen 1 und 2) in der Erzählsituation selbst mit Bezug auf die Zuhörerin positionieren und umgekehrt (Ebene 3 – Positionierungen und Interaktionen zwischen Erzählern/Erzählerinnen und Zuhörerin)
Mithilfe der Positionierungsanalyse kann ich für meine Analyse mehrere wichtige Überlegungen umsetzen: Erstens kann ich auf der Ebene der erzählten Episoden untersuchen, wie die Interviewten sich selbst sowie andere Interaktionspartner/-innen charakterisieren und wie sie die Beziehungen untereinander beschreiben. Auf dieser
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Ebene ist danach zu fragen, welche sozial etablierten Differenzkategorien in den Erzählungen auftauchen. Werden die Erzähler/-innen z.B. als Mann, als Frau, als Muslim/-a und/oder als Ausländer/-in angerufen und fremd-identifiziert? Und wie positionieren und identifizieren sie sich selber? Nehmen sie diese Anrufungen an oder weisen sie diese zurück? Stellen sie sich in der konkreten Situation als aktive, handelnde Subjekte dar oder beschreiben sie sich als passive „Opfer“? In Anlehnung an Hall (1997, 14ff.) können die entsprechenden Interviewpassagen darüber hinaus danach befragt werden, ob sich die Interviewten mit bestimmten Subjektpositionen tatsächlich identifizieren oder diese als reine Fremdpositionierungen zurückweisen (vgl. hierzu Spies 2010, 148). Artikulieren sich die Befragten nur temporär (strategischpragmatisch) in dieser Position? Oder weisen sie ihr über die konkrete Situation hinaus Gültigkeit für ihr Selbst-Verständnis zu? Zweitens lässt sich durch die Kontrastierung zwischen erzähltem und erzählendem Ich auch die temporäre Dimension narrativer Identitäten untersuchen. Der mehrdimensionale Zugang erleichtert es, verschiedene und auch ambivalente oder widersprüchliche Positionierungen der Erzähler/-innen herauszuarbeiten, um so einem poststrukturalistischen Subjektbegriff gerecht zu werden (vgl. Bamberg 2004, 365; Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 212). Mithilfe der von Brubaker und Hall eingeführten Differenzierungen können die Positionierungen darüber hinaus danach befragt werden, ob sie sich nur auf eine Selbst-Identifizierung beziehen, oder ob auch emotionale und soziale Dimensionen von Zugehörigkeiten angesprochen werden. Durch die Berücksichtigung der dritten Ebene (Positionierungen zwischen Erzähler/-in und Zuhörerin) geraten die konkreten Interaktionen und Interaktionsfolgen in den analytischen Blick. Ein streng sequenzielles Vorgehen unter Berücksichtigung der wechselseitigen Konstitution von Äußerung und Kontext ermöglicht es, die Situiertheit und Kontextabhängigkeit der her- und dargestellten Identitätskonstruktionen methodisch zu berücksichtigen. Zudem erfordert es dieser Zugang, die oft vernachlässigten Einwürfe und Fragen der Interviewerin in die Analyse einzubeziehen (vgl. Kritik bei Pott 2005, 92f.).14 Dies wurde durch eine konsequente Analyse der interaktiven Sequenzen umgesetzt (vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 193ff.). Zuletzt, und dies ist mindestens ebenso wichtig wie die oben genannten Punkte, verfolgt eine Positionierungsanalyse wie sie von Talbot et al. (1996) entwickelt wurde auch explizit das Ziel, biographische Erzählungen und Identitätskonstruktionen hinsichtlich ihrer „affirmation and resistance of dominant discourses“ zu untersuchen. Somit eignet sich dieser methodische Ansatz, um die hier vorliegenden Interviewtranskripte konkret daraufhin zu befragen, wie sich die autobiographischen Erzähler/-innen im Kontext der in Kap. 3 skizzierten hegemonialen Diskurse über Zuwanderung, Religion und Zugehörigkeit artikulieren und positionieren. Entsprechende Auseinandersetzungen finden sich nach Talbot et al. besonders in den Interviewpassagen, in denen sich die Erzähler/-innen auf normative und/oder
14 In den folgenden wörtlichen Zitaten wurden nur die nicht sinngebenden Einwürfe der Interviewerin zugunsten einer besseren Lesbarkeit gekürzt. In den Zusammenfassungen und der übergreifenden Analyse werden Fragen und Einwürfe dagegen nur dann zitiert, wenn sie eine deutliche Lenkungsfunktion hatten und/oder sich auffällige Diskrepanzen zwischen Frage und Antwort abzeichneten.
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moralische Regeln beziehen bzw. ihre Aussagen dahingehend einordnen und rahmen, was „wahr“ ist, und wie die „Realität“ aussieht (Talbot et al. 1996, 4f.). Dies geschieht häufig dort, wo – evoziert unter anderem durch den erzählerischen Detaillierungszwang – das eigene Tun, die getroffenen Entscheidungen oder die eingenommenen Positionen begründet und erklärt werden. Wie sich Interviewpartner/-innen innerhalb von hegemonialen Diskursen artikulieren (durch die sie selbst subjektiviert und positioniert wurden und werden; vgl. Bamberg 2004, 367), lässt sich folglich untersuchen, indem erstens die argumentativen Passagen eines Interviews detaillierter analysiert werden. Zweitens können in dieser Hinsicht aber auch die beschreibenden, „weltkonstruierenden“ Abschnitte der Erzählungen von Interesse sein. In meinen Einzelfallanalysen habe ich daher die Interviewtexte zunächst nach Textsorten segmentiert (s.u. Exkurs), um dann in einem zweiten Schritt, u.a. mithilfe des Argumentationsschemas nach Toulmin, die in den argumentativen Passagen auftauchenden Thesen, Prämissen, Schlussregeln und Vorkonstrukte zu analysieren. Somit konnte ich mich den komplexen Deutungsmustern der Erzähler/-innen annähern (vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 249-256, Felgenhauer 2009). Exkurs: TEXTSORTEN Anders als es der Begriff des „narrativen Interviews“ nahelegt, präsentieren die Befragten selbst in rein narrativ angelegten Interviews nicht alle Informationen in Form von Erzählungen im engeren Sinne. Vielmehr lassen sich immer Passagen finden, die unterschiedliche sprachliche Formen und Funktionen im Kommunikationszusammenhang einnehmen: „Der Informant gibt Auskunft über Sachverhalte, beschreibt Lebensumstände oder Gefühle, bewertet Dinge, Personen, Situationen und Aktionen, erklärt Entscheidungen, rechtfertigt oder entschuldigt seine Handlungsweisen, entfaltet Theorien über die Welt und sich selbst […]. Gelegentlich wird er auch von Abläufen in einer Weise berichten, die wir nicht als eine persönliche Erlebniswiedergabe erkennen.“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 141)
Im Rahmen von erzählten Lebensgeschichten (dem „narrativen Gesamtzusammenhang“; Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 143) wird zwischen drei zentralen Textformen differenziert: Erzählen, Beschreiben und Argumentieren (vgl. auch Schütze 1987). Diese Textformen können nach formal-linguistischen Kriterien („Erkennungsmerkmalen“) unterschieden werden. Für die hier vorliegende Fragestellung von größerer Bedeutung ist jedoch die Unterscheidung der Textformen nach ihrer Funktion im Kontext der sprachlichen Interaktion. Denn gerade episodische Erzählungen werden häufig genutzt, um eine bestimmte Haltung und Weltsicht zu begründen, oder aber auch, um zu beschreiben, wie man sich selbst sieht und/oder von der Zuhörerin gesehen werden möchte (narrative Identität), ohne dabei auf explizite Charakterisierungen zurückgreifen zu müssen. A) Erzählen „ist die eigentliche diachrone Darstellungsform: Es bezieht sich auf die Wiedergabe einer Ereignisabfolge [in] der Vergangenheit“ Es dient „der Darstellung eines Wandels mit dem Auftreten von Akteuren, die in bestimmten Situationen Handlungen vollziehen.“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 145, Herv. i.O.)
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Erzählungen, die sich auf temporale Veränderungen beziehen, können eine szenisch-episodische, berichtende oder chronikartige Form aufweisen. Während chronikartige Textpassagen unterschiedliche Ereignisse mehr oder weniger unverbunden aufzählen, wird in berichtenden Passagen die Lebensgeschichte zusammenfassend-retrospektiv, jedoch als Ereignisabfolge mit Zusammenhang und Entwicklungsdynamik dargestellt. Die „Vollform“ des szenisch-episodischen Erzählens dagegen ist durch eine Re-Inszenierung des Geschehens sowie eine dramatisierende Form der Darstellung aus der Perspektive des Erlebniszeitpunktes gekennzeichnet. Die typische Binnenstruktur einer Erzählung besteht aus einer Einleitung (abstract, Ankündigung), einer Orientierung (Präsentation des Settings, von Ort, Zeit und Umständen der Handlung), gefolgt von der Komplikation (eigentliche Handlung). Am Schluss steht meist ein Resultat (Ergebnis) sowie häufig eine Coda, in der eine abschließende Evaluation, Verallgemeinerung oder Erklärung präsentiert wird. Als Schlüsselerzählungen werden episodische Schilderungen bezeichnet, die „gesamtbiographisch bedeutsame Ereignisse oder Erfahrungen wiedergeben und Erfahrungsprozesse oder Selbstdeutungen in kondensierter Form auf den Punkt bringen“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 135). B) Beschreiben „bezieht sich […] auf die Darstellung von ‚Welt‘, seien es Personen, Situationen, Räume Milieus, Landschaften oder Gefühle, die keine Veränderung thematisiert, sondern quasi ein Bild evoziert.“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 143) Beschreibungen vermitteln einen Einblick in die Art und Weise, wie der oder die Erzähler/-in Wirklichkeit konstruiert. Sie können eigenständige Textpassagen bilden, werden jedoch oft auch in den Orientierungsteil einer Erzählung eingebettet. Beschreibungen werden häufig mit expliziten oder impliziten Bewertungen (Rahmungen) verbunden. Oft werden die beschriebenen Gegenstände auch kontrastiert. In den von mir geführten Interviews war es z.B. sehr auffällig, dass Beschreibungen von sozialen Beziehungen, gesellschaftlichen Normen und ganz allgemein der Lebenssituation an einem Ort (z.B. in Deutschland) häufig mit den entsprechenden Verhältnissen an einem anderen Ort (z.B. in Marokko) verglichen, kontrastiert und somit charakterisiert wurden. C) Argumentieren ist eine „geltungskritische“ Sprechpraxis (Kopperschmidt 1989, 9). Sie beinhaltet „alle verbalen Aktivitäten, die der Erzähler einsetzt, um die Akzeptabilität eines Standpunktes, den er einnimmt, für die Zuhörerin zu steigern“ oder um die Akzeptabilität eines Standpunktes, den er ablehnt, zu schwächen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 162). Da in Argumentationen versucht wird, „mithilfe eines kollektiv Geltenden etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen“ (Klein 1980, 19), beziehen sich die Sprecher mit ihren Argumentationen i.d.R. auf gemeinsam geteilte Wissensbestände und Wirklichkeitsannahmen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 163). Diese liegen der Argumentation häufig als Schlussregel (Backing) zugrunde. Mithilfe einer Schlussregel kann von einem Argument (data) auf eine These (claim; Konklusion) geschlossen werden. Im Gegensatz zu Argumenten oder Thesen werden die Schlussregeln des Gesagten in alltäglichen Argumentationen jedoch häufig nicht expliziert, sondern als geteiltes Wissen stillschwei-
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gend vorausgesetzt (vgl. Felgenhauer 2009, 266-271). Ihre Rekonstruktion kann daher nur interpretativ aus dem Gesagten abgeleitet werden. Dies gilt bei mündlichen Stegreif-Formulierungen noch einmal deutlich stärker als bspw. bei der Analyse von Medientexten (vgl. hierzu Husseini de Araújo 2011, 114f. zur poststrukturalistischen „Übersetzung“ der Argumentationsanalyse und zur Abhängigkeit der Ergebnisse von den eigenen sozialen und diskursiven „Verstrickungen“ des Analysierenden). Im Kontext eines narrativen Interviews erfolgt eine Argumentation meist monologisch, weil die Interviewerin den Interviewten in der Regel nicht explizit widerspricht. Der streitbare ‚Gegenpart‘ in solchen im Moment des Sprechens unwidersprochenen Argumentationen können einerseits „reale“ Akteure sein. Dies z.B. wenn der/die Erzähler/-in von einer konkreten, in der Vergangenheit erlebten Auseinandersetzung berichtet. Ziel ist es dann, der Zuhörerin den damaligen und/oder aktuellen Standpunkt in dieser Streitfrage zu vermitteln. Eine zweite Möglichkeit stellt jedoch die im Gesprächskontext auftauchende argumentative Auseinandersetzung mit antizipierten Einwänden, Kritikpunkten oder Meinungsäußerungen dar. Genau an diesen Auseinandersetzungen mit „fiktiven“ Gegenpositionierungen setzen auch Talbot et al. im Rahmen ihrer Positionierungsanalyse an (s.u.). Talbot et al. (1996) interessieren sich u.a. dafür, ob in autobiographischen Erzählungen Gegenpositionen konstituiert werden. Mit Judith Butler fragen sie danach, ob in den performativen Sprechakten „subversive Resignifikationen“ vorgenommen werden (vgl. Kap. 2.1.5). Solche Auseinandersetzungen mit hegemonialen Deutungsmustern und Diskursen lassen sich, wie oben dargestellt, vor allem in den argumentativen Passagen der Interviewtexte finden. Sie werden in den Transkripten jedoch auch dort sichtbar, wo Sprecher/-innen sich gegen die Gefahr möglicher Missverständnisse wenden. So lassen sich immer wieder Abschnitte finden, in denen sich die Sprecher/-innen von Erwartungen und Vorverständnissen abgrenzen, die „so dominant sind, dass sie sich als konkurrierende Deutungsangebote quasi in die eigentliche Äußerung ‚hineinschleichen‘“ (Mattissek 2008, 139). Innerhalb der entsprechenden Aussagen tritt ein Effekt auf, der nach Oswald Ducrot (1984) als „Mehrstimmigkeit“, oder „Polyphonie“ bezeichnet werden kann.15 Die betreffenden Partien lassen sich identifizieren, indem gezielt nach polyphonen Markern gesucht wird. Dies sind all jene Verbindungswörter („vielleicht“, „wahr“) oder verneinende Konnektoren und Partikel („aber“, „nicht“, „sondern“ ,„nie“, „un-“), mit denen unterschiedliche Aussageteile (Sprecherperspektiven – Enunziatoren) von dem/der Sprecher/-in (Lokutor) orchestriert und auf unterschiedlicher Distanz gehalten werden (vgl. Angermüller 2007, 129 und 145; Mattissek 2008, 138ff.). Aufgrund der Besonderheiten der gesprochenen Sprache, die interpretationsbedürftige elliptische Sätze, grammatikalisch falsche Konstruktionen, Einschübe und Wiederholungen aufweist, erscheint eine formvollendete linguistische Polyphonie-
15 Vgl. Nossik (2010) zu Bachtins alternativem, wenn auch ähnlich gelagertem Konzept des „dialogisme“, das ihr für eine sozialwissenschaftliche Fragestellung eher geeignet scheint als der bei Bachtin stärker literarisch angelegte Polyphoniebegriff.
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analyse, wie sie von Angermüller (2007) entwickelt und von Mattissek (2008) in die geographische Forschung eingeführt wurde, im vorliegenden Fall nicht als zielführend. Dennoch erweist sich ein solcher Ansatz grundsätzlich als hilfreich. Denn über die Suche nach Polyphoniemarkern lassen sich diejenigen Abschnitte und Stellen identifizieren, die sich für eine Feinanalyse besonders gut eignen. In den entsprechenden Passagen kann der von Hall aufgeworfenen Frage nachgegangen werden, wie und warum bestimmte Subjektpositionen im (Islam-)Diskurs eingenommen werden. Indem zwischen einem sprechenden Subjekt (Lokutor) und der Vielfalt von Subjektpositionen, die dieses Subjekt im Sprechen einnehmen kann, unterschieden wird, lässt sich auch in der Empirie berücksichtigen, dass, nach Butler, performative Äußerungen nie letztursprünglich auf den oder die Sprecher/-in als Urheber/-in zurückgeführt werden können, sondern sich die Subjekte umgekehrt erst in der und durch die Artikulation im Diskurs konstituieren (vgl. Kap. 2.1.2). 4.4.3. Vorgehen bei der empirischen Analyse I) Sequenzierung und Kurzbiographien: Zunächst habe ich alle Interviews nach formalen und inhaltlichen Kriterien in längere zusammenhängende Sequenzen eingeteilt (Grob-Sequenzierung). Diese wurden in MaxQDA inhaltlich codiert. Auf der Grundlage dieser ersten Textdurchsicht habe ich für alle Interviewteilnehmer/-innen Kurzbeschreibungen erstellt, die die wichtigsten Informationen zur Biographie und den weiteren zentralen Interviewthemen enthielten. Dieser erste Codierungsdurchlauf diente zum einen als Grundlage für die fallübergreifende thematische Codierung nach Flick, die ebenfalls mithilfe von MaxQDA durchgeführt wurde (vgl. Abb. 15 unten). Zum anderen konnte ich anhand der Kurzbeschreibungen drei möglichst kontrastierende und komplementäre Interviews für die Einzelfallanalyse auswählen. II) Bei den drei Einzelfallanalysen habe ich mit den ausgedruckten, mit Kommentarspalten versehenen Interviewtranskripten gearbeitet. Die Analyse erfolgte in drei Schritten: •
Formale Analyse: In einem ersten Schritt wurde nach formal-linguistischen Kriterien gearbeitet, um so die formalen Spuren aufzudecken und zu analysieren, „die die spezifischen Verbindungen von Texten und Kontexten organisieren“ (Mattissek 2008, 131). Zum einen wurden dabei alle Textsorten nach Funktion gekennzeichnet. Die heuristischen Fragen „Was wird dargestellt? Wie wird es dargestellt? Warum wird es hier so dargestellt?“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 179ff.) dienten der Identifizierung der Textsorten und lieferten gleichzeitig eine Grundlage für weitergehende Interpretationen. Zum anderen habe ich in diesem ersten Schritt nach Negationen, Konjunktionen sowie anderen möglichen Markern für Polyphonie gesucht. Die Interviewpassagen, in denen sich die Befragten in Bezug auf das „erzählte Ich“ positionieren (z.B. indem sie eine vergangene Handlung aus heutiger Perspektive bewerten oder auf einer Metaebene rahmen und kommentieren), wurden ebenfalls farblich markiert. Auch deiktische Partikel, also Zeigewörter wie „hier“, „dort“, „jetzt“, „damals“, die das Gesprochene in Raum und Zeit verorten, wurden als Hinweise auf die translokalen Positionierungen der Sprecher/-in farbig gekennzeichnet (vgl. Angermüller 2007,
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142). In Form von Memos und Randnotizen wurden erste auffällige Deutungsschemata, Argumentationsmuster und Differenzkategorien notiert. Abbildung 15: Vorgehen bei der empirischen Analyse
Quelle: Eigene Abbildung, © M. Didero
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Paraphrasierung: In einem zweiten Schritt habe ich eine sequenzielle und zusammenfassende Paraphrase des gesamten Interviewtextes erstellt. Abweichend z.B. von der bei Degele und Winker (2009) konzipierten intersektionellen Mehrebenenanalyse wurde die Paraphrasierung offen erstellt. Eine erste theorieund konzeptgeleitete Fokussierung habe ich erst im Anschluss vorgenommen. In diesem Schritt wurden Text und Paraphrase danach befragt: − − −
Welche temporären Aspekte der Identitätsdarstellung lassen sich finden? Welche selbstbezüglichen Aussagen machen die Personen über sich? (Wer bin ich? Wie möchte ich gesehen werden?) Welche sozialen Dimensionen werden angesprochen? (Mit wem identifiziere ich mich? Welche Zugehörigkeiten werden wie formuliert?)
Erst nachdem auf diese Weise ein umfassendes Bild der unterschiedlichen Positionierungen entstanden und die Vielfalt narrativer Identitätsdimensionen aufgefächert worden war, habe ich in einem weiteren Schritt explizit nach den im Interview benannten Differenzlinien gesucht und danach gefragt, welche der vier von
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Winker und Degele (2009, 53) deduktiv abgeleiteten Kategorien symbolischer Herrschaft (Rassismus, Klassismus, Heteronormativität und Bodyismus) in welcher Form angesprochen werden. Wie die beiden Beispiele von Raif und Majida zeigen werden, erwies sich gerade die Frage danach, welche dieser Dimensionen nicht explizit angesprochen wurden, als hilfreich, um den „blinden Fleck“ (Bourdieu 1997c, 791) der am Interview Beteiligten offenzulegen (vgl. Winker und Degele 2009, 82). Dies war somit ein wichtiger Schritt, um die Erzählungen hinsichtlich der Positionen der Erzähler/-innen in einem objektivierten Raum sozialer Differenzen zu verorten. Detailanalyse: Auf der Grundlage der bis dahin durchgeführten Analyseschritte habe ich zuletzt zentrale Sequenzen für eine detaillierte Analyse ausgewählt. Hierzu gehörten erstens die im ersten Schritt identifizierten Schlüsselerzählungen sowie andere episodische Narrationen. Zweitens galt es, die argumentativen und polyphonen Passagen näher zu untersuchen, in denen sich die Interviewpartner/-innen auf übergreifende Erklärungsmuster, Normen, Werte und Diskurse bezogen. Von besonderem Interesse waren darüber hinaus Abschnitte, in denen die Befragten über ihre Konzepte von (raumbezogener) Zugehörigkeit sprachen oder auf Kategorien sozialer Unterschiede zur Selbst- und Fremdidentifizierung zurückgriffen. Für diese Passagen wurden die im ersten Schritt durchgeführten und auf der Mikroebene ansetzenden Analysen sprachlich-kommunikativer Verfahren ausgeweitet und vertieft. Hier kam der von Lucius-Hoene und Deppermann (2004, 213-270) entwickelte „Werkzeugkasten“ zur Analyse von a) Beschreibungen (Deiktika, Pronomina, Negationen, Vagheit, Kategorisierungen) b) Erzählungen, Stimmen und Perspektiven (Positionierungen mittels Modifizierung, Rahmung und Bewertung sowie metanarrative Kommentare) und c) Argumentationen (modifizierter Analyseansatz nach Toulmin) zum Einsatz. Mithilfe der Erkenntnisse aus diesem letzten Analyseschritt wurden die Ergebnisse aus der zweiten, fokussierten Paraphrase (zentrale Dimensionen narrativer Identitäten und symbolischer Herrschaft) zuletzt ergänzt, überarbeitet oder korrigiert.
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Narrative Identitäten
Die folgenden Darstellungen der Einzelfallanalysen beginnen mit einer Kurzbiographie, die dem Leser einen ersten Überblick und Einstieg in die Falldarstellung ermöglicht. Es folgt die Analyse der Einstiegsequenz, die als Antwort auf die Frage nach der jeweiligen Lebensgeschichte eine erste grundlegende Positionierung in Bezug auf die Zuhörerin liefert und zentrale Aspekte des biographischen Werdegangs wiedergibt. Im Anschluss wird eine Auswahl der detaillierter analysierten Sequenzen vor- und dargestellt. Abgeschlossen werden die Darstellungen durch eine Zusammenschau der zentralen Dimensionen der in den Interviews konstruierten narrativen Identitäten unter besonderer Berücksichtigung der relevanten Kategorien symbolischer Herrschaft und der im Interview angesprochenen Dimensionen von Zugehörigkeiten und Raumkonstruktionen. Im Gegensatz zu den Zitaten in Kap. 6, die zum Zweck besserer Lesbarkeit sprachlich leicht geglättet wurden (ohne jedoch den grundlegenden Charakter bzw. das Sprachniveau des oder der Befragten zu nivellieren), wurden die folgenden Interviewausschnitte wortwörtlich aus den Transkripten übernommen, um so analytisch an den einzelnen Formulierungen, der Wortwahl und den sprachlichen Konstruktionen ansetzen zu können. Ebenfalls wiedergegeben werden die im Rahmen der Analyse vorgenommenen Markierungen der sprachlich-kommunikativen Verfahren:
TRANSKRIPTIONSREGELN:
HERVORHEBUNGEN BEI ANALYSE:
(.) =
kurze Pause
Rahmungen, Bewertungen (Meta-Kommentare)
(..) =
mittlere Pause
Kontraste, Negationen (Polyphonie)
(…) = längere Pause
Modalisierungen (Perspektive auf Erzähltes)
#=
Argumentationen
abgebrochener Satz
Äh::: = Dehnung
Hervorhebung Deiktika: Kursiv
Mhm = Zustimmung
Hervorhebung Polyphoniemarker
GROSS = auffällige Betonung
[…] Kürzungen (MD)
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5.1. AMAL : „I CH WAR
NICHT ZUFRIEDEN , WIE ICH GELEBT HATTE “
Kurzbiographie Amal1 ist Anfang 20 und bereitet derzeit am Abendgymnasium ihr Abitur vor. Ihr Vater ist in einem Dorf in der Provinz Nador im Nordosten Marokkos geboren worden. Mit seinen Eltern zog er später nach Tanger. Von dort kam er Ende der 1960er Jahre als Gastarbeiter nach Bonn. Amals Mutter kommt aus einer arabischsprachigen Familie in Tanger, während der Vater in seiner Herkunftsfamilie Tarifit spricht.2 In Bonn sprechen die insgesamt sieben Geschwister hauptsächlich Deutsch oder Arabisch. Außer der ältesten Schwester wohnen sie alle bei den Eltern im Bonner Stadtteil Bad Godesberg. Nach ihrem Hauptschulabschluss hat Amal eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation begonnen. Diese musste sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben – sie erzählt unter anderem von mehrfachen Knieoperationen. Nach einer kurzen Pause, die sie mit Mini-Jobs überbrückte, hat sie sich ein halbes Jahr vor dem Interview beim Abendgymnasium angemeldet. Während ihrer beruflichen Auszeit hat sie begonnen, sich stärker für ihre Religion zu interessieren. Seitdem trägt sie auch ein Kopftuch. Ihr derzeitiges Ziel ist es, allen Gesundheitsproblemen zum Trotz das Abitur zu schaffen. Wenn möglich, möchte sie im Anschluss studieren, wobei ihr derzeit Medizin und BWL als erstrebenswerte Fächer erscheinen. 5.1.1. Ansprache, Interviewsituation und Einstiegserzählung Vermittelt wurde der Interviewtermin mit Amal durch eine Bonner Bildungs- und Beratungsinstitution. Amal nimmt dort einmal in der Woche das Angebot zur Nachhilfe wahr. Das Interview fand im Mai 2010, direkt im Anschluss an ihre wöchentliche Nachhilfestunde in einem zur Einrichtung gehörenden ruhigen, kleinen Besprechungsraum statt. Aufgrund des etwas verzögerten Beginns und da sie gleich im Anschluss einen weiteren Termin hatte, brachen wir das erste Interview nach einer halben Stunde ab, um die verbleibenden Fragen in einem zweiten Gespräch in Ruhe zu klären. Das Folgegespräch, eine Woche später, dauerte eine gute Stunde. Insgesamt fand das Interview in einer sehr offenen, freundschaftlichen Atmosphäre statt. Da das Interview der erste persönliche Kontakt war, erklärte ich zunächst ausführlich mein Forschungsinteresse. Ich bot Amal an, dass wir uns duzen können. Sie willigte ein, pendelte allerdings während des Gesprächs, vielleicht aufgrund des von ihr wahrgenommen Altersunterschieds, zwischen Du und Sie. Während ich die einleitende Erzählaufforderung formulierte, signalisierte sie mir mit Nicken, „ok“, und leichtem Lachen ihr Verständnis und generelle Erzählbereitschaft. Um ihr den Einstieg zu erleichtern, formulierte ich die Einstiegsfrage spontan
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Da die meisten der Interviewpartner/-innen sich mit Vornamen vorstellten und mich viele auch spontan duzten, habe ich für diese Arbeit Vornamens-Pseudonyme ausgewählt. Wie viele Interviewpartner/-innen spricht Amal im Deutschen von „Berbisch“. Linguistisch gesehen handelt es sich bei den Berber-Dialekten um eine Sprachfamilie (vgl. hierzu Kap. 6.3). Aufgrund der Herkunft von Amals Familie ist hier davon auszugehen, dass mit „Berbisch“ das nordmarokkanische Tarifit gemeint ist.
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um und bat sie, ihre Lebens- und Familiengeschichte zu erzählen und dabei z.B. damit anzufangen, wie ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind. Sie ging bereitwillig auf diese Aufforderung ein und fing sofort zu erzählen: „Gut. Also, ehm, mein Vater kam hier, hm, als Erstes. Ähm, (.) soweit ich weiß, war das so, dass hier hm, nach dem Aufbau, also während dem Aufbau viel Hilfe gebraucht wurde. Und dann kam er eben hier hin. Und dann hat er hier erst einmal ehm, acht Jahre alleine gelebt, nur mit Freunden und die mit ihm gekommen sind, von Marokko. Und ähm, irgendwann mal, ja hat der sich alleine gefühlt und ähm, ist dann zurück, äh, nach Marokko geflogen. Und hm, er hat sich ne Frau gesucht, hat dann meine Mutter geheiratet, auch da in Marokko. Dann kam er alleine zurück und musste hier dann den Papierkram erledigen, damit er sie hierhin holen kann. Hm, (.) ja, und dann hat er meine Mutter hier hingebracht. Und das ist jetzt ähm:: ungefähr, ähm, 35 Jahre her. (..)“
Inhaltlich steigt Amal genau so in das Gespräch ein, wie es durch die Frage vorgegeben ist: mit der Zuwanderung ihrer Eltern, wobei sie in chronologischer Ordnung mit der Ankunft ihres Vaters in Deutschland beginnt. Die gesamte Einstiegserzählung ist in der für narrative Interviews typischen Form der berichtenden, d.h. zusammenfassend-retrospektiven Darstellung (28Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 153) gehalten, in die begründende und beschreibende Teile eingelassen sind. Nachdem der erste Satz die Zuwanderung des Vaters als Fakt beschreibt, folgt eine Begründung, die – markiert durch Modularisierung „soweit ich weiß“ – eine deutlich distanziertere Perspektive einnimmt und einen geringeren Gewissheitsgrad aufweist. Auffällig ist hier, dass sich die Begründung nicht auf die persönlichen Beweggründe bezieht, die den Vater zur Migration bewogen haben mögen, (die ihr vielleicht auch nicht bekannt sind). Stattdessen schildert Amal die Migration als Resultat eines „hier“, d.h. in Deutschland, ihrem aktuellen Sprechstandort, vorliegenden Bedarfes, der das Kommen des Vaters zur Konsequenz hatte: „dann kam er eben hier hin“. Ähnlich wie im hegemonialen Diskurs über die Gastarbeiteranwerbung werden hier individuelle Akteure und ihre Handlungsmotivationen ausgeblendet: Die Migration ist eine zwangsläufige Folge einer ökonomischen Bedarfslage. Durch diese Einordnung beschreibt Amal die Migration ihrer Familie als eine Form von Hilfeleistung, die für den Aufbau der zuvor kriegsbedingt zerstörten deutschen Wirtschaft gebraucht wurde. Somit positioniert sie ihren Vater in einem unausgesprochenen Gegensatz zu Darstellungen von Migranten als unnötigen Flüchtlingen, illegalen Einwanderern oder Sozialschmarotzern.3 Im folgenden Abschnitt schildert Amal die Familiengründung des Vaters. Die Begründung der Heiratsentscheidung gründet dabei auf der Prämisse, dass die Existenz von Freundschaften nicht ausreichend ist, um sich nicht einsam zu fühlen. An
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Nicht uninteressant ist, dass eine sehr ähnliche Darstellung einer marokkostämmigen Einwohnerin in der Stadtteilzeitung von Setterich im Jahr 2012 heftigen Widerspruch eines deutschstämmigen Einwohners hervorrief. In seinem Leserbrief bestand er darauf, dass der Wiederaufbau eine „rein deutsche“ Sache gewesen sei. Die Gastarbeiter seien erst geholt worden, als der Aufschwung schon realisiert worden wäre – sie könnten sich diese Leistung also nicht anrechnen.
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dieser Stelle wird also ein Gegensatz konstruiert zwischen dem Leben als Single (alleine leben, potenziell einsam) und dem Leben als verheirateter Mann (mit Frau und ggf. Kindern leben, nicht mehr einsam sein). Dieser Gegensatz lässt eine Heirat als eine logische Konsequenz und notwendige Handlungsoption erscheinen. Neben den heteronormativen Denk- und Handlungsmustern, die dieser Argumentation zugrunde liegen (vgl. Winker und Degele 2009, 45), zeigt die reihende Schilderung (Bedürfnis, Suche, Heirat, Nachholen) auch eine sehr pragmatische und rationale Sicht auf die Heirat als gesellschaftliche Institution, die einer romantisierenden Idealisierung von Liebesheiraten als Produkte von Zufall oder Schicksal diametral entgegensteht. Amal beendet den ersten Erzählabschnitt – Familiengeschichte – mit einer chronikartigen Vorstellung ihrer Eltern und Geschwister: „Und hm, ja, und dann kam ich und meine sechs anderen Geschwister langsam zur Welt. (beide lachen) Und ähm, ja, wir sind alle, also ich und alle meine Geschwister – ich habe noch sechs andere – wir sind hier geboren. Und ähm, ja mein Vater ist Maurer4 und meine Mutter ist Hausfrau. Macht manchmal so nebenbei irgendwelche Jobs, aber ähm, (.) nichts Großartiges. Und äh::, ja. Wir haben alle, (.) alle sieben Kinder jetzt, die deutsche Schule besucht. Ähm, es gibt ja auch so andere Schulen hier, z.B. in Bad Godesberg, aber wir haben hier alle die ganz normale besucht. Und, ähm, ja. Keine Ahnung. Hm (..).“
Auffällig in diesem Abschnitt ist die durch die Wiederholung erzeugte Betonung des Umstands, dass alle Kinder der Familie in Deutschland geboren wurden. In anderen Familien beschreiben die Geschwister die Unterschiede zwischen in Deutschland und in Marokko aufgewachsenen Kindern als deutlich wahrnehmbare Differenzlinie. In Amals Familie dagegen wurden alle Geschwister in einem ähnlichen Umfeld sozialisiert. Amal betont ebenfalls, dass sie und ihre Geschwister „die deutsche“, Schule besucht hätten. Sie unterstreicht so die ‚Normalität‘ ihrer Schullaufbahn. Wozu diese Normalität in Kontrast gesetzt wird, deutet sie nur an. In Bad Godesberg gab es zum Interviewzeitpunkt zwei bekannte ‚nicht deutsche‘ Schulen: zum einen eine französische Schule (die für Amal und ihre Familie mangels Sprachkenntnissen kaum in Betracht gekommen wäre) und zum anderen die arabischsprachige „König-FahdAkademie“. Dies ist eine 1995 gegründete Privatschule, die nach dem saudiarabischen Lehrplan unterrichtet und 2003 aufgrund des Vorwurfes radikaler Lehrinhalte in die Schlagzahlen geraten war.5 Meine erste Nachfrage, auf welcher Schule sie genau war, beantwortet Amal indem sie auf die mehrfachen Umzüge ihrer Familie verweist, die dazu führten, dass ihre älteste Schwester eine andere Grundschule besuchte als sie und die jüngeren Ge-
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Dies ist als eine für marokkanische Gastarbeiter in Deutschland typische Beschäftigung einzustufen (vgl. Kap. 4.1). 1972 arbeitete fast jeder Dritte im Baugewerbe (Bonnet und Bossard 1973, 30). Vgl. Rasche (23.06.2004). Bis 2003 besuchten nicht nur Diplomatenkinder, sondern auch viele deutsche Kinder (u.a. aus Zuwandererfamilien) diese Schule. Amal grenzt sich mit ihrer Aussage somit indirekt von Familien ab, die explizit wegen dieser arabischsprachigen Schule nach Bad-Godesberg gezogen waren und präsentiert sich so in Einklang mit deutschen Normalitätserwartungen.
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schwister. Auch die Wahl der weiterführenden Schulen erklärt sie durch die räumliche Nähe: Sie hätte die neben der Grundschule liegende Hauptschule besucht, ihr Bruder dann die Realschule, „die direkt daneben ist“. Nicht expliziert wird dagegen die Wahl der jeweiligen Schulart. Auch ihre Erlebnisse in der Schulzeit gehen nicht in die Erzählung ein. In einem Nachsatz zu diesem Abschnitt resümiert sie stattdessen: „Bis jetzt nicht sehr viel Schulerfahrung gehabt, so von meinen Geschwistern her, oder so“. Mit dieser zusammenfassenden Bewertung aus heutiger Perspektive rahmt Amal die darauf folgende Darstellung ihrer Schul- und Berufslaufbahn: „Ich habe direkt nach der Hauptschule, habe ich in der Hauptschule, mein, äh, Qualifikation bekommen. Und dann habe ich eine Ausbildung gemacht, anderthalb Jahre als Kauffrau für Bürokommunikation. Ich musste die aber dann abbrechen, aus gesundheitlichen Gründen. Und, äh, dann habe ich nen halbes Jahr lang so ähm, so nen Job ähm, Mini-Job gemacht, und, äh (..) einfach nur Geld verdient. Weil ich hatte auch Geld-, Geldprobleme danach. Und äh, danach hatte ich mich beim Abendgymnasium angemeldet. Das war jetzt vor, ähm, einem halben Jahr ungefähr. (..) Wurde angenommen und seitdem mach ich jetzt mein Abi. Ich möchte mein volles Abi (.) machen. MD: Mhm. (beide lachen) A: Das wars, ich bin einundzwanzig (lacht). Ja, deswegen. Ja, (..) das strebe ich an.“
Durch die Negation „nicht sehr viel Schulerfahrung“ identifiziert sich Amal zunächst als Schülerin, die „bis jetzt“ noch nicht viel Erfahrung gesammelt hat. Der Nachsatz „so von meinen Geschwistern her“ deutet an, dass ihre Geschwister ihr in dieser Hinsicht kein Vorbild oder Beispiel sein können, sie also ihren Weg, den sie im Folgenden schildert, eigenständig gehen musste. Auffällig ist, dass Amal weder die Wahl ihres Ausbildungsberufs, noch die jetzt neu getroffene Entscheidung für ein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg begründet. Die Wahl ihres Ausbildungsberufs entspricht jedoch in etwa den Aspirationen ihrer Schwestern, von denen eine gerade eine Ausbildung zur Erzieherin macht und die andere Zahnmedizinisch-Technische Assistentin gelernt hat. Der Abbruch ihrer Ausbildung dagegen erscheint ihr erklärungsbedürftig. An dieser Stelle zitiert sie nur sehr vage „gesundheitliche Gründe“; später im Gespräch spricht sie von Knie-Operationen. Diese Andeutung reicht jedoch bereits aus, um ihre Entscheidung für die Zuhörerin nachvollziehbar zu machen, ohne dass Amal sich im Detail über ihren Gesundheitszustand auslassen müsste. Sie positioniert sich in diesem Punkt als jemand, der aufgrund höherer Mächte gezwungen wurde, diese Entscheidung zu treffen. Sie vermeidet es Verantwortung für diesen Fehlschlag zugewiesen zu bekommen, indem sie alternativ denkbaren Gründen für einen solchen Abbruch, wie z.B. fehlende Motivation, zu geringe Leistungen oder Probleme mit dem Arbeitgeber zuvorkommt. Auch die folgende Phase, in der sie „einfach nur Geld verdient“, wird mit der sehr vagen Formulierung „Geldprobleme“ begründet. Eine nähere Erläuterung erhalte ich im zweiten Interviewteil, als ich sie frage, wo sie derzeit arbeitet. Hierauf folgt eine argumentative Sequenz, in der Amal sich mit den – in ihren Augen von ihr nicht erfüllten – gesellschaftlichen Erwartungen Schülern gegenüber auseinandersetzt: A: „Ach, so ja (lacht). Ja, also ich besuche ja die Schule. Und, äh, (.) hab ja ganz normal vollen Stundenplan und deshalb BRAUCHE ich eigentlich nicht zu arbeiten. Aber äh, – weil ich bin ja im Kolleg. Deswegen. Aber ich arbeite. (.) Ich hab noch nen Minijob, wegen Geldproblemen
140 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT und so. Ähm, in der Kfw-Bank. (.) Ist aber auch nur eine Reinigungskraft MD: Ja. A: Also als Reinigungskraft in der Kfw-Bank (…)“ MD: „Ja gut, das machen also inzwischen glaube ich viele Schüler so nebenbei noch mal. Dafür sind die Minijobs ja auch ganz praktisch.“ A: „Ja, genau. Und wir dürfen das ja auch so, der Staat gibt uns ja BAföG. Und wir dürfen bis 400 Euro dazu verdienen. Und wer die Zeit hat oder so, oder das gerne machen möchte, oder eben sich irgendwie nen größeren Wunsch er- verwirklichen möchte, wie zum Beispiel ein Auto oder so, dann, der macht das dann eben. MD: Ja. (.) Also du hast dir das Auto davon geleistet? E: Ja, ja (lacht). Hat ne Weile gedauert bis ich das ganze Geld zusammenhatte. Aber (.) da ich so oder so nicht der Typ bin, der viel Geld verschwendet, oder so, war das ganz schön. Das ist jetzt schon mein zweites Auto. Das andere hatte ich dann verkauft und (.) mit dem Geld und noch ein bisschen mehr dann eben dann das Zweite gekauft.“
In dieser folgenden Passage taucht zunächst erneut die abstrakte Begründung „Geldprobleme“ auf, die erklären sollen, warum sie Geld verdienen geht, obwohl sie dies als Vollzeit-Schülerin, die bei den Eltern wohnt, eigentlich nicht bräuchte. Mit ihrer Bewertung „ist aber auch nur eine Reinigungskraft“ reproduziert Amal an dieser Stelle ähnlich wie bereits zuvor in Bezug auf die kleinen Jobs ihrer Mutter symbolische Repräsentationen, die solchen Tätigkeiten und den Personen die sie ausüben, einen untergeordneten Standpunkt im sozialen Raum zuweisen, wobei fehlende gesellschaftliche Anerkennung und geringfügige Bezahlung miteinander einhergehen. Sie arbeitet, aber es ist „nur“ ein Job, d.h. etwas, was sie nur zum Zweck des Gelderwerbs ausübt, und nicht etwa eine Tätigkeit, die für sie eine dauerhafte berufliche Orientierung sein könnte. Auf meine Bestätigung hin, dass ich ihren Job für eine bei Schülern normale Handlungspraxis halte, führt sie ihre Argumentation fort, indem sie darauf verweist, dass sie zwar nicht arbeiten „braucht“, aber arbeiten „darf“, ihr Handeln also nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich legitim ist. Im folgenden Satz sichert sie ihre individuelle Entscheidung mit einer verallgemeinerten Schlussfolgerung ab: „Wer die Zeit hat“ „der macht das dann eben“, und erfüllt sich einen besonderen Wunsch. In diesen Zusammenhang wird die Begründung „Geldprobleme“ modifiziert, es taucht ein erster Bruch auf: Könnte man annehmen, Geldprobleme seien mit Schulden gleichzusetzen und deuteten auf ein fehlendes Vermögen hin mit dem eigenen Geld haushalten zu können, stellt Amal hier klar, dass es zwar eine Weile gedauert hat, bis sie sich mithilfe ihrer Mini-Jobs das Geld für ein eigenes Auto zusammengespart hat. Ihr sei dies jedoch deshalb gelungen, weil sie eben gerade nicht jemand ist, der Geld verschwendet. Sie präsentiert sich an dieser Stelle somit als eine sparsame und zielstrebige Person. Im direkten Anschluss an die Eingangserzählung fasste Amal zusammen, dass sie derzeit ihr volles Abitur anstrebt. Ich greife in meiner folgenden Frage diese Perspektive auf, und möchte wissen, was sie danach weiter machen möchte. Daraufhin antwortet Amal zunächst mit einer kategorischen Selbst-Identifizierung: „Also ich bin eine, ich mache mir nicht so Zukunftspläne.“ Diese Selbst-Identifizierung als jemand, der keine Pläne für die Zukunft macht, modifiziert und erklärt sie im folgenden Abschnitt:
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„Aber, ähm, ich habe auf jeden Fall vor die Schule, äh, auch egal, auch wenn ich gesundheitliche Probleme hätte, nicht abzubrechen oder nicht, äh, schlimmstenfalls zu beurlauben, aber das habe ich auch nicht (.) so gern. Und ähm, (..) ja, die Schule abschließen, auf jeden Fall mein Abi machen und, äh, ja, und dann äh (lacht) wenn ich lebe (lacht), wenn äh, wenn’s mir noch gut geht und so, dann studieren. Entweder (.) BWL oder Medizin, eins von beiden.“
In dieser Passage präsentiert sich Amal als jemand mit klaren Plänen und Zielen. Andererseits jedoch betont sie, dass die Möglichkeit zur Realisierung ihrer Pläne von Faktoren abhängt, die sie selbst nicht kontrollieren kann. Es ist nicht ihr Schulerfolg oder etwa die Finanzierbarkeit, von denen sie ihr späteres Studium abhängig macht, sondern ihr Gesundheitszustand. Die als Bedingung zutreffende, aber in diesem Kontext für eine junge Frau sehr ungewöhnliche Konditionierung „wenn ich lebe“ „wenn‘s mir gut geht“ verweist darauf, dass ihre Krankheitserfahrungen ihr die Bedeutung körperlicher Gesundheit für Beruf und Ausbildung deutlich gemacht haben und unter Umständen ernsthafterer Natur waren bzw. sind. 5.1.2. Feinanalysen – zentrale Sequenzen Bonn – Bad Godesberg. Kategorien symbolischer Herrschaft Im ersten Teil dieser Sequenz frage ich Amal, wie sie Bonn beschreiben würde, ob es ihr gefällt oder ob sie später lieber mal woanders wohnen möchte. Erneut reagiert sie in ihrer Antwort passgenau auf alle Teile meiner Frage: „Ähm. Also, Bonn ist eine schöne Stadt auf jeden Fall. Und, äh, wir haben hier auch viele Freunde, jetzt nicht nur Marokkaner oder äh::, irgendwie nur Ausländer sondern auch viele äh, deutsche Freunde. Die sind hier eigentlich alle ganz nett und äh, tolerant, vor allem tolerant. Und ähm (..), hier sind (.) diese Vorurteile noch nicht ganz äh, sozusagen angekommen, von den Ausländern, oder von denen, die jetzt Kopftuch tragen, die Frauen. Und ähm, wenn es welche gibt, dann ähm, gibt es hier ganz viele äh, Gruppen sozusagen, die versuchen diese Vorurteile abzubauen. Und ähm, (..) ja, in Bonn fühlen wir uns eigentlich wohl, vor allem mein Vater (lacht), deswegen ist der ja auch so lange hier schon. Ähm, aber ich denke wenn ich heiraten würde, könne ich es auch in Erwägung ziehen irgendwo anders hinzuziehen. Um einfach eine neue Stadt auch kennenzulernen, um (.) vielleicht mal die Umgebung zu ändern und, ähm, ja mal auch was an- was von Deutschland zu sehen (lacht), nicht nur Bonn.“
Amal beschreibt und bewertet Bonn kurz und sehr abstrakt als schöne Stadt, während sie auf die Frage nach dem Gefallen eine längere Argumentation liefert. Obwohl ich sie in meiner Frage direkt angesprochen habe: Gefällt es dir hier?“ antwortet sie hier zunächst aus einer „wir“ Perspektive. In diesem und den folgenden Abschnitten, in denen es um die Beschreibung, Bewertung und Begründung von Wohnstandorten geht, deuten eingestreute Verweise darauf hin, dass die Gruppe, in die sie sich hier als zugehörig einordnet, zunächst einmal aus ihrer Kernfamilie besteht. Gleichzeitig positioniert Amal sich und ihre Familie in diesem Abschnitt in Bezug auf Kategorien symbolischer Herrschaft, die auch den weiteren Verlauf des Interviews durchdringen. Sie nennt als Gründe für das Wohlfühlen in Bonn (claim) drei miteinander ver-
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schränkte Gründe (data): Erstens haben sie viele Freunde; d.h., hier gilt die Schlussregel: Man fühlt sich dort wohl, wo man soziale Kontakte und Netzwerke hat. Zweitens präzisiert sie, dass ihre Freunde nicht nur Marokkaner oder andere Ausländer sind, sondern auch Deutsche. Mit dieser Aussage re-produziert sie einerseits eine Differenzlinie zwischen der Kategorie ‚Marokkaner‘, die in die Überkategorie ‚Ausländer‘ eingeordnet wird,6 und identifiziert sich und ihre Familie mithilfe dieser Kategorie. Andererseits widerspricht sie mit dieser Aussage einer (impliziten) Gegenstimme, die davon ausgeht, dass soziale Kontakte und Freundschaften immer nur innerhalb einer sozialen Kategorie möglich sind. Während sie später im Interview auch ihre persönlichen Eigenschaften für diese Grenzüberschreitung verantwortlich macht, betont sie an dieser Stelle die Toleranz der deutschen Freunde. Hieraus ergibt sich für sie der dritte Grund für das Wohlfühlen in Bonn: Sie empfindet Bonn als einen Ort, an dem – zum aktuellen Zeitpunkt – Vorurteile gegenüber Ausländern und Frauen mit Kopftuch [wie ihr] „noch nicht“ angekommen sind. In diesem Satz konstruiert sie einen zeit-räumlichen Gegensatz: Während an anderen Orten Vorurteile vielleicht (schon) verbreitet sind und das Handeln der Menschen gegenüber Angehörigen dieser beiden sozial konstruierten Kategorien beeinflussen, ist dies in Bonn (noch) nicht der Fall: Bonn und ganz spezifisch Bad Godesberg erlebt sie als Räume, in denen die „forces of purification“ (Sibley 1988, 87) weniger stark wirksam sind als möglicherweise in anderen Städten oder Stadtteilen. Toleranz ist für Amal ein zentraler Begriff, der im Verlauf des Interviews an mehreren Stellen sowohl in der Beschreibung ihrer Schule als auch des Stadtteils Bad Godesberg sowie Deutschlands im Allgemeinen auftaucht. In Bezug auf diese Orts- und Raumkategorien positioniert sie sich somit nicht als jemand, der ganz „normal“ und automatisch Teil der Gesellschaft ist, sondern identifiziert sich in diesem Kontext als Ausländerin und sichtbare Muslima, 7 die auf Toleranz angewiesen ist wenn sie gesellschaftliche Akzeptanz und Anerkennung erfahren möchte.8 Im letzten Satz verschiebt Amal ihre Argumentation von der sie einschließenden Wir-Perspektive auf ihren Vater: Dass er schon so lange (seit seiner Ankunft in Deutschland) in Bonn wohnt, erklärt sich dadurch und ist Beweis dafür, dass er sich hier wohlfühlt. Dies kontrastiert sie im folgenden Abschnitt mit ihrer persönlichen Perspektive, sie wechselt jetzt zum „ich“. Meine Frage nach einem möglichen Umzug aufgreifend, erklärt sie, dass sie sich – unter bestimmten Umständen, die einen Umzug erfordern würden, wie beispielsweise eine Heirat – vorstellen kann, in eine andere deutsche Stadt zu ziehen. Auch später positioniert sie sich in ähnlicher Weise als jemand, der bisher zwar noch nicht viele Städte und Regionen kennt, einem Orts-
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Obwohl sie in Bonn geboren wurde besitzt Amal nur die marokkanische Staatsbürgerschaft. Rechtlich gesehen ist sie demnach tatsächlich Ausländerin. Als arabische Femininform von „Muslim“ wird „Muslima“ sowohl von Islamwissenschaftler/-innen als auch meinen Interviewpartner/-innen häufig verwendet und daher auch von mir als Synonym zur deutsch deklinierten Form „Muslimin“ benutzt. Eine solche Selbst-Positionierung in „state interpellations of Muslims as objects of tolerance“ Peter (2010, 120) ist nach Amir-Moazami (2007, 37, 233) ein für junge muslimische Frauen der zweiten Generation typischer Effekt der deutschen Diskurse.
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wechsel und einer neuen Wohnumgebung aber dennoch generell positiv und offen entgegensteht. Auf meine Frage, danach, ob sich für sie in Bad Godesberg in den letzten Jahren etwas geändert hätte, antwortet Amal zunächst mit der Erklärung, dass die Familie 2002 von Bad Godesberg nach Oberkassel auf die andere Rheinseite gezogen sei, da sie dort eine günstige, große Wohnung gefunden hatte. Erst seit 2006 sind sie wieder in Bad Godesberg. Der Grund für den letzten Umzug war vor allem ihre Mutter: „Und sind wir dahin (.) gezogen, nach Oberkassel. Aber meine Mutter und mein Vater fühlten sich nicht wohl, weil da nicht so (.) viele Ausländer sind, sondern ähm, wenn Ausländer, dann eher so russische, polnische und wenn dann deutsche. (..) Meiner Mutter hat dann einfach der Kontakt gefehlt, zu ihren besten Freundinnen sozusagen. Die (.) sind dann alles eher so, Ausländer. Und äh, irgendwann mal nach diesen vier Jahren sind wir dann nach Bad Godesberg (lacht) zurück gezogen.“
In dieser Argumentation zur Wohnstandortwahl finden sich zwei interessante Elemente, die auch in anderen Interviews in ähnlicher Form auftauchen. Zum einen unterscheidet Amal implizit zwischen „Ausländern per se“, zu denen sie neben Marokkanern auch Türken und Tunesier rechnet, und „anderen Ausländern“ polnischer oder russischer Abstammung. Die hier zugrunde liegende Kategorisierung beruht also auf dem – nicht ausgesprochenem – Kriterium des Aussehens: Es ist eine ethnisch-rassifizierende Unterscheidung zwischen ‚Weiß/Europäisch‘ und ‚Dunkelhäutig/Arabisch/Türkisch‘, die diskursiv etabliert worden ist, ohne jedoch in dieser Form aussprechbar zu sein. Während Amal diese beiden Kategorien unbewusst benutzt und damit keine explizite Bewertung verknüpft, werden sie von anderen Interviewpartnern als stark hierarchisierend beschrieben: Die ‚richtigen‘, sichtbaren Ausländer arabisch-türkischer Herkunft werden gegenüber europäischen oder ‚weißen‘ Ausländern als stärker diskriminiert empfunden.9 Zweitens begründet Amal in diesem Abschnitt in Bezug auf ihre Mutter, ähnlich wie später in Bezug auf ihre Schwester, die Herausbildung bestimmter Wohnortpräferenzen mit den vorhanden persönlichen Beziehungen. Die Schlussregeln lauten hier, dass erstens der Kontakt zu Freunden und Familienmitgliedern durch eine geringe geographische Distanz zwischen den Wohnungen gefördert wird und dass zweitens enger und häufiger Kontakt wünschenswert ist. Hieraus begründet sich eine Präferenz für Wohnstandorte in unmittelbarer Nähe zu Familienmitgliedern und engen Freunden (vgl. hierzu Hanhörster 2012 für türkeistämmige Eigenheimbesitzer).
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Dass ‚Dunkelhäutigkeit‘ hier als ‚Marker‘ fungiert, jedoch nicht als soziale Kategorie ‚an sich‘ relevant wird, zeigt u.a. die Shell-Jugendstudie 2010, in der zwar 27% eine türkische Familie und 26% eine russisschstämmige Familie als Nachbarn ablehnen (häufigste Nennungen), jedoch nur 10% Einwände gegen eine „dunkelhäutige Familie aus Afrika“ äußern. Interessant ist, dass schwarze Deutsche sowohl in den öffentlichen Diskursen als auch den Interviews kaum thematisiert werden. Nur in einem Witz, den mir Yakub im Interview erzählt, gibt es einen „Schwarzen“ als Protagonisten. Dieser steht symptomatisch für Yakubs eigene Positionierung in der deutschen Gesellschaft, der sich z.B. im Gegensatz zu französischen Kolleg/-innen als „VIEL Ausländer“ wahrgenommen fühlt.
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Als wichtigste Veränderung in Bad Godesberg nennt Amal den vermehrten Zuzug von ‚Ausländern‘ sowie die Zunahme ethnischer Ökonomien, d.h. in diesem Fall arabischer und türkischer Läden. Sie betont „uns gefällt’s“, „kein Problem für uns“; konzediert aber, dass die Veränderung so extrem ist, dass sie die von ihr generell im Bad Godesberg empfundene Toleranz gegenüber ‚fremd‘ aussehenden Personen und Einrichtungen überfordern könnte. In ihrer folgenden Auseinandersetzung mit dem Medienimage von Bad Godesberg nimmt sie eine ambivalente Positionierung ein: „Ich weiß nicht ob Sie das, ob Du das gesehen hast, ähm. Es gab vor Kurzem so ne Reportage, sogar über Bad Godesberg, dass es sich äh, NEGATIV äh:: (.) ausgewirkt hat nachdem so viel Ausländer hier hingezogen sind. Die Kriminalitätsrate SEI gestiegen und ähm... Ja, ich hab jetzt, wir alle, eher gesagt meine ganze Familie hat nicht so den Kontakt jetzt äh, zur irgendwie Krima- Krima- Kriminalität oder (..). Uns ist zum Glück auch noch nie irgendwas passiert oder so, deshalb können wir das nicht so einschätzen.“
Zunächst distanziert Amal sich von der Mediendarstellung indem sie den Konjunktiv benutzt: „die Kriminalitätsrate sei gestiegen“. Mit dem Hinweis, dass in ihrer Familie noch niemand Opfer krimineller Akte geworden ist, spricht sie sich selbst einerseits die Kompetenz ab, darüber zu urteilen. Andererseits widerspricht sie durch Rückgriff auf das eigene Erleben dem hegemonialen Image von Bad Godesberg als einem gefährlichen Pflaster. Bereits im nächsten Satz gibt sie diesen Standpunkt jedoch wieder auf und artikuliert sich erneut innerhalb des hegemonialen Diskurses: „Aber … man sieht es eigentlich schon, allein an der Jugend. Dass, äh:: (.) viele, also das sind eigentlich fast nur die Ausländer, die dann so ein bisschen randalieren, Bushaltestellen, oder so.“
Auch dies ist für sie jedoch keine Subjektposition, die sie dauerhaft einnehmen kann. Sofort im nächsten Satz erklärt sie, warum die hegemoniale Äquivalenz zwischen der Kategorie „Ausländer“ und „Kriminelle“ nur „eigentlich“ gelten kann: „Aber [man] darf nicht alle in einen Topf ziehen. Zum Beispiel mein kleiner Bruder oder meine kleine Schwester, die benehmen sich nicht so wie jetzt so ein paar andere, vielleicht Marokkaner oder so. Deshalb darf man nicht alle in den Topf ziehen, was leider viele machen.“
Im folgenden Satz resümiert Amal noch einmal, dass Bad Godesberg sich tatsächlich verändert hat. Und obwohl sie zugesteht, dass man diese Veränderungen negativ bewerten könnte, betont sie, dass es andererseits in Bad Godesberg auch viel Positives gibt. Gefragt danach, was das sei, antwortet sie: „Ja ähm, für mich gesehen, (.) man könnte sagen es ist viel heimischer geworden (lacht). Und ähm:: (.) ja. Allein diese ganzen Läden, die es jetzt hier gibt ähm, und die Restaurants und äh, so was hat man früher vermisst, sozusagen (.). Man kommt hier hin – ok, ich bin jetzt hier geboren – aber es ist SCHÖN, auch mal wieder was TRADITIONELLES zu sehen, zu essen und ähm, äh, vielleicht mal den Freundinnen sozusagen zu zeigen und so weiter.“
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Die beschreibende Bewertung von Bad Godesberg als „heimischer“ begründet Amal mit der hier entstanden ethnischen Infrastruktur. Sie nimmt zunächst die Subjektposition einer Zuwanderin ein, die diese Dinge „früher vermisst“ hat. Den antizipierten Einwand gegen ihre Darstellung – dass sie hier geboren ist und daher eigentlich keine marokkanischen Traditionen/Einrichtungen vermissen kann – nimmt sie in ihre Argumentation auf. Widerlegen kann sie ihn nicht, aber sie widerspricht, indem sie darauf verweist, dass auch in Deutschland geborene Kinder es trotz ihres ‚falschen‘ Geburtsortes als positiv empfinden können, die Traditionen ihrer Eltern in ihre Alltagspraktiken zu integrieren. Zuletzt frage ich Amal, ob sie sich in Bad Godesberg sicher fühlt. In ihrer Antwort grenzt sie sich von ihrer Mutter ab, die aufgrund der Mediendarstellungen etwas mehr Angst habe. Sie selbst jedoch meint: „Das ist alles äh, hochgeschaukelt worden, die Kriminalität in Bad Godesberg. Ist jetzt nicht so, dass die Jungs wenn die da jetzt äh:: (.) sitzen würden oder so, dass die direkt eine an- irgendein Mädchen, jetzt also zum Beispiel mich, angreifen würden oder so. Deswegen … ich würde jetzt keinen Ort vermeiden wollen oder zu einer bestimmten Uhrzeit, ähm:: (.) diesen Ort, äh (.) nicht zu betreten oder so. MD: Ja. A: Also, eigentlich nicht.“
Auch hier ist die gewählte Modalisierung auffällig: Amal berichtet nicht im Indikativ über ihre tatsächlichen Raumbewegungen, sondern argumentiert im Konjunktiv, d.h., es handelt sich hier um eine Diskussion des theoretisch Möglichen. Ob sie im Rahmen ihrer Alltagspraxis vielleicht doch bestimmte Orte zu bestimmten Uhrzeiten nicht aufsucht (z.B. weil es ihre Eltern ihr verbieten oder sie keinen Grund hat sich dort aufzuhalten) bleibt offen. Ihre These, dass die Kriminalität und die daraus resultierende Gefährdungslage in den Medien übertrieben dargestellt werden und keinesfalls der Realität entsprechen, belegt sie durch eine als nicht zutreffend, nicht existierend gerahmte Szene, die sie beschreibt und so vor dem inneren Auge der Zuhörerin aufruft. Interessant sind auch die Kategorien, auf die sie in dieser Belegerzählung zurückgreift. Amal konstruiert zum ersten Mal eine Geschlechterdifferenz, indem sie „den Jungs, wenn die da sitzen würden“ die Rolle der Bedrohung zuweist, die Mädchen „wie mich zum Beispiel“ angreifen oder gefährden könnten. Das heißt, obowhl einerseits eine konkrete Bedrohung durch diese Schilderung widerlegt wird, wird anderseits ein Diskurs über Geschlechterverhältnisse und -rollen sowie die Konnotierung von jungen Männern mit Migrationshintergrund als potenziell gefährlich reiteriert. Hier zeigt sich bereits die Problematik, dass ein Versuch, bestimmte hegemoniale Images zu widerlegen in der Regel genau diese hegemonialen Images wieder aufruft und somit – ungewollt – perpetuiert. Kultur und Traditionen – Familie, Raum und Genderbeziehungen Als Amal von ihrer Religionspraxis erzählt, die auch regelmäßige Moscheebesuche beinhaltet, frage ich zunächst nach der in der Moschee gesprochenen Sprache, dann danach, welche Sprache die Familie zu Hause spricht. Sie berichtet, dass sie zu Hause Deutsch, Arabisch und manchmal Berbisch spricht. Auf mein „oh, ok?“ erklärt sie: „Ja aber… (..) ehm, ja, mein Vater ist so Berber. Und weil der hat früher in#, der ist in Nador, ich weiß nicht, kennen Sie die Stadt? MD: Ja. E: In Nador ist der geboren, im Dorf […]. Und ähm, (.) dann ist der mit seiner Familie nach Tanger gekommen. Und ähm, (.) und da hat er
146 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT auch meine Mutter kennen gelernt, die ist nämlich aus Tanger. […] Und wenn WIR nach Marokko gegangen sind, in den, im Urlaub, sind wir immer nur nach Tanger. Nach Tanger und so, nach Tetouan oder nach Casa oder Rabat. Aber noch NIE war ich zum Beispiel in Nador. Deswegen habe ich eher nicht so den Kontakt zu den Berbischen äh, (..) zu der berbischen Umgebung sozusagen, so Dörfer und so diese altertümliche und so (.) oder traditionelle. (.) Ähm, (..) deswegen sprechen wir auch in der Familie eigentlich eher Arabisch und nicht Berbisch. Und äh, (.) ich kann auch nur sehr, ein ganz bisschen Berbisch (lacht). Eher Arabisch und ähm, (..) ja, ansonsten Deutsch (lacht).“
In diesem Abschnitt erklärt und begründet Amal, warum sie zu Hause zwar auch Berbisch spricht, ihre Sprachkenntnisse im Arabischen oder Deutschen jedoch wesentlich ausgeprägter sind. Die Hauptdifferenz in diesem Abschnitt zieht sie zwischen sich und ihrem Vater: Der Vater ist Berber, wobei dieser Claim durch das Argument gestützt wird, dass er in der Provinz Nador geboren ist. Eine wichtige Prämisse ist hier also: Wer in Nador geboren ist, ist Berber und spricht einen BerberDialekt. Selbst hat sie den Geburtsort ihres Vaters noch nie besucht. Da sie weder zur Sprache noch zur „berbischen Umgebung“ Kontakt hat, spricht sie auch die Sprache nicht gut. Die hier zugrunde liegende Schlussregel besagt, dass Sprachkompetenzen von Kontakten mit Personen abhängen, die diese Sprache sprechen. Zusätzlich konstruiert Amal in ihrer Argumentation eine Äquivalenzkette zum Berber-Dialekt, den sie mit „berbischer Umgebung“ gleichsetzt. Dieser Umgebung weist sie die Siedlungsform „Dorf“ zu, wobei sie eine dazugehörige dörfliche Lebensweise assoziiert, einen Lebensstil, den sie als „altertümlich“ und „traditionell“ charakterisiert. Durch die Art der Darstellung positioniert sie sich in Distanz zu der so beschriebenen Lebenswelt. Sie beschreibt den Vater als „so Berber“ wobei das Partikel „so“, einerseits darauf hindeuten kann, dass sie diese Kategorie als der Zuhörerin nicht bekannt voraussetzt [in der Tat fragt sie mich im nächsten Halbsatz, ob ich die Stadt Nador kenne]. Andererseits zeigt dieses Partikel im Gegensatz zu einer alternativ denkbaren einfachen Indikativkonstruktion „mein Vater ist Berber“, eine gewisse Distanz zu dieser Kategorie an. Durch die Aussage, dass sie wenig Kontakt zu dieser Lebenswelt hat und durch die im Deutschen latent negativ konnotierte Wortwahl „altertümlich“ traditionell“ wird deutlich, dass Amal sich weder mit dem Ort, noch mit der von ihr dort lokalisierten Lebensweise identifizieren kann. Diese Positionierung greift Amal im Rahmen der Netzwerkanalyse noch einmal auf. Nachdem sie bereits alle Freunde und Verwandte in Bonn, Europa und Marokko eingetragen und beschrieben hat, fügt sie in einem letzten Nachsatz an: „Dann kommt (.) die Familie von meinem Vater. (.) Der hat ja noch irgendwie (…) Vorfahren kann man fast schon sagen (lacht). Also seine eigenen Cousins und Cousinen hat der eben noch in Nador.“
Sowohl die Reihenfolge in der Netzwerkkarte als auch die Beschreibung als „Vorfahren“ (die genealogisch nicht zutreffend ist) zeigt bereits die von Amal empfundene Distanz zu diesen Familienangehörigen. Diese formuliert sie noch expliziter, als ich sie danach frage, ob ihr Vater noch Kontakt nach Nador hätte:
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„Ja es ist so, dass wir jetzt als wir letztes Jahr gefahren sind#. Beziehungsweise DIE sind gefahren und ich bin geflogen (lacht). Hm, da ist der mit seinem Bruder […] die sind parallel gefahren. Nach Marokko. Und dann sind die zusammen nach Nador. Und dann haben die dann eben deren Familie getroffen. Aber zum Beispiel ich und meine, also kleineren Geschwister sind nicht [hin] weil das ist einfach zu heiß. Und gerade wir, ich weiß nicht, wir (…) wollen eher Strand und die Stadt und so was eben. Deswegen. (.) Ist zwar ganz schön habe ich gehört, aber ich war selbst noch nie da (lacht). Ja. Ist auch so einfach, weil ich äh::, vielleicht auch nicht so, die Familie von meinem Vater (..) leiden kann. Also was heißt leiden? Aber (..) die sind mir (..) eher unsympathischer als die Familie von meiner Mutter. (..) MD: Also sind die anders, merkst du das? A: Ja ja, genau. Also die haben ja auch ne ganz anderen, hm … Charakter und ganz andere, (.) man könnte schon fast sagen, so Traditionen und äh::. Ja, ich fühle mich eher so wohl bei der Familie von meiner Mutter. Deswegen.“
Während es im ersten Gespräch so klang, als würde die gesamte Familie nicht nach Nador fahren, muss Amal nun auf meine direkte Frage hin ihre Darstellung präzisieren. Sie antwortet mit einer Beispielerzählung und berichtet, dass ihr Vater und Onkel im letzten Jahr noch in Nador waren. In ihrer folgenden Argumentation nimmt sie die Nachfrage vorweg, warum sie und ihre Geschwister dann noch nie dort waren, wenn doch die Möglichkeit bestünde, indem sie mit dem Vater und Onkel reisen. Amal begründet ihre abweichende Urlaubspraxis zunächst ganz allgemein mit den klimatischen Verhältnissen. Da diese Begründung ihre Position scheinbar noch nicht hinreichend absichert, führt sie als nächstes Argument die persönlichen Präferenzen auf, die begründen, warum die Geschwister Tanger als Stadt am Strand dem Dorf im Inland vorziehen. Im Anschluss daran konzediert sie, dass landschaftlich gesehen das Dorf vielleicht doch interessant wäre: „ist ganz schön“. Daher bringt sie zum Abschluss ein drittes Argument vor, das diesmal in der IchForm als persönliche Haltung formuliert wird. Obwohl ihre erste Aussage „vielleicht auch nicht so [..] leiden kann“ durch das „vielleicht“ bereits als Vermutung gekennzeichnet wird und daher im Gültigkeitsanspruch abgeschwächt ist, fühlt sich Amal zu einer Reformulierung genötigt. Indem sie die Familie ihres Vaters mit der Familie der Mutter vergleicht und im Komparativ als „unsympathischer“ beschreibt, wechselt sie von einer absoluten zu einer relativen Darstellung und schwächt somit ihre negative Bewertung weiter ab. Gleichzeitig konstruiert sie hierdurch eine Differenzlinie. Den hier impliziten Claim „die Familie von meinem Vater ist anders als die Familie von meiner Mutter“ greife ich in meiner folgenden Frage auf: „Also sind die anders, merkst du das?“ Durch diese Frage bestätige und verstärke ich die konstruierte Differenzlinie. Amal bestätigt meine Rückfrage und beschreibt die Familie ihres Vaters nun als „anders“, mit einem „anderen Charakter“ und anderen Traditionen. Amal schließt diesen Argumentationsteil mit einem „Deswegen“ ab. Grammatikalisch unverbunden, deutet die abschließende Stellung dieser Konjunktion jedoch darauf hin, dass sie sich auf die Quaestio, die der Argumentation zugrunde liegende Streitfrage bezieht. Amals Verweigerung von Besuchen in Nador erklärt sich demnach daraus, dass sie die Familie dort weniger sympathisch findet. Warum dies so ist, begründet sie mit den für sie als anders und fremd erlebten Traditionen und Charaktereigenschaften, die dazu führen, dass sie sich unter diesen Personen weniger wohl fühlt als mit der Familie ihrer Mutter. Während Amal also bei der Familie ihrer Mutter in Marokko eine weitgehende habituelle Übereinstimmung erlebt, ihr die dort erlebten
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Denk- und Handlungsmuster soweit vertraut sind, dass sie sich dort wohl und zugehörig fühlen kann, sieht sie dies bei den Verwandten im Heimatort ihres Vaters nicht gegeben. Auf meine Frage, welche Personen in ihrem Netzwerk ihr besonders wichtig sind, nennt Amal zunächst die in unmittelbarer geographischer Nähe wohnendenden Freunde und Familienangehörige in Bonn und Umgebung. Zu den Personen aus der Familie, die ihr besonders wichtig sind, gehört aber auch eine gleichaltrige Cousine in Belgien: „Dann in Belgien, haben wir gestern erst telefoniert, ähm SEHR WICHTIG. Und äh, kommen auch SO OFT es geht hier hin oder wir fahren dann eben nach Belgien. Deswegen habe ich mir auch extra ein Navigationssystem gekauft, um dahin zu fahren.“
In Marokko ist es die Großmutter mütterlicherseits, die ihr sehr am Herzen liegt: „Und, ähm:: (.) ja, Tanger (.). Tanger, ja auf jeden Fall. Ich versuche wirklich jedes Jahr nach Marokko, nach Tanger zu fliegen. Wirklich auch nur nach Tanger, um allein schon die Mutter von meiner Mutter zu sehen. Das ist mir sehr wichtig. Und ähm, (…) dann habe ich auch (.) nix dagegen einen ganzen Monat lang nur mit meiner Oma abzuhängen. Denn die ist äh, (..) ja, mir sehr, sehr wichtig. Ja, und mit ihr kann man schon SEHR sehr viel unternehmen, obwohl sie eigentlich schon meine OMA ist (lachen in der Stimme).“
Neben den unterschiedlichen habituellen Dispositionen ihrer Familie väter- und mütterlicherseits taucht in Amals Netzwerkdarstellung somit eine zweite wichtige Differenzlinie auf: das Alter. Während sie in Bezug auf einige Cousinen darauf verweist, dass trotz des ähnlichen Alters nur wenig Kontakt da ist, betont sie in Bezug auf ihre Oma und Tante mütterlicherseits in Marokko, dass sie mit diesen gerne zusammen ist und viel Spaß hat, obwohl diese ja schon wesentlich älter seien. Die dieser Darstellung zugrunde liegende Annahme lautet folglich, dass Altersunterschiede unterschiedliche Denk- und Handlungsweisen bedingen, weshalb innerhalb einer Altersgruppe in der Regel ein höheres Verständnis gegeben ist. Dass abweichend von der Regel auch sehr enge intergenerationelle Kontakte möglich und für sie ehrfahrbar sind, erklärt Amal mit dem altersuntypischen Verhalten ihrer Großmutter. Im Gegensatz zu ihrer Großmutter väterlicherseits beklage sie sich nur selten und bliebe unternehmungslustig. Zu den Personen, die für sie eine besondere Bedeutung haben, zählt Amal auch die Familie ihres Schwagers in Casablanca. Sie erklärt mir, dass es eine ganz liebe Familie sei. In einem Nebensatz erwähnt sie, dass sich ja jetzt auch der Bruder ihres Schwagers für sie interessierte. Als ich am Ende der Netzwerkvisualisierung hierauf zurückkomme und sie vage danach frage, ob sie da irgendwelche Vorstellungen habe, antwortet Amal mit einer der längsten episodischen Erzählungen des Interviews. Diese enthält von der Ankündigung über eine Orientierung, eine Komplikation inklusive in szenischem Präsenz gehaltenem Höhepunkt bis hin zur Coda alle wesentlichen Elemente der von Labov und Waletzky ausgearbeiteten typischen Binnenstruktur einer Erzählung (vgl. Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 147ff.). Der Anfang, an dem Amal beginnt, ist die Hochzeit ihrer Schwester, die auf Wunsch der Bräutigammutter in Marokko gefeiert wurde. Die Eltern des Bräutigams hatten zu
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diesem Anlass die Eltern und Geschwister der Braut in ihrem Haus in Casablanca untergebracht. „Dann kam es einfach so zum Kontakt. […] Die hatten nur Söhne, alles superliebe Jungs und äh, ja. Keine Ahnung. Der hat dann (.) wohl gesagt äh, ich gefalle ihm und äh, hat es dann meiner Mutter gesagt, beziehungsweise zuerst seiner Mutter und er hat dann gesagt: ‚Bitte geh und sag es ihrer Mutter‘ weil, (.) das ist ja so, ne? Man darf das ja nicht so direkt sagen. Und dann ist äh, seine Mutter zu meiner Mutter gegangen und meinte: ‚Ja, mein Sohn hat ja Interesse an deiner Tochter‘. Und dann meinte meine Mutter: […] ‚Meine Tochter Amal, die ist noch viel zu jung (.) und ich habe gerade erst sozusagen Nurah, also die älteste Schwester losgelassen. Deswegen möchte ich jetzt noch nicht, dass sie heiratet. (.) Aber ich kann ja mal fragen.‘ Und dann hab ich sofort gesagt: ‚Nein! (beide lachen) Nee, ich bin noch zu jung, und ich möchte das nicht.‘ Ich kannte ihn ja da gar nicht.“
Amals Schwester gab jedoch ihrem Schwager ihre E-Mail Adresse. So kam es, dass die beiden den Kontakt aufrechterhalten haben: „Wir haben uns noch gestern geschrieben“. Obwohl der – in der Erzählung namenlose – Bewerber durch die Übergabe von Geschenken sowie dem Besuch eines Deutschkurses in Marokko über die Ernsthaftigkeit seines Ansinnens keinen Zweifel lässt, hält Amal sich alle Optionen offen. Sie dämpft seine Erwartungen, indem sie ihn darauf aufmerksam macht, dass sie zuerst ihre Schulbildung beenden möchte und ihm auch darüber hinaus nichts versprechen kann. Dennoch redet sie auch mit ihrer Mutter noch einmal darüber: „Und die meinte ‚Wenn du möchtest: Jetzt bist du schon drei Jahre älter, sozusagen. Jetzt bist du 21, du kannst selbst entscheiden wenn du möchtest, wenn du heiraten möchtest.‘ (..) Mein Vater weiß noch nix davon (lacht). Aber (…) er hegt schon so einen Verdacht (.) deswegen. Aber, ja, keine Ahnung. Ich lass mir da auch Zeit. Der ist jetzt auch nicht so, dass er irgendwie drängen würde oder so. Der meinte auf jeden Fall ‚Wenn du gerne heiraten möchtest, dann zieh mich bitte mit in Betracht‘ (lacht). Deswegen. Auf jeden Fall. Und ähm, ganz ganz nette Menschen auf jeden Fall, sehr lieb.‘
Indem sie die Vermittlerrolle der Mütter anerkennt positioniert Amal sich mit dieser Erzählung einerseits in Einklang mit den Normen und Traditionen ihrer Familie. Andererseits macht sie deutlich, dass sie es ist, die in dieser Angelegenheit das letzte Wort und die Entscheidungsmacht hat. Diese Position wird in ihrer Darstellung sowohl von ihrer Mutter als auch dem potenziellen Heiratskandidaten anerkannt. Allerdings ist diese eigenständige Entscheidung dadurch vereinfacht, dass Amals Mutter, der sie eine wichtige Vermittlungs- und Beratungsrolle zuweist, keine prinzipielle Einwände gegen die Verbindung hat und nur ihre Tochter nicht zu früh „aus dem Haus“ gehen lassen will. Der Vater hat in Bezug auf Amals mögliche Eheschließung zunächst keine funktionale Rolle. Ihr komplizenhaftes Lachen, als sie über seinen Verdacht spricht impliziert jedoch dass er, auch wenn er offiziell nichts weiß, dennoch nicht völlig ahnungslos ist, sondern den Kontakt wohlwollend duldet bzw. einer Verbindung ebenfalls nicht entgegen stehen würde. Auch wenn Amal in diesem Kontext auf einer rein persönlichen Erzählungsebene verbleibt, widerspricht sie damit dennoch entschieden bestimmten deutschen Mediendarstellungen, die zu wissen
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meinen, dass „unterdrückte muslimische Kopftuchmädchen“ von ihren Vätern regelmäßig zwangsverheiratet würden. Abschließend erzählt Amal noch eine Parallelgeschichte: Ihre Cousine und der älteste Bruder des Schwagers ihrer Schwester hätten sich ebenfalls „ineinander verguckt“. Ich interpretiere dies als Versuch, ihre persönliche Geschichte in einen breiteren Kontext zu stellen. Daher frage ich sie: MD: „Kommt das häufiger vor, so dass man Leute einfach so auf [Familienfeiern kennenlernt?“ A: „[Ja, ja, ja, ja. Auf jeden Fall. Vor allem in … Casablanca, da ist es so, da nehmen die das nicht so:: ernst mit Mann Frau trennen bei so Hochzeiten und so weiter. (.) Deswegen kam es auch so dazu, dass ich mit ihm so engeren Kontakt hatte. Wir haben einfach getanzt und gelacht und so weiter. Ähm, (.) jetzt so bei uns ist das eher so, dass wir das schon strikt halten, Männer alleine und Frauen alleine. (..) Hm ja, aber ist ja .. es kann ja vorkommen. Ist ja glaube ich bei jeder Kultur so, dass, Hm ja, es [Worte unverständlich] gibt.“
Amal nimmt mein Angebot der Situierung ihrer Geschichte in ein Normalitätssetting bereitwillig an und bestätigt zunächst, dass Familienfeiern eine Gelegenheit darstellten „Leute“ – in diesem Fall bezogen auf die Kategorie potenzieller Ehepartner – kennenzulernen. Dabei unterscheidet sie jedoch zwischen der Handlungspraxis, die sie in Casablanca erlebte und dem, was ihre Familie praktiziert. Die Norm, die ihrer Darstellung zugrunde liegt lautet dabei, dass Männer und Frauen bei Feierlichkeiten zu trennen sind. Während nun „da“, in Casablanca, diese Norm nicht so ernst genommen wird, ist es „bei uns so, dass wir das schon strikt halten“. Auffällig an dieser Kontrastierung ist, dass die Gültigkeit dieser Norm als gegeben gesetzt wird und Amal die unterschiedlichen Handlungspraxen folglich nur durch die mehr oder weniger strikte Beachtung dieser Norm erklärt. Obwohl Amal sich mit der Gruppe identifiziert, die die Geschlechtertrennung praktiziert, versucht sie gleichzeitig auch das in dieser Hinsicht normabweichende Verhalten der anderen Familie zu rechtfertigen. Die unterschiedlichen Handlungsweisen erklärt und legitimiert sie indem sie diese Abweichung als „bei jeder Kultur so“ vorkommende Varianz interpretiert. Diese Rechtfertigung von Unterschieden, die innerhalb einer Kultur verortet werden, scheint jedoch nicht einfach auf vorgeprägte diskursive Argumentationslinien zurückzuführen sein. Am Ende artikuliert Amal so undeutlich wie sonst an fast keiner anderen Stelle und lässt so ihre Argumentation in Vagheit auslaufen. Da sie nicht weiter spezifiziert hat auf welche Personen und welchen Kontext sich ihr „bei uns“ bezieht, frage ich nach. Dabei benutze ich die ihrer Argumentation implizit zugrunde liegende Schlussregel „dort so – hier anders“ (vgl. Belina und Miggelbrink 2010), indem ich frage: „Bei uns heißt also hier in Deutschland bei deiner Familie oder in Tanger, oder…?“ Auf diese Frage antwortet Amal mit einer Beispielerzählung, anhand derer sie ihre Argumentation noch einmal verdeutlicht: „Ach so. Ähm, eigentlich beides. Also wir haben ja jetzt die Taufe in (.) drei Wochen. Von meiner Schwester jetzt die Tochter. […] Und ähm, da machen wir das auch so. Da laden wir eben die Freunde aus Bad Godesberg ein, die und die […] [zeigt auf Netzwerkkarte]. Und da ist es so, dass wir die Frauen und Männer eigentlich (.) ja trennen. Weil man mietet sich ne Halle. Und wir haben jetzt zum Beispiel ne Halle gemietet und die ist recht groß. Aber zusammen alle würde nicht, würde niemals passen. MD: Mhm. A: Deswegen haben wir die Frauen und die
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Mädchen zusammen. Und die Männer äh, in einer Halle oder in einer Wohnung dann (..) zusammen. Weil das ist einfach so, wenn die Frauen unternander sind, dass dann nicht so viele Hemmungen da sind. Dann kann man tanzen und lachen und das Kopftuch [lacht, macht Geste des Ausziehens/Wegschmeißens] vom Kopf reißen und Spaß haben. Wenn der Mann dann da ist, der Ehemann vielleicht oder ein Typ, der die ganze Zeit dann so guckt und flirten möchte, dann schämt man sich natürlich mehr. Und dann wird dann nicht getanzt und dann bleibt die Stimmung (..) im Keller und das ist blöd. MD: Mhm. A: Und allein schon wegen der Religion, die sagt ja auch ähm, dass das einfach getrennt wird mit Mann und Frau.“
Für die Praxis der Geschlechtertrennung bei Familienfeierlichkeiten führt Amal drei Argumente mit jeweils sehr unterschiedlichen zugrunde liegenden Begründungstopoi an: Das erste Argument ist pragmatisch-praktischer Natur: Weil der Raum nicht groß genug ist, müssen wir uns aufteilen. Das nicht explizierte Backing dahinter ist, dass es einen relevanten Unterschied zwischen Frauen und Männern gibt, weshalb die Geschlechterdifferenz als relevante Kategorie zur Aufteilung einer Festgesellschaft bei Platzmangel genutzt werden kann. Die mögliche Rückfrage, warum genau diese Kategorie die für die konkrete Situation relevanteste Kategorie darstellt – denn es wäre ja bspw. auch eine Aufteilung nach Alter oder zwischen Freunden und Familie denkbar – beantwortet Amal mit ihrem zweiten Argument, indem sie die Beschreibung einer Feier nur unter Frauen mit der Beschreibung einer gemischten Feier kontrastiert. Über das verallgemeinernde Pronomen „man“ sowie den einleitenden Frame „das ist einfach so“ wird die Erzählung in einen intersubjektiven Argumentationszusammenhang gestellt. Amal artikuliert sich an dieser Stelle innerhalb eines Diskurses, der nicht nur eine naturalisierte Geschlechterdifferenz konstruiert, sondern über den Mechanismus des Beschämens, des beschämenden männlichen Blicks, auch eine angepasste Handlungspraxis erzeugt: „Dann schämt man sich natürlich mehr und dann bleibt die Stimmung im Keller“. Ihre explizite Bewertung der gedämpften Stimmung („und das ist blöd“) kontrastiert mit der lebhaften Mimik und Gestik, mit der Amal ihre Darstellung der Feier unter Frauen begleitet. Hierdurch gelingt es Amal, mit ihrer Argumentation den gewünschten Effekt zu erzielen: Die Begründung erscheint der Zuhörerin plausibel, und die für sie eher ungewöhnliche Praxis der Geschlechtertrennung erscheint legitim, solange das zugrunde liegende Backing – Ziel einer Feier sollte es sein Spaß zu haben, zu tanzen, ausgelassen und fröhlich zu sein – geteilt wird. Über ihre lebendige Beschreibung einer Feier unter Frauen präsentiert und positioniert sich Amal in diesem Abschnitt auch selbst als eine lebensfrohe Person. Gegenüber dieser eindrücklichen Darstellung wirkt ihr drittes Argument für die Geschlechtertrennung – die Religion – aufgrund der Positionierung am Ende, der Kürze und der Vagheit der Formulierung eher als eine nachgeschobene Letztbegründung, die sie zwar als gültig anerkennt, die für sie persönlich aber in diesem Fall weniger relevant ist. Dies zeigt sich auch in dem folgenden Abschnitt, in dem Amal die zuvor konstruierte verortete Differenzlinie noch einmal aufgreift: „Hier in Casablanca, da haben die das jetzt nicht so ernst genommen. Die haben ein Hotel gemietet, ein ganzes Hotel. MD: Mhm. A: Und wir haben dann ja alle zusammen gefeiert. Die sagen Familie ist Familie, egal ob Mann oder Frau. MD: Mhm. A: Jetzt (.) die Familie von
152 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT meinem Schwager. Die nimmt das da komplett, das ist komplett egal. (..) Aber so bei uns, (..) also die Familie von meiner Mutter, von meinem Vater, die sagt schon so: Familie ist okay, schön und gut. Aber schon (.) so getrennt. Jetzt wenn# Ich kann mit meinem Onkel sitzen. Meine Mutter kann auch mit ihrem Cousin sitzen. Und meine Mutter kann auch mit dem Mann von von ihrer Schwester und so sitzen, ist alles ok. Aber so die Jüngeren, die jetzt noch heiraten könnten, (..) da ist schon son bisschen, ja:::. So zusammen ne Wohnung. Klar, wenn die einen besuchen kommen, ist okay. Aber äh, so jetzt ähm, feiern oder so. (.) Da wird man (.) schick gemacht, und das ist dann schon so, dieses#“ MD: „Das ist dann was anderes.“ A: „Ja, genau. Und einfach auch die Religion, (..) die verbietet das ja auch selbst.“
Dieser Abschnitt verdeutlicht sehr gut die Praxis des „boundary drawing“ zur Selbstidentifizierung, zeigt andererseits aber auch auf, wie instabil und brüchig Selbst-Positionierungen innerhalb einer Interviewsituation sind. Während Amal zuvor auf die Unterschiede zwischen der Familie ihrer Mutter – wo sie sich habituell besser aufgehoben fühlt – und der Familie ihres Vaters – die sie als eher anders und fremd wahrnimmt – verwiesen hat, verläuft in diesem Kontext nun die Differenzlinie zwischen den Familien von Mutter und Vater sowie der Familie des Schwagers in Casablanca: Während „die in Casablanca“ innerhalb der Kategorie „Familie“ Geschlechtsunterschiede generell für irrelevant erklären, positioniert sich Amal an dieser Stelle in Einklang mit der Argumentation ihrer eigenen Familie, wo die Geschlechterdifferenz auch innerhalb der Familie den Umgang zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts bestimmt. Diese Praxis ist allerdings je nach Begegnungskontext und Beziehungskonstellation zu differenzieren. Aus diesen Einschränkungen und Präzisierungen lässt sich ein letztes Argument für die Geschlechtertrennung aufdecken: Sie ist dieser Argumentation zufolge dann nötig, wenn bei Männern und Frauen von einer sexuellen Anziehung auszugehen ist (heterosexuelle Norm). Situationen, in denen eine erhöhte Gefahr besteht, dass eine solche Anziehungskraft wirksam wird (wie z.B. bei Feierlichkeiten), sind entsprechend zu vermeiden. Im Alltag dagegen können Familienmitglieder durchaus zusammensitzen, besonders wenn sie in keiner potenziellen Heiratsbeziehung zueinanderstehen. Amal verweist an dieser Stelle erneut nur sehr allgemein und abstrakt auf ein religiöses Verbot. Ein Abgleich mit Texten zum islamischen Familienrecht zeigt jedoch, dass sie sich mit ihrer Argumentation im Rahmen des im Religionsrecht konstruierten Geschlechterverhältnisses und den daraus abgeleiteten Geschlechternormen bewegt (vgl. Schirrmacher und Spuler-Stegemann 2004, 165f.). Religionspraxis und religiös-kulturelle Normen Nachdem Amal in ihrer Beschreibung von Bonn zum ersten Mal auf das negativ konnotierte deutsche Islambild verwiesen hatte, tauchten Vorurteile gegen Frauen mit Kopftuch zum zweiten Mal auf, als ich sie im Anschluss an ihre Ausführungen zum Image von Bad Godesberg als Kriminalitätshochburg danach fragte, ob es denn in der Schule irgendwelche Probleme gegeben habe. Sie antwortete, das wäre ganz unterschiedlich, wobei sie vor allem die Situation an ihrem Gymnasium mit derjenigen in der Hauptschule ihre Schwester verglich. In Bezug auf das Gymnasium habe ihr eine Freundin prognostiziert: „Ah, du wirst da vielleicht Probleme bekommen. Du mit Kopftuch. Ich habe gehört, im Gym-
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nasium sind nur Deutsche“. Beide Vermutungen weist sie mir gegenüber als falsch zurück: „Das war total äh, total falsch. Äh, nur, fast nur Ausländer. Aber alle super lieb. Äh::, und die Deutschen, die da sind, die sind genauso lieb und äh, die Lehrer, die sind da total neutral. Also ich hatte da bis jetzt zum Glück noch keine Probleme irgendwie, in dieser Hinsicht.“
Diese Passage widerlegt die beiden zuvor aufgestellten Claims, nämlich 1) es sind nur Deutsche auf dem Gymnasium und 2) du wirst Probleme bekommen. Gleichzeitig, und dies zeigt, dass ein ‚Gegen-Diskurs‘ im eigentlichen Sinne nicht möglich ist, bestätigt diese Darstellung sowohl die zuvor konstruierten Kategorien – Deutsche vrs. Ausländer – als auch die damit ko-konstituierten Äquivalenzen – Ausländer = Muslime, Deutsche = Nichtmuslime. Auch der Charakterisierung des Kopftuches als potenzielle Ursache für Probleme und Diskriminierungen wird zunächst nicht widersprochen. Hierzu nimmt Amal erst Stellung, als ich sie im Anschluss nach ihrer Ausbildungszeit frage. Amal erklärt, dass sie während ihrer Ausbildung noch kein Kopftuch trug. Allerdings hätten sich die Kollegen bzw. Kolleginnen nachträglich über sie lustig gemacht, als sie davon erfuhren: „Was mich sehr gewundert hatte als ich dann äh, die Ausbildung abgebrochen hatte, hatte ich immer noch zu meiner Kollegin, die Kopftuch trug, Kontakt. Und sie hatte dann einfach so mal zu meinem Ex-Chef gesagt: ‚Hier, die Amal, die trägt jetzt Kopftuch.‘ Und dann fingen alle an zu lachen und zu sagen: ‚Hahaha, äh, jetzt mit Kopftuch wird sie noch größere Schwierigkeiten haben irgendwie nen Anschluss wieder zu finden.‘ Und als mir das dann meine […] ExKollegin gesagt hatte, hab ich mich total äh, gewundert und gesagt: ‚Warum jetzt so was? Das muss nicht sein.‘ Aber ich hatte da keinen Kontakt mehr oder so, um die zur Rede zu stellen oder irgendwas. Deswegen. Joa (.) War das mir das eigentlich auch egal.“
In diesem Abschnitt rahmt Amal die im szenischen Präsenz gehaltene Erzählung, die sie wiedergibt als wäre sie dabei gewesen, mit einer distanzierten, reflektierten Kommentierung aus ihrer aktuellen Position: Sie beschreibt das Ereignis als abgeschlossen. Eigentlich hätte sie die Kollegen und Kolleginnen gerne zur Rede gestellt. Da sie keinen Kontakt mehr hat, war dies jedoch nicht möglich. Und mittlerweile ist es ihr egal. Sie beschreibt sich selbst als „verwundert“, nicht etwa als verärgert oder wütend. Aus ihrer Position zum Zeitpunkt des Interviews heraus charakterisiert sie die erfahrene Situation als ein zwar erzählwürdiges Ereignis. Dieses tangiert sie sie in ihrem So-Sein jedoch nicht (mehr) unmittelbar. Während Amal sich selbst in der Erzählsituation als reflektiert und distanziert präsentiert, wirken ihre Kollegen im Gegenzug als Personen, deren Handlungspraxis Verwunderung auslöst, somit erklärungsbedürftig ist und außerdem unnötig und unangemessen scheint: „Das muss nicht sein“. Diesen Claim erläutert und begründet Amal in der Konklusion dieser kurzen Erzählung: „Aber in der Schule jetzt, mit Kopftuch ähm (.) ist total normal, sozusagen. Ich finde auch, es soll, es stört niemanden oder so. (.) Es ist ähm, (..) von EINER Seite sozusagen äh, könnte man das so sehen, wie wenn jemand nen Hut trägt oder (.) wie wenn jemand einen Minirock trägt ähm::, oder ein Kleid oder so. Deswegen, (.) ja, MÜSSTE es eigentlich nicht zu Problemen
154 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT KOMMEN. MD: Mhm.. A: Aber (.) klar, jeder hat seine eigene Meinung. Der eine ist eher (.) so ähm, sozusagen jetzt politisch oder so ähm, angehaucht und der eine eher so. Aber ähm, ich hab bis jetzt keinen Kontakt irgendwie mit denen gehabt, die jetzt eher was dagegen hätten. Ich habe sehr viele eher deutsche Freunde da. Und äh (.) aber auch so Marokkaner und Türken und alles. Ich habe mich schon IMMER so gesehen als wäre ich so äh, son Zwischending.“
In diesem Abschnitt macht Amal deutlich, dass ein Kopftuch nicht an und für sich bereits einen Wert und eine Bedeutung hat, sondern dass Sinn und Bewertung kulturell ausgehandelt und zugewiesen werden. Sie selbst zeigt eine alternative Deutung auf, indem sie das Kopftuch in eine Liste ‚normaler‘ Kleidungsstücke (Hut, Minirock, Kleid) einreiht. Das heißt, dass auch ihre Kollegen die Wahl gehabt hätten, das Kopftuch anders zu interpretieren. Sie hätten sich nicht darüber lustig machen brauchen, wenn sie nicht eine „sozusagen jetzt politisch[e]“ Haltung vertreten hätten. Dieser Claim wird noch einmal verstärkt, indem Amal die Haltung der Kollegen mit der ihrer Freundinnen und Mitschüler/-innen kontrastiert, die nichts gegen ihr Kopftuch einzuwenden hätten. Indem Amal sich am Ende selbst als „son Zwischending“ identifiziert, sich also selbst im Schnittfeld verschiedener Gruppen verortet und ihr generell gutes Auskommen beschreibt, macht sie noch einmal deutlich, wie diese Episode zu interpretieren ist: Es ist nicht ihr eigenes Handeln oder ihre Persönlichkeit, die diese konfliktive Situation verursacht hat, sondern es sind ihre Kollegen, die im Gegensatz zu Amals sonstiger sozialer Umgebung ein abweichendes Verhalten an den Tag legten. Letztlich stärkt Amal durch diese Erzählung die Legitimation ihrer religiösen Praxis und widerspricht der von mir aufgerufenen Bewertung des Kopftuches als problemverursachend, indem sie die Reaktion ihrer Kollegen als unnötig charakterisiert. Nachdem deutlich wurde, dass Amal ihr Kopftuch noch nicht sehr lange trägt, frage ich nach, wie sie denn dazu gekommen sei. Sie beginnt ihre Erklärung, indem sie ihre Praxis zunächst als Erfüllung einer allgemein gültigen Norm rahmt: „Äh:: Ja. Es ist bei uns im Koran ja festgeschrieben – auch wenn manche sagen ‚nein, es stimmt nicht‘ – aber es ist so. Es steht im Koran, (.) dass sich die Frau verdecken soll.“
An dieser Stelle zeigt die polyphone Struktur sehr deutlich, dass Amal sich mit einer Gegenposition auseinandersetzt. Diese gegensätzliche Meinung – nein, es steht nicht im Koran, dass eine Frau sich verdecken soll – würde ihre Handlungspraxis delegitimieren. Erst nachdem sie diese als ungültig markiert hat, kann sie erzählen und begründen, wie sie dazu kam diese Norm einzuhalten. Während sie in der Ausbildung, „in der Pubertät sozusagen“, andere Interessen hatte, wie z.B. „ins Kino gehen und vielleicht ein bisschen Jungs und Schminke und das und das“ – Interessen, die ihr zufolge „wegen vielleicht falschen Freunden“ zustande kamen – hatte sie nach dem Abbruch ihrer Ausbildung und im Laufe ihrer Operationen viel Zeit zum Nachdenken: „Und da habe ich viel mehr Freizeit äh, auch ähm, so mit Religion zu tun ge# äh, mit meiner Religion zu tun gehabt. Und ähm (.) ja, und dann habe ich auch erkannt, das ist, das ist Pflicht und ähm, geht nicht anders. Und dann wollte ich auf jeden Fall äh (.) ja, meine Religion richtig ausleben. Ich will nicht sagen, ich bin Muslima, aber ich trage kein Kopftuch. Das ge-
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hört dazu. So kam ich auch dazu, regelmäßig zu beten. (.) Das ist ja auch sehr, sehr wichtig. Und ich habe (.) dann versucht immer mehr so Kontakt aufzubauen und immer mehr Wissen anzueignen über den Islam.“
In der Darstellung ihrer eigenen Entscheidung zum Kopftuch greift Amal auf die einleitende diskursive Rahmung zurück. Sie argumentiert, dass ein Kopftuch unbedingt dazu gehört, wenn sie ihre Religion ausleben möchte. Warum und wie sie sich in der Zeitphase ihres beruflich-schulischen Umbruchs ihrer Religion annähert, erzählt Amal nicht. Ihre auffällig vage und suchende Formulierung „da habe ich mehr […] so mit Religion zu tun […] gehabt“ wie auch der Umstand, dass sie die in die gleiche Zeitphase fallende Entscheidung zum Abendgymnasium ebenfalls im ganzen Interview nicht näher erläutert, deutet darauf hin, dass dies eine Zeit ist, in die sie sich nicht gerne zurückversetzen möchte und die sie deshalb so weit wie möglich aus ihrer aktuellen Selbst-Darstellung ausklammert. Den Abschluss ihrer kurzen Erzählung bildet eine Coda, in der Amal die getroffene Entscheidung aus ihrer aktuellen Situation heraus bewertet: „Und ähm, (.) bin sehr froh darüber, weil ich äh, (lacht) weiß, dass äh, früher mir immer was gefehlt hatte, sozusagen. Also (..) das war ganz komisch. Früher, wo ich in der Ausbildung war, da wusste ich, irgendwas fehlt mir. Ich hatte eine Freundin, die trug kein Kopftuch, und ich hatte eine Freundin, die trug Kopftuch. Und ähm, (..) ich weiß nicht, bei mir war das so, ich war nicht zufrieden, wie ich gelebt hatte, gelebt habe. (.) Und als ich dann die Ausbildung abgebrochen hatte und dann hatte ich so einige OPs auch wegen meinem Knie und so weiter. Und ähm, ja, dann habe ich mich immer mehr mit der Religion beschäftigt und ähm, bin zum Kopftuch gekommen. Jetzt total glücklich darüber (lacht). Meine Mutter ganz stolz und mein Vater. Und ähm, ja, ich fühle mich sehr wohl. Ich will es nicht ausziehen (lacht).“
Indem Amal sich als zuvor unzufrieden und unausgefüllt beschreibt, während sie heute glücklich ist und auch die Anerkennung ihrer Eltern erreicht hat, wird deutlich, dass ihre Praxis nicht nur aufgrund der zugrunde gelegten normativen Vorstellungen ganz allgemein richtig ist, sondern auch für sie selbst und ihr persönliches Leben Sinn macht und eine Bereicherung darstellt. An dieser Stelle identifiziert sich Amal somit als selbstbewusste Muslima, die mit sich und ihrer religiösen Praxis im Reinen ist. Als Beleg dafür, wie wohl sie sich mit ihrer aktuellen Praxis fühlt, betont Amal im folgenden Abschnitt stolz, dass sie das Kopftuchtragen und die Bekleidungsnormen sogar deutlich strenger handhabe als ihre Mutter. Sie erläutert diese These, indem sie zwei Situationen schildert, in denen Männer – ihr Schwager und enge Freunde des Vaters – zu Besuch kommen und sie nicht nur ihr Kopftuch, sondern auch etwas Langärmliges anzieht, um angemessen gekleidet zu sein. Ihre Mutter würde dann argumentieren: „‚So schlimm ist das nicht. Das ist z.B. nur dein Onkel. Oder nur ein guter Freund von deinem Vater.‘ Ich […] bin da eher was strenger, auf jeden Fall. Ich versuche auch so, eher den Kontakt mit so, äh:: so, ähm (..) Männern äh, zu vermeiden sozusagen. Weil bei uns in der Religion ist es ja auch so, dass man# dass die Frau schüchtern ist. Und äh, man# (..) Ich würde jetzt nicht den Kontakt zu den Freunden meines Vaters suchen oder so. Wär mir selbst peinlich. So dafür schäme ich mich zu sehr. (..) Aber so zu Kontakten, wie so zu Jungs, (.) das ist okay,
156 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT das geht noch, wenn man, wenn man das nicht zu sehr übertreibt. Ja. Die Reize spielen da auch ne, immer ne große Rolle, deswegen. MD: Mhm. A: Aber es geht. (lacht)“
Indem Amal ihre eigene alltägliche Handlungspraxis von der ihrer Mutter absetzt, positioniert sie sich als autonom. Auch wenn sie sich in Einklang mit den Wünschen und Vorstellungen ihrer Eltern präsentiert, ist es doch ihre eigene Entscheidung, das Kopftuch zu tragen und sie interpretiert die für sie relevanten muslimischen Verhaltens- und Bekleidungsnormen auf ihre eigene Art. Interessanterweise macht Amal hier auch eine Unterscheidung zwischen (älteren) Männern und (gleichaltrigen) Jungen. In Bezug auf den Umgang mit Männern beruft sie sich auf die religiös begründete Geschlechternorm, wonach Frauen sich schüchtern verhalten sollen. Im Gegensatz dazu ordnet sie den freundschaftlichen Kontakt zu gleichaltrigen Jungen als möglich ein; hier scheint für sie auch kein Grund und Anlass zur Scham vorzuliegen. Jedoch nimmt sie auch hier eine sehr differenzierte Aushandlung vor: Denn auch mit gleichaltrigen Personen des anderen Geschlechts ist darauf zu achten, dass man „das nicht zu sehr übertreibt“, d.h. dass „die Reize“ und eine mögliche sexuelle Anziehungskraft nicht zum Tragen kommen. Solange dies berücksichtigt bleibt, ist für sie jedoch der Umgang mit männlichen Klassenkameraden oder gleichaltrigen Familienangehörigen normativ zu rechtfertigen. Ähnlich wie in ihrer Argumentation zur Geschlechtertrennung bei Familienfeiern (s.o) beschreibt Amal in diesem Abschnitt ihre Positionierung als Frau in Bezug auf den potenziell beschämenden männlichen Blick. Dieser wird von Bourdieu als kennzeichnendes Merkmal symbolischer Herrschaft hervorgehoben: „Die männliche Herrschaft konstituiert die Frauen als symbolische Objekte, deren Sein (esse) ein Wahrgenommenwerden (percipi) ist. Das hat zur Folge, daß die Frauen in einen andauernden Zustand körperlicher Verunsicherung oder, besser, symbolischer Abhängigkeit versetzt werden: Sie existieren zuallererst für und durch die Blicke der anderen, d.h. als liebenswürdige, attraktive, verfügbare Objekte. Man erwartet von ihnen, daß sie ‚weiblich‘, d.h. freundlich, sympathisch, aufmerksam, ergeben, diskret, zurückhaltend, ja unscheinbar sind.“ (Bourdieu 2005a, 117)
Das Gefühl der Beschämung zählt Bourdieu dabei zu den Formen von Leidenschaften, Gefühlen oder körperlichen Emotionen, die als „Akte des praktischen Erkennens und Anerkennens der magischen Grenze zwischen den Herrschenden und den Beherrschten“ dazu beitragen, dass die Beherrschten, „oft ohne ihr Wissen und bisweilen gegen ihren Willen, dadurch selbst zur Herrschaft beitragen, daß sie die auferlegten Schranken stillschweigend akzeptieren“. Als „somatisierte soziale Beziehung“ und „in ein inkorporiertes Gesetz verwandelte[s] soziale[s] Gesetz[.]“ ist die in diesen Emotionen wirksam werdende Form symbolischer Herrschaft zum Bestandteil der doxa geworden, so dass sie nicht ohne Weiteres „durch eine bloße, auf einer befreienden Bewußtwerdung gründenden Willensanstrengung“ in ihrer Wirksamkeit aufgehoben werden kann (Bourdieu 2005a, 72). Islambild und Ausländerfeindlichkeit Amals lange Auseinandersetzung mit dem deutschen Islambild (insgesamt ca. 20 Minuten) löse ich gegen Ende des zweiten Gesprächs aus, als ich im Anschluss an
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die Netzwerkdarstellung das Thema wechsele und sich sie nach ihrer Mediennutzung frage. Amal erzählt, dass sie Fernseh- und Radionachrichten nur zufällig mitbekommt. Dafür nutze sie aber die in der Schule ausliegende Lokalzeitung sowie das Internet, um sich zu informieren. Auf meine Frage welche Themen sie dabei interessieren, nennt sie zum einen den Nahostkonflikt und zum anderen die Lokalpolitik in Bonn und NRW: „Ja ähm. Jetzt hier ähm, (.) klar, der Krieg ne? Also ähm, (.) was da jetzt alles äh, passiert äh (…), allein schon so zwischen Amerika und Filastin, Amerika und Afghanistan und so, dieser Brennpunkt halt eben, Gazastreifen. Ähm (..). Was interessiert mich noch? Ja also, über (...) Bonn, hier das mit den äh, Landtagswahlen und äh, (…) mit den Wahlen (.) generell.“
In Amals Statement zur geopolitischen Situation im „Greater Middle East“ deutet sowohl die Nennung der USA als Gegenspieler und Hegemonialmacht, wie auch die Wortwahl „Filastin“ (arab. für Palästina), darauf hin, dass Amal sich an dieser Stelle in einem arabischsprachigen Diskurs situiert, in den sie entweder über ihr persönliches Umfeld oder ihre Rezeption arabischsprachiger Medien eingebunden ist.10 Während die von ihr unter den Begriff „Krieg“ gefassten Konflikte ein Dauerthema sowohl in den deutschen als auch in den arabischen Medien darstellen, ist das zweite Thema, das Amal nennt aktueller und bezieht sich auf ihr konkretes Lebensumfeld. Dass sie sich so für die Landtagswahlen 2010 interessiert, zu denen die Koalitionsverhandlungen zum Interviewzeitpunkt noch nicht abgeschlossen waren, erklärt sie damit, dass ein guter Freund des Vaters als Gründungsmitglied und Kandidat des „Bündnisses für Innovation und Gerechtigkeit“ (BIG)11 persönlich an den Wahlen beteiligt war: „Auf jeden Fall, das ist# (...) Ja, da interessiert man sich dann auch natürlich SEHR dafür. Wenn man dann schon so einen großen KONTAKT hat und so. Dann ist das auch ganz interessant. Mann drückt denen natürlich die Daumen (..).“
Ihre Möglichkeit, entsprechend ihrem Interesse zu agieren, stellt Amal jedoch als strukturell eingeschränkt dar: Im Gegensatz zu zwei ihrer Schwestern hat sie keinen deutschen Pass. Selbst wählen konnte sie somit nicht.12
10 Während in deutschsprachigen Medien der Staat Israel den geographischen Referenzrahmen für Berichte aus dieser Region darstellt, benutzen arabischsprachige Medien eher die Bezeichnung Palästina (Filastin). Der „Staat Israel“ meint dann weniger ein Territorium als einen handelnden Akteur. 11 Diese Partei ist aus dem Zusammenschluss von drei lokalen Wählerbündnissen, u.a. dem Bonner „Bündnis für Frieden und Fairness“ hervorgegangen. Zu Entstehungskontext, Programm und Positionierung von Wählerbündnis und Partei vgl. Didero (2013). 12 Im Nachgespräch fragte ich Amal, wie es kommt, dass zwei ihrer Schwestern einen deutschen Pass haben, sie jedoch nicht. Sie erklärte, dass die ältere so den bürokratischen Aufwand in Bezug auf ihre Heirat minimieren konnte, die jüngere Schwester habe sich dann einfach angeschlossen. Für sich selbst sieht sie keine unmittelbare Notwendigkeit, die
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Sie beschränkte sich daher darauf, Geschwister und Freunde über die neu gegründete Partei zu informieren: „Und allein wegen den Werbeplakaten, das sticht ja direkt ins Auge. Wenn die PRO NRW die Moschee durchkreuzt hat und gesagt hat äh, Schleier soll weg. Und wenn man dann sieht, ähm, sympathischer, lächelnder vielleicht Ausländer, […] das erkennt man dann ja direkt. Wo dann auch draufsteht: Für Gerechtigkeit, Gleichheit und äh (…) ja. Gleichberechtigung.“
In ihrem Resümee der Wahlergebnisse bedauert Amal, dass das BIG es nicht ins Landesparlament geschafft habe, dafür jedoch die Linken über 5% gekommen seien. Ihr nachdenklicher Nachsatz dazu „aber ich glaube, es wird immer schlimmer“ überrascht mich und so frage ich „Warum immer schlimmer?“ Auf diese „falsche“ Frage gibt Amal die richtige Antwort, indem sie erklärt, was es ist, das in ihren Augen immer schlimmer wird: „Ja, keine Ahnung (lacht). Ähm (...) ja, (..) wie soll man das sagen? (...) Es werden ja sozusa# ich bemerke immer mehr, dass der Hass gegen Auslände, äh, da ist und dass der wächst eben. Und ähm, ich weiß nicht ob das jetzt nur so ist, weil ich jetzt seit zwei Jahren erst Kopftuch trage, aber man hat mir auch vorher angesehen, dass ich Ausländerin bin. Aber äh, jetzt so, im letzten Jahr und in den letzten Jahren bemerke ich erst äh, (.) dass der Hass größer wird. MD: Mhm. A: Und ähm, (…) ja, keine Ahnung. Früher gabs nicht ne Partei, die PRO NRW hieß und die dann wirklich ganz offen, so groß gegen Ausländer (.) und gegen Islamisierung und äh. Das war noch nie so offensichtlich, kann man sagen.“
Innerhalb der polyphonen Struktur dieses Abschnitts sucht Amal nach ihrer eigenen Position zu dem, was sie berichtet. Sie stellt zunächst die These auf, die (subjektiv) wahrgenommene Veränderung des Diskurses könnte durch ihre persönliche Veränderung, ihre Entscheidung zum Kopftuch, beeinflusst sein. Diesen Einwand entkräftet sie, indem sie anführt, sie sei schon zuvor in die Kategorie ‚sichtbarer Ausländer‘ gefallen. Dieser Argumentation liegt nicht nur erneut eine Gleichsetzung von Kopftuchtragen = Muslim sein = Ausländer sein zugrunde, sondern auch die Schlussregel, dass das Aussehen erstens die Einordnung in Kategorien bedingt und zweitens, dass das eigene Aussehen bzw. die daran geknüpften Kategorisierungen zu einer veränderten Wahrnehmung führen können. Die nicht explizierte Schlussfolgerung an dieser Stelle lautet, dass die wahrgenommene Veränderung real sein muss, da sich Amals objektive Position im gesellschaftlichen und diskursiven Raum nicht verändert hat. Aus einer Außenperspektive betrachtet handelt es sich hier um eine möglicherweise bedeutungsvolle – weil sich gegenseitig verstärkende – Koinzidenz von inneren und äußeren Veränderungen: Amals zunehmende Religiosität und ihre Entscheidung für das Kopftuch, die sie im Jahr 2008 ansiedelt, fallen in einen Zeitraum in dem im benachbarten Köln der Streit um den Bau der DITIB-Zentralmoschee in vollem Gange war.
Staatsbürgerschaft zu beantragen, sie habe auch so alle Rechte. Die strukturelle Einschränkung beruht an dieser Stelle also letztlich auf ihrer eigenen Entscheidung.
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Die in diesem Zusammenhang gegründete „Bürgerbewegung pro Köln“ transformierte sich zu einem Wahlbündnis, das 2009 erstmals auch bei der Kommunalwahl in Bonn antrat. Waren es 2009 noch „einfache“ Anti-Moschee-Plakate, die ProNRW in Bonn aushing (Abb. 16 a und b), so steigerte die inzwischen als Partei zugelassene Gruppierung bei den Landtagswahlen 2010 den Druck, indem sie die graphische Darstellung der Schweizer Anti-Moschee-Kampagne von Ende 2009 übernahm und mit Burka und Minarett-‚Raketen‘ vor schwarz-rot-goldener Fahne ein „Minarettverbot auch für NRW“ einforderte (Abb. 16 c). Abbildung 16: PRO NRW als Anti-Islam-Partei
a)
b)
c)
Quellen: http://img3.imagebanana.com/img/mesynt2k/pronrw2.jpg (a und b) http://www.pro-nrw.net/wp-content/uploads/ltwflugblatt.jpg (c)
Als Beleg für ihre These, „es wird immer schlimmer“, erzählt Amal von einer Informationsveranstaltung, in der von muslimischer Seite aus der Zusammenhang zwischen Terrorismus und Islam widerlegt werden sollte. Aufgrund von Extremismusvorwürfen von PRO NRW hätte der Vermieter jedoch dann den Mietvertrag zurückgezogen: „Und dann wurde das alles auf die Straße verlegt. […] Das fand ich auch gut: Dann hat wirklich der Pierre Vogel, ich weiß nicht ob Sie ihn kennen, das ist nen konvertierter Deutscher, der hat das alles geleitet.(..) Der hat dann gesagt: ‚Ja, okay, wenn jetzt die PRO NRW uns äh, angegriffen hat, dann schlagen wir zurück. Wir bauen das alles auf der Straße auf‘. Dann haben sie hier in Bad Godesberg nen Podest aufgebaut. Riesengroße Boxen und Mikrofon. Und danach haben die den Vortrag, natürlich aber mit Polizei und polizeilicher Erlaubnis, ist dann ja wie eine Demo dann, die muss man dann ja auch anmelden. […] Und dann hat man auch ganz öffentlich gesagt: ‚Ja, die PRO NRW äh, die Partei hat uns äh, nen Strich durch die Rechnung gemacht, die haben uns den äh, den Mieter, den Vermieter auf den Hals gehetzt, sozusagen.‘ MD: Mhm. A: ‚Und mit Lügen ähm, (…) behauptet, dass wir irgendwie radikal wären. Und wir versichern, dass Islam ist einfach ne friedliche Religion. Auch wenn viele, viele das (…) nicht glauben wollen‘ […] ähm, hat man gesagt: ‚Ja, haben wir das jetzt auf die Straße versetzt, weil uns ist einfach wichtig, dass die Deutschen dann wissen, dass das einfach friedlich ist, hier alles‘. Und da waren auch sehr, sehr viele Zuhörer. Ich persönlich war jetzt nicht da, aber es war
160 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT (..) äh, sehr interessant zu hören. Und das gibt’s auch in YouTube. Und in den ganzen Internetseiten und so, steht das auch noch mal drauf.“
Diese Erzählung ist insofern interessant, als sie durch die Form der episodischen Erzählung mit langen Zitaten direkter Rede bis zur Auflösung im letzten Satz so wirkt, als handele es sich um die Schilderung einer selbst erlebten Situation. Dabei beruht Amals Darstellung vielleicht sogar nur auf Hörensagen. Dem zitierten Video-Clip lässt sich nämlich entnehmen, dass es sich wahrscheinlich um den Vortrag „Wie steht der Islam zum Terrorismus?“ handelt, der Anfang 2010 in Bonn-Beul stattfand – nicht wie von ihr angegeben im Jahr 2008 in Bad Godesberg. Diese Details sind jedoch für die hier dar- und hergestellte narrative Identität irrelevant. Denn mittels der unmittelbaren Form der Darstellung und durch ihre zustimmenden Einschübe positioniert sich Amal in Einklang mit der dargestellten Haltung. Sie artikuliert sich hierdurch innerhalb eines Gegen-Diskurses der – nachdrücklich und öffentlich – ein dem hegemonialen Islambild widersprechendes Religionskonzept vertritt. Eine deutlich ambivalentere Positionierung nimmt Amal in Bezug auf die deutschen Integrationsdebatten ein. In Bezug auf meine Rückfrage woher denn die zunehmende Feindlichkeit kommt, ist nicht ganz klar ob sie meinen leisen Zusatz „von den Medien?“ noch gehört hat. Sie antwortet sehr schnell mit einem zunächst überraschenden Perspektivwechsel und stellt die These auf: „Klar, (..) einerseits ist das auch sozusagen unsere Schuld. Wenn ich sehe wie einige Kinder, die Mar- äh, Ausländer sind, erzogen worden sind, äh (…) die werden immer, (..) äh ja, krimineller, sozusagen. Natürlich nicht alle, aber klar, gibt es welche. Und die fallen dann natürlich MEHR AUF als vielleicht nen deutscher Krimineller.“
Ob es mehr ausländische Kriminelle sind, oder diese nur mehr auffallen, lässt Amal offen. Während sie sich zunächst gegen Verallgemeinerungen wehrt,… ‚Der hat mir das Auto geklaut, oder ist […] eingebrochen. Und der war jetzt marokkanischer Staatsbürger. Dann sind doch wohl alle so. Dann ist die Familie DAFÜR, dass er einbrechen geht. Und dann sind die Ausländer so‘. Und dann wird das alles in eine Kiste gepackt.“
… artikuliert sie sich schon im nächsten Satz selbst in hegemoniale Positionierungen: „Ja, keine Ahnung. Also klar, (..) auf jeden Fall äh, sind die JUGEND äh (…) die (…) in- integrieren sich immer weniger (..) Egal ob jetzt Türke, Marokkaner, Tunesier oder so. Aber es ist schon so, dass die dann bei- unter sich bleiben. Und nicht so den Bezug zu anderen suchen und versuchen sich zu integrieren. (.) Dann landen die ja eben auf der Hauptschule, kriegen da nen Hauptschulabschluss und dann (..) Hartz IV oder (…) n Job in der Tankstelle oder irgendnem Restaurant. Aber wirklich der Bezug zur (..) Kultur, der, Deutschland und so kulturellen Sachen, (.) der ist einfach nicht da.“
Während Amal sich im ersten Satz selbst noch in die diskursiv angerufene Kategorie eingeschlossen hatte („unsere Schuld“), ist diese Passage aus einer deutlichen Distanz heraus formuliert: Es sind „die Jugendlichen“ – zu denen sie sich offensichtlich nicht zählt – die sich desintegrieren und infolgedessen weder Bildungs- noch Berufs-
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erfolge vorzuweisen haben. Amal bestätigt an dieser Stelle den hegemonialen Diskurs („klar“,„es ist schon so“) und die zugrunde liegende Schlussregel, „nur wenn man sich selbst bemüht, sich zu integrieren, kann man Erfolg haben“. Durch die Reproduktion eines Diskurses, der Zuwanderern in Deutschland Integrationsunwilligkeit und die Bildung von Parallelgesellschaften zuschreibt (vgl. Kap. 3.2) und sie alleine für ihr eigenes Schicksal verantwortlich macht, wird in diesem Kontext die Position eines Subjekts im sozialen Raum als Resultat der individuellen „agency“ dargestellt. Dass es strukturelle Hindernisse geben könnte, oder dass Kategorien symbolischer Herrschaft dazu beitragen könnten, dass subalterne Positionierungen reproduziert werden, bleibt in dieser Diskursartikulation zunächst ausgeblendet. Als zweiten wesentlichen Grund für die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland benennt Amal jedoch den Rassismus als wesentliche Kategorie symbolischer Herrschaft. Historisch verwurzelt würde diese Einstellung von einer Generation an die nächste weitergegeben: „und so wächst das ja auch wieder“. Als entscheidenden Einschnitt hinsichtlich der deutschen Haltung in Bezug auf Zuwanderer sieht Amal den 11. September an: „Das war ja auch nen riesengroßer (…) ähm, (..) sozusagen Schlag ins Gesicht“. Denn: „Jeder weiß, dass das alles von den FBIs, äh, FBIs und Amerika gestellt worden ist“. Mit dieser Auffassung steht Amal nicht alleine dar (vgl. Kap. 6.5.2). Besonders kennzeichnend für ihre Darstellung der Ereignisse ist jedoch, dass sie sowohl in Bezug auf die Attentäter selbst als auch in Bezug auf die Folgen die Kategorien Ausländer und Muslime synonym setzt: „Deswegen, und wenn dann so was passiert ist wie jetzt der 11. September, dann sagt man ‚Oh mein Gott, […] das äh, wieder der Islam. Das war wieder hier, die Moslems, das waren wieder die Ausländer.‘ Dann zieht man sich natürlich immer weiter zurück. Man bleibt nicht mehr so offen wie vorher. Vielleicht vor fünf Jahren sogar vor sechs, sieben# […] Seit 2000 nicht mehr. Dann 2001 ist das passiert und danach […] ja, es wurde immer schlimmer.“
Mit der hier aufgestellten Reihung ‚der Islam‘, ‚die Moslems‘, ‚die Ausländer‘ reartikuliert Amal die Äquivalenzen, die das deutsche Islambild seit Mitte der 2000er Jahre kennzeichnen. Da sie selbst anhand dieser Kategorien identifiziert wird bzw. diese benutzt, um sich selbst zu identifizieren, ist es für sie wichtig, dass gegen dieses negative Islambild eine Gegenposition etabliert wird: „Und der Buhmann ist dann ganz einfach ähm (.) ja, die Moslems, der Ausländer im Allgemeinen. Und manche geben sich damit zufrieden, manche aber auch nicht. Manche versuchen, es wirklich aufzuklären (…). Manche nehmen das eben halt hin. Aber dann brauchen die sich nicht zu wundern wenn hier in Deutschland zum Beispiel (…) es verboten wird, äh, Hijab zu tragen. Oder äh, ähm, es verboten wird, hier Minarette aufzubauen. Wie zum Beispiel jetzt in der Schweiz und so. Es ist einfach so, da ist äh, nicht der Gegendruck. Hier in Bad Godesberg ist es nämlich auch so, dass viele versuchen, nen Gegendruck DARZUSTELLEN und zu ZEIGEN, dass wirklich der Islam nicht so ist wie viele denken.“
Die hier gedoppelt auftauchende Kontrastierung zwischen denjenigen, die den negativ konnotierten Islamdiskurs hinnehmen und denjenigen, die versuchen, die Vorurteile zu widerlegen und eine alternative Interpretation zu etablieren, wiederholt Amal mehrfach während des Interviews. Es scheint sich also um eine für sie relevante Un-
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terscheidung zu handeln. Als Grund für ihre Befürwortung eines „Gegendrucks“ führt Amal das in der Schweiz einige Monate zuvor beschlossene Minarettverbot an, das – der hier vorliegenden Schlussregel zufolge – durch eine dort fehlende wortstarke Opposition ermöglicht bzw. begünstigt worden sei. Derartige Einschränkungen der religiösen Praxis möchte Amal in Deutschland, als der für sie relevanten juristischen Raumeinheit, nicht erleben: „Und wir wollen ja jetzt nicht, dass hier jetzt irgendwie nen Verbot kommt für Hijab und so weil wir wollen natürlich schon in Deutschland bleiben. Ist ein schönes Land, warum nicht? (.) Ähm, aber# ja, deswegen.“ (lacht kurz) MD: „Ja, klar, das ist dann (…) dann schwierig.“ A: „Hm. Es gibt wirklich nicht viele Länder, […] die so tolerant sind wie Deutschland. Okay, London. Man spricht äh, davon, dass [es] in London sehr tolerant sei. […] Aber äh, ich weiß nicht. Deutschland ist für uns sozusagen PERFEKT. Nat# Marokko ist unsere Wurzel, Marokko ist wunderschön. Aber Deutschland sind einfach MEHR MÖGLICHKEITEN. Man kann in zehn Jahren noch mal abwarten. Wenn man Deutschland und Marokko vergleicht, was wirklich sich dann, vielleicht äh, interessanter für einen ist.“
Amals argumentativer Abwägung liegt hier die These zugrunde, dass sie – als verschleierte Frau – nicht mehr in Deutschland bleiben kann, wenn ein Kopftuchverbot erlassen wird. Als Alternative fällt ihr „London“, also Großbritannien ein. Sie hat von anderen Muslimen gehört, die wegen der Toleranz dorthin gezogen sind. Sie selbst war jedoch noch nie dort und kann sich einen Umzug dorthin nicht vorstellen. Marokko wiederum ist ihr ein Begriff. Aber, auch wenn sie das Land als „wunderschön“ charakterisiert: Es ist Teil ihrer Vergangenheit, repräsentiert ihre „Wurzeln“ und ist höchstens als Teil ihrer sehr fernen Zukunft vorstellbar. Für ihr gegenwärtiges Leben und ihre unmittelbaren Zukunftspläne ist es jedoch Deutschland, das sie als „perfekt“ passend empfindet. Damit ihr Lebensumfeld weiterhin so „perfekt“ bleibt und sie auch weiterhin an dem Ort, an dem sie leben möchte, ihre neue religiöse Identität in Form ihrer aktuellen Religionspraxis ausüben kann, ist für sie jener „Gegendruck“ nötig, für den sie sich im obigen Zitat stark macht. Gerade weil sie also ihre Zukunft in Deutschland sieht, solidarisiert und identifiziert sie sich so stark mit den Gruppen, die für sie diesen Gegendruck repräsentieren, dass sie diese auch aktiv unterstützen möchte: „Sei es mit Geld, oder (.) einfach indem ich auch Flyer verteile und so. Ja, keine Ahnung. Ich hab hier (lacht) auch welche sogar dabei, können Sie sich, kannst Du dir mal angucken.“13
13 Die Dokumente, die Amal mir zeigt, sind von verschiedenen muslimischen Gruppen herausgegeben worden, die in deutscher Sprache Aufklärungs- und Missionierungsarbeit (Dawa) leisten. Dazu gehörten Flyer von den beiden bekannten, als salafistisch eingeordneten Organisationen „Die Wahre Religion“ (Abu Dujana, Köln; Abou-Nagie, Köln) und „Einladung zum Paradies (Pierre Vogel, Bonn), aber auch Broschüren von der Gruppe „Dar-ul-Huda“, die sich in Bad Godesberg konstituiert hat und dort auf zentralen Plätzen, also in Amals unmittelbarem Lebensumfeld, Informationsstände organisiert.
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Auffällig in diesem Gesprächsteil ist eine deutlich veränderte Perspektive: Während Amal zuvor über ihr „Kopftuch“ sprach und selbst die islamische Feier für das Neugeborene ihrer Schwester selbstverständlich als „Taufe“ bezeichnete, benutzt sie nun die arabischen Begriffe „hijab“ für das Kopftuch sowie „niqab“ für den Gesichtsschleier. Auch wenn Amal sich hier also – wie an anderen Stellen zuvor auch – als Muslima positioniert und identifiziert, klinkt sie sich in ein deutlich anders strukturiertes Diskursfeld ein, indem sie – ganz selbstverständlich, unbewusst und ohne die Wortwahl zu reflektieren oder mir zu erklären – die von ihr zuvor genutzten deutschen Begrifflichkeiten durch religiös geprägtes Spezialvokabular ersetzt. 5.1.3. Zusammenschau Die Frage, wie sie zu derjenigen geworden ist, die sie heute ist, wird in Amals narrativer Identität hauptsächlich durch die Kontrastierung der Lebensweise während der Ausbildung mit ihrer heutigen Situation beantwortet: Als Teenager habe sie sich wie andere Mädchen ihres Alters für „Kino, Schminke und ein bisschen Jungs“ interessiert, wobei sie aus heutiger Perspektive damit nicht glücklich war. Heute ist sie mit ihrer neu gefundenen Religiosität und ihrer aktuellen Lebensgestaltung sehr zufrieden. Musste sie zuvor ihre Ausbildung abbrechen, so präsentiert sie sich nun als fest entschlossen, ihre Schulbildung abzuschließen. Die Frage, warum und wie dieser Wandel vom erzählten zum erzählenden Ich ausgelöst und erlebt wurde, beantwortet Amal nicht – die entsprechende Periode bleibt in ihren Erzählungen ausgeblendet. Durch ihre Selbst-Identifizierung als „eine, die keine Pläne macht“ signalisiert Amal, dass sie sich ihrer eingeschränkten Handlungs- und Entscheidungsmacht bewusst ist. Jenseits ihrer Abhängigkeit von dem von ihr als nicht beeinflussbar charakterisierten Gesundheitszustands jedoch definiert sich Amal in Bezug auf ihre berufliche Zukunft als zielorientiert. Auch in ihren sozialen Positionierungen identifiziert Amal sich einerseits als angepasst und in Einklang mit den von ihr als selbstverständlich geltend empfundenen Normen und Regeln ihrer Familie und ihres sozialen Umfeldes. Andererseits beansprucht sie in Bezug auf die Wahl ihres zukünftigen Ehepartners eine selbstbestimmte Positionierung. Auch hinsichtlich ihrer älteren Schwester stellt sie sich als einerseits fürsorglich und hilfsbereit, aber andererseits auch als die Stärkere und Verantwortungsvollere der beiden dar. Ohne also aus ihrer weiblichen Rolle als freundlich, sympathisch und aufmerksam (Bourdieu 2005a, 117) zu fallen, entwirft sich Amal dennoch im Widerspruch zum hegemonialen Bild der unterdrückten und willenlosen Muslima, die unter einem familiären Patriarchat leidet. Amal definiert sich relational nicht nur als Schwester, Tochter und potenzielle Ehefrau, sondern auch als Schülerin, die – eigentlich – noch nicht in Produktionsverhältnisse eingebunden sein sollte. Ihre Nicht-Konformität mit dieser von ihr empfundenen Normalitätserwartung erklärt sie mit „Geldproblemen“, wobei sie andererseits „nicht eine ist, die Geld verschwendet“. Die zentralen Differenzlinien, auf die Amal im Interviewkontext zurückgreift, sind zum einen die Geschlechterdifferenz, zum anderen die Unterscheidung zwischen Ausländern und Deutschen (wobei die Kategorien Muslim und Ausländer oft synonym gesetzt werden). Obwohl Amal sich selbst innerhalb der Kategorie „Ausländer“ verortet, weist sie dieser Kategorisierung für ihre narrative Identität keine negativen Folgewirkungen zu. Ihre fehlende deutsche Staatsbürgerschaft sieht sie nicht als
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Nachteil an. Obwohl sie nicht wählen darf, hat sie das Gefühl, „alle Rechte“ zu haben. Andererseits ist die Kategorie „Ausländer“ für Amal nicht nur juristisch definiert, sondern wird ihr auch aufgrund visueller Merkmale zugewiesen, es handelt sich also um eine rassifizierende symbolische Klassifikation (vgl. Winker und Degele 2009, 47). Mit ihrer Selbstdefinition als „Zwischending“ und ihrem Claim der Umgänglichkeit und der sozialen Vernetzung quer zu diesen antagonistischen Kategorien sieht Amal jedoch auch hierin kein besonderes Problem. Rassistische Diskriminierung im engeren Sinne hat sie persönlich nicht erlebt. Problematisch wurde die FremdIdentifizierung als Ausländerin für sie erst, seit die Kategorien ‚Ausländer‘ und ‚Muslim‘ in Folge der Attentate von 2001 ko-konstitutiv geworden sind und sie aufgrund ihrer Entscheidung für das Kopftuch als Teil dieser ko-konstitutiven Gruppe sichtbar wurde. Die seitdem medial, politisch und gesellschaftlich zutage tretende Islamfeindlichkeit wird von ihr als Gefahr wahrgenommen, die in Zukunft entweder ihre Wahl einer bestimmten (nämlich sichtbar religiösen) Lebensweise oder eines Lebensortes einschränken könnte. Die zweite zentrale Differenzlinie, die in unterschiedlichen Kontexten innerhalb des Interviews relevant gemacht wird, ist die Geschlechterdifferenz. Dass dabei sex (biologisches Geschlecht als Grundlage eines als ‚natürlich‘ wahrgenommenen und daher unhinterfragten Unterschieds), gender (als sozial regulierte Geschlechteridentität und sozial ausgehandelte Geschlechterrollen) und desire (inklusive heterosexueller Ausprägung als normative Grundlage und Normalitätsvorgabe sexueller Beziehungen) wie bei Butler (1991, 22-25) postuliert als ineinander verflochtener Dreiklang wirksam werden, lässt sich auch in Amals her- und dargestellter Geschlechtsidentität zeigen. Gestützt auf die Basisannahme einer als natürlich zweigeschlechtlich und heterosexuell organisierten sozialen Welt handelt Amal im Interview ihre Position und Rolle als Frau sowie die an sie herangetragenen Handlungsannahmen und Verhaltensnormen aus (vgl. Winker und Degele 2009, 45). Die große Bedeutung, die dieser Kategorie für Amals narrativer Identität zukommt, ist sicherlich nicht zuletzt auf ihr Alter zurückzuführen. So ordnen Soziologen die Adoleszenz ganz allgemein als „heiße Phase der Produktion von Geschlechtlichkeit“ ein (King 2002, 67 vgl. Spies 2010, 239ff.). Zu diesem Phänomen kommt bei Amal noch die in die Jahre vor dem Interview fallende religiöse Umorientierung, die ebenfalls eine Neuverhandlung der Geschlechterverhältnisse auslöst sowie nicht zuletzt auch die „Anrufung“ als zukünftige Ehefrau, die sie ebenfalls in ihrer Eigenschaft und Rolle als Frau adressiert. Was in Amals narrativer Identität nur am Rande Erwähnung findet, ist ihre Position im sozialen Raum. Sie beschreibt ihr Herkunftsmilieu als einfach. Als Maurer und Hausfrau mit Gelegenheitsjobs verfügen ihre Eltern weder über ausgeprägtes finanzielles Kapital noch über hoch bewertetes kulturelles Kapital. Während ihre Geschwister über ihre schulische und berufliche Orientierung diese Position im sozialen Raum weitgehend reproduzieren, zeigt Amal durch ihren aktuellen Job, ihre weitergehenden Bildungsaspirationen und die auf Nachfrage genannten prestigeträchtigen Studienfächer an, dass sie einen Bildungsaufstieg anstrebt. Dennoch grenzt sie sich von den anderen Familienmitgliedern nicht ab. Indem sie sowohl ihre eigene Beschäftigung als auch die Jobs ihrer Mutter als „nur Reinigungskraft“ und „nichts Großartiges“ qualifiziert, artikuliert sie sich innerhalb eines neoliberalen Diskurses, der über unterschiedliche symbolische Werte von
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Beschäftigungen auch die entsprechenden Einkommensunterschiede rechtfertigt und so soziale Ungleichheiten legitimiert. Während jedoch ein solcher neoliberaler Diskurs grundsätzlich auch die Gestaltbarkeit des eigenen Körpers sowie die Eigenverantwortung eines jeden für den eigenen Körper postuliert (vgl. u.a. Strüver 2012), kehrt Amal das „Herrschaftsverhältnis“ um: Nicht sie gestaltet ihren Körper, sondern dieser beschränkt und bestimmt durch seine Funktionsfähigkeit ihre zukünftigen schulischen und beruflichen Potenziale. Die Zugehörigkeiten, die Amal über „Wir“- Formulierungen konstruiert, beziehen sich an vielen Stellen des Interviews auf ihre Kernfamilie. Enge Beziehungen unterhält sie insbesondere zu ihrer Mutter und älteren Schwester. Ein Gefühl der Zugehörigkeit, das auf geteilten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata beruht, rekonstruiert Amal auch mit Bezug auf die Familie ihrer Mutter in Tanger. Dem Milieu, dem ihr Vater entstammt, das sie im ländlichen, berbersprachig geprägten Nordosten des Landes lokalisiert, fühlt sie sich dagegen nicht zugehörig. Zu groß ist hier die wahrgenommene (oder befürchtete) Differenz der habituell erworbenen Dispositionen. Obwohl Amal sich selbst als Marokkanerin bzw. Ausländerin identifiziert, sind dies keine Kategorien anhand derer sie eine Zugehörigkeit formuliert. Gerade in Bezug auf das negative Medienimage von Bad Godesberg und die daran gekoppelte Repräsentation ausländischer (muslimischer) männlicher Jugendlicher als kriminelle Elemente macht sie deutlich, dass man hier nicht verallgemeinern darf. Ihre jüngeren Geschwister charakterisiert sie explizit als nicht dieser medial konstruierten Kategorie zugehörig. Die Fremd-Identifizierung und Anrufung als Muslima dagegen übernimmt Amal nicht nur in Form einer Selbst-Identifizierung, sondern sie definiert sich in diesem Fall auch als zugehöriger Teil dieser sozial konstituierten Kategorie. Sie hält die Anrufung nicht auf Distanz. Stattdessen artikuliert sie sich in den entsprechenden Passagen in eine Subjektposition, aus der heraus sie die Notwendigkeit empfindet, ihre Religion gegen Vorurteile und negative Charakterisierungen verteidigen zu müssen. Diese soziale Kategorisierung ist es auch, die am stärksten mit den von ihr ortsbezogen formulierten Zugehörigkeiten zusammenhängt: Charakterisiert sie Deutschland derzeit als „perfekt für uns“ – uns als Familie und uns als Muslime – so befürchtet sie, dass das Negativimage des Islams in Zukunft auch in Deutschland zu Einschränkungen ihrer aktuell möglichen Religionspraxis führen könnte. Zum Zeitpunkt des Interviews wäre dies für Amal der einzige denkbare Grund, Deutschland zu verlassen. Eine wirkliche räumliche Alternative sieht sie jedoch nicht: Großbritannien steht zwar im Ruf, sichtbarer muslimischer Religionspraxis toleranter gegenüberzustehen, aber sie war noch nie dort und kann sich ein Leben dort nicht vorstellen. Marokko dagegen kennt sie. Sie beschreibt es als „wunderschön“ und wichtigen Teil ihrer Familiengeschichte. Dennoch käme ein Leben dort nur in ferner Zukunft und in Folge von Veränderungen in Deutschland und Marokko in Frage. Auch wenn Amal die Begriffe ‚Heimat‘ und ‚zu Hause fühlen‘ im Rahmen ihrer narrativen Identität nicht einbringt, zeigen ihre Abwägungen dennoch, dass Deutschland den für sie relevanten Lebenskontext repräsentiert. In Bonn speziell fühlt sie sich aufgrund der dort erlebten Toleranz, der „heimischen“ Infrastruktur und ihrer familiären und freundschaftlichen Netzwerke sehr wohl. Als einzigen für die Zukunft vorstellbaren Orts-
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wechsel nennt sie den Umzug in eine andere westdeutsche Stadt. Allerdings auch dies nicht alleine oder grundlos, sondern z.B. als Folge einer Heiratsentscheidung.
5.2. R AIF : „I CH
HATTE EIN
V ORURTEIL
GEGEN
D EUTSCHE “
Kurzbiographie Raif ist 30 Jahre alt und arbeitet als selbstständiger Gebrauchtwarenhändler. Geboren wurde er in einem Dorf in der Nähe von Berkane im Nordosten Marokkos, wo sein Vater die familiäre Bäckerei führte. Mitte der 60er Jahre war sein Großvater als Arbeitsmigrant nach Deutschland gekommen. Bereits nach kurzer Zeit holte er seine Frau und die Kinder nach. Da diese sich in Deutschland jedoch nicht wohlfühlten, ging der Großvater mit seiner Frau und den jüngeren Kindern nach Marokko zurück und ließ seine beiden ältesten Söhne, darunter Raifs Vater, zum Arbeiten in Deutschland zurück. Als der Großvater jedoch starb, musste Raifs Vater nach Marokko zurückkehren, um sich dort um die restliche Familie zu kümmern. Er heiratete dort und gründete eine Familie. Als Raif acht Jahre alt war, beschloss sein Vater, ihn nach Deutschland zu schicken. Er wuchs daher bei seinem Onkel und seiner Tante in Bergheim auf. Die Hoffnungen seiner Eltern auf eine gute Ausbildung und ein besseres Leben für ihn erfüllen sich nur teilweise. Raif absolvierte die Grund- und Hauptschule und fing dann sofort an, als Paketfahrer zu arbeiten. Mit seinem aktuellen Beruf als Autohändler scheint er jedoch sehr zufrieden zu sein. Nach einem kurzen Intermezzo in Köln wohnt er heute wieder in Bergheim. Er hat eine eigene Wohnung in der Nähe seiner Familie und seiner Kindheitsfreunde. Über etwaige Familien- oder Heiratspläne erzählt er nichts. 5.2.1. Ansprache, Interviewsituation und Einstiegserzählung Vermittelt wurde das Interview mit Raif durch einen seiner marokkanischen Bekannten. Bei dem Interview, das im November 2010 in einem offensichtlich als Treffpunkt fungierenden Eiscafé in der Bergheimer Innenstadt stattfand, waren der vermittelnde Bekannte sowie eine Kollegin von ihm anwesend. Beide brachten sich durch kurze Kommentare bzw. Nachfragen in das Gespräch ein, blieben dabei jedoch im Kontext der Interviewthematik. Insgesamt verlief das Gespräch in einer lockeren, entspannten Atmosphäre. Nachdem ich mich und mein Forschungsinteresse vorgestellt hatte und Raif bat, seine Lebensgeschichte zu erzählen, verwies er mich allerdings zuerst darauf, dass seine Lebensgeschichte „für vierzig reicht“ – und vermittelt mir somit, dass sie nicht so einfach und schnell zu erzählen sei. Er fragt dann mehrmals nach, was ich denn genau hören möchte. Seine anfängliche Verunsicherung, die sich in nur kurzen Antworten und vielen Füllwörtern (ähm) niederschlägt, verfliegt nach den ersten fünf Minuten, als er sich in die Rolle des Erzählers einfindet. Die letzte Viertelstunde des Gesprächs bestreitet er weitestgehend autonom. Dabei entwickelt er aus seiner eigenen Biographie heraus einen sehr klaren Standpunkt zu aktuellen (Integrations-)Debatten in Deutschland, den er mir sehr nachdrücklich vermittelt.
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R: „Meine Lebensgeschichte, das reicht für vierzig“. MD: (lacht) „Ja, genug zu erzählen?“ R: „Genau (..)“ MD: „Ja, dann würde ich Sie bitten, einfach anzufangen (.) [mit ihrer]“ R: „[mit was, was wollen Sie denn genau wissen?]“ MD: „Mit Ihrer Lebensgeschichte. Einfach so von Anfang an, was Ihnen einfällt, was wichtig war für Sie (..)“ R: „Also ich bin, äh seit 1988 hier. (.) Bin äh, mit:: (.) nicht mit meinen Eltern hier, sondern nur mit, äh Verwandtschaft hier. Und bin hier äh, (.) seit der zweiten Klassen, äh, Grundschule (.), dann die Hauptschule. (.) Hab leider keine Ausbildung oder so was gemacht, aber, äh (.) bin, äh (.), hab (.) ja, ja, also seit der Grundschule hier, das heißt viel mitbekommen. Hab natürlich viel mehr hier gelebt als wie in Marokko meine Heimat. Äh, (.) mein, meine Heimat kenne ich jetzt mehr nur vom, vom Urlaub. (.) Und ich hab dort natürlich meine Eltern noch, meine Geschwister hab ich auch noch da. Ich hab da, äh (.) Omas und so, Verwandten, Tanten und so, die ich auch regelmäßig besuchen gehe, (.) fast jedes Jahr. (holt Luft) Aber, äh (.) leben, und, und (.), also ich fühl mich dann hier mehr zu Hause als da drüben, natürlich. Ne? (..) Ja. (.) Äh, was (.) wollen Sie denn [hören]?“
Diese vergleichsweise kurze Einstiegserzählung, abgeschlossen mit der verunsicherten Frage „Was wollen Sie denn?“ kontrastiert mit Raifs Einstiegsthese, er hätte mehr als genug zu erzählen. Sowohl der schnelle Abbruch als auch die vielen Füllwörter, die kurzen elliptischen Sätze und die suchenden Formulierungen zeigen, dass er sich die ihm von mir zugewiesene Rolle als Erzähler noch aneignen muss. Inhaltlich beginnt Raif seine Erzählung nicht – wie man erwarten könnte – mit seiner Geburt und seiner Kindheit in Marokko, sondern steigt, ähnlich wie viele der von mir interviewten Studienmigranten, gleich mit seiner Ankunft in Deutschland ein. Seine Vita skizziert er nur kurz mit wenigen Stichworten. Dem impliziten Erwartungshorizont einer ‚Normalbiographie‘ widerspricht er, indem er darauf verweist, dass der nicht mit seinen Eltern da ist, sondern nur mit „Verwandtschaft“. Durch die Wahl dieses sehr allgemeinen kategorischen Begriffs (statt z.B. der Benennung eines konkreten Verwandtschaftsgrads) sowie das Fehlen eines Possessivpronomens bleibt der Satz einerseits sehr vage, anderseits wird ein größtmöglicher Kontrast zu einem behüteten Aufwachsen in der eigenen Kernfamilie konstruiert. Auch die darauffolgenden Angaben zu Raifs schulischer Laufbahn bleiben auffallend vage: Ob er beispielsweise einen Hauptschulabschluss gemacht hat oder ohne Abschluss die Schule abgebrochen hat, erfahre ich nicht. Erneut verweist Raif darauf, dass er den Erwartungen an eine ‚Normalbiographie‘ nicht entspricht, da er „leider KEINE Ausbildung“ gemacht hat. Die Vagheit der Formulierung hält offen, ob dies auf eigenen Wunsch oder aus eigenem Versäumen oder aufgrund struktureller Hindernisse erfolgte, wobei die aktive Formulierung sowie das Adverb „leider“ darauf hindeuten, dass es eine eigene Entscheidung war, die er aus heutiger Sicht als Versäumnis ansieht. Erst sehr viel später, fast am Ende des Interviews, deutet Raif an, dass sein Verhalten in der Schule nicht ganz unproblematisch war, wobei er auch dann nicht weiter ausführt, ob und welche Konsequenzen dies für seine schulische und berufliche Karriere letztlich mit sich brachte. Raif beendet seinen Verweis auf das Fehlen einer Ausbildung mit einem „aber“, das syntaktisch seltsam unverbunden im Raum steht. Er hätte den Satz z.B. beenden können: „Aber nachdem ich einige Jahre als Paketfahrer gearbeitet habe, führe ich heute einen Gebrauchtwarenhandel. Ich bin mit meiner Tätigkeit sehr zufrieden, sie
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macht mir viel Spaß“. Diese Informationen erhalte ich jedoch erst später auf meine explizite Nachfrage hin. In seiner Eingangserzählung scheint Raif zunächst eine andere Information, eine andere Positionierung entscheidender zu sein. Er führt den Satz (logisch scheinbar inkonsistent) fort, indem er nach kurzem Stottern darauf verweist, dass er bereits seit seiner Grundschulzeit „hier“ ist und daher „viel mitbekommen“ hat. Raif positioniert sich in diesem Abschnitt auf zwei Ebenen: Zum einen verortet er sich geographisch. Er kontrastiert ein nicht näher definiertes „Hier“ mit einem „Dort“, „Dadrüben“, was sich aus seiner aktuellen Sprecherposition heraus auf Marokko bezieht. Auch wenn er das Land bzw. den Ort, an dem er geboren wurde, und wo seine Eltern und Geschwister wohnen, weiterhin als „Heimat“ ansieht, lautet seine Konklusion, dass er sich „hier“ „natürlich“ mehr zu Hause fühlt. Als begründenden Fakt führt er an, dass er hier länger gelebt hat. Die dieser Argumentation zugrunde liegende Schlussregel (die er später im Gespräch weiter expliziert) lautet, dass man an dem Ort, an dem man am längsten gelebt hat, an dem man (für ihn seit der Latenzphase; vgl. Kap. 2.2.2) aufgewachsen ist, sich automatisch am ehesten zu Hause und zugehörig fühlt. Zum anderen positioniert sich Raif mit dieser Argumentation sofort sehr eindeutig mit Bezug auf mein Forschungsinteresse – die Lebenssituation von Personen mit marokkanischem Familienhintergrund. Durch seinen gehäuften Gebrauch des Deiktikons „hier“ macht er mir deutlich, wo er sich verortet sieht und worüber er mit mir sprechen kann und will: Während er Marokko nur noch vom Urlaub kennt, hat er „hier“ viel mitbekommen, worüber er erzählen kann: er positioniert sich als Experte für das „Hier“, nicht für das „Dort“. Folglich reagiere ich auch auf seine abbrechende Frage nicht mit einer Nachfrage zu seiner Kindheit in Marokko, sondern setze noch einmal dort an, wo er seine Erzählung angefangen hat und frage ihn: MD: „Ja, wie kam es, dass Sie dann nach Deutschland gekommen sind als Kind?“ R: „Pff, ich selbst, also ich selbst hab das gar nicht entscheiden können. Ich war acht Jahre alt. Äh (.) mein:: Vater war ganz::: früher hier. Und, äh, die sind dann der Meinung gewesen, mit meinem Onkel zusammen, äh, dass ich hier zur Schule gehen sollte und so was, hier eine Ausbildung mache und, und, und. Ja (.). Äh, haben sich ein bisschen verrechnet. (saugt Luft) Aber die (.) meinten, dass, äh, also die Bedingungen hier wären, besser wie da drüben. Deswegen sollte ich dann rüber, wurde dann so entschieden. Und ich bin dann gekommen. Ich äh, hab das ja nicht so verstanden, damals. Ich war dann auf einmal hier (..) und, äh (.) dann (..) hab ich hier gelebt. MD: Ja. R: Ne. Also (.) das war jetzt ne Entscheidung von, von Eltern, und Onkels und so weiter. Ja, das war der Grund, warum ich hier bin.“
Raif macht in seiner Antwort sehr deutlich, dass er – wie die allermeisten der im Familiennachzug nach Deutschland gebrachten Kinder – kein Mitspracherecht bei der Entscheidung der Erwachsenen hatte. An dieser Stelle werden die innerfamiliären Machtverhältnisse deutlich, die u.a. durch die Differenzlinien von Alter und Geschlecht bestimmt werden. Ebenso wie sein Vater, der zuerst vom Großvater als Ersatzarbeitskraft in Deutschland zurückgelassen wurde und dann als ältester Sohn die Rolle seines Vaters als Familienernährer in Marokko übernehmen musste, wird auch Raifs Biographie durch die Beschlüsse der männlichen, älteren Familienmitglieder gelenkt.
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An dieser Stelle bin ich gedanklich noch mit dem für mich überraschenden Umstand beschäftigt, dass es in Deutschland Ende der 1980er Jahre im Kontext der Rückkehrförderungen gelingt, die Einreiseerlaubnis für ein nicht leibliches Kind zu erhalten. Meine erstaunte Rückfrage formuliere ich dann aber offensichtlich missverständlich: MD: „Ja. Und das ging so einfach, dass Sie dann hier bei Ihrem Onkel wohnen?“ R: „Ja. Das, (.) das geht bei uns. Das ist bei uns so, in diesen Kulturkreisen ist das so, das ist (.) einfach. Man kann zum Beispiel, auch hier in Deutschland, die Marokkaner, die hier leben. Äh, ich hab ja hier auch Tanten und so was. Wir, äh (.) gehen zum Beispiel zu den Tanten rein, oder Onkels oder so. […] Wir sind dann überall zu Hause. Wir sind dann nicht äh, nur jetzt, äh, äh, äh:: (.) das, ich weiß, bei anderen Kulturen ist das etwas anders. Bei uns ist das so, auch wenn ich in Marokko bin (holt Luft), ich bin bei meinen Omas zu Hause, ich bin bei meinen Tanten zu Hause, bei meinen Onkeln zu Hause. Also wo ich gerade bin (holt Luft). Auch zum Beispiel Mittagsessen, oder so. Wenn ich grad in einer Stadt bin, und meine Tante ist da oder so, dann geh ich einfach dahin und, äh (.) geh da zum Mittagessen. Und muss auch nicht vorher Bescheid sagen, oder so was. Das ist äh:: (.) bei uns in der Kultur so (.), dass man# wir haben ja ne große Familie, […] Also die Engsten sind jetzt nicht nur Vater, Mutter, Geschwister. (.) Zu unseren Engsten gehören jetzt auch Tanten, Onkeln et cetera. Sogar manchmal die Nachbarn. Also es ist so. (.) Deswegen, äh (.) ist das so, ist das einfach.“
In diesem Abschnitt wird ersichtlich, dass die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen, die ich als mögliche Hindernisse für Raifs Einreise im Kopf habe, für Raif weder damals noch heute eine Rolle spiel(t)en. Für ihn, den achtjährigen Jungen, war es völlig unerheblich, welche Papiere ausgefüllt und welche Behördengänge getätigt werden mussten, um seinen Ortswechsel zu ermöglichen. Viel wichtiger war für ihn die Frage, wie er selbst damit klar kam, sich plötzlich ohne seine Eltern an einem fremden Ort wiederzufinden. Raif antwortet daher auch passgenau auf meine Frage nach dem wohnen (den Grenzübertritt hatte ich ja nicht explizit erwähnt). Die in der von mir formulierten Frage mitschwingende Vermutung, die neue Lebenssituation hätte ihm Schwierigkeiten bereiten können, weist Raif zurück. Um seinen Claim „das ist einfach“ zu stützen, greift er auf eine komplexe Argumentation zurück. Auf mein offensichtliches Unverständnis bezüglich der damaligen Situation und der Entscheidung seiner Eltern reagiert Raif mit der Einführung einer Differenzlinie. Er unterscheidet zwischen der Kultur und dem „Kulturkreis“, dem seine Familie in Marokko sowie in Deutschland angehört sowie „anderen Kulturen“. In seiner Kultur, d.h. basierend auf den ihm habituell vermittelten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern ist es für ihn selbstverständlich, bei Onkeln und Tanten alltäglich ein- und auszugehen, und sich bei diesen genauso zu Hause zu fühlen wie bei seinen eigenen Eltern. Die Negationen im letzten Abschnitt „ich muss auch nicht vorher Bescheid sagen“ und „die Engsten sind nicht nur Vater, Mutter, Geschwister“ zeigen die polyphone Struktur dieser Argumentation: Implizit widerspricht Raif hier einem von ihm in Deutschland als hegemonial empfundenen (und bei mir als internalisiert vermuteten) Familienkonzept, das sich auf die Kernfamilie beschränkt und daher in Bezug auf erweiterte Familienmitglieder andersartige handlungsleitende Normen impliziert.
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Mit seinem „Wir“ ordnet sich Raif als einer Community mit gemeinsamen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern zugehörig ein. Auffällig an der Argumentation ist eine starke Betonung der subjektiven Erfahrungswelt: Seine Belegbeschreibungen der familiären Alltagspraxis setzt Raif zwar in Bezug auf eine Raumkategorie (Marokko) bzw. soziale Gruppe (die Marokkaner in Deutschland). Er rekurriert aber jeweils sofort wieder auf seine ganz persönlichen Erfahrungen („ich habe eine Tante“, „wenn ich in Marokko bin“). Hierdurch gewinnt seine Argumentation an Überzeugungskraft, die er mit verallgemeinernden Kategorisierungen („die Marokkaner machen das so“) nicht in gleicher Weise erzeugen könnte. Nachdem er die allgemeine Gültigkeit seines Claims „bei uns ist das so“ hinreichend belegt hat, fügt Raif am Ende jedoch einschränkend an: „Wobei ich sagen muss, mein Onkel war ja schon hier. Ich kannte den ja eigentlich nicht so viel. (.) Ich war ja (.) gerade mal acht Jahre, und ihn habe ich dann ja auch nur in den Ferien dann mal gesehen. Ne? (.) Aber::: ähm:: (..) habe mich dann schnell hier zu Hause gefühlt bei ihm. Also ging alles ganz schnell.“
Hier legt Raif die Argumentation zugrunde, dass ein Gefühl des „Zu-Hause-Seins“ eine gewisse Vertrautheit benötigt, die nur durch regelmäßigen Kontakt aufgebaut und erhalten werden kann. Indem er jedoch betont, dass er sich trotz dieser anfangs fehlenden Vertrautheit schnell eingelebt hat, präsentiert er sich als anpassungsfähigen und flexiblen Jungen, der mit der neuen Situation schnell klar kam. Auch wenn es eine offene Frage bleiben muss, wie er den Ortswechsel damals tatsächlich erlebt hat, ist ihm daran gelegen, den Schock des plötzlichen Orts- und Personenwechsels als etwas zu präsentieren, das ihn nicht nachhaltig negativ prägte. Geht man davon aus, dass geteilte alltägliche Denk- und Handlungsschemata eine Neu-Beheimatung an anderen Orten erleichtern (vgl. Kap. 2.2.2), so ist durchaus denkbar, dass das von Raif erläuterte Familienkonzept sowie die gemeinsamen Dispositionen zu einer raschen Eingewöhnung beitrugen. 5.2.2. Feinanalysen – zentrale Sequenzen Bergheim – Raum und Zugehörigkeit Im Anschluss an eine kurze Diskussion zwischen den drei Bergheimern über die Anzahl marokkanischer Familien in Bergheim hake ich ein und bitte Raif: MD: „Ach so ja. Können Sie mir ein bisschen über Bergheim erzählen? Also wie gefällt’s Ihnen hier? (..) Was sind so Vorteile, Nachteile, ähm …“ R: „Äh (.) Bergheim? (..) Also in Bergheim lässt es sich sehr gut leben. Ich hab auch mal versucht, in Köln zu wohnen, zum Beispiel, war auch mal in Siegburg. Aber Bergheim ist viel, viel äh, (.) viel schöner. Ähm (.) ist einfacher. Ich, (.) man ist ja hier halt zu Hause. Ich weiß jetzt nicht, äh (..) wenn ich jetzt in Köln geboren bin oder groß geworden bin, wie es da wäre. Aber die Großstadt wäre für mich nichts. […] Zum Beispiel Parkplatz suchen ist ja da der Horror. Hier kann man überall parken, beispielsweise. Oder, oder (.) ist einfach viel ruhiger. Ähm, pf:::, die Vorteile? Ich weiß jetzt nicht wie, wie andere, äh, äh, Städte, Dörfer sind. Weiß nicht. Aber einen großen Vorteil sehe ich hier in Bergheim, dass hier so viele äh, äh, ähm (.)
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Landsleute von mir hier sind, mit denen man sich dann immer austauschen kann. Man hat ja immer ungefähr so dieselben Probleme, äh dieselben Feiertage. […] Man geht auch zum Beispiel zusammen jeden Freitag in die Moschee. Und das ist dann (.) schön in Bergheim, weil wir hier ne große Gemeinde sind, wir sind viele. (..) Und zum Beispiel unsere Moscheen sind dann immer voll und man trifft sich dann, äh, äh zu, zu Hochzeiten, Festen, (.) und so weiter. Und da sind wir viele. (.) Man hilft sich dann auch immer gegenseitig, wenn irgendwas ist. […] Und, wie gesagt, diese Kultur kann man dann ja mit vielen teilen, ne?“
In diesem Abschnitt vertieft und präzisiert Raif seine eingangs vorgenommene Selbstverortung. Seine Antwort baut er analog zu meiner Frage auf, indem er zuerst Bergheim als Wohnort allgemein bewertet, dann auf spezielle Vorzüge eingeht und zuletzt mögliche Nachteile diskutiert (s.u.). Seine spontane Reaktion und Konklusion der folgenden Argumentation lautet „es lässt sich hier in Bergheim gut leben“. Als Beleg für diesen Claim führt er erneut seine persönliche Erfahrung an: Im Vergleich zu anderen, selbst erfahrenen Wohnorten empfindet er Bergheim als schöner, einfacher und ruhiger. Durch diesen und den folgenden Abschnitt hindurch ist es ihm jedoch wichtig, die eigenen Bewertungen nicht absolut verstanden zu wissen. Er sichert sich gegen Kritik oder Einwände von außen ab, indem er in dem ersten Abschnitt auf seine persönliche Perspektive verweist: Weil er eben in Bergheim (und nicht z.B. in Köln) aufgewachsen ist, wird seine Raumwahrnehmung und Wohnpräferenz hierdurch geprägt: Wie er Bergheim bewerten würde, hätte er eine andere Ortsprägung erfahren, vermag er nicht zu sagen. Wie bereits im Eingangsstatement („hier bin ich mehr zu Hause“) formuliert Raif an dieser Stelle ein starkes Gefühl der (auch) ortsbezogenen Zugehörigkeit. Er fühlt sich in Bergheim jedoch nicht nur heimisch, weil er dort aufgewachsen ist („man ist ja hier halt zu Hause“), sondern beschreibt auch ein aktuell relevantes Gefühl der Passung zwischen seinem eigenen Habitus und dem seines sozialen Umfeldes. Die (vergleichsweise) hohe Konzentration von Personen marokkanischer Abstammung (vgl. Tab.1) empfindet er als einen großen Vorteil gegenüber z.B. dem disperseren Wohnen in der Großstadt Köln, weil ihm geteilte Alltagspraktiken (Feste feiern, Religion praktizieren, Rat suchen) in Bergheim ein Gefühl der Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit vermitteln. Die marokkanische Community in Bergheim ist für ihn „so was wie ne ganz große Familie“; d.h. er findet hier alle drei Dimensionen von Zugehörigkeit, wie sie bei Brubaker und Cooper (2000) benannt werden: Gemeinsamkeiten, soziale Kontakte und emotionale Verbundenheit. Entsprechend nennt er als Grund für seinen Wegzug aus Köln auch den Umstand, dass er dort niemanden kannte: „Es war langweilig“. In Bergheim dagegen verfügt er über lebhafte soziale Netzwerke: „Hier geht man dann raus, weiß, wo die Jungs sind, die Freunde“. Während Raif also zu seinem Wohnort Bergheim fast nur positive Assoziationen einfallen, sucht er vergeblich nach den von mir erfragten Nachteilen: „Nachteile? (.) Pf:::. Sehe ich, seh ich jetzt keine. (..) Also ich denk mal, äh, äh […] ganz Deutschland ist ja ein Rechtsstaat. Man kann ja überall gleich frei leben. (.) und ähm::: (.) man kann sich sein Leben so gestalten, wie man ja selbst will. (.) Und dann ist es ja eigentlich egal, wo man wohnt. […] Also […] ich denke das ist immer so (.) personenbedingt. ne? Was man selbst aus irgendwas macht. Ich glaub nicht, dass jetzt die Städte, oder die Dörfer (.) damit was
172 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT damit zu tun haben. Ne? […] Ist das gleiche Grundgesetz. Man hat ja überall die gleichen Chancen eigentlich. Ne? Deswegen. Könnte ich jetzt kein Nachteil erkennen.“
Raifs Art der Argumentation ist interessant. Sie zeigt, wie in geltungskritischen Sprechakten (Argumentationen) über die darin eingebauten Beschreibungen auf überindividuelle Deutungsmuster rekurriert wird. Abgesichert über die einschränkenden Modalisierungen „eigentlich“ sowie „denk ich mal“ begründet Raif, warum er keine Nachteile eines Lebens in Bergheim erkennen kann. Dabei erweitert er die von mir vorgegebene Questio (was gefällt ihm nicht an seinem Wohnort) hin zur Frage, ob allgemein Lebenschancen durch den jeweiligen Wohnort (negativ) beeinträchtigt werden. Seine Schlussfolgerung, dass dem nicht so ist, begründet er mit einem Verweis auf strukturelle Faktoren. Er re-artikuliert ein Deutschlandbild, in dem Deutschland als Nationalstaat durch eine gemeinsame, einheitliche Rechtsgrundlage definiert wird, die in einem Rechtsstaat (im Gegensatz zu einem autokratischen Staat oder einer Diktatur?) überall und für alle in gleicher Weise Gültigkeit hat. Ausgehend von diesem Claim der ortsunabhängigen gleichwertigen Lebensbedingungen schließt sich Raif an dieser Stelle an neoliberale Argumentationslinien an, wonach es „personenbedingt“ ist, „was man selbst aus irgendwas macht“. Anders als z.B. der in KölnVingst aufgewachsene Achraf oder marokkostämmige Jugendliche in BonnTannenbusch, die mir 2005 durchaus von einem Gefühl eines „délit d'adresse“ (Tietze 2004, 195), einer adressbezogenen Stigmatisierung, berichtet hatten, weist Raif aus der in dieser Passage eingenommenen Subjektposition eine solche wohnortbedingte strukturelle Benachteiligung nicht nur für Bergheim im Speziellen, sondern ganz allgemein für Deutschland als nicht relevant zurück. Marokko – ambivalente Positionierungen Auf die Frage ortsbezogener Zugehörigkeiten kommt Raif später im Gespräch noch einmal zu sprechen, als ich ihn frage, ob und wie er den Kontakt zu seiner Familie in Marokko aufrechterhält: R: „In, in Marokko die Verwandtschaft? Ja. Ich fahr […] einmal im Jahr gerne runter. […] Wir wohnen auch in nem Dorf in Marokko. (.) Das ist nicht genau Berkane, sondern daneben, (.) und da ist auch ein Großteil (.) Verwandtschaft, äh: (.), Nachbarn, und, und. Zu denen hält man auch telefonischen Kontakt, ja? Und dann geht man einmal im Jahr dahin und das ist dann mehr so wie – man geht nach Hause. (..) Ja? Geht zu seinem zweiten Zuhause. (..) MD: Ja. R: Bleibt man aber da über drei Wochen, (.) dann will man wieder nach Hause. MD: Mhm. R: Ne? (...) Hat man wieder Heimweh.“ MD: „Ja. (.) Also nach Bergheim dann, oder? (lacht etwas)“ R: „Nach Bergheim, genau. (.) Ja. Zweites Zuhause. Erstes Zuhause.“
Raifs Antwort an dieser Stelle verdeutlicht sehr gut die Temporalität von in Sprechakten eingenommenen Subjektpositionen. Hat Raif sich in seinem Eingangsstatement zunächst deutlich von seiner „eigentlichen“ Heimat Marokko „dort drüben“ abgegrenzt und sich als einheimischer Experte für die Situation „hier“ am Ort des Sprechens positioniert, schließt er sich an dieser Stelle in seine Familie in Marokko ein: „WIR wohnen“. Und es geht nicht mehr um ein abstraktes „Dort-drüben“, sondern um einen konkreten Ort, ein Dorf, das er zwar nicht namentlich nennt (weil er wahrscheinlich zu Recht davon ausgeht, dass ich es nicht kennen werde), aber durch sei-
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nen – hier nicht notwendigen – Nachsatz geographisch genau lokalisiert. Dieser spezifische Ort, an dem seine Eltern und seine Verwandten wohnen, ist für ihn mehr als ein Ferienort. Er beschreibt seine jährliche Ankunft dort als ein „Nach-HauseKommen“. Durch den Zusatz „zweites“ zeigt Raif, dass „Zuhause“ für ihn keine unteilbare Kategorie darstellt, sondern als multipler Bezug funktioniert. Sofort im nächsten Satz verschiebt er dann auch wieder die Perspektive, indem er – von seinem Urlaubsort aus sprechend – sein Heimweh nach Bergheim formuliert, das er aus dieser Sprechposition aus zunächst ebenfalls als „zweites“ Zuhause definiert, nur um sich sofort wieder zu korrigieren und Bergheim abschließend wieder als „erstes“ Zuhause zu charakterisieren. Dieser Abschnitt illustriert Halls Beschreibung von Identitäten als fragmentierte und instabile „points of temporary attachment“ (Hall 1995, 65; Herv. i.O., vgl. Kap. 2.1.4): Obwohl eine (Subjekt-)Position eingenommen werden muss, um etwas zu sagen, bedeutet das nicht, dass nicht im nächsten Satz schon wieder eine andere, vermeintlich gegensätzliche oder widersprüchliche Position eingenommen werden kann. Auch als ich Raif zuvor gefragt hatte: „Sprechen Sie in Ihrer Familie Arabisch, oder Berbisch oder …?“ antwortete er mit einer zunächst eindeutig scheinenden Positionierung „Wir sind Araber, keine Berber.“ Woraus sich für ihn als logische Konsequenz ergibt: „Wir sprechen nur Arabisch“.14 Gleich im nächsten Satz jedoch fügt er an „In Deutschland sprechen wir eigentlich, ähm, meist::: Deutsch zu Hause. Ne? Weil das einfach, äh, schneller geht, einfacher …“ Meine Frage – die eine Nachfrage auf seine zuvor erfolgte Erwähnung der (Herkunfts-)Provinzen Berkane und Nador darstellte – provozierte ihn folglich zu einer zunächst eindeutigen kategorischen Antwort, die sich dann aber als nur teilweise zutreffend bzw. hinsichtlich seiner eigentlichen Sprachnutzung überhaupt nicht als zutreffend erweist. Dass Selbstpositionierungen nicht nur kontextsensibel sind, sondern auch durch Anrufungen und Fremd-Identifizierungen beeinflusst werden, zeigt der folgende Gesprächsausschnitt. Raifs Ausführungen wurden in diesem Fall nicht von mir, sondern von der ebenfalls zuhörenden Tina ausgelöst. Bevor sie gehen muss, möchte sie unbedingt noch eine Frage loswerden. Sie erzählt davon, wie anstrengend und unverständlich sie es als kleines Mädchen fand, wenn sie im Urlaub in ihrer Familienheimat in Südosteuropa als „Deutsche“ bezeichnet wurde, während sie in Deutschland als „Ausländerin“ galt. Sie möchte von Raif wissen, ob es ihm ebenso erging. Raif bestätigt dies: „Das ist tatsächlich jetzt auch noch so. […] Man kann (.) natürlich sagen, soviel man will. Aber wir werden auf jedem Fall anders behandelt, wie die Einheimischen dort. (..) Selbst in unserem eigenen Dorf (..) ja? Definitiv. […] Die (.) erwarten uns dann auch da ganz anders. Ja? (.) Wir sind dann (.) halb Touristen, halb Einheimische.“ [Tina: „Und mit vielen Geschenken, ne?“] R: „Ja, darauf warten die auch. (alle lachen) Es ist aber jetzt nicht ein großer Nachteil, oder so. Ja? Ähm (.) aber es ist so in ihren Köpfen drin: da kommen jetzt die (.) äh::: die, die, die, die (.) Touristen. (.) Es gibt so ein Wort, (.) auf Arabisch, das bedeutet Touristen. Und wir werden dort Touristen genannt. Ja? (.) Das ist, das ist aber jetzt nich, nicht böse gemeint. Nur:::
14 Zu Sprachpolitik und Sprachgebrauch in Marokko vgl. ausführlich Kapitel 6.3.
174 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT (...) das zeigt aber trotzdem, dass wir anders angesehen werden. Ja? Also wir sind nicht, äh::, wir sind für die nicht gleich Einheimische. (.) Eine Stufe höher, oder tiefer. Ich weiß es nicht. (leichtes Lachen in der Stimme)“ MD: „Ja, ja. (lacht) Ja. Aber irgendwie anders, ja. (.) Woran macht sich das fest, so im Alltagsleben? […] Also gibts da was, wo man das so merkt?“ R: „Ja, an das Wort! (..) An das Wort selbst. Zum Beispiel. (.) Irgendwie erkennen die das auch (.) an unserer Art, wie wir reden, wie wir dies. Und, äh, wenn man zum Beispiel was einkaufen geht, in nem Geschäft, oder so und hm, in Marokko ist das ja so, ist ja nicht so wie hier, man geht in ein Einkaufszentrum, man kauft ne Jacke, sucht sich die aus, geht zur Kasse und bezahlt. (.) Da läuft man rum, der Kassierer kommt hinterher, wir unterhalten uns und das wird dann ganz schnell so herzlich. (.) Und dann fragen die immer (..) ‚Wo kommst du denn her?‘ […] Das heißt, (..) aus, äh, Belgien, Frankreich, oder aus Deutschland, oder, ja? (.) Die merken dann schon, dass du nicht, äh:: (..) nur::: Marokkaner bist. MD: (lacht leicht) R: Hm? (..) Also das, das fragen die immer.“
In diesem polyphonen Abschnitt bestätigt Raif, dass er heute sogar in seinem „eigenen Dorf“ anders behandelt wird als die „Einheimischen“. Identifizierbar durch seinen Habitus („an unserer Art, wie wir reden, wie wir dies“) wird er zum einen in direkten Interaktionen durch die Frage nach seiner Herkunft als nicht zugehörig definiert. Zum anderen benennt Raif aber auch ganz explizit „das Wort an sich“, d.h. die diskursive Kategorie des „Touristen“, die in Opposition zum Begriff des „Einheimischen“ steht und ihm signalisiert, dass er sich als „anders“ zu sehen hat. Andererseits widerspricht Raif aber auch Tinas Darstellung, die die Anrufung als „Deutsche“ als Kind verletzend und irritierend empfand. Raif betont, dass die Kategorisierung als „Halb Tourist. Halb Einheimischer.“ für ihn keinen Nachteil darstellt und er sich dadurch auch nicht angegriffen fühlt („ das ist aber nicht böse gemeint“). Die von ihm an dieser Stelle aufgeworfene Frage, welche soziale Positionierung mit den beiden als ungleich markierten Sozialkategorien Tourist/Einheimischer einhergeht, an welchen Platz im sozialen Raum ihn die Anrufung als Tourist also verweist, bleibt unbeantwortet. Wie Raifs leichte Belustigung an dieser Stelle jedoch andeutet, ist dies keine Frage, die ihn nachhaltig beschäftigt. Wie auch immer die Antwort der Dorfbewohner ausfällt: Er selbst positioniert sich hier mir gegenüber als jemand, dem dies egal ist (bzw. auch egal sein kann, weil es keine eindeutige Anrufung in eine untergeordnete Position ist, sondern ein von Ambiguität gekennzeichnetes relationales Verhältnis). Obwohl Raif eine fraglose Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft an seinem Geburtsort somit verwehrt wird, macht er in diesem Abschnitt deutlich, dass er die hier wirksamen symbolischen Kategorien nicht als vollständig ausschließend empfindet: Er kann sich weiterhin zumindest als „Halb-Tourist“ und „Halb-Einheimischer“ identifizieren. Auch durch die mit einem humorvollen Unterton unterlegte Aussage „die merken dann schon, dass du nicht nur::: Marokkaner bist“ (die alle Zuhörer zum Schmunzeln bringt) präsentiert er sich als jemand, dessen Identität und Zugehörigkeit nicht durch einen Mangel oder ein Defizit gekennzeichnet ist, sondern einen Überschuss, ein „mehr“ aufweist und somit positiv konnotiert bleibt.
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Islambild Raifs Ausführungen zum deutschen Islambild löse ich aus, als ich ihn im Anschluss an eine kurze Gesprächssequenz über seine Familie in Marokko wieder auf den deutschen Kontext lenke: MD: „Ja, vielleicht noch eine Frage: Jetzt sind Sie ja schon eine ganze Weile in Deutschland. Also wenn Sie so auf die letzten zehn Jahre zurückschauen: Hat sich da was verändert, was die Menschen angeht, oder die Gesellschaft, oder…?“ R: „Ähm. Ja (.) Also geändert. (..) Also die, die, die (.) äh, normale Veränderungen, die aber auch Sie jetzt erkennen? Also Sie meinen jetzt zwischen uns und, und äh# Eigentlich nicht viel, nein. Ähm, ich weiß, dass die Menschen jetzt, was den Islam angeht, (.) dass die da ganz viele Vorurteile haben, was sie früher nicht hatten, wo ich jünger war. […] (.) Das gabs zum Beispiel früher gar nicht. (.) Das (.) kannte ich nicht. (.) Ne? (.) Aber äh, […] damit haben ja viele zu kämpfen jetzt. Ne? Das sind ja jetzt nicht nur Marokkaner, (.) sondern viele äh, (.) Ausländer. (..) Ähm, ansonsten (..) wüsste ich jetzt nicht genau was, also was (.) sich jetzt viel großartig geändert hat.“
Im ersten Teil seiner Antwort versucht Raif zunächst seine Erzählaufgabe in diesem konkreten Fall einzugrenzen; es handelt sich um eine „Einschubsequenz“ (Levinson 1990, 303ff.). Seine Frage danach, ob ich „normale“ Veränderungen meine, die ich auch erkennen kann, beantwortet er für sich implizit mit einem „Nein“. Dahinter liegt die Schlussfolgerung, dass ich das nicht meinen kann, weil ich ihn dann ja nicht fragen müsste. Die sich ihm hier stellende Frage, welche Informationen mich interessieren könnten (eben weil ich sie – aus meiner spezifischen gesellschaftlichen Positionierung – nicht erkennen kann), beantwortet er durch die Konstruktion einer zunächst unbenannten Differenzlinie zwischen einem ihn einschließenden „uns“ und mir, auf der sich unsere unterschiedlichen Weltsichten begründen. Auf welche Kategorie(n) sich diese Grenzziehung begründet wird erst am Ende des Abschnitts deutlich, als er davon spricht, dass die genannten Veränderungen nicht nur Marokkaner betreffen. Seine Antwort formuliert er also aus genau der Perspektive heraus, in die ich ihn durch meine – in diesem Kontext unbeabsichtigt aktualisierte – Ansprache als „Person mit marokkanischem Familienhintergrund“ positioniert habe. Als wichtigste Veränderung – die ihn, aber nicht mich – betrifft, nennt Raif auf Anhieb die Zunahme von Vorurteilen gegenüber seiner Religion. Im Gegensatz zu vielen anderen Gesprächspartner/- innen kommt Raif hier in Folge seiner vorbereitenden Abwägung sofort auf das Islambild zu sprechen. Dieses identifiziert er in seinem Abschlusssatz als einzige Veränderung, über die er mir (als Experte) Auskunft geben kann. Er ordnet diese Veränderung als Problem ein, das nicht nur seine persönliche Zugehörigkeitsgruppe, d.h. die Marokkaner, sondern Ausländergruppen betrifft. Impliziert rekonstruiert also auch er die Äquivalentsetzung der Kategorien Ausländer und Muslime, die für das deutsche Islambild kennzeichnet (vgl. Kap. 5.1 Amal). Er sieht dieses Phänomen jedoch noch weiter gefasst: „Ich denk mal, das ist ja auf der ganzen Welt jetzt so. Deswegen kriegen wir [das] halt auch hier in Bergheim zu spüren“. Obwohl er es also in seiner konkreten Lebensumwelt erfährt, handelt es sich für ihn nicht um ein lokal begrenztes Phänomen. Einer solchen quasiortsunabhängigen Gesetzmäßigkeit könnte er nicht durch einen Ortswechsel ent-
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kommen. Daher stellt er auch weder seine Wohnortwahl noch seine ortsbezogene Zugehörigkeit aufgrund der Konfrontationen mit einem negativen Islambild (s.u.) infrage. Obwohl die einleitende Passage wie oben gezeigt eine deutliche Zuhörerorientierung aufweist, deuten die Länge der Ausführungen (ca. 15 min) sowie die vielen konkreten Beispiele und Anekdoten darauf hin, dass das Islambild für Raif auch über den Interviewkontext hinaus von Belang ist. Dies zeigt auch seine Antwort, als ich ihn frage, ob der Islam früher denn kein Thema war oder vielleicht anders diskutiert wurde: „Das wurde anders diskutiert. Und selbst ich, (..) äh, äh, hab da gar nicht so großes Interesse daran gehabt. (.) Und seitdem das hier so (.) äh, so groß in die Medien gekommen [ist] und die Leute immer darüber gesprochen haben, seitdem ähm, (.) hat man sich auch selbst viel dafür interessiert. Und ähm (.), aber das (.), das Traurige ist, dass man dann jetzt nicht kommt und sagt: ‚Hey, was ist denn der Islam?‘ […] Sondern, dass man dann halt das so, so, so (.) ähm, ins, ins, äh, Böse irgendwie zieht. So gleich Terror. Und, und, und. Und: ‚Ist das wirklich so bei Euch?‘ äh, ‚Müsst ihr das jetzt wirklich tun?‘ ‚Ist, ist der Islam jetzt wirklich so ne äh, Hass- (.), ähm?‘ ‚Muss man sich jetzt in die Luft jagen?‘ Und son Quatsch. [...] Früher (.) haben die Menschen […] sich darüber keine Gedanken gemacht, ja? Aber jetzt zum Beispiel seit dem äh:: September, (.) seit World Trade Center zum Beispiel haben die Menschen jetzt ein ganz anderes äh, (.) Bild bekommen und so weiter. Das ist ganz stark! Ja?“
In seiner Antwort stellt Raif den 11. September und die folgenden Mediendebatten als für ihn zentralen Wendepunkt dar: Während er seine Religion zuvor wahrscheinlich ähnlich praktiziert hatte, interessiert ihn religiöses Wissen erst seitdem er regelmäßig als Muslim angerufen wird. Die Gestaltung der Szene in Präsens dient der Wiedergabe einer konkreten Situation (=szenisches Präsens), weist dem Erzählten jedoch gleichzeitig über die konkrete Situation hinaus Gültigkeit zu (=allgemein gültiges Präsens). Raifs distanzierende Wiedergabe der Fragen charakterisiert die Fragenden bereits als voreingenommen. Diese Positionierung expliziert er in seiner abschließende Kommentierung („son Quatsch“). Allerdings ist Raif auch hier bemüht, sich als reflektierter Gesprächspartner darzustellen. Seine anfängliche metakommunikative Rahmung des Erzählten „aber das Traurige ist“ macht deutlich wie seine Haltung zu interpretieren ist: Obwohl er selbst „genauso ahnungslos“ ist wie die Fragenden, hat er nichts gegen offene Bitten um Erklärung. Wogegen er sich wehrt, sind die in den Fragen als Vorkonstrukt enthaltenen (negativen) Konnotationen, die im Moment des Fragens re-artikuliert werden. Als entlastendes Argument führt Raif im Folgenden an, dass sich die Situation nicht nur negativ, sondern auch positiv verändert habe: Aufgrund des gestiegenen Interesses am Islam gäbe es in seiner Moschee auch viele neu konvertierte Mitglieder. Dieser Verweis auf die gestiegene Anzahl an Konversionen durch die medienwirksame Islamdebatte in Deutschland fand sich in anderen Gesprächen wieder und begegnete mir auch in Marokko. Da für Deutschland keine Daten hierzu existieren, lassen sich diese Angaben kaum überprüfen. Wichtig ist jedoch die argumentative Funktion: Die neu konvertierten Moscheemitglieder sind für die in der jeweiligen Gemeinde praktizierenden Muslime ein Beleg dafür, dass ihre Religion zu überzeu-
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gen weiß wenn man sich nur „richtig“ darüber informiert – und daher nicht so schlecht sein kann, wie sie in den Medien oft dargestellt wird. In seiner weiteren Reflexion über die Veränderung des Islambildes überlegt auch Raif (ähnl. wie Amal) ob sich vielleicht weniger die Debatte über den Islam verändert hat, als vielmehr er selbst, wodurch er die Dinge anders wahrnimmt: R: „Vielleicht war ich auch nur zu jung. (..)“ MD: „Ja, das ist (.) gut möglich.“ R: „Ich kann mich nicht erinnern, (.) [dass ich mich] vor 2001 (.) mit irgendjemanden darüber unterhalten hab.[…] Aber die letzten zehn Jahre ständig. (.) Oft. Auch als ich Paketfahrer war, wurde ich oft darauf angesprochen. Manche haben gesagt: „Hoa, kannst du mir vielleicht mal Koran vorbei bringen?“ Ne? (..) Dabei […] war ich ja genauso wie die ahnungslos. Ne?“ MD: „Ja, ja. (.) Das heißt, ihre Kunden haben Sie darauf angesprochen.“ R: „Ja. ‚Sie sind doch?‘ ‚Sind Sie Moslem?‘ ‚Ja‘ ‚Ja, was ist das? Wo ist Ben Laden?‘ zum Beispiel (lacht leicht) Ja? (.) Und ähm (.) haben die einfach mal Fragen gestellt: ‚Ja, was ist denn jetzt? Äh. Ist das jetzt wirklich so? Äh, warum machen die das?‘ Ähm, weil die jetzt dachten, das ist wirklich Terror gleich Islam. (.) Ja? (.) ‚Sie sind doch ein ganz netter Kerl!‘ (..) ‚Ja, ja (lacht) ich werde auch weiterhin nett bleiben. (.) Wenn Sie mich nicht ärgern.‘ (lacht)
Den von Raif selbst eingebrachten Vorwand, der seinen zu Beginn des gesamten Abschnitts gemachten Claim „früher war es anders als heute“ eventuell entkräften könnte (ich war zu jung und wurde deswegen nicht damit konfrontiert), bestätige ich als eine Möglichkeit. Daraufhin modularisiert Raif die Seinsgewissheit seiner Darstellung: Dass es eventuell auch anders war, kann er nicht ausschließen. Was für ihn jedoch relevant ist, ist die von ihm erlebte und erinnerte Veränderung, die er mit der folgenden kurzen Erzählung “Auch als ich Paketfahrer war…“ belegt und illustriert. Mit meiner bestätigenden Zusammenfassung („das heißt …“) evoziere ich eine detaillierte Darstellung der erinnerten Szene. Diese re-inszenierte Dialogwiedergabe wird nur durch den Einschub (verbum dicendi) „haben die Fragen gestellt“ sowie den metanarrativen Kommentar „die dachten tatsächlich“ in der Vergangenheit verortet. Durch die unmittelbare Dialogwiedergabe im Präsens wirkt die Erzählung sonst sehr authentisch und unmittelbar auf den Hörer (vgl. Wortham 2001, 2001, 62ff. zur Dialogwiedergabe als ein besonders wirksames Mittel der narrativen Positionierung). Indem Raif seine Kunden die Charakterisierung vornehmen lässt („Sie sind doch ein netter Kerl“), kann er sich nicht nur selbst als ein solcher darstellen ohne sich dem Vorwurf des (negativ wirkenden) Eigenlobs auszusetzen. Darüber hinaus kontrastiert diese persönliche Beschreibung auch mit der zuvor an ihn herangetragenen Anrufung als Muslim und der dadurch aufgerufenen Konnotation als potenziell gefährliche Person. Indem hier implizit ein (sich ausschließender) Kontrast zwischen einem „netten Kerl“ und einem gefährlichen Terroristen konstruiert wird, kann Raif in seiner Selbst-Darstellung mir gegenüber die durch die bisher zitierten Anrufe konstituierte Fremd-Identifizierung als potenziell gefährliche Person erfolgreich zurückweisen. In seiner Antwort bestätigt Raif die Fremd-Charakterisierung als „netter Kerl“ („ja, [bin ich] und werde ich auch bleiben“). Durch seinen einschränkenden Nachsatz „wenn Sie mich nicht ärgern“ verschiebt Raif die Interpretationsfolie: Durch diese Bedingungssetzung hängt die Beziehung zu seinem Gesprächspartner nicht mehr von
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einer kategorialen Identifizierung und Positionierung (als Muslim) ab, sondern wird auf eine universelle, ‚normale‘ Ebene sozialer Interaktionen heruntergebrochen. Die Reaktion des einen ist unmittelbar auf das Handeln und Sprechen des anderen Subjekts zurückzuführen. Gleichzeitig erhält seine Darstellung durch den leicht ironisch wirkenden Nachsatz und das Lachen einen humoristischen Unterton. Raif charakterisiert somit sein erzählendes Ich als jemand, der nicht verbittert oder böse ist, sondern – sowohl damals als auch heute – die Anschuldigungen mit Humor nehmen kann. Im Anschluss an die obige Passage resümiert Raif seinen Claim „früher gabs das nicht“, wobei er diesmal als stützendes Argument ausführt: „Die älteren sagen das ja auch, die hier seit 30 Jahren leben oder so“. Da ich selbst nur mit wenigen älteren Gastarbeitern sprechen konnte, interessiert mich dieses Argument. Ich frage nach: MD: „Wissen Sie, wie sie darüber denken oder wie sie das wahrnehmen, die Situation?“ R: „Die Älteren, die äh, (.) die geben den Medien die Schuld. Ja? (.) Die sagen: […] ‚Früher hat man uns nie misstraut. […] Wir haben mit den Deutschen immer Seite an Seite gearbeitet‘. Die sagen auch als die damals nach Deutschland [kamen], waren die Deutschen sehr freundlich […]“
Er habe unter anderem mit seinem Vater darüber gesprochen: „Der kennt Deutschland so gar nicht“. Sein Vater würde vom deutschen Rechtsstaat schwärmen, von der Demokratie und den „deutschen Tugenden“. Einen wichtigen Grund für dieses Deutschlandbild der ersten Generation (vgl. Berriane 1994, 243f.) sieht Raif in den historisch divergenten gesellschaftlichen und diskursiven Strukturen: „Und äh, (.) überlegen Sie mal! In den 70ern, 80ern gabs gar keine Terroranschläge! (.) Da wurde Deutschland nie bedroht und da hieß es nie äh, Bombenleger oder so was, da gab es das gar nicht. Und damals sind die in Strömen alle reingekommen und da wusste man gar nicht, wer das ist. […]“
An dieser Stelle bezieht Raif mich als Zuhörerin aktiv in seine Argumentation ein, indem er mich auffordert, mir die historische Situation zu vergegenwärtigen. Ließe sich sein Claim „in den 70er, 80er Jahren gabs keine Terroranschläge“ mit Bezug auf die Rote-Armee-Fraktion zwar widerlegen,15 so macht der nächste Satz „sind die in Strömen alle reingekommen“ jedoch klar, dass sich die Argumentation auf die Gruppe der Zuwanderer bezieht und sich nicht mit der allgemeinen Gefährdungslage in Deutschland auseinandersetzt. Im Moment des Sprechens wirkt Raifs Claim „damals gab es das nicht“ folglich absolut überzeugend. Der gemeinsame Verständigungshorizont – dass die Situation der Zuwanderer damals anders war, als sie sich heute darstellt – ist somit erfolgreich etabliert. Dass die Attentate jener Zeit in dieser Argumentation ‚verschwinden‘ mag sowohl am Argumentationskontext als auch an fehlendem Wissen über diese Zeit liegen. Es ist jedoch ebenfalls symptomatisch für einen hegemonialen Diskurs, in dem ‚Fremde‘, und ‚ausländische Muslime‘ als Gefahr konstruiert werden wobei – unter
15 Vgl. hierzu u.a. Beiträge in Kraushaar (2006)
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historischer Amnesie – übersehen wird, dass noch vor Kurzem eine ‚genuin deutsche‘ terroristische Bedrohung die Gesellschaft und die Medien in Atem hielt.16 In der folgenden Passage argumentiert Raif zunächst aus der Perspektive seiner Elterngeneration. Sein Kommentar „ich hab mich oft mit denen unterhalten“ fungiert als Beleg für sein fundiertes Wissen über ihre Erfahrungswelt. Er schildert ihre Ausreise nach Deutschland als häufig ungeplant und spontan, oft auch ohne die notwendigen Papiere und Genehmigungen, und charakterisiert die damaligen Grenzen somit als deutlich durchlässiger. Diese Beschreibung kontrastiert er mit den Diskursen, denen er selbst – als Kind dieser Einwanderer – heute ausgesetzt ist: „Ja, […] die frühere Generation, da kamen irgendwelche Leute her. [...] Keiner hat sie kontrolliert, keiner wusste wer diese Menschen sind. Aber man hat ihnen dann sofort ne Wohnung gegeben, ne Arbeit gegeben, man hat sich um die gekümmert und (.) ist nie was passiert! Aber DIEJENIGEN, die hier geboren sind, man kennt die von (.) klein an, (.) ja? In den deutschen Krankenhäusern sind die zur Welt gekommen, (.) DIE sind jetzt auf einmal gefährlich und man muss aufpassen und das sind Terroristen und so. (.) Das ist äh. (.) wir müssen äh, wir müssen das jetzt (.) äh, äh, äh [T: entkräften?] R: Ja. (.) Obwohl wir (.) ja eigentlich damit gar nichts zu tun haben. Wir sind ja eigentlich noch weiter davon entfernt wie unsere Generation davor, ne? (.) Mit diesem Terror (.) und so was. Aber äh, (.) wenn jetzt der Islam wirklich so schlimm wäre oder so, dann hätten die damals, wo die alle reinkamen, da hätten die hier alles (.) bombardiert. (..) Weil man sie ja alle (.) herzlich eingeladen hatte, ja? […]“
Die zentrale Differenzlinie, die Raif in dieser Argumentation aufbaut, ist die zwischen der ersten Generation der Arbeitsmigranten und ihren in Deutschland aufgewachsenen Kindern. Durch den Gebrauch des Pronomens „wir“ macht Raif deutlich, dass er sich dieser zweiten Generation zugehörig fühlt. Anstatt wie zuvor aus ‚zweiter Hand‘ die Perspektive der Elterngeneration darzulegen, argumentiert Raif an dieser Stelle aus seiner eigenen translokalen Positionierung heraus. Diese ist für ihn wie eingangs gezeigt durch seine deutsche Kindheimat geprägt. Auf der Prämisse seiner Beheimatung in Deutschland beruht daher auch seine abschließende Argumentation: „Also wenn die das damals nicht gemacht haben, (.) ja? Die waren ja in einem ganz fremdes Land. Dann werden wir das ja erst recht nicht tun, denn wir sind in unsere Heimat!“
Auffällig ist hier erneut, dass Raif nicht versucht ‚den Islam‘ als friedlich zu präsentieren und somit die Äquivalentsetzung von Islam und Terrorismus allgemein zu entkoppeln; dass ihm dies nicht gelingen kann, hat er erkannt (s.u.). Stattdessen bezieht sich seine Argumentation ganz konkret auf die Gruppe der in Deutschland geborenen
16 „Terrorismus verbinden Schüler heute vor allem mit anderen Ländern. Dass in den 1970er und 80er Jahren die Rote Armee Fraktion (RAF) die Bundesrepublik Deutschland mit terroristischen Anschlägen erschüttert und die Gesellschaft zutiefst verunsichert hat, können sich junge Generationen kaum vorstellen. Dabei hat sich die RAF erst 1998 aufgelöst und drei ihrer ehemalige Mitglieder stehen noch heute auf den Fahndungslisten des Bundeskriminalamts (BKA) als ‚Meistgesuchte‘.“© WDR 2009, Text: Anne Haage. http://www. planet-schule.de/wissenspool/raf/inhalt/unterricht.html (13.8.2012)
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Muslime, der er selbst angehört. Seine explizite Argumentation – wenn die Eltern trotz Gelegenheit (nicht ausgebautes Grenzsicherungssystem und Überwachung) und möglicher Disposition (fehlende Beheimatung) keine Bedrohung darstellten, trifft dies für die Kinder erst recht nicht zu – wirkt sehr überzeugend. Dies nicht obwohl, sondern gerade weil hier eine Reihe von weiteren Claims, Schlussregeln und Backings nicht explizit genannt, sondern nur implizit aufgerufen werden.17 Indem Raif für die Gruppe der in Deutschland aufgewachsenen Muslime argumentativ darlegt, dass gewalttätiges Handeln ihren Dispositionen widerspricht, kann er den Terrorismusverdacht, dem er sich aufgrund seiner Religionszughörigkeit ausgesetzt sieht, zurückweisen. Seinen Zuhörern macht er somit eindrücklich klar, warum es für ihn, aus seiner konkreten translokalen Positionierung heraus, weder Anlass noch Sinn ergibt, warum er gewalttätig werden bzw. sich gegen das von ihm und seinem Vater sehr geschätzte, positiv konnotierte deutsche System richten sollte. Raif kommentiert die Lage abschließend mit der Bemerkung: „Das ist traurig. (.) Weil das hilft ja nicht. Das spaltet ja eigentlich, ne? Also es kann, es kann ja nicht dazu führen oder dazu helfen, dass man sich, (.) dass wir äh, aufeinander zugehen. Man geht ja nur auseinander! Wenn (.), mit solchen Vorurteilen im Kopf. Und (.) wissen Sie wie viele Menschen diese Vorurteile tatsächlich haben? (.) Und die können ja gar nichts dafür, (.) weil die haben das ja nur so in den Medien bekommen (.) und die kennen ja nichts anderes! […] Und selbst Menschen, die stark sind und sagen: ‚Ja ach, ist mir doch egal!‘. Haben trotzdem die Vorurteile! Das heißt, (.) die sagen nicht: ‚Oha, jeder Türke, oder jeder Marokkaner, (..) ist ein Terrorist‘. Aber die sagen trotzdem: ‚Ja, der Islam ist (..) Terrorismus (.) und ist schlecht‘. Die haben diese Vorurteile!“
Seine Konklusion „das ist traurig“ begründet Raif mit den Folgen, die das negativ konnotierte Islambild für den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben könnte. Zunächst vorsichtig modularisierend („eigentlich“, „kann ja nicht“), kommt er zu seinem als allgemeingültig markierten Claim “Mit solchen Vorurteilen geht man ja nur auseinander“. Der in diesem Abschnitt wiederholt auftauchende Begriff des „Vorurteils“ markiert das hegemoniale Islambild erneut als nicht der Realität entsprechend und unterstützt somit Raifs vorhergehende Argumentation. Er selbst positioniert sich durch seine Argumentation erneut als reflektierter Beobachter. Auch wenn die Vorurteile als ungerechtfertigt und ungerecht bewertet werden, betont er, dass er denjenigen, die diese Vorurteile haben, keinen Vorwurf macht („die können ja nichts dafür“). Indem er heraushebt, dass „selbst diejenigen, die stark sind“ – die also „die Be-
17 So impliziert z.B. sein Verweis „die waren damals auch Muslime“, dass Muslimsein damals das gleiche bedeutete wie heute. Ebenfalls impliziert wird das Backing, dass es zulässig ist, von der Vergangenheit (Elterngeneration) auf die Gegenwart (Handeln der Kindergeneration) zu schließen. Außerdem findet sich hier die Schlussregel dass nur „Unbekannten“ zu misstrauen ist, während dies für „bekannte“ Personen (den Kindern) nicht gelten sollte. Diese Argumentation wiederum beruht auf der Schlussregel, dass man „zu Hause“ keine Gewalttaten begeht (während dies in der „Fremde“, d.h. an einem Ort und unter Menschen, zu denen man keine Beziehung hat, wahrscheinlicher ist) – die auf dem ortsbezogenen Backing beruht, dass das Handeln vom Ort der Beheimatung abhängig ist.
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reitschaft [mitbringen] sich irritieren zu lassen“ (Attia 2009, 149) – sich dem hegemonialen Islambild nicht erwehren können, verweist Raif auf die Macht der (Medien-)Diskurse, die auch Attia in ihren Interviews mit deutschen Nicht-Muslimen nachweisen konnte. Seine eigene Frage nach der Entstehung und Verbreitung dieses negativen Islambildes beantwortet Raif so wie die zuvor zitierten „Älteren“ mit Verweis auf die Medien: „Das ist ein Medienspektakel! Ne? (.) Und äh, wenn man jetzt selbst ein Moslem ist, (.) dann, dann erkennt man das. Weil man interessiert sich dafür und man sieht ja, dass das ja die Unwahrheit ist. Aber wenn man jetzt kein Moslem ist, dann:: (.) man interessiert sich nicht. (..) Man hinterfragt dann auch nicht die Berichte und so was. Man nimmt das einfach so auf und […] man denkt sich selbst: „Eigentlich joa, so, pff, sehr interessiert mich das jetzt nicht“. Aber wenn man das morgens hört, (.) nachmittags, abends, (.) im Radio. Dann prägt das schon ein! […] Unauffällig, ja? (.) Das ist sehr traurig, […] dass Deutschland das zugelassen hat. Das war so was wie ein trojanisches Pferd, (.) ja?“
Die Ursache für die in der deutschen Bevölkerung verbreiteten Vorurteile sieht Raif in der Art der Mediendarstellung, die er als übertrieben darstellt, indem er sie als „Spektakel“ beschreibt. An dieser Stelle greift er auf, was er zuvor bereits thematisiert hatte: dass die Darstellung des Attentats vom 11. September „gepusht“ wurde und daher „unnötig viel Angst verbreitete“. In dieser Argumentation re-artikuliert Raif einen kategorialen Unterschied zwischen Muslimen und Nicht-Muslime, mit dessen Hilfe sich unterschiedliche Denkund Wahrnehmungsmuster erklären lassen. Die Schlussregel hier lautet, dass „man“ als Muslim ein Interesse an ‚muslimischen‘ Themen hat und entsprechende Mediendarstellungen daher kritisch hinterfragt, während ein Nicht-Muslim nicht das gleiche Interesse mitbringt und daher in Bezug auf dieses Thema keine kritischvergleichende und abwägende Haltung einnimmt. Ohne spezifisches Interesse an einem Thema jedoch, so Raif, nimmt man Mediendarstellungen von Nachrichtenereignissen auf, ohne groß darüber nachzudenken: „Das Gezeigte wird geglaubt, da man es sieht“ (Peter 2004, 66). Als Beleg hierzu führt er aus, dass man sich bei Meldungen über ein Erdbeben ja auch selten über Hintergründe Gedanken machen würde. Im Anschluss an eine solche Nachricht würde man sich schnell wieder seinem Alltagsleben zuwenden oder aber Ablenkung in anderen, unterhaltsameren Mediensendungen suchen: „Man schaltet dann um, findet direkt Stefan Raab und lacht sich dann kaputt. Weil er einen Witz gerissen hat.“ Der hier rekonstruierte Normalfall einer unreflektierten, „nebenbei“ Aufnahme medial vermittelter Informationen stellt aus Raifs Sicht eine entscheidende Erklärung dafür dar, warum sich bestimmte Bilder und Vorstellungen „wie ein trojanisches Pferd“ in eine Sprach- und Kommunikationsgesellschaft einschleichen und verbreiten und so unbewusst und unbeabsichtigt zu hegemonialen Deutungsmustern avancieren können. Es sind folglich nicht nur die Journalisten auf der „Jagd nach dem Scoop“, die „leichtfertig daher [reden] ohne sich im Mindesten über Problematik und Bedeutung ihrer Formulierungen im Klaren zu sein“ (Bourdieu 1998c, 26), sondern ebenso die Zuschauer, die die ihnen dargebotenen Nachrichten und Wirklichkeitskonstruktionen
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zerstreut und unkritisch konsumieren und so zur ungebrochenen Reproduktion eines negativ konnotierten Islambildes beitragen. Symbolische Herrschaft und die Mechanismen der Macht Am Ende des Interviews frage ich Raif abschließend nach seinen Wünschen und Plänen für die Zukunft. In zunächst scheinbar vollständiger Ignorierung meines Fragehorizonts antwortet er für mich überraschend mit einer auf die Vergangenheit bezogenen Selbst-Charakterisierung: „Also ich hab ähm, (.) ich hab FRÜHER ein Vorurteil gehabt. Gegenüber den Deutschen. Ich persönlich ja? Und das lag aber daran, dass ich als Jugendlicher zum Beispiel von Deutschen dann äh, SCHLECHT behandelt wurde“
Mit diesen Sätzen läutet Raif eine fast 10-minütige, sehr komplexe Argumentation ein. Um mir zu erläutern was er mit „schlecht behandelt“ meint, führt er drei szenisch-episodische Schlüsselerzählungen ein. Die erste bezieht sich auf eine Situation, als er elf oder zwölf Jahre alt war und im Supermarkt etwas einkaufen wollte: „Dann, sagt die Kassiererin: ‚Ja, (.) hier (.) Marie, geh dem mal hinterher!‘ ‚Was? Ja, wer?‘ ‚Der Ausländer, geh dem mal hinter her, guck mal!‘ So, weil die denkt ja, du bist ja ein kleines Kind (.) und du kannst ja eh nichts machen, (.) dann ist die dann so FRECH […]. Ich hab das zwei, drei Mal mitbekommen. Ich SELBST, persönlich. Und das hat natürlich sehr wehgetan. […] Und vor allen Dingen die SCHLANGE, die da stand, die kriegt das mit, und du bist jetzt auf einmal so ein, ein, ein DIEB oder so. (..) Das hatte jetzt nix mit dem Islam zu tun oder so, einfach nur (..) der, der Ausländer.“ [Herv. fett: MD]
Raif re-inszeniert und kommentiert hier ein für seine Subjektkonstitution und die Entwicklung seines Selbst-Verständnis zentrales Erlebnis. Zum einen wird er durch die Fremd-Identifizierung der Kassiererin als „Ausländer“ kategorisiert. Die Wertung, die mit dieser Kategorie einhergeht, ist in dieser Situation für Raif unmissverständlich. Durch sein Aussehen wird er nicht nur als ‚anders‘ erkennbar, sondern auch dem – unbegründeten – Verdacht unmoralischen Handelns ausgesetzt. Indem Raif in dieser Szene nicht nur als Ausländer, sondern gleichzeitig auch als potenzieller Dieb angerufen und identifiziert wird, sieht er sich dem beschämenden Blick aller Anwesenden ausgesetzt. Dieser Blick ist „nicht ein einfaches, allgemeines und abstraktes Objektivierungsvermögen, wie Sartre meint“ (Bourdieu 2005a, 115). Da Subjekte „[n]och in die zufälligsten Interaktionen alle ihre Eigenschaften und Merkmale ein[bringen]“ (Bourdieu 1982, 379), ist auch der Blick als ein „symbolisches Vermögen“ zu betrachten, „dessen Wirksamkeit abhängt von der relativen Position dessen, der wahrnimmt, und dessen, der wahrgenommen wird" (Bourdieu 2005a, 115).18
18 Zur Funktion und Bedeutung des beschämenden Blicks in der Habitus-Konstitution vgl. ausführlich Deffner (2010, 169–181)
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In der geschilderten Situation hat Raifs erzähltes Ich den Anschuldigungen nichts entgegen zu setzten.19 Aufgrund der in diesem Moment wirksamen Machtrelationen, die die Kassiererin als Erwachsene in eine automatisch stärkere Position verorten, fühlt er sich machtlos und unterlegen.20 Er kann nicht anders als das Gefühl der Beschämung zu inkorporieren und somit – zwar „mit Widerwillen und höchst widerwillig“ – die „magische Grenze zwischen den Herrschenden und Beherrschten“ implizit anzuerkennen und sich „dem herrschenden Urteil zu unterwerfen“ (Bourdieu 2005a, 72; Herv. i.O.): „Ich war viel zu klein. Ja? Ich hatte Angst.“ Als Fazit dieser Erzählung fasst Raif zusammen, dass er aufgrund solcher Situationen „Vorurteile“ entwickelt hat: „Und so hat man sich dann zum Beispiel auch in der Schule benommen, Deutschen gegenüber, wenn die dann in der Minderheit waren.“ Mit der hier sehr vagen Formulierung „so“, deutet Raif nur an, worum es geht. Er vermeidet es, ins Detail zu gehen (was vielleicht ein negatives Licht auf seine Selbst-Darstellung werfen könnte). Was er jedoch damit sagen möchte, wird im folgenden Abschnitt deutlich. In der Coda zu seiner Erzählung argumentiert er, dass er die aktuellen Probleme z.B. an Berliner Schulen: „Zu viel Gewalt, die Ausländer, Gewalt in der Schule und so“, aufgrund seiner eigenen Biographie nachvollziehen kann. Aus seinem persönlichen Erlebnis der Machtlosigkeit und Unterlegenheit heraus („Ich konnte gegen die Kassiererin ja nichts machen“) erklärt sich für ihn, warum er (und andere mit ähnlichen Biographien) Situationen mit offeneren oder umgekehrten Machtbeziehungen ausnutzen, um sich ihres gleichrangigen Status zu versichern und somit ihr biographisch beschädigtes Selbstwertgefühl zu kompensieren. Die Problematik des Gefühls durch erwachsene Deutsche kategorisiert und aufgrund dieser Kategorisierung „unfair“ behandelt zu werden, wurde für Raif und seine Freunde dadurch verstärkt, dass ihre Eltern kein Verständnis für ihre Probleme mitbrachten, sondern stattdessen den beschämenden Blick der anderen unhinterfragt bestätigten: „Wenn man dann zu den Eltern geht und du sagst: ‚Ja, die Lehrerin hat mir das und das gemacht‘ dann hat er gesagt: ‚Von wegen! Ja, ja! Die Lehrerin macht so etwas nicht.‘ ‚Der Polizist hat ...‘ ‚Ja, ja! Von wegen! Der Polizist macht das nicht.‘ Oder die Kassiererin … ‚Nein!‘ […] – Weil die haben nicht daran GEGLAUBT, dass die dann so etwas machen. Das haben die Eltern damals nicht geglaubt.“
Auf die Frage, warum die Eltern zu einer ganz anderen Situationsdeutung kamen als ihre Kinder, hat Raif aus seiner heutigen Perspektive eine Antwort gefunden: „Und die haben [hier] zum Beispiel acht Stunden gearbeitet (.) und wurden dann auch tatsächlich für die acht Stunden bezahlt. Und man hat sich dann auch bei denen bedankt, weil die die
19 Raifs erzählendes Ich allerdings distanziert sich von der damals gefühlten Unterlegenheit. Indem es die Kassiererin mit dem Adjektiv „FRECH“ charakterisiert, wird ihr Handeln als unangemessen bewertet, wodurch sie im Rückblick eine moralisch schwächere Position einnimmt. 20 Für eine fundierte sozialwissenschaftliche Diskussion der Unterschiede zwischen Machtlosigkeit und Unterlegenheit vgl. Neckel (1991, 147–161).
184 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT Arbeit auch gut gemacht haben, ne? Weil die waren fleißig! – Und die haben dann gedacht: Wir haben da [in Marokko] bei wem anders gearbeitet äh, 20 Stunden, und wurden dann noch beschissen behandelt. Angeschrien und angebrüllt. Und man hat uns noch nicht mal unser Geld vernünftig gegeben. – Und dann haben die hier dann die Deutschen GELIEBT! Ne? Weil die so, so GERADE sind. Ne?“
Die ganz anders gearteten biographischen Erfahrungen, die die Eltern vor ihre Migration in Marokko gemacht hatten, haben sich für Raif in ihren Dispositionen niedergeschlagen. Dies erklärt, warum sie die Deutschen als positiv empfinden – eine Haltung, die Raif angesichts seiner divergierenden Erfahrungen als „Vorurteil“ einstuft. Aber nicht nur die Vorerfahrungen, sondern auch die zeitgleich in ähnlichen Lebenskontexten gemachten Erfahrungen unterscheiden sich aus Raifs Perspektive je nach dem Alter und der daraus resultierende relationalen Position im sozialen Raum: „Die haben ANDERE Erfahrungen gemacht. Die waren ja auch erwachsene Menschen, das heißt, wenn einer ein Vorurteil gegen ihn hatte, dann hat der ihm das ja nicht gesagt.“
Raifs Argumentation illustriert hier beispielhaft, wie es dazu kommen kann, dass Eltern und Kinder – obwohl sie am gleichen Ort leben – mit diesem spezifischen Raumausschnitt ganz unterschiedliche Erlebnisse und Bewertungen verknüpfen: Während Bergheim für Raif das Setting darstellt, an dem er als „Ausländer“ herabgesetzt und entwürdigt wird, so ist es für seinen Vater und Onkel ein Ort, an dem sie in beruflicher Hinsicht zum ersten Mal Anerkennung und Würdigung erfahren. Was Raif hier skizziert, kann mit Schittenhelm (2001, 180) als „milieuspezifische Erfahrungsräume“ bezeichnet werden. Diese werden durch Ungleichheitsdimensionen wie Klasse, Geschlecht und Ethnizität ebenso geprägt wie durch die jeweilige Zeiterfahrung (Generativität). Für Raif sind es diese disparaten Erfahrungsräume, die ein intergenerationelles Verständnis erschweren: „Und deshalb haben wir unseren Eltern nie-, gar nichts mehr erzählt oder was gesagt.“ Von einem dieser Erlebnisse und Beobachtungen, die er damals verschweigen musste bzw. nur innerhalb seiner Peer-Group diskutieren konnte, berichtet Raif mir im Anschluss. Er schildert eine Szene, die er als Außenstehender vor einigen Jahren, also schon als Erwachsener, in der Bergheimer Innenstadt beobachtete. Schauplatz ist eine Kneipe, die am Abend als Disco und Treffpunkt der Jugendlichen fungiert: „Und dann hab ich gesehen, die [Kids] gingen rein und raus, hatten Spaß, (.) waren am Trinken, ne? Waren laut. Also die Deutschen jetzt. Ja? Die haben aber Spaß gehabt. Also die haben jetzt niemanden was getan oder so. Waren ziemlich laut, haben gepöbelt, aber untereinander. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man … MD: Ja, ja R: Nichts Böses. Und da waren so vier, fünf Jugendliche, (.) Marokkaner (.) äh, vielleicht auch ein Türke oder zwei dabei, ganz RUHIG, still in einer Ecke. (..) Und ganz klar, ich weiß, was da los ist: Die MÖCHTEN auch da rein. KÖNNEN sie aber nicht. Da sind zwei Leute vor die Tür, gucken dann wer rein und rausgeht. Und ich weiß das, weil ich ja in dem Alter auch da war […] Ich stand davor und wolle auch da rein, aber man hat uns nicht reingelassen, ja? […] Und jetzt kommt was, äh, was ich vergessen hatte. Jetzt kommt auf einmal die Polizei, […] hält da an,
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und geht genau zu der Gruppe von den Ausländern und fragt sie dann nach den Ausweisen. Verstehen Sie? [..] Da müssen Sie sich jetzt die Jugendlichen vorstellen, ja? Die stehen jetzt da, die kommen nicht rein. Also man stoßt sie ab. Die dürfen nicht da rein. (.) Warum, weiß ich nicht. Die sind Ausländer und dahinten, da sind Deutsche. Die feiern und die haben ihren Spaß. Die [Ausländer] dürfen keinen Spaß haben, sie dürfen nicht mitfeiern, sie müssen draußen stehen bleiben. (.) Und dann kommt auch noch die Polizei und geht gezielt zu denen. Jetzt kann man der Polizei nichts vorwerfen. Und äh, dem Clubbesitzer auch nichts. Ja? Das ist ne MORAL! (..) Ne Sache von der Moral. JETZT aber, was erwarten Sie von diesem Jugendlichen? (..) WAS soll er denn jetzt denken? […] Wie soll er Sie jetzt sehen? Wenn er Ihnen auf der Straße begegnet? Soll er FREUNDLICH sein, wie seine Eltern ihm das beigebracht haben? (..) Soll er sich jetzt das zu Herzen nehmen, was die Eltern sagen, die Deutschen sind ja eigentlich (..) gerade? Oder äh, sagt er: ‚Wollt ihr mich hier eigentlich für blöd verkaufen?‘“
Die hier genutzte Vollform der sprachlich ausgefeilten und pointiert dargestellten szenisch-episodischen Erzählung mit Orientierung, Komplikation, einem durch den Kommentar auf der Metaebene („was ich vergessen hatte“) eingeläutetem und im szenischen Präsens gehaltenen Höhepunkt sowie einem abschließenden Resümee und der in der Coda explizierten Lehre, kennzeichnet die Erzählung als Anekdote (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 152). In diesem Fall bleibt unklar, ob Raif die Geschichte schon häufiger erzählt hat. Dennoch ist an der Art der Ausgestaltung erkennbar, dass sie möglichst publikumswirksam erzählt wird, um sicherzugehen, dass die Zuhörerin die „Moral“ der Geschichte versteht: Gleich zu Beginn bindet mich Raif mit der Rückversicherung „Sie wissen ja..?“ in die Geschichte ein und stellt so einen gemeinsamen Verständnishorizont her. Diesen reaktiviert er nicht nur durch seinen Appell an meine emotionale Beteiligung und Fantasie „Sie müssen sich vorstellen“, sondern auch durch mehrere explizite Rückfragen „Verstehen Sie?“, die die für seine Sprechweise typische Nutzung kurzer Rückversicherungspartikel (Ne? Ja?) an dieser Stelle deutlich übersteigern. Die zentrale Botschaft, die Raif mir mit seiner Erzählung vermitteln möchte, ist das von ihm erlebte und den beobachteten Jugendlichen ebenfalls zugeschriebene Gefühl, aus einem bestimmten Raum ausgegrenzt zu werden und in seiner Handlungsfreiheit beschnitten zu werden. Also nicht das tun zu können was man tun möchte und was anderen jungen Männern im gleichen Alter ganz offensichtlich möglich ist. Ursache für diese Ausgrenzung stellt nicht fehlendes ökonomisches Kapital dar,21 sondern eine dem Handeln von Polizisten und Türstehern zugrunde liegende Kategorie symbolischer Herrschaft (Differenzlinie ‚Deutsche‘ / ‚Ausländer‘). Diese Problematik illustriert Raif im Anschluss durch eine dritte kurze Erzählung. Er berichtet, dass er als Jugendlicher mit seinen Freunden am Wochenende oft mit der Bahn nach Köln fuhr. Dabei wäre es ganz normal gewesen, dass sie ein oder
21 Obwohl von Raif nicht erwähnt, wurde in einigen anderen Interviews sehr deutlich, wie sehr fehlendes finanzielles Kapital ein Gefühl von fehlender Teilhabe auslösen kann.
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mehrmals von der Polizei angehalten und kontrolliert worden wären. Diese Praxis bewertet er aus heutiger Perspektive als an sich verständlich und unproblematisch: „Wenn wir aber so ne Gruppe sind, das sieht dann vielleicht bedrohlich aus. Die Leute rufen die Polizei an. Aber wir haben nix dagegen, die können ja kommen, wir geben ihnen den Ausweis und dann gehen sie wieder.“
Diese Normalität seiner Alltagserfahrung wird jedoch erschüttert, als sie eines Tages auch einen ‚deutschen‘ (d.h. weißen) Freund mitnehmen. Mit diesem zusammen durchlaufen sie die für sie übliche Prozedur: sie werden in Bergheim, Horrem und Köln von der Polizei kontrolliert. „Dann sachte der: ‚Ich bin 16 Jahre alt. Ich wurde noch NIE von der Polizei angehalten. Und heute DREI MAL.‘ Warum? (.) Weil er mit uns war. Verstehen Sie? WIR sind aber AUCH 16. Und wir werden JEDEN Tag kontrolliert. Verstehen Sie, was ich meine?“ MD: „Ja.“ R: „Dann denkt man sich: Ja, gut, woran liegts? Wieso werden wir jetzt so viel kontrolliert?“
Die Antwort auf seine Frage muss Raif an dieser Stelle nicht explizieren: Es ist weder das Alter noch das Geschlecht, sondern einzig und allein das Aussehen, das ihn von seinem Freund unterscheidet und somit als Erklärung für ihre unterschiedlichen biographischen Erfahrungen taugt.22 Zusammengenommen illustrieren diese drei Erzählungen, wie in und durch alltägliche Interaktionen eine bestimmte sozial konstruierte Kategorie wie die des „Ausländers“ als Sicht- und Teilungsprinzip der sozialen Welt wirksam gemacht werden. Mit Butler lassen sich die in diesen Moment wirksam werdenden Anrufungen als Sprechakte identifizieren, die als Akte der Setzung und Subjektivierung wirken und hierdurch ein Subjekt konstituieren, das „unlösbar an seine gesellschaftliche Konstitution gebunden ist“ (Butler 2006, 240). Dass eine solche „Einsetzung“ des Subjekts nicht nur durch sprachliche, sondern auch durch nicht sprachliche Praktiken geleistet wird, lässt sich an Raifs Erzählungen über Fremd-Identifizierung und Ungleichbehandlung (die Polizeikontrolle), über Beschämung und Unterordnung (der Dieb) sowie über raumbezogene Exklusion (die Disco) exemplarisch ablesen. ‚Wirklich‘ und subjektkonstitutiv wird die rassifizierend angewandte Kategorie des ‚Ausländers‘ für Raif aufgrund ihrer performativen Macht. Dass er die binäre Kategorisierung Ausländer-Deutsche an keiner Stelle des Interviews dekonstruiert oder infrage stellt, lässt sich durch deren wirklichkeitskonstituierende Funktion erklären, die der schwarze US-Autor Henry Gates in einem Essay so trefflich beschreibt: „It's important to remember that ‚race‘ is only a sociopolitical category, nothing more. At the same time – in terms of its practical performative force – that doesn't help me when I'm trying
22 Zu anderen Fällen struktureller Diskriminierung durch die Polizei in Deutschland vgl. Bazyar (2012). Anderson (2011, 173ff.) beschreibt für einen schwarzen US-Amerikaner eine fast analoge Szene. Zu Andersons Interpretation solcher und ähnlicher Ereignisse als „rassifzierende“ Momente („nigger moments“) vgl. ausführlicher Kap. 6.5.3.
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to get a taxi on the corner of 125th and Lenox Avenue (‚Please sir, it's only a metaphor.‘)“ (Gates 1992, 37f.; Herv. i.O.)
Raifs gehäuften Rückversicherungsaktivitäten in dieser Passage des Interviews, ebenso wie seine ganz am Ende geäußerte Nachfrage, die mehr eine Feststellung ist: „So haben Sie das noch nie gesehen, oder?“ deuten darauf hin, dass er an dieser Stelle offensichtlich die ihm gebotene Gelegenheit nutzt, „um sich Gehör zu verschaffen, [seine] Erfahrung von der privaten in die öffentliche Sphäre zu tragen; und auch als eine Gelegenheit sich zu erklären, und zwar im weitesten Sinne des Wortes, also [seine] eigene Sichtweise von sich selbst und der Welt zu konstruieren, und jeden Punkt innerhalb dieser Welt festzulegen, von dem aus [sein] Handeln verständlich und gerechtfertigt ist, und zwar zu allererst für [sich] selbst.“ (Bourdieu 1997c, 792)
Raif antwortet an dieser Stelle auf meine Eingangsfrage nach „dem was wichtig für ihn war“, indem er mir die Ereignisse schildert, die seine Dispositionen und damit auch seine Sicht und Perspektive auf die soziale Welt entscheidend geprägt haben. Warum ihm dies an dieser Stelle des Interviews so wichtig ist, wird aus seinem abschließenden Kommentar zu den drei Episoden ersichtlich: „So, und jetzt (..) die Frage von Integration. Was erwartet man den jetzt? (mit tiefer Stimme): ‚Die Integration (.) ist schiefgelaufen (.) seit 30 Jahren‘. (wieder normal) Die Integration – man muss ja erst mal, muss ja SELBST erst mal diese LEUTE AKZEPTIEREN! Man muss ja jetzt erst mal sie GLEICH behandeln. Die KÖNNNEN sich doch überhaupt nicht integrieren! Verstehen Sie, was ich meine? MD: Ja, ja. R: WIE denn auch? Man WILL sie doch überhaupt gar nicht. Und man zeigt ihnen ständig, bei JEDER Gelegenheit: ‚Nö, wir wollen euch nicht‘ [..] Das ist, äh, joa, ein Problem der Integration.“
Letztlich dienten die drei biographischen Episoden im Gesprächskontext also zur Herstellung eines gemeinsamen Verständnishorizonts. Auf dieser Grundlage kommt Raif dann zu dem Thema, das ihm unter den Nägeln brennt: Die in den zwei Monaten vor dem Gespräch aufgeflammte Integrationsdebatte (vgl. Kap.6.5.2). Die Polyphonie des Abschnitts wird in diesem Fall an dem Stimmenwechsel sichtbar. Die hegemoniale Deutung, mit der sich Raif auseinandersetzt, wird dabei als bekannt vorausgesetzt und nur durch das kurze Fremdzitat („die Integration ist schiefgelaufen“) aufgerufen. Raifs darauf antwortende Re-Formulierung der Integrationsdebatte verschiebt die Verantwortung für das Problem von den „ZuIntegrierenden“ auf die Mehrheits- bzw. Aufnahmegesellschaft, der er eine nicht geleistete Bringschuld attestiert. Direkt und unvermittelt als Antwort auf meine Frage geäußert wäre Raifs alternative, häretische Gegenstandsdefinition in Gefahr gelaufen, als haltlose Behauptung zurückgewiesen zu werden. Auf der Grundlage seiner zuvor eingeschobenen biographischen Erzählungen über Prozesse der Beschämung, Ausgrenzung und Ungleichheitskonstitution dagegen wird seine These für die Zuhörer nachvollziehbar und wirkt somit auch in Opposition zu einem hegemonialen Diskurs fundiert und begründet. Die Verwendung des Possessivpronomen („diese Leute“) und des hier als Personalpronomen eingesetzten Artikels „die“ markieren die Problematik in diesem Ab-
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schnitt als eine Raif selbst nicht mehr unmittelbar betreffende Angelegenheit. Die einleitende Erklärung „ich hatte FRÜHER ein Vorurteil“ sowie der Darstellungsmodus der szenisch-episodischen Erzählung verweisen darauf, dass es für Raif ein Problem ist, das er in seiner Vergangenheit ansiedelt. Obwohl er jedoch heute von sich sagt, dass er „erwachsener geworden“ sei und auch mit den Deutschen in seiner Umgebung gut klar kommt, solidarisiert er sich in der hier eingenommenen Subjektposition dennoch mit denjenigen, die er heute mit ähnlichen Problemen konfrontiert sieht, wie er sie selbst als Kind und Jugendlicher erlebt hat. Für diese wünscht er sich – und damit kommt er schlussendlich doch noch auf meine eigentliche Frage zurück – dass sie in der Zukunft Teil einer Gesellschaft werden, in der sowohl ‚Ausländer‘ als auch ‚Deutsche‘ ihre jeweils eigenen „Fehler erkennen und aufeinander zugehen“. In der also nicht einfach gesagt wird: „Die tun das jetzt. Komm, jetzt haun wir drauf“, sondern sich alle Beteiligten immer auch selbstkritisch fragen: „Warum tun die es? Wo kommt das her?" oder „Jetzt bin ich in den Medien. Warum? Was habe ich falsch gemacht?“ 5.2.3. Zusammenschau Die Frage nach der temporalen Dimension seiner narrativen Identität beantwortet Raif am eindringlichsten durch seine Erzählungen am Ende des Interviews, in denen er schildert, wie er als Ausländer angerufen und sozial positioniert wurde. Sein heute verstärktes Interessen an religiösem Wissen erklärt er durch die in den letzten zehn Jahren verstärkten und vorurteilsbelasteten Nachfragen nach seine Religion. Hierdurch identifiziert er sich heute auch selbst stärker als Muslim. Auffällig ist, dass dem erzählten Ich vergleichsweise wenig Handlungsmacht zugewiesen wird. Als Kind wird Raif nach Deutschland zu seinem Onkel geschickt ohne nach seiner Meinung gefragt zu werden oder zu verstehen, was mit ihm geschieht. Auch die Anekdoten, die Raif aus seiner Kindheit und Jugend erzählt, beschreiben Ereignisse und Prozesse, in denen er durch externe Akteure positioniert und an seinen Platz in der Gesellschaft verwiesen wird. Andererseits jedoch charakterisiert Raif sich aus heutiger Perspektive als jemand, der sich nach seiner Ankunft in Deutschland schnell anzupassen wusste. Auch in Bezug auf seinen Beruf hat er als selbstständiger Unternehmer sein Schicksal selbst in die Hand genommen. Die aktuelle Perspektive des erzählenden Ich ist einerseits durch eine große Affinität zur Gefühlswelt des erzählten Ich gekennzeichnet. Die Re-Inszenierung der biographischen Ereignisse zeigt Raifs fortgesetzte Solidarisierung und Identifizierung mit dem erzählten Ich. Andererseits zeugen seine Charakterisierungen der beteiligten Personen sowie seine evaluierenden und resümierenden Meta-Kommentare davon, dass er zu dem Erlebten einen gewissen Abstand aufgebaut hat. Er ist nicht länger unmittelbar emotional betroffen, sondern hat sich – als heute Erwachsener – einen distanzierten Blick auf die Ereignisse seiner Kindheit und Jugend erarbeitet. In der konkreten Interviewsituation positioniert Raif sich mir gegenüber als überlegt und rational argumentierender Mensch. Durch seine subjektiv fundierten Schilderungen, die vielfachen Modalisierungen des Gesagten und seine vorweggenommenen Gegenargumente (wie in der Argumentation zum Islambild der Einwand „vielleicht war ich ja zu klein“) präsentiert er sich als reflektierter Gesprächspartner, dem man nicht vorwerfen kann, vorschnell und ohne Not zu pauschalisieren. Nachdem er
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seine anfängliche Verunsicherung überwunden hat, nimmt er mir gegenüber mehr und mehr die Rolle eines Experten ein, der mir als solcher neues, mir nicht zugängliches Wissen vermitteln möchte. Er charakterisiert sich dabei nicht als Opfer, sondern als jemand, der trotz seiner von abwertenden und ausgrenzenden Erfahrungen gekennzeichneten Biographie seinen Weg gegangen ist und heute mit seiner erreichten Position im gesellschaftlichen Gefüge zufrieden ist. Besorgt zeigt er sich lediglich für die anderen, d.h. diejenigen, die heute als Jugendliche mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie er früher. Über die Fremd-Identifizierung seiner Kunden identifiziert Raif sich implizit als ein netter und umgänglicher Kerl. Diese selbstbezügliche Charakterisierung als kontaktfreudig und offen korrespondiert mit der zentralen Bedeutung, die Raif seinen Sozialkontakten zuweist. Er wohnt zwar alleine in Bergheim, ist dort jedoch in eng geknüpfte familiäre und freundschaftliche Beziehungsnetze eingebunden. In diese verortet er sich relational vor allem durch seine Generativität als zwischen der ersten Generation und den heutigen Jugendlichen stehend. Bergheim identifiziert Raif als den Ort, an dem er sich am ehesten „zu Hause“ fühlt. Das Gefühl der ortsbezogenen Zugehörigkeit und „Verwurzelung“ an dem Ort seiner Kindheit führt Raif sowohl auf seinen langjährigen Aufenthalt als auch seine aktiven sozialen Netzwerke und die mit den anderen an diesem Ort geteilten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zurück. In dem spezifischen Setting der von ihm als „marokkanisch“ definierten Alltagspraktiken und Alltagsprobleme fühlt Raif sich aufgehoben und beheimatet. Seine Position in dem von ihm entworfenen „milieuspezifischen Erfahrungsraum“ wird dabei zum einen durch seine Generativität als Angehöriger der zweiten Genration gekennzeichnet und zum anderen durch die inkorporierten und auf sich selbst gewendeten Fremd-Identifizierungen als Ausländer und Muslim umschrieben. Im Gegensatz zu seiner Kindheit, die er als durch die habituellen Diskrepanzen zwischen der Eltern- und Kindergeneration gekennzeichnet beschreibt, kann er heute auch die Elterngeneration in diesen Zugehörigkeitsraum geteilter kultureller Praktiken einschließen – auch wenn sich seine wichtigsten sozialen Beziehungen weiterhin auf andere in Deutschland geborene und aufgewachsene Personen konzentrieren. Raifs Erzählung belegt die in Kap. 2.2.2 theoretisch hergeleitete These, dass der Begriff der Heimat und das damit einhergehende Gefühl des „Zu-Hause-Seins“ keinesfalls monolithisch und unteilbar zu denken ist. Soweit es ihm sein Habitus und die im Urlaub erlebten Fremd-Anrufungen und Fremd-Positionierungen als „Tourist“ erlauben bezieht sich für ihn das Gefühl von „nach Hause kommen“ und „beheimatet sein“ auch auf seinen Geburtsort in Marokko, an dem seine Eltern und Geschwister bis heute leben. Sein hin- und herpendeln zwischen den Begriffen der „ersten“ und „zweiten“ Heimat zeigt exemplarisch, wie variabel eine solche Definition ist und wie sehr die konkret geäußerte Positionierung von Ort, Kontext und Perspektive des Sprechers abhängt. Die für Raifs narrative Identität mit Abstand wichtigste Kategorie symbolischer Herrschaft ist die rassifizierende symbolische Klassifikation als ‚Ausländer‘. In seiner Erzählung zeichnet er nach, wie er durch die unter asymmetrischen Machtrelationen stattfindenden Anrufungen mittels dieser Kategorie identifiziert und positioniert wurde. Obwohl er die grundlegende binäre Kategorisierung Ausländer-Deutsche als relevantes gesellschaftliches Sicht- und Teilungsprinzip erfährt und daher auch für
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seine Selbst-Identifizierung übernimmt, stellt er die auf dieser Kategorisierung aufbauende Ungleichbehandlung und die dadurch re-produzierte soziale Ungleichheit sehr vehement infrage. Dem erlebten Ausschluss aus der (imaginierten) Gemeinschaft der Mehrheitsgesellschaft aufgrund seines Aussehens widerspricht er durch seine eigene Definition nationaler Zugehörigkeit, die sich für ihn aus dem Ort des Aufwachsens bzw. der Enkulturation ergibt. Staatsangehörigkeit, Hautfarbe oder Religion sind hierfür irrelevant. Die seit Anfang des Jahrtausends verstärkt wirksam gewordene Differenzkategorie der Religion (Muslimisch/Nicht-Muslimisch bzw. ‚Deutsch‘) hat Raif zwar ebenso selbstverständlich internalisiert wie Amal. Für seine persönliche Biographie weist er dieser Kategorie jedoch eine geringere Bedeutung zu. Die auf der Äquivalentsetzung von Islam und Terrorismus beruhenden Vorurteile empfindet er zwar als traurig. Als erwachsener Mann kann er in entsprechenden Interaktionen jedoch selbstbewusster auftreten. Er wird daher durch die Anrufungen nicht mehr in gleicher Weise in einer untergeordneten Positionierung konstituiert. Seine Religion gehört zwar zu seinem Selbst-Verständnis und ist als religiöse Praxis Bestandteil seiner Alltagsgestaltung. Anders als Amal hat er jedoch keinen Prozess der religiösen Re-Konversion hinter sich. Auch aktive Diskriminierung im Sinne einer Schlechter-Behandlung aufgrund seiner Religionszugehörigkeit hat er bisher nicht erlebt. Was bei genauer Betrachtung auffällt, ist, dass der milieuspezifische Erfahrungsraum, den Raif durch seine Erzählungen re-konstruiert, exklusiv aus männlichen Individuen besteht. Es sind die „Jungs“, seine Freunde, sein Vater und sein Onkel, die als Interaktions- und Diskussionspartner in Erscheinung treten. Seine Mutter dagegen erwähnt er im Kontext des Interviews gar nicht, über seine Tanten erfahren wir nur, dass er sich dort in Marokko ebenso zu Hause fühlt wie bei seinen Eltern. Sowohl die Frage von (Liebes-)Beziehungen als auch seine vergeschlechtliche Identität sind für seine Erzählung nicht relevant.23 Als Mann in einem offensichtlich stark männlich geprägten Umfeld bleibt für Raif die Bedeutung der symbolischen Kategorie „Geschlecht“ für seine Biographie unsichtbar (vgl. Valentine 2007, 18). Betrachtet man dagegen die Erzählungen aus einer außenstehenden, objektivierenden Perspektive, so wird deutlich, dass sein Erfahrungsraum durch sein geschlechtsspezifische Positionierung ebenso stark umschrieben wird wie durch die von ihm erwähnten Kategorien Generativität, Religion und Herkunft/Aussehen. So lässt sich angesichts der verschränkten Diskurse über Männlichkeit, Ethnizität und Gewalt bzw. Kriminalität (vgl. hierzu ausführlich Spies 2010, 44–68) argumentieren, dass eine Gruppe von als marokkanisch identifizierten Mädchen bei ähnlichen Ausflügen aufgrund der anders gelagerten Konnotationen nicht in gleicher Weise als eine „zu kontrollierende“ Gruppe bewertet und daher anders behandelt worden wären.24 Be-
23 Inwiefern sich die Anwesenheit eines marokkanischen Bekannten bei diesem Interview auswirkte, muss offen bleiben. Ich selbst habe keine Frage hierzu gestellt, nachdem im zuvor geführten Interview die scheinbar harmlose Frage nach seinem Familienstatus meinen (wie sich herausstellte drei Mal geschiedenen) Interviewpartner sehr verletzt hatte. 24 Dies zeigt auch Delcroixs (2001, 230) Portrait einer marokkostämmigen Familie in Frankreich: Die älteste Tochter ist sich sehr bewusst, dass sie z.B. auf dem Arbeitsmarkt mit geschlechtspezifisch weniger negativ konnotierten Vorurteilen konfrontiert wird als ihre Brü-
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rücksichtigt man die von Hajji (2009) für marokkostämmige Familien in Bonn beschriebenen geschlechtsspezifischen Sozialisations- und Erziehungspraktiken, so ist andererseits davon auszugehen, dass Raifs Erfahrungen von Exklusion und Ausgrenzung (z.B. vor der Disco) paradoxerweise gerade auf den Privilegien beruhen, die ihm als männlichen Jugendlichen von seinen Erziehungspersonen vermutlich eher und einfacher zugestanden worden sind, als dies für ein Mädchen im gleichen Alter der Fall gewesen wäre. Die ihm aufgrund seines sozialen Geschlechts eröffneten Handlungsspielräume stellten somit die „Bedingung der Möglichkeit“ (Bourdieu 1987b, 50) bestimmter ausgrenzender Erfahrungen dar. Hier zeigt sich somit, dass eine bestimmte symbolische Kategorie sozialer Ungleichheit nicht nur immer gleichzeitig und in Abhängigkeit von anderen Ungleichheitsdimensionen wirksam wird, sondern dass eine hierdurch umschriebene translokale Positionierung je nach (Handlungs-)Kontext unterschiedliche Praxisformen ermöglicht und einschränkt. Die gleiche Kombination von Merkmalen, die im familiären Kontext zu einer (im Vergleich zu weiblichen Familienmitgliedern) möglicherweise privilegierten Stellung führt, kann im öffentlichen Raum Diskriminierungserfahrungen bedingen, die die betroffene Person in eine subalterne Position (in Relation zu anderen, weißen männlichen Jugendlichen) einschreibt.25 Während Raif das Fehlen von symbolischem Kapital für seine Biographie als prägend erachtet, thematisiert er seine vergleichsweise geringe Verfügbarkeit von ökonomischem und kulturellem Kapital nur sehr am Rande. Hierfür lasen sich zwei mögliche Erklärungen anführen. Angesichts der von Raif zitierten neoliberalen These, dass „es auf jeden persönlich ankommt, was er aus etwas macht“, müsste er bei näherer Beschäftigung mit dem Thema begründen, warum er entgegen der auch von Vater und Onkel an ihn gerichteten Erwartungen „leider keine Ausbildung oder so“ abgeschlossen hat. Indem er seine schulische und berufliche Ausrichtung weitestgehend unkommentiert lässt, vermeidet er den aus dieser Diskrepanz resultierenden Rechtfertigungsdruck. Andererseits spricht einiges dafür, dass er mit seiner sozio-ökonomischen Situation tatsächlich mehr oder weniger zufrieden ist. Obwohl anzunehmen ist, dass er im (Arbeiter-)Haushalt seines Onkels mit vergleichsweise beschränkten finanziellen Möglichkeiten groß wurde, formuliert er nicht das Gefühl, hierdurch in seinen Hand-
der, weshalb sie u.a. für jene bei potenziellen Arbeitgeber anruft:„Une voix féminine, même arabe, fait moins peur, Monsieur. On m’écoute plus volontiers et j’obtiens des rendez-vous qu’on refuserait en entendant celle de mes frères.“ 25 Wie Apitzsch (2003, 76f.) u.a. mit Verweis auf die o.g. Berber-Familie erläutert, ist selbst die Zuschreibung einer „privilegierteren“ Stellung des „starken Geschlechts“ innerhalb der Familie ambivalent zu sehen, da hierdurch u.U. der positive Einfluss der Mutter als Vorbild und Identifikationsfigur geschmälert wird: „Delcroix erklärt den Erfolg der Mädchen aus dem kontinuierlichen Gespräch mit der Mutter, einer Analphabetin, die den Mädchen den Weg zu generalisierenden Urteilen […] erlaubt. Die Gender-Rolle, die den Jungen sowohl von der der Herkunftsgesellschaft als auch von der – latent kolonialen Traditionen verhafteten – Ankunftsgesellschaft aufgenötigt wird, verhindert nach Delcroix dieses Gespräch. Es ist gerade ihre Positionierung gegenüber Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft, die den männlichen Jugendlichen die Adoleszenz als Möglichkeitsraum (King 2002) verstellt.“
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lungsmöglichkeiten eingeschränkt worden zu sein. Während Achraf z.B. die unzureichende Ausstattung mit ökonomischem Kapital als prägend für seine Kindheit ansieht und hieraus seine berufliche Orientierung und sein Streben nach einem gesellschaftlichen Aufstieg begründet, bricht Raif aus seinem Milieu nicht aus, sondern entwirft seine narrative Identität im Einklang mit seinem Umfeld. Die biographisch ungebrochene, fortgesetzte Passung zwischen eigenem Habitus und seiner sozialer Umwelt (bzw. sozialem Milieu) erleichtert es ihm, das Mögliche für das Angemessene zu halten (Fuchs-Heinritz und König 2005, 125). Ohne den direkten Vergleich mit den Lebenswelten derjenigen, die mit mehr kulturellem und ökonomischem Kapital ausgestattet sind (mit denen Achraf u.a. in seinem BWL-Studium konfrontiert wird), ist es für Raif leichter, sich in Einklang mit seinem Platz im sozialen Raum zu sehen und hieraus ein Gefühl der Zufriedenheit mit dem Erreichten zu entwickeln.
5.3. M AJIDA: „I CH HATTE IN MEINEM L EBEN IMMER G LÜCK GEHABT “ Kurzbiographie Geboren wurde Majida als zweite von insgesamt fünf Kindern in Marrakesch. Als Ministerialbeamter wurde ihr Vater alle drei bis vier Jahre versetzt. Die Familie folgte ihm, wodurch Majida im Laufe ihrer Kindheit und Jugend sechs verschiedene Städte in verschiedenen Teilen Marokkos kennenlernte. Ihre Mutter, die jeweils eine Lehr- und Leitungsfunktion in den örtlichen Hebammenschulen innehatte, war ihr und ihren Schwestern ein wichtiges Vorbild. Nachdem Majidas älteste Schwester zum Studium nach Deutschland ausgereist war, machte sie zwei Jahre später denselben Schritt. Dem Vorbild der Mutter folgend studierten beide Medizin. Nachdem Majida in Bonn das Studienkolleg absolvierte hatte, bekam sie einen Studienplatz in Aachen zugewiesen. Dorthin folgte ihr später auch die ältere Schwester sowie ihr Bruder. Alle drei schlossen ihr Studium in Aachen ab. Im Anschluss daran absolviert Majida Famulaturen in den USA, der Schweiz und Frankreich. Sie kehrte nach Deutschland zurück, machte ihre Facharzt-Prüfung und schloss ihre Promotion ab. Inzwischen wohnt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern wieder in Aachen und arbeitet in einem Krankenhaus in einer nahegelegenen Stadt. 5.3.1. Ansprache, Interviewsituation und Einstiegserzählung Majida habe ich im Juni 2010 persönlich kontaktiert, nachdem ihr Name bei meinen Recherchen gefallen war. Sie reagierte sehr offen und erklärte sich sofort zu einem Interview bereit. Da die Terminfindung schwierig war, führten wir das Gespräch während einer Arbeitspause in der Cafeteria des Krankenhauses, in dem sie zu diesem Zeitpunkt arbeitete. Aufgrund ihrer eigenen Forschungserfahrung war Majida sehr an meinem Projekt interessiert. Sie fragte mich danach, wie viele Interviews ich schon geführt hätte. Als ich daraufhin meine Interviews in Köln und Bonn aufzählte, erwähnte sie, dass ihre Schwester im Moment in Bonn wohnen würde. In Reaktion auf ihren Kommentar formulierte ich meine folgende Erzählaufforderung spontan um. Majida begann daraufhin sofort mit einer vergleichsweise langen und ausführli-
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chen Erzählung, in der sich szenisch-episodische und berichtende Darstellungsweisen abwechselten:26 MD: „Ah, okay (lachen). […] Ja, da können Sie vielleicht gleich mal anfangen mit Ihrer Lebensgeschichte und wie es kommt, dass Sie hier sind und Ihre Schwester in Bonn“? Ma: „Also es hat so angefangen. (.) Ich bin in Marokko geboren und habe dort äh, (..) studiert. Ich bin zur Schule gegangen. Und als ich Abitur gemacht habe, (.) da wollten wir immer […] alle Medizin studieren. Ich weiß nicht warum. Also auch sehr ungewöhnlich, (.) dass jetzt in einer Familie drei, vier Leute sich dafür interessieren. […] War immer sehr schwierig einen Platz (..) zu bekommen an der Uni. Und (.) es gab nicht so viele Unis. Also die am (.) naheliegendste (.) war in Rabat. Und da müssten wir zur Hauptstadt fahren. […] Und ähm, (.) das (.) hat bei meiner [ältesten] Schwester nicht geklappt, weil sie (.) erstens gar keinen Studienplatz bekam (.) in der Zeit. Und dann hieß es ja:: man kann ja (.) vielleicht dann ähm, versuchen im Ausland? (..) Dann hatte mein Vater mit einem Freund gesprochen und der hatte ihm gesagt: „Ja du, mein Sohn ist dort und er ist sehr zufrieden. Er studiert zwar nicht Medizin aber er ist in Deutschland“. Und das (.) [war] dann (..) das erste Mal, wo das Thema Deutschland überhaupt infrage kam. Und dann hat mein Vater gesagt: „Ja gut“. Wir haben da hoch geträumt: „Ja, da können wir im Ausland gehen“. Und er hat natürlich das Finanzielle ja gar nicht gecheckt, dass es nicht SO einfach ist. […] [Aber meine Schwester hat zuerst Deutsch gelernt] und dann ist sie dahin gegangen. Und ihre Geschichte kann ich dann nicht erzählen, weil ich nicht sie bin (lachen). Ich war dann ich.“
Gemäß meiner Frage danach „wie es dazu kam“, dass sie und ihre Schwester heute in Deutschland sind, verweist Majida auf den Studienwunsch als Migrationsmotiv. Während der damals eingeschränkte Zugang zur Hochschulbildung von ihr als entscheidender push-faktor für die Ausreise benannt wird, stammten die Informationen über die Möglichkeit in Deutschland zu studieren aus dem persönlichen Netzwerk der Familie (vgl. Kap. 6.1.1). Aus heutiger Sicht und aufgrund der von ihr gemachten Erfahrungen charakterisiert Majida die damaligen Vorstellungen ihrer Familie als etwas naiv: „Wir haben hoch geträumt“. Während ihnen z.B. klar war, dass eine Migration nach Deutschland das Erlernen der deutschen Sprache voraussetze, war ihnen weniger bewusst, welche finanziellen Kosten damit verbunden sein würden. In dieser Einleitung zu ihrer Lebensgeschichte positioniert sich Majida in Einklang mit einem Familienprojekt („wir wollten alle immer Medizin studieren“). Das „wir“, in das sie sich an dieser Stelle einordnet, bezieht sich damit vor allem auf ihre älteste Schwester. Aber auch ihre beiden jüngeren Schwestern haben einen medizinischen Beruf ergriffen oder streben einen solchen an. Durch ihren Metakommentar „das ist schon ungewöhnlich“ definiert sie dabei nicht nur diese berufliche Zielvorstellung, sondern indirekt auch ihre Familie, sich selbst und ihre Lebensgeschichte als außergewöhnlich und daher auch erzählwürdig. In diese Positionierung re-artikuliert sich Majida noch einmal, als ich sie angesichts der deutlich genderdifferenzierten beruflichen Orientierung (der einzige Sohn
26 Die achtminütigen Einstiegserzählung wird aus Platzgründen nur ausschnittsweise zitiert.
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der Familie ist nicht Arzt, sondern Ingenieur geworden) danach frage, welche Rolle ihre Mutter für ihre Berufswahl gespielt hat: „Meine Mutter ist Hebamme. Aber so (.) mit einem anderen Status sage ich mal als hier. Also Hebamme dort ist ja (.) das (.) wichtigste was es gibt. Die haben, was weiß ich 40 Geburten pro Tag. Und meine Mutter ist eine sehr kommunikative Frau. Als Kind habe ich das immer so schön gefunden weil (.) egal wo wir waren, hatte ich immer den Eindruck: Aha, das ist diejenige, die IRGENDWEM mal geholfen hat. Und die Frauen waren sehr dankbar. Das hat mich einfach ein bisschen eingeprägt. Und ich wusste schon glaube ich mit (..) VIERZEHN, dass ich da die Richtung haben MÖCHTE. Und äh, das war der Einfluss von meine Mutter. Mein Vater ist ein, (..) ein AUSSERGEWÖHNLICHER MAROKKANER würde ich sagen, der seine Töchter auf alle Fälle (..) in (.) Richtung studieren, studieren, studieren (..) nicht heiraten und zu Hause bleiben – später, aber jetzt nicht – [angetrieben hat]. Und äh (..) er:: hat alles gemacht, dass wir diesen Ehrgeiz, denke ich, auch meine Schwestern [entwickelt haben] ähm, (.) einfach irgendwas anderes zu machen als nur rumhängen und (.) nicht gut zu sein.“
Um mir ihre berufliche Orientierung verständlich zu machen, beschreibt mir Majida an dieser Stelle das Milieu in dem sie aufgewachsen ist. In ihrer Antwort auf meine Frage macht sie dabei deutlich, dass sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihren Vater als prägend für ihren beruflichen Werdegang ansieht. Die Vorbildfunktion der Mutter rekonstruiert Majida an dieser Stelle weniger mit Bezug auf fachliche (medizinische) Inhalte, sondern mit Bezug auf die relationale, soziale Position, die ihrer Mutter aufgrund des symbolischen Kapitals, das ihrem Beruf in Marokko zugewiesen wurde, einnehmen konnte. Abgesichert über die Modalisierung „sage ich mal“ vertritt Majida die These, dass das symbolische Kapital, d.h. der Wert, der dem Beruf der Hebamme auf der Ebene der symbolischen Repräsentation zugewiesen wird, standortspezifische Unterschiede aufweist und in Marokko, also dort, anders ist als hier.27 Gestützt wird dieser Claim durch die Nennung einer konkreten Zahl, die hier allerdings nicht als statistischer Fakt zitiert wird (Modalisierung „was weiß ich“), sondern vielmehr als eine Art Metonym für die quantitative Bedeutung der Tätigkeit steht. Wichtiger als der hieraus ggf. zu begründende gesamtgesellschaftliche „Wert“ des Berufszweiges ist für Majida jedoch die konkrete biographische Erinnerung an ihre Mutter, die sowohl aufgrund ihres persönlichen Charakters („kommunikative Frau“) als auch dank ihres helfenden Berufs in den persönlichen Interaktionen mit den Patientinnen Anerkennung und Dankbarkeit erfährt. Auch ihren Vater qualifiziert Majida als „außergewöhnlich“, und zwar nicht als außergewöhnlichen Menschen oder Vater, sondern als außergewöhnlichen Marokkaner. Durch diese Kategorienwahl artikuliert sie sich folglich in einem nationalgesellschaftlichen Diskurs. Indem sie ihren Vater als außergewöhnlichen Marokkaner charakterisiert, der seinen Töchtern eine höhere Bildung nicht nur ermöglicht, sondern sie explizit dazu anhält, ruft sie als Vorkonstrukt und Antagonismus das Bild eines ‚gewöhnlichen‘ Marokkaners auf. Durch die Einführung dieser Unterscheidung er-
27 Geht man davon aus, dass sich symbolisches Kapital in finanzielles Kapital umwandeln lässt, so deuten die aktuellen Lohnstrukturen von Hebammen in Deutschland tatsächlich auf eine gering ausgeprägte Anerkennung hin (vgl. Bohsem 9.7.2012; Jeschke 2012, 13).
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klärt mir Majida ihren biographisch-beruflichen Werdegang. Gleichzeit jedoch – ohne dies zu intendieren oder zu explizieren – evoziert sie ein bestimmtes Bild der ‚normalen‘ marokkanischen Gesellschaft. Diese war demnach zum Zeitpunkt ihrer Kindheit durch ein Denkschemata gekennzeichnet, das Frauen vor allem eine innerfamiliäre (Reproduktions-)Rolle zuwies, nicht jedoch Schulausbildung und Berufstätigkeit für sie vorsah.28 Den Abschnitt zu ihrer beruflichen Orientierung beendet Majida, indem sie die für sie wesentlichen Faktoren in einer Art „Eigentheorie“ zusammenfasst: „Ja, also das war von meinen Eltern zur Seite die Motivation. Und ich hatte (.) glaube ich in meinem (.) bisherigen Leben immer Glück gehabt, dass Leute, die um mich (.) herum waren, mich immer nur unterstützt haben. Also (..) keine Steine in Wege gelegt oder „brauchst du nicht“ oder so. Im Gegenteil: „Das, wo es dir nach ist (..), mach einfach“ und irgendwie klappt es wirklich, wenn man will.“ – MD: Ja – Ma: „Da ist harte Arbeit dahinter. (..) Aber (.) wo gibt's das: irgendwas für umsonst?“
Glück, Motivation (Wille und Ehrgeiz) und harte Arbeit sind die Faktoren, mit denen Majida sich (und mir) ihren bisherigen Erfolg in Studium und Beruf erklärt. Diese – für einen aktuell in Deutschland vorherrschenden meritokratischen, neoliberalen Diskurs als typisch anzusehenden – Erklärungsfaktoren für individuelle Positionen im sozialen Raum ziehen sich wie ein roter Faden durch die weiteren Abschnitte von Majidas Einstiegserzählung. Sie erzählt, dass sie das Glück hatte, dass ihre Schwester den Weg nach Deutschland schon vorgegangen ist und sie ihr nur noch folgen musste. Ihre Entscheidung für Deutschland als Studiendestination begründet sie außerdem damit, dass sie sich „ein bisschen abheben“ wollte. Deutsch zu lernen machte ihr daher besonders Spaß, als sie entdeckte, dass es eine Sprache ist „die ja niemand spricht“, die also im marokkanischen Kontext etwas außergewöhnliches, eine besondere Form kulturellen Kapitals darstellt. In Deutschland angekommen, musste sie zuerst die Aufnahmeprüfung für das Studienkolleg bestehen. Ihr Vater hatte ihr hierfür ein Hin- und Rückflugticket mitgegeben. Dieses war für sie jedoch alles andere als eine beruhigende „Rückkehrversicherung“: „Und dieses Ticket war für mich sowas von (..) ne Belastung! (..) Weil ich drin immer gesehen habe: Ich muss ja zurück. Also um nicht zurück zu gehen, (..) muss ich halt bestehen. Und dann, (.) dann habe ich bestanden. Als ich die Ergebnisse bekam, da hab ich nicht mal verstanden, was sie mir gesagt hat. Sie sagte mir mit so einer typisch deutsche Mimik, so ganz trocken: ‚Sie haben bestanden‘ Und ich guckte sie an und sagte: ‚Bitte nochmal?‘ Dann hat die gesagt: ‚Sie haben bestanden‘ und ich habe gesagt: ‚Ist das gut?‘(lacht) Dann war sie genervt:
28 Eine solches Denkschemata zeigte sich auch im Interview mit Raif. Während er seine Schwestern mit den Worten vorstellte „die sind schon verheiratet“ lautete der Kommentar zu seinem Bruder: „der arbeitet mit meinem Vater zusammen“. Inwiefern die von Majida für die 80er Jahre als außergewöhnlich beschriebenen Vorstellungen aktuell im städtischen marokkanischen Mittelstand ‚normalisiert‘ worden sind, kann hier nicht diskutiert werden.
196 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT Jemand der besteht, der nicht mal diesen Satz versteht. (.) Und dann war ich natürlich glücklich und froh und das hat dann geklappt. […] Und danach habe ich die Zeit nicht gemerkt bis jetzt, so schnell ging es.“
Während Majida die hierauf folgende Wiedergabe ihrer beruflichen Laufbahn eher chronologisch-berichtend ausgestaltet, hält sie an diesem Punkt ihrer Erzählung an. Die szenisch-episodische Ausgestaltung dieser Passage ordnet ihr im Gesamtkontext der von Majida konstruierten narrativen Identität ein besonderes Gewicht zu: Es handelt sich hier um den Wendepunkt, der darüber entschied, ob sie in Deutschland bleiben durfte oder nach Marokko zurückkehren musste. Diese Szene evoziert sie daher noch heute in aller Detailliertheit. Gleichzeitig fungiert diese Erzählung auch als Beleg für ihre These, dass sie im Leben immer Glück gehabt hat: Denn obwohl ihr Hörverständnis nicht gut genug war, um die emotionslos vorgetragene gute Nachricht zu verstehen, hatte sie es dennoch geschafft, den entscheidenden Test zu bestehen. Im Anschluss an den Test absolviert Majida ihr Studienkolleg in Bonn. Erneut hatte sie Glück: Da zu diesem Zeitpunkt nur wenige Marokkaner in Deutschland Medizin studieren wollten, bekam sie sofort im Anschluss einen Studienplatz. Sie bestand ihr Physikum in der Regelzeit, worauf sie heute sehr stolz ist: „Zwar mit schlimmer Note“ im Schriftlichen „aber ich war einfach froh, dass ich das hinter mir hatte.“ Es folgten Famulaturen in Frankreich, Schweiz und den USA. Zurück in Deutschland bekam sie dann eine Stelle in einem Krankenhaus in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen: “Da habe [ich] meine Fachausbildung zu Ende gemacht und währenddessen auch meine zwei Kinder bekommen. Und als ich dort fertig war […], kam ich hier [an das Krankenhaus]. Und hier hatte ich sofort – wirklich, Glück muss man im Leben haben – die Möglichkeit, die Fachstelle zu leiten. Weil eine [Ärztin] aus irgendeinem Grund das Krankenhaus verlassen hat. Da hatten die jemanden gebraucht. Und so hatte ich die Möglichkeit meine Promotion abzuschließen […] [und mich jetzt mit meiner halben Stelle] noch mal in meinen Spezialbereich einzuarbeiten. Mit der Option, inshallah, also wenn Gott will, dass ich dann auch habilitieren kann. So ist zusammengefasst, (.) die Geschichte.“
Die akademische und berufliche Karriere, wie sie Majida hier als Teil ihrer narrativen Identität rekonstruiert, verläuft „wie am Schnürchen“, d.h. ohne wesentliche Einbrüche, Durchhänger oder gravierende Hindernisse. Erzähltes Ich und erzählendes Ich werden im Rahmen dieser Einstiegserzählung im Einklang miteinander als erfolgreich und sorgenfrei positioniert. Sicherlich nicht zuletzt aufgrund des raumzeitlichen Settings des Interviews nimmt das private Leben in der narrativen Identitätskonstruktion zunächst eher eine Nebenrolle ein. Ihre relationale Identität als Mutter von zwei Kindern taucht in diesem Gesprächsteil nur in einem Nebensatz auf. Erst viel später im Interview, als Majida den Wohnstandort ihrer Schwiegereltern auf der Netzwerkkarte einträgt, erklärt sie mir, dass diese an ihren heutigen Wohnort gezogen sind, um sie nach der Geburt ihrer Töchter besser bei der Betreuung unterstützen zu können. Erst in diesem Kontext wird ihr wieder bewusst, „dass es damals mit den Kindern ja schon schwierig [war]“.
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5.3.2. Feinanalysen – zentrale Sequenzen Kulturkonzepte Durch meine Frage danach wie sie ihren heutigen Mann kennengelernt hat, stoße ich im Gespräch eine längere interaktive Passage an, in der Konzepte von Kultur, Raum und Beheimatung zur Sprache kommen. Majida erzählt mir zunächst, dass sie ihren Mann am ersten Tag ihres Studiums kennengelernt hat. Sie schränkt dann jedoch ein: „Aber (.) wie gesagt, (.) das erste Jahr war also nichts Ernstes. Also ich meine, ich bin ja Marokkanerin, (..) wir dürfen KEINE Beziehungen haben. – Was heißt wir dürfen nicht? – Aber für mich war es das schlimmste was passieren kann, dass ich vergesse, warum ich hergekommen bin. Ich habe fast jede Woche einmal meine Eltern angerufen und denen berichtet, wie gut ich bin. Ich musste ja meinen Vater ÜBERZEUGEN, er hat mich ja nicht einfach so umsonst hingeschickt (…) und dass sich seine Investition gelohnt hat. Und für mich war diese Sache so:: wichtig, dass alles andere keine Rolle gespielt hat.“
Majida betont zunächst den sich wandelnden Charakter der Beziehung zu ihrem künftigen Mann. Sie kannte ihn zwar schon lange vor ihrer Heirat, aber es war zunächst „nichts Ernstes“. Diese Andeutung reicht im Gesprächskontext aus, um klarzumachen, worauf sich der Begriff „Beziehungen“ und „nichts Ernstes“ beziehen, ohne dass Majida hier deutlicher werden muss. Der Passivkonstruktion „war nicht“, die zunächst Intentionalität ausschließt, wird dadurch relativiert, dass Majida begründet anführt, warum es für sie ratsam und richtig war, eine (Liebes-)Beziehung aktiv zu vermeiden. Die erste Norm, die sie zitiert, bezieht sich auf ihren Status als „Marokkanerin“. Aufgrund ihrer Herkunft (Sozialisation) gekoppelt mit ihrem Geschlecht sieht sie sich einer kollektiv geltenden Norm des Verbots von (außerehelichen Liebes-) Beziehungen unterworfen. Die Subjektposition, die sie durch ihre Artikulation in diesen Diskurs und die Unterwerfung unter diese Norm („wir dürfen nicht“) einnimmt, verlässt Majida aber bereits in ihrem nächsten Satz. Durch ihre Frage: „Was heißt dürfen wir nicht?“ irritiert und relativiert sie zum einen den absoluten Gültigkeitsanspruch dieser Norm. Zum anderen fragt sie, ob es wirklich diese Norm war, die ihr Handeln beeinflusste. Das „aber“, mit dem der folgende Satz beginnt, verneint diese Frage implizit. Es stellt einen Widerspruch her, dem der explizite Bezug fehlt, und daher vom Zuhörer automatisch auf die Frage des „Dürfens“ zurückbezogen wird: Theoretisch möglich und zulässig wäre zumindest eine Heirat (und damit auch eine Beziehung) für sie auch schon zu einem früheren Zeitpunkt gewesen. Aber dies hätte für sie die Gefahr bedeutet, das eigentliche Ziel ihrer Migration, nämlich das erfolgreiche Absolvieren ihres Medizinstudiums, aus dem Blick zu verlieren.29
29 Auch wenn andere Student/-innen der hier mitschwingende Hypothese der Unmöglichkeit einer Gleichzeitigkeit von (Liebes-)Beziehung und erfolgreichem Studienabschluss sicher widersprechen würden, nannten viele marokkanische Studienmigranten Heirat und Familiengründung als (mit-)entscheidenden Grund für ihren endgültigen Studienabbruch – Män-
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Den Grund, warum ein solcher erfolgloser Studienabbruch „das schlimmste“ für Majida gewesen wäre, sieht sie in ihrer Beziehung zu ihren Eltern und den daraus resultierenden reziproken Verpflichtungen. Ihr ist deutlich bewusst, dass ihr Studium eine ‚Investition‘ und als solche eine ‚Konvertierung‘ von finanziellem in kulturelles Kapital darstellt. Nur ein erfolgreicher Studienabschluss ermöglicht ihr, die Investition zu ‚rentabilisieren‘ indem dieser zum symbolischen Kapital ihrer Familie (Prestige) beiträgt und ihr selbst den Zugang zu einer guten Position auf dem Arbeitsmarkt (und das damit einhergehende finanzielle Einkommen) eröffnet. Mit ihrer Argumentation in dieser Passage charakterisiert Majida ihr erzähltes und erzählendes Ich als pflichtbewusste und dankbare Tochter, die weiß, dass ihre Eltern nicht über ausreichend Finanzkapital verfügten, um ohne Probleme und Einschränkungen gleich drei Kindern ein Studium im Ausland zu finanzieren (dass die Kinder in Deutschland trotz der Unterstützung neben dem Studium arbeiten mussten, um über die Runden zu kommen, erzählten sie ihrem Vater nicht). Bevor mir Majida erklärt, wie es dazu kam, dass aus der „angenehmen Nebenbeigeschichte“ mit ihrem Mann dann doch noch „fast ein Roman“ wurde, erläutert sie: „[Mein Mann] ist ähm, (.) halb Deutscher halb Perser (..). Äh, hier geboren (..) äh praktisch Deutscher, der sprach ja PERFEKT (.) Deutsch. Und SEINE Anwesenheit hat mich in (.) vielen Sachen auch beeinflusst. Allein auch die Sprache, weil ich gezwungen war, mit ihm auf Deutsch zu reden und äh (.) übrigens ein toller Mensch (lachen). Er hat mich auch sehr unterstützt, MIR (..) so viele Sachen auch (.) beigebracht, geholfen (.) sowohl im Studium auch sonst (.) im Leben und ähm (..) er war aber nicht mein Freund natürlich offiziell.“
Die erste Information, mit der Majida ihren Mann vorstellt, ist seine bi-nationale Herkunft. Die Ambivalenz, die dies im Rahmen eines auf ethno-nationale Eindeutigkeit ausgerichteten deutschen Zuwanderungsdiskurses darstellt (vgl. Mecheril 2003a, 31f.), löst sie im folgenden Satz teilweise auf: Sein Geburtstort hier in Deutschland und seine perfekten Sprachkenntnisse qualifizieren ihn praktisch als Deutschen. Was an dieser Stelle sichtbar wird, ist eine im Sprechakt begründete, minimale Destabilisierung der offiziellen Diskurse über Migration und ethno-nationale Zugehörigkeit: Auch wenn die Kategorisierung als ‚deutsch‘ an dieser Stelle durch die Modalisierung „praktisch“ relativiert wird (und damit einen Diskurs reproduziert, innerhalb dessen volle und unmodifizierte Zugehörigkeit nur für Personen „ohne Migrationskontext“ vorstellbar und reklamierbar ist) konstituieren die beiden Argumente, die diesen Claim stützen – namentlich das hier geboren (und sozialisiert worden) sein und die perfekte Sprachbeherrschung – doch gleichzeitig eine alternative und zumindest leicht verschobene Begründung für eine solche Zugehörigkeit (auch wenn diese alle im Ausland geborenen sowie hier geborenen und nicht perfekt Deutsch sprechenden Personen weiterhin aus diesem Zugehörigkeitskontext ausschließt, somit also erneut eine diskursive Schließung produziert, vgl. Kap. 2.1.3). 30
nern besonders aufgrund der damit erhöhten Verpflichtung zum Gelderwerb, Frauen u.a. aufgrund der folgenden Kinderbetreuung. 30 Was in dieser und ähnlichen Argumentationen zutage tritt, ist weder ein klarer „Bruch“ innerhalb eines hegemonialen Diskurses noch ein „Gegendiskurs“. Ob aus dem gehäuften
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Die von Majida erwähnte deutsche Sozialisation ihres Mannes ist insofern bedeutsam, als dass er als „toller Mensch“ nicht nur bereit, sondern so auch fähig war, ihr bei ihrem Studium zu helfen und sie bei Alltagsproblemen am neuen Wohnort zu unterstützen. Als dann ihr erfolgreicher Studienabschluss in Sicht ist, steht sie vor der Entscheidung, wie sie mit der Studienfreundschaft zukünftig umgehen will: „So (..) DANN, als das Studium kurz vor Ende [war], wurde die Sache doch ernster und äh: (...) ja wi- kö- wie kann ich jetzt (..) äh (.) anders sein, wie so (..) äh, aufgrund meiner Religion und meiner Erziehung und überhaupt waren für das mich (.) GANZ KLARE SACHEN, die einfach so, (..) die einfach SO sind. Und nicht so:: angenommen sind, die sind aus Überzeugung (..) VON meinem Herz und Kopf und alles, dass diese Sache klar#, also erstens, dass ich (.) eine Familie haben wollte und äh (.) der andere Punkt ist der (.) Partner, der dazu passt. Auch einer, der in meine Familie reinpasst. So weniger jetzt wegen Familie, sondern aus meiner Religionsüberzeugung auch Moslem sein soll, wie Sie das alles wahrscheinlich (..) ähm, (.) kennen. (.) Und das hat alles bei ihm gepasst.“
Wie die vielen Satz- und Wortfragmente zu Beginn des Abschnitts zeigen, sucht Majida an dieser Stelle zunächst nach ihrer Position bzw. einem Punkt, von dem aus sie mir ihre Entscheidung erklären kann. Die „ganz klaren Sachen“, die sowohl ihrer Entscheidung als auch den Entscheidungskriterien zugrunde liegen, kann sie offensichtlich bei mir nicht als geteiltes Wissen voraussetzen. Sie werden von ihr identifiziert als ihre in einem ganz bestimmten familiären, gesellschaftlichen und religiösen Kontext erworbenen Dispositionen. Obwohl Majida ihr erzähltes Ich als durch die gesellschaftlich an es herangetragenen Normen, Werte und Handlungsvorgaben geprägt erkennt und charakterisiert: „aufgrund meiner Religion und meiner Erziehung waren das ganz klare Sachen, die einfach SO sind“, konstituiert sie es im nächsten, in sich teilweise widersprüchlichen Satz als souverän und reflektiert handelndes Subjekt – das als solches diese Vorgaben nicht einfach SO übernommen hat, sondern (in einem Prozess der Reflexion) zu einer sowohl emotional passenden als auch rational vertretbaren eigenen Überzeugung gekommen ist. Indem Majida an dieser Stelle implizit auf die Zusammenhänge zwischen objektiven Strukturen, Subjektkonstitution und individueller, subjektiver Handlungsmacht rekurriert, macht sie deutlich, wie die von ihr angeführten Gründe zur Heirat und Familiengründung zu verstehen sind: Auch wenn diese habituell angelegt (und daher für sie „klar“ und logisch sind), sollen sie vom Zuhörer nicht als Resultat von extern auferlegten gesellschaftlichen und/oder familiären Zwängen interpretiert werden (wie es z.B. der aktuelle deutsche Diskurs über muslimische Frauen – und als solche identifiziert sie sich ja an dieser Stelle – nahelegen würde). Einen solchen hier implizit aufgerufenen Deutungshorizont ihres Handelns weist sie zurück.
Auftreten solcher feinen Risse im Diskurs auf Dauer eine Neudefinition und ReArtikulation von Begriffen und den durch diese konstituierte Äquivalenz- und Antagonismusbeziehungen angestoßen wird (wie Butler es sich erhoffen würde), oder ob sich hegemoniale Diskurse und Machtstrukturen auf Dauer reproduzieren und durchsetzen (wovon Bourdieu ausgehen würde) ist derzeit nicht abzusehen.
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Indem sie sich jedoch auf die von mir bereits geführten Interviews und mein Vorwissen bezieht („so wie Sie es wahrscheinlich kennen“), positioniert sie sich gleichzeitig in einen sozialen Kontext, in dem die von ihr genannten Gründe für ihre Heiratsentscheidung – die allgemeine Befürwortung einer heteronormativ geprägten Ehe/Familie als erstrebenswerte Lebensform erstens, die Angehörigkeit zur gleichen Religion zweitens sowie die „Passung“ zur Familie drittens –gruppenspezifisch geteilte und daher als legitim und richtig (an)erkannte Denkschemata darstellen. Woran sich die „Passung“ zur Familie feststellen und und nachweisen lässt, wird an dieser Stelle nicht expliziert. Viel spricht jedoch viel dafür, dass es ein ähnlicher (Klassen-)Habitus bzw. eine ähnliche Stellung im sozialen Raum ist, auf die hier angespielt wird. Eine gemeinsam geteilte nationale Herkunft betrachtet Majida dagegen explizit nicht als Kriterium für eine gelingende Beziehung und/oder Ehe: „Der war ja kein Marokkaner, aber (.) das hat mich dann nicht gestört. Das war eher (.) wieder gut für mich. Weil ich gedacht habe, mit Marokkaner werde ich wahrscheinlich Probleme haben, so wie ich drauf bin. Und dadurch, dass er äh, (.) so (..) halb halb [war] hatte [er] auch (..) von der anderen Seite seine Kultur sehr viel (...) ähm, mitgenommen. Aber die guten deutschen Sachen hat er auch drauf. Und dann war für es mich: SO! Genau so muss es sein. […] Und er ist jetzt Oberarzt. Er habilitiert auch bald, [ist] auch fleißig dabei. (.) Ja, uns geht es gut Gott sei Dank!“
Auf meine Nachfrage, was denn die „guten deutschen Sachen“ seien, löse ich eine längere, komplexe Argumentation aus. Anstatt die „deutschen Sachen“ zu beschreiben, begründet Majida ihre Bewertung: „Also ich bin, (.) ich bin (.) so (.) deutsch (.) Fan, (.) indirekt. Es gibt ja Sachen, die mir (..) so muss ich schon sagen, über diese Zeiten mir schon das Leben bisschen schwerer gemacht hätten. Ähm, aber grundsätzlich (.) finde [ich die] Deutschen [ein] sehr (.) angenehmes Volk, auf DAUER. Wenn ich jetzt kurze Zeit hier wäre, dann (.) wäre es glaube ich nichts für mich. Weil sie (..) für mich, was (.) die Beziehung halt angeht, oder Kontakte, schon trockener [sind] als ich gewohnt bin. Aber DANN habe ich festgestellt, nachdem ich andere Kulturen kennengelernt habe […] – ich hatte ja mit Iraner studiert, mit Türken studiert mit auch Marokkaner nebenbei, mit, (..) mit allen möglichen Nationalität – dann war im NACHHINEIN (.) meine (..) Zusammenfassung: "Nein Deutsch angenehm."
Die im ersten Satz aufgestellte These „ich bin Deutsch Fan“, wird durch das Adjektiv „indirekt“ eingeschränkt. Auch der folgende sehr vage gehaltene Satz „es gibt ja Sachen, die mir das Leben schwer gemacht haben“ stellt eine Konzession dar. Diese kritische Sprecherposition wird jedoch durch den mit einem „aber“ anschließenden resümierenden Folgesatz vom erzählenden Ich wieder stärker auf Distanz gehalten. Die in diesem Satz erhaltende These und Sprecherposition: „die Deutschen sind ein angenehmes Volk“, wird dann jedoch erneut durch die einschränkenden Qualifikationen „grundsätzlich“ und „auf Dauer“ relativiert. Die während ihres Auslandsstudiums gemachte Erfahrung, dass in der sie umgebenden – hier als deutsch konnotierten – Gesellschaft andere Handlungsmuster vorherrschen, als sie dies aus ihrer Kindheit und Jugend in Marokko gewöhnt war, („trockener“) relativiert sich für Majida durch ihre Begegnung mit Personen, die aus anderen Ländern stammen. Somit kann sie aus
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vergleichender Perspektive und „im Nachhinein“ das Fazit ziehen: „Nein, Deutsch ist [doch] angenehm“. Das Alltagswissen, das in dieser Argumentation (und meiner Frage) als nicht zu erklärendes Backing aufgerufen wird, ist eine Vorstellung die „alle möglichen Naturund Kulturphänomene zum Inhalt eines räumlich begrenzten Containers macht“ (Felgenhauer 2009, 273). Als implizites, unbewusstes „Welt-Wissen“ fungiert die Annahme von auf nationalstaatlicher Ebene generalisierbaren ‚Kulturen‘ als Erklärungsmuster für bestimmte Haltungen und/oder Alltagspraxen. Wo in einem anderen (binnen-nationalen) Kontext bestimmte Handlungsweisen vielleicht als „typisch männlich/weiblich“ „typisch Dörfler/Städter“ oder „typisch für Berufsgruppe xy“ konnotiert würden, werden diese alternativen gesellschaftlichen „Sicht- und Teilungsmuster“ in einem inter-nationalen Kontext durch die nationalstaatliche Kategorisierung ‚überdeckt‘ und somit unsichtbar. Dieser Effekt wird u.a. in einer kurzen szenisch-episodischen Erzählung deutlich mit der Majida ihre oben zitierte Argumentation abschließt. Diese dient als Belegerzählung für ihre zuvor geäußerte These, dass man mit den Deutschen trotz ihrer trockeneren, distanzierten Art doch „gemütlich und angenehm leben“ kann. Es geht darum, dass sie mit ihrer Familie im Urlaub im Iran war. Sie hatten die deutschen Pässe der Kinder vergessen, die sie nun für die Rückreise benötigten: „Und dann sind wir zu einem Amt gegangen in Teheran. Und (.) das ist ja eine Katastrophe, also überhaupt dahin zu kommen (..) Verkehr und so. Und dann kamen wir rein und haben STUNDENLANG gewartet. Dann kam da (.) eine (.) ähm, eine, eine, eine, iranische Tante raus und dann, (.) das erste was sie sagt: ‚Nein geht nicht, kommt wieder (.) in einer Woche‘. ‚Nein das geht nicht, wir brauchen die Urkunde‘ […] Und dann war mein Mann (.) kurz vor aufhören, dann haben wir gesagt: ‚Können wir bitte Ihre Vorgesetze [sprechen]?‘ Und dann kam eine Deutsche. Und sie hat ZUGEHÖRT […] und dann habe ich ihr die Sache erklärt: ‚Ja so und so und‘ […]. Dann hat sie gesagt: ‚Nein, dann machen wir es anders‘. Und das hat dann geklappt. Und wir haben unsere Pässe bekommen und wir sind (.) heil zurück. Ich war so glücklich zurückzufliegen! Und diese Sachen (..) die, die haben nur Deutsche […] das ist halt Mentalität.
Im Rahmen des hier vorliegenden Erzählschemata (das davon handelt, wie ein Problem bzw. Hindernis zunächst unlösbar erscheint und dann doch eine glückliche Auflösung findet) wird der Umstand, dass es die „trockene, aber dann sachliche Deutsche“ ist, die eine Lösung des Problems findet und herbeiführt, als eine Frage der (nationalen) Mentalität interpretiert. Dass es genau diese soziale Kategorie ist, die hier als Erklärungsrahmen fungiert, lässt sich u.a. aus der (interaktiven) Funktion der Erzählung begründen, die ja als Beleg für die zuvor geäußerte These fungiert, dass es „gute deutsche Sachen“ gibt, die Majidas Mann als Charaktereigenschaften mitbringt. Während aus Perspektive des erzählenden Ich die Relevanz der nationalstaatlichen Kategorie unzweifelhaft ist, bedeutet dies nicht, dass das erzählte Ich zum Zeitpunkt des Erlebnisses bereits die gleiche soziale Kategorie als primäre Interpretationsfolie des Ereignisses angelegt hat. Unabhängig davon lässt sich jedoch an dieser Stelle der in Abb. 14 dargestellte dialektische Zusammenhang zwischen symbolischen Kategorien, Dispositionen und erinnerten bzw. im Interview aktualisierten (Sprech-)Praktiken exemplarisch nachweisen: Bestimmte symbolische Kategorisie-
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rungen, die (wie hier die Vorstellungen und Erwartungen über ‚nationalitätstypische‘ Verhaltensweisen) als Teil der individuellen Dispositionen inkorporiert wurden, werden auf bestimmte Situationen und Erlebnisse als Interpretationsfolie (Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata) angewendet. Die Erlebnisse selbst können dabei entweder als „Ursprung“ (im Sinne einer deduktiven Ableitung einer Alltagstheorie) oder „Bestätigung“ (induktiver Nachweis) der bereits zuvor inkorporierten Vorannahmen wirken. Was die Erzählung ebenfalls verdeutlicht, ist die starke Erklärungsmacht der hier wirksam werdenden „Raumlogik“ (Felgenhauer 2009). Diese überlagert nicht nur andere, ebenfalls anwendbare Kategorien, sondern verschleiert auch die dahinterliegenden Machtverhältnisse. Dass es sich in diesem Fall um eine Angestellte und ihre Vorgesetzte handelt – also zwei Personen, die im beruflichen Feld unterschiedlich positioniert sind und über ein ungleiches Potenzial an Ressourcen (bzw. Wissen) sowie Handlungs- bzw. Verfügungsmacht verfügen – wird zwar erwähnt, für die Problemlösung in diesem Sprechkontext jedoch nicht relevant gemacht. Konzessionen, Verortungen und Abgrenzungen Aufgrund der von ihr gemachten positiven Erlebnisse mit deutschen Personen und Institutionen – sei es die o.g. Bürokratie oder die Studienbedingungen, die sie als „Traum“ bezeichnet („auch nichts dafür bezahlen zu müssen. Und bisschen fleißig zu sein, und alles stand zur Verfügung!“) – beurteilt Majida ihre Situation in Deutschland im abschließenden Resümee ihrer oben zitierten Erzählung dezidiert positiv: „ Und und das ist hier SEHR GUT. Ja, das sind die Sachen. Und deswegen werde ich hier fast aggressiv, wenn man schlechte Sachen über gute Sachen dann sagt. Wenn ich jetzt mein Studienzeit zurück [denke, das] gibt's nirgendswo. Ob ich jetzt die einzige bin, oder Glück habe? Aber ich glaube (.) ich gehöre zu denjenigen, die dankbar sind und die sehen, dass es so ist. Ja, und das sollen auch alle anderen. Und diejenigen, die es nicht geschafft haben, [sollen das] nicht (.) auf hier schieben. Natürlich gibt's auch andere (.) Sachen. Aber ich kann ja nur von mir persönlich reden. Die guten Sachen, die soll man auch hochheben und (.) auch betonen. Nicht nur immer die schlechten Sachen. Was schlecht ist, was weiß ich (...). Ähm (...) ja. Aber diese Sachen, […] selbst die ich damals schlecht empfunden habe, (...) [sind] vielleicht normal. Ja, [vielleicht gabs ein] Problem mit dem oder dem anderen. Aber insgesamt denke ich, dass ich in keinster Weise gebremst wurde, oder so (.) bewusst. Zumindest ich habe es nicht mitgekriegt.“
Wie sich u.a. an dem gehäuften Auftreten des Konnektors „aber“ erkennen lässt, weist dieser argumentative Abschnitt eine deutlich polyphone Struktur auf. In dem ersten Absatz wird die Positionierung des erzählenden Ich kontrastiert mit einer widersprüchlichen Haltung, die von einer anderen Subjektposition aus geäußert wird. Diese implizit hier auftretende Gegenposition wird zunächst nur sehr vage aufgerufen („man sagt“). Dagegen wird im folgenden Satz die affirmative Aussage gesetzt „das [d.h. so gute Studienbedingungen s.o.] gibt’s nirgendwo“. Es folgt ein konzessiver Einschub „ob ich die einzige bin, oder Glück hatte?“: eine neue Gegenposition, die den zuvor gemachten Claim („das ist so“) als eine möglicherweise nur subjektive Sichtweise einschränkt. Abgesichert durch eine später erfolgende Relativierung
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(„aber ich kann nur von mir persönlich reden“), wird dann jedoch die erste Position „dass es so ist“ konfirmiert. Von den guten Studienbedingungen als „begründendem Fakt“ wird dann die Notwendigkeit zur Dankbarkeit und die Betonung der „guten Sachen“ als notwendige bzw. moralisch richtige Konsequenz abgeleitet. Aus dieser Subjektposition, die vom erzählenden Ich (dem Lokutor) in dieser Passage am wenigsten auf Distanz gehalten wird, wird die Forderung abgeleitet, dass die anderen (impliziert: marokkanischen Studierenden) die Situation ebenfalls so und nicht anders sehen sollten bzw. müssten. Ein abgebrochenes Studium (vgl. Kap. 6.11) sollten sie nicht auf das deutsche System schieben. Umgekehrt würde diese Argumentation bedeuten, dass die Verantwortung für den (Miss-)Erfolg eines Studiums in Deutschland bei dem Einzelnen (und nicht im System) zu suchen ist. Diese These begründet sich auf der (hier nicht explizierten) Annahme, dass die Studienbedingungen erstens für alle ausländischen Studierenden gleich gut waren. Zweitens greift hier die (ebenfalls implizit aufgerufene) Schlussregel, dass bei gleichen Studienbedingungen auch alle Studenten die selben Chancen auf Studienerfolg haben.31 Der Diskurs, in den Majida sich an dieser Stelle artikuliert, kann somit als die in Bezug auf das moderne europäische Bildungssystem hegemoniale neoliberale Diskursformation identifiziert werden. Die in diesem Kontext als gültig gesetzten Prinzipien von Chancengleichheit und Meritokratie lassen sich mit Bourdieu als Verschleierungsinstrumente identifizieren. Mittels dieser Instrumente wird für all jene, die durch diese Prinzipien subjektiviert wurden die Bedeutung unsichtbar, die „fundamental ungleich verteilte und damit ‚willkürliche‘ gesellschaftliche Charakteristika“ wie die „soziale Herkunft und [das] Bildungskapital der Eltern“ für den Erwerb von (institutionellem) kulturellen Kapital haben (Schultheis 2008, 43, vgl. Bourdieu und Passeron 2005). In dem oben zitierten Abschnitt ist ein zweiter Aspekt auffällig: Eine dem erzählten Ich zugeordnete Aussage – dass es Dinge gab, die als es „schlecht“ empfunden hat – wird durch die folgenden Aussagen aus der Perspektive des erzählenden Ichs relativiert und mit Einschränkungen („vielleicht normal“ „denke ich“) auf Distanz gehalten. Die sehr vagen Formulierungen und die an dieser Stelle zum ersten Mal aufscheinende Dissonanz zwischen erzähltem und erzählendem Ich lassen mich aufhorchen, daher frage ich nach: MD: „Was waren das denn für Probleme?“ Ma: „Ähm, (…) also, ja also, (..) Kleinigkeiten, die ich im Nachhinein dann sage, ja das hat mich schon (.) gestört. Während des Studiums zum Beispiel mit (..) Kommilitoninnen, als wir gesagt haben: gut (.) wir teilen uns jetzt. Das war ein riesen Hörsaal (..) und da kamen alle im ersten Semester. […] Und in fünf Minuten waren Gruppen gebildet. (..) Und wer ist dann übrig geblieben? Fünf Leute. Und ich, (.) meine Freundin die Kamerunerin (.), dann ein 50 jähriger deutscher Student, 50 jährig, dann ein Inder (..) und dann (.) äh (..) dann mein Mann (.) kam dazu, zu uns, weil er gemerkt hat, wir sind so (.) herrenlos. […]
31 Später betont Majida: „Ich oder meine Geschwister waren nie was ANDERES. Wir hatten nicht mehr Geld als die gehabt, wir hatten nicht mehr Chancen als die. Wir kamen alle zur selben Zeit.“
204 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT Ich meine im Nachhinein kann ich es verstehen. […] Wahrscheinlich kannten sich die Leute auch alle untereinander. (.) Aber das habe ich so empfunden: "Mensch (.) du passt hier nicht rein!" Ja und ich, (.) wir konnten ja wirklich auch (..) nicht reden. Aber ich hatte den Eindruck die (.) Studenten damals hatten auch diese Geduld nicht unbedingt (.), dass sie jetzt mit mir eine Stunde sich hinsetzen, bis ich ein Wort rausbekam. Was ich jetzt verstehe. Ja? (lacht) Aber damals war es so ein bisschen, es hat mich (.) GEKRÄNKT oder so. Im Nachhinein habe ich gedacht: TOLL, diese Gruppe übrigens war die erste, die Physikum gemacht hat – bis auf den 50 jährigen Mann (lacht). Aber ich meine, wir waren wirklich [seltsam]: ich sah SO aus, meine Freundin groß und (.) pechschwarz, der Inder hatte so ein komische Frisur vorm Gesicht … (lacht). Der ist übrigens jetzt (.) habilitiert […]. Und meine Freundin ist nach Kanada gezogen, sie hat auch ihr Studium gut zu Ende gebracht und ist bestimmt da auch erfolgreich gewesen. Und äh, (.). das ist ja lustig diese Geschichte, aber (..) die war# (.) Das hat mich so, hm# (..) Oder vielleicht war ich einfach zu SENSIBEL“.
In dieser Beispiel- und Belegerzählung über ein Ereignis an das Majida sich erst nach kurzem Nachdenken erinnert setzt sich die bereits zuvor angedeutete doppelte Positionierung fort: Das erzählte Ich wird als jemand charakterisiert, der übrig bleibt und sich aufgrund dessen ausgeschlossen und gekränkt fühlt. Das erzählende Ich dagegen konstituiert sich im Rückblick in Distanz zu dem damaligen Erleben. Das Gefühl der Kränkung wird aus heutiger Perspektive mit Verweis auf die Haltung des erzählten Ich relativiert, das als „vielleicht zu sensibel“ beschrieben wird. Andererseits wird auch das Handeln der anderen aus der Retrospektive damit erklärt und rationalisiert, dass sich diese vielleicht schon kannten (und daher keine bewusste oder gezielte Ausgrenzung vornahmen). Außerdem wird darauf verwiesen, dass die derart Ausgegrenzten zu dem Zeitpunkt ja wirklich nicht sprechen konnten und anders aussahen (wodurch sie als potenziell schwierige Gruppenteilnehmer erkenntlich waren). Indem das erzählende Ich das damalige Handeln der anderen erklärt und rationalisiert, positioniert es sich in der Interviewsituation als verständnisvolle und rationale Person. Die Relativierung der damals empfundenen Ausgrenzung und Zurücksetzung wird verstärkt durch den in der Erzählung konstruierten Gegensatz zwischen der im Hörsaal empfundenen Positionierung als Außenseiter (denen aufgrund ihres seltsamen Aussehens kein Studienerfolg zuzutrauen war) und dem real erzielten Erfolg der Gruppenmitglieder, die als erste ihr Physikum bestanden und hierdurch sowie durch ihre weiteren Karrierewege ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellten. Auf der Grundlage ihrer erfolgreichen beruflichen Karriere und ihrer bisher nicht nur im beruflichen Feld, sondern allgemein im sozialen Raum erreichten statushohen Position als promovierte Ärztin in leitender Funktion kann Majida aus der heutigen Perspektive auch die von ihr gemachte Erfahrung des „anders sein“ bzw. als „anders“ wahrgenommen und behandelt zu werden, positiv deuten: „Und ich hatte mich während der Zeit (..) nie als – schon als besonders gesehen, weil ich anders aussehe oder auch anders rede und anders bin – aber besonders im guten Sinne. Nicht besonders im schlechten Sinne. Dieses Gefühl hatte ich nie gehabt. Und habe dann danach wahrscheinlich mit meinen (..) äh mit meine Leute, mit Marokkaner eher das Problem, dass ich dann anders geworden bin für die, ja? Diejenige, die dann studiert hat, die (..) wo es weitergeht.
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Dann hatte ich (..) muss ich zugeben, nicht unbedingt den Kontakt in die Richtung (..) gesucht. Weil […] das waren ja nie diejenigen, die jetzt in der Uni mit mir studiert haben und die gut waren. Das waren ja immer (.) diejenigen, die (..) gescheitert sind. Und ähm, das nervt mich bei meinen Landsleuten extrem.“
An dieser Stelle nimmt Majida noch einmal die zuvor geäußerte These auf, dass sie mit einem marokkanischen (Ehe-)Mann vielleicht eher Probleme bekommen hätte „so, wie ich drauf bin“. Während zu Anfang des Gesprächs unklar blieb, worauf diese Selbst-Identifizierung anspielte, wird hier der Bezug spezifiziert. Als „diejenige, die studiert hat“, bei der es beruflich weitergeht, hat sie das Gefühl, dass sie sich heute von denjenigen „ihrer Leute“ unterscheidet, die zwar mit dem gleichen Ziel des Studiums nach Deutschland kamen, ihr Ziel jedoch bisher nicht realisiert haben: „Und ich fand immer diejenigen, die hier herkommen, die sollen nicht nur das sein, was normal ist, ne? Ja einfach ein Beamter, der irgendwas macht. Das hätte man für mich zu Hause schön:: machen können, in aller Ruhe. Und ähm (..) das hat mich (..) von den Marokkaner jetzt ein bisschen (...) distanziert. Ja, und (.) ob das jetzt schlecht war, das glaube ich nicht (...) äh (.). Das hat mir die Möglichkeit eröffnet andere Menschen dann kennenzulernen und da habe ich echt null Komplexe.“
Hier geht Majida noch einmal auf ihr Migrationsmotiv ein: Für sie ist klar, dass der Mehr-Aufwand, den ein Auslandsstudium darstellt, auch in einer verbesserten Position auf dem Arbeitsmarkt bzw. im sozialen Raum resultieren sollte: Die finanzielle und emotionale Investition in das kulturelle Kapital und das Migrationsprojekt muss sich rentieren. Sonst ‚lohnt‘ sich die Migration nicht. Da sie auf dieses Ziel sehr konsequent hingearbeitet und u.a. ihr Privatleben dafür zurückgestellt hat, empfindet sie wenig Gemeinsamkeiten mit denjenigen, die ihr Studium aufgegeben haben und sich heute mit ‚kleinen Jobs‘ zufriedengegeben (vgl. Kap. 6.1.1). Weil sie außerdem an der Universität nur wenig andere marokkanische Studenten getroffen hat, besteht auch ihr Freundeskreis in Aachen bis heute hauptsächlich aus „deutschen und iranischen“ Absolventen. In Marokko hat sie ebenfalls keine Freundschaften erhalten könne. Aufgrund der häufigen Wohnortwechsel war es für sie dort schon als Kind schwierig, länger währende Freundschaften aufzubauen. Dass sie bis heute in Deutschland keine marokkanische Freundin hat, bedauert sie zwar ein wenig. Sie meint aber, dass sie vielleicht noch kein Glück hatte: „Vielleicht gibts hier eine sehr gute Freundin, die ich nur noch nicht getroffen habe“. Andere Marokkanerinnen trifft sie z.B. in der Moschee. Mit diesen häufig etwas älteren, „arabisch sprechenden, Kopftuch tragenden“ Frauen, unterhält sie sich zwar; „aber ich kann mich nicht mit denen identifizieren und sagen: ‚Ja so. Das bin ICH.‘“ In Bezug auf die Marokkaner, die sie in Deutschland trifft, positioniert Majida sich somit als „ein bisschen distanziert“. Auch wenn diese wie oben gezeigt eine wichtige Referenzgruppe darstellen und sie sich selber weiterhin als Marokkanerin identifiziert: Sich mit ihnen identifizieren – im Sinne einer Gemeinsamkeit und eines darauf aufbauenden Gefühls der Zusammengehörigkeit – kann sie nicht. Dieses Gefühl der nicht (mehr) vollständigen Zugehörigkeit, das auf einer Nicht(mehr) Passung von habituellen Dispositionen beruht, erlebt Majida inzwischen auch bei ihren Besuchen in Marokko:
206 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „Das ist ein Problem was zunehmend kommt, wenn ich nach Marokko gehe. (..) Ich genieße die Stadt, meine Eltern, aber (.) ich stelle immer wieder fest: Schade, dieses Gefühl, was ich damals hatte: ‚Oh, Marokko das ist mein LEBEN‘ und so, [das] wird langsam (..) so (.) wie sagt man „flou“, langsam (.) nicht mehr so scharf. Das Bild wird immer trüber und trüber, ja.“
Als ich sie daraufhin frage, ob eine Rückkehr nach Marokko für sie nicht mehr denkbar wäre, weist sie dies zurück. Sie sieht sich und ihren Mann als offen und flexibel. Eine unmittelbare Rückkehr könne sie sich jedoch nicht vorstellen. Sie habe ihre beruflichen Ziele in Deutschland noch nicht erreicht. Auch könne sie sich derzeit nicht vorstellen, in Marokko zu arbeiten. Sie gibt jedoch zu bedenken: „Ich kann nicht sagen was in zehn Jahren sein wird, ja? Und ich kann nicht sagen (.) ne, Marokko niemals. Ich sehe Marokko immer so (.) jetzt (.) zunehmend in Richtung (..) Urlaub. Oder (..) dass ich dann zurück komme wenn ich wirklich die Arbeit hinter mir gebracht habe.“
Auch wenn für Majida Marokko nicht mehr der Teil ihres Alltagslebens ist, genießt sie es, ihren Urlaub in diesem „wunderschönen“ Land zu verbringen. Während sie im deutschen Alltag „wie in einem Hamsterrad“ läuft, und nicht merkt, wie die Zeit vergeht, nimmt sie bei ihren Besuchen in Marokko deutlich wahr, dass ihre Eltern älter werden. Da auch ihre Kinder in einem Alter sind „wo sie alles aufsaugen“, möchte sie in Zukunft die günstigeren Flüge nach Marokko nutzen, um ihre pensionierten Eltern wieder häufiger zu besuchen und „diesen Kontakt auf jeden Fall wieder aufzurichten“. Die hier zitierten Beschreibungen und Argumentationen zeigen sehr deutlich, wie sich raumbezogene Konzepte von Zugehörigkeit und Beheimatung im Laufe des Lebens verändern und wie andererseits auch verschiedene Orte und Räume zeitgleich auf unterschiedlichen Ebenen mit Bedeutung ausgestattet werden: Das Gefühl, das Majida in ihrer Kindheit und Jugend hatte „Marokko, das ist mein LEBEN“, (emp)findet sie heute nicht mehr, wenn sie sich dort ist. Aus der biographischen „Entfernung“ und Weiterentwicklung des erzählenden Ichs können die Gefühle des erzählten Ich nicht mehr aktiviert werden. Auch das erneute Aufsuchen der geographischen Orte hilft nicht. Denn diese sind von gelebten Alltagsräumen zu erinnerten Räumen geworden. Anderseits jedoch sucht Majida in ihrem Urlaub bestimmte Orte in Marokko immer wieder auf. An diesen unterhält sie soziale Kontakte und macht neue Erfahrungen. Somit werden/bleiben sie Teil ihrer biographisch angeeigneten Räume. Ihre Pläne für häufigere Besuche und Kontakte deuten auf eine in Zukunft wieder verstärkte Bedeutung dieser Orte hin: Indem sie z.B. öfter mal für ein verlängertes Wochenende „rüber“ fliegt, können die Orte und die dort lebenden Personen von entfernterinnerten Räumen wieder stärker in die Nähe alltäglicher Aktionsräume rücken. Ihren aktuellen Lebensmittelpunkt dagegen sieht Majida in Aachen. Dass das nicht immer so war, zeigt ihre Antwort auf meine Frage, ob ihr die Stadt gefällt: „Ich habe zwischendurch so mit dem Gedanken gespielt, dass ich doch irgendwo anders leben will (...). Aber nicht wegen der Stadt, also in Deutschland lebe ich hier SEHR GERNE. Äh, aber in einem anderen Land. Dann haben wir äh::: (..) Emirate dann (.) gedacht […], finanziell
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ist es ja sehr lukrativ GEWESEN, damals. (.) Und jetzt gehe langsam glaube ich von diesem Gedanke ab. (...) Ich möchte da sein, wo ich mich sehr wohlfühle und ich will nirgendwo hingehen, wo es mir schlechter geht als hier. Und das ist ja jetzt, Gott sei Dank haben wir die Freiheit so etwas zu sagen. Ja.“
Während ein Wegzug aus Aachen in eine andere deutsche Stadt nie zur Debatte stand, war eine erneute internationale Migration für Majida und ihren Mann eine reelle Option. Die ihnen gebotene Möglichkeit in den arabischen Emiraten „auf halbem Weg zwischen Marokko und Iran“ zu arbeiten, haben sie bisher jedoch nicht wahrgenommen. Dass sie heute lieber in Aachen bleiben möchte, begründet Majida mit ihrer hohen Zufriedenheit mit der aktuellen Situation. Diese Zufriedenheit möchte sie auch zugunsten eines anderswo möglicherweise höheren finanziellen Einkommens nicht aufs Spiel setzten. Ihre Argumentation ist somit ein gutes Beispiel für das „hedonistische Heimatkonzept“ nach Mecheril (vgl. Kap. 2.2.2): Dort wo ich mich wohlfühle, bin ich zu Hause. In dem Metakommentar am Ende der Argumentation „Gott sei Dank, haben wir die Freihat so etwas zu sagen“ drückt Majida ihre Dankbarkeit aus. Dass es ihr gut geht, ist für sie nicht selbstverständlich, sondern ist etwas, wofür man dankbar sein muss. Ebenso reflektiert dieser Satz aber auch das von ihr empfundene Privileg, sich ihren aktuellen und zukünftigen Wohnort auswählen zu können. Dass sie in Deutschland (und Aachen) bleibt, ist nicht das Ergebnis fehlender Alternativen (wie dies bei Amal anklang), sondern beruht auf einer von ihr und ihrem Mann „frei“ getroffenen Entscheidung. Religion und Islambild Auf die Bedeutung von Religion kommen wir zu sprechen, nachdem ich Majida nach dem Sprachgebrauch in der Familie gefragt hatte. Sie erzählt, dass ihr Mann mit ihren Töchtern Deutsch, sie selbst Marokkanisch-Arabisch spricht. Darüber hinaus würden die Töchter aber auch am Arabischunterricht in der Moschee-Gemeinde teilnehmen und zu Hause Privatunterricht erhalten: „Mir ist die arabische Sprache (.) SEHR WICHTIG. Ich kann sie nicht in sie rein prügeln, aber […] ich möchte gern, dass sie das GEFÜHL zumindest dafür bekommen, […] dass sie (..) auch Koran lesen können. Das sind die wichtigsten Sachen für mich.“
Angesichts der hier angesprochenen religiösen Bedeutung der arabischen Sprache (vgl. hierzu Kap. 6.4), frage ich Majida im Anschluss, welche Rolle Religion denn für sie ganz allgemein spielt. Ihre Antwort überrascht mich ein wenig: „SEHR GROSSE Rolle. Die ENTSCHEIDENDE Rolle. Das ist für mich das [wichtigste](..) überhaupt! Ähm ja, ist so. War von Anfang an so. Auch wenn ich nicht so danach aussehe, aber für mich ist das so. Drumherum spielt sich mein ganzes Leben ab und die von meinem Mann und meinen Kinder und (..) für uns. Also ich rede nur von der kleinen (.) Familie. Und ich denke, ohne dieses Gefühl für mich (.) zu haben, dass ich jetzt (.) also (..) überzeugter Moslem [bin], mit alles was dazugehört bis auf Kopftuch# (...) Ähm, für mich gibt's keine Sache, die drüber ist. Und dann ist Karriere, und alles, was danach [kommt, ist] Nebensache. (..) (leiser) So ist es zusammengefasst.“
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In dieser Antwort identifiziert Majida sich als gläubige und praktizierende Muslima. In dieser Rekonstruktion ihrer Wertewelt weist sie der Religion eine zentrale Rolle zu: Um die Religion herum spielt sich das Leben ihrer Kleinfamilie ab und für sie persönlich gibt es nichts, was darüber steht. Selbst ihre Karriere, die ihr ja sehr wichtig ist, wird in der direkten Abwägung der Religion untergeordnet. Mit ihrer Positionierung „auch wenn ich nicht so aussehe (..) ist das für mich so“ wendet sich Majida dezidiert gegen die Annahme, man könnte vom Äußeren (d.h. insbesondere vom Äußeren einer muslimischen Frau) automatisch auch auf das Innere einer Person (d.h ihre Religiosität) oder ihre weitere religiöse Praxis schließen. Mit ihrer SelbstIdentifizierung als „überzeugter Moslem mit allem, was dazugehört, bis auf Kopftuch“ artikuliert sie sich andererseits in eine Subjektposition, die die Kopfbedeckung als notwendiger Bestandteil einer vollständigen Religionspraxis ansieht (vgl. Kap. 6.4). Eine Begründung für ihr persönliches Abweichen von dieser Norm bietet mir Majida nicht an. Da ich von einer libyschen Ärztin weiß, dass diese mit ihrem Kopftuch in einem deutschen Krankenhaus viel Unverständnis erntete, frage ich weiter: MD: „Wie ist das im Alltagsleben, also (..) wie sieht das aus? Oder gibt's Schwierigkeiten, wenn Sie Ihre Religion leben wollen [im Berufsleben]?“ Ma: „[Nein, nein, ne!] Für mich ist es Gott sei Dank auch eine flexible (..) Religion, die mich jetzt nicht einengt. Ich denke gab's in (.) keinem Moment (.) so Zeit, wo ich sage: (.) ‚Oh:: hier ist es aber schwer‘ Ja? Gut, im Ramadan wahrscheinlich ist es einfach (.) nur dieses Gefühl, dass nicht alle Leute jetzt am fasten sind. […] Die Tage sind sehr lang, es ist hart. (...) Aber ich meine gut, es ist ja meine Überzeugung, dann entweder mache ich's oder lasse ich. Aber […] ich äh, provoziere auch niemanden damit, weil es ist ‘ne persönliche Sache ob ich jetzt faste oder nicht faste. (.) Und das glaube ich, [ist] das wichtigste was die (.) Moslems hier einfach wissen MÜSSEN: (...) Ähm, was heißt ANPASSEN? Ja, dann faste bitte, wie du willst (...). Aber gut, meine Leistung, die muss gleich bleiben. […] Ja, ich kann ja auch nicht den Leuten einen Monat lang sagen: ‚Mensch, ich bin am Fasten: Tschuldigung, keine OPs, kein nichts.‘ OP-Plan: das geht nicht. Und das ist auch nicht notwendig. […] Hat bis jetzt sehr gut geklappt, ohne Probleme. […] Und ich kann beten und fasten und machen was ich will, und das stört niemanden. Ja, oder wie gesagt ich (...) gehe hier (Handbewegung) nicht und (.) mache Adhan [Gebetsruf] oder (.) lege meinen Teppich. Und (.) das, (..) das ist für mich die Intoleranz..“
Meine Annahme, ihre Religionspraxis könnte ihr im Alltagsleben Schwierigkeiten bereiten, weist Majida in ihrer Antwort auf zwei Ebenen zurück. Erstens charakterisiert sie ihre Religion als „flexibel“: Sie „engt sie nicht ein“. Der Islam, so wie sie ihn hier beschreibt (und vermutlich auch praktiziert) ist eine Religion, die für alle Vorschriften genügend Ausnahme- und Alternativregelungen32 anbietet, so dass diese sich in ihr Alltagsleben integrieren lassen. Als zweiten Grund dafür, dass sie in Deutschland in Bezug auf ihre Religionspraxis keine Schwierigkeiten erfährt, nennt Majida ihre persönliche Anpassungsbereitschaft. Sie ist bereit, sich den im beruflichen Feld geltenden „Spielregeln“ zu unter-
32 Dies betrifft z.B. die täglichen Plichtgebete oder das Fasten im Ramadan (vgl. Kap. 6.4.1).
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werfen, die Zuverlässigkeit und konstante Leistungsfähigkeit einfordern. Diese Regeln stehen für sie nicht in Widerspruch zu den Anforderungen ihrer Religion. Sie insistiert auf der Vereinbarkeit von beruflicher und religiöser Praxis bzw. den diskursiv konstituierten Regeln, die sie in diesen beiden Feldern als Subjekt konstituieren. Als nicht notwendig weist Majida dagegen bestimmte religiöse Praktiken aus, die wie der Gebetsruf oder das öffentliche Gebet die Religion vom privaten in den öffentlichen Raum tragen. Die Bewertung dieser Praktiken als „Provokation“ und „Intoleranz“ verweisen auf den als Backing der Argumentation zugrunde gelegten – in Deutschland hegemonialen – Diskursstrang, der Religion als private Praxis in den privaten (Zeit-)Raum situiert, die im öffentlichen Raum keinen legitimen Platz beanspruchen kann.33 Erneut kann Majida sich in diesen Diskurs einklinken und sich diesen für Religionspraxis im öffentlichen Raum als geltend empfundenen Regeln unterwerfen, weil sich aus ihrer subjektiven Position heraus – derzufolge sie ihre Religion als flexibel und nicht einengend definiert – kein Widerspruch zwischen ihr als religiösem Subjekt und ihr als Teilnehmerin an einer deutschen Öffentlichkeit ergibt. Aus einer solchen – einem quietistischen Religionsverständnis nahestehenden – Perspektive argumentiert Majida auch, als ich sie abschließend nach dem Islambild frage: MD: „Ja. Wie nehmen Sie das wahr, wie in Deutschland – also (..) es gab ja in letzter Zeit viele Berichte über das Islambild in den deutschen Medien – Wie nehmen Sie das (.) wahr?“ Ma: „Ja ich wei-, meine Schwester ist da sehr engagiert. (...) Ich bin so politisch überhaupt so bisschen, (.) ich bin da schlecht einfach, denke ich. […] Und halte für mich persönlich die beste Politik, (...) wenn ich jetzt das positiv beeinflussen will (..), dass ich genau das mache, was ich jetzt mache. Ich kümmere mich um mich und (.) kontrolliere mein Verhalten und versuche ein Vorbild für alle anderen zu sein. Und wenn JEDER MOSLEM hier in diesem Land das macht (..) und berücksichtigt äh, seine UMGEBUNG, (..) dann ist für mich das, das beste Bild.“
Zu dem Stichwort ‚Islambild‘ fällt Majida als erstes ihre Schwester und deren gesellschaftspolitisches Engagement ein. Im Vergleich zu ihrer Schwester charakterisiert sie sich selbst als „schlecht, denke ich“. Diese Einleitung ist von grundlegender Bedeutung für die Analyse der folgenden argumentativen Abschnitte, da sie über die Funktion des Gesagten Aufschluss gibt: Es geht an dieser Stelle nicht primär um eine Beschreibung oder Argumentation in Bezug auf das Islambild per se, sondern um eine Begründung, warum sich Majida anders als ihre Schwester – der sie sehr nahe steht und die ihr auch als Vorbild dient (vgl. Einstiegserzählung) – in diesem Kontext nicht engagiert. Die zweifache, wenn-dann Formulierung in Majida Antwort verweist auf eine Argumentation, die als Schlussregel ein Konsequenztopos einsetzt. Dieses hat die Funktion „die Richtigkeit von Handlungen“ zu begründen „indem darauf verwiesen wird, dass sie adäquate Mittel zu einem wünschenswerten Zweck sind“ (Lucius-
33 Dies gilt für unterschiedliche Religionen in unterschiedlicher Weise. Auf die Brüche, Inkonsistenzen und Umkämpftet einer solchen Raumkonstitution auch in Bezug auf die ‚hegemonial‘ gesetzte christliche Religion verweisen u.a. die rechtlichen Regelungen zum Kruzifix (vgl. Kamann 18.03.11).
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Hoene und Deppermann 2004, 251). Konkret wird an dieser Stelle die These aufgestellt, dass eine Verbesserung des Islambildes (als wünschenswerter Zweck) durch das rücksichtsvolle und vorbildhafte Verhalten jedes einzelnen Muslims in Deutschland erreicht werden kann. Warum genau dieser ‚Weg‘ zum Ziel für Majida persönlich die „beste Politik“ ist und sie daher darüber hinaus gehendes Engagement ablehnt, begründet sie wie folgt: „Was mich kränkt, ist einfach, dass die (.) Moslems (.) weltweit jetzt (.) haben so ein hässliches Bild, das sie sich selbst gemacht haben (...). Ähm (.) und dann (.) fühle ich mich nicht [als] diejenige (...) die dieses Bild jetzt beeinflussen soll (.) ähm, indem ich mich jetzt darüber aufrege, warum uns die Leute so (.) schlecht behandeln. Ich denke, dass ähm (...), wenn die größte Gruppe hier in Deutschland (.) die Analphabeten sind, die nichts auf die Reihe gebracht haben, die aber (.) auch so eine große Klappe hat, überall in jeder (.) Ecke eine große Moschee auch zu haben, wo die dann (.) beten wollen und – ich will jetzt auch nicht schlecht für meine Leute sein – [aber] wenn diese (.) diejenige sind, die es nicht auf dem KASTEN haben, dann, dann (..) bin ich nicht mit da drinnen. Wenn ich aber sehe […], das können nicht die Leute sein, die wirklich erfolgreich sind. Die, die was geschafft haben, die sind meistens auch sehr zufrieden.“
Indem Majida an dieser Stelle die bereits zuvor aufgerufene Differenzlinie erfolgreiche vrs. gescheiterte Studienmigranten erweitert und durch Verweis auf die Analphabeten der ersten Generation der Gastarbeiter die soziale Distanz zwischen den Gruppen maximiert, grenzt sie sich von dieser von ihr als „Mehrheit“ konstruierten Gruppe sowie deren religionspolitischen Forderungen ab. Wenn es diese Gruppe ist, der sie sich nicht zugehörig fühlt, die das Bild der deutschen Muslime kennzeichnet, dann fühlt sie sich durch den entsprechenden Diskurs nicht angerufen; dann ist sie da „nicht mit drinnen“. Den möglichen, hier implizit mit aufscheinenden Einwand, dass die Forderungen und Beschwerden in Bezug auf das deutsche Islambild vielleicht doch berechtigt sein könnten (und ihr Engagement dann moralisch geboten sein könnte), wehrt Majida durch die im nächsten Satz erfolgende Artikulation in einen neoliberalen Diskurs ab. Die hier zugrunde liegende Schlussregel lautet, dass beruflicher Erfolg auch zu einer hohen Zufriedenheit mit der persönlichen Lebenssituation führt („die was geschafft haben, sind meist auch zufrieden“). Wer erfolgreich ist, hat dann auch keinen Grund, sich zu beschweren – auch nicht über das Islambild in Deutschland. Indem in einem solchen Diskurs andere Bereiche und Felder des Alltagslebens (die sich eben auch auf das Wohlgefühl und die Zufriedenheit des Einzelnen auswirken können) ausgeblendet werden, wird an dieser Stelle die Frage der religiösen Anerkennung in eine Frage sozialer Anerkennung umgedeutet. Die ‚Lösung‘ des Problems bestünde im Kontext dieser Argumentation dann tatsächlich nicht in religionspolitischen Forderungen, sondern in dem Bestreben jedes einzelnen, sich durch Fleiß und Arbeit eine verbesserte Position im beruflichen Feld bzw. im sozialen Raum zu erkämpfen und somit eine höhere Zufriedenheit mit der eigenen Position zu realisieren. Obwohl Majida die Interpellation, die sie als „überzeugte Muslima“ durch den deutschen Islamdiskurs erfährt, mithilfe dieser Argumentation erfolgreich zurückweist, kann sie die Gegenposition – einen Diskurs, der sie als verantwortungsvollen Teil einer größeren Solidargemeinschaft anruft – nicht ganz ignorieren:
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„Gut, es ist vielleicht egoistisch zu sagen ‚Ja es geht mir gut, also ist mir egal was die anderen machen‘. Das ist EGOISTISCH. Aber wenn man so ein riesen äh, Gesellschaft hat, die nicht zu BÄNDIGEN ist, (.) dann vielleicht wäre das MINIMUM was man macht, dass man sich um sich kümmert. […]. Ich bin ein bisschen gekränkt über dieses Bild, das stimmt. Und das tut mir schon auch (..) äh, LEID wenn (.) das gesamte Bild so ist, ja. Die Moslems sind ja immer die, [die] irgendwelche Bomben irgendwo reinlegen, die (.) denen [es] immer am beschissensten geht. Ja, du siehst hier nie (.) ein Moslem, der jetzt Nobelpreis äh, bekommen hat oder der in (.) Fußball geschafft hat Weltmeister zu werden. (.) Und das ist SCHLIMM. Das ist schlimm. Aber wie gesagt, (.) ich bin in dieser Hinsicht eher der (suchend) Minimalist. Indem ich aber – wenn ich (..) richtig überlege, dann sage ich mir: Das ist (...) das ist (.) NICHT Minimalismus, ich MACHE was.“
Nachdem Majida begründet hat warum sie sich nicht zum Handeln aufgerufen fühlt, konzediert sie an dieser Stelle, dass ihre Haltung aus einer anderen Perspektive als egoistisch gewertet werden kann. Dieser Vorwurf wird jedoch im folgenden Satz entkräftet, indem das Bild einer modernen, anonymen Massengesellschaft evoziert wird „die nicht zu bändigen ist“. Die hier aufgerufene Schlussregel – dass eine solche Gesellschaft nicht als Ganzes verändert werden kann, sondern nur durch individuelle Kontrolle des eigenen Handelns – legitimiert erneut ihre Handlungsentscheidung. Auf der Basis dieser Absicherung kann Majida sich zuletzt dann auch stärker zustimmend zu den anderen, kritischen Stimmen positionieren, indem sie konzediert, dass ihr das schlechte Image, das die Muslime weltweit haben schon leidtut. Dem ihr daraus möglicherweise abzuleitenden Vorwurf, sie würde selbst nichts gegen dieses schlechte Image tun, widerspricht sie: Sie macht etwas. Als Beleg zu dieser These erzählt sie von Vorträgen, die sie heute u.a. auch in der Moscheegemeinde hält. Früher hätte sie sich aus diesen Gruppen und den Veranstaltungen zurückgehalten da sie ja (noch) nichts relevantes beitragen konnte. Mit ihrem inzwischen akkumulierten medizinischen Wissen dagegen könne sie andere kompetent informieren, beraten und ihnen somit auch helfen. Erst durch ihr inkorporiertes kultureller Kapitel und von ihrer hierdurch beschriebenen Position im sozialen Raum aus fühlt sie sich also zum „autorisierten“ Sprechen befugt (vgl. Bourdieu 2005b, 79). 5.3.3. Zusammenschau Die temporale Dimension ihrer narrativen Identität, die sich u.a. in den divergierenden Darstellungen von erzählendem und erzähltem Ich ausprägt, ist in Majidas Erzählung gut nachzuvollziehen. In Bezug auf ihre Kindheit identifiziert sie die häufigen Umzüge der Familie als Grund dafür, dass sie früh gelernt hat, mit Ortsveränderungen offen und konstruktiv umzugehen und „mit allen möglichen Kulturen und Sprachen“ klarzukommen. Kindheit und Jugend waren darüber hinaus durch das Vorbild der berufstätigen Mutter ebenso geprägt wie durch die Vorgaben des Vaters, der seine Kinder, Töchter wie Sohn, auf Berufsausbildung statt Familiengründung und auf Ehrgeiz statt „nicht gut sein“ hin orientiert. Die Strukturen, die das universitäre und medizinberufliche Feld in Deutschland kennzeichnen erlebte Majida im Großen und Ganzen als ermöglichend. Durch ihren heutigen Mann sowie ihre zeitweise ebenfalls in Aachen wohnenden Geschwister erhielt sie die Hilfe und emotionale Unterstützung, die sie benötigte. Die kurzfristigen
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Irritationen und Kränkungen, die sie erfuhr, als sie, die sich selbst als „Ledertasche“ charakterisiert, am Anfang kaum mit ihren Kommilitonen kommunizieren konnte und sich daher ausgeschlossen fühlte, kann sie auf Grundlage ihrer inzwischen realisierten beruflichen Karriere heute als unbedeutende Kleinigkeiten abwerten, die sie in ihrem Selbst-Verständnis nicht länger beeinträchtigen müssen. Auch die von ihr als Ergebnis ihrer Karrierelaufbahn interpretierte Entfremdung von anderen Deutsch-Marokkaner/-innen deutet Majida positiv um: Hierdurch hat sie sich noch stärker für andere Personen geöffnet. Heute habe sie daher in Bezug auf soziale Beziehungen „null Komplexe“. In ihrer Selbst-Identifizierung präsentiert sie sich als eine energische, fröhliche und offene Person, die sich flexibel und optimistisch an neue Herausforderungen anzupassen weiß. Ihren Erfolg verdankt sie ihr zufolge ihrem Glück ebenso wie ihrem Fleiß und ihrer Zielorientierung. Obwohl sie darauf verweist, dass man „nichts geschenkt bekommt“, sieht sie ihre inzwischen erreichte gesellschaftliche Position nicht als etwas, das ihr aufgrund ihrer Anstrengungen zustehen würde. Sondern ist sehr dankbar dafür, dass es ihr und ihrer Familie so gut geht. Ihre Dankbarkeit ist religiös geprägt. Und so stehen auch ihre Pläne immer unter der Bedingung „wenn Gott will – inshah allah – wenn wir gesund bleiben, wenn alles gut geht“. Relational präsentiert sich Majida in Einklang mit dem Ort des Interviews primär als ehemalige Studentin und heute berufstätige Frau. Ihre Rolle als Mutter von zwei Kindern wird im Kontext des Interviews kaum thematisiert. Als Tochter positioniert sie sich in Einklang mit den durch ihre Eltern vermittelten Werten und Normen, die sowohl ihre berufliche Laufbahn als auch die Wahl ihres Ehepartners beeinflussten. Beide Entscheidungen jedoch, darauf insistiert sie, hat sie aus eigener Überzeugung getroffen. Majida hat einen sehr ähnlichen Lebensweg wie ihre Schwester zurückgelegt. Ihren sehr weitgehend geteilten Dispositionen und Überzeugungen zum Trotz ist die Frage gesellschaftspolitischen Engagements jedoch ein Punkt, zu dem die Schwestern konträre Meinungen einnehmen (weshalb sich Majida auch im Interview genötigt fühlt ihre abweichende Haltung ausführlich zu begründen). Die Differenzkategorie, die sich am stärksten durch Majidas narrative Identität zieht – ohne jedoch als solche explizit gemacht zu werden – ist das Konzept der Klasse, wie es bei Bourdieu konzipiert wird: als ressourcenbasierte Positionierung im sozialen Raum, die zur Ausprägung eines klassenspezifischen Habitus führt. Die Dispositionen, die es Majida einerseits ermöglichen sich weitgehend reibungslos in das durch Karriere- und Prestigeorientierung gekennzeichnete medizinische Feld einzufügen, erschweren es ihr andererseits sich mit den anderen marokkanischen Migrant/-innen an ihrem Wohnort zu identifizieren. Als Teil einer derart definierten ‚Community‘ fühlt sie sich nicht. Hier zeigt sich somit die in Kap. 2.1.1 erarbeitete Differenzierung zwischen „sich identifizieren als“ (Angehöriger einer Kategorie) und „sich identifizieren mit“ (im Sinne einer empfundenen Zugehörigkeit zu anderen Personen der gleichen Kategorie) sehr deutlich: Obwohl Majida sich selbst sowohl als Marokkanerin als auch als überzeugte Muslimin identifiziert, bedeutet das für sie nicht, dass sie sich vorbehaltslos mit anderen Muslimen und Marokkanern, die sie in Deutschland trifft, identifizieren kann. Für die Wir-Gruppe, der sie sich vorbehaltlos zugehörig fühlt, d.h. ihre Familie in Deutschland und Marokko, sieht sie die Religion durchaus als bedeutsam an. Da sie jedoch im Alltagsleben hinsichtlich ihrer Religionspraxis keine Einschränkungen wahrnimmt (sie charakterisiert sowohl sich selbst
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als auch ihre Religion als flexibel) sieht sie, anders als z.B. Amal, keine Notwendigkeit sich gegen ein negativ konnotiertes Islambild verteidigen zu müssen. Was sich an der in diesem Interview her- und dargestellten narrativen Identität ebenfalls gut zeigen lässt, ist der „blinde Fleck“, den jede/r (inklusive der Forscher/in) aufweist, wenn es darum geht, über sich selber zu berichten. In diesem Fall ist es Majidas Position im sozialen Raum, die sie selber als durch ein bildungsbürgerliches Milieu und die hierdurch vorgeprägten Dispositionen gekennzeichnet beschreibt. Diese Position wird für sie in dem Moment unsichtbar, in dem sie sich mit der Situation von anderen marokkanischen Student/-innen auseinandersetzt, die ihr Studium in Deutschland abgebrochen haben. Ihrem Gefühl nach hatten sie alle dieselbe Ausgangsposition: „Wir waren nicht anders“. Dass es jedoch nicht nur auf die (ebenfalls ungleich verteilte, aber vielleicht ähnlich vorhandene) finanzielle Unterstützung der Eltern ankam, sondern dass auch die nicht zuletzt milieu- und klassenspezifisch ausgeprägten Dispositionen für den Studienerfolg eine entscheidende Rolle spielen, wird in dem Moment für Sprecher/-in und Zuhörer/-in verschleiert, in dem eine Subjektposition innerhalb eines meritokratischen Diskurses eingenommen wird, der diese Zusammenhänge überdeckt. Fragt man weiter nach dem was nicht gesagt wird, so fällt in Majidas Erzählung die geringe Bedeutung auf, die rassifizierenden Diskursen und Platzierungen zugeschrieben wird. Auch die Bedeutung von Heteronormativität als Kategorie symbolischer Herrschaft wird nur sehr selektiv expliziert. Während Majida den Wunsch nach einer Familie (im Sinne einer legal sanktionierten, heterosexuellen Paarbeziehung mit eigenen Kindern) als inkorporierte Norm und unhinterfragbaren Teil ihrer Dispositionen beschreibt, mit dem sie sich in Einklang mit einer marokkanischen Mehrheitsgesellschaft befindet, positioniert sie sich (und ihre Familie) in Widerspruch zu den in ihrem Kindheitsumfeld als hegemonial empfundenen Diskursen, die die Familiengründung für eine Frau als primär und prioritär zu setzendes Ziel konstituiert, während einer beruflichen Orientierung und Ausbildung ein geringerer Wert zugesprochen wird. Dass heteronormativ wirkende symbolische Repräsentationen und gesetzliche Regelungen auch ihr Leben in Deutschland prägen wird erst auf den zweiten Blick deutlich. Dies z.B. wenn sie in einem Nebensatz erwähnt und weder begründet noch erläutert, dass sie es ist, die zugunsten der Kinder in Teilzeit arbeitet – und nicht ihr Mann, der mit dem selben Studium heute eine äquivalente berufliche Position einnimmt. Angesichts des deutschen steuerlich subventionierten 1,5-Verdienermodells (Stichwort: Ehegattensplitting), der geringen Verfügbarkeit ganztägiger Kinderbetreuungseinrichtungen sowie einem hegemonialen Diskurs, der die Mutter als zentrale Erziehungs- und Betreuungsinstanz konstituiert, erscheint diese Entscheidung in der Tat als ‚normale‘ Praxis, die keiner Erklärung bedarf. Anders als manche andere Frauen, für die diese ‚Halbtagsfalle‘ ein Hindernis bei der Verfolgung einer beruflichen Karriere darstellt, fühlt sich Majida hierdurch jedoch nicht eingeschränkt: Ihren Wunsch nach medizinischer Forschung und das Ziel einer Habilitierung kann sie auch mit ihrer derzeitigen Stelle verfolgen. Insgesamt beschreibt sich Majida als sehr zufrieden mit ihrer aktuellen Situation, für die sie auch Dankbarkeit empfindet. Hieraus begründet sie ihren Wunsch, zumindest in näherer Zukunft an ihrem derzeitigen Wohnort zu verbleiben. Obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätte (und eventuell auch noch hat), ins Ausland zu gehen und
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dort einen lukrativen Posten anzunehmen, hat sie sich ebenso wie ihr Mann bisher dagegen entschieden. Auf die Bedeutung dieser potenziell möglichen, jedoch auf eigenen Wunsch nicht realisierten Wanderung wird in Kap. 7.1 mit Bezug auf das deutsche Islambild noch einmal zurückzukommen zu sein.
5.4. Z WISCHENFAZIT – N ARRATIVE I DENTITÄTEN In den drei hier vorgestellten Einzelfallanalysen wurde exemplarisch herausgearbeitet, wie jeweils verschiedene, interdependent wirksam werdende sozial konstituierte Differenzkategorien in unterschiedlichen zeit-räumlichen Settings relevant gemacht werden. Wie besonders an Raifs Geschichte deutlich wird, gehen die in bestimmten Situationen aufgerufenen Kategorisierungen (hier: Ausländer, dunkelhäutig) ebenso wie die damit einhergehenden Konnotationen (hier: Dieb; zu kontrollierende Person) und die in diesen Situationen hervorgerufenen Gefühle (Angst, Scham, Ausgeschlossen-Sein) in das subjektive Selbst-Verständnis ein. Die Art wie zukünftige Ereignisse wahrgenommen oder bewertet werden, kann durch die u.a. in diesen Situationen relevant gemachten Kategorisierungen nachhaltig beeinflusst werden. Ebenso jedoch können in bestimmten Situationen und zeit-räumlichen Settings auch ganz andere Anrufungen wahrgenommen werden oder andere, neue Kategorien wirksam werden (vgl. Kap. 6.5.3; für ein ausgesprochen aufschlussreiches Beispiel siehe auch die fünf biographischen „stories“ einer gehörlosen Frau in Valentine 2007). Ein raumsensibler geographischer Intersektionalitätsansatz im Anschluss an Valentine (2007, 19) erwies sich folglich auch im vorliegenden Fall als hilfreich, um biographische Erlebnisräume sowie die hierin eingeschriebenen Machtbeziehungen und wirksam werdenden Differenzkategorien als Kontexte für die Ausprägung eines Selbst-Verständnisses sowie die hierein eingehenden bzw. hieraus resultierenden Selbst-Identifizierungen und Selbst-Positionierungen zu untersuchen. Indem aus dieser Perspektive immer auch danach gefragt wird, was in den Erzählungen nicht thematisiert wird, die jeweilige Positionierung im sozialen Raum oder einem bestimmten sozialen Feld jedoch wesentlich mit beeinflusst (sei es die Verfügbarkeit von kulturellem, sozialem, ökonomischem oder auch symbolischem Kapital), kann die Rekonstruktion der subjektiven intersektionalen Positionierungen um eine objektivierende Dimension ergänzt werden, die den „blinden Fleck“ der Erzähler/-innen ausleuchtet.34 In Erweiterung einer solchen geographischen Intersektionalitätsanalyse ging es in diesen drei Einzelfallanalysen jedoch auch darum, die Produktionsbedingungen dieser Erzählungen über (vergangene, biographische) translokale Positionierungen und Zugehörigkeiten konsequenter in die Analyse einzubeziehen, als dies bisher zumeist der Fall war (vgl. kritisch Pott 2005). Diese Forderung konnte konzeptionell umgesetzt werden, indem die im Interviewkontext generierten „Erzählungen über Zugehö-
34 Insofern geht es hier keinesfalls um die Setzung von „A-priori“- Kategorien (vgl. Kritik bei Dörfler 2013, 42f.), sondern um eine kritische Suchstrategie, mit deren Hilfe die subjektiven Platzierungsleistungen der Erzähler/-innen in Bezug auf bestimmte Situationen und biographische Erlebnisse kritisch hinterfragt werden können (vgl. Kap. 5.2).
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rigkeiten und translokale Positionierungen“ als in interaktiven und wechselseitigen sozialen Praktiken her- und dargestellte narrative Identitätskonstruktionen untersucht wurden. Dies erfolgte methodisch unter Zuhilfenahme einer Positionierungsanalyse in der Tradition der poststrukturalistisch ausgerichteten diskursiven Psychologie. Besonderer Wert wurde dabei darauf gelegt, auch die Positionierungsaktivitäten zwischen Interviewerin und Interviewten mithilfe einer gezielten Analyse der interaktiven Sequenzen zu berücksichtigen. Der von Lucius-Hoene und Deppermann (2004) zusammengestellte „Werkzeugkasten“ linguistisch-pragmatischer Textanalyse erweiterte das Methodensetting, so dass ergebnisoffen die unterschiedlichsten selbstbezüglichen, relationalen und temporalen Aspekte der im Interviewkontext her- und dargestellten Identitäten (= Erzählungen über sich selbst) herausgearbeitet werden konnten. Da an der Funktion und Wirkung von Sprechakten angesetzt wurde, konnte das Gesagte (und Verschwiegene) stärker auf den „objektiven Sinn subjektiver Äußerungen“ (Rothfuß 2004, 47; vgl. Heckmann 1992) hin analysiert und interpretiert werden, ohne dabei davon auszugehen, dass eine Re-Konstruktion oder ein vollständiges Verständnis des subjektiv-intentional gemeinten Sinns der Sprechakte möglich ist. Indem die Analyse einerseits kleinräumig an der Aussagenebene ansetzte, andererseits aber sowohl die textimmanenten Aussagenkontexte als auch die weiter gefassten diskursiven und gesellschaftlichen Kontexte berücksichtigte, konnte die aus poststrukturalistischer Perspektive theoretisch entwickelte Annahme umgesetzt werden, dass es nicht möglich ist, ganze, einheitliche ‚Identitäten‘ zu rekonstruieren, sondern dass diese nur in Form verschiedener Subjektpositionen (temporäre Artikulationen im Diskurs) untersucht werden können. In allen drei Einzelfallanalysen wurde die Temporalität und die Vielfalt der eingenommenen, teilweise auch widersprüchlichen und in sich brüchigen Subjektpositionen sichtbar. Gleichzeitig wurde deutlich, dass sich aus dieser Vielfalt eingenommener Subjektpositionen eine bestimmte Position im sozialen Raum rekonstruieren lässt, von der aus die betreffenden Personen ihre Blicke auf die soziale Welt richten. Indem an den Erzählungen und der sozialen Praxis der Interviewten angesetzt wurde, wurde induktiv herausgearbeitet, welche sozialen Kategorien von den Befragten selbst für ihre milieuspezifischen Erfahrungsräume als relevant angesehen werden und mithilfe welcher sozial konstituierten Kategorien sie sich von anderen abgrenzen. Hier zeigte sich, dass, je nach eigener Positionierung in Zeit, Raum und sozialen Netzwerken, unterschiedliche Differenzkategorien für die eigene narrative Identität als bedeutsam wahrgenommen werden: Während bei der 20-jährigen Amal Geschlechterdifferenzen und Genderrollen im Vordergrund stehen, sind es für den 30-jährigen Raif die Generativität (Alter) und rassifizierende Anrufungen, die seinen persönlichen Erfahrungsraum beschreiben. Die knapp 40-jährige Majida wiederum betont die Elemente, die sie als (erfolgreiche) Universitätsabsolventin von Arbeitsmigranten und weniger erfolgreichen Studienmigranten abheben. In diesem Fall ist es das kulturelle und ökonomische Kapital, das ihren Platz in der Gesellschaft und ihren Klassenhabitus bestimmt, das sich aus ihrer narrativen Identität als relevante Differenz- und Distinguierungskategorie herausarbeiten lässt. Die aus den drei Einzelfällen induktiv abgeleiteten Differenzkategorien werden im folgenden Kapitel genutzt, um alle vierzig Interviewpartner strukturiert vorzustellen und ihre Blickwinkel auf die soziale Welt zu erläutern (Kap. 6.1). Hierauf auf-
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bauend gilt es, die in den drei Einzelfällen angedeutete Spannung zwischen lokalen Verankerungen und Beheimatungen einerseits und aktiver Einbindung in translokale und transnationale Großfamilienverbünde andererseits näher zu beleuchten (Kap. 6.2). Was die drei Einzelfallanalysen ebenfalls bestätigt haben, ist die Notwendigkeit, zwischen den drei von Brubaker und Cooper (2000) differenzierten Identitätsdimensionen zu unterscheiden. Besonders im Kontext von Majidas narrativer Identität wurde sehr deutlich, dass eine Praxis des „Sich-Identifizierens als“ Angehörige/-r einer Kategorie (z.B. Marokkaner/-in; Muslim/-a) nicht notwendigerweise bedeutet, dass sich jemand mit den anderen Angehörigen dieser Kategorie identifiziert oder sich aufgrund geteilter Praktiken und Sozialbeziehungen einer derart konstituierten Gruppe zugehörig fühlt. Für die geographische Forschung, in der der Begriff der Identität für sehr unterschiedliche Phänomene und Facetten genutzt wird (vgl. Überblick in Pott 2007), stellt diese begriffliche Ausdifferenzierung somit eine hilfreiche und sinnvolle Präzisierung bereit. Die subjektiven Positionierungen mit Bezug auf das deutsche Islambild – soviel ist besonders am Beispiel Amals bereits deutlich geworden – sind zum einen in Zusammenhang mit der individuellen und im biographischen Verlauf wandelbaren Religiosität zu sehen. Diese wird daher in Kap. 6.4 für alle Interviewpartner/-innen vorzustellen und zu diskutieren sein. Andererseits verweist Amals Erzählung jedoch auch auf die Bedeutung eines politisierten lokalen Kontexts sowie den Unterschied zwischen einem ‚unverbindlichen‘ negativ konnotierten Islambild und einem Islambild, das sich – in Form eines Dispositivs – in konkreten, politisch beschlossenen und juristisch umgesetzten Regulierungen ausprägt, die religiöse Freiheiten einschränken. Sowohl Amal als auch Raif liefern Hinweise darauf, dass die räumliche Dimension des deutschen Islambildes als ausgrenzende Kategorie der Nicht-Zugehörigkeit in einer gewissen Spannung zu den aus der eigenen Biographie entwickelten Konzepten von lokaler und nationaler Zugehörigkeit steht. Die sich hieraus ergebende Frage danach, welche Aspekte der subjektiv eingenommenen translokalen Positionierungen sich für die Reaktionen auf das deutsche Islambild als relevant erweisen, wird daher in der abschließenden Diskussion der Querschnittsanalyse in Kap. 7.2 erneut aufzugreifen sein.
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Thematische Querschnittsanalyse
Wie bereits angekündigt, geht es in der hier folgenden übergreifenden Analyse darum, gezielt den Rahmenbedingungen für die Perzeption des aktuellen deutschen Islambildes nachzugehen. Hierzu werde ich zunächst alle Interviewpartner/-innen vorstellen und ihre Biographien und Positionen im sozialen Raum skizzieren (Kap. 6.1). Darauf folgend werden die Wohnorte, Netzwerke und raumbezogenen Zugehörigkeiten übergreifend vorgestellt und diskutiert (Kap. 6.2). Ein Überblick über die von meinen Gesprächspartner/-innen genutzten Sprachen und Medien (Kap. 6.3) klärt die Frage, wer von ihnen in welche sprachlich und medial gefassten Diskurse eingebunden ist. Es folgt ein kurzer Überblick über Facetten und Entwicklungslinien individueller Religiosität der Befragten (Kap. 6.4). Abschließend geht es um die konkreten Positionierungen mit Hinblick auf das Islambild (Kap. 6.5) sowie die Suche nach einer Antwort auf die bereits aufgeworfene Frage, wovon diese Positionierungen abhängig sind bzw. beeinflusst werden.1
6.1. T RANSLOKALE P OSITIONIERUNGEN Bourdieu verweist darauf, dass die Art und Weise, wie Akteure die soziale Welt wahrnehmen, klassifizieren und beurteilen, dadurch geprägt wird, von welcher Position im sozialen Raum sie diese Welt beobachten (Bourdieu 1987a, 155). Im Folgenden soll es also zunächst darum gehen, dem Leser einen Eindruck davon zu vermitteln, von welchem Punkt im gesellschaftlichen Raum aus die Befragten ihre Blicke auf diesen Raum richten und über welche Kapitalia und Dispositionen sie verfügen, die bestimmte Praktiken ermöglichen, nahelegen oder einschränken. Das Konzept der translokalen Positionierungen (vgl. Kapitel 4.4) wird hier aufgegriffen, um den Blick auf biographische und geographisch-räumliche Dislozierungen richten zu können. Der Aufbau des folgenden Teilkapitels orientiert sich an den bereits thematisierten selbstempfundenen Abgrenzungen subjektiver Lebenswelten. In einem ersten Teil werden daher die Studentenmigranten vorgestellt. Im Zentrum steht die Frage nach dem Zusammenhang ihrer sozialen Positionierungen vor und nach ihrer Migra-
1
Hinweis: Einzelne Erkenntnisse aus den Kapiteln 6.1 und 6.2 werden auch in Didero und Pfaffenbach (2013) behandelt, Ergebnisse aus 6.3 finden sich ebenfalls in Didero und Pfaffenbach (2014).
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tionsentscheidung. Im zweiten Teil werden die Arbeits- und Familienmigranten der ersten Generation vorgestellt, gefolgt von einer Präsentation ihrer in Deutschland aufgewachsenen Kinder. Auch hier richtet sich der Blick auf die Frage, inwiefern sich soziale Positionierungen der in Marokko aufgewachsenen Eltern und ihrer in Deutschland sozialisierten Kinder ähneln oder unterscheiden und ausdifferenzieren. 6.1.1. Studienmigrant/-innen Insgesamt 18 meiner Interviewpartner/-innen sind mit dem Ziel eines Studiums nach Deutschland eingereist. Die meisten von ihnen kamen Anfang der 1990er Jahre mit der ersten großen Welle der Studienimmigration (vgl. Abb. 12) und sind daher heute zwischen Mitte 30 und Anfang 40. Ausnahmen sind ein ‚Pionier‘ mit heute 54 Jahren und drei jüngere Studienmigranten. Sehr auffällig bei diesen Interviews war, dass die meisten Studienmigranten ihre biographischen Erzählungen erst mit der Ankunft in Deutschland begannen, ihre Kindheit in Marokko dagegen kaum thematisierten. Dies mag einerseits der Interviewansprache (als marokkostämmige Person) geschuldet sein. Andererseits deutet es aber auch auf die Migrationserfahrung als einschneidendes biographisches Erlebnis hin. Dies umso mehr, als die Migration für viele mit der erstmaligen Gründung eines eigenen Haushalts zusammenfiel und daher eine wichtige Etappe zu einem Leben als Erwachsener darstellte. Ein zentrales Thema der biographischen Erzählungen war daher auch die Frage ob das Migrationsziel (Studienabschluss) erreicht wurde oder nicht. Weiterhin boten die Gespräche Gelegenheit für einen bewertenden Rückblick auf die Migrationsentscheidung und die seitdem erreichte Positionierung im sozialen Raum. Einen Studienabschluss erreicht haben sieben meiner Gesprächspartner/-innen. Sie arbeiten heute als Ärzte, Ingenieure, Übersetzer und Sozialarbeiter, oder auch fachfremd als Informatiker oder im Gastronomie-Management. Drei Personen haben ihr Studium zwar nicht beendet, jedoch stattdessen eine Ausbildung absolviert. Als Pharmareferent, Informatiker und Handytechniker arbeiten sie heute in einem Beruf, der ihrem Wunschstudienfach sehr nahe steht. Acht weitere Gesprächspartner/-innen haben ihr Studium früher oder später aufgegeben. Einige von ihnen haben im Anschluss eine Ausbildung im Handwerk (Koch) oder der Industrie (Schweißer) absolviert. Andere haben sich selbstständig gemacht (Imbiss, Reisebüro). Die meisten arbeiten dort, wo sie gerade Arbeit finden. Sie haben sich mit ihren beruflichen und finanziellen Möglichkeiten arrangiert. Mit der Ausnahme von Hadou, der als Küchenchef arbeitet, sind sie jedoch mit dem von ihnen Erreichten nicht restlos zufrieden. Dezidiert unglücklich mit seiner gesamten Lebenssituation ist nur Rachid, der eine erste reguläre Stelle in einem Industriebetrieb in der Eifel verlor und heute in Aachen sehr prekär von „verschiedenen kleinen Jobs“ leben muss. Fast alle ehemaligen Studenten berichten von den großen Schwierigkeiten, mit denen sie in den ersten Jahren in Deutschland konfrontiert wurden. Die deutsche Sprache, die viele von ihnen in Marokko gar nicht oder nur rudimentär gelernt haben, ist eine große Hürde. Dazu kommt das deutsche Studiensystem. Dieses funktioniert nicht nur anders als das nach französischem Vorbild aufgebaute marokkanische Bildungssystem. Es wurde auch als wenig strukturiert und mit verwirrend vielen Wahlfreiheiten beschrieben. Informations- und Beratungsmöglichkeiten waren kaum bekannt. Darüber hinaus mussten die meisten Studenten parallel zum Studium arbeiten,
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um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für die meisten erweist es sich als extrem schwierig, auf zusätzliches Geld zu verzichten, um bei einem Minimum an Arbeit noch ausreichend Zeit fürs Studium zu haben: „Das parallel zu machen ist schwierig für einen Ausländer. Erst mal die Sprache, zweitens das mit Geld und so. Und da muss man wirklich mal gucken, wie man sein Leben führt. Aber ich hätte eigentlich eine andere Richtung nehmen sollen. Ich hätte sagen sollen: Okay ich brauche nun das hier, aber nicht mehr als das. […] Also das heißt, ich brauche nur mein Zimmer zu bezahlen und was ich esse, und mehr nicht. Und dann [hätte] man so ein bisschen organisieren können.“ [Loutfi, Informatiker, AC]
Für viele ist es außerdem das erste Mal, dass sie fern der Aufsicht und Unterstützung durch die eigene Familie einen eigenen Haushalt führen müssen. Die Freiheiten und Freizeitmöglichkeiten, die ihnen die deutschen Studentenstädte bieten, verleiten insbesondere die männlichen Studenten teilweise dazu, diese zunächst einmal auszunutzen und „Halli Galli“ (Yakub) zu machen, statt sich auf das Lernen und die Universität zu konzentrieren. Inwiefern es meine Interviewpartner jedoch schafften, trotz der vielfachen Hürden ihr Studium erfolgreich zu absolvieren hing von mehreren Faktoren ab, die sich im Zusammenspiel als entweder förderlich oder hinderlich erwiesen: Zunächst spielt das Herkunftsmilieu eine Rolle: auffällig ist, dass alle die ihre Familie in einem städtischen Bildungsmilieu verorten einen Studienabschluss erreicht haben. Dabei mussten die Studenten aus privilegierten Familien in Deutschland zumeist auch arbeiten: „Wir mussten immer so Linienflüge nehmen, Royal Air Maroc oder Lufthansa. Das war sehr teuer. Und das Telefonieren war auch super teuer. Und ich wollte meinem Vater nicht zeigen, dass ich so viel Geld brauche. Weil sonst kann er meine Schwester und die anderen nicht [auch studieren lassen]. Und so hab ich ein bisschen gearbeitet […]. Und das war für meinen Vater – in Marokko ist [es] eine Schande zu arbeiten, nur arme Leute machen das. [Aber für mich] war das wunderbar. Du verdienst dein Geld, bist so ein bisschen frei.“ [Manar, ca. 40-jährige Absolventin, Bonn]
Dennoch erhielten sie oft zumindest eine gewisse finanzielle Unterstützung durch Eltern und Verwandte, die anderen Studierenden nicht zur Verfügung stand. Auf einen weiteren Faktor verwies der studierte Politologe Sami: Als Kind aus einem finanziell bessergestellten Beamtenhaushalt hätte er nicht den Drang gespürt, mehr als „nötig“ zu arbeiten. Während er bei seinen Heimaturlauben ganz selbstverständlich von der Familie auch ein Auto zur Verfügung gestellt bekam, beobachtete er, dass sich andere Kommilitonen während des Semesters verschuldeten, nur um in den Ferien mit einem geliehenen oder gekauften Auto und vielen Geschenken in ihre Heimatorte zurückkehren zu können. Und wenn sie dann erst einmal Schulden gemacht hätten, wäre es immer schwieriger geworden, weniger zu arbeiten, um das Studium erfolgreich abschließen zu können. Neben der finanziellen Unterstützung profitierten Studenten, die aus der gebildeten Mittelschicht stammten, auch von der Erwartungshaltung der Eltern. Wie für Majida war auch für Yakub und Louay der daraus resultierende Leistungsdruck zwar ei-
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nerseits eine Bürde, half ihnen jedoch andererseits dabei, ihr Ziel eines erfolgreichen Studienabschlusses trotz aller Schwierigkeiten nicht aus den Augen zu verlieren. Viele männliche Studienmigranten gingen bereits während des Studiums eine erste Ehe ein, häufig mit einer deutschen Frau. Hierdurch erhielten sie einen gesicherten Aufenthaltstitel und hatten weniger Probleme mit administrativen Angelegenheiten. Für das Studium hatte diese Entscheidung allerdings häufig negative Folgen: Der Druck, Scheine und Prüfungen vorlegen zu müssen, um in Deutschland bleiben zu dürfen, nahm ab. Gleichzeitig fühlten sich die Männer aufgrund der sehr klaren Rollenvorstellungen (besonders wenn sich Nachwuchs ankündigte) verpflichtet, finanziell für die Familie zu sorgen. Dies lief dann in der Regel auf die Annahme einer Vollzeitstelle und eine Beendigung des Studiums hinaus. Hiervon berichten sowohl Laite, Hakim und Karim, aber auch Samiha. Majida dagegen umschiffte diese ‚Familienfalle‘, indem sie ihre Priorität auf das Studium legte und eine Familiengründung bewusst zurückstellte. Als dritter wichtiger Einflussfaktor erwies sich die Motivation für ein Studium in Deutschland. So argwöhnte Sami, dass manche Marokkaner Anfang der 1990er Jahre weniger zum Zweck eines Studiums nach Deutschland einreisten, sondern eher auf der Suche nach einem besseren Leben waren. Seit dem Anwerbestopp war ein Studium neben einem Nachzug zum Ehepartner die einzige Möglichkeit, einen legalen Aufenthaltstitel in Deutschland zu erwerben. Auch wenn sich in den Interviews niemand in diese Richtung hin äußerte, scheint für Rachid doch die sofortige Aufnahme einer Arbeit deutlich wichtiger gewesen zu sein, als der Besuch des Studienkollegs, das die Voraussetzung für ein Studium darstellte. Bei den anderen, die zumindest zum Zeitpunkt ihrer Einreise das Ziel eines erfolgreich zu absolvierenden Studiums vor Augen hatten, war die entscheidende Frage ob sie sich selbst für ein Auslandsstudium entschieden hatten, oder ob sie sich von Freunden ‚mitschleifen‘ ließen oder dieses Auslandsstudium sogar von den Eltern als Aufgabe auferlegt bekamen (dies war z.B. bei Yassin der Fall). Während eine eigene Entscheidung die Wahrscheinlichkeit eines positiven Studienabschlusses erhöhte, wurde dies noch einmal gesteigert, wenn auch die Entscheidung für Deutschland sehr bewusst getroffen wurde. So nannten fast alle Befragten das zum Ausreisezeitpunkt im Vergleich zur Nachfrage zu geringe Angebot an Studienplätzen und das intransparente System der Studienplatzvergabe als wesentlichen Grund, warum sie ein Studium im Ausland anstrebten. Während für einige jedoch ein Studium in Deutschland nur eine Notlösung darstellte nachdem Bewerbungen beispielsweise in Frankreich oder den USA fehlgeschlagen waren, entschieden sich andere, besonders ehrgeizige Studenten sehr bewusst für Deutschland und die Herausforderung, die ein Studium hier aufgrund der neuen Sprache und des unbekannten Systems darstellte. Zuletzt ist festhalten, dass Glück und Fleiß, die Majida für ihren Studienerfolg verantwortlich macht, sicherlich auch nicht unwichtig waren: Manche brachen das Studium nach langer Krankheit bzw. einem Verkehrsunfall ab, andere bekamen anders als Majida in ihrem Wunschfach keinen Studienplatz zugewiesen und mussten etwas anderes studieren, das ihnen weniger lag. Und was das persönliche Engagement angeht, so bekennt die Studienabbrecherin Samiha sehr offen: „Ja, ich wollte hier weiter studieren. Aber habe ich nicht. Habe ich nicht geschafft. Mit Studienkolleg, aber nein. Danach habe ich geheiratet und direkt gearbeitet. Nicht lange im Studien-
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kolleg. Ich war Faulenzer zu lernen (kichert). […] Meine Schwestern [haben auch hier] studiert. Die ältere ist Ingenieurin. Die zweite auch, die hat geschafft. Die Jüngste, die studiert in Gummersbach. Sie hat auch nur ein Jahr und dann ist sie fertig. Also ich war bisschen faul (beide lachen).“ [Samiha, Kellnerin, Köln]
Gemeinsam ist den ehemaligen Studienmigranten somit nur ihr marokkanischer Schulabschluss sowie ihre Sprachkenntnisse, auf die sie in Deutschland als kulturelles Kapitel zurückgreifen können. Ihre aktuell eingenommenen sozio-ökonomischen Positionen dagegen spannen sich zwischen den beiden Extremen eines prekär beschäftigten Hilfsarbeiters und einer promovierten Ärztin auf. Die meisten jedoch haben ein Einkommen, mit dem sie sich und ihre Familie ernähren können sowie eine berufliche Tätigkeit, mit der sie sich zumindest arrangieren können. Insgesamt sind die Universitäts- und Ausbildungsabsolventen sowohl in Bezug auf ihren Beruf als auch ihre Gesamtsituation in Deutschland deutlich zufriedener als die anderen, von denen einzelne gerne an ihren Heimatort in Marokko zurückkehren würden, wenn es dort die Arbeitsmarktsituation zuließe (vgl. Kap. 6.2.2). 6.1.2. Arbeits- und Familienmigrant/-innen Die Gruppe der von mir interviewten Arbeits- und Heiratsmigrant/-innen ist aus den in Kapitel 4.2 genannten Gründen vergleichsweise klein. Anders als die ehemaligen Studienmigranten nehmen sie sehr ähnliche, einfache bis marginalisierte sozioökonomische Positionierungen ein. Als z.T. inzwischen arbeitsunfähige Industriearbeiter/-innen oder Aushilfskräfte in sozialen Einrichtungen verfügen sie nur in sehr beschränktem Maße über ökonomisches Kapital. Auch einen formellen Schulabschluss haben nur die wenigsten. Während jedoch Habiba, Hasna und Heba vor ihre Migration in Marokko die Sekundarstufe II (Collège) besuchten, haben Kamila, Takwa und Ketou selbst die dörfliche Grundschule nie von innen gesehen. Aufgrund der geringen Anzahl der von mir befragten Personen und ihrer zum Teil sehr unterschiedlichen und ungewöhnlichen Biographien, möchte ich hier drei Lebensgeschichten kurz skizzieren. Einen guten Einblick in durchaus typische Lebenswege und Lebenssituationen der nach Deutschland angeworbenen Gastarbeiter/innen bieten die Geschichten von Abdou und Habiba. Hasnas Lebens-, Leidens- und Migrationsweg dagegen ähnelt den Geschichten, die tausende andere illegale und/oder semi-legale Arbeitsmigranten zwischen Nordafrika und Europa erzählen können. Aber ihre Kurzbiographie gewährt auch einen Einblick in die Geschichte einer ungewöhnlich starken Frau, die den vielen Herausforderungen und kleinen und großen Katastrophen ihres Lebens mit viel Kampfgeist und Mutterwitz begegnet: Abdou (52) [Ankunft in Deutschland mit 16, Arbeitsmigratio, Familiennachzug] Abdou ist in Berkane, einer Kleinstadt im Nordosten Marokkos geboren. Mit 16 Jahren folgte er seinem Vater nach Bergheim und begann knapp ein Jahr später auf einer Baustelle zu arbeiten. Im Anschluss arbeitete er neun Jahre als Radladerfahrer bei einem Zulieferbetrieb für Rheinbraun. Als dieser Betrieb Konkurs anmeldete, wurde er entlassen. Seine nächste Arbeitsstelle fand er als Vulkanisateur. Seine Verträge für verschiedene Zulieferbetriebe waren immer befristet. Sobald
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sein Arbeitgeber eine Ausschreibung verlor, wurde er entlassen bzw. sein Vertrag nicht verlängert. Eine neue Anstellung fand er mehrfach bei dem KonkurrenzZulieferer, der die jeweilige Ausschreibung gewonnen hatte. Mit 40 Jahren hatte Abdou einen Arbeitsunfall. Da die eigentlich notwendige Operation von der zuständigen Stelle nicht genehmigt und nicht finanziert wurde, leidet er seitdem unter chronischen Gesundheitsschäden und wurde schließlich für arbeitsunfähig erklärt. Er lebt heute von seiner kleinen Rente. In seiner Freizeit engagiert er sich seit einigen Jahren in der lokalen Ausländer- und Integrationspolitik. Er berät seine „Landsleute“ bei Fragen zu Behördengängen und ähnlichen öffentlichen Anliegen, wird von seinen Bekannten aber auch um Vermittlung bei privaten, innerfamiliären Problemen gebeten. Obwohl er nie einen Deutschkurs besucht hat, ist er in der Lage sich verständlich, wenn auch nicht fehlerfrei, auf Deutsch zu unterhalten. Mehrmals verheiratet, ist er heute geschieden und lebt mit einem Sohn zusammen in einer Mittelstadt im Rhein-Erft-Kreis.
Habiba (59) [Ankunft in Deutschland mit 22, Arbeitsmigration ] Habiba ist in Tetouan, in Mittelmarokko geboren. Ihre Eltern gehören der Mittelschicht an: Der Vater ist Polizist in höherer Stellung, die Mutter arbeitet als Bedienstete im Königspalast. Sie selbst besuchte das Gymnasium. Mit 16 begann sie, als Sekretärin in einem Kinderheim zu arbeiten. Ihre Schulbildung brach sie daher vor Erreichen des Abiturs ab. Als an ihrem Heimatort bekannt wurde, dass junge unverheiratete Mädchen als Arbeiterinnen für eine Süßwaren-Fabrik in Aachen gesucht wurden, bewarb sich Habiba – zunächst gegen den Willen der Eltern. Sie erhielt ihren Pass und wurde 1972 nach Aachen gebracht. Wie die meisten Arbeitsmigranten wohnte sie zunächst in einem Arbeiterinnenheim. Den Deutschkurs, den sie abend nach der Arbeit besuchen konnte, brach sie nach wenigen Monate ab, da er für sie neben der harten Arbeit und ihren Haushaltspflichten zu anstrengend wurde. Nach einigen Jahren heiratete sie einen in Deutschland lebenden Marokkaner, sie bekamen einen Sohn. Inzwischen ist sie geschieden. Sie lebt heute alleine, jedoch im gleichen Haus wie ihr Sohn. Seit 2004 ist sie krankheitsbedingt arbeitsunfähig und muss von ihrer kleinen Rente leben. Habiba bedauert heute ihr „Lindt-Deutsch“, sie würde gerne besser sprechen. Ihre Eltern hätten sie bei jedem Heimaturlaub gefragt und gedrängt, wann sie denn ihre Bildung fortsetzen würde, sie hätte jedoch einfach keine Kraft dafür gehabt.
Hasna (53) [Ankunft in Italien mit 40, Arbeitsmigration – geschleust] Hasna wurde in Kenitra geboren. Sie wuchs in einer einfachen Familie mit insgesamt sechs Geschwistern auf. Besonders ihren jüngeren, behinderten Bruder liebte sie sehr. Ihr Vater starb sehr jung, daher brach Hasna ihren Schulbesuch in der Oberstufe ab, um arbeiten zu gehen. Sie fand eine Stelle als Haushaltshilfe bei einer deutschen Familie. Der Zustand ihres behinderten Bruders verschlechterte sich und die Familie benötigte Geld für die Operation. Nachdem ein anderer Bruder beim Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken war, ließ Hasna sich 1997 nach Italien schleusen. Noch im gleichen Jahr starb ihr jüngerer Bruder. Sie selbst
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sollte in die Prostitution gezwungen werden, wurde jedoch von einer Organisation aufgefangen. Sie erhielt eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, beklagt sich jedoch, dass sie immer nur schwarz arbeiten durfte – selbst bei einer Juristin im Haushalt. Sie arbeitete u.a. in Hotels und Restaurants in verschiedenen Städten in Italien. Mit gut 40 Jahren war sie dabei selbstbewusst genug, die oft an sie adressierten Forderungen nach sexuellen Dienstleistungen zurückzuweisen. Nach dem Tod ihrer Schwester kehrte sie kurz nach Marokko zurück, fand dort aber keine Arbeit und reiste daher nach Frankreich aus. Dort lebte und arbeitete sie im Großraum Paris. Nachdem es Probleme mit ihrer Aufenthaltsgenehmigung gab, wurde sie von einer ehemaligen Arbeitgeberin nach Berlin eingeladen. Dort pflegte sie deren Tante, bis diese starb. Danach holte sie ihr Deutsch-Ägyptischer Ehemann, an den sie von einer Bekannten vermittelt worden war, nach Bonn. Dort arbeitete sie ebenfalls, ihr Mann nahm ihr jedoch das Geld ab, und misshandelte sie. Von einer Scheidung wurde ihr abgeraten, da sie kein eigenständiges Aufenthaltsrecht besaß. Noch vor Ablauf der 3-Jahres-Frist starb ihr Mann. Seitdem lebt Hasna alleine in Bonn und arbeitet geringfügig beschäftigt als Küchenhilfe. Ihre befristete Aufenthaltsgenehmigung wurde 2011 um ein weiteres Jahr verlängert. Wie es dann weiter geht, ist unklar. Als vormals begeisterte Sportlerin (Kanu, Ballett, Judo) und in Erinnerung an ihren eigenen Bruder organisiert Hasna ihrer eigenen prekären Lage zum Trotz mit viel Einsatz und Begeisterung Sach- und Geldspenden für behinderte Kinder und Sportler in ihrer Heimatstadt und gibt dafür auch einen Teil ihres eigenen, geringen Einkommens aus. Unter den von mir befragten Heiratsmigrantinnen zeigen sich nicht nur individuell unterschiedliche Lebenswege, sondern sehr stark auch divergierende Dispositionen: Die drei Frauen, die ich in einem Deutschkurs in Bergheim antreffe, kommen gebürtig aus einem dörflichen, berbersprachigen Umfeld in Nordmarokko. Kamila und Takwa, die beiden älteren, sind Analphabetinnen. Fatou, die ca. 35-jährige Mutter von drei Kindern dagegen hat in der Schule etwas Arabisch schreiben und lesen gelernt. Deutsch lernen sie alle erst jetzt nach über zehn Jahren Aufenthalt in Bergheim. In der Gruppendiskussion mit ihrer im europäischen Ausland geborenen Deutschlehrerein und einer marokkanischer Studentin als Dolmetscherin wird deutlich, dass die Hauptsorgen der drei Frauen ihren Kindern und ihren Haushaltsaufgaben gelten. Eine hierüber hinaus gehende Arbeitstätigkeit streben sie nicht an. Auch ihre sehr engagierte und verständnisvolle Deutschlehrerin wundert sich manchmal: Mit dem (wahrscheinlich fiktiven) Geburtsdatum in ihrem Pass kann sich Takwa nicht identifizieren. Kamila weiß nicht genau, wie ihr Mann mit Nachnamen heißt. Und Fatou bemüht sich zwar, findet es jedoch extrem schwierig, sich den Namen der Schule ihrer Kinder zu merken. Verständlich werden diese Schwierigkeiten, wenn man sich die soziale Umwelt vorstellt, in der die drei Frauen sozialisiert wurden. Im dörflich-landwirtschaftlichen Kontext war es für sie möglicherweise niemals notwendig, ein Formular auszufüllen. Wann sie Geburtstag hatten, war unwichtig, ihren Mann kannten alle auch ohne seinen Nachnamen und ihre Kinder besuchten die selbe Schule wie alle Kinder im Dorf. Wird nun ein in diesem spezifischen Kontext erworbener geschlechtsspezifischer Habitus nach Bergheim ‚mitgebracht‘ und in dem Lebenskontext der kleinen marokkanischen Community kaum verändert, so muss er
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von außenstehenden Beobachtern wie der Deutschlehrerin als Hysterestis erlebt werden: Die erworbenen alltäglichen und selbstverständlichen Praxisschemata „passen“ nun nicht mehr in die neue Lebenswelt einer durchbürokratisierten, schriftgestützten Gesellschaft. Dass jedoch ein lokaler Sozialisationskontext keineswegs schicksalsbestimmend sein muss, zeigt die Biographie von Ketou. Sie wurde als Kind ebenfalls in einem ländlichen Kontext in Marokko sozialisiert. Sie war jedoch schon immer rebellisch veranlagt. Als Erwachsene sah sie die Migration nach Deutschland als Möglichkeit, den strengen Normen und Regeln ihres Lebensumfeldes zu entfliehen und sich das ihr zuvor vorenthalte kulturelle Kapital zu erkämpfen: Ketou (53) [Ankunft in Deutschland mit 18, Heiratsmigration] Geboren wurde Ketou in einem kleinen berbersprachigen Dorf in Mittelmarokko. Ihr Vater war Bürgermeister, die Familie vergleichsweise wohlhabend. Ihre Mutter starb jedoch als sie fünf war und auch drei ihrer sechs Geschwister überlebten die Kindheit nicht. Der Vater zog mit den Kindern aus dem Dorf in eine größere Stadt, damit u.a. ihr Bruder dort in die Grundschule gehen konnte. Ketou wollte ebenfalls in die Schule, durfte dies als Mädchen jedoch nicht. Mit 16 wurde sie zum ersten Mal gegen ihren Willen verheiratet. Sie lief weg und wurde von ihrer Familie wieder aufgenommen. Mit 18 heiratete sie einen Marokkaner aus Deutschland, der ihr Dorf im Heimaturlaub besuchte. Sie zog zu ihm in eine Kleinstadt im Kreis Aachen, wo er im Bergbau arbeitete. Ihre Nachbarin brachte ihr die ersten Wörter Deutsch bei und vermittelte ihr einen Deutschkurs. Ketous Mann war weder mit ihrem Deutschkurs, noch mit der Putzstelle, die sie annahm, einverstanden. Da sie Angst vor seinen Wutanfällen hatte, bekam sie ihre erste Tochter in Marokko bei ihrer Familie. Nach mehrfachem Hin- und Her ließ sie sich scheiden. Als alleinerziehende Mutter musste sie Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung koordinieren. Darüber hinaus organisierte sie einen privaten Deutschkurs und machte sogar ihren Führerschein. Von den marokkanischen Männern im Ort wurde sie bald als schlechtes Beispiel geächtet. Nachdem sie verschiedene Jobs angenommen hatte, arbeitet sie nun seit vielen Jahren in einer Süßwarenfabrik in Aachen in der Produktion. Nachdem ihre beiden Töchter für Heirat und Studium ausgezogen waren, ist Ketou nach Aachen gezogen, wo sie auch sehr gute Kontakte zu anderen Frauen in der Moschee hat. Dank ihrer eifrigen Bemühungen kann sie heute – zwar langsam und etwas mühsam – sowohl den Koran auf Deutsch entziffern als auch E-Mails schreiben und sich im Internet zurechtfinden. Von einer ähnlichen Mehrfachbelastung durch berufliche Tätigkeit und Reproduktionsarbeit berichtet auch Heba. Ursprünglich für ihre Schulbildung nach Belgien geschickt, brach sie diese ab und zog mit ihrem Mann nach Aachen. Inzwischen geschieden, schafft sie es heute – mit zwei Jobs als Küchenhilfe und Geschäftsinhaberin immer an der Belastungsgrenze – ihre fünf Kinder zu versorgen. Ganz andere Sorgen haben die als Ehepartner von Deutsch-Marokkaner/-innen einreisenden Personen, die wie Souhaila oder die Männer von Faiza und Latifa zu-
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nehmend auch aus klein- oder großstädtischen Bildungshaushalten stammen: Als Universitätsabsolventin stellt Souhaila fest, dass sie ihre ursprünglichen Karrierepläne durch ihre Heiratsmigration gefährdet hat. Mit ihrem marokkanischen Abschluss wird sie in Deutschland nicht zur Promotion zugelassen. Sie müsste hierfür ihr gesamtes Studium wiederholen. Für sie bedeutet die Migration daher eine gefühlte Herabstufung im sozio-ökonomischen Gefüge. Sie hofft zwar noch auf eine Lösung, betont aber, dass sich nach aktuellem Stand gegen Heirat und Migration entscheiden würde, wenn sie noch einmal wählen dürfte. 6.1.3. ‚Deutschländer‘: Die Kinder und Enkelgeneration Insgesamt vierzehn meiner Gesprächspartner/-innen sind in Deutschland geboren und/ oder haben hier ihre wesentliche Sozialisation erfahren. Sie können somit als Angehörige der sogenannten „zweiten Generation“ betrachtet werden. Der erst mit 14 Jahren nach Deutschland zugezogene Mimun dagegen wäre offiziell der „1,5ten Generation“ zuzurechnen.2 Im Schnitt sind diese Personen mit zwischen 20 und 35 Jahren etwas jünger als die vorgestellten Studienmigranten. Sie sind daher z.T. noch in der Ausbildungsphase bzw. erst kürzer in den Arbeitsmarkt integriert. Nur wenige von ihnen sind bereits verheiratet oder haben eigene Kinder. Aufgrund dieser differierenden biographischen Positionierungen thematisierten sie auch in den Interviews sehr viel häufiger Erfahrungen und Erlebnisse aus ihrer Kindheit, wobei sowohl innerfamiliäre Beziehungen und Prozesse als auch bildungsbiographisch relevante Elemente zur Sprache kamen. Die äußert komplexe und wichtige Debatte über „Soziale Ungleichheit in der Einwanderungsgesellschaft“ (Pielage et al. 2012) kann an dieser Stelle nicht in der notwendigen Breite und Tiefe aufgenommen werden. Angesichts der von Migrationsforschern konstatierten „in keinem anderen europäischen Einwanderungsland so deutliche[n] Vererbung der sozialen Startnachteile auf den Ebenen von Erziehung, Bildung, Ausbildung und Erwerbsbeteiligung“ (Bade 2007, 62), stellt sich dennoch die Frage, über welche Ausstattung mit kulturellem und ökonomischem Kapital die in Deutschland geborenen Kinder der Arbeitsmigranten heute verfügen. Inwiefern unterscheiden sich ihre Positionierungen von denen ihrer Eltern? Und welche zentralen Einflussfaktoren für ihren jeweiligen Werdegang machen sie selbst geltend bzw. können aus ihren Erzählungen als relevante Elemente abgeleitet werden? Ausgehend von den in den Interviews her- und dargestellten Erzählungen über Lebensläufe und Positionierungen lassen sich bei den in Deutschland (teil-)
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Die in der Migrationsforschung übliche Unterscheidung zwischen 2. und 1,5. Generation bezieht sich auf den Ort der Primärsozialisation und das Alter der Einschulung im Ankunftsland. Häufig wird die Altersgrenze für Angehörige der 2. Generation daher auf sechs Jahre gesetzt (Einschulung in Deutschland); vgl. Fincke (2009, 83f.); Crul und Vermeulen (2003, 679). Ich rechne hierzu jedoch auch die mit sieben und acht Jahren Zugezogenen hinzu, da diese keine wesentlichen biographischen Unterschiede aufweisen. Abdou liegt aufgrund seiner Einreise mit 16 Jahren genau auf der rechnerischen Grenze zwischen 1. und 1,5. Generation. Da er jedoch sofort in den Arbeitsmarkt integriert wurde, habe ich ihn in die Gruppe der Arbeitsmigranten eingeordnet.
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sozialisierten Personen fünf bildungs- und berufsbiographische ‚Profile‘ unterscheiden: 1) Rihane, Latifa, Daoud, Taufik sowie Raif stellen ihre Bildungsbiographien als vergleichsweise reibungslos dar. Sie haben ‚klassische‘ Ausbildungen im kaufmännischen Bereich (Männer) bzw. in Assistenz- und Pflegeberufen (Frauen) absolviert. Heute arbeiten sie als Angestellte oder selbstständige Geschäftsinhaber. Für Latifa resultierte die temporäre Arbeitslosigkeit ihres Mannes, zusammen mit ihrer eigenen Elternzeit (die sich ungewünscht in die Länge zieht, da sie keine adäquate Betreuung für ihre drei Töchter im Kindergarten und Grundschulalter findet) in einer finanziell eher prekären Situation. Die anderen scheinen jedoch sowohl mit ihrem Einkommen als auch ihren gewählten Berufen und gesellschaftlichen Positionen weitgehend zufrieden zu sein. Sie vermitteln in den Gesprächen das Gefühl, an einem Punkt zu stehen, der ihrer habituellen Prägung entspricht. Erreichbares, Erreichtes und das für angemessen Gehaltene scheinen für sie persönlich übereinzustimmen (vgl. Bourdieu 1982, 734f.). Auch wenn sie nur wenig Ambitionen aufzeigen, haben sie sich dennoch erfolgreich in einer Dienstleistungsgesellschaft eingerichtet: Anders als ihre Eltern sind sich nicht auf Industrie- und Fabrikarbeitsplätze oder andere ungelernten Arbeitern offenstehende Jobs angewiesen. 2) Etwas anders präsentieren sich Loubna, Amina, Faiza, Achraf und Amal. Stärker an einem Bildungsaufstieg orientiert, erfahren sie „Bildung als Hürdenlauf“ (Heinrich Böll Stiftung 2009). Sie schaffen es alle bis zum Abitur. Auf dem Weg dahin kämpfen sie jedoch mit strukturellen Barrieren wie einer selektiven Durchlässigkeit des Schulsystems (die heutige Bachelor-Absolventin Amina bekam in der 4. Klasse nur eine Hauptschulempfehlung)3, Diskriminierungserfahrungen im Bildungsbereich (Loubna, Amina, Achraf) oder handfesten Sprachproblemen (Faiza berichtet von einer Schreib- und Leseschwäche). In ihren Familien fühlen sie sich (mit Ausnahme Achrafs) emotional gut aufgehoben. In Bildungsangelegenheiten unterstützen können ihre Eltern sie jedoch nicht. Nicht weil sie es nicht wollen, sondern weil sie es aufgrund ihrer fehlenden Sprachkenntnisse und z.T. fehlenden eigenen Erfahrungen mit schulischer Bildung kaum können. So müssen sich die Kinder ihren Bildungserfolg weitestgehend selbstständig erarbeiten. Loubna, die als erste in ihrer Familie Abitur macht, schließt eine Ausbildung zur Arzthelferin an. Somit positioniert sie sich zwischen ihre älteren Geschwister, die schnell nach ihrer Ankunft in den deutschen Arbeitsmarkt eingegliedert wurden (Brüder) bzw. in einer neugegründeten Familie die Reproduktionsarbeit übernahmen (Schwester) einerseits, und ihre
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Dass dies kein Einzelfall ist, sondern schichtspezifisch differenzierte Gymnasialempfehlung systemisch erfolgen, zeigen die neueste Grundschulstudien (Iglu und Timss 2011). Der Bildungsforscher Wilfried Bos resümiert „Nach unsere Studie bekommt vom besten Drittel der Grundschüler wiederum jeder Dritte keine Gymnasialempfehlung. Das sind vorwiegend Kinder aus sozial schwächeren Schichten, die intellektuell dem Gymnasium durchaus gewachsen wären.“ Die Lehrer handeln ihm zufolge im Rahmen des bestehenden Schulsystems dabei durchaus rational, denn „in ihrer Prognose berücksichtigen sie nicht nur die Leistung der Schüler, sondern auch das Umfeld. Ein Arbeiterkind hat nicht unbedingt die nötige Unterstützung in der Familie oder in der Schule, die es braucht um am Gymnasium zu bestehen“ (Bos 13.12.2012).
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jüngste, in Deutschland geborene Schwester andererseits, die ein Studium aufgenommen hat. Achraf und Faiza haben beide angefangen zu studieren, brachen ihr Studium jedoch ab, als sie eine Familie gründeten bzw. in eine selbstständige Tätigkeit glitten. Beide haben jedoch vor, ihr Studium zu beenden oder als Fernstudium auf anderem Wege fortzusetzen. Während sich Amal noch auf dem zweiten Bildungsweg (Abendgymnasium) befindet, steht Amina kurz vor ihrem ersten Studienabschluss. 3) Auch Yasmina, Ines und Najib können als aufstiegs- und bildungsorientiert beschrieben werden: Ines hat nach ihrem Abitur erst eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen und dann ein Studium der Sozialpädagogik angeschlossen. Yasmina hat nach ihrem Abitur in Belgien und ihrer Heiratsmigration nach Deutschland eine kaufmännische Ausbildung absolviert, „um die Sprache und einen Berufsabschluss in einem“ zu erreichen. Heute bedauert sie zwar, dass sie damals „falsch beraten“ wurde und daher nicht studiert hat. Als Unternehmensberaterin verfügt sie heute jedoch sowohl über ein gutes Einkommen als auch einen vergleichsweise prestigeträchtigen Job. Najib, mit 16 Jahren der Jüngste unter meinen Befragten, geht derzeit in die Oberstufe eines bilingualen Gymnasiums. Er weiß schon, dass er danach gerne „etwas internationales“ studieren möchte, idealerweise im Bereich Wirtschaft. Gemeinsam ist allen dreien, dass sie auf ihrem Bildungsweg vergleichsweise stark durch ihre Eltern unterstützt wurden. Besonders die Mütter spielten dabei eine zentrale Rolle: Während alle drei Väter in Marokko keinerlei Schulbildung erhielten, kamen die Mütter von Ines und Yasmina aus Familien der gebildeten marokkanischen Mittelschicht. Yasmina und ihre Geschwister wurden dabei sowohl von der Mutter als auch vom Vater (der ihnen ein Schicksal als Arbeiter in der Stahlindustrie ersparen wollte) angehalten soviel zu lernen, wie es geht. Ines Mutter eignete sich Tipps und Hinweise für eine erfolgreiche Schulbildung ihrer Kinder in den Mittelund Oberschichthaushalten an, in denen sie als Putzhilfe arbeitete. Die Mutter von Najib hat selbst einen deutschen Realschulabschluss. Sie kennt sich daher mit dem deutschen Bildungssystem gut aus und konnte schnell Hilfe organisieren, als er in der Grundschulzeit einen Sprachfehler entwickelte. 4) Instabiler Berufseinstieg: unter den in Deutschland geborenen Personen ist der gerade 23-jährige Farid am stärksten auf der Suche. Nach einem Ort, an dem er sich zugehörig fühlen kann, ebenso wie nach einem Beruf bzw. einer Berufsausbildung, die ihm eine Zukunftsperspektive eröffnet. Nach seinem Hauptschulabschluss hat er bereits zwei Ausbildungen begonnen und abgebrochen. Derzeit arbeitet er als Speditionshelfer. Er hofft auf eine Ausbildung in seinem Betrieb und träumt von einer Emigration nach Marrakesch, wo sein Vater mit seiner neuen Frau wohnt. Im Gespräch begründet er seine gescheiterten Ausbildungsversuche nicht. Deutlich wird jedoch, dass sowohl die Scheidung seiner Eltern als auch der Spagat zwischen häuslicher und schulischer Umwelt eine Rolle spielten, ebenso wie seine Musikkarriere, die bei ihm nach eigener Aussage in „Party, Alkohol, Drogenkonsum“ ausartete. Einen Halt hat er seit kurzer Zeit in der von ihm neu entdeckten und nun streng praktizierten Religion gefunden. Dass eine solche gebrochene, krisenhafte Biographie unter meinen Interviewpartner/-innen als Einzelfall erscheint, mag zwei Gründen haben: Ganz allgemein verlangt ein narratives Interview von den Befragten eine gute Portion Selbst-
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bewusstsein und das Bewusstsein, „etwas zu erzählen zu haben“. Während Farid darüber ganz offensichtlich verfügte, war dies bei anderen Personen in einer krisenhaften Situation nicht unbedingt der Fall. Eine junge Frau, die mit einem mittelmäßigen Hauptschulabschluss und einer derzeitigen Tätigkeit als 1-Euro-Jobberin ebenfalls gerade vor der Frage stand „was mache ich mit/aus meinem Leben?“ unterhielt sich lange mit mir und erzählte auch ausführlich von ihrem Leben. Ein formelles Interview jedoch wollte sie nicht geben: „Ich habe genug Probleme. Da hilft es nicht, darüber zu reden. Ich muss sie erst lösen“. Während dementsprechend einerseits davon auszugehen ist, dass sich Personen mit einer krisenhaften Biographie wesentlich seltener zu einem (narrativbiographischen) Interview bereit erklären, konstatiert Berriane (2007, 286ff.) andererseits, dass derartige krisenhaften Biographien bei Marokkanern der zweiten Generation heute allgemein deutlich seltener in Erscheinung treten, als dies noch Anfang der 1990er Jahre bei den damals im Familiennachzug nachgereisten, bereits älteren Kindern der Fall war, d.h. besonders den schulischen Seiten- und Quereinsteigern der 1,5. Generation (vgl. hierzu auch Bouras 2006, 233).4 5) Der letzte meiner Interviewpartner ist Mimun. Obwohl er aufgrund seiner Einreise mit vierzehn Jahren als „Quereinsteiger“ in das deutsche Bildungssystem integriert wurde, ähnelt seine Bildungsbiographie eher den bereits vorgestellten erfolgreichen und geförderten Kindern der zweiten Generation. Anders als einige Klassenkameraden in seiner Seiteneinsteigerklasse, die noch nie zuvor eine Schule besucht hatten, war er in Marokko nicht nur auf Arabisch und Französisch alphabetisiert worden, sondern war auch gewohnt, Klassenbester zu sein. Sein Vater, der in Düsseldorf bei den Mannesmann-Werken arbeitete, gehörte in seinem Heimatort in Marokko zu den einflussreichen Führern eines Berber-Stammes. In Deutschland schickte er seine Kinder in eine Hausaufgabenbetreuung und diverse Sportvereine und Freizeiteinrichtungen. Nachdem Mimun den ersten Schock überwunden hatte, mit Analphabeten in einer Klasse zu sitzen und eine neue Sprache lernen zu müssen, schaffte er es mithilfe seines kulturellen Kapitals, seiner Intelligenz und der vom Vater organisierten Unterstützung als Quereinsteiger auf direktem Weg bis zum Abitur. Nach seiner Ausbildung im Verwaltungsbereich wurde er übernommen. Ab diesem Zeitpunkt entzog er sich jedoch gesellschaftlichen Zielvorstellungen von Karriere und Aufstiegsverpflichtungen: Zunächst reiste er zwei Jahre durch Südamerika. Seit seiner Rückkehr arbeitet er halbtags bei seinem Bruder als Verkäufer im Einzelhandel.
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Zu den gender- schicht- und familienspezifischen Faktoren, die bei diesen Jugendlichen eine „abweichende Lebensführung“ bis hin zur Delinquenz förderten oder eingrenzten vgl. die detaillierte Beschreibung und Analyse von Weigt und Lorke (1994) , die in Frankfurt eine Gruppe von marokkanischen Jugendlichen mit krisenhaften Bildungsverläufen mit einer Gruppe (männlicher) Lehrlinge verglichen: im Gegensatz zu den Eltern der ersten Gruppe – ohne Schulbildung, aus dörflichem Kontext stammend und mit rein autoritär ausgerichteten Erziehungsstrategien – waren die Eltern der zweiten Gruppe (auch) städtisch sozialisiert. Einige Väter (und Mütter!) hatten eine Grundschulbildung (7 Jahre) und auch die Erziehungsstrategien waren liberaler, das Verhältnis vertrauensvoller. Zu den spezifischen Problemlagen junger marokkanischer Frauen vgl. auch die Fortsetzungsstudie (Weigt 1996).
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Die Zeit, die ihm nun zur Verfügung steht, benutzt er, um sich seinen privaten Bildungsinteressen zu widmen und in regelmäßigen Abständen nach Marokko zurückzureisen, wo er sich in Tanger einen international zusammengesetzten Freundeskreis aufgebaut hat und in Nador an einem Museums- und Kulturprojekt mitarbeitet. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass neben den hemmenden und einschränkenden Faktoren des deutschen Bildungssystems (denen die Befragten in ähnlicher, jedoch nicht gleicher Weise unterworfen waren) drei weitere Komponenten den Bildungsaufstieg und die Art der Arbeitsmarktintegration beeinflussten. Analog zu den Erkenntnissen von Bouras (2006) in ihrer quantitativen Studie zum Bildungserfolg deutsch-marokkanischer Kinder und Jugendlicher in NRW zeigte sich auch in meinen Interviews, dass neben einer persönlichkeitsrelevanten Komponente (eigene Zielvorstellungen und Fleiß; s.o. Mimun) auch zwei von den Kindern nicht beeinflussbaren Faktoren (Alter bei Einreise und Schuleingliederung sowie die innerfamiliäre Konstellation) dafür sorgten, dass die Kinder der Arbeitsmigranten, obwohl sie in einem ähnlichen „Milieu“ aufwuchsen, doch über unterschiedliche Startbedingung für ihre Bildungs- und Berufslaufbahn verfügten: Je jünger sie bei der Einreise waren und je mehr ältere Geschwister sie hatten, die sie eventuell beraten und ihnen helfen konnten, desto höher war ihre Chance auf einen erfolgreichen, auch höheren, Bildungsabschluss. Das Bildungsniveau und die Bildungsaspirationen sowie gute Deutschkenntnisse der Eltern, besonders der Mütter, wirkten sich ebenfalls positiv aus. Neben der eigenen Unterstützung der Lernbemühungen der Kinder fiel es den aus etwas privilegierteren Familien in Marokko stammenden Eltern offensichtlich auch leichter bzw. gelang es ihnen aufgrund ihrer entsprechenden Dispositionen schneller, für ihre Kinder auch in Deutschland externe Hilfsangebote (Hausaufgabenbetreuung u.ä.) zu organisieren. Ob die Kinder dann jedoch wie Faizas Schwester auf der Basis sehr schwieriger Bedingungen als „Karrieretussi“ durchstarten, oder aber, wie Mimun, auf der Basis vergleichsweise vorteilhafter Bedingungen Karriere und formeller Bildung den Rücken kehren um ein selbstbestimmteres Leben zu führen – darüber entscheiden letztendlich die sowohl sozial als auch individuell ausgeprägte Dispositionen.
6.2. W OHNORTE , N ETZWERKE
UND
Z UGEHÖRIGKEITEN
Nachdem im letzten Kapitel die Lebenswege meiner Gesprächspartner sowie die Vielfalt ihrer Positionierungen im sozialen Raum vorgestellt wurden, soll im Folgenden danach gefragt werden, welche Bedeutung sie unterschiedlichen RaumKategorien zuweisen und welche Möglichkeiten raumbezogener Identitätsartikulationen (Pott 2002, 115) hierdurch eröffnet werden. Ausgehend von dem in Kap. 2.2 erarbeiteten Verständnis von Raum und Ort sowie dem dort erläuterten phänomenologischen Zugang zur potenziellen Bedeutung von Räumen und Orten für Biographien, Dispositionsausprägungen und Zugehörigkeitsgefühlen lassen sich zu diesem Zweck mehrere unterschiedliche, jedoch ineinandergreifende biographisch relevante Raumdimensionen unterscheiden. Mithilfe dieses analytisch-heuristischen Schemas (vgl. Abb. 17 unten) kann die Fülle narrativ-biographisch her- und dargestellter Raumbezüge differenziert und strukturiert werden.
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Analog zu den unten graphisch dargestellten ineinandergreifenden Raumdimensionen setzt meine Darstellung in einem ersten Schritt an den konkreten alltäglichen Lebensräumen der betreffenden Personen an (Kap. 6.2.1). In diesem Fall ist dies ihr aktueller Wohn- und Lebensmittelpunkt im klein- oder großstädtischen Raum. In Bezug auf die Frage nach raumbezogenen Identitätskonstruktionen ist dieser lokale Kontext nicht nur deshalb von Interesse, weil sich hier – zumindest für die von mir Befragten – weiterhin ein Großteil des täglichen Alltagslebens in Form von Wohnen, Arbeiten, Versorgen und Freizeitgestaltung abspielt. Neuere Ansätze und Studien aus dem Bereich der Migrationsforschung verweisen darüber hinaus auf die gesteigerte Bedeutung von lokalräumlichen Kategorien als Bezugs- und Projektionsflächen individueller Zugehörigkeiten und raumbezogener Identifizierungen. In dem Kontext einer „Einwanderungsnation wider Willen“ (vgl. u.a. Bade 2007, 52) offerieren lokale Bezüge „einen Ausweg aus dem Dilemma, sich in einer Gesellschaft verorten zu müssen, die gerade dies verweigert“ (Schulze 2007, 100). Sie bieten – zunächst theoretisch – die Möglichkeit „national kodierten Eindeutigkeiten zu entgehen und mehrheitsgesellschaftliche Zuordnungsprozesse zu unterlaufen“ (Schulze 2007, 107). Um diese möglichen identifikativen Bezüge auf städtische Lebenskontexte diskutieren zu können, werden im Folgenden zunächst die Wohnorte der Interviewpartner/-innen vorgestellt und erläutert: Wie und warum sind sie in die jeweilige Stadt gekommen? Welche Präferenzen und welche externen, strukturellen Faktoren haben ihre Wohnstandortwahl beeinflusst? Und wie beschreiben und bewerten sie heute ihre alltägliche Lebenswelt? 5 Hierauf aufbauend geht der zweite Teil des Kapitels (6.2.2) auf die – teilweise gleichzeitig erlebten, hier aus analytischen Gründen jedoch getrennt dargestellten – „erweiterten biographisch angeeignete Lebensräume“ ein (s u.). Hierzu gehören Orte und Regionen, die in Form von persönlicher Mobilität mehr oder weniger regelmäßig aufgesucht und so als raum-zeitliche Konstellationen immer wieder neu erfahren werden (z.B. Wohnorte von Verwandten, Urlaubsorte in Marokko etc.). Aber auch Orte, zu denen über egozentrierte Netzwerke und virtuell-kommunikative Kontakte regelmäßiger Kontakt aufrechterhalten wird, fasse ich unter diesen heuristischen Raumbegriff (z.B. wenn regelmäßig am Abend mit der Cousine in Marokko gechattet oder mit dem Verlobten in Norwegen telefoniert wird). Eine etwas andere Dimension stellen die Orte dar, die im Lebensverlauf eine biographische, erlebnisgenerierende oder dispositionsprägende Bedeutung hatten, jedoch aktuell entweder gar nicht mehr
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Die Frage nach dem Zusammenhang von Segregation und Integration – die die stadtgeographische und stadtsoziologische Migrationsforschung seit den Anfängen der Chicagoer Schule ganz zentral umtreibt (vgl. u.a. Fassmann 2007, 8f.) – wird in dieser Arbeit nur insofern thematisiert, als sie von den Interviewten selbst in die Gespräche eingebracht wurde. Eine Aussage darüber, ob und inwiefern sich das Leben in einem ethnisch segregierten Stadtviertel positiv, negativ oder gar nicht auf die individuellen Chancen zur strukturellen Integration auswirkt, kann aus der für diese Studie durchgeführten Feldforschung nicht abgeleitet werden (zur kontroversen Diskussion über die hier angesprochenen Zusammenhänge vgl. u.a. Heitmeyer (1998); Krämer-Badoni (2001); Siebel und Häußermann (2001); Friedrichs und Blasius (2001); Pott (2002); Richter (2006); Farwick (2007); Gestring (2007); Farwick (2009); Gestring (2011).
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aufgesucht werden, oder aber in der erinnerten Bedeutung nicht wieder aktualisiert werden können (wobei wie folgt zu zeigen solche „erinnerten Räume“ und dort lebenden Personen auch wieder ‚neu‘ angeeignet und mit biographischer Bedeutung belegt werden können). Abbildung 17: Räume aus biographischer Perspektive
Quelle: Eigene Abbildung, © M. Didero
Intersubjektiv geteilte Raumimages und medial vermittelte Raumkonstruktionen wirken sich (wie in Kap. 2.2 gezeigt) selbstverständlich auch auf die subjektive Wahrnehmung und die an diesem Ort erlebten und erinnerten Ereignisse und sozialen Interaktionen aus (vgl. hierzu auch Attia 2009, 122f.). Biographisch erlebte Räume lassen sich daher von Raumdiskursen nicht separieren. Mithilfe dieser hier schematisch noch einmal gesondert ausgewiesenen Raumkategorie wird es jedoch möglich, die von meinen Interviewpartner/-innen relevant gemachten Unterschiede zwischen „Medienimages“ und ihren „Alltagsräumen“ zu erfassen (vgl. den Einzelfall Amal und im Folgenden das Beispiel Bonn Bad-Godesberg). 6.2.1. Stadträume und Wohnstandorte Wie bereits gezeigt, weist NRW nicht nur den größten Anteil marokkanischer Zuwanderer, sondern auch den höchsten Anteil marokkanischer Studenten auf. Wenig erstaunlich ist es daher, dass heute in den drei großen Universitätsstädten Aachen, Köln und Bonn sowohl ehemalige Studienmigranten als auch Arbeitsmigranten und ihre Kinder wohnen. Etwas überraschender mag sein, dass in den historisch industriell geprägten kleineren Städten im Umkreis von Aachen und Köln neben den dort angeworbenen Arbeitsmigranten heute vereinzelt auch ehemalige Studenten anzutreffen sind.
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Ein einziger vielleicht nicht ganz unwesentlicher Unterschied lässt sich zwischen den von mir interviewten Großstadtbewohnern und den marokkostämmigen Einwohnern in Bergheim, Setterich, Alsdorf oder Eschweiler ausmachen: Die heutigen Kleinstadtbewohner waren zumeist entweder bis zu ihrer Rente oder viel häufiger noch bis zu einer verfrühten Berufsunfähigkeit in körperlich anspruchsvollen Jobs in Bergbau und Energieerzeugung tätig. Kohlekrise und wirtschaftliche Umstrukturierungen führten dazu, dass in diesen Branchen von Mitte der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre viele Industriearbeitsplätze abgebaut wurden. 6 Die hier tätigen Personen unterlagen daher einem deutlich erhöhten Risiko der Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit, Berufsunfähigkeit sowie die daraus resultierende Angewiesenheit auf Sozialleistungen schränkten in vielen Fällen die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der betroffenen Familien stark ein. Viele der heutigen Großstadtbewohner aus der Gastarbeitergeneration dagegen arbeiten in städtischen Betrieben und Behörden (Müllabfuhr, Gartenamt, Sport- und Bäderamt) oder im Baugewerbe. Sie gehören zu denjenigen, die bei Rückgang der Beschäftigungszahlen in Bergbau und Stahlwirtschaft relativ früh einen Wechsel aus dem produzierenden Gewerbe in den einfachen Dienstleistungssektor realisiert hatten (vgl. Berriane 1995, 76). Besonders die städtischen Angestellten unterlagen somit einem deutlich geringeren Risiko der Arbeitslosigkeit und verfügten daher teilweise über etwas größere Handlungsspielräume (die allerdings in einigen Familien, wie bei Najibs Vater, durch Übernahme von zwei verschiedenen, parallel ausgeführten Jobs hart erarbeitet wurden). Aachen Die im Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden gelegene mittlere Großstadt Aachen weist einen für NRW etwas überdurchschnittlichen Anteil an ausländischen Staatsbürgern und an marokkanischen Staatsbürgern auf. Über 80% der Marokkaner wohnen im zentralen Stadtbezirk Aachen. Eine geringfügig höhere Konzentration zeigt sich dabei in den innenstadtnahen Vierteln im Osten von Aachen, wo insgesamt auch mehr ausländische Staatsbürger leben.7 Die Gründe für den Zuzug nach Aachen decken sich mehr oder weniger mit den Gründen für die Migration nach Deutschland. Die Studenten kamen entweder nach Aachen, weil ihnen hier zufällig ein Studienplatz zugewiesen wurde, oder weil sie hier schon Freunde oder Verwandte hatten. Nur wenigen war bereits vor Studienbeginn der gute Ruf der RWTH Aachen bekannt. Die meisten anderen zogen wegen ihrer Ehepartner oder wegen eines Arbeitsplatzes nach Aachen. Eine Ausnahme stellt Heba dar, die sich mit ihrem Mann auf Aachen als Wohnort einigte, da sie von hier schnell zu ihren Verwandten in Brüssel kommen konnte. Mit Ausnahme von Farid, der von einer Auswanderung nach Marrakesch träumt, fühlen sich die Aachener an ihrem Wohnort sehr wohl. Positive Aspekte, die genannt werden, betreffen besonders die als angenehm empfundene Größe (weder zu groß
6 7
Vgl. exemplarisch die Geschichte des Eschweiler Bergwerksvereins (Bergbaumuseum Grube Anna o.J.). Teile dieser Viertel sind in den letzten Jahren als „Aachen-Ost“ und „Aachen-Nord“ in das Förderprogramm „Soziale Stadt“ aufgenommen worden.
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und anonym, noch zu klein und einengend) sowie die Internationalität der Einwohner. Wichtig ist für viele aber auch die grenznahe Lage. Loutfi z.B. erklärt: „Und zum Glück liegen wir auch an der Grenze. Das ist auch ein Vorteil, warum ich Aachen besonders schön finde. Aachen, das ist irgendwie meine zweite Heimat. Ne? Meine Frau sagt immer: ‚Also du bist mit Aachen verheiratet‘“ MD: (lacht etwas) L: „Und ich finde [es] einfach toll: Bis Paris, da hat man dreieinhalb oder vier Stunden, bis Holland, direkt. Vaals, Maastricht, Amsterdam, Eindhoven. So viele Städte! Also superschön. Und dann kann man auch bis Belgien, also Brüssel. Wir fahren fast einmal in der Woche nach Belgien.“
Auch Abdelhakim, der nicht nur zeitweise in Belgien studiert hat, sondern auch heute sehr regelmäßig über die Grenze fährt, verweist bei meinem ersten Besuch in seinem Reisebüro auf eine dort hängende Karte und schwärmt davon, dass man in Aachen schon fast in Belgien und Frankreich sei, also fast auch schon wieder in Marokko. Dieses Gefühl der Heimatnähe könne er in anderen deutschen Städten nicht so empfinden wie in der Aachener Grenzregion. Aachen wird von vielen als ruhig und grün beschrieben und dennoch als ein Ort empfunden, an dem es genügend Freizeitangebote gibt. Für Rachid, der lange in einem kleinen Ort in der Eifel lebte, sind diese Angebote ein wichtiger Vorteil. Darüber hinaus verweist er jedoch auf die Kontaktmöglichkeiten und Netzwerke, die er sich in Aachen aufgebaut hat, und die für ihn in seiner prekären finanziellen und beruflichen Situation von entscheidender Bedeutung sind: „Aber eh, das Geld, das ich verdiene: ich muss damit leben. [Ob da oder da]. Von den Menschen her ist viel besser geworden, weil ich jetzt in der Stadt bin, Innenstadt. Ich treffe viele Menschen, ich hab auch viel Bekanntschaft jetzt. Nicht nur Marokkaner oder so, [auch] Deutsche. Und dann habe ich mehr Chancen […]“. MD: „ja. Also dadurch, dass du jetzt in Aachen bist, hat sich für dich, hast du bessere Möglichkeiten?“ R: „Ja, das hat sich gelohnt.“
Auch für deutlich besser etablierte Personen wie etwa den Informatiker Hadou sind Netzwerke und Freundschaften ein ganz entscheidender Beitrag für eine „Beheimatung“ am Ort. Wichtig für ihn ist ein Gefühl der habituellen „Passung“. Diese ist für ihn in Aachen sowohl in Hinsicht auf klassenspezifische Aspekte als auch auf die hohe herkunftsspezifische Diversität der Bewohner gegeben: MD: „Ja, und sonst, in Aachen, wie gefällt Ihnen die Stadt […]?“ H: „Aachen ist auf jeden Fall ne kleine Stadt, vielleicht sagte ich auch groß, also nicht jetzt ‘nen Dorf, oder so. Ist ruhig. […] Äh, die RWTH Aachen heißt, dass viele Leute hier, vor allem ausländische, sind auch gebildeter als vielleicht irgendwo, wo nur Firmen und äh Gastarbeiter [sind]. Das ist kein Grund. Aber ich mein man trifft hier Leute, die auch Karriere machen wollen, auch studieren wollen, auch Themen diskutieren, die auf Niveau [sind], nicht jetzt [wie] woanders, in irgendeinem Kaff. […] Ja gut, im, am Anfang wars schwierig […]. Aber dann, paar Bekannte da und dort. Und nachdem wir geheiratet haben. [Für] meine Frau, sie ist eine Rheinländerin, wars auch schwierig hierher zu kommen: Aachen hat keinen Fluss.“ MD: (lacht laut) ja, ja. H: „War ein bisschen schwierig Aber danach... Wir kennen auch paar Familien hier, aus unterschiedliche Herkünfte: syrische, auch äh, marokkanische, auch (wird sehr leise) unterschiedlich, also.“
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Dieser Abschnitt zeigt sehr gut, dass ein Wohnstandortwechsel einen aktiven Prozesses der Beheimatung erforderlich macht. Für Hadou war das Leben in Aachen anfangs schwierig. Wohler fühle er sich erst nach der Etablierung sozialer Kontakte. Interessanter Weise erzählt er, dass seiner Frau, die in Deutschland geboren und in unmittelbarer Nachbarschaft zu Aachen im Köln/Bonner Raum aufgewachsen ist, der Umzug nach Aachen zunächst ebenfalls schwer fiel. Dies zeigt, dass jeder vollständige Wechsel des alltäglichen Aktionsraumes eine Neu-Beheimatung erforderlich machen kann. Das Beispiel des fehlenden Flusses deckt auf, wie in der Kindheit erworbene Dispositionen Raumwahrnehmungen und Wohnpräferenzen beeinflussen. Die vergleichsweise geringe residentielle Segregation marokkostämmiger Migranten in Aachen spiegelt sich auch in meiner Untersuchungsgruppe wider. Alle Befragten leben in unterschiedlichen Stadtteilen. Auch die Gründe und Präferenzen für die Wohnstandortwahl sind sehr unterschiedlich. Ähnlich wie Majida, die „strategisch“ wohnt, um ihre Kinderbetreuung möglichst gut zu organisieren, haben auch Hadou und Loutfi jeweils familienfreundliche Viertel in verkehrsgünstiger Lage gewählt. Während Personen, die beruflich gut etabliert und erfolgreich sind, auf die finanzielle Dimension der Wohnstandortwahl nicht weiter eingehen, machen einige der Studienabbrecher, Arbeits- und Heiratsmigrant/-innen deutlich, dass sie zwischen Wünschen und finanziellen Möglichkeiten abwägen müssen. Besonders unzufrieden mit seiner Wohnsituation ist Rachid, der sein Geld mit Gelegenheitsjobs verdient: „Also ich wohne jetzt in Nähe vom Frankenberger Viertel. Und ich wohne da auch seit fast ein Jahr. Die Wohnung ist nicht so perfekt. Aber das ist so. Ich kann mir mehr nicht leisten. Das ist ein Teil auch von dem Leben, [das] ich in Deutschland [habe]. Gibt es auch andere Sachen, die kann ich nicht alle erzählen. Gibt’s auch sogar negative Sachen.“ [Rachid, ca. 40 Jahre, Aachen, ehem. Studienmigrant)
Heba, die lange Jahre in Aachen Ost wohnte, ist vor einiger Zeit in eine Großwohnsiedlung an die Aachener Peripherie gezogen. Ein Hauptgrund dafür war ihre Angst vor dem gerade für ihre Söhne als gefährdend empfundenen Wohnumfeld: „Ich habe immer Angst. Das ist schwer. Weil die sind immer groß, die merken: einer Gefängnis rein, raus, rein, raus. Ist wie SPIELEREI. Deswegen. Die spielen da rum. Jungen. Warum ich bin weg von dieser Straße? Nur wegen solcher Sachen. Nur die Drogensachen in dem Block.“
Das Wohnviertel in Preuswald, in dem sie jetzt wohnt, ist „schön ruhig“, aber „weit weg“. Lieber würde Heba eine neue Wohnung in Innenstadtnähe finden. Da die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern jedoch nur über geringe finanzielle Mittel verfügt, hat sie keine großen Hoffnungen auf baldigen Erfolg. Die ehemalige Fabrikarbeiterin Habiba dagegen wohnt noch heute in dem Haus in Aachen Ost, wo sie 1979 ihre erste eigene Wohnung fand: „[Eine Arbeitskollegin] sagte zu mir ‚Habiba willst du Wohnung haben?‘ Da hab ich gesagt: ‚Ja‘. Ich suchte Wohnung. Ich wollte nicht in Heim [bleiben ] weil die sind zu viel heiraten und sind weg. […] Da sagt sie: ‚Ich habe Wohnung für dich, aber das ist ein Zimmer, Küche‘. Da hab ich gesagt, das reicht für mich. Damals ތ79, da hab ich bei Stadt besorgen einen Schein,
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weil ich verdienen nicht zu viel Geld. Bin hier gekommen […] Und Eigentümer sagt zu mir: ‚Willst du hier Wohnung?‘ ‚Gerne.‘ ‚Gefällt er Ihnen?‘ Hab ich gesagt: ‚gefällt mir.‘ Sowieso in Heim muss man Miete bezahlen. Dann lieber alleine. Dann geklappt, bin ich hier gewohnt. [Habiba, ca. 60 Jahre]
Nach ihrer Trennung lebt sie heute alleine. Ihr erwachsener Sohn allerdings hat im gleichen Haus eine eigene Wohnung. Für diese Lösung hat sich auch Farid entschieden, der nach der Trennung seiner Eltern zu seinem Vater nach Aachen gezogen war, und heute in einer eigenen Wohnung im gleichen Haus lebt. Die Studentin Amina hatte zwar einige Jahre eine eigene Wohnung, wo sie Ruhe zum Lernen suchte, wohnt heute aber wieder bei ihren Eltern. Diese Fälle scheinen somit die These von Gestring (2011, 182) zu stützen, der postuliert, dass die Kinder türkischer Migranten in Deutschland häufig in „typischen Migrantenquartieren“ blieben, um in der Nähe ihre Eltern zu wohnen. Eine solche Präferenz von räumlicher Nähe zu den Eltern (vgl. hierzu auch Hanhörster 2012) scheint auch bei meinen marokkostämmigen Gesprächspartner/-innen gegeben. Allerdings nur wenn a) eine starke Familienbindung gegeben ist (was sehr häufig, aber nicht immer der Fall ist); b) diese mit einem Gefühl der Beheimatung bzw. des Wohlfühlens im entsprechenden Stadtteil einhergeht (vgl. Kap. Köln – Achraf als Gegenbeispiel); und c) die vor Ort oder in erreichbarer Nähe angebotenen (Aus-) Bildungsangebote und Arbeitsplätze den jeweiligen Bildungs- und Berufsaspirationen entsprechen. Diese Möglichkeit ist in den Großstädten aufgrund der größeren Bandbreite der Angebote naturgemäß eher gegeben als in den kleineren Städten (vgl. Kap. Kleinstädte – Faiza und Latifa). Bonn Die mittlere Großstadt Bonn ist durch eine polyzentrische Struktur gekennzeichnet, in der u.a. die erst 1969 eingemeindeten Städte Bonn-Beuel und Bonn-BadGodesberg weiterhin eine Subzentren-Funktion aufweisen. Ein insgesamt hoher Anteil arabischsprachiger sowie marokkostämmiger Einwohner korrespondiert hier mit einer deutlich ausgeprägten räumlichen Konzentration. Besonders im Bonner Norden (Neu-Tannenbusch, Auerberg, Graurheindorf) sowie in Teilen Bad Godesbergs im Bonner Süden (Lannesdorf, Mehlem-Rheinaue) kommt jeder zweite der dort wohnenden Zuwanderer aus Staaten der Islamischen Konferenz (Kosack 2010). Marokkanische Staatsbürger stellten bei den Wahlen zum Integrationsrat 2010 in den Wahlbezirken Bad Godesberg Süd und Bonn Nord nach den Türken jeweils die zweitgrößte Wählerfraktion (5,5% und 7% aller wahlberechtigten Ausländer). Zusammen mit dem Bezirk Medinghoven weisen die genannten Stadtteile in Bonn nicht den höchsten Anteil an zugewanderter Bevölkerung auf. Außerdem findet sich hier der höchste Prozentsatz an Arbeitslosen und SGB II Leistungsempfängern („Hartz IV“).8 Architektonisch-städtebaulich unterscheiden sich die genannten Stadtviertel allerdings markant. Neu-Tannenbusch ist eine typische Großwohnsiedlung der 70er
8
Sowie auch insgesamt höchste Anteile an Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Stand Juni 2010: Neu-Tannenbusch ca. 55%, 3Auerberg: knapp 40%, Bad-Godesberg-Zentrum: knapp 40%, Pennefeld: ca. 34% (Statistikstelle der Bundesstadt Bonn, Sonderauswertung).
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Jahre, in der erst in jüngster Zeit versucht wird, einem schleichenden Degradierungsprozess entgegen zu wirken.9 Die Bebauungsstruktur im Nebenzentrum Bad Godesberg setzt sich dagegen aus Stadthäusern verschiedener Bauperioden zusammen. Drei der Bonner Interviewpartner/-innen haben entweder in der Vergangenheit in Tannenbusch gewohnt (Manar) oder kennen die Situation dort aufgrund ihrer Arbeit sehr gut (Sami und Ines). Sie selbst wohnen jedoch in stärker durchmischten, bürgerlichen und innenstadtnahen Quartieren, mit denen sie sehr zufrieden sind. Ines beispielsweise ist mit ihren Eltern in einem stark durchmischten Stadtteil von Bonn aufgewachsen. Nun wohnt sie mit ihrer Tochter in einem sehr ähnlich strukturierten Stadtteil. Hier fühlt sie sich auch deshalb besonders gut aufgehoben, weil sie sich ein gut funktionierendes Netzwerk aufgebaut hat: „Ich lebe jetzt in Kessenich. Ja, in einem Stadtteil wo eigentlich auch […] überwiegend ähm, Deutsche, Deutschstämmige leben. Und auch viele allein erziehende Mütter. Und ich hab mir da auch ein gutes soziales Netzwerk aufgebaut, ne? Wo wir Mütter uns so ein bisschen gegenseitig helfen.“
Meine anderen Interviewpartner/-innen wohnen in verschiedenen Teilen von Bad Godesberg. Zwei der Studienmigranten haben sich sehr bewusst für diesen Stadtteil entscheiden: Für Yakub und seine deutsch-marokkanische Frau hat Bad Godesberg den Vorteil, dass die Schwiegereltern im gleichen Stadtteil wohnen. Darüber hinaus bietet Bad Godesberg – bis lange nach dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin noch ein wichtiger Botschaftsstandort und Wohnort für Diplomatenfamilien – eine französische Schule, an der Yakubs Töchter auf ihre im Ausland (Marokko und Saudi-Arabien) erworbenen Sprachkenntnisse aufbauen und so ihr kulturelles Kapital nutzen und erweitern können.10 Auch für den Dolmetscher und Übersetzer Louay ist die Internationalität des Stadtteils ein Grund dafür gewesen, seinen Wohn- und Arbeitsort dorthin zu verlegen: „Ja, ich wohne in Godesberg, klar. Ich find’s super, sehr bunt. Das heißt, es gibt sehr viele internationale Institute, Botschaften, Konsulate, alles was mit Diplomatie und Politik zu tun hat. Das hat mir sehr gefallen. Zumal ich auch mit Sprachen und Kommunikation arbeite, da habe ich gesagt: besser geht nicht, ne? Der Anteil der Marokkaner und Araber ist sehr hoch, und die brauchen auch ein Dolmetscher, Übersetzer. Und das hat geklappt. […] Es gab manchmal Vor-
9 Inzwischen Aufnahme in das Förderprogramm „Soziale Stadt“, vgl. Mölders et al. (2009). 10 Diese Entscheidung scheint zunächst der von Lars Wiesemann (2008) für türkeistämmige Migranten in Köln gewonnenen Erkenntnis zu widersprechen, dass diese bei bildungsorientierten Umzügen tendenziell eher in stärker ethnisch gemischte Wohnquartiere ziehen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Bad Godesberg aufgrund seiner historischen Entwicklung einen Sonderfall darstellt. Zweitens ist die Frage, welche Art kulturelles Kapital die Eltern für ihre Kinder anstreben: während im Regelfall eine Ausrichtung auf die deutschen Bildungseinrichtungen vorliegen wird, richtet Yakub als transnationaler Migrant seinen Blick stärker auf eine (potenziell) international fortzusetzende Bildungskarriere seiner Töchter und wählt daher auch explizit eine bilinguale Bildungsinstitution aus.
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schlage nach Berlin umzuziehen, [als ich nach Bonn kam war schon die Phase, ne? Umzug nach Berlin] aber für mich war das keine Frage. Ich wollte in Bonn bleiben.“
Auf meine Frage warum Berlin keine Option gewesen sei begründet Louay seine Entscheidung ähnlich wie Yakub mit einem starken Gefühl der ortsbezogenen Verbundenheit und Beheimatung sowie der räumlichen Nähe zu seiner Schwiegereltern: „Ja, das war schon ein Gefühl: Ja, wenn man hier studiert [hat] und irgendwie ein Netz baut, ne? Das sind Freunde, oder auch alte Freunde von Köln, wo ich ein paar Jahre gewohnt hab. Das ist normal irgendwie. (leise) Man fühlt sich zu Hause, nicht wahr? Casablanca ist jetzt zu Hause und Bonn war mein zu Hause. Abgesehen [davon], dass meine Frau aus Köln kommt, ist ihre Familie auch in Köln. Das heißt, vor allem meine Familie, Ja, das ist sehr wichtig. Wichtiger als meine Karriere sogar. Also meines Erachtens.“
Dieses Gefühl der Beheimatung beschreiben auch alle vier in Bonn geborenen Interviewpartner/-innen. Als ich Ines im Rahmen der Netzwerkvisualisierung frage, ob alle ihre Freundinnen in Bonn wohnen, erklärt sie: „Ja. Ich habe eigentlich, ich bin auch in Bonn geboren. Also ich bin irgendwie noch nicht so weit gekommen (lacht). Ähm, vielleicht ergibt sich das irgendwann mal. Aber ich denk, ich hab meine Tochter einfach früh bekommen. Und ich wusste dass es wichtig ist, dass ich, – ich habe beide Omas hier – ähm, dass ich das einfach brauche. Sonst hätte ich glaube ich auch mein Studium nicht so schnell und eigentlich auch sehr erfolgreich beenden können, das hätte nicht geklappt. Das war ganz gut, dass ich mich auf die verlassen konnte. Und das ist heute noch so, ne? Wenn irgendwas ist, dann sind die Omis da. […] Ja deswegen wäre es für mich idiotisch gewesen, in eine andere Stadt zu ziehen. Und, ja ich finde es auch schön. Ich mag Bonn (lacht.) Ich bin hier wirklich ne BONNERIN (lacht).“
Auch Amal und Najib, die noch bei ihren Eltern in Godesberg wohnen sowie Taufik, der ebenfalls in Bad Godesberg aufgewachsen ist und heute mit seiner Frau und seinen drei Kindern immer noch dort wohnt, können sich einen Wegzug aus Bonn nur aufgrund von biographischen Notwendigkeiten wie Heirat, Studium oder berufliche Veränderungen vorstellen. Auf meine Frage, ob er jemals daran gedacht hätte, aus Bad Godesberg wegzuziehen, fragt Taufik beispielsweise erstaunt zurück: „[Aus] Godesberg weg zu gehen? Also ich bin immer sehr flexibel gewesen, und sehr offen. Das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Hier ich fühle mich eigentlich bis JETZT trotz der Kleinigkeiten, die ich Ihnen erzählt habe, äh, eigentlich sehr WOHL. Weil ich halt eben immer hier schon war, und hier alles [habe], meine Bekanntschaften und Freunde. Aber, ich sach mal beruflich kann [es] vielleicht in fünf Jahren oder so [sein], dass wir sagen, wir machen noch ein Geschäft in München auf, oder in Frankfurt. Und dann müssen wir vielleicht erst mal da hin. Aber im Moment eher nicht.“
Auch die beiden Oberstufenschüler Amal und Najib fühlen sich in Bad Godesberg sehr wohl. Amal war auch in Oberkassel sehr zufrieden, wo sie in der Nachbarschaft eine gute Freundin gefunden hatte. Najib dagegen ist von den Umzugsplänen seiner Eltern alles andere als begeistert:
238 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT MD: „Ja ja klar. Und ich weiß nicht, wie gefällt’s dir in Godesberg?“ N: „Eigentlich ja ganz gut. Wir haben jetzt vor umzuziehen, also in ein Haus. Also entweder kaufen oder mieten. Und da haben wir schon viele Häuser gefunden. So xy, das ist mehr so südlich von Bad Godesberg, in Rheinland-Pfalz. Und ich bin halt immer strikt dagegen. Also ich will nicht außerhalb Godesberg wohnen, weil ich dann irgendwie. Da fühle ich mich irgendwie ein bisschen fremd, oder so. Also da muss man dann ja neue Kontakte knüpfen und so. Und ich kann mir halt eigentlich kein Leben außerhalb Godesberg erst mal jetzt vorstellen, in der Jugend“
Obwohl Najib davon ausgeht, dass er für sein angestrebtes Studienfach wahrscheinlich in eine andere Stadt ziehen muss, betont er, dass er aktuell „in der Jugend“ in Bad Godesberg bleiben möchte. Diese Präferenz scheint für ihn jedoch begründungswürdig: „Also eher Godesberg bevorzugt. [Auch] wenn es dann vielleicht diese Problematiken gibt, die Sie vielleicht auch im Fernsehen vielleicht mitbekommen haben. Aber trotzdem. Da krieg ich eigentlich nichts mit von.“
Auf meine Nachfrage hin, welche Problematiken er denn meint, verweist Najib auf die RTL-Explosiv Sendung „Angst vor den neuen Nachbarn“, die auch Amal erwähnt. Während Amal diesen Beitrag jedoch im Kontext eines sozialen Wandels und einer verstärkt sichtbaren Prägung des Stadtteils durch arabische Inschriften und ethnische Infrastruktur diskutiert, bezieht sich Najib auf das Kernproblem des Beitrags: auf die Thematisierung von jugendlichen (männlichen) Intensivstraftätern mit Migrationshintergrund. Die Zurückweisung dieser stigmatisierenden Mediendarstellungen erfolgt daher jeweils aus einer ganz bestimmten Positionierung: Während Amal sich auf ihren Status als junge Frau bezieht, räumt Najib ein, seine Wahrnehmung der Situation und sein Gefühl der Sicherheit könne auch daran liegen, „dass ich vielleicht nicht wie ein Einheimischer aussehe. Dass man vielleicht wenn man mit anderem Aussehen dort ankommt, abends oder so, dass man da vielleicht anders behandelt wird. Also ich weiß es nicht. Kann gut sein (lacht kurz auf).“
Der Ladeninhaber Taufik wiederum bezieht die Frage der Sicherheit hauptsächlich auf die Gefahr eines Einbruchs in sein Geschäft in dem er höherwertige Textilien anbietet. Auf das Thema kommt er aber auch nur durch meine Nachfrage. Seine eigentliche Sorge gilt dem in Bad Godesberg augenfälligen wirtschaftlichen Strukturwandel, durch den er seine wirtschaftliche Existenz bedroht sieht: „Ja, Fernsehsendung gab’s auch, dass viele Einbrüche in Bad Godesberg passiert sind. Ja, man LIEST, und das ist mit Sicherheit auch PASSIERT, sag ich jetzt mal. […] Aber jetzt dass ich mich unwohl fühle, weil in Bad Godesberg viel eingebrochen wird? [Nein], ich wurde nie angepöbelt, nie angegriffen, nie äh, beschimpft oder so. Allerdings hab ich zwei Kunden, die Polizeibeamte sind im Bonner Raum. Die sagen, dass es tatsächlich so ist, dass Bad Godesberg äh, KRIMINELLER geworden ist. […] Aber PERSÖNLICH, und auch die KUNDEN, man kommt ja oft mit Kundschaft ins Gespräch. Aber mit den Kunden ist man insofern negativ ins Gespräch gekommen, dass halt eben Godes-
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berg nicht mehr so attraktiv ist. Viele Geschäfte leer sind, und dass ist n‘ Manko, das behoben werden MUSS. Die Mietpreise sind recht HOCH, verhältnismäßig auch für die Krise und so, da beklagen sich viele. Da muss was gemacht werden, sonst bleibt die Kundschaft weg und fährt DIREKT nach Bonn.“
Somit wird deutlich, dass das Medienimage und der Unsicherheitsdiskurs über Bad Godesberg von meinen Interviewpartner/-innen als nicht auf ihren eigenen alltäglichen Erlebnisraum zutreffend zurückgewiesen wird. Obwohl die Befragten die in Bad Godesberg temporär gehäuft auftretenden Diebstähle und Überfälle als „Realität“ einordnen, machen sie dennoch deutlich, dass diese nicht ihre Realität ist. Aufgrund der eigenen, positiveren Erfahrung und Nicht-Betroffenheit können sie somit das negative Image des Stadtteils zurückweisen (vgl. hierzu ähnl. Gestring 2007 für Hannover-Linden). Die Internationalität des Stadtteils wird dagegen als angenehm und vorteilhaft empfunden, während die lokale Ökonomie besonders von den auf zahlungskäftigere Laufkundschaft angewiesenen Selbstständigen sorgenvoll beobachtet wird. Köln Auch in der Millionenstadt Köln fühlen sich die hier Geborenen ebenso wie die zugereisten Studienmigranten heute beheimatet.11 Köln weist insgesamt einen vergleichsweise hohen Anteil an Bevölkerung mit Migrationshintergrund auf (33,2% 2010), der jedoch je nach Stadtteil sehr variiert. Er beträgt zwischen 50% und mehr in den sozial schwächeren Teilen der Bezirke Kalk und Chorweiler und unter 20% in einigen Teilen von Lindenthal (Stadt Köln 2011, 35,113) und weist somit eine für deutsche Städte nicht untypische Überlappung von Segregationsformen auf (vgl. Farwick 2009, 20). Marokkanische Staatsbürger dagegen stellen nur einen sehr geringen Anteil an der Gesamtbevölkerung dar (0,56%).12 Selbst in den Bezirken und Stadtteilen, mit einem im städtischen Vergleich überdurchschnittlichen Anteil an Marokkanern, bleibt ihr Anteil an der gesamten Bevölkerung unter 2,5% (vgl. Tab. 3 und 4 im Anhang). Von einer „ethnischen Kolonie“ oder einem wirklichen Cluster kann daher keine Rede sein. Ein Angebot an ethnischer Ökonomie13 mit einem (begrenzten) Angebot von auf marokkostämmige Kunden zugeschnittenen Konsum- und Freizeitangeboten in Form von Geschäften, Cafés, Imbissen und einer kleinen Hinterhofmoschee findet sich in konzentrierter Form lediglich auf der Taunusstraße im Stadtteil Kalk, wo auch der höchste Anteil an marokkostämmigen Migranten wohnt. In diesem Stadtteil wohnt Karim, und auch sein Freund Hakim lebt im angrenzenden Stadtteil Buchforst. Loubna und Achraf sind in den benachbarten Stadteilen Vingst und Buchhain aufgewachsen, wohnen inzwischen aber in den etwas weiter
11 Zur „Heimat in der Großstadt“ am Beispiel Köln vgl. auch Gebhardt und Schweizer (1995); Reuber (1993); Sachs (1993); Weiss (1993). 12 Sonderauswertung auf Anfrage. Quelle: Stadt Köln. Amt für Stadtentwicklung und Statistik. Stand 31.12.2011. Der Anteil Marokkaner mit und ohne dt. Staatsangehörigkeit an allen Ausländern und Doppeltstaatlern mit dt. Staatsangehörigkeit in Köln liegt bei ca. 2%. 13 Für Definition und kritische Diskussion vgl. Pütz (2004) sowie Hillmann und Sommer (2011, 29f.)
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entfernten rechtsrheinischen Stadtteilen Porz und Deutz. Samiha und Massoud dagegen wohnen in Weidenpesch und Nippes, zwei etwas stärker durchmischten linksrheinischen Stadtteilen. Yasmina wohnt administrativ betrachtet nicht in Köln, sondern in der unmittelbar angrenzenden Mittelstadt Hürth. Da jedoch nicht nur das Stadtmarketing Hürth „im Schatten des Kölner Doms“ verortet, sondern auch sie selbst sich deutlich stärker auf Köln bezieht, wird auch sie in diesem Teilkapitel berücksichtigt. In Bezug auf die Wohnstandortwahl verweisen Yasmina und Ghizlane, die aus beruflichen Gründen nach Köln gezogen sind, vor allem auf die Eigenschaften der jeweiligen Wohnung sowie den Zufallsfaktor bei der Wohnungssuche. Die anderen Gesprächspartner/-innen dagegen nehmen in ihren raumbezogenen Erzählungen und Argumentationen eine deutlich stärkere Differenzierung zwischen den verschiedenen Stadtteilen vor. Am stärksten ausgeprägt sind solche raumbezogenen Argumentationen bei Achraf, der in dem vom sozialen Wohnungsbau der späten 50er Jahre geprägten Stadtteil Vingst aufwuchs (vgl. Blasius et al. 2008, 16–28 für Stadtteilportrait). Die „Orte“ von denen Achraf in dem Interview erzählt sind zwar auf einer Karte lokalisierbar, insofern also (auch) physische Orte. Was er er damit assoziiert, sind jedoch nicht die baulichen Gegebenheiten, sondern die sozialen Beziehungen, in die er an diesen Orten eingebunden ist bzw. war. In seiner Erinnerung ist der Ort seiner Kindheit primär mit dem Gefühl der Ausgrenzung und Nicht-Anerkennung verbunden (vgl. Tietze 2006, 152f. für ähnliche Erfahrungen türkeistämmiger Männer). Dieses Gefühl wird deutlich, als Achraf am Ende seiner Eingangserzählung einen Mangel an Anerkennung und Ausgrenzungserfahrungen anspricht. Auf meine Frage, was er damit konkret meint, deutet er zunächst sehr vage einen Zusammenhang mit seinem früheren Wohnort an: „Ausgrenzungserfahrungen, zum Beispiel Alltagsrassismus. Also ich bin in einer sozialen Gegend aufgewachsen. Das ist mehr oder weniger ein sozialer Brennpunkt gewesen, […]. Und wenn man sich als kleines Kind von einem Erwachsenen anhören muss: "Ja die kommen alle nach Deutschland und die werden immer mehr." dann fängt das da schon an, dass man das Gefühl kriegt, dass die Mitmenschen nicht diese lebensbejahende Anerkennung mitgeben.“
Später im Gespräch rekonstruiert Achraf den von ihm erlebten Unterschied zwischen einem „drinnen“ im Stadtteil und dem „draußen“ der Gesamtgesellschaft: „Also es ist halt so ‘ne soziale Gegend gewesen, wo wir uns untereinander verstanden haben, weil jeder denselben Hintergrund hatte, irgendwo, ne? Aber nach außen hin war das so, man hat sich da nicht akzeptiert gefühlt. Ja? Das war irgendwie so, als würde man ständig gegen die Wand laufen.“
Seinen heute distanzierten Blick auf den Stadtteil und seine Reflexionen über sein Herkunftsmilieu erklärt Achraf durch seinen Eintritt in ein neues soziales Feld an der Universität in Bonn. Den daraus resultierenden Kontrast zwischen den Denk- und Handlungsschemata, die er in seinem unmittelbaren Lebensumfeld in der Kindheit erlernte und den ganz anders gearteten Handlungsstrategien, denen er bei seinen Kommilitonen begegnet, schildert er sehr anschaulich:
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„Also ich bin in Köln Vingst aufgewachsen. Da gab’s in letzter Zeit viele Berichterstattungen über Jugendkriminalität, über Arbeitslosigkeit. Ich muss sagen, da ist ein sehr hoher Migrantenanteil und dort findet man wirklich noch Menschen vor, die kein Deutsch sprechen. Da bin ich früher aufgewachsen. Hab ‘nen gemischten Freundeskreis gehabt, aus Deutschen, Türken, und teils auch Marokkaner, und äh, ja, viele meiner Freunde haben dann ne kriminelle Laufbahn abgelegt. Manche sind dann später zur Besinnung gekommen. Die anderen nicht. Und, äh, man hat dann auch ‘ne gewisse Männlichkeitsvorstellung, wenn man in so ‘nem ‚Milieu‘ oder in so einer Sozialität aufwächst, Wir haben damals viel Fußball gespielt und Kampfsport gemacht. Und Konflikte wurden bei uns ähm, auf die rüppige Art gelöst, ja? Und […] in meiner Studienzeit, – ich hab ja an der Rheinischen Universität Bonn studiert – bin [ich] dort also des Öfteren deutschstämmigen Gymnasiasten begegnet […] die aus wohlhabender Familie kommen (lacht kurz auf). Hab dann erfahren müssen, […], dass die Konfliktsituationen ganz anders gelöst haben, ne? Nicht wie bei uns, ähm, Mann gegen Mann, und keiner gibt nach, ne? Das war für mich also das Eintreten in eine neue Sphäre.“
Wie groß dieser „Habitus-Schock“, wie groß die Differenzen zwischen Kindheitswelt und universitärem Umfeld gewesen sein muss, kann man nur nachvollziehen, wenn man weiß, dass Achraf in Bonn BWL studierte. Student/-innen am dortigen „Juridicum“, die sich schon 1968 durch Perlenkette und Faltenrock von den anderen Studierenden distinguierten, weisen sich auch heute noch durch ihre hochgeklappten Kragen, Markenkleidung und ein gewisses Auftreten als die aktuelle und zukünftige Elite unter den Studenten aus. Während Achraf sicherlich nicht zuletzt aufgrund dieses Feld- und Milieuwechsels in Bezug auf sein Selbst-Verständnisses noch auf der Suche danach ist, wer er ist und wer er sein möchte,14 hat er auf der (sozial)räumlichen Ebene ein Wohnumfeld gefunden, das er als passend zu seinen aktuellen Dispositionen und Präferenzen empfindet: „Ich wohn immer noch in Köln, in Köln-Deutz. Das ist ein ganz anderer Stadtteil, obwohl der nicht so weit entfernt liegt von dem Stadtteil, wo ich aufgewachsen bin. Und da wohnt halt die obere Mittelschicht. Dort hat man es im Alltag mit Menschen zu tun, die in der Regel sehr gutes Deutsch sprechen, einen Beruf nachgehen. Und ähm, ja, die Kommunikation ist einfach viel höher, das gegenseitige Verständnis. Ähm:: es ist alles anders. […] Das ist ‘ne andere Welt. Das ist Wahnsinn.“
14 Bei Achraf tritt durch den erfahrenen Wechsel von sozialem Milieu und sozialem Feld „das restriktive und träge Moment, das dem Habitus inhärent ist, offen zutage und ermöglicht dadurch Selbstreflexion im Sinne eines praktischen Reflektierens“ Mafaalani (2011, 7). Im weiteren Verlauf des Interviews wird allerdings deutlich, dass Achraf diesen „HabitusSchock“, diese Nicht-Passung von Habitus und sozialem Kontext noch nicht vollständig verarbeitet hat. Die aktiven Auseinandersetzungen „mit den erweiterten Möglichkeiten der Öffnung des sozialen Raums“ (Vester et al. 2001, 324f.) führen zu bisher noch nicht aufgelösten Spannungen, die Achraf zu Beginn seiner Selbstpräsentation erwähnt.
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Ähnlich wie Köln-Vingst zeichnet sich auch der Stadtteil Kalk, wo der ehemalige Studienmigrant Karim wohnt, durch einen hohen Anteil an Sozialhilfeempfängern, Einwohnern mit Migrationshintergrund sowie einen nicht gerade guten Ruf aus (vgl. Sachs 1993, 55f.). Als Erwachsener hierhin gezogen, fühlt sich der Studienabbrecher Karim hier einerseits sehr wohl: „Hier gibt´s türkische Läden. Marokkanische Läden. Es gibt ALDI, Lidl hier. Sie haben alles hier. Andere Seite ist auch die schlimmste Ecke in Kalk. Sag ich mal, früher war, jetzt geht ja noch. Hier sind Drogendealer. Alles Mögliche ist hier. Nur hier ist irgendwie, ich weiß es nicht, weil so viele Ausländer gibt, dann fühlt man sich auch anders. Ne? Weil ich habe in Lindental gewohnt. Da wo die Universität ist. Das kann ich mir gar nicht nochmal vorstellen. Da ist so tot. Jeder für sich. Keine Menschen. Keine Bewegungen. Abends sehen Sie nur Lichter und draußen so dunkel. Aber hier wenn Sie rausgehen ist wie bei uns in Marokko (lacht).“
Karim schätzt also die räumliche Nähe zu seinen Freunden ebenso wie die Lebendigkeit des Stadtteils und das lokale Infrastrukturangebot. Andererseits jedoch weiß er um den schlechten Ruf des Stadtteils. Auch er habe Angst, wenn es in der Nachbarschaft zu Schießereien käme. Und letztlich bewertet er den Stadtteil und auch die hohe Konzentration an Ausländern sehr ambivalent: „Wenn mich einer fragt: ‚Wo wohnen Sie?‘ Dann sag ich: ‚In Köln.‘ ‚Wo in Köln?‘ Ich sag ‚Gremberg‘. Weil nur diese Häuser hier, die gehören zu Gremberg, aber sonst ist ja Kalk. […] Aber ich sag Gremberg. Weil ich hab mir nie vorgestellt hier in Kalk zu wohnen. Weil das sind so viele Marokkaner, viele Ausländer. Nur Ausländer (lacht). Und weil so viele Ausländer, gibt’s dann auch dieses deutsche System nicht mehr.“
„Dieses deutsche System“, z.B. in Bezug auf Sauberkeit und Ordnung, ist ihm wichtig, das macht er an vielen Stellen des Gesprächs deutlich. Sich selbst sieht er – anders als viele seiner Nachbarn – als angepasst und assimiliert an. Indem er betont, dass er eben nicht in Kalk, sondern in einem ruhigeren Neubau-Häuserblock am Rand wohnt, kann Karim somit die von ihm empfundene Ambivalenz in Bezug auf sein Wohnviertel aufheben: er kann real und mental an der Infrastruktur und Lebendigkeit des Viertels teilhaben und sich gleichzeitig vom schlechten Ruf des Stadtteils distanzieren. Die Frage der residentiellen Segregation und Konzentration von Migranten spielt auch für andere Befragte in Köln eine wichtige Rolle. Loubna wohnt mit ihrer Schwester zusammen. Da diese noch studiert und sie selbst als Arzthelferin nur ein begrenztes Einkommen zur Verfügung hat, mussten sie eine günstige Wohnung finden. Dies gelang in Köln-Porz eher als im Stadtteil Buchheim, wo sie zuvor mit ihren Eltern wohnte. Wirklich wohl oder etwa zugehörig fühlt sie sich in Porz jedoch nicht: „Porz – ich finde es nicht wirklich schön. […] Also da wohnen schon sehr viele, also sag ich mal Ausländer. Ne? Es sind überwiegend [so hohe Häuser.] Und das wollten wir damals nicht, weil das einfach zu voll war. Und dann, also meine Schwester und ich, wir sind auch anders. Wir haben also nicht so viele Kontakte äh, selbst zu marokkanischen Mädchen nicht.“
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Loubna kann die von ihr empfundene Distanziertheit hinsichtlich des Gesamtviertels in Bezug auf ihre unmittelbare Nachbarschaft teilweise auflösen. Sie betont, in ihrem Haus würden nur vier Parteien wohnen, es wäre auch sehr ruhig. Außerdem seien sie und ihre Schwester sowieso sehr selten zu Hause, daher würde sie auch das Umfeld nicht stören. Sobald es ihre finanziellen Mittel allerdings zulassen, würden sie sich eine schönere und größere Wohnung, nach Möglichkeit woanders, suchen. Anders als Karim, der zwar wegen eines Freundes nach Kalk gezogen ist, aber doch eine – instabile und ambivalente – „ethnische“ Orientierung (Wiesemann 2008) aufweist, ist Loubna allein aus Preisgründen in ein ähnlich strukturiertes Viertel gezogen, obwohl sie eigentlich ein anderes Wohnumfeld präferieren würde. Eine notwendige Aushandlung zwischen finanziellen Möglichkeiten und habituell angelegten Wohnortpräferenzen wird erkennbar anders aufgelöst, wenn Kinder mit im Spiel sind. In Erweiterung des von Wiesemann (2008) entwickelten Erklärungsansatzes der „bildungsorientieren Umzüge“ beginnt eine solche Prioritätensetzung bereits deutlich vor dem Schulalter. Nicht nur die Bildungseinrichtungen im Stadtteil, sondern auch das soziale Umfeld spielt dabei eine zentrale Rolle. So betont Karim später im Interview: „Wenn ich verheiratet bin bleibe ich keine Minute hier, ne? Weil pf::. Hier wird mal auch so Arabisch geredet draußen. Manchmal [sagen] die Leute auch so schlimme Wörter auf Arabisch, ne? […] Deswegen sag ich: wenn ich das höre, ist mir egal. Aber mit meiner Frau und meinen Kindern? Ich will nicht unbedingt, dass meine Kinder solche Wörter hören und lernen. Und dann fragen die „was heißt das denn?“ Und irgendwann haben die das auch. Deswegen sage ich, okay ich bin allein. Aber wenn ich […] irgendwann mal [eine] neue Familie gründe oder so, dann muss ich zumindest ein bisschen raus von Kalk: Buchforst, Buchhain oder so.“ [Karim, ehem. Studienmigrant]
Die ehemalige Studienmigrantin Samiha, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im linksrheinischen Weidenpech wohnt, ist derzeit auf der Suche nach einer größeren Wohnung. In Chorweiler – einem durch Großwohnsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus gekennzeichneten Viertel im linksrheinischen Kölner Norden (vgl. Sachs 1993, 59ff.) – gäbe es passende Wohnungen: „Preis billiger. Vier-Zimmer-Wohnung schön, 600 €. Aber es gibt diese Zigeuner.15 Und äh, keine Ahnung, gibt’s viel, viel, viel, viel Ausländer. Ich war zwei Mal da. Also ich bin abgehauen, wirklich. Die Mieten sind nicht teuer. Aber die Leute sind schrecklich da. Die sind nicht geklärt, keine Ahnung. Also ich glaube nehmen die Drogen oder weiß ich nicht. Also nein. MD: Ja das ist dann nicht schön. S: Wenn ich mit meinem Mann, ok. Zu zweit sage ich ja: wir gehen arbeiten und nach Hause. Aber mit meiner Tochter, ne. Wir gehen nicht da. […] Ich bin selbst Ausländer aber ich mag nicht viel Ausländer, wo ich wohne, ne? Bisschen aber nicht ganz viele. Und Kindergarten auch nicht. Wenn viel Ausländer ist auch nicht schön.“
15 Für ähnliche Beschreibungen und Bewertungen des Stadtteils durch dort lebende Personen vgl. Gebhardt et al. (1995, 52)
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Auch Samiha differenziert zwischen den Orten, an denen man als Erwachsener wohnen kann und dem Umfeld, das sie ihrer Tochter im Kindergartenalter zumuten möchte. In ihrer jetzigen Situation als junge Mutter würde sie lieber in die an Weidenpech grenzenden Stadtteilen Ehrenfeld oder Nippes ziehen. Da in diesen Stadtteilen die durchschnittliche Miete jedoch vergleichsweise hoch ist, hat sie bisher keine passende Wohnung gefunden. Eine Alternative bleibt für sie noch die Remigration nach Marokko (vgl. Kap. 6.2.2). Samiha verbindet somit eine starke Heimatorientierung nach Marokko, wo sie aufgewachsen ist, mit einer ethnisch distanzierten Haltung, was die Wohnungssuche in Deutschland angeht. Dies mag zunächst erstaunen. Es wird jedoch verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie stark sich in Köln ethnische und soziale residentielle Segregation überlagern. Aufgrund der geringen Gruppenstärke und der vergleichsweise geringen Konzentration marokkostämmiger Migranten bedingt die Wahl eines stark segregierten Kölner Stadtteil in der Regel auch das Zusammenleben mit „anderen Andern“ (in Samihas Fall den „Zigeunern“), zu denen die Befragten keine Zugehörigkeits- oder Heimatgefühle entwickelt haben (vgl. ähnl. Gebhardt et al. 1995, 52 für italienische Anwohner in Chorweiler). Insgesamt wird am Beispiel meiner Kölner Gesprächspartner/-innen sehr deutlich, wie bei der Begründung von Wohnpräferenzen baulichen Strukturen, Infrastrukturausstattung und soziale Zusammensetzung der Bewohner mit intersubjektiven Raumimages und persönlichen Erfahrungen vor Ort verschnitten werden. Bei den konkreten Wohnentscheidungen spielen darüber hinaus auch noch die Haushaltszusammensetzung (mit oder ohne Kinder) sowie das verfügbaren Haushaltseinkommen als beschränkende Faktoren eine entscheidende Rolle. Die Klein- und Mittelstädte Für die in den Klein- und Mittelstädten der Städteregion Aachen und des Rhein-ErftKreises lebenden Interviewpartner lassen sich zwei zentrale Spannungsfelder ausmachen, die ihre Wohnstandortwahl beeinflussen. So wirken der wirtschaftliche Strukturwandel sowie das begrenzte und sich veränderte Arbeitsplatzangebot in der Region als limitierende Faktoren. Gleichzeitig jedoch fühlen sich die hier aufgewachsenen Personen in der jeweiligen Stadt beheimatet, wie z.B. Latifa erläutert: „Seit ich in Deutschland bin, hab ich eigentlich in Eschweiler gelebt. Wo ich dann 18 Jahre alt war, bin ich mit meiner einen Schwester nach Aachen gezogen. Da haben wir fünf Jahre glaube ich gewohnt. Haben auch gearbeitet, im Eurogress, Partyservice haben wir da gemacht. Dann wo ich geheiratet hab, war das erste, was ich gedacht habe ‚ich zieh wieder nach Eschweiler‘.“ MD: „ah, ok?“ (lacht) L: „Also man fühlt sich schon heimisch, in dem Sinne. Das hört sich jetzt doof an. Aber ich finde es nicht schön in Großstädten. Aachen ist mir schon ein bisschen zu groß. […] Eschweiler ist ein bisschen ruhiger. Die Gesichter kennt man son bisschen und so. Und daher. Seitdem bin ich auch in Eschweiler hängen geblieben.“
Auf meine Nachfrage, ob Aachen für sie eher so eine Zwischenstation war, erklärt sie, dass es damals nicht anders möglich war. Sie und ihre Schwester hätten sonst zu ihren Ausbildungsstätten pendeln müssen. Da sie sich sowieso nicht gut mit ihrem Vater und dessen zweiter Frau verstanden, zogen sie lieber aus. Während sie jedoch das großstädtische Wohnumfeld in Aachen für ihr Single-Dasein als passend emp-
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fand, präferiert sie für die Familienphase das kleinstädtische, suburbane Umfeld, in dem sie aufwuchs: „Für die Zeit war das ok. War man auch frei, keine Kinder, kein Mann, kein gar nix, ne? Dann war Aachen schon ok. Dass man abends dann mal was trinken gegangen ist und so. So für die Kinder oder wenn man bisschen ruhiger wird und mit heiraten und so, finde ich Eschweiler ok.“
In ähnlicher Form beschreibt auch Daoud seinen Heimatort Setterich als perfektes Umfeld für seine Kindheit, mit vielen Sport- und Freizeitangeboten. Nach Aachen, wo er heute einen Obst- und Gemüseladen führt, zog er zunächst aus beruflichen Gründen. Sein Ziel des Erwerbs von Wohneigentum konnte er in der Stadt jedoch nicht realisieren. Aufgrund der günstigeren Immobilienpreise hat er daher ein Haus im suburbanen Umfeld gekauft. Als ich ihn frage, ob denn seine Orientierung insgesamt schon auf Aachen gerichtet sei, bringt er seine Bindung an die Region sehr trocken auf den Punkt: „Man haut schon nicht ab, ne?“ Dieses Gefühl wird von vielen Interviewpartnerinnen der zweiten Generation geteilt. Allerdings verweist Faiza für Bergheim auf das Arbeitsplatzangebot als – gerade auch genderspezifisch – beschränkenden Faktor: „Also es gibt definitiv sehr viele Leute, die auspendeln um zu arbeiten. Natürlich gibt es hier in der Nähe auch immer noch gute Jobs. Es ist ein bisschen schwieriger. Also die Arbeitslosenrate hier im Kreis ist bestimmt schon hoch. Also es kommt immer ganz drauf an, was für Jobs man machen möchte, oder was für Ausbildungen. Klar, Arzthelferin [ist] hier bestimmt kein Fehler, da findet man bestimmt ‘was. Aber es gibt halt diese speziellen Dinge. Jetzt zum Beispiel bei RWE weiß ich, dass immer noch sehr viele beschäftigt sind. Aber das ist natürlich auch wieder nur ‘nen Job für Männer. Also ‘ne Frau im Kessel, die da jetzt mit Hochdruck reinigt und so, glaube ich, ist nicht so gerne gesehen. Schafft sie wahrscheinlich auch körperlich gar nicht so richtig.“
Während Faiza sich bisher durch die Wahl ihre Ausbildung (Arzthelferin) und das Auspendeln (zum Studium) mit den Gegebenheiten in Bergheim arrangieren konnte, ist ihre jünger Schwester, die deutlich stärker karriereorientiert ist, aus beruflichen Gründen nach Frankfurt verzogen. Faiza beschreibt sie als eine „Business Lady“, die in einer festen Beziehung aber unverheiratet und alleine lebend zwei Jobs unter hohem Arbeitsaufwand jongliert und somit eine ganz andere Laufbahn eingeschlagen hat als sie selbst und daher auch einen anderen Lebensstil pflegt. In Einklang mit Erkenntnissen der Forschung zu Binnenmigrationen und innerstädtischen Umzügen von türkeistämmigen Arbeitsmigrant/-innen (Hanhörster 2012, 72), zeigt sich auch für die in den kleineren Städten lebenden marokkostämmigen Arbeits- und Heiratsmigranten eine starke Bindung an den Ort bzw. die Region, in der sie in Deutschland zum ersten Mal die Anstrengung der Neu-Beheimatung unternommen haben.16 Fatou, die vor 17 Jahren nach Bergheim geheiratet hat, und erst sehr spät anfing Deutsch zu lernen, erklärt z.B. heute sehr überzeugt: „Ich liebe
16 Zu Plänen und Wünschen von Re-Migration im Rentenalter vgl. folgendes Kapitel.
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Bergheim“. In Bergheim kennt sie sich aus und hat ihre Beziehungen. Wegziehen möchte sie nicht. Sie wohnt ganz in der Nähe von zwei ihrer Schwägerinnen und kann daher auch abends, wenn es etwas später geworden ist, alleine und selbstständig von deren Wohnungen nach Hause laufen. Insgesamt zeigt sich somit, dass wie von Wiesemann (2008, 188) und Hanhörster (2012, 72) für türkeistämmige Mieter und Eigentümer in Köln und Duisburg nachgewiesen, auch für viele marokkostämmige Stadtbewohner in NRW die räumliche Nähe zu Familie und Freunden einen wesentlichen Faktor für die Wohnstandortwahl darstellt. In manchen Familien (bspw. Amal und Farid) ist es dabei der dezidierte Wunsch der nicht außer Haus arbeitenden Mutter, der die gesamte Familie zu einem Umzug bewegt. Wie die ehemaligen Studienmigranten in Köln zeigen, suchen aber auch Männer mit und ohne eigene Familie die räumliche Nähe zu engen Freunden. Familien mit eigenen Kindern schätzen neben den Kontaktmöglichkeiten auch das Betreuungs- und Hilfsangebot durch die eigenen (Schwieger-)Eltern in unmittelbarer Nähe (u.a. Yakub oder Faiza in Bonn). Enge Netzwerke von Familie und Freunden im eigenen Wohnquartier oder gut erreichbarer Entfernung spielen dabei quer über alle Untersuchungsstädte eine Rolle. In den Klein- und Mittelstädten erwies sich darüber hinaus teilweise auch ein weitergehender Bezug zu einer Art „lokalen Gemeinschaft“ als wichtiger Faktor für Wohnstandortwahl und Wohnzufriedenheit. Der hier aufscheinende Unterschied17 lässt sich durch auf zwei miteinander zusammenhängende Voraussetzungen erklären: Zum einen finden sich als Resultat der in Kapitel 4.1 beschriebenen Anwerbepolitik in den Mittel- und Kleinstädten bis heute ausgeprägte kleinräumige Konzentrationen marokkostämmiger Einwohner, die darüber hinaus häufig aus ähnlichen Herkunftsregionen und Dorfgemeinschaften in Marokko kamen. Zum anderen wurden die angeworbenen Arbeitskräfte zusammen mit anderen deutschen Arbeitern in der Nähe der Gruben und Kraftwerke angesiedelt.18 Diese Konzentration einer vergleichsweise homogenen marokkostämmigen Bevölkerung (ländliche und dörfliche Regionen im Nordosten, geringerer Bildungsgrad) in einem kleinstädtischen Umfeld, in dem auch von deutscher Seite (traditionell) viel Wert auf Nachbarschaftsbeziehungen und Gemeinschaft gelegt wurde, beförderte die Entstehung von lokal verorteten marokkanischen Communities. Gerade in den Anfangsjahren der Familienzuwanderung waren diese engen Beziehungen und Nachbarschaftsnetzwerke eine wichtige Ressource bei der Eingewöhnung und Integration in das neue Wohnumfeld. So erzählt z.B. Rihanes Schwiegermutter bei einem informellen Gespräch, dass sie in Baesweiler als eine der ersten Frauen ankam. Da ihr Mann im Bergbau arbeitete und den längsten Teil des Tages nicht ansprechbar war, musste sie mit vielen Alltagsproblemen alleine klar kommen. Sie fühlte sich nicht sehr wohl und weinte oft. Etwas Hilfe und Unterstützung erfuhr sie jedoch durch ihre deutschen Nachbarn. Sie erinnert sich z.B. noch heute sehr de-
17 Dass ähnliche Phänomene auch in Stadtquartieren der Großstädte existieren ist nicht auszuschließen, wurde jedoch von meinen Interviewpartner/-innen in Aachen, Köln und Bonn nicht in gleicher Form thematisiert. 18 Der Errichtung von Arbeiterwohnungen in der Nachkriegszeit verdankt bspw. der Ort Setterich bei Baesweiler seine heutige Ausdehnung. Vgl. www.geschichtsverein-setterich.de.
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tailliert an eine Szene nach ihrem Einzug, als ihre Nachbarin ihr mit Gestik, Mimik und Lautmalerei zu erklären versuchte, wie sie ihren Gasherd zu bedienen hatte und welche Gefahren damit einhergingen. In ihrem Haus hätten sie die Wohnungstüren auch nie abgeschlossen, und es wäre völlig normal gewesen, dass man sich gegenseitig Dinge ausborgte und nach Rat fragte. Eine deutsche Teilnehmerin an einem Frauenfrühstück in Setterich erinnert sich ebenfalls gerne daran zurück, wie gut in ihrer Jugend die Nachbarschaftsbeziehungen quer über alle Herkunftskontexte funktionierten.19 Dies hätte sich heute geändert. Viele der deutschstämmigen Familien seien aus ihrer Straße weggezogen, und mit den vielen Neuzuzügen sei der alte Gemeinschaftssinn verloren gegangen. Andererseits wurden in den Interviews auch die Schattenseiten der engen lokalen Gemeinschaft deutlich. Die eigensinnige und nach Unabhängigkeit strebende Ketou beispielsweise erzählte, wie schwierig es für sie war, ihre Ideen und Wünsche in einem Umfeld umzusetzen, in dem nicht nur ihr eigener Mann ihren Bildungsaspirationen feindlich gegenüber stand, sondern diese auch innerhalb der marokkostämmigen Community in Alsdorf den Rahmen des sozial Erwünschten sprengten. Indem sie darauf bestand, Deutsch zu lernen, arbeiten zu gehen, ihren Führerschein zu machen, und sich schließlich auch noch scheiden ließ, wurde sie zur Außenseiterin und musste ertragen, dass sie von den anderen geächtet und geschnitten wurde. Von ihrem aktuellen Wohnort in Aachen aus kommt sie dagegen nicht nur schneller zu ihrem Arbeitsplatz und ihrem neuen Bekanntenkreis in der Moschee sondern profitiert auch von der in einer Großstadt eher gegebenen Anonymität des täglichen Lebens. Auch Rihane, die in einer benachbarten Kleinstadt aufgewachsen ist, kann sich nicht vorstellen, sich in die lokal konzentrierte marokkanische Community in Setterich einpassen zu müssen. Mit ihrem Mann, der hier groß geworden ist, findet sie daher einen Kompromiss: Sie ziehen in ein Neubaugebiet im Außenbereich von Setterich, wo der Durchmischungsgrad eher dem ähnelt, den Rihane aus ihrer Kindheit kennt. Aufgrund der geringen Entfernungen innerhalb des Ortes wohnen sie dabei immer noch so nah an der Wohnung der Schwiegermutter, dass fußläufige Besuche untereinander problemlos möglich sind. Eine umgekehrte und sehr interessante Ausprägung von Wohnstandortpräferenzen zeigen die Studienmigranten Amghar und Laite. Für Laite, der zum Studium nach Aachen kam und bis heute in der Nähe als Koch arbeitet, war ein Umzug nach Setterich vergleichsweise naheliegend und beruhte auf dem Tipp eines Bekannten. Den Informatiker Amghar dagegen, der schon viele Umzüge und Wohnortwechsel innerhalb Deutschlands und Europas hinter sich hatte, brachten weder Arbeitsstelle noch persönliche Kontakte nach Setterich:
19 Dass solche guten und teilweise sehr engen nachbarschaftlichen Beziehungen auch in den größeren Städten in NRW mindestens zur Zeit der ersten Gastarbeitergeneration und für deren in Deutschland aufwachsenden Kinder als Alltagsrealität zu finden waren, davon berichtet nicht nur die in Bonn aufgewachsene Faiza. Auch einige türkeistämmige Interviewpartner/-innen von Hanhörster (2012, 75) haben in Duisburger Wohnvierteln sehr ähnliche Erfahrungen gemacht.
248 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „Als ich mein Studium in Germersheim absolviert hatte, war ich einmal auf dem marokkanischen Konsulat in Frankfurt. Habe ich gefragt: ‚Wo wohnen die Leute von Ouarzazate?‘ Dort war ich der einzige, der aus Ouarzazate kam, und ich war der einzige der Tamazight vom Süden spricht. Wenn ich Berberisch sprechen wollte, dann musste ich irgendwie immer bezahlen. Entweder Telefonieren, oder musste ich nach Frankreich oder nach Holland ausreisen. Dann [hat mir jemand] empfohlen, dass ich hierher umziehen soll. Nach Überlegung bin ich hierhergekommen. Der erste, den ich gefragt habe ‚Wo sind die Leute aus Ouarzazate.‘ [sagte mir] ‚Es gibt einige Mengen hier, und warum fragst du so?‘ Und ich habe gesagt ‚Ich bin aus Ouarzazate. Ich habe jetzt eine Tochter und ich suche irgendwie die Leute, [mit] den gleiche Normen, gleicher Zughörigkeit, gleichen Eigenschaften. Und ich will, dass meine Kinder da auch aufwachsen werden.‘ Dann hat er gemeint: ‚Ok, also wenn du denkst, dass es hier für deine Kinder besser ist, komm, essen wir zuerst zusammen.‘ Und hat mich direkt zu ihm eingeladen. Dann hat sich dieses Gefühl irgendwie vertieft, dass ich hierher umziehen sollte. Und seit vier Jahren fühle ich mich hier so, wie ich mich die ersten neun Jahre in Germersheim nicht gefühlt habe. Ich hab direkt mein zu Hause gefunden.“
An diesem Beispiel zeigt sich die Tendenz eines spezifischen Habitus, sich ein ihm passendes Umfeld zu suchen. Sowohl Laite als auch Amghar sind in kleinen Dörfern in der Region um Ouarzazate aufgewachsen und sozialisiert worden. Weder ihre Umzüge in größere Städte in Marokko und nach Deutschland, noch ihr Bildungserwerb haben die Bindung an diesen Sozialisationskontext gekappt. Wie die von Julia Verne (2012) beschriebenen translokalen suahelischen Händler haben auch sie daher in Setterich sofort das Gefühl, „zu Hause anzukommen“. Was die beiden hier schätzen ist jedoch nicht nur die Möglichkeit, ihre Sprache zu pflegen und ihre Kinder an den in ihrer eigenen Kindheit erlernten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata teilhaben zu lassen. Sie haben auch das Gefühl hier Teil einer ganz besonderen Solidargemeinschaft sein zu können: A: „Was ich auch gut hier finde: dass die Leute irgendwie zusammen arbeiten und Kollektivität. Und wenn man krank ist, dann wird man von jedem besucht, also ob bekannt oder unbekannt, kommt jeder um dich zu besuchen. Es gibt diese religiösen Feiertage oder Feste. Jeder besucht jeden und das finde ich wunderschön hier. Nirgendwo findet man so was hier.“ L: „Dieses miteinander zusammenarbeiten. Wirklich jeder ist für den anderen hilfreich, egal was. Zum Beispiel wenn man zum Krankenhaus [geht], für Neugeburt, gibt es wirklich mindestens zehn Familien, die sagen ‚die Kleinen kommen zu uns bis deine Frau wieder vom Krankenhaus zurück kommt‘. Wie soll ich das so finden, wo anders?“
In der kleinstädtischen Nachbarschaft finden Laite und Amghar die von ihnen gesuchte Solidarität und eng lokal konzentrierten sozialen Bindungen. Amghars Schlussfolgerung lautet daher: “Große Städte, große Einsamkeit. Kleine Städte, gute Zugehörigkeit, gute Zusammenarbeit. Einfache Beziehungen“. In einem Nachsatz zu dieser Diskussion fällt Laite jedoch auf, dass ihre Darstellungen eventuell in Richtung auf einen Wunsch nach Parallelgesellschaft interpretiert werden könnten. Er beeilt sich daher zu betonten, dass sie nicht gegen eine Integration in Deutschland wären. Amghar ergänzt, dass sie sich hinsichtlich der Arbeitsmigranten sogar als Türöffner und Wegbereiter von Integration betrachten würden. Ob-
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wohl sie sich also der örtlichen Community zugehörig fühlen, sehen auch diese beiden Studienmigranten durchaus einen habituell geprägten Unterschied zwischen sich und den zumeist älteren Arbeitsmigranten, mit denen sie auf einer täglichen Basis zu tun haben. Zumindest in Bezug auf meine Person und mein Forschungsprojekt zeigten beide in der Tat eine wesentlich größere Aufgeschlossenheit und Vertrauen, als ich sie bei älteren männlichen Arbeitsmigranten der ersten Generation antraf. So lud mich Laite zum Gespräch in seine Wohnung ein und war fast als einziger bereit, mir spontan weitere Gesprächspartner aus seinem weit gefächerten persönlichen Netzwerk zu vermitteln. Interessanterweise fielen bei der Netzwerkvisualisierung sowohl Laite als auch Amghar durch die Anzahl und die Intensität ihrer in vielen deutschen und europäischen Städten gepflegten Freundschafts- und Familienbeziehungen auf. Somit zeigt sich: Beide sind ebenso „lokal verankert“ wie „weltweit – d.h. transnational und multilokal – vernetzt“. Und auch in ihren Dispositionen verbinden sie eine stark traditionell-bewahrende Wertehaltung mit einer hohen Offenheit und einer Bereitschaft zum sozialen Engagement, die weit über lokale ‚Community‘ am Wohnort hinaus reicht. Zwischenfazit In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass sich jenseits aller individuellen Unterschiede die meisten meiner Interviewpartner/-innen an ihrem aktuellen Wohnort wohl und beheimatet fühlen. Ebenfalls nachgewiesen werden konnte die hohe Bedeutung sozialer Beziehungen für die Wohnortwahl und Ortsbindung sowie die besondere Prägung durch „Kindheimat“ bzw. einen kindheitlichen Sozialisationskontext einerseits und/oder eine Neu-Beheimatung nach der Einreise in Deutschland andererseits (vgl. hierzu Reuber 1993, 60ff., 95). Unzufrieden mit ihrem konkreten Wohnstandort zeigten sich hauptsächlich diejenigen, deren Einkommen ihnen unter den Bedingungen des stadtspezifischen Wohnungsmarktes die Realisierung ihrer „haushaltseigenen Präferenzen“ verwehren (Hanhörster 2012, 69) sowie diejenigen, denen ihre Position im Haushalt eine Durchsetzung ihrer persönlichen Präferenzen erschwert; z.B. im Fall des 16-jährigen Schülers Najib. Diskriminierung- und Ausgrenzungserfahrungen, Fremdheitserlebnisse oder das Gefühl eines „missmatches“ zwischen lokalen Milieustrukturen und den eigenen Dispositionen beeinflussen in einigen Fällen die innerstädtische Wohnstandortwahl bzw. führen zur Vermeidung eines bestimmten Wohnquartiers. Bezogen auf eine gesamtstädtische Ebene (teilweise auch übertragen auf ganz NRW) äußerten dagegen viele der Befragten das Gefühl, die vergleichsweise hohe (auch sichtbare) Heterogenität der Einwohner/-innen würde ihnen hier eine „Beheimatung“ leichter machen, als dies an anderen Orten20 (z.B. in Ost- oder Süddeutschland) vielleicht der Fall wäre. Obwohl viele meine Gesprächspartner/-innen in den Untersuchungsstädten in NRW – wie anderswo auch – immer wieder als natio-ethnokulturell ‚Andere‘ angerufen und teilweise auch diskriminiert werden, herrscht im
20 Ähnliche subjektive Wahrnehmungen und „Raumtheorien“ tauchen auch in anderen qualitativen Interviews mit jungen (sichtbaren) Muslimen auf (vgl. Frindte et al. 2011, 482).
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Großen und Ganzen das Gefühl vor, dabei zumindest nicht allein zu sein. Ähnlich wie es Anderson für eine als „cosmopolitan canopy“ charakterisierte Cafeteria so treffend beschreibt, befinden sie sich als fremd-identifizierte und identifizierbare Personen in den entsprechenden lokalen Kontexten zumindest in „guter Gesellschaft“: „Here well-dressed, middle-class black people have a chance to be taken as normal, even as ordinary. […] No longer must each black person […] be painfully visible among whites or eat alone; now he or she can sit unobtrusively in a multicolored crowd.“ (Anderson 2011, 160f.)
6.2.2. Translokale Netzwerke, Mobilität und Zugehörigkeiten Im Folgenden soll der Blick von den lokalen Lebenskontexten gelöst und auf die weiter reichenden biographisch angeeigneten Lebensräume gerichtet werden. Wie eingangs erläutert gehören hierzu Orte, an denen die Interviewpartner in der Vergangenheit gewohnt haben ebenso wie solche, die sie aktuell und regelmäßig aufsuchen oder wohin sie persönliche Kontakte unterhalten. Konkret wird daher zunächst danach gefragt, in welche Art multi-lokaler Netzwerke meine Gesprächspartner/-innen eingebunden sind. Zweitens wird kurz auf die sich wandelnden Rahmenbedingungen von (auch) grenzüberschreitender Mobilität einzugehen zu sein, wobei die in den Interviews deutlich gewordenen Zusammenhänge zwischen Konzepten von Mobilität, Beheimatung und Identität zu skizzieren sind. Aufbauend hierauf kann ich für die drei in Kap. 6.1 differenzierten Gruppen die jeweils kennzeichnenden Mobilitätspraktiken und Pläne sowie die diesen zugrunde liegenden Motivationen und Gründe nachzeichnen. Im Anschluss an ein kurzes Zwischenfazit wird in diesem Kontext bereits die Frage nach den Zusammenhängen, Spannungen und Widersprüchen zwischen translokalen Biographien, hieraus resultierenden raumbezogenen Zugehörigkeitsgefühlen sowie Kategorien der Fremd- und Selbst-Identifizierung aufgeworfen werden. Auf diese wird in Kap. 7.1 mit Bezug auf die Bedeutung translokaler Positionierungen für die subjektiven Reaktionen auf das deutsche Islambild zurückzukommen sein. Netzwerke Um einen Einblick in die vielfältigen pluri-lokalen Netzwerke zu erhalten, wurden die Interviewpartner/-innen gebeten, eine egozentrierte Netzwerkzeichnung zu erstellen (vgl. Kap. 4). In diese sollten sie alle wichtigen Bezugspersonen eintragen (Familie, Freunde oder auch Kollegen) und diese geographisch verorten. Die entwickelten Grafiken unterscheiden sich sowohl in ihrer geographischen Komplexität als auch in der Anzahl der angeführten Kontaktpersonen sehr stark. Meistens habe ich daher noch einmal nachgefragt, wer von den eingezeichneten Personen besonders wichtig ist. Die Antwort darauf lautete fast unisono „meine Familie“. Hiermit war bei Elternteilen in der Regel der eigene Partner und die Kinder gemeint. Allgemein wurden hierzu auch die eigenen Eltern sowie eigene Geschwister hinzugerechnet. Einzelne enge Freunde oder weitere Verwandte (Cousins/-inen; Tante/Onkel, Oma/Opa, Schwiegerfamilie) wurden hingegen deutlich seltener genannt. Gerade bei den wichtigsten Freunden war auffällig, dass diese häufig in der gleichen Stadt, oder zumindest in der gleichen Region in NRW wohnen. In weiter ent-
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fernten Städten innerhalb Deutschlands werden bedeutsame Kontakte seltener unterhalten. Eine größere Anzahl an Freunden in weiter entfernten Orten in Deutschland wird dabei meist von Personen angeführt, die aus Arbeits- oder Studiengründen selbst innerhalb von Deutschland umgezogen bzw. migriert sind. Dieser Fall tritt daher bei Studienmigrant/-innen etwas häufiger auf, als bei in Deutschland geborenen Personen. Freundschaften in andere europäische Länder oder nach Marokko werden von fast allen Befragten unterhalten. Die im Ausland wohnenden Freunde gehören dabei selten zu den allerengsten und wichtigsten Freund/-innen (Ausnahme z.B. Samiha). Ebenfalls feststellbar ist, dass über Ferienbekanntschaften hinausgehende Freundschaften zu Personen in Marokko bei den in Deutschland aufgewachsenen Personen tendenziell seltener vorliegen. Aber auch unter den Arbeits- oder Studienmigranten gab nur eine geringe Zahl an, außerhalb der eigenen Familie Freunde oder Bekannte zu haben, mit denen sie regelmäßigen Kontakt pflegen. Die (groß-)familiären Netzwerke der NRW-Marokkaner/-innen sind durch eine sehr ausgeprägte Multi-lokalität gekennzeichnet. Familienangehörige wohnen nicht nur in unterschiedlichen Städten in Marokko und Deutschland, sondern häufig über mehrere europäische Länder verstreut. Besonders oft genannt werden Verwandte in Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Spanien, vereinzelt aber auch in Italien und Großbritannien bzw. Nordamerika. Die bei unserer Befragung dokumentierte Diversität der Wohnstandorte der Großfamilien bestätigt die von Berriane (1995, 72f.) konstatierte hohe Mobilität insbesondere nordmarokkanischer Migranten. Es zeigt sich, dass vorhandene Familiennetzwerke für Kettenwanderungen genutzt werden. Angesichts der zunehmend strengeren Einwanderungs- und Grenzregimes in Europa, werden jedoch offensichtlich auch andere Strategien und Gelegenheiten zur Auswanderung genutzt. Ergebnis dieser flexiblen Nutzung von Opportunitäten sind multi-lokal aufgesplittete Großfamilienstrukturen. Obwohl vergleichsweise viele Personen marokkanischer Herkunft einen europäischen Pass und somit Niederlassungsfreiheit besitzen, scheint eine Weiterwanderung von Familienmitgliedern aus dem Ersteinwanderungs- in ein anderes europäisches Land, in dem Familienangehörige wohnen, eher selten zu sein. Eine Ausnahme sind hierbei innereuropäische Heiratsmigranten. Die Kontakte zu den Familienmitgliedern an verschiedenen Orten in Europa werden dagegen je nach individueller Beziehungsausprägung teilweise intensiv gepflegt – sei es telefonisch (vgl. u.a. Amal), oder durch Urlaubs- und Wochenendbesuche (vgl. u.a. Amghar und Laite). Besucht werden besonders häufig die schneller zu erreichenden Familienangehörigen in Belgien, Frankreich oder den Niederlanden. In anderen Fällen beschränken sich die Kontakte oft auf größere Familienfeiern oder einen zeitgleichen Urlaubsaufenthalt am Heimatort der Familie in Marokko. Auch eher sporadische Kontakte mit Familienmitgliedern in Marokko und anderen europäischen Staaten sind für die Biographien meiner Interviewpartner/-innen durchaus von Bedeutung. So bieten die Urlaubsaufenthalte in Marokko sowie die an verschiedenen Orten begangenen Familienfeiern oft eine Gelegenheit, um zukünftige Ehepartner kennen zu lernen. Dies wiederum löst aufgrund der multi-lokalen Familienstrukturen dann unter Umständen eine innereuropäische Heiratsmigration aus. Das für türkische Migranten in Deutschland verbreitete Klischee der ‚importierten Ehepartner/-innen‘ jedoch, das nach Hajjis (2009, 25) Auswertung des Mikrozensus 2005 auch auf marokkostämmige Allochthone zuzutreffen scheint, konnte für
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meine 30 verheirateten, geschiedenen oder verwitweten Interviewpartner/-innen nicht durchgängig bestätigt werden. Aufgrund des damals hohen Männerüberschusses und ihrer Rückkehrorientierung heirateten viele ledige Arbeitsmigranten der ersten Generation eine Marokkanerin in Marokko und brachten diese dann nach Deutschland mit. Eine ähnliche Strategie wählten zum Teil auch bereits verheiratete Männer, deren erste Frau ihnen nach Deutschland nicht nachfolgen wollte. Die Heiratsstrategien der Studienmigranten – die ebenfalls in den ersten Jahren einen deutlichen Männerüberschuss aufwiesen (vgl. Abb. 12) – scheinen sich dagegen im Vergleich zu denen der Arbeitsmigranten diversifiziert zu haben. So finden sich unter den Ehepartnerinnen sowohl in Marokko sozialisierte Frauen (z.B. Souhaila und zweite Frau von Loutfi), aber auch Deutsche mit marokkanischen Wurzeln (Hakim und Hadou), in Deutschland (teil-)sozialisierte Deutsche russischer, bulgarischer oder osteuropäischer Abstammung (z.B. Sami, Hachem und Yassim) oder in Frankreich und Spanien sozialisierte Europäerinnen marokkanischer Abstammung (Amghar und Karim). Zwei Absolventen sind heute noch mit deutsch-deutschen Frauen verheiratet. Andere dieser (meist noch im Studium geschlossenen) Ehen mit deutschen Frauen sind inzwischen geschieden worden. Diese jeder statistischen Aufbereitung und Analyse trotzende Vielfalt der Eheund Heiratsbeziehungen21 stellt sich für die (bisher wenigen) verheirateten und geschiedenen Angehörigen der zweiten Generation ähnlich dar: hier sind als Ehepartner/-innen sowohl Deutsche marokkanischer, türkischer und polnischer Abstammung als auch in Marokko sozialisierte und ‚importierte‘ Partner zu finden. Dabei sind es heute nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die dank ihrer Arbeitstätigkeit und ihres eigenen Einkommens ihre Ehepartner aus dem Ausland nachkommen lassen können (so z.B. Faiza und Latifa). Angesichts des bereits thematisierten Klischees der ‚Importpartner‘ erscheint an dieser Stelle eine kurze Anmerkung zur Art der Ehepartnersuche und Eheschließung von Nöten: Wie Amals Geschichte bereits zeigte, ist für viele der Befragten die Meinung und Vermittlung der Eltern bei der Wahl eines passenden Ehepartners auch heute noch relevant. Wie viel Einfluss den Eltern jedoch zugestanden wird, variiert stark. Zwischen von den Eltern ausgesuchten und von den Kindern ‚bewilligten‘ Ehepartner/-innen (traditionellere arrangierte Ehen; vgl. hierzu Hense et al. 2008) über einvernehmlich selbst ausgewählte bis hin zu explizit gegen den Willen der Eltern gewählten Ehepartnern lässt sich ein weites Spektrum unterschiedlicher Arrangements erkennen. Ähnlich wie die Ehepartner/-innen sind auch die meisten Freundschaftsnetzwerke in Deutschland durch eine hohe herkunftsspezifische Diversität gekennzeichnet. Obwohl ich es vermieden habe, nach der Herkunft zu fragen, um eine Fremdethnisie-
21 Diese hohe Diversität wird auch von einer europaweiten Befragung von AuslandsMarokkanern bestätigt. Jeder fünfter in Deutschland lebenden verheirateten Befragte (Alter 35-65) gab an, mit einer Person nicht marokkanischer Abstammung verheiratet zu sein BVA (2009, 18). Damit sind die Deutsch-Marokkaner/-innen (im Vergleich zu den Befragten in FR, ES, BE, IT, NL) die am stärksten „exogame“ Gruppe. In der Gruppe der 18-34 jährigen (vgl. BVA 2010) werden für Frankreich (24%) und Belgien (21%) ähnlich hohe Anteile erreicht.
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rung zu vermeiden, griffen viele meiner Interview/-partnerinnen von selbst auf nationale Kategorien zur Identifizierung ihrer Freunde zurück. In diesem Fall beschrieben sie ihre Freundeskreise häufig als natio-ethno-kulturell bunt oder ausgewogen „gemischt“. Dies trifft sowohl für Zuwanderer der ersten als auch marokkostämmige Personen der zweiten Generation zu. Diejenigen allerdings, die ihre Freundeskreis als fast nur oder überwiegend Deutsch beschreiben, sind alle auch selbst in Deutschland aufgewachsen (Ausnahme z.B. Majida). Umgekehrt sind diejenigen, die ihre Freunde als nur oder hauptsächlich Marokkanisch klassifizieren, fast alle als Erwachsene zugewandert. Für die beiden Studienmigranten Yakub und Hakim stellt dabei die Sprache einen entscheidenden Faktor dar. Am Anfang ihres Aufenthalts in Deutschland haben sie sich um Kontakte und Freundschaften mit Deutschen bemüht, um die Sprache besser und schneller zu lernen. Heute dagegen sehen sie als sprachlich genug versiert und mental ausreichend integriert an. Da sie in Beruf und Freizeit viel Deutsch sprechen, sehen sie es nicht als notwendig an, sich explizit um neue Kontakte mit Deutschen zu bemühen. Inzwischen schätzen sie es, sich mit ihren besten Freunden auch in Köln auf Marokkanisch unterhalten zu können. Das sei „ein bisschen bequemer“ und entspannter: Denn „Sprache – das ist auch ein bisschen zu Hause“. Translokale Mobilität und Kommunikation – Rahmenbedingungen Aus einer transnationalen Perspektive (vgl. Kap. 4.2.1) werden Fortschritte in Transport- und Telekommunikationstechnologien als wesentliche Voraussetzung für erhöhte und erleichterte translokale und transnationale Kontakte und Praktiken genannt. Dass hier tatsächlich innerhalb der letzten 20 Jahre entscheidende Fortschritte gemacht wurden, betonen auch die Studienmigranten, die Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland einreisten: „Vor siebzehn Jahren oder sechszehn Jahren, das war so ein Problem in Deutschland, wenn man hier war und will nur telefonieren. Bis dass Sie die Leitung kriegen und so was, das dauert allein halbe Stunde bis eine Stunde. Ne? Und dann warten noch zwei Leute draußen: ‚Bitte, jetzt‘, ‚Nein, ich muss noch mal wählen.‘ – Und heutzutage, das ist wunderschön, also, das heißt kann man fast jeden Abend mit den Eltern mal telefonieren. Oder im Internet sehen. Also die Möglichkeit, diese Kommunikation ist da. Und, ne? Ist etwas anderes.“ [Loutfi, Pharmareferent, Ende 30, Aachen]
Auch Manar berichtet, dass bei ihrer Ankunft Heimflüge und Telefonate so teuer waren, dass sie allein deswegen arbeiten gehen musste. Heute dagegen plant ihre Schwester mit ihren Töchter öfter mal für ein langes Wochenende nach Marokko zu fliegen, um so den Kontakt zu ihren Eltern aufrecht zu erhalten. Neben günstigere Flüge und Telefonate sind heute weitere Kommunikationsmöglichkeiten wie E-Mail sowie Messenger-Services bzw. Internettelefonie (z.B. Skype oder MSN) getreten. Diese Möglichkeiten werden von vielen der jüngeren Befragten genutzt, um Kontakte mit Freunden und Verwandten in verschiedenen europäischen und marokkanischen Städten und Dörfern aufrecht zu erhalten (siehe u.a. Amal). Virtuellen Kommunikationsformen kommt somit eine wichtige Funktion für die Aufrechterhaltung von translokalen, grenzüberschreitenden Freundschaften und Familienbeziehungen zu (vgl. Faist 2000, 13f., Glorius 2007, 295). Dennoch zeigte sich in
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den Interviews, dass gegenseitigen Besuchen und face-to-face Kontakten eine mindestens ebenso bedeutende Rolle zugewiesen wird. So nannten auch in der bereits erwähnten europaweiten Befragung von Auslands-Marokkanern die meisten der in Deutschland Befragten fehlende soziale Beziehungen als Grund dafür, dass sie nie nach Marokko reisten (BVA 2010). Strukturelle Einschränkungen wie finanzielle Probleme oder Zeitmangel wurden dagegen deutlich seltener angeführt. Dass sich diese zwei Faktoren jedoch weiterhin sowohl auf Mobilität allgemein als auch auf die Anzahl und Frequenz von Urlaubsreisen im speziellen auswirken, wurde in meinen Interviews deutlich. Der ehemalige Studienmigrant und heutige Aushilfsarbeiter Rachid beispielsweise, der unter meinen Interviewpartner/-innen sicherlich das geringste Einkommen und das prekärste Arbeitsverhältnis aufweist, war schon seit vielen Jahren nicht mehr bei seiner Familie in Marokko. Er bedauert, dass auch viele seiner Kontakte innerhalb von NRW inzwischen deutlich schwächer geworden seien, da er sich eine Bahnfahrt z.B. von Aachen nach Duisburg oder nach Bonn mit seinem derzeitigen Einkommen nicht leisten kann. Der ebenfalls in Aachen lebende ehemalige Studienmigrant Yassim, der gerade einen Imbiss eröffnet hat, betont, dass ihn seine Selbstständigkeit derzeit sowohl finanziell als auch zeitlich so weit einschränkt, dass er seine Eltern in Marokko deutlich seltener besucht, als ihm das zuvor als Student und angestellter Kellner möglich war. Für die meisten der Befragten ist es allerdings inzwischen die frei verfügbare Zeit, die die Frequenz und Dauer von Urlaubsaufenthalten und Familienbesuchen außerhalb des unmittelbaren Wohnumfeldes am stärksten einschränkt. Dies gilt nicht nur für Arbeitnehmer/-innen und Schüler/-innen wegen ihrer gesetzlich vorgegebenen Urlaubszeiten. Auch Personen, die nicht in ein Arbeitsverhältnis eingebunden sind (und daher über vergleichsweise viel freie Zeit verfügen) sind in ihrer Mobilität eingeschränkt, wenn sie auf Transferleistungen des deutschen Sozialstaates angewiesen sind: So erzählt Fatou von großen Problemen, die ihre Familie mit der ARGE bekam, als sie einmal krankheitsbedingt ein paar Tage länger als erlaubt in Marokko verblieben war. Derzeit wartet sie sehnsüchtig darauf, Familienmitglieder und deren neugeborenes Baby in Frankreich zu besuchen. Ein bezahlbares Flugticket gäbe es. Fliegen darf sie jedoch nicht, weil sie die von der ARGE im Jahr genehmigten drei Wochen Abwesenheit bereits ausgeschöpft hat. Somit zeigt sich, dass trotz der vereinfachten und verbilligten Transportmöglichkeiten gewisse strukturelle Faktoren wie z.B. gesetzliche Regelungen einerseits und (begrenzte) eigene Ressourcen anderseits sich weiterhin limitierend auf translokale und transnationale Mobilität auswirken. Und zwar auch dann, wenn aufgrund eines legalen Aufenthaltstitels oder den entsprechenden Staatsangehörigkeiten Grenzübertritte problemfrei möglich sind. Heimat-Urlaub? Mobilität, Migration und Heimatskonzepte In der Regel jedoch entsprach die Häufigkeit ihrer Besuche in Marokko und anderswo weitgehend den persönlichen Wünschen der Befragten. Mit meiner meist im Rahmen der Netzwerkdarstellungen eingebrachten, vergleichsweise banalen Frage, ob und wie oft eine Reise nach Marokko unternommen würde, stieß ich allerdings erstaunlich oft ausführliche Erzählungen und Argumentationen an, in denen es erstens um die Gründe für die Besuche ging, zweitens (Raum-)Vergleiche vorgenommen
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wurden und drittens raumbezogene Zugehörigkeitsgefühle thematisiert und zukünftige (Re-)Migrationspläne diskutiert wurden. Die enge Verzahnung dieser drei Thematiken zeigt sich exemplarisch in dem folgenden Zitat. Der ehemalige Studienmigrant Loutfi hatte mir erzählt, dass seine neu zugewanderte Frau schnellstmöglich einen deutschen Pass bekommen soll, um sich so besser mit Deutschland zu identifizieren. Als ich ihn daraufhin frage, inwieweit er sich selbst mit Deutschland identifiziert, holt er zu einer sehr komplexen Argumentation aus. Er hätte zwar beruflich viel Stress, hätte hier jedoch seine Familie und seine Sicherheiten. Eine Rückwanderung? Die sei nicht mehr so einfach, wenn man erst einmal Kinder hätte: „Da muss man die ganze Familie mitnehmen. Ob man bereit ist, diese Entscheidung zu treffen, das ist nicht so einfach. […] Mit einem Kind muss man irgendwie versuchen, einen Mittelweg zu finden. Weil wenn sie in Marokko sind, dann sind nicht Marokkaner. Und in Deutschland dann auch keine Deutschen. Also von daher ist das ganz wichtig, dass man mit Kindern nach Marokko fährt. Ins Heimatland. Weil sonst ist das ein Paradox für die. […] Und ich sag mal, wir haben gottseidank diese Chance. Die müssen wir ausnutzen, als Ausländer. Warum? Weil wir können zwei Seiten sehen. Was negativ da ist. Wir können positive Dinge und negative Dinge übernehmen. Genau wie hier. Und wenn wir das ausnutzen, das ist auch was Schönes. Deswegen nehmen wir eigentlich unser Kind immer mit. Mindestens einmal im Jahr fliegen wir nach Marokko.“ [Loutfi, Ende 30, Pharmareferent, Aachen]
In diesem Zitat spielt Loutfi zunächst noch sehr vage auf die „positiven und negativen“ Dinge an, die man auf „beiden Seiten“, also in Deutschland und Marokko sehen und vergleichen könne. Eine derartige Logik raumbezogenen Argumentierens nach dem Prinzip „Hier so – dort anders“, findet sich in fast allen Interviews. Wie im Folgenden jedoch noch deutlicher werden wird, geht es in diesen „Raumvergleichen“ nicht primär um physisch-geographische Territorien. Vielmehr geht es um ein Abwägen und Kontrastieren von sozialen Beziehungen und Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die an verschiedenen Orten (körperlich) erlebt und daher gedanklich mit dem jeweiligen ‚Ort‘ verbunden werden. Auf der sprachlich-begrifflicher Ebene wird dabei jedoch oft nicht auf den konkreten ‚Ort‘ verwiesen. Stattdessen findet (wie oben gezeigt) eine Transponierung auf die Ebene des Nationalstaats statt. Das Lexem ‚Marokko‘ steht daher in vielen Fällen tatsächlich als Kürzel für lokal erlebte Formen von Gesellschaftlichkeit. Zweitens zeigt das Zitat, dass ‚Heimaturlaube‘ nicht nur den Migranten selbst eine Gelegenheit bieten, ihr Migrationsprojekt zu überprüfen und sich ihrer eigenen Herkunft zu versichern (vgl. hierzu für die Tourismusforschung Duval 2003, 267). Vielmehr binden sie durch diese Besuche – wie bei Loutfi gezeigt teilweise sehr bewusst – auch ihre in Deutschland aufwachsenden Kinder in ein transnationales Aushandeln von Identitäten und Beheimatungen ein (vgl. hierzu Meijerink 2009 mit ähnl. Erkenntnissen für junge marokkostämmige Personen in den Niederlanden). Wie im Folgenden gezeigt wird, gehören daher bestimmte Orte in Marokko und die dort lebenden Personen auch für die Angehörigen der zweiten Generation zu ihren biographisch angeeigneten und regelmäßig aktualisierten Räume. Die sich daraus ergebenden biographischen Ortsbezüge sind dabei jedoch variabel.
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Ortsbindungen im biographischen Verlauf: Die Zweite Generation Auf der einen Seite des breiten Spektrums individueller Ortsbezüge situieren sich diejenigen Interviewpartner/-innen, für die Marokko zuallererst einfach ein Urlaubsland ist. So charakterisiert z.B. die in Belgien geborene, heute 30-jährige Unternehmensberaterin Yasmina das Heimatland ihrer Eltern (in das diese inzwischen zurückgekehrt sind) aus einer vergleichsweise distanzierten Perspektive: „Marokko ist halt ein Urlaubsland. Schönes Urlaubsland. […] Ich fühl mich eher hier verstanden, als da drüben. Aber das ist schön halt. Wetter, ne? Das ist Strand, und die Gewürze, das Ambiente, Bauchtanz, und, und, und. […] Und Golfplätze gibts da jetzt auch! Also, gabs ja schon immer, aber spiele ich jetzt auch. Das Angebot ist halt einfach entsprechend.“
Wie es dazu kommt, dass sie persönlich weniger Bezüge zu dem Heimatort ihrer Eltern in Nordmarokko hat, erläutert sie später im Interview, als ich sie im Rahmen der Netzwerkanalyse nach eventuellen Kontakten in Marokko frage: „Also wir haben ne Riesenfamilie. […] Aber [Kontakt]? Nö, überhaupt nicht. Ne! Wer denn? Also außer meine Eltern. […] Meine Eltern haben Geschwister. Aber die hab ich im Jahr, wenn überhaupt […] einmal gesehen. Und die waren mir dann auch komisch. Die waren irgendwie anders als meine Eltern. Und die sind wirklich anders! Also keine Ahnung. Ich kanns nicht erklären. Anders. […] Man hat auch kein Bezug mehr, man hat auch keine Themen. Grade im Norden da hatten die bis vor ein paar Jahren noch keinen Strom. Und worüber will man denn sprechen? […] Und dann lachen die uns aus, weil wir die Sprache halt nicht kennen. […] Also wenn wir in Marokko waren, waren wir komischerweise immer glücklich wenn so Europäer da waren, also marokkanische. Weil mit denen haben wir uns verstanden. Das war echt genial! Das waren die besten Urlaube. Wenn andere Kinder da waren. Auch wenn sie aus Frankreich oder Deutschland waren. […] [Es gab] einen Onkel in Dortmund. Den hab ich geliebt über alles. Nur der ist gestorben. Der hat hier für Krupp gearbeitet: Krebs, leider Gottes. Weil der wirklich cool war. Der hat uns verstanden. Das war einer von den wenigen, die uns nicht komisch angeguckt haben, wenn wir ne lilane Strähne im Haar hatten. Wenn wir das in Marokko machen, dann verstehen die ja nich. Hier experimentiert man einfach rum. Da experimentieren die halt nur mit Kopftüchern. Ein anderes Experimentieren. Aber für uns war das normal. Dass man Kakao morgens trinken wollte statt Tee. Solche Sachen halt.“
Das Gefühl der Habitus-Inkongruenz, das Yasmina hier am Beispiel sehr banaler, alltäglicher Handlungspraktiken beschreibt, erschwert ihr den Aufbau einer persönliche Bindung zu ihren marokkanischen Familienangehörigen in Nador. Ohne diese soziale Komponente jedoch bleibt für sie auch der Ort, an dem diese Interaktionen stattfinden könnten, ohne tiefere Bedeutung: Urlaub macht sie hier oder an anderen Orten in Marokko, wo sie ihren Hobbys nachgehen kann, oder auch an ganz anderen Destinationen weltweit (zum Zeitpunkt des Gesprächs freut sie sich gerade sehr auf eine Karibikreise). Wie also bereits am Beispiel Amals gezeigt, wird der Aufbau einer personen- und/oder ortsbezogenen Bindung sowohl von den individuellen Dispositionen der „Besucher/-innen“ als auch dem spezifischen lokalen Umfeld und den Dispositionen der in Marokko lebenden Familienmitglieder entweder erleichtert oder er-
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schwert. Wird das Lebensumfeld am Ferienort als zu „fremd“ empfunden und haben die Kinder zu stark den Eindruck, mit ihren persönlichen Denk-, Wahrnehmung und Handlungsschemata in ihrem familiären Umfeld auf Unverständnis zu stoßen, bauen sie nur eine schwach ausgeprägte oder gar keine Ortsbindung auf. Da sich jedoch sowohl Dispositionen, als auch Interessensschwerpunkte im Laufe des Lebens verändern können, sind auch die persönlichen Bezüge zu Personen und Orten in Marokko (und die daraus resultierenden Mobilitätspraktiken) nie ein für alle Male fixiert, sondern bleiben veränderlich. Dies schildert z.B. die heute 28-jährige Faiza, die als Tochter von Arbeitsmigranten in Bergheim geboren wurde. Ihre Eltern nahmen sie im Urlaub regelmäßig in ihren Heimatort in Nordmarokko mit. Irgendwann jedoch weigerte sie sich, mit ihnen mitzukommen: „Und weil damals Marokko für mich nicht so wichtig war, weil Oma ja einfach nur ‘ne Frau war, die wir im Sommer besucht haben, bin ich immer lieber hier nach Holland zu meiner Familie gefahren. Mit 14 bin ich dann das erste Mal wieder [nach Marokko] mitgeflogen. Und seitdem immer wieder. Weil ich jetzt einfach weiß, was Familie ist. Jetzt habe ich sie kennengelernt, jetzt kann ich was damit anfangen.“
Inzwischen telefoniert sie regelmäßig mit ihren Verwandten in Berkane und fährt ein oder zwei Mal im Jahr dort hin. Heute ist ihr wichtigstes Ziel dabei, regelmäßig ihre Großmutter zu sehen. Diesen Bezug, den sie selbst erst aufbauen musste, versucht sie nun ihrerseits, ihren eigenen Kindern zu vermitteln: „Und wegen meinen Kindern will ich einfach den Kontakt zur Schwiegermutter aufrechterhalten. Weil ich fänd’s schade. Ich weiß natürlich jetzt nicht, ob [sie] im jugendlichen Alter […] noch sagen, ‚ja, wir fahren trotzdem immer mit‘ – war ja bei mir nicht so – aber so lange es geht, versuche ich, dass der Kontakt bestehen bleibt.“
Was im Extremfall aus einer derartig veränderten Perspektive auf Orte und Personen in Marokko entstehen kann, zeigt das Beispiel des 23-jährigen Farids, der von allen befragten Deutsch-Marokkaner/-innen die stärkste Beziehung zum Heimatland seiner Eltern aufgebaut hat. Wo und wie er sich und seine Biographie räumlich verortet, macht er mir sofort in seiner Einstiegserzählung klar: „Ich fange dann einfach mal an. Meine Geschichte. Also ich bin 23 Jahre, Marokkaner, gebürtig hier in Deutschland, Eschweiler. Aufgewachsen hier in Deutschland. Ich komme aus dem Osten, also Ost-Marokko. Meine Familie kommt aus einem Dorf, das heißt Bu-ar-fa [buchstabiert]. Dieses kleine Dorf gehört zu Oujda. Wenn man mich fragt, sage ich deshalb oft ‚ich komme aus Oujda‘. Aber eigentlich komme ich aus Buarfa. Und ich wohne hier in Aachen, bin geboren in Eschweiler, bin aufgewachsen in Setterich und in Alsdorf. […] Ich komme aus Marokko, wie gesagt. Marokko interessiert mich sehr. In dem Punkt, dass ich auf jeden Fall vorhabe, nach Marokko zurück zu kehren, also da zu wohnen. Für mein Leben da auch Sachen aufzubauen, sprich eine finanzielle Zukunft, Familie und so weiter. Das ist mein Ziel dort.“
Dieses Ziel hatte der aktuell als Speditionshelfer tätige Farid nicht immer. Als entscheidenden Wendepunkt, sowohl in seinem Leben als auch in seiner persönlichen Perspektive und Beziehung zu Marokko, benennt er seine religiöse Re-Konversion:
258 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „Ich bin oft in Marokko gewesen bevor ich religiös geworden bin. [Aber] vorher war ich gar nicht interessiert an Marokko. Marokko war einfach nur ein Urlaubsland. Wie für die Deutschen Spanien oder Mallorca. Und an zweiter Stelle ein Familienbesuch. Natürlich gabs auch positive Dinge: Man hat die Landschaften genossen und manchmal auch das Essen. Aber das hat ne andere Rolle gespielt in meinem Leben. Dann, wie gesagt, als ich religiöser geworden bin – islamischer würde ich sagen – habe ich ein ganz anderes Bild von Marokko bekommen.“
Aus seinem religiösen Interesse hinaus eignete Farid sich auch vertieftes Wissen über Marokko und seine Geschichte an – er erzählt im Interview minutenlang und sehr begeistert davon. Mit diesem neuen Wissen und seinem veränderten Blickwinkel besucht er 2009 seinen Vater. Dieser ist nach seiner Scheidung von Farids Mutter an den Heimatort seiner zweiten Frau nach Marrakesch gezogenen. Farid resümiert seine Eindrücke: „Es war auf jeden Fall ein sehr, sehr schönes Erlebnis. Mit einem anderen Bild, auf jeden Fall, mit einem anderen Bewusstsein. Dass ich in einem islamischen Land bin, von Muslimen, meistens Muslimen umgeben. Ja, und es waren einfach erstaunliche Sachen. [z.B.] dass viele Europäer da sind. Christen also. Und dass die auch mit den Marokkanern leben. Keiner tut denen was. Ganz normal. Die gehen einkaufen, keiner guckt die doof an oder so, ne? im Gegensatz zu, äh (lacht kurz) zu hier. [Das war] auf jeden Fall sehr erstaunlich, so was zu sehen. Dass die Menschen in Harmonie leben.“
In deutlichem Kontrast zu dem größten Teil des Interviews, in dem sich Farid aus einer gewissen Distanz zu sich selbst zu (re-)konstruieren scheint, ist seine Beschreibung einer Straßenszene in Marrakesch begeistert, aufgekratzt, emotional und lebendig. Die bei seinem Besuch wahrgenommene Harmonie sowie die unmittelbare Lebendigkeit des städtischen Lebens beeindrucken ihn offenbar sehr. Im starken Kontrast zu seiner aktuellen Situation in Deutschland (mittelprächtiger Hauptschulabschluss, zwei abgebrochene Ausbildungen, seit dem Wegzug des Vaters kein Halt in der Familie, seine Religiosität trägt ihn, vertieft jedoch sein Gefühl in der ihn umgebenden deutschen Gesellschaft nicht angenommen zu werden) fühlt er sich in Marrakesch ebenso geborgen wie lebendig; es ist für ihn zum Sehnsuchtsort geworden. Nach einer ähnlichen ‚imaginierten Heimat‘ sucht nur Achraf, der sich in Folge seines „Habitus-Schocks“ weder in seiner deutsche Umgebung, noch innerhalb seiner Familie verstanden und zugehörig fühlt. Am liebsten möchte er nach Südamerika auswandern, um zu testen, ob dort das Zusammenleben von nach Herkunft, Rasse und Religion unterscheidbaren Personen besser funktioniert als in Deutschland. Für die anderen europäisch sozialisierten Interviewpartner/-innen ist jedoch eine Auswanderung keine Option.22 Selbst diejenigen, die gerne und häufig nach Marokko fahren und dort enge Kontakte unterhalten, fühlen sich doch dort am stärksten veran-
22 Selbst bei den beiden bi-nationalen Ehen waren es die marokkanischen Männer, die trotz ihrer dort vorhandenen – für marokkanische Verhältnisse gut bezahlten – Arbeitsplätze nach Deutschland kamen und nicht umgekehrt ihre in Deutschland geborenen Frauen, die nach Marokko emigrierten.
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kert, wo sie aufgewachsen sind. So erzählt die heute 27-jährige Studentin Amina über die Besuche im Heimatdorf ihrer Eltern im Nordosten Marokkos: „Doch, so durchschnittlich ein Mal im Jahr fahren wir dahin. Es ist schön. Traditionell haben wir das immer gemacht, dass man eben nach Marokko fährt um die Familie zu sehen. […] Für mich ist es [aber] nicht nur ein Familie Sehen. Es ist auch eine ganze andere Art von Gesellschaft. Mit vielen Defiziten auch. Aber auf einer anderen Seite gibt´s da einiges was mir hier fehlt: diese Nachbarschaft, diese Gastfreundlichkeit, dieser manchmal so unkomplizierte Umgang mit einander. Also wenn man etwas braucht, dann denkt man nicht einmal darüber nach, dann beim Nachbarn zu klingeln, und bei dem Nachbarn vom Nachbarn wenn er nicht da ist und etwas anzunehmen (lacht). Also einfach diese Menschlichkeit. Diese offenen Türen auch. Das ist schön. Das ist so wie eine kleine Therapie, wenn man ein paar Wochen in Marokko ist. Aber dann reicht es auch. Weil wir – also meine Geschwister und ich – sind hier in Deutschland groß geworden. Hier kenne ich mich auch aus. Ich hab natürlich einen viel intensiveren Bezug zu Deutschland als zu Marokko. Man merkt schon, das [in Marokko] ist was Besonderes. Auch weil die Familie da her stammt und weil ich meine Sprache sprechen kann, und weil einige Sachen ähnlich sind, was familiäre Dinge angeht. Aber es ist was anderes. Das ist nicht# Also meine Heimat ist eher Deutschland als Marokko.“ MD: „[Hm] Das ist dann mehr so ein Ferien-Erholungsort?“ A: „Ja. Aber mit noch einem anderen Bezug.“
Selbst diejenigen also, die sich am jeweiligen Urlaubsort in Marokko sehr wohl fühlen und für die ein Bezug zu Marokko Teil ihrer „räumlichen“ Biographie und Identität darstellt, identifizieren doch ihre „Kindheimat“ in Deutschland eindeutig als den Ort, an dem sie sich im direkten Vergleich eher „zu Hause“ fühlen (vgl. Najib, Ines, Rihane, Taufik, ähnl. Erkenntnisse bei Abdel-Samad 2006, 198 und Nökel 2007, 136). Grundlage dieses Beheimatungsgefühls ist ein (sozial-räumlicher) Kontext, in dem eine Habitus-Habitat-Kongruenz ein „fragloses Sein“ ermöglicht (wobei, wie folgend zu zeigen sein wird, das Gefühl einer solchen Passung weder mit einer „absence of desire“ (Ahmed 1999, 339), noch mit konfliktfreien alltäglichen Interaktionen oder einer unhinterfragten Zugehörigkeit einhergehen muss oder damit gleichzusetzen wäre). Bleiben, Gehen oder Pendeln? Die Rentner der ersten Generation Ihre Eltern dagegen – die in den 1960ern bis 80ern eingereisten Arbeits- und Heiratsmigranten – sind zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, in einem oft ländlich-dörflich geprägten Umfeld aufgewachsen. Sie kamen – wie aus der Gastarbeiterforschung hinlänglich bekannt – mit dem dezidierten Ziel eines nur temporären Aufenthalts nach Deutschland. Den Traum der Remigration haben viele marokkanischen Arbeiter/-innen über die Jahre aufrechterhalten. Daher ist es kaum überraschend, dass viele der Kinder berichten, dass ihre Eltern als Rentner nach Marokko zurückgekehrt sind. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Gut erhaltene soziale Netzwerke vor Ort und Immobilien- oder Landbesitz erleichtern die Entscheidung zur Rückwanderung deutlich. Einen guten Eindruck der in eine solche Entscheidung eingehenden Einflussfaktoren gibt Yasmina, als ich sie danach frage, wie es dazu kam, dass ihre Eltern in ihren Heimatort im Nordosten Marokkos zurückgekehrt sind:
260 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „Ja. Mein Vater ist eigentlich das Problem. […] Der hat wirklich sein Leben lang gearbeitet. In der Stahlindustrie. Also das war kein einfacher Job. Der hat auch seine Hände verbrannt, Lippen verbrannt... Ähm, ja warum? Einmal das Wetter. Das Wetter ist wirklich ein Problem. In Belgien regnet es immer. […] Warum Marokko? Weil er sehr viele Hobbys hat. Er hat nen Adler da unten. Das kann er hier nicht, zu Hause. Er hat Olivenplantagen, die hat er jetzt wieder neu angefangen zu bepflanzen. Ja, er liebt die Gärtnerei. Und das sind Sachen, mit denen er sich jetzt auseinander setzt. Und ja, man kann [dort] rumlaufen, wie man möchte. Ich glaub das ist für ihn auch wichtig. Sie kennen ja dieses Gewand, das man anzieht, dieses lange Kleid? […] Meine Eltern, für die war das doch immer irgendwie der Traum, zurück zu gehen. Joa. Ich glaub Wetter, Leute, Land, und Familie auch, ne? Also es ist eigentlich Papa. Meine Mutter würde glaube ich [lieber] hier bleiben. Wegen den Kindern. Da, wo die Kinder sind.“
Ähnliche genderspezifische Präferenzen beschreiben auch Rihane und Loubna für ihre nach Marokko zurückgekehrten Eltern. Während sich die Väter dort um Haus und Landwirtschaft kümmern und daher oft nur für kürzere Aufenthalte nach Deutschland zurück kommen, pendeln die Mütter häufig für mehrmonatige Perioden zwischen ihrem Wohnort in Marokko und den Wohnorten der Kinder und Enkel in Deutschland und Europa. Als das Thema der Rückwanderung im Alter in der Gruppendiskussion in Bergheim aufkommt, scheinen sich die Frauen dort sehr einig zu sein, dass eine solche Pendelmigration für die Zukunft die beste Lösung darstellt. So könne man in idealer Weise die Bindung an die eigenen Kinder aufrechterhalten und mit der Rückkehr an den Wohlfühlort der eigenen Kindheit und Jugend in Marokko kombinieren.23 Heba, die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern dagegen erzählt, dass sie eigentlich nur noch ihre Kinder in Aachen halten. Sobald diese durch Beruf und Heirat versorgt sind, möchte sie wieder zurück nach Marokko. Sie träumt von einem Altersruhesitz, an dem sie die Ruhe und Erholung findet, die sie derzeit zwischen Kindern, Haushalt und zwei verschiedenen Jobs akut vermisst. Andere Arbeits- und Heiratsmigranten können sich jedoch eine Rückkehr nach Marokko gar nicht vorstellen: Dies betrifft zum Beispiel die sehr rebellische Ketou, die nicht glaubt, sich noch einmal an das Leben in dem kleinen Berber-Dorf im Atlasgebirge gewöhnen zu können, aus dem sie ursprünglich stammt. Auch Abdou, der seit seinem 16. Lebensjahr in Bergheim wohnt, fühlt sich dort zu sehr verwurzelt, um an eine Rückkehr zu denken. Ähnlich geht es auch Habiba in Aachen. Hasna schließlich, die nach ihrer Schleusung nach Italien eine lange Irrfahrt quer durch Europa durchlebt hat, hat inzwischen das Gefühl, in Bonn angekommen und hier gut aufgehoben zu sein. Wenn es das deutsche Aufenthaltsrecht zulässt, würde sie daher gerne in Bonn bleiben. Spielregeln, symbolisches Kapital und Dispositionen: Die Studienmigranten Von den befragten Studienmigrant/-innen, die schon länger in Deutschland leben, ist es nur Samiha, die ihren Studienversuch bereits während des Studienkollegs abgebrochen hat und sich bis heute nicht so „hundert prozentig“ wohl fühlt, die aktiv eine
23 Vgl. hierzu auch Pries (2010, 49-55) ausführlicher zur Pendelmigration als transnationale Lebenspraxis von Ruheständlern.
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Rückkehr nach Marokko plant.24 Karim, ein anderer Studienabbrecher, der eine sehr starke Beziehung zu seiner Familie in Marokko pflegt und so oft es geht dort seinen Urlaub verbringt, würde ebenfalls gerne zurückkehren, sieht derzeit dort jedoch keine berufliche Perspektive. Yakub hingegen, dessen Biographie durch eine Mehrfachmigration gekennzeichnet ist (Marokko, Deutschland, Marokko, Saudi-Arabien, multilokaler Haushalt in Deutschland) hält sich für die nähere Zukunft eine weitere Migration in den arabischen Raum zumindest als Option offen (dies ist u.a. Grund dafür, dass er seine Töchter auf eine bilinguale französisch-deutsche Schule schickt). Den meisten Studienmigrant/-innen dagegen geht es ähnlich wie Majida (siehe dort): Sie sind mit ihrem aktuellen Leben zufrieden und planen daher zumindest bis zu ihrer Rente keine interregionale oder gar transnationale Wanderung. Für sie ist der Gedanke an Remigration eher „eine psychische Sache“: Um einer endgültigen Festlegung auf (nur) einen Lebensort zu entgehen „sagt man nie: Strich, Schluss, Ende“ [Louay]. Falls alles schiefgeht, bleibt die Rückwanderung als mentale Exitstrategie, die vor den Unwägbarkeiten der Zukunft schützt. Neben den Kindern, Ehepartner/innen und Freunden, die in Deutschland „ortsbindend“ wirken (vgl. Kap. 6.2.1) werden von den Studienmigranten zwei weitere gewichtige Gründe genannt, die gegen eine Remigration nach Marokko sprechen: 1) Erstens wird das Feld der Wirtschaft bzw. der als nationalstaatlich vorstrukturiert wahrgenommene Arbeitsmarkt angeführt. Die auch für Hochschulabsolventen sehr eingeschränkten Chancen einer erfolgreichen Arbeitsmarktintegration in Marokko25 verhindern oder verzögern eine Rückkehr, selbst wenn sie gewünscht wäre: „In Marokko ist es allgemein sehr schwer. Sie haben sehr viel Absolventen, sehr viele Doktoranden und Professoren. Wir haben eine große Anzahl arbeitsloser Akademiker. Und da ist eine große Konkurrenz. Nur mit einem Diplom kommt man [nicht] weiter. Es sei denn, man ist kreativ, oder man hat Geld – so ein Kapital. Dass man irgendeine Idee realisiert. Als Übersetzer wird man [irgendwie] leben, aber nicht nach meiner Vorstellung. Das wäre ein bisschen zu schade für den ganzen [Aufwand].“ [Louay, 37, Universitätsabsolvent, Dolmetscher und Übersetzer in Bonn]
Besonders für die tendenziell ehrgeizigen Universitätsabsolventen, die viel Zeit und Energie in den Erwerb von kulturellem Kapital investiert haben, ist es von entscheidender Bedeutung dort zu leben, wo die von ihnen erworbenen Fähigkeiten, Kompetenzen und Abschlüsse (inkorporiertes und institutionalisiertes Kulturkapital) auf dem Arbeitsmarkt einen entsprechenden symbolischen ‚Gegenwert‘ finden. Nur dann lässt sich das kulturelle Kapital auch in finanzielles Kapitel umwandeln, mit dem das erwünschte Lebensniveau gesichert werden kann.
24 Ich habe allerdings nur Student/-innen befragen können, die nach ihrem Studienabschluss in Deutschland geblieben sind. Wer nach dem Studium wann und warum nach Marokko zurückkehrt, müsste eine bisher nicht vorliegende Längsschnitt-Studie klären. 25 Nach Angaben der Weltbank wird die Arbeitslosenquote von Universitätsabsolventen in Marokko derzeit auf rund 40-50% geschätzt. Aus der Altersgruppe der 15-29-jährigen ist jeder zweite weder in Ausbildung noch ins Berufsleben integriert (World Bank und Hoel 14.5.2012, World Bank 2012).
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Umgekehrt kann eine fehlende Anerkennung von im Ausland erworbenen kulturellem Kapital auch dazu führen, dass die entsprechenden Personen nicht in Deutschland bleiben: Die junge Heiratsmigrantin Souhaila, die selbst damit hadert, dass sie mit ihrem marokkanischen Universitätsabschluss in Deutschland nicht promovieren darf, berichtet leicht resigniert von ihrer Freundin, einer marokkanischen Ärztin, die nach Deutschland geheiratet hatte. Da sie auch nach langwierigen Bemühungen in Deutschland keine Approbation erhielt, sei sie nach Marokko zurückgekehrt – obwohl sie durch die räumliche Trennung ihre Ehe aufs Spiel setzt.26 Für ein Leben als „nur“ Hausfrau und Mutter haben beide Frauen das Gefühl, zu viel in ihre Ausbildung investiert zu haben. Ihr Ziel ist ganz klar Familie und qualifizierter Beruf. 2) Als zweiten Komplex an Gründen, die gegen eine Rückwanderung nach Marokko sprechen, nennen die Befragten (nicht nur die Studienmigranten) die empfundene Inkompatibilität zwischen ihren persönlichen Dispositionen einerseits und den in Marokko von ihnen wahrgenommenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern andererseits. Auf der strukturellen Ebene vergleichen die Befragten die in den beiden Ländern angetroffenen politischen und wirtschaftlichen Systeme sowie die damit in Zusammenhang stehenden gesellschaftlichen Normen. Viele kommen dabei zu dem Schluss, dass sie trotz der manchmal demütigenden Behandlung in den Ausländerbehörden oder den umständlichen bürokratischen Vorgehensweisen „das deutsche System“ dem marokkanischen vorziehen. Die in Marokko als systeminhärent wahrgenommenen Praktiken von Korruption und Ungleichbehandlung sowie eine defizitäre Rechtsstaatlichkeit und unzureichende Rechtssicherheit werden als etwas beschrieben, das man nur noch schwer akzeptieren kann, wenn man lange Jahre in Deutschland gelebt hat: MD: „Aber könntest du dir vorstellen dir irgendwann mal etwas in Marokko aufzubauen“? Daoud: (gähnt) „Ist mir zu anstrengend. (schnell) Erstens Korruption geht mir auf den Keks. Zweitens haben die kein vernünftiges Finanzamt, was ich natürlich sehr wichtig halte. Weil da kann irgendein Finanzbeamter ankommen und sagen, ich will fünftausend Euro haben, obwohl du eigentlich nur fünfhundert bezahlen musst. Und genauso, wenn ich statt fünftausend bezahl ich ihm nur fünfhundert. Weisste? Und, wenn du zum Beispiel hier in Deutschland geboren und aufgewachsen dann bist du – so auf gut Deutsch – schon versaut. Kannst du schon gar nicht mehr.“ MD: (lacht) „Ja. Keine gute Geschäftsidee.“ [Daoud, Ende 20, Ladeninhaber, geb. in Deutschland]
Bei einigen Studienmigranten, die eine Rückkehr sehr dezidiert ablehnen und entsprechend ausführlich begründen, zeigt sich über diese ‚systemische‘ Variable hinaus jedoch auch ein viel grundsätzlicheres Gefühl einer Habitus-Inkongruenz. So argumentiert z.B. Hakim, dass seine durch den langjährigen Aufenthalt in Deutschland
26 Angesichts des Mangels an medizinischem Fachpersonal in Deutschland (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2011) scheint die oft fehlende Anerkennung von im Ausland erworbenem institutionalisierten kulturellen Kapital fragwürdig. Mit dem 2012 bundesweit in Kraft getretenen „Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung von im Ausland erworbener Berufsqualifikationen“ mag sich diese Situation jedoch in Zukunft eventuell ändern.
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veränderten Dispositionen ihm ein reibungs- und fragloses Einpassen in das Handeln der Menschen an seinem Heimatort in Marokko unmöglich macht: „Zurück, da muss man auch ehrlich sein, das ist nicht einfach. Ich würde gerne, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Viele denken, ich mache das Studium hier zu Ende und dann gehe ich zurück. Oder wenn ich viel Geld habe, dann gehe ich dahin und mach mich selbstständig. Aber ganz ehrlich, dieses System da, ich kann das nicht mehr. Ich bin zwar nur seit 13 Jahren hier, aber diese Menschen oder dieser Charakter oder dieses wie man dann halt [handelt], das ist einfach fremd für mich. Ich sag mal nur so, Verkehr zum Beispiel. Ich kann da kein Auto fahren. Weil man fährt einfach anders. […] Oder zum Beispiel, wenn ich mal in der Bank bin. Selbst wenn Sie zwei Stunden stehen, kommt einfach ein Polizist oder keine Ahnung wer, und geht vor. Dann muss man auch ehrlich sein. Das sind die Vorteile hier, ne? Ist egal ob das die Frau Merkel ist, oder ein normaler Mensch: wer vorher [dran] war, der geht. So was vermissen wir zum Beispiel da.“ [Hakim, 34, Studienmigrant, Busfahrer]
Nachdem ich mein Aufnahmegerät schon ausgeschaltet hatte, erzählt mir der inzwischen 54-jährige Studienmigrant Hachem von einem ähnlichen Gefühl und ähnlichen Erfahrungen, die er beim Heimaturlaub in Marokko machte: Er hätte immer eine sehr enge Bindung zu seinem Bruder gehabt. Sie hätten fast alles zusammen gemacht: Schule, Fußball spielen und so weiter. Und dann wären sie oft auch Hand in Hand bzw. Arm in Arm unterwegs gewesen. In Marokko sei das ja für Männer normal. Aber hier würde das ja gleich schwul aussehen. Als er das letzte Mal in Marokko war, hätte sich sein Bruder also ganz normal bei ihm untergehakt. Aber ihm wäre das unangenehm gewesen und er hätte versucht möglichst unauffällig die Hand wegzuschieben, ohne dass sein Bruder das wahrnimmt. Dabei hätte er ein Kaugummi gegessen. Und das Papier in der Hand behalten, da er einen Mülleimer suchte, den es offenbar nicht gab. Irgendwann hätte ihn dann sein Bruder gefragt: "Warum hältst du das Papier in der Hand?" Und als er meinte, er suche einen Mülleimer, hätte sein Bruder ihm gesagt: "Du bist verrückt. Guck mal, hier liegt alles voll. Jeder schmeißt seine Sachen weg. Vergiss es, es gibt keinen Mülleimer." Er hätte es dann trotzdem nicht über sich gebracht, das Papier wegzuwerfen. Dann hätte sein Bruder ihn weiter gefragt: "Sowieso, warum ziehst du deine Hand immer weg?" Und er hätte ihm erklärt, dass das in Deutschland nicht üblich wäre. Daraufhin meint sein Bruder: "Aber jetzt bist du doch wieder hier" Er hätte darauf entgegnet: "Ja, aber ich bin gerade erst angekommen. Ich brauche Zeit. Nach drei oder vier Wochen habe ich mich bestimmt wieder gewöhnt, aber so schnell geht es nicht."
Hachems Bericht zeigt sehr unmittelbar und anschaulich, wie stark bestimmte Denkund Handlungsschemata inkorporiert werden und wie wenig sie in der konkreten, spontanen Situation bewusst und reflexiv manipuliert werden können. Zum anderen wird hier sehr deutlich, dass es zwar Personen wie die in Kap. 6.1.2 vorgestellten Heiratsmigrant/-innen gibt, die an ihrem deutschen Wohnort in eine sehr homogene marokkostämmige Community eingebunden werden und aufgrund fehlender Anreize und hemmender Dispositionen ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster
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am neuen Wohnort kaum anpassen.27 Dem stehen jedoch Menschen wie Hachem und Hakim gegenüber, deren Dispositionen sich im Laufe ihrer an einem neuen Ort fortgeführten Biographie sogar soweit verändern, dass sie in dem sozialen Kontext, in dem ursprünglich geprägt wurden, als nicht mehr passend empfunden werden.28 Zwischenfazit „Lokal verankert – weltweit vernetzt“? Wie in den letzten beiden Teilkapiteln gezeigt werden konnte, beschreibt das Tagungsmotto des 52. Deutschen Geographentages die alltäglichen Lebenswelten der meisten Befragten tatsächlich sehr zutreffend. Ein in den meisten Fällen deutlich ausgeprägtes Gefühl der Beheimatung und „Verwurzelung“ am jeweiligen Wohnort (vgl. Kap.6.2.1) korrespondiert dabei mit mehr oder weniger stark ausgeprägten translokalen und transnationalen egozentrierten Netzwerken. Die Beziehungen zu Freunden und besonders auch zu Familienangehörigen in verschiedenen europäischen Ländern und in Marokko werden je nach individuellem Verhältnis per virtueller Kommunikation und/oder persönlichen Besuchen aufrechterhalten. Dem meist regelmäßig in Marokko verbrachten Jahresurlaub kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Häufigkeit und auch die Gründe für die „Heimatbesuche“ in Marokko können sich dabei, wie gezeigt, im Laufe biographischer Prozesse verändern. In Abwandlung der von Reuber (1993, 120) unterschiedenen Typen lokaler Ortsbindungen lassen sich auch in Bezug auf Marokko als Urlaubsdestination drei wesentliche Motivgruppen für den Besuch ausmachen: Erstens sind dies eher „rationale“ Gründe wie: „schönes Land/Landschaft“, „gutes Wetter“, oder die Möglichkeit, im eigenen Haus oder bei der Familie preisgünstig zu wohnen. Aber es werden zweitens auch Gründe genannt, die in der Tourismusforschung als typische Motive für „Rückkehrbesuche“ von (Post-)Migranten ausgewiesen werden (vgl. Duval 2003): Dies betrifft zum einen den Besuch von Freunden und Familienangehörigen als einen Hauptreisegrund (soziale Bindungen) und zum anderen die symbolisch-emotionale Dimension der Besuche. Diese sorgen dafür, dass ein Aufenthalt von den entsprechenden Personen als „mehr als nur Urlaub“ wahrgenommen wird. Vor dem Hintergrund der in Kap. 2.2 angerissenen Debatte zu Transnationalität und Translokalität von Migranten gilt es einen kurzen Blick auf die Anzahl und Art der Verlagerung von Lebensmittelpunkten (alltäglichen Aktionsräumen) zu werfen. Diese möchte ich erstens mit Bezug auf die (biographische) Vergangenheit, zweitens mit Bezug auf die Gegenwart (aktuelle Lebenswelten) und drittens mit Bezug auf die Zukunft (Pläne, Wünsche) diskutieren.
27 Beim Treffen eines marokkanischen Vereins diskutierten die Frauen aber z.B. auch darüber, dass gerade die „alten Männer“ aus Nord-Marokko bei Hochzeiten sehr streng auf Geschlechtertrennung bestehen. Diese bekämen kaum mit, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auch in Marokko verändern und beharren stattdessen auch heute noch auf den Bräuchen ihrer Kindheit in Marokko. 28 Carmella Pfaffenbach (2006, 168) berichtet ähnliches aus dem syrischen Dorf Malula, wo „die im Dorf verbliebenen Bewohner den Habitus der Pendler aus Damaskus und der Sommerfrischler aus Beirut oftmals als unhöflich und unmoralisch empfinden“.
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Hinsichtlich der im Lebensverlauf angeeigneten Räume ist auffällig, dass die meisten meiner Interviewpartner/-innen bisher nur eine einmalige grenzüberschreitende Wanderung durchgeführt haben (der jedoch besonders bei den Studienmigrant/-innen häufig mehrere Binnenwanderungen vorausgehen oder folgen). Ausgeprägte transnationale Mehrfachmigrationen sind dagegen eher die Ausnahme. Zwei Beispiele hierfür sind der Ingenieur Yakub (Marokko, Deutschland, Marokko, SaudiArabien, Deutschland) sowie die Küchenhilfe, Köchin, Pflegekraft und Gelegenheitsarbeiterin Hasna (Marokko, Italien, Marokko, Frankreich, Deutschland). Beide migrierten dorthin, wo ihnen Arbeit angeboten wurde. Und doch unterscheiden sich ihre Biographien in allen anderen Aspekten fundamental (vgl. Kap. 6.1). Ihre Lebensgeschichten veranschaulichen sehr gut die konträr gelagerten Rahmenbedingungen, die transnationale Wanderungen unqualifizierter, nicht dokumentierter Arbeiter/-innen einerseits sowie die Mobilität von hochqualifizierten und stark nachgefragten „Professionals“ andererseits regulieren (vgl. hierzu Žižek 1999, 155). In Bezug auf die zweite Dimension, d.h. die in den aktuellen alltäglichen Aktionsräumen regelmäßig aufgesuchten Orte und Regionen, weisen die meisten der Befragten ihren aktuellen Lebensraum in Deutschland eindeutig als ihren Lebensmittelpunkt aus. Hier arbeiten sie, gehen zur Schule, verbringen ihre Freizeit und treffen enge Freunde und Familienangehörige. Eine multilokale Kleinfamilie wie die von Yakub, der in Bonn wohnt, aber in Süddeutschland arbeitet, ist eher die Ausnahme und bleibt zumeist auf bestimmte biographische Episoden beschränkt (z.B. auch bei Rihanes Ehemann). Anders sieht es bei den Personen aus, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen: Unter den mittlerweile in Rente stehenden Arbeits- und Heiratsmigrantinnen der 60er und 70er Jahre finden sich heute sowohl ‚Rückkehrer‘ (zumeist an ihren Heimatort, aber auch an andere Orte in Marokko, z.B. Geburtsort der zweiten Ehefrau) als auch Personen mit fortgeführtem Lebensmittelpunkt in Deutschland. Drittens finden sich in dieser Gruppe jedoch auch Personen, besonders Frauen, die ihren Wohn- und Lebensmittelpunkt im Jahresrhythmus regelmäßig zwischen neuer/alter Heimat in Marokko und den verschiedenen Wohnorten der Kinder in Deutschland und Europa verlagern. Ähnlich ‚schwankende‘ Alltagswelten weist von den anderen Befragten nur Mimun auf, der mehrmals im Jahr zwischen seinem aktuellen Wohnort Köln, seiner „Kindheimat“ in Nador und seinem neuen Freundeskreis in Tanger pendelt. Um diese multi-lokale Lebensführung zu ermöglichen, arbeitet er trotz seinen vielfältigen intellektuellen Interessen mit Absicht ‚nur‘ als TeilzeitVerkäufer im Einzelhandel. Die Wünsche und Pläne hinsichtlich zukünftiger Wohn- und Lebensorte konnten naturgemäß nur als zeitgebundene Momentaufnahme erhoben werden. Diese belegt jedoch, dass für die meisten Studienmigranten (im Gegensatz zu den Arbeitsmigranten) bereits jetzt der Traum einer Rückkehr zu einer rein „virtuellen Rückzugsoption“ (Foroutan 2010, 11) geworden ist. Von einer pauschalen Idealisierung der marokkanischen Verhältnisse wie sie Berriane (1994, 250) noch Anfang der 1990er Jahre feststellte, kann heute keine Rede mehr sein. Auch die meisten der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Personen planen in der nahen Zukunft weder interregionale noch trans-nationale Wanderungen, falls dies nicht aus beruflichen oder familiären Gründen notwendig werden. Nur Achraf und Farid, die mit ihrer aktuellen beruflichen, persönlichen und familiären Situation nicht wirklich zufrieden sind,
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träumen von einer zukünftigen „Heimat anderswo“, die sie wahlweise in Marokko oder Südamerika imaginieren. Ausblick: Beheimatung zwischen Selbst- und Fremdidentifizierungen Wie bereits in den Einzelfallanalysen für Amal und Raif gezeigt, kann ein durchaus auch sehr stark ausgeprägtes Gefühl der Beheimatung am jeweiligen Wohnort mit vielschichtigen und wechselnden Identifizierungen einer „ersten“ und einer „zweiten“ Heimat einhergehen. Zweitens zeigte sich in sehr vielen der Gespräche, dass unterschiedliche Formen und Ausprägungen ortsbezogener Zugehörigkeiten und Beheimatungen quer und parallel zu verschiedenen Formen von Selbst-Identifizierungen artikuliert werden können. Wie facettenreich solche Positionierungen sein können, zeigt das folgende Zitat: „Ich hab zwei Jungs und ein Mädchen. [Wir] fahren regelmäßig in die Heimat, nach Marokko. […] Dadurch ist auch der Kontakt zu den restlichen Verwandten in Marokko immer bestehend. Und, ja, ich fühle mich praktisch wie ein DEUTSCHER. Denke Deutsch, MIT, äh, marokkanischen Wurzeln. Und [wir] PFLEGEN natürlich die Kultur. Die Identität ist weitgehend bestehend. Auch die Religion können wir hier eigentlich sehr gut praktizieren und ausüben. Also ich würd sagen, das [hier] ist die Heimat, und das andere ist Urlaub (lacht) Können Sie sich ja vorstellen!“ [Taufik, 32, Ankunft in Bonn mit 6 Monaten]
Hier zeigt sich besonders gut der temporäre Charakter von Artikulationen im Diskurs: Wo Taufik sich verortet, und wie er sich charakterisiert, bleibt in diesem Abschnitt ambivalent und ‚fließend‘.29 Wie das Zitat exemplarisch belegt, sehen dabei viele meine Interviewpartner/-innen keinen Widerspruch darin, sich sowohl mit als ‚marokkanisch‘ attributieren kulturellen Eigenschaften und Praktiken (z.B. Essgewohnheiten) zu identifizieren als auch eine Zugehörigkeit zu Deutschland oder sogar eine Selbst-Identifizierung als ‚Deutsche/r‘ zu formulieren: Nationalstaatlichen Kategorien werden somit keinesfalls exklusiv gesetzt. Was allerdings eine Selbst-Definition als Marokkanisch und/oder Deutsch erschwert, sind erstens die weiter oben in Bezug auf Urlaubsaufenthalte bereits ausgeführten Gefühle der „Nicht-Passung“ von eigenen Dispositionen mit denen des jeweiligen unmittelbar erfahrenden sozialen Umfeldes. Zweitens jedoch, und das zeigt das folgende Zitat sehr gut, sind es jedoch auch Fremd-Identifizierungen, die in bestimmten Kontexten den Möglichkeitsraum für selbst formulierte Identifizierungen und Zugehörigkeiten rahmen und signifikant einschränken: „Mein Bruder ist fast fertig [mit seinem Studium]. Vielleicht geht er zurück. Ich weiß nicht. Weil wenn wir im Ausland sind, dann sind wir weder Europäer, noch Marokkaner. Das ist diese Teilung. Du gewöhnst dich an das Leben hier, aber in Augen von [den] Menschen bist du Ausländer. Du kommst nicht klar, wenn einer Ausländer sagt. Du bezahlst Steuer, du gehst
29 Dies zeigt auch, wie wenig aussagekräftig die in quantitativen Studien vorgenommenen Versuche sind, Personen auf eine einmalige und absolut gültige Positionierung „festzunageln“, indem sie z.B. nach Selbstdefinitionen als „eher deutsch“ oder „eher herkunftsländisch“ gefragt werden. (vgl. hierzu u.a. Mafaalani und Toprak 2011).
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wählen, genau wie [alle], aber trotzdem bist du ein Ausländer. [Wenn] ich [dagegen] nach Marokko gehe, bin ich zu korrekt. Ich bin Deutsch. Ich hab mit meiner Mutter einmal gesprochen. Da kam mein Bruder, hat gesagt: ‚Du bist zu direkt.‘ Ja, hab ich gesagt: ‚Warum zu direkt?‘ ‚Ja, musst du nicht so sagen, das ist falsch und so. Das ist deine Mutter.‘ Da hab ich gesagt: ‚Aber das war Blödsinn, [das war nur Spaß]‘ – Das kennen die nicht. MD: „Man wird immer als Ausländer gesehen. Haben Sie das selbst erlebt, mit Kollegen oder so?“ H: „Ja. Mittlerweile, wenn mich jemand fragt ‚Woher kommst du?‘, dann sag ich ‚Deutschland, und du?‘ […] ‚Ja, aber Sie sehen DUNKEL [aus].‘ ‚Ja‘, sage ich: ‚Mein Ur-UrOpa kommt aus Afrika, aber ich bin Deutsch.‘ Und dann war’s das. Dann sind die schockiert. Ich mach das mit Spaß. Aber die wissen: ‚Aha, der weiß, was er sagt. Stopp. Grenze.‘ Also, man soll wissen wer du bist. Aber woher du kommst, ist heutzutage egal.“ [Hachem, geb. in Marokko, seit ca. 1980 in Deutschland]
Hachem benennt hier sehr präzise die beiden Kriterien, die im hegemonialen Diskurs ‚Deutsch-Sein‘ definieren: Es geht nicht um eine Frage der Staatsangehörigkeit. Sondern es sind Abstammung und Physiognomie, die darüber entscheiden, wer als ‚Deutsche/r‘ gelten darf (vgl. Mecheril 2003a, 40). Nicht allen jedoch, die mit diesen „phänotypischen und para-phänotypischen Kriterien der Grenzziehung zwischen uns und ihnen“ (Mecheril 2003a, 67) konfrontiert werden, gelingt es wie Hachem, die Zumutungen einer solchen symbolischen Exklusion performativ in die Schranken zu weisen. Andere resignieren vor dem Problem, allen Anpassungsbemühungen zum Trotz immer als „physiognomisierte/r Andere/r“ erkennbar zu bleiben. Eine Assimilierung? Unmöglich: „Jetzt guckt jeder auf sich. Und ja, [man] muss sich anpassen. Wenn nicht, dann ist das irgendwo deine Schuld. Dann haste eben Pech gehabt, ne? […] Also das Aussehen macht schon viel aus. […] Nicht unbedingt [nur] das Kopftuch. Einfach schon wenn man nicht Deutsch aussieht, ne? Ich bin zum Beispiel ein dunkler Typ. Ich kann so tun wie eine Deutsche, ich gehöre trotzdem nie dazu. Einfach wegen meiner Hautfarbe. Die kann ich nicht wegtun. (lachen) Die gehört zu mir.“ [Loubna, 30, aufgewachsen in Köln, Kopftuch vor Abitur abgenommen]
Während Loubna in diesem Kontext trotzig auf ihrer Selbst-Identifizierung als Deutsche besteht – „ob es denen passt oder nicht“ – erzählt sie an anderer Stelle davon, wie sie als einzige „Marokkanerin“ und einzige „Ausländerin“ bis zum Abitur gekommen ist. Dies zeigt, dass sich die von ihr eigentlich zurückgewiesenen Kategorien durch die wiederholt erlebten Fremd-Identifizierungen dennoch als relevante Kategorien für ihre Selbst-Identifizierung und ihr autobiographisches Erzählen etabliert haben. In diesem Spannungsfeld zwischen biographisch etablierten raumbezogenen Identifizierungen und den habituell begründeten Beheimatungsgefühlen einerseits sowie fremd induzierten Anrufungen, Kategorisierungen und Ein- und Ausschlusskriterien andererseits bewegen sich alle meine Interviewpartner/-innen. Jedoch gelingt es ihnen unterschiedlich gut, diese Spannung für sich persönlich aufzulösen. Für Zugewanderte ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich Selbst-Sichten als ‚Gast‘ oder ‚Studienmigrant‘ und eine Fremd-Identifizierung als ‚Ausländer‘ zumeist teilweise decken. Diejenigen dagegen, die entweder in Deutschland aufgewachsen sind,
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oder aber – wie Hachem – das Gefühl haben, dass ihre Dispositionen in einem deutschen Umfeld viel besser „funktionieren“ als in einem marokkanischen, berichten oft von einem eklatanten, und wie am Beispiel Loubnas gezeigt, häufig nicht auflösbaren Widerspruch. Diese Spannung zwischen Selbst- und Fremdsichten erweist sich auch für die Wahrnehmungen und Positionierungen in Bezug auf das deutsche Islambild als entscheidender Faktor. Bevor in dem entsprechenden Kontext jedoch hierauf noch einmal näher einzugehen ist, soll im folgenden Kapitel zunächst geklärt werden, ob, in welchen Sprachen, und mittels welcher Medien meine Interviewpartner/-innen deutschsprachige Mediendiskurse mit thematischem Bezug auf den Islam rezipieren.
6.3. S PRACHEN UND M EDIENNUTZUNG : E INBINDUNG IN TRANSNATIONALE D ISKURSFELDER ? Aus einer diskurstheoretischen Perspektive bedeutet eine Sprache zu sprechen zunächst einmal die Einbindung einer Person in ein bestimmtes bedeutungserzeugendes System. Unterschiedliche Sprachen vermitteln unterschiedliche Wissensbestände und binden die Sprecher in verschiedene Sprach- und Diskursgemeinschaften ein. Für die dieser Arbeit zugrunde liegende Frage nach der Rezeption und Reaktion auf in Deutschland kursierende Islambilder ist daher danach zu fragen, in wieweit die Befragten überhaupt in deutschsprachige Diskurse eingebunden sind. Denn ob und wie sie sowohl auf der Ebene alltäglicher Interaktionen als auch auf der Ebene medial vermittelter Informationen mit bestimmten Vorstellungen über den Islam konfrontiert werden, hängt u.a. ganz wesentlich davon ab, ob und wie gut sie die deutsche Sprache beherrschen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern ihnen über eine potenzielle Mehrsprachigkeit auch anderssprachige Diskursgemeinschaften und Wissenssysteme offen stehen. Daher wird im Folgenden zunächst auf die Sprachkompetenzen meiner Interviewpartner/-innen einzugehen sein, bevor ich ausgehend von den hier erläuterten Erkenntnissen in Kapitel 6.3.2 ihre ein oder mehrsprachigen Mediennutzungen erläutern kann. 6.3.1. Sprachgebrauch und Sprachkompetenzen „Und ich spreche vier Sprachen!“ platzt ein Viertklässler der KGS am Domhof in Bonn voller Stolz heraus, nachdem eine Besuchergruppe dem Arabischunterricht in seiner Klasse assistiert hatte. Einer der anwesenden älteren Bad Godesberger Bürger grummelt im Hinausgehen vor sich hin: „Vier Sprachen! So ein Blödsinn! Die sollten doch lieber mal richtig Deutsch lernen!“
Wovon hängen Sprachgebrauch und Sprachkompetenzen einer Person ab? Auf die Frage wer, warum, wann welche Sprache(n) spricht – oder nicht – bietet uns Bourdieu aus praxeologischer Sicht einen überzeugenden Erklärungsansatz an. In seinen Überlegungen zur „Ökonomie des sprachlichen Tausches“ (Bourdieu 2005b) tritt die Bedeutung von Sprache als abstraktem, weltkonstituierendem System zurück. Was
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Bourdieu an dieser Stelle stärker interessiert, ist die Funktion von Sprache innerhalb von sozialen Interaktionen sowie die Bedeutung von Sprachkompetenz(en) für gesellschaftliche Positionierungen. Aus praxeologischer Perspektive können Sprachkompetenzen als wesentlicher Bestandteil des von einer Person inkorporierten kulturellen Kapitals betrachtet werden. Wie Bourdieu (2005) am Beispiel Frankreichs aufzeigt, beeinflusst bereits innerhalb eines nationalstaatlichen Kontextes der Grad der Sprachbeherrschung zum einen und die symbolische Wertschätzung der von einer Person gesprochenen Sprachen oder Dialekte zum anderen ganz wesentlich die von ihr erreichbare Positionierung im jeweiligen Feld bzw. die entsprechenden Aufstiegsmöglichkeiten im sozialen Gefüge. Diese Bedeutung von Sprachkompetenzen nimmt im Fall einer internationalen Migration – die sehr häufig den Neuerwerb bzw. Ausbau der im betreffenden Land gesprochenen Verkehrssprache erfordert – noch zu. Der symbolische Wert einer Sprache – das macht Bourdieu am Beispiel von „Hochfranzösisch“ und in Frankreich gesprochenen Regionalsprachen wie dem Bearnesischen deutlich – wird dabei innerhalb einer spezifischen Machtstruktur ausgehandelt. Es sind die jeweils herrschenden Klassen, die über die zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb eines administrativen Territoriums und/oder sozialen Feldes als legitim angesehene Sprache bestimmen, wobei gilt: „Je offizieller der Markt ist […] desto mehr wird er von den Herrschenden beherrscht, das heißt von den Besitzern der legitimen Sprachkompetenz, die autorisiert sind, als Autoritäten zu sprechen“ (Bourdieu 2005b, 76). In einem dialektischen Prozess reflektiert und verfestigt eine legitime, offizielle Sprache die Machtstrukturen, aus denen sie hervorgeht. Insofern lässt sich mit Maas (2008, 132–148) auch in Deutschland die Etablierung des Hochdeutschen als Schrift- und Kommunikationssprache als Teil eines nationalstaatlichen Projektes identifizieren. Dieses erreichte erst durch die dem zweiten Weltkrieg folgende „Durchmischung“ von Flüchtlingen und Vertriebenen mit unterschiedlichen dialektalen und regionalsprachlichen Hintergründen seinen heutigen Umsetzungsstand, da diese Konstellation „keinen dialektalen Ausgleich zuließ, sondern als Fluchtpunkt eine nationale Sprachform suchte“ (Maas 2008, 147).30 Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive lässt sich folglich auch die in der Linguistik und Alltagssprache vorgenommene Unterscheidung zwischen ‚Sprache‘ und ‚Dialekt‘ als eine machtvolle Setzung dekonstruieren, die zwischen legitimer (offizieller) Sprache und weniger wertigen Sprachformen (Dialekt/Patois) unterscheidet.31 Welche Sprache oder Sprachform als legitime, hegemoniale Sprache gesetzt wird, und in welchem hierarchisches Verhältnis unterschiedliche Sprachen und Dialekte zueinander stehen, ist nicht nur in gewissem Grade kontingent, sondern auch
30 Zum Zusammenhang zwischen dem Aufkommen eines Buchmarktes („print-capitalism“), der Etablierung von einheitlichen (nationalen) Schriftsprachen sowie der Konstitution von Nationalstaaten bzw. nationaler Identitäten vgl. auch Anderson (2006, 44–47), zur „politischen“ Dimension von Sprachenpolitik vgl. Brubaker (1999, 62f.; 2007, 196f.), zu Frankreich als speziellem Fall vgl. Certeau et al. (2002). 31 Die Kontingenz dieser Unterscheidung gilt es insbesondere zu beachten, wenn im Folgenden in Übereinstimmung mit den meisten Quellen von (Hoch)arabischer und Deutscher Sprache einerseits sowie Marokkanischem bzw. Berber Dialekten andererseits die Rede ist.
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veränderlich. Dies lässt sich besonders gut an der historischen Entwicklung der marokkanischen Sprachenlandschaft zeigen sowie an den Veränderungen, denen die Bewertung von Sprachkompetenzen im Verlauf der Migration nach Deutschland unterliefen. Im Folgenden wird daher ausgehend von der komplexen multi-linguistischen Situation in Marokko erläutert, mit welchen sprachlichen Kompetenzen die Migranten aus Marokko in Deutschland eintrafen, wie sich Kompetenzen und Anforderungen im Laufe des Aufenthalts in Deutschland veränderten und welche Sprachen und Sprachpräferenzen für die in Deutschland aufgewachsenen Kinder kennzeichnend sind. Umgangssprache in Marokko: Sprachbund zwischen Durchlässigkeit und Dominanz Der sprachliche Ist-Zustand in Marokko ist Folge einer spezifischen historischen Entwicklung und daher vergleichsweise komplex. Die in der Antike in Marokko lebende berbersprachige Bevölkerung kam zunächst im Rahmen der arabischislamischen Expansion im 7. Jahrhundert mit der arabischen Sprache in Kontakt. Die Zuwanderung arabischer Beduinenstämme im 11. Jahrhundert sowie die Rückwanderung der andalusischen Araber nach Nordafrika im Laufe des 15. Jahrhunderts führten zu einer Arabisierung insbesondere der städtischen Bevölkerung in Marokko. Ergebnis dieser historischen Migrationsprozesse ist eine hohe Diversität des in Marokko gesprochenen Arabischen (Darija). So unterscheiden Maas und Mehlem (1999, 70) zwischen einer sedentären, einer beduinischen und einer dritten (exandalusischen) Version. Im Laufe der Zeit entwickelte sich aus diesen Grundformen eine Vielzahl lokaler Dialekte (Regiolekte) mit phonologischen, morphologischen, syntaktischen und/oder lexikalischen Besonderheiten (Bouras 2006, 28). Das vor allem – aber nicht nur – in den ländlicheren Regionen Marokkos weiterhin stark verbreitete Tamazight (dt. meist „Berberisch“), das wie das Arabische zur semito-hamitischen Sprachgruppe gehört (Moatassime 8.7.2002) spaltet sich in Marokko in drei große Dialektfamilien auf. Unterschieden werden Tarifit, das vor allem im Norden (Rif-Gebirge) gesprochen wird, Tamazight, das im Zentrum (Mittlerer Atlas) Verwendung findet sowie Taschelhit, das im Süden (Hoher Atlas und Sous) verbreitet ist. Interessant dabei ist, dass trotz bestehender Ähnlichkeiten zwischen den drei Dialektfamilien die Unterschiede so substanziell sind, dass sich Sprecher der unterschiedlichen Dialektgruppen nur schwer miteinander verständigen können (Bouras 2006, 26). Angesichts der Vielfalt an Dialekten, die in Marokko in der intimen, familiären Sphäre und der informellen Öffentlichkeit gesprochen werden,32 stellt sich die Frage, ob und wie Kommunikation zwischen den Sprechern funktionieren kann. Maas nennt als Hauptgrund, warum die mündliche Kommunikation vergleichsweise gut funktio-
32 Auch wenn sowohl Darija als auch Tamazight gesprochene und nicht geschriebene Sprachen sind, lassen sie sich in annähernder Form durchaus verschriftlichen. Für Darija wird je nach Kontext das lateinische oder arabische Alphabet verwendet, für Tamazight wahlweise die berberische Schrift Tifinar (bzw. Neo-Tifinar), oder auch das arabische bzw. lateinische Alphabet Bouras (2006, 27).
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niert, die Herausbildung einer „Koiné“. Damit bezeichnet er eine Form des Marokkanisch-Arabischen, die trotz aller Differenzen die Kommunikation zwischen Sprechern verschiedener Dialektformen möglich macht (Maas und Mehlem 1999, 81f.). Verbreitet wird diese Sprachform unter anderem in Radio- und Fernsehsendungen. Dieses „typical Marokkanisch […] wo du überall in Marokko mit durchkommst“ hat z.B. Amina [27, Aachen] von ihren Eltern gelernt, die unter sich dagegen Tarifit sprechen. Eine solche innerfamiliäre Sprachpolitik kann nach Maas als durchaus typisch für die marokkanischen Verhältnisse gelten. So existiert zwischen den beiden Sprachfamilien des Darija und des Tamazight aufgrund des über tausendjährigen Sprachkontaktes eine hohe Durchlässigkeit, die sich auf lexikalischer Ebene in einer Vielzahl gegenseitiger Entlehnungen niederschlägt, aber auch strukturelle Gemeinsamkeiten zur Folge hat (Maas und Mehlem 1999, 86ff.; vgl. Abb. 18). Obwohl somit sowohl darija- als auch tamazightsprachigen Personen das Erlernen des jeweils anderen Dialektes vergleichsweise einfach fällt, sind es meist letztere, die zusätzlich zu ihrer Muttersprache die marokkanisch-arabische Koiné lernen. Durchgängig einsprachige berberophone Personen finden sich nach Maas dank der Verbreitung der Massenmedien und der zunehmenden Beschulung (vgl. unten) heute nur noch in sehr abgelegenen Bergregionen. Besonders in den Städten wird Tamazight dagegen zunehmend durch Darija ersetzt, wie auch Samiha [35, Köln] erläutert: „Also ich kann nicht Berbisch sprechen. Das ist der Fehler von mein Vater. Er ist in einem kleinen Dorf bei Agadir geboren. Die sprechen nur Berbisch, kein Arabisch. [Mit] 23 ist [er] in [die] Stadt gekommen. Er hat gearbeitet und hat meine Mama getroffen. Sie spricht auch Berbisch. Aber nicht so gut, weil sie in der Stadt geboren ist.“
Dass sich der marokkanisch-arabische Dialekt in dieser Weise gegenüber den BerberDialekten durchsetzen kann, liegt in dem symbolischen (und praktischen) Wert begründet, der dem Marokkanisch-Arabischen in Marokko zugemessen wird (vgl. Maas und Mehlem 1999, 76). Innerhalb welcher historisch-politischen Machtverhältnisse diese Dominanz des Marokkanisch-Arabischen erzeugt wurde, wird im folgenden Abschnitt erläutert, der sich mit der marokkanischen Schriftsprache befasst. Marokko: Das Schriftsprachenproblem Zu diesen beiden in Marokko verbreiteten Sprachgruppen traten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den jeweiligen Protektoratsgebieten noch das Französische sowie das Spanische als offizielle Amtssprachen hinzu. Das Hocharabische ()XV¨D) wurde als offizielle Schriftsprache besonders nach der Durchsetzung der marokkanischen Unabhängigkeit 1956 gefördert und verbreitet. Seit diesem Zeitpunkt bis zum Jahr 2011 war (Hoch-)Arabisch die einzige offizielle Amtssprache (Maas und Mehlem 1999, 73). Dies zeigt sich auch im ersten Satz der von 1996-2011 geltenden Verfassung, in der Marokko wie folgt definiert wird: „Le Royaume du Maroc, Etat musulman souverain, dont la langue officielle est l'arabe, constitue une partie du Grand Maghreb Arabe“ [Das Königreich Marokko, ein souveräner muslimischer Staat, dessen offizi-
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elle Landessprache das Arabische ist, ist Bestandteil des ‚Großen Arabischen Maghrebs‘. Übersetzung MD].33 Souverän, muslimisch und arabisch sind hier die drei Schlüsselbegriffe, mit denen der erwünschte Charakter des marokkanischen Nationalstaats präskriptiv konstituiert wird. Auch die besondere Bedeutung, die der hocharabischen Sprache zugewiesen wird, lässt sich durch diesen post-kolonialen Kontext erklären. So war und ist das moderne Hocharabisch (MSA) aufgrund seiner Nähe zum Klassisch-Arabischen des Korans nicht nur mit „religiösen Obertönen“ versehen, sondern wurde in der Spätzeit des Kolonialismus zusätzlich politisch aufgeladen (Maas und Mehlem 1999, 73). In der gesamten Region proklamierten Anhänger der (auch) anti-kolonialen Gegenbewegung der arabischen Renaissance (QDKD) die Rückbesinnung auf die große historische Vergangenheit der arabischen Völker sowie die dazugehörige Sprache des klassischen Arabischen. In Marokko richtete sich die nach der Unabhängigkeit einsetzende Politik der „Arabisierung“ von Verwaltung, Bildung und öffentlichem Leben jedoch nicht nur gegen das zuvor im öffentlichen Raum dominante Französisch, sondern auch gegen die Anerkennung, die den Berbern und ihrer Sprache aufgrund der klassischen Teile-und-herrsche-Politik der französischen Kolonialmacht zuvor zuteil geworden war (Rogan 2012, 306). Was diese Strategie, das Französische als Verkehrs- Administrativ- und Bildungssprache durch das Hocharabische zu ersetzen, für die Bevölkerung bedeutete, versucht mir Mimun [33, Köln] zu erklären, der selbst bis zu seinem 14 Lebensjahr mit Tarifit als häuslicher Muttersprache aufgewachsen ist: „Also man macht ja den Fehler, gerade in der Geographie, ne? Weil Nordafrika hatte ja nix mit Arabien zu tun! Bis vor kurzem eigentlich. Richtige Arabisierung fängt in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts an. [Da] gab es dann diese Arabisierungswelle. Das heißt Schule auf Arabisch, Dings auf Arabisch, das da und das da. Eigentlich wider die Vernunft, ne? Weil 90% verstehen diese Sprache ja NICHT. Weil das Schriftarabisch ist keine eingeborene Sprache. Die muss genauso erlernt werden wie jede andere Fremdsprache. Auch für die ethnischen Araber. Und die Leute sprechen nur Berber-Dialekt. Verstehen NIX! Vor Gerichten, wo Amtsarabisch gesprochen [wird], verstehen die Leute immer noch nix. Die brauchen Übersetzer.“
Die Frage, wer „diese Leute“ sind und warum viele bis heute der arabischen Schriftsprache nicht mächtig sind, beantwortet die Studienmigrantin Ghizlane [Ende 20, Köln] als sie mir ihrer eigene Sprachbiographie erläutert: „Ich bin Berber und meine Muttersprache ist eigentlich nicht Arabisch, sondern Berber. Und als ich kleiner war da kannte ich kein Wort Arabisch. Erst als ich im Kindergarten war konnte
33 Der vollständige Text der Verfassung u.a. in Royaume du Maroc (1996). „Grand Maghreb Arabe“ verweist vermutlich auf die Region des Maghrebs im (westlichen) Nordafrika (im Gegensatz zum östlichen Teil der arabischem Welt = mashrek). Die Betonung des „arabischen“ Charakter der Region mag noch in jene Zeit zurückreichen, als sich marokkanische Nationalisten im Anschluss an den 2. WK in Kairo zum „Büro des arabischen Maghreb“ zusammenschlossen, um gemeinsam Aktionen des Widerstands gegen die beiden Marokko beherrschenden Kolonialmächte zu organisieren (vgl. hierzu Rogan 2012, 403).
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ich ein paar Worte Umgangssprache. Nicht Hoch-Arabisch, sondern nur die Umgangssprache. Arabisiert (lacht). Weil Hoch-Arabisch lernt man erst in der Schule. Die normalen Menschen, die nicht in der Schule waren usw., die Analphabeten, die können kein Hoch-Arabisch. Nur diejenigen, die in der Schule waren.“
Abbildung 18: Sprachgemeinschaften von Marokkaner/-innen der ersten Generation
Quelle: eigene Abbildung, modifiziert nach Maas 2008, 60
Wie diese Zitate sowie die Abbildung 18 (oben) verdeutlichen, verläuft die markanteste sprachliche Barriere in Marokko nicht zwischen den beiden gesprochenen Sprachbünden (Darija und Tamzight), sondern zwischen den gesprochenen Sprachen und den in Marokko gebräuchlichen Schriftsprachen (Hocharabisch und weiterhin Französisch). Können erstere quasi „nebenbei“, im Kindergarten, auf dem Markt und in ähnlichen Alltagssituationen erlernt werden, so ist die Erlernung und Beherrschung der nunmehr legitimen, offiziellen Landessprache vom Besuch einer Schule und der dort erfolgenden Alphabetisierung abhängig. Wie Mimun jedoch richtig feststellt, ist das Hocharabische, in dem Alphabetisierung und Wissensvermittlung erfolgt, so weit von beiden gesprochenen Sprachbünden entfernt, dass es für die meisten Marokkaner fast als eine Fremdsprache gelten kann. Obwohl das grundsätzliche Problem der Nicht-Übereinstimmung von Umgangs- und Schriftsprache auch in den anderen arabischsprachigen Staaten vorliegt (Maamouri 1999, 403), lassen sich gewisse Abstufungen erkennen. Aufgrund der starken Vermischung berbersprachiger und arabischer Elemente in der Umgangssprache ist diese Problematik in Marokko dabei besonders stark ausgeprägt (Maas und Mehlem 1999, 87). Der hieraus resultierende erhebliche Abstand großer Teile der marokkanischen Bevölkerung zur Schriftkultur hilft zu erklären, warum – trotz deutlicher Fortschritte
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im Bereich der Unterrichtsteilnahme und des tatsächlich erfolgten Schriftsprachenerwerbs bei den Schülern – die Alphabetisierungsrate für die Bevölkerung über 15 Jahre in Marokko noch heute bei nur ca. 56% liegt.34 Hält man sich vor Augen, dass 1973 (früheste Daten) nur 28% der Marokkaner die damals fünfjährige Grundschulzeit beendeten, so erstaunt es nicht weiter, dass die Mehrzahl der bis dahin nach Deutschland zugewanderten Arbeitsmigrant/-innen keine Schule besucht hatten, und daher des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren (Waltner 1988). Für die in den Folgejahren nachziehenden Ehepartner und Kinder galt, dass trotz der zunehmenden Bildungsexpansion (vgl. Fußnote) die Chancen auf eine Teilhabe an Bildung und (Schriftsprachen)erwerb weiterhin ungleich verteilt waren. Welche intersektional wirksamen Kategorien symbolischer Herrschaft über die Bildungsteilhabe wesentlich mitentschieden, lässt sich der retrospektiven Darstellung von Ketou [53, Aachen] entnehmen, die vor gut 50 Jahren in einem kleinen berbersprachigen Dorf in Südosten Marokkos aufwuchs: „Und wir wussten gar nicht, dass in Casablanca die Leute schon gebildet zur Schule gehen. Und damals […] diese Berber, die hatten immer Angst, wenn die Kinder Arabisch können, dann sind die genau wie die Franzosen. Dann sind die nicht marro- richtig Moslem. So waren die Menschen nicht so weit gekommen. […] „Irgendwann hat mein Vater gesagt: ‚Nein, das tue ich mein Kinder jetzt nicht an. Ich ziehe in 'ne große Stadt.‘ Und er hat da ein Haus gekauft. [..] Mein Bruder kam dort in die Grundschule. [Aber] wir dürfen nicht. Ich hab immer geweint. Ich wollte immer lernen, aber die haben gesagt: ‚Nein! Das gehört sich nicht‘. Aber mein Bruder ja, weil er ein Junge ist. Wir kommen auch aus reiche Familie.“
In diesem Zitat werden die gesellschaftlichen Sicht- und Teilungsprinzipien von Klasse (definiert als Verfügbarkeit über kulturelles und finanzielles Kapital), Gender und Sprachgemeinschaft als die Faktoren ausgemacht, die in Zusammenhang mit dem jeweiligen Wohnort (Dorf/Stadt) und den am jeweiligen Ort gegebenen Möglichkeiten (Bildungsinfrastruktur) und Normen (besonders klassenspezifischen Gendernormen) über die den Kindern zur Verfügung stehende Möglichkeit des Erwerbs von inkorporiertem kulturellen Kapital entschieden. War es in den 1960er Jahren für Frauen der städtischen Mittel- und Oberschicht durchaus schon üblich, zumindest eine Grundbildung zu erhalten und u.U. auch einen Beruf zu ergreifen (z.B. Habiba und die Mutter von Majida und meiner Dolmetscherin), so war dies in einem dörflichen Kontext, in dem unter Umständen selbst für die Jungen keine Bildungseinrichtungen existierten, noch nicht der Fall. Während Ketou gegen die normativen Strukturen rebellierte, die ihre Entwicklungspotenziale beschneiden (sie wird später gegen den Willen ihres Mannes Deutsch nicht nur sprechen, sondern auch schreiben lernen) zeigt sich bei anderen Interviewpartner/-innen wie der Habitus als inkorporierte Sozialstruktur zur Reproduktion dieser Strukturen
34 Quelle: UNESCO Institute for Statistics 2007. Vergleichswert für 1982, 30% Alphabetisierungsrate. Schätzungen für 1960: 13%. Die Absolventenquote der Primarstufe (6 jährige Grundschule) ist von 31% in 1975 auf gut 50-60% (1985-2000) gestiegen und liegt 2010 nach offiziellen Angaben bei 85% (Quelle: www.databank.worldbank.org).
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beiträgt. So erzählte Kamila, die etwa zum gleichen Zeitpunkt wie Ketou in einem Dorf im Nordosten Marokkos aufwuchs, dass ihr niemand explizit verboten hätte, in die Schule zu gehen. Aber da sie keine anderen Mädchen kannte, die dies taten, kam sie erst gar nicht auf die Idee, darum zu bitten. Sie hätte ihre Brüder sogar oft bis zum Schulgebäude begleitet, sei dann aber eben wieder umgekehrt und nach Hause gegangen. Die Mädchen und Jungen, die in der städtischen Mittelschicht aufwuchsen, hatten dagegen insgesamt eine vergleichsweise gute Chance, eine Schule zu besuchen. Im Verlauf der Umstellung des Schulsystems vom Französischen auf das Arabische als Unterrichtssprache verfügten sie über einen weiteren Vorteil gegenüber den Kindern, die in eher isolierten berbersprachigen Gegenden aufwuchsen. Der in den Städten verbreitete Gebrauch der marokkanisch-arabischen Koiné (s.o.) bzw. der Bilingualismus führte dazu, dass sich die Kinder zumindest mit ihren Lehrern verständigen konnten, auch wenn die Barriere zum Hocharabischen als Schriftsprache erheblich war. In den berbersprachigen Dörfern dagegen wirkte sich die Instrumentalisierung von Sprache als Herrschaftsinstrument doppelt negativ aus: Einerseits erscheint es plausibel, dass manche Eltern, wie von Ketou berichtet, in einem (post)-kolonialen Kontext davor zurückgeschreckten, ihre Kinder in der Sprache der jeweils „herrschenden Klasse“ (sei es Arabisch oder Französisch) unterrichten und sozialisieren zu lassen. Andererseits waren die einsprachig in Tarifit, Tamazight oder Tachelhit aufgewachsen Kinder vor erhebliche Probleme gestellt, wenn sie plötzlich mit einer Lehrperson konfrontiert waren, die ihre Sprache nicht sprach. Diese Konstellation überfordert regelmäßig auch die Lehrer/-innen. So berichtete mir meine Dolmetscherin [27, Köln] von ihrer (arabischsprachigen) Schwester, die zu Beginn ihrer Laufbahn als Lehrerin in Marokko regelmäßig daran verzweifelte, dass sie sich mit ihren Schüler/-innen nicht verständigen konnte. Fatou dagegen, die Anfang der 1980er Jahre in einem Dorf der Region Nador aufwuchs, ist bis heute enorm stolz darauf, dass sie in der Schule immer neben dem Lehrer sitzen durfte: da sie bei Ferienaufhalten bei ihrem Onkel in Tanger als einzige in der Klasse Darija gelernt hatte, durfte sie als Übersetzerin zwischen dem Lehrer und ihren Klassenkameraden wirken. Auch wenn die berbersprachigen Kinder die marokkanische Umgangssprache in der Regel relativ schnell lernen, kann man doch davon ausgehen, dass ihre fehlenden Kenntnisse in Darija für den Erwerb fachlicher schulischer Kenntnisse zunächst eine deutliche strukturelle Benachteiligung darstellen. Heutzutage sind monolingual berbersprachig aufwachsende Personen in Marokko allerdings zunehmend seltener anzutreffen (Maas und Mehlem 1999, 73): Massenmedien wie Radio und Fernsehen sowie Werbetafeln haben dafür gesorgt, dass die arabische Sprache heute auch in die entlegensten Dörfer eingezogen ist. Diese zunehmende mediale Verbreitung des marokkanisch-arabischen Dialektes geht einher mit einer gleichzeitig stattfindenden symbolischen Aufwertung der Berber-Sprachen. So gibt Mimun am Ende seiner Tirade gegen die Arabisierung Marokkos zu bedenken: „Aber [dieser ideologischer Unsinn] wird wieder, peu à peu, zurecht geschmiedet. Also man gibt den Berber-Sprachen ihren eigentlichen Wert. Es wird geschrieben, es gibt Zeitungen, die erscheinen, es gibt Programme und Radiosender.“
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Eingeläutet wurde dieser Veränderungsprozess 1994 durch ein Dekret des Königs Hassan II, in dem zum ersten Mal Tamazight als Teil des marokkanischen kulturellen Erbes anerkannt wurde (Maas und Mehlem 1999, 82). 2001 bestätigte Mohamed VI diese Neuausrichtung der Sprachpolitik. In der Folge wurde das „Institut Royal de la culture amazighte“ gegründet (Moatassime 8.7.2002) und seit 2003 wird die Vermittlung von Berber-Sprachen im Schulunterricht erprobt (Bouras 2006, 30). Eine entscheidende Wende zeigt sich besonders in der 2011 neu formulierten marokkanischen Verfassung. In der deutlich längeren Präambel heißt es nun im dritten Absatz: „Etat musulman souverain, attaché à son unité nationale et à son intégrité territoriale, le Royaume du Maroc entend préserver, dans sa plénitude et sa diversité, son identité nationale une et indivisible. Son unité, forgée par la convergence de ses composantes araboislamique, amazighe et saharo-hassanie, s'est nourrie et enrichie de ses affluents africain, andalou, hébraïque et méditerranéen“ (Royaume du Maroc 30 Juillet 2011).
Als souveräner muslimischer Staat, der seiner nationalen Einheit und seiner territorialen Integrität verhaftet ist, strebt das Königreich Marokko danach seine einheitliche, unteilbare nationale Identität in seiner Fülle und Diversität zu erhalten. Diese einheitliche Identität, entsprungen aus der Konvergenz von arabisch-islamischen, amazirischen und saharaoui-hassinischen Komponenten, wurde durch afrikanische, andalusische, hebräische und mediterrane Zuströme genährt und bereichert. [Übersetzung MD]
Die hier formulierte Anerkennung der vielfältigen sprachlichen und kulturellen Einflüsse auf eine „transkulturell“ konzipierte marokkanische Identität35 wird durch die erstmalige Anerkennung des Tamazight als zweite offizielle Staatssprache als entscheidende sprachpolitische Innovation unterfüttert. So besagt Art. 5: „L'arabe demeure la langue officielle de l'Etat. L'Etat œuvre à la protection et au développement de la langue arabe, ainsi qu'à la promotion de son utilisation. De même, l'amazighe constitue une langue officielle de l'Etat, en tant que patrimoine commun à tous les Marocains sans exception. Une loi organique définit le processus de mise en œuvre du caractère officiel de cette langue, ainsi que les modalités de son intégration dans l'enseignement et aux domaines prioritaires de la vie publique, et ce afin de lui permettre de remplir à terme sa fonction de langue officielle.“
Die arabische Sprache bleibt die offizielle Landessprache. Der Staat arbeitet auf den Schutz und die Entwicklung der arabischen Sprache sowie die Verbreitung ihrer Nutzung hin. Das Amazight, als kulturelles Erbe aller Marokkaner, gilt ebenfalls als offizielle Landessprache. Ein Gesetz regelt den Prozess der Umsetzung des offiziellen Charakters dieser Sprache sowie die Modalitäten ihrer Einführung in das Bildungssystem und in die zentralen Bereiche des öffentlichen Lebens, die ihren Einsatz als offizielle Landessprache möglich machen werden. [Übersetzung MD]
35 Hier sollte allerdings nicht übersehen werden, dass der marokkanische Staat in diesem Absatz der Unabhängigkeitsbewegung der Sahraouis (Polisario) eine strikte Absage erteilt indem auf der „territorialen Einheit Marokkos“ bestanden wird und – subtiler – auch die in der Südsahara gesprochene Sprache (Hassini) sowie die dort verortete Kultur als integraler Bestandteil des marokkanischen kulturellen Erbes (patrimoine) deklariert wird.
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Obwohl es den Unterschied zwischen dem Arabischen als der Landessprache und dem Tamzight als einer Landessprache zu beachten gilt, eröffnet der Hinweis auf die zu erlassenden Gesetze und Verordnungen zum ersten Mal zumindest die Möglichkeit für eine zukünftige Neu-Aushandlung der legitimen Sprachen und eine Neuausrichtung der marokkanischen Sprachpolitik. Während dieser Paradigmenwechsel für zukünftige Generationen marokkanischer Schüler – sowohl in Bezug auf ihre Mehrsprachigkeit und Sprachkompetenz als auch in Bezug auf die Kategorien möglicher Selbst-Identifikationen – bedeutsam werden mag, sind die marokkostämmigen Migranten in Deutschland von den in der Vergangenheit angebotenen oder verwehrten Möglichkeiten zum Sprach- und Bildungserwerb geprägt worden. Im Folgenden wird daher erläutert, wie sie mit dem Wechsel in ein anderes sprach(politisches) Feld umgingen. Deutschland: Deutsch als erste, zweite oder dritte Fremdsprache ? Die von Deutschland angeworbenen Arbeiter/-innen waren in der Regel mit der Herausforderung konfrontiert, sich erste Deutschkenntnisse erst vor Ort und parallel zu ihrer sofort einsetzenden beruflichen Tätigkeit aneignen zu können. Die Fabrikarbeiterin Habiba [59, AC] schildert die Problematik sehr anschaulich: „Ja, früher in Deutschland wir kommen, nur am Weinen. Verstehen kein Wort! Kein Wort! Auch Mittagessen. Leute sagen: (ruft) ‚Mittagpause!‘ Ja, was ist das, Pause? Verstehen keine Pause. Wir dageblieben, Zeit um. Sagen: ‚Arbeiten, jetzt‘ ‚Wie bitte? Wir haben noch nicht gegessen.‘ ‚Äh, Zeit vorbei!‘ (lacht) Halbe Stunde weg. Immer mit zeigen, mit zeigen, mit zeigen. Und danach sagen: Ne, muss ich in Schule gehen. Muss mal gucken, das ist Türe, Toilette. Teller, Glas, Löffel. Und dann lernen schimpfen (lacht). MD: (lacht) Ja. H: „‚Lass mich in Ruh!‘ ‚Ich geh nach Hause nach Marokko! Ich bleib nicht hier!‘ (lacht) Nee, da haben wir aber viel Spaß gehabt.“
Den Deutschkurs, den Habiba besucht, gibt sie bereits nach sechs Monaten und dem Erwerb rudimentärer Sprachkenntnisse wieder auf, da sie die Dreifachbelastung von Fabrikarbeit, Haushalt und Unterricht als zu anstrengend empfindet. Im Gegensatz zu vielen anderen Arbeitsmigranten (die als Analphabeten ohne Schulbildung einreisten) hatte sie in ihrer Heimatstadt nicht nur einen Schulabschluss gemacht, sondern auch Französisch gelernt. Trotz dieser Ausstattung mit kulturellem Kapital, das ihr das Erlernen der deutschen Sprache hätte erleichtern können und trotz des Besuchs eines Sprachkurses (der ebenfalls nicht allen Arbeitern möglich war) ist ihr Sprachvermögen im Deutschen auch heute noch limitiert: „Wir haben auch nicht lernen, gut lernen. Was rede ich? (leiser) Fabriksprache.“ MD: „Ja. Aber man kann dich gut verstehen.“ H: „Ne, trotzdem! Mein Sohn auch immer: ‚Mama, was fürn Sprache?‘ Hab ich gesagt: ‚Ja, Lindt-Sprache.‘ Was soll ich sagen? Früher nur Karrees! Praline! Schablone! Ja! (aufgeregt) Gibt‘s kein andere sauber. Und Aachen, wenig du treffen mit eine Frau, korrekte Deutsch reden. Die reden Dialekt!“
Das Beispiel Habibas zeigt folglich, dass es nicht nur die persönliche Ausstattung mit kulturellem und ökonomischem Kapital war, das den Erwerb der deutschen Sprache
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für die erste Generation der Arbeitsmigrant/-innen erleichterte oder erschwerte. Vielmehr trugen auch strukturelle Faktoren dazu bei, dass die Sprachkenntnisse der Arbeitsmigranten in vielen Fällen auf einem Minimalniveau blieben und gleichsam „fossilisierten“: So war zum einen für die Industrie- und Fabrikarbeitsplätze in der Regel nur ein sehr geringes Sprachniveau von Nöten. Teilweise fehlten dort auch für das Erlernen der deutschen Hoch- oder Standardsprache hilfreiche Sprachvorbilder. Zum anderen stellte der deutsche Staat aufgrund des temporären Charakters des Anwerbeprojekts weder Anreize noch systematische Angebote zum Spracherwerb bereit. Im Gegensatz zu den deutschstämmigen Aussiedlern, für die umfangreiche Integrationsmaßnahmen entwickelt wurden und bei denen das Absolvieren eines Sprachkurses zum Pflichtprogramm gehörte, gab es für die Arbeitsmigranten keine Verpflichtung zum Sprachenerwerb (Maas 2008, 578). So spiegelt für Maas (2008, 94) das “Rudimentärdeutsch (‚Gastarbeiterdeutsch‘) […] unmittelbar die Verhältnisse in einer Gesellschaft, die diese Menschen nicht integrieren wollte“. Wenn die betroffenen Personen „spontan Anstrengungen dazu unternahmen […] [und] versuchten, die deutsche Sprache zu lernen, rannten sie gewissermaßen ins Leere“. Diese Notwendigkeit zur Selbstmotivation für den Spracherwerb war für die nicht berufstätigen Ehepartner, also in der Regel die Frauen, noch viel stärker gegeben. Sprachkenntnisse wurden weder für die Einreise noch für die Aufenthaltsgenehmigung im Familiennachzug verlangt. Auch die Notwendigkeit zur Kommunikation am Arbeitsplatz war als Lernanreiz zunächst nicht gegeben. Die Frage, ob und inwieweit sie Deutsch lernten, hing somit sehr stark von ihnen selbst ab: von ihrem persönlichen Interesse, ihrer Motivation und ihrem bereits erworbenen kulturellen und sprachlichen Kapital, das ihnen den Spracherwerb erleichterte oder erschwerte. Darüber hinaus war das jeweilige persönliche Umfeld (Familie und Sozialkontakte) entscheidend. Zum einen kam es auf die Haltung ihres Ehepartners an: während Ketou sich ihre Deutschkenntnisse und Deutschkurse gegen den ausdrücklichen Willen ihres Ehemannes erkämpfen musste, nahmen andere Männer eine neutralere Haltung ein, oder unterstützten ihre Frauen sogar aktiv beim Spracherwerb. Zum anderen erwies sich auch die Zusammensetzung der Nachbarschaft als bedeutungsvoll: Für diejenigen Migrantinnen die (wie z.B. Fatou) in ein bereits existierendes familiäres Netzwerk einheiraten oder/und in eine primär marokkanisch bzw. berbersprachige Nachbarschaft integriert wurden, verringerte dieses soziale Kapital die Notwendigkeit und somit auch den Anreiz, selbst Deutsch zu lernen (vgl. Gärtner 2009, 99). Umgekehrt war die Motivation zum Spracherwerb für die Frauen, die ohne solche muttersprachlichen Netzwerke in eine dominant deutsche Umgebung einwanderten, deutlich höher. In den kleineren Bergwerksiedlungen scheinen die tendenziell stärker ausgeprägten Nachbarschaftsbeziehungen (im Gegensatz zu den anonymen Verhältnissen in vielen großstädtischen Wohnblocks) den Spracherwerb für diejenigen, die es wünschten, etwas zu erleichtern. Mehrere Frauen berichteten mir, dass es gerade die älteren, nicht mehr berufstätigen deutschen Nachbar/-innen waren, die sich als offen und hilfsbereit erwiesen und dadurch auch den Spracherwerb ihrer marokkostämmigen Nachbar/-innen förderten. Die Interaktion von Wohnort, Netzwerken und persönlicher Motivation beim Spracherwerb für Heiratsmigrantinnen fasst Rihane [29, geb. in Aldenhoven] wie folgt zusammen:
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„Also meine Mutter konnte alleine zum Arzt gehen, alleine einkaufen. Und wenn wir für Diktate lernen mussten, konnte sie uns vorlesen, damit wir das schreiben. Die hat ZUM GLÜCK viel über meinen Vater gelernt. Aber auch viel dadurch, dass sie sich selbst mit uns auseinandergesetzt hat. Wenn sie gemerkt hat ‚Oh, die lernen jetzt was in der Schule‘. Dann hat sie sich das mit angeguckt und sich selbst beigebracht. Ne? Und wir haben auch in einer Gegend gewohnt, da gabs eine türkische Familie und wir. Und sonst nur deutsche, ältere Leute. Die natürlich mit ihr gesprochen haben, und dadurch hat sie das auch gelernt. Meine Schwiegermutter kann auch super Deutsch! Und die hat sich das auch selbst beigebracht. Und irgendwann, als hier dann ein Deutschkurs angeboten wurde, ist sie auch in diesen Deutschkurs gegangen. Ich denke mal, das ist je nach Familie [unterschiedlich]. Es gibt natürlich auch viele marokkanische Frauen die kein Wort Deutsch können. Oder sich damit schwer tun. Die verstehen vielleicht alles, aber trauen sich nicht zurückzusprechen. Aber ich glaub das liegt mehr daran, dass es früher nicht angeboten wurde und jetzt zu spät ist.“
Wie bereits in Kapitel 6.1 angesprochen, ist die Hilfe der Mütter ein wichtiger Einflussfaktor für den Bildungserfolg der Kinder. Nahmen die Mütter wie in diesem Fall „für sich einen analogen Lernprozess in Angriff“ (Maas 2008, 587), so konnten sie ihre Kinder in Bezug auf Spracherwerb und Bildungserfolg deutlich besser unterstützen, als wenn sie sich – mangels Notwendigkeit und passender Disposition – hierauf nicht einließen. Im Gegensatz zu den Arbeitsmigranten und den bis Anfang der Jahrtausendwende eingereisten Ehepartnern, erwarben viele (wenn auch nicht alle) Studienmigranten erste Deutschkenntnisse bereits in Marokko. Zusätzlich brachten sie mit ihrem Abitur oder einem ersten Studienabschluss in der Regel sehr gute Kenntnisse des Hocharabischen und des Französischen sowie der beiden damit einhergehenden Schriftsysteme (arabische und lateinische Schrift) bei ihrer Ankunft nach Deutschland mit. Deutsch ist für viele Studienmigranten somit nur eine weitere Fremd- und Schriftsprache, die es zu lernen gilt, wie die heute 40-jährige Manar berichtet: „Also ich bin eigentlich mehrsprachig aufgewachsen. In der Schule habe ich Arabisch, Französisch und Englisch gelernt. Ich dachte nicht, dass ich irgendwann noch eine vierte Sprache sprechen kann oder werde. Ich fand Deutsch dann aber sehr schön.“
Zu dieser deutlich besseren Ausstattung mit kulturellem Kapital als begünstigende persönliche Komponente kam für die Studienmigranten die Verpflichtung hinzu, ein gewisses Sprachniveau36 vorweisen zu müssen, um zum Studienkolleg zugelassen zu werden. Eine Studienerlaubnis wird Marokkanern erst nach erfolgreichem Bestehen des Studienkollegs erteilt. Dies bedeutet, dass mit Ausnahme derjenigen, die ihre akademische Laufbahn sehr früh aufgegeben haben, eigentlich alle Studienmigranten, die heute noch in Deutschland leben, ein recht gutes Deutschniveau haben. Besonders bei den Absolvent/-innen kann dieses sogar als ‚geschäftssicher‘ gelten.
36 Dieses wurde im Laufe der Zeit mehrfach geändert bzw. der Anforderungskatalog wurde modifiziert, genannt wurden u.a. DAF, Mittelstufe 1 oder Mittelstufe2.
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Im Gegensatz zu den in den 60er Jahren angeworbenen Arbeitskräften, für die es mehr auf körperliche Leistungsfähigkeit als auf Sprachkenntnisse ankam, waren für die Studienmigranten Deutschkenntnisse nicht nur eine unabdingbare Voraussetzung für den Studienerfolg, sondern auch ein zentrales Kriterium für ihre spätere Etablierung auf dem Arbeitsmarkt bzw. eventuelle gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten. Davon berichtet z.B. Hakim, der sein Studium vorzeitig abgebrochen hat: „Wir haben uns mal bei der Polizei beworben. […] Dann mussten wir in Münster eine Prüfung schreiben. […] Und dieser Test, den wir gemacht haben, es war wirklich für mich verdammt schwer. Ich musste schon am ersten Tag raus […]. Die haben mit mir gesprochen was ich alles falsch gemacht habe. Der hat gesagt ‚Sie können schon deutsch reden. Aber dann halt diese Deutschkenntnisse hat einfach nicht gereicht.‘ […] Dieser Bericht: ich hab´s gesehen. Ich hab gedacht ich hab das gut gemacht. Aber diese Art, wie ich geschrieben habe. Im Vergleich mit den Deutschen: kaum Chance. Aber [ein Bekannter] hat bestanden. Die schriftliche Prüfung, als Marokkaner. Der ist mit mir gekommen, aber ich weiß ganz genau, dass er viel besser Deutsch konnte damals, ne? Der konnte perfekt reden. Diesen Akzent merkst du nicht. Als ob der hier aufgewachsen ist. Dass der das geschafft hat: wirklich Wahnsinn. Weil bei mir war alles Rot. Hier musste man so schreiben, hier musste man so schreiben. Hier groß, hier klein. Da habe ich so viele Fehler gemacht. Deswegen bin ich auch rausgeflogen. Aber nicht nur ich. Wir sind zu 15. rausgeflogen. Und ich war der einzige Ausländer.“
Wie Hakims Erzählung veranschaulicht, ist die Beherrschung der „legitimen“ und offiziellen (Schrift-)Sprache für einen beruflichen und sozialen Aufstieg in einer postindustriellen Gesellschaft wie der deutschen nahezu unentbehrlich. Daher ist es sicher nur folgerichtig, wenn im Rahmen der viel zu spät erfolgten Anerkennung der deutschen Einwanderungsrealität seit Anfang des Jahrtausends Sprachkompetenzen sowohl im Rahmen der „nachholenden Integrationsförderung“ von bereits in Deutschland lebenden Personen (vgl. Bade 2007, 61) als auch in Bezug auf den Nachzug von Ehepartnern thematisiert wurden. So wurde durch das 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz erstmalig ein umfassendes, gesetzlich geregeltes und finanziell gefördertes Angebot an Sprachkursen (die sogenannten „Integrationskurse“ vgl. hierzu u.a. Steinert 2007) für Neu- und länger Zugewanderte ins Leben gerufen. Seit der Gesetzesreform von 2007 müssen darüber hinaus auch nachreisende Ehepartner bereits für den Erhalt der Aufenthaltserlaubnis zumindest „einfache Sprachkenntnisse“, d.h. in der Regel das Niveau A1 nachweisen. In den Gesprächen mit meinen Interviewpartner/-innen wurde deutlich, dass dieser politische Paradigmenwechsel, besonders für die nach Deutschland einheiratenden Ehepartner nicht nur akzeptiert, sondern teilweise auch über das rechtlich vorgeschriebene Maß hinaus umgesetzt wird. Dies zeigt sich exemplarisch bei dem ehemaligen Studienmigranten Loutfi, dem es sehr wichtig ist, dass seine neuzugereiste Frau genug Deutsch lernt, um auch ohne seine Hilfe ihr Alltagsleben zu bewältigen. Die Investition in das kulturelle Kapital seiner Frau ist ihm zunächst wichtiger als ihr Beitrag zum Familieneinkommen. Wichtig sei es, die Sprache sofort zu lernen, bevor man im Laufe der Jahre zu träge würde und sich in seinen Behelfskonstruktionen und
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muttersprachlichen Netzwerken zu bequem eingerichtet hätte, wie er es bei einigen Bekannten erlebt. Arbeiten gehen könne sie später immer noch. Auch die nachreisenden Ehemänner und Ehefrauen mit einem höheren Bildungsniveau betonen, dass es für ihr Selbst-Verständnis extrem wichtig ist, zum Familieneinkommen beizutragen bzw. sich beruflich und/oder akademisch weiter qualifizieren zu können. Für Personen wie Souhaila und ihre Freundin oder die Männer von Latifa und Rihane steht daher außer Frage, dass sie eine möglichst gute Beherrschung der deutschen Sprache als Grundvoraussetzung für die von ihnen anvisierte Positionierung im sozialen Raum anstreben. Ganz anders sieht die Situation bei denjenigen (vor allem Frauen) aus, die wie oben beschrieben ohne Schulbildung und Fremdsprachenkenntnisse nach Deutschland kamen, und heute – auch nach 20 und mehr Jahren in Deutschland – der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Sie können nach der neuen Gesetzlage sowohl bei Bezug von Sozialleistungen nach AGB II (Hartz IV) als auch beim „Auffallen“ ihrer fehlenden Deutschkenntnisse vom Ausländeramt dazu verpflichtet werden, einen Deutschkurs zu besuchen.37 In ihrer Untersuchung über die Bedeutung von Deutschkursen für die Integration marokkostämmiger Frauen in Bonn stellt Gärtner (2009, 101) jedoch fest, dass solche zwangsverpflichtete Kursteilnehmerinnen ohne intrinsisches Interesse an der deutschen Sprache im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen „auch über sehr lange Zeit selbst beim Besuch eines Intensivkurses keine oder kaum sprachliche Fortschritte machen.“38 Angesichts der knapp bemessenen öffentlichen Mittel für Sprach- und Integrationskurse (Schenk 6.12.2012) ist daher zu fragen, wie sinnvoll eine solche erzwungene Sprachkursteilnahme nach langen Jahren des Aufenthalts ist, wenn gleichzeitig Neumigrant/-innen auf freie Kursplätze warten. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass die vom Arbeitsamt angeordneten und finanzierten Kurse das ihnen zugrunde liegende Ziel einer erfolgreichen Integration in den deutschen Arbeitsmarkt erreichen, ist oft zweifelhaft. Dies verdeutlicht das Beispiel einer meiner Gesprächspartnerinnen in Bergheim: Takwa ist in einem Dorf in Marokko einsprachig mit Tarifit aufgewachsen und hat als Analphabetin nie eine Schule besucht. Bei ihrer Ankunft in Deutschland vor rund 35 Jahren hat sie aus den oben erläuterten Gründen verpasst, Deutsch zu lernen. Zur Kursteilnahme verpflichtet wurde sie vor Kurzem von der ARGE. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall aber, dass sie heute, mit 55 Jahren, ihre erste Fremdsprache sprechen (oder gar schreiben) lernt, wird sie auf dem Arbeitsmarkt wenig Chancen haben, etwas anderes als eine Putzstelle zu erhalten (vgl. Gärtner 2009, 103). Da Takwa außerdem unter chronischen Krankheiten leidet, ist auch dies sehr zweifelhaft: Wer würde eine Putzhilfe oder Reinigungsfachkraft einstellen, die in regelmäßigen Abständen wegen eines Rückenleidens ausfällt? Hier zeigen sich folglich die Grenzen einer „nachholenden Integration“ (Bade 2007) sehr deutlich. Für die entsprechende Kundenbetreuerin bei der ARGE, die Takwa bei ihrem letzten Termin ob ihrer fehlender Fortschritte im Spracherwerb nachdrücklich rügte und beschämte, bleiben die Grenzen dessen, was
37 Vgl. hierzu das aktuelle Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe (26.11.2012). 38 Auch Maas (2008, 585) merkt hierzu an, dass für Personen ohne formale Schulbildung die „Schwelle zur schriftkulturellen Ausrichtung“ nur in sehr kleinen, homogenen Lerngruppen sinnvoll überwunden wird, wobei ein kleines Stundenbudget nicht ausreicht.
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von einer Person mit einer spezifischen translokalen Positionierung – wie der von Takwa – erwartet werden kann (oder eben nicht), jedoch offensichtlich unsichtbar. Deutschland: die zweite Generation Ähnlich wie bei ihren Eltern, zeigen sich auch bei den in Deutschland aufgewachsenen Kindern der Arbeitsmigranten sehr unterschiedliche ein- oder mehrsprachige Sprachkompetenzen. Für all diejenigen, die spätestens im Grundschulalter nach Deutschland zugewandert sind, besteht eine Gemeinsamkeit: Auch wenn Deutsch nicht unbedingt die Erst-, Mutter- oder Familiensprache ist, so ist sie doch heute ihre dominierende Sprache. Dies wird in den folgenden Zitaten sehr deutlich: Rihane: „Eigentlich ist es im Kopf so, ja, mehr Deutsch als Arabisch.“ Achraf: „Also wir sprechen Dialekt-Arabisch, marokkanisches Arabisch. Aber das ist […] ein abgestumpftes, nur auf das nötigste reduziertes Arabisch. Wenn ich mit Marokkanern [spreche], die GUTES Marokkanisch-Arabisch beherrschen, dann merke ich, was für einen kleinen Wortschatz ich habe und wie viele grammatikalische Fehler ich bei der Satzbildung mache. Aber Deutsch habe ich mit meinem Bruder gesprochen, der auch hier aufgewachsen ist. Und durch den Kindergarten, Grundschule, Freunde, war und ist meine Hauptsprache Deutsch. Ne?“ Amina: „Wie gesagt, wir sprechen dieses Marokkanisch mit meinen Eltern, oder unsere Eltern mit uns. Und unter uns Geschwistern eher Deutsch. Mit so einem Misch-Masch. Ein bisschen mehr Marokkanisch, wenn man gerade nicht möchte, dass der andere mal versteht (lacht). […] Aber mehr Deutsch. Weil wir uns da eben besser ausdrücken können oder die Sprache besser beherrschen als das Marokkanisch.“
Im Extremfall führen die Anforderungen der Immigrationsgesellschaft dazu, dass die Heimatsprache(n) vollständig durch das Deutsche als einziger wirklich beherrschten Sprache ersetzt werden. Wie es dazu kommt, erläutert mir Loubna: „Also es verwundert sehr viele Leute: ‚Wie du bist Marokkanerin, aber du kannst aber kein Arabisch?‘ ‚Ja, ich hab‘s nicht gelernt.‘ (lachen) […] Naja. Also wir haben‘s wirklich nicht gelernt, ne? Ich bin mit meinen Geschwistern jung hierhergekommen. Und dann war‘s erst mal wichtig, dass wir Deutsch sprechen. Ich hab‘s bei meinen älteren Geschwistern gesehen, weil die direkt in die Schule mussten. Und die konnten gar nichts, kein Wort Deutsch. Und das war schlimm. Und dann habe ich gesehen, da kamen die von der Schule und haben geweint. Man hat dann natürlich auch keine Freunde gehabt so, ne? Weil wie willste dich denn auch verständigen, wenn dich keiner versteht? Mit Händen und Füßen zu reden ist nicht besonders. Da kommt man nicht weit. Und dann hat mein Vater versucht, mit uns immer Deutsch zu sprechen. Wir haben dann halt auch Fernsehen geguckt und so. Aber es war immer alles auf Deutsch. Damit wir überhaupt irgendwas verstehen.“
Die hier belegte Funktion und Bedeutung des Deutschen als dominierende Alltagssprache konnten auch Mehlem (1998, 271–276) und Bouras (2006) in ihren Untersuchungen zum Sprachgebrauch marokkanischer Kinder in Deutschland nachweisen. Die Gründe hierfür liegen zum einen in der je nach sozialem Netzwerke und Wohnstandort ausschließlich oder hauptsächlich deutschsprachig geprägten außerhäusli-
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chen Umwelt. Zum anderen in der Bedeutung des Deutschen als im Grundschulalter zunächst einzigen Schul- und Schriftsprache. Selbst innerhalb der Familien ist es keine Seltenheit, dass – wie von Amina erwähnt – bereits die in Deutschland aufwachsenden Geschwister sich miteinander eher auf Deutsch als in der von den Eltern gesprochenen Sprache unterhalten. Dass die jeweiligen Muttersprachen bzw. Familiensprachen der Kinder so deutlich hinter das Deutsche zurücktreten, liegt nach Maas und Mehlem (1999, 91) auch daran, dass sich die marokkanische „Sprachvergesellschaftung“ im deutschen Umfeld auflöst: Ohne die marokkanisch-arabische Koiné als informelle Verkehrssprache fehlt in der sprachlichen Diaspora nicht nur die übergreifende Verständigungsmöglichkeit zwischen hier entweder berberophon und arabophon aufwachsenden Marokkanern, sondern es fehlt auch für beide Sprachgruppen die „Schleuse“, die den Zugang zum Hocharabischen erleichtert (Maas 2008, 61). Somit bleibt besonders das Berberische als Familiensprache isoliert gegenüber dem Deutschen als informeller und formeller Verkehrssprache einerseits und dem Hocharabischen bzw. klassischen Arabisch des Korans andererseits (vgl. Abb. 19 unten). Selbst für die mit Darija aufwachsenden Kinder in Deutschland bleibt der Nutzen der Sprache im außerhäuslichen Umfeld begrenzt: Sowohl mit monolingual berbersprachigen marokkostämmigen Kindern,39 als auch mit Personen, die andere arabische Dialekte sprechen, ist die Verständigung so schwierig, dass statt Arabisch meistens Deutsch als gemeinsame „lingua franca“ fungiert. Während der symbolische Wert der deutschen Sprache im Vergleich zum Wert der Herkunftssprachen bei den Angehörigen der zweiten Generation deutlich zunimmt, bleibt die Rangfolge zwischen den verschiedenen Herkunftssprachen erstaunlich stabil: Spricht von den Eltern mindestens eine Person Darija als Muttersprache oder sind beide Elternteile bilingual berberophon und arabophon, so entscheiden sie sich meist für Darija als Familiensprache. Dementsprechend lernen die Kinder entweder gar kein Tamazight (z.B. Ines), oder aber sie nehmen den entsprechenden Dialekt nur passiv in ihr Sprachrepertoire auf (Amina) oder verlieren ihre als Kind erworbenen Kenntnisse im Laufe der Zeit (Yasmina). Eine Ausnahme stellt Najib dar: Während er von seinem Vater (berberophon, 1. Gen.) „perfekt“ Tarifit gelernt hat, bereitet ihm der marokkanisch Dialekt, den er von seiner Mutter (arabophon, 2. Gen.) als Zweit- bzw. Drittsprache gelernt hat, größere Probleme. Dass nur die wenigsten der in Deutschland aufgewachsenen Kinder Hocharabisch beherrschen, ist nicht weiter erstaunlich, bedenkt man, dass diese Sprache schon in Marokko als ‚Quasi‘-Fremdsprache erlernt werden muss. In Deutschland fehlt nun nicht nur die verpflichtende schulische Alphabetisierung im Arabischen, sondern auch die im öffentlichen Raum in Marokko omnipräsenten visuellen Anknüpfungspunkte, „wie sie selbst noch im hintersten Dorf in Marokko nicht zuletzt durch die allgegenwärtigen Reklametafeln in arabischen Schriftzügen (etwa Coca-Cola, Sprite…) bestehen“ (Maas und Mehlem 1999, 101).
39 Dieser Fall (monolingual Tamazight ohne Darija) trat bei meinen Interviews nur einmal auf, wurde allerdings von Maas und Mehlem (1999, 91) bei Kindern in Dortmund mehrmals beobachtet.
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Abbildung 19: Sprachgemeinschaften der Deutsch-Marokkaner/-innen der zweiten Generation
Quelle: Eigene Abbildung, modifiziert nach Maas 2008, 61
Da viele Eltern selbst nicht alphabetisiert waren, blieben die Kinder für den Schriftsprachenerwerb entweder auf den von den Moscheen angebotenen Koranunterricht oder den je nach Wohnort in unterschiedlichem Maße zugänglichen herkunftssprachlichen Unterricht angewiesen.40 Diese Gelegenheiten waren den Eltern jedoch nicht immer bekannt bzw. wurden nicht immer genutzt. Selbst dort, wo sie genutzt wurden, war eine souveräne Beherrschung der Schriftsprache alles andere als gesichert. Darauf deuten zumindest episodische Daten hin (vgl. Maas und Mehlem 1999, 89f. und eigene Erhebung). Auch in einer 2010 durchgeführten Befragung von Marokkanern in Deutschland gab keiner der rund 500 deutschen Teilnehmer an, Arabisch schreiben zu können.41 Interessant ist jedoch, dass im Gegensatz zum faktischen Sprachgebrauch die symbolische Bedeutung der arabischen Hochsprache auch in der Diaspora-Situation erhalten bleibt. Entscheidend hierfür ist sicherlich die religiöse Konnotation des Hocharabischen als liturgische Sprache (vgl. Mehlem 1998, 111-115). Latifa beispielsweise, die Arabisch weder lesen noch schreiben kann, und sogar Koranverse in lateinischer Umschrift notieren muss, um sie auswendig zu lernen, legt viel Wert da-
40 Zu den in NRW aktuell geltenden Bedingungen siehe www.schulministerium. nrw.de/BP/Unterricht/Faecher/Fremdsprachen/FAQMU/ (18.02.2013) 41 Bezug: erste und zweite Generation (18-35 Jahre). In Deutschland geringste durchschnittliche Arabischkenntnisse europaweit. Unklar bleibt allerdings, ob die Frage auf Darija od. Hocharabisch bezogen war. 84% reklamierten für sich gutes Hörverstehen, aber nur geringe Sprechfähigkeiten. 16% verstehen lediglich einige Wörter Arabisch (BVA 2010).
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rauf, dass ihre Kinder in der Koranschule der Aachener Bilal-Mosche lernen, was sie selbst verpasst hat: „Die arabische Schule ist ‘nen bisschen länger, die ist bis neunzehn Uhr. Aber ich finde schon, dass die viel bringt. Ich […] denke, dass mein Vater bei mir einen Fehler gemacht hat. Dass er das nicht für nötig hielt, mich in die arabische Schule zu schicken. Weil damals war das auch schon so, dass einmal die Woche nachmittags ein marokkanischer Lehrer in die deutschen Schule kam. Diesen [muttersprachlichen Ergänzungsunterricht] gibt es auch in Eschweiler mittlerweile, ne? Nur ich mach das in Aachen, weil das intensiver ist. Die machen das ja mit Zeugnis. So richtig, was heißt, nicht strenger, aber intensiver eben. Hier [in der Schule] machen die so Larifari. Meine Kinder können das Alphabet, das arabische Alphabet, komplett. Die können kleine Verse lesen, können ihren Namen schreiben und so. Die sind viel besser als Mama selbst. Also ich finde das sehr schön. Das schadet denen nicht. Das ist ok.“
Was bei fast allen Eltern mit Kindern im Kindergarten oder Grundschulalter auffällt, ist der Wunsch, ihre Kinder mehrsprachig zu erziehen. Angestrebt wird Mehrsprachigkeit im Sinne einer wirklichen bi- oder trilingualen Sprachkompetenz. Welche Strategien hierzu eingesetzt werden, und wie genau die Prioritäten gesetzt werden, hängt dabei u.a. von den Muttersprachen der Eltern ab, zu denen bei meinen Interviewpartner/-innen neben Deutsch und/oder Darija und/oder Tamazight auch Spanisch, Französisch oder Russisch gehören. Sami, der Studienabsolvent, der selbst mit seinen Kindern Arabisch redet und dessen Frau ihnen Russisch beibringt, benennt z.B. die Sicherung der Deutschkenntnisse seiner Kinder als primäres Ziel: „Wir legen großen Wert, dass die Kinder perfekt Deutsch reden, obwohl sie eigentlich dreisprachig aufwachsen. Das ist absolut kein Problem. Aber natürlich erste Sprache oder die Muttersprache ist Deutsch. Und sie besuchen eine Kita, wo man dazu auch einen Beitrag pro Monat bezahlen muss. Natürlich ist diese Kita für eine andere soziale Schicht. […] Ich kenne andere Kindergärten, wo man eben Tunesisch redet und kein richtiges Deutsch und kein richtiges Arabisch, einfach ein Mischmasch. Und das wollten wir nicht haben.“42
Etwas anders gelagert sind die Prioritäten in den Familien, in denen mindestens ein Elternteil deutschsprachig aufgewachsenen ist und die Kinder ihrerseits ganztägig in den Kindergarten oder die Schule gehen. Vor dem Hintergrund einer solchen Familienkonstellation stellen z.B. Latifa, Faiza oder Rihane fest, dass die Kinder auch zu Hause ‚automatisch‘ zum Deutschen tendieren und das Deutsche zu ihrer ‚natürlichen‘ Sprache wird. In diesen Fällen gelten dann die Sorgen und Strategien der Eltern eher dem Erhalt bzw. dem Ausbau der jeweils ‚anderen‘ Sprache. Hierbei stehen
42 In diesem Statement spiegelt sich ein Sprachendiskurs, der das Deutsche als „Nonplusultra“ (Mimun) definiert. Erst wenn es perfekt beherrscht wird, ist der Erwerb einer weiteren Sprache bzw. Mehrsprachigkeit erstrebenswert. Wie Samis Hinweis auf die „andere soziale Schicht“ verdeutlicht, hängt in einem solchen Kontext die soziale Positionierung bzw. die Aufstiegsmöglichkeiten eines Individuums von der Beherrschung der „reinen“ der „eine[n] und einzige[n], klare[n] und geregelte[n] Sprache“ (Bourdieu 2005b, 54) ab.
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allerdings besonders die in Deutschland bereits zweisprachig aufgewachsenen Personen vor der Herausforderung, wie sie mit dieser Zweisprachigkeit umgehen, ohne zu stark in den oben erwähnten „Mischmasch“ zu verfallen. Eine vergleichsweise kreative Lösung hat Faiza gefunden, der die arabische wie die deutsche Sprache ihrer Kinder ähnlich am Herzen liegen. In der Wohnung versucht sie, mit ihnen möglichst viel Arabisch zu reden, damit sie diese Sprache nicht ganz verlernen. „Draußen“ dagegen, in der Öffentlichkeit, ist Deutsch die Sprache der Wahl „denn die sollen erst gar nicht auf die Idee kommen, dass die auf Arabisch lästern können“. Zwischenfazit In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass marokkostämmige Personen in Deutschland über sehr unterschiedlich ausgeprägte mündliche und schriftliche Sprachkompetenzen verfügen. Erklären lassen sich die Unterschiede durch den jeweiligen Migrationstypus (Arbeits-/Studienmigration) bzw. die Sozialisation in Deutschland für die zweite Generation. Geprägt wird die jeweilige Bi- oder Multilingualität (Darija, Tamazight, Hocharabisch, Französisch, Deutsch u.a.) außerdem durch das in Marokko und Deutschland jeweils herrschenden symbolische Wertesystem und dem daraus resultierenden (Alltags-)Nutzen und Prestigewert bestimmter Sprachen. In Zusammenspiel mit den in Kap. 6.2 vorgestellten alltäglichen Lebenswelten sowie ihren subjektiven Positionierungen ergeben sich für meine Interviewpartner/innen somit divergent ausgeprägte Alltagskontexte, in denen sie deutschsprachige Anrufungen und Fremd-Identifizierungen als ‚Muslime‘ oder ‚Ausländer‘ erleben. Auf diese Situationen und Erfahrungen wird in Kap. 6.5.3 näher einzugehen sein. Wie jedoch bereits in Kap.3.1 gezeigt, stellen neben alltäglichen Kontakten und Interaktionen die Medien ein weiteres soziales Feld dar, in dessen Rahmen Images und Vorstellungen über ‚den Islam‘ und ‚die Muslime‘ re-konstruiert und verhandelt werden. Ausgehend von den bisher erarbeiteten Erkenntnissen zu den Sprachkompetenzen meiner Interviewpartner/-innen soll das folgende Kapital daher zunächst klären, ob und welche deutschsprachigen Medien von meinen Interviewpartner/-innen als Nachrichtenquellen genutzt werden. Aufbauend hierauf werden in Kap. 6.5.2 die subjektiven Auseinandersetzungen mit dem Islambild in den deutschen Medien vorgestellt und diskutiert. 6.3.2. Nachrichtenmedien: Präferenzen und Nutzungsmuster Im Kontext der von mir geführten Interviews wurde das Stichwort der Medien von meinen Interviewpartner/-innen oft selbst in das Gespräch eingebracht. Um zu erfahren, auf welche Medien sie sich bezogen und aus welcher Perspektive sie ihre Standpunkte formulierten, fragte ich im Anschluss an die entsprechende Passage dann konkret nach den von ihnen zur Informationsbeschaffung genutzten Medien. Wurde dieses Thema nicht angesprochen, brachte ich die bewusst vage formulierte Frage ein, welche Medien denn genutzt würden „um sich zu informieren, was so los ist in der Welt“. Auf der Basis dieser Informationen konnte ich in einem späteren Stadium des Gesprächs konkret auf meine Frage nach der Darstellung von Muslimen bzw. dem Islambild in den deutschen Medien überleiten.
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Worum es mir bei den Gesprächen ebenso wie bei der folgenden Darstellung geht, ist also die sehr grundlegende Frage, ob meine Gesprächspartner/-innen deutsche Medien (und damit auch die hier her- und dargestellten Islambilder) überhaupt rezipieren.43 Angesichts der zunehmend transnationalen Verbreitung bestimmter Medienangebote stellt sich in diesem Zusammenhang dabei auch die Frage, inwieweit meine Interviewpartner/-innen alternativ oder ergänzend zu den deutschsprachigen Medienangeboten auf Informationsquellen in anderen Sprachen zurückgreifen. Nutzen sie eventuell exklusiv solche Medienangebote und umgehen so eine Anrufung durch das deutsche Islambild? Ausgehend von den u.g. Quellen (vgl. Fußnote) lassen sich die folgenden drei Faktoren definieren, durch die unterschiedliche Mediennutzungsprofile beeinflusst werden: • •
•
erstens die allgemeine Verfügbarkeit von Medien am jeweiligen Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt (Angebot), zweitens das Vorhandensein individueller Nutzungsbeschränkungen wie Sprachkompetenzen in Wort und Schrift sowie finanzielle Ressourcen (potenziell nutzbares Angebot), sowie drittens die Ausprägung individueller bzw. alters- geschlechts- klassenoder milieuspezifischer Interessen und Präferenzen (real genutzte Medien).
Im Folgenden soll zunächst kurz das für meine Gesprächspartner/-innen in Deutschland generell zur Verfügung stehende Medienangebot skizziert werden. Im Anschluss gilt es die individuellen bzw. haushaltsspezifischen Nutzungseinschränkungen und allgemeinen Nutzungspräferenzen hinsichtlich bestimmter Medienarten und Mediensprachen zu benennen. Auf einige dieser Sender oder Zeitungen werde ich in Kap. 6.5 mit Bezug auf das Islambild noch einmal konkreter zurückkommen.
43 Die Frage nach dem Zusammenhang von transnationaler Mediennutzung und Integration, die für eine Reihe neuerer Studien zum Thema „Mediennutzung von Migranten“ forschungsleitend war (vgl. u.a. Weiß und Trebbe (2001), Hafez (2002d), Al-Hamarneh (2004), Müller (2005), Piga (2007) und Worbs (2010)), ist hier nicht von Interesse (vergleichsweise sinnvoll in diesem Kontext: Simon (2007) und ARD-ZDF (2011) „messen“ Integration über Deutschkenntnisse und Diskriminierungserfahrungen. Im Milieumodell von Klingler und Kutteroff (2009) sind auch sozioökonomische Faktoren berücksichtigt). Eine Diskussion der durchaus relevanten Frage nach der Bedeutung von Medienkonsum für den Spracherwerb (z.B. wenn Loubna ihrem neu zugereisten Mann deutsche Fernsehsender nahelegt, ihren in Deutschland aufwachsenden Kindern jedoch immer wieder arabische Kinderfilme empfiehlt) oder nach dem Zusammenhang zwischen Bildungsstand der Eltern und der Mediensozialisierung der Kinder (wenn z.B. in einer Familie die dreijährige Tochter alleine im Kinderzimmer Fernsehsendungen schaut, in der anderen Familie die Kinder nur einmal in der Woche unter Aufsicht der Eltern eine kindgerecht ausgewählte DVD sehen dürfen) muss hier ausgeklammert bleiben.
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Medienangebot Informationsmedien lassen sich erstens hinsichtlich ihrer Form unterscheiden. ‚Klassische‘ Printmedien (visuell), Hörfunk (auditiv) und Fernsehen (audiovisuell) nutzen unterschiedliche Technologien der Informationsübertragung und setzten daher unterschiedliche Fähigkeiten zur „Dechiffrierung“ der übertragenen Informationen voraus (vgl. Wellgraf 2008). Das Internet als ‚neues Medium‘ stellt die Kombination aller drei Kommunikationsformen dar. Neben Internetangebote, die von ‚traditionellen‘ Nachrichtenredaktionen bereit gestellt werden (z.B. Online-Ausgaben von Zeitungen und Zeitschriften oder von Fernsehnachrichtenformaten) treten heute „Web 2.0“ Angebote (z B. Blogs oder Online-Lexika). Zweitens können Informationsmedien nach den Sprachen differenziert werden, in denen sie ihre Nachrichten vermitteln. Drittens werden sie in der Medienforschung hinsichtlich der Reichweite ihres Verbreitungsoder Sendegebiets unterschieden. Die jeweilige geographische Verbreitung kann lokal, überregional, national oder transnational ausgeprägt sein (vgl. für Deutschland z.B.: Lokalradio, „Dritte TV-Sender“, Überregionale Tagezeitungen oder auf internationaler Ebene die Deutsche Welle). Schaut man sich nun das marokkostämmigen Personen in Deutschland theoretisch zur Verfügung stehende Medienangebot an, so umfasst dieses zunächst die üblichen deutschen und deutschsprachigen öffentlichen und privaten Radio- und Fernsehsender sowie eine große Anzahl deutschsprachiger Printprodukte (Magazine, Wochen- und Tageszeitungen). Was das Fernsehen als Medium mit der in Deutschland höchsten Nutzungsfrequenz angeht (Klingler und Kutteroff 2009, 305, ARD-ZDF 2011, 16) so stehen marokkostämmigen Medienkonsumenten in Deutschland neben binnen-deutschen Sendern per Satellit heute auch verschiedene marokkanische Fernsehsender zur Verfügung (Überblick auf www.hacma.ma). Die insgesamt acht öffentlichen und zwei privaten Sender (davon einer als marokkanisch-französische Koproduktion agierend) gestalten ihre Programme und Nachrichten auf Arabisch (modifiziertes Hocharabisch, Darija sowie verschiedene andere Dialekte besonders für Filme und daily soaps), Französisch, Tamazight (seit Januar 201 auf eigenem Kanal) sowie im Norden Marokkos auch auf Spanisch (dort regulär dreisprachige Nachrichtensendungen). Über Satellit wie über digitales Kabelfernsehen lassen sich in Deutschland weiterhin auch andere französisch- und arabischsprachige national oder international ausgerichtete Nachrichtensender empfangen (zu letzteren gehören TV5Monde oder euronews ebenso wie al-Jazeera oder al-Arabiya).44 Während sowohl deutsch- als auch anderssprachige Fernsehsender von vielen meiner Interviewpartnern/Interviewpartnerinnen als wichtige Informationsquellen genutzt werden (vgl. Tab. 2 unten), spielen nichtdeutschsprachige Printmedien und Radiosender eine deutlich geringere Rolle: Marokkanische oder andere arabische oder berberische Hörfunksender, die in Deutschland erst seit kurzem über das Internet zu empfangen sind, wurden von keinem meiner Gesprächspartner als Informationsquelle genannt. Auch arabische Printmedien scheinen für die Befragten eine vergleichsweise geringe Rolle zu spielen. Dies mag daran liegen, dass marokkanische
44 Für einen Überblick über die Entstehungsgeschichte und die Senderlandschaft des arabischen Sattelitenfernsehens sowie deren Nutzungsmuster in Deutschland vgl. Al-Hamarneh (2004, 448f.).
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Zeitungen in Deutschland nur vereinzelt erhältlich sind (nach Aussage von Sami stellte beispielsweise die Marokkanische Botschaft Anfang der 1990er Jahre an ihrem damaligen Standort in Bonn die zwei zentralen, parteipolitisch gebundenen, marokkanischen Zeitungen zur allgemeinen Benutzung bereit). Transnational ausgerichtete arabischsprachige Zeitungen wie al-Hayat, Asharq Alawsat oder al-Quds alArabi45 sind vergleichsweise einfach, jedoch nicht preisgünstig erhältlich (AlHamarneh 2004, 451). Dass sie von meinen Gesprächspartner/-innen sehr selten als Informationsquelle genutzt werden, liegt daher sicherlich auch daran, dass die von den jeweiligen Redaktionen betreuten Internetseiten noch schneller, einfacher und kostengünstiger aufgerufen werden können und daher von Personen mit Internetanschluss deutlich häufiger genutzt werden. Tabelle 2: Überblick über die in den Interviews zitierten Informationsmedien Deutschsprachig
Marokkanische Quellen n.a.
Transnationale arab. Quellen Al Hayat u.ä.
Andere Sprachen n.a.
Zeitungen/ Zeitschriften
Zeit, SZ/ FAZ, Handelsblatt Fokus, Stern, Spiegel Lokalzeitungen Islamische Zeitung Bild, Express
TV – Nachrichten
Privatsender Öffentlichrechtliche N-tv
2M Al-Aoula Medi 1
Al Jazeera Al Arabia BBC arabic (Iqraa)
Euronews (dt. engl. frz) France 2, France 3, M6 CNN
TV – Unterhaltung
Spielfilme, Serien, Shows Kinderprogramm
Spielfilme, Serien Musiksendungen
Kinderfilme
Spielfilme (frz.)
Radio
Diverse
n.a.
n.a.
n.a.
Internet (Online TV/ Zeitungen)
Süddeutsche.de Handelsblatt.com
Le matin (frz.) hesspress.com (arab.)
Al Jazeera. net Dar Al Hayat. com BBC (arabisch)
Französische Zeitungen z.B. „jeune afrique“
Internet (sonstige Quellen)
Blogs, z.B. „Schall und Rauch“ Youtube
WER besonders?
2. Generation (stark) Studienund Arbeitsmigranten (tw.)
Französische Internetseiten
Arbeitsmigranten und Ehepartner (stärker)
Studien- und Arbeitsmigranten
Studienmigranten. europäischmarokk. Heiratsmigranten
Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung
45 Einen Überblick über diese transnationalen arabischen Printmedien bietet Husseini de Araújo (2009, 202 und 2011, 99–104).
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Dem Internet als ‚neue Medienform‘ wird vor allem von den jüngeren Gesprächspartner/-innen ähnlich stark oder teilweise sogar stärker als Informationsquelle genutzt als das Fernsehen. Sowohl die Printmedien als auch Internetangebote setzen jedoch die Beherrschung der jeweils verwendeten Schriftsprache voraus. Genutzt werden können arabischsprachige Zeitungen oder Internetangebote folglich nur von denjenigen, die Hocharabisch lesen können. Wie im letzten Kapitel beschrieben, trifft dies unter meinen Interviewpartnern fast ausschließlich auf die in Marokko zur Schule gegangenen Studienmigranten zu. Nutzungseinschränkungen und typische Nutzungsmuster In Einklang mit den Erkenntnissen zur Ausstattung mit Mediengeräten in deutschen Haushalten verfügen auch unter den von mir Befragten die meisten über ein Radio und/ oder Fernsehgerät (vgl. Klingler und Kutteroff 2009, 302f.). Internetzugang oder ein Zeitungsabonnement waren etwas seltener vorhanden (hier werden teilweise außerhäusliche Angebote – wie Auslagen in öffentlichen oder privaten Einrichtungen oder Internetcafés – genutzt). Einschränkungen seines Medienkonsums aus finanziellen Gründen führt nur Rachid an, der sich aufgrund seines geringen Einkommens auch in seiner Mobilität limitiert sieht. Er berichtet, dass er früher mit seiner vollen Arbeitsstelle in der Industrie ca. alle 14 Tage aus der Eifel in die damalige Hauptstadt Bonn gefahren sei, um sich dort auf einen Schlag drei oder vier verschiedene französische und arabische Zeitungen zu kaufen. So etwas könne er sich heute von seinem Aushilfsgehalt nicht mehr leisten. Auch einen Internetzugang hätte er persönlich nicht, daher sei er auch nicht mehr so gut informiert. Bei den anderen Befragten sind es dagegen hauptsächlich die Sprachkenntnisse, die jenseits ihres persönlichen Interesses die nutzbaren Informationsquellen limitieren: Die Studienmigrant/-innen mit ihren häufig (sehr) guten Deutsch-, (Hoch-) arabisch- und/oder Französischkenntnissen weisen die stärkste Tendenz zur mehrsprachigen Mediennutzung auf, wobei sie häufig auch mehrere Medienkanäle (Internet, Print, TV) parallel nutzen. Bei ihnen ist eine sehr große Bandbreite an Nutzungsmustern erkennbar, die von einer fast ausschließlichen Konzentration auf deutsche Medien (z.B. Majida) bis hin zu einer dominanten Rezeption arabischsprachiger Medienangebote (z.B. Karim und Hakim) reicht. Sehr viel häufiger anzutreffen ist jedoch eine mehrsprachige Mediennutzung. Ein Beispiel hierfür ist Sami, der sich im Internet sowohl auf deutschen, arabischen als auch französischen Seiten informiert und zusätzlich über seine Frau die zentralen Themen aus der russischen Presse mitbekommt. Sehr ähnliche Nutzungsmuster weisen auch die jüngeren Heiratsmigranten auf, die über marokkanische Schul- und Hochschulabschlüsse verfügen (z.B. Souhaila, Ehemänner von Faiza und Latifa). Die nicht alphabetisierten Arbeits- und Heiratsmigranten der frühen Gastarbeitergeneration dagegen bleiben zumeist auf Fernsehen und Radio als ihre wesentlichen Informationsquellen angewiesen. Je nach Ausprägung ihrer mündlichen Sprachkenntnisse können sie hierbei unter den marokkanischen Sendern wählen (auf Darija oder Tamazight) oder auch auf andere arabischsprachige Sender zurückgreifen. Viele nutzen jedoch auch ihre inzwischen erworbenen europäischen Sprachkenntnisse, um Nachrichten auf Deutsch, Französisch, oder Flämisch zu verfolgen.
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Die ehemalige Fabrikarbeiterin Habiba beispielsweise schaut gerne arabische Nachrichten („BBC arabic. Al-Jazeera ich gucken nicht so viel. Weil ich bin satt, immer nur Blut da“). Aber auch auf Deutsch verfolgt sie regelmäßig sowohl diverse Kochshows als auch das WDR-Mittagsmagazin. Zum Einschlafen schaltet sie dann das (Lokal-)Radio mit Informations- und Talksendungen ein. Ein ausdrückliches politisches Interesse und eine kritisch vergleichende Mediennutzung bleiben also nicht auf „intellektuelle Kreise“ beschränkt, wie es beispielsweise die Studie zur Mediennutzung von Migrantenmilieus nahelegen könnte (Klingler und Kutteroff 2009, 302). Auch die Arbeitsmigranten ohne formale Bildung bzw. Schulabschluss zeigen ein zum Teil sehr reges Interesse am politischem und wirtschaftlichen Geschehen – sowohl in Bezug auf ihren aktuellen Wohnort als auch hinsichtlich von Ereignissen in Marokko oder auf globaler Ebene. So erzählt Yasmina über ihren Vater, der in Belgien in der Stahlindustrie arbeitete: „Also früher, das war grauenvoll. Mussten wir uns auf Niederländisch die Nachrichten anschauen, auf Arabisch die Nachrichten anschauen, auf Berbisch die Nachrichten anschauen. Dann müssen wir noch mal al-Jazeera angucken. Also mein Vater ist so einer. Der guckt wirklich alle [Nachrichtensender].“
Auch Amina, die als Tochter von Arbeitsmigranten in Aachen aufwächst und selbst nicht gerne Nachrichten schaut (auf die Gründe wird im Folgenden noch zurückzukommen zu sein) wird durch die Besuche bei ihren Eltern auch gegen ihren Willen in arabische und deutsche Mediendebatten eingebunden: „Ja wie gesagt, ich muss es irgendwie indirekt automatisch miterleben. Weil mein Papa die Nachrichten guckt, und da wird ja auch in der Familie darüber diskutiert. […] Papa ist ein Nachrichtenfreak, und er guckt es auf Arabisch, auf diesem Nachrichtensender Al Jazeera, und auf Deutsch um acht Uhr. Oder manchmal um viertel vor sieben oder so, da kommen ja auch noch mal Nachrichten auf RTL.“
Wie Yasminas und Aminas Darstellungen aufzeigen, werden die in Deutschland geborenen und sozialisierten Kinder der Arbeitsmigranten durch ihre Teilnahme am innerfamiliären Medienkonsum durchaus auch mit der Existenz unterschiedlicher Medienwelten und den darin vermittelten Weltbildern konfrontiert. Sobald sie jedoch einen eigenen Haushalt gründen oder ihre persönlichen Präferenzen in Bezug auf Informationsquellen durchsetzen können, ergibt sich ein Nutzungsmuster, das sich deutlich von dem ihrer Elterngeneration unterscheidet. Wie für eine solche insgesamt jüngere Altersgruppe zu erwarten (vgl. ARD-ZDF 2011, 20f.), nutzen sie stärker als ihre Eltern neben dem Fernsehen auch das Internet sehr regelmäßig und intensiv um sich zu informieren. Ebenfalls noch vergleichsweise häufig werden Printmedien gelesen (besonders Magazine oder Lokalzeitungen). Radiosender spielen in Bezug auf Nachrichten und Informationen eine untergeordnete Rolle. Angesichts des im letzten Kapitel dargelegten Wegfalls des in Marokko vorherrschenden Sprachkontinuums kann es kaum verwundern, dass die in Deutschland sozialisierten Personen haupt-
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sächlich oder ausschließlich deutschsprachige Medien nutzen.46 Dies liegt bei meinen Interviewpartner/-innen zum einen an den fehlenden Kenntnissen der marokkanischen Umgangssprache: „Irgendwann hat man sich so drauf fixiert, dass man nur Deutsch gesprochen hat, [und] die eigene Sprache vergessen hat. Und das war bei uns der Fall. […] Also meine Schwester und ich, wir haben keinen marokkanischen Sender (lacht). Aber meine andere Schwester [oder mein älterer Bruder], die haben das zum Beispiel. Aber selbst wenn das da läuft dann wird es langweilig. Weil ich versteh das ja nicht. Die reden ja ziemlich schnell und dann kann man’s gleich vergessen (lachen).“ [Loubna, 30, Köln]
Der 30-jährige Raif dagegen, der erst mit acht Jahren nach Deutschland kam, spricht Darija. Das Medienarabisch jedoch überfordert auch ihn: „Ich kann perfekt Marokkanisch. Dann gibt’s aber ein Arabisch, was in den Schulen beigebracht wird, was die Politiker sprechen. Das ist eine einheitliche Sprache. Und die ist dann auch im Fernsehen. Das ist jetzt praktisch egal ob Sie jetzt marokkanischen Sender gucken oder einen irakischen Sender, oder Saudi-Arabischen. Ist eigentlich das gleiche. […] Und das versteh ich nicht. Ja? Wenn sich jetzt der marokkanische Reporter, mit mir hinsetzt, und wir trinken einen Tee, würden wir uns gut verstehen. Aber wenn er da in seinem Hocharabischen anfängt, dann kapier ich das nicht. Ich bin ja nicht in Marokko zur Schule gegangen, das ist der Grund. Ja?“
Farid, der ebenfalls in Deutschland aufgewachsen ist und erst spät mit seinem Vater und seiner Stiefmutter Marokkanisch lernte, hat sich aus religiösen Gründen die arabische Schrift und Grundkenntnisse im Hocharabischen angeeignet. Dies bedeutet jedoch ebenfalls nicht, dass er arabische Internetseiten nutzen kann: MD: „Also sind das dann deutsche (Internet)Seiten oder sind die dann auch auf Arabisch?“ F: „Ne, das sind deutsche Seiten. Deutsche Seiten beziehungsweise englische Seiten […]“ MD: „Arabische Internetseiten oder Zeitungen: Sind die zu anstrengend oder haben die nicht so ein gutes Angebot?“ F: „Die haben ‘nen besseres Angebot, was das angeht. Aber mein Arabisch ist nicht so gut, jetzt, dass ich da [klar käme]. Also Arabisch verstehen kann ich auf jeden Fall schon gut, Hocharabisch. Sprechen kann ich es gebrochen. Geb mir sehr viel Mühe. Aber, das Lesen – also ich kann den Koran auf jeden Fall lesen, flüssig, ist gar kein Problem – aber wenn es um andere Sachen geht, da hakt es.“
Obwohl sich Farid für arabischsprachige Informationen und spezielle Informationen über Marokko interessiert (u.a. da er dorthin auswandern möchte), bleibt er jedoch aus sprachlichen Gründen auf deutschsprachige Informationsquellen angewiesen.
46 Dass eine solche Tendenz auch für andere sprachliche Zusammenhänge gilt, zeigt Hafez (2002d, 62f.) für Kinder türkeistämmiger Migranten sowie ARD-ZDF (2011, 21) für „Personen zwischen 14 und 29 Jahre mit Migrationshintergrund“.
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Auch die inzwischen in Deutschland verfügbaren berbersprachigen Informationsangebote sind für viele der hier aufgewachsenen Personen keine überzeugende Alternative. Zumindest nicht für jemanden wie Mimun, der mit 14 Jahren nach Deutschland gekommen ist und hier sein Abitur gemacht hat. Im Gespräch zeigte er ein lebhaftes Interesse für die Politik und Geschichte der „islamischen“ wie der „europäischen“ Welt und legte dabei einen ausgesprochen intellektuellen Habitus an den Tag. Da die Informationsangebote in seiner Muttersprache Tarifit weder seinen Interessen noch seinen Ansprüchen an eine fundierte Berichterstattung entsprechen, greift auch er fast ausschließlich auf deutschsprachige Medien zurück: Mi: „Aber, also zur Informationsbeschaffung für mich persönlich benutze ich natürlich Deutsch. Deutsche Medien, deutsche Zeitungen.“ MD: „Ja. Gut, da ist das Angebot auf Tamazight wahrscheinlich auch nicht ganz so groß, [oder gibt es?“ Mi: „[Gibt es, gibt es schon, Fernsehprogramm. Ja, doch! Seit neuestem, ja. Aber halt für mich keine Primärinformation. Vielleicht für meine Eltern. Aber für mich nicht.“ MD: „Hm, ja. Ja, ist wahrscheinlich auch eher so lokal ....?“ Mi: „Ne, ne! Die machen schon auch weltweit Nachrichten (lacht und seufzt). Ja::::, halt Halb-Propaganda, Halb-Folklore, Halb-Dings, ne? Das ist ja keine, keine richtige Information in dem Sinne.“
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die von mir befragten, in Deutschland geborenen oder im Kleinkind und Grundschulalter nachgereisten Kinder marokkanischer Zuwanderer zur Informationsgewinnung entweder ausschließlich oder hauptsächlich auf deutsche Medien zurückgreifen.47 Die von Al-Hamarneh (2004, 452) aufgrund der Ausbreitung arabischer Sattelitensender geäußerte Befürchtung, „dass die Folgegeneration verstärkt isoliert in einem sprachlichen und kulturellen Getto aufwächst“, kann folglich nicht bestätigt werden (eher noch sind es die bereits im Teenager-Alter zugewanderten älteren Geschwister, die heimatsprachige Medienangebote präferieren).48 Eine „Re-Arabisierung“ beschränkt sich im Fall der marokkanischen Zuwanderer darauf, dass Eltern der zweiten Generation gezielt arabische Sendungen nutzen, um ihren Kindern zusätzlich zur dominierenden deutschen Sprache ein Mindestmaß an arabischer Sprachkompetenz zu vermitteln (z.B. durch hocharabisch synchronisierte Cartoon-Sendungen oder Kinderfilme). Fazit Wollte man das von Hafez (2002d) entwickelte Raster idealtypischer Mediennutzer an meine Interviewpartner/-innen anlegen, so ließen sich die meisten von ihnen entweder als „Bikultur“ (besser: bilinguale) oder „Assimilationsnutzer“ (besser: überwiegend deutschsprachige Nutzer) einordnen. Einen sogenannten „Exil-Nutzer“, d.h.
47 Nach Unterhaltungsmedien habe ich nicht gefragt. Bouras (2006, 195f) verweist in ihrer Studie zu marokkanischen Zuwanderern in Deutschland jedoch allgemein darauf hin, dass „angesichts der Verfügbarkeit von Parabolantennen […] das Interesse an arabischen oder berberischen Fernsehsendungen vergleichsweise gering“ erscheint. 48 Für neu zuwandernde Heiratsmigranten mag aus der Verfügbarkeit heimatsprachlicher Medien ein gewisser Nachteil in Bezug auf ihren Deutsch-Spracherwerb resultieren, wenn sie sich auf diese Angebote beschränken und die deutschen Medien meiden (s.o.).
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eine Person, die trotz gut ausgeprägter deutscher Sprachkenntnisse bewusst auf die Nutzung deutschsprachiger Medien verzichtet (z.B. aus mangelndem Interesse an den in diesen Medien vermittelten Information) habe ich unter meinen Gesprächspartner/innen nicht angetroffen.49 Exklusiv nicht deutschsprachiger Medien nutzen nur diejenigen, die aufgrund ihrer unzureichenden Sprachkenntnisse weder deutsche Zeitungen noch TV oder Radiosendungen verstehen. Dies betrifft zum einen Neuzuwanderer, die frisch in Deutschland angekommen sind und die Sprache daher noch nicht gut genug sprechen. Zum anderen sind dies diejenigen, die bereits länger in Deutschland leben, jedoch aus den im letzten Kapitel genannten Gründen verpasst haben, Deutsch zu lernen. Hierunter fallen besonders diejenigen Ehefrauen der Arbeitsmigranten, die selbst nicht außer Haus arbeiten und mit anderen marokkostämmigen Frauen in einer vergleichsweise stark segregierten Wohnumgebung leben. Auch von ihnen mögen einige die deutschen Mediendebatten über den oben beschriebenen innerfamiliären Austausch über Medienthemen zumindest indirekt wahrnehmen. Andere jedoch sehen sich durch die von ihnen zu organisierenden Haushaltsangelegenheiten und die Versorgung der Kinder so umfassend in Anspruch genommen, dass politische Sachverhalte und Debatten sie kaum tangieren. So erzählt mir eine selbst im Ausland geborene Deutschlehrerin im Oktober 2010: „Ich lebe jetzt seit zehn Jahren in Bergheim. [Und ich hab] das Gefühl, dass die Stimmung etwas aggressiver wird. Und das hat was mit den Medien zu tun. Das finde ich schon schade, dass die ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Auch mit Thilo Sarrazin. Also ich hab auch meine [Deutschkurs-]Mädels gefragt, „Wer ist Thilo Sarrazin?“ "Huh ???" – Ich hab mich TIERISCH aufgeregt, und die wussten nicht, wer IST das?!“ MD: „Echt?“ D: „Woher auch? Man hat es hier mit Analphabeten zu tun, mit Frauen, die immer zu Hause ihre Arbeit machen. Und die werden ganz bestimmt nicht im marokkanischen Fernsehen da auf Berberisch irgendwas [über Sarrazin] sagen.“
Hinsichtlich der eingangs aufgeworfenen Fragestellung lässt sich somit konstatieren, dass mit Ausnahme der oben genannten Gruppe (fast) alle Befragten deutsche Medien rezipieren und somit auch mit den dort verhandelten Islamdarstellungen konfrontiert werden. Gleichzeitig verfügen sie entweder durch eigenständige bilinguale Mediennutzung (erste Generation) oder die Einbindung in soziale Netzwerke bilingualer Nutzer (zweite Genration) über einen im Vergleich zu monolingualen deutschsprachigen Mediennutzern erweiterten Blickwinkel: „Aber eigentlich, wenn man [Arabisch] versteht, dann ist es eine gute Mischung. Da kann man selbst dann abwägen: Wie wird es da dargestellt? Wie wird es dort dargestellt? Und dann ist das Bild ein bisschen differenzierter. Man hat zwei Sichtweisen.“ [Amina, 27, geb. in Aachen]
49 An dieser Stelle ist kritisch auf die Selbst-Selektion der Interviepartner/-innen zu verweisen: Dass unter den älteren Männern der ersten Generation, die ich nicht zu einem Gespräch überreden konnte, ein solches Mediennutzungsprofil vorkommen mag, kann ich nicht ausschließen.
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Diese Möglichkeit zur vergleichenden Medienrezeption, in Kombination mit der von vielen Migranten aus Marokko ‚mitgebrachten‘ Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Medien, führt zu einer insgesamt ausgesprochen medienkritischen Haltung (vgl. ähnl. Aksoy und Robins 2009, 90ff. für türkeistämmige Medienkonsumenten in GB). Kritisch hinterfragt werden sowohl die Mediendarstellungen an sich als auch die dahinter stehenden politischen Interessen und redaktionellen Mechanismen sowie auf der Seite der Konsumenten eine als zu unkritisch eingestufte Medienrezeption und ‚Mediengläubigkeit‘. In Kap.6.5.2 werden diese medienkritischen Haltungen detaillierter vorgestellt und in Bezug auf das deutsche Islambild diskutiert. Zunächst gilt es jedoch im im folgenden Kapitel die individuell unterschiedlichen Ausprägungen von Religiosität und Religionspraktik meiner Interviewpartner/-innen als letzte der für die Rezeption des deutschen Islambildes potenziell relevanten Dimensionen vorzustellen.
6.4. R ELIGION : VIELFÄLTIGE P RAKTIKEN , P OSITIONIERUNGEN UND ANRUFUNGEN Das folgende Kapitel geht der Frage nach, welche Bedeutung die Interviewpartner/innen ihrer Religion in Bezug auf ihr Alltagsleben und Selbst-Verständnis zuweisen. Im Rückgriff auf religionssoziologische Forschungen wird hierzu zunächst ein Analysekonzept zur differenzierten Erfassung individueller Religiosität vorgestellt und in einem zweiten Schritt auf den Islam angewandt. Im Anschluss (Kap. 6.4.3) werden auf Grundlage von Sekundärdaten zentrale Erkenntnisse zur Religiosität von Muslimen in Deutschland präsentiert. Zuletzt gehe ich spezifischer auf die in den Interviews thematisierten Aspekte von Religiosität und individueller Religionspraxis ein. 6.4.1. Religiosität als mehrdimensionales Phänomen Religion wird aus religionssoziologischer Perspektive definiert als „Überzeugungssystem mit Symbolen und Verhaltensweisen […] das sich explizit auf mindestens eine übernatürliche Instanz bezieht“ (Ministerium für Arbeit 2010, 61; vgl. ähnl. Knoblauch 2003, 47). Religiosität hingegen bezeichnet „die innere, religiöse Haltung eines Menschen“, also eine individuelle Eigenschaft, die „sich auf transzendente Vorstellungen, religiöse Vorschriften, aber auch auf profane Inhalte richten [kann]“, jedoch „in jedem Fall Wahrnehmung, Denken und Handeln [prägt]“ (Krech 2011, 569). Es handelt sich hier folglich um einen Teilaspekt individueller Dispositionen, von dem ich im Kontext dieser Arbeit annehme, dass er nicht nur allgemein Bestandteil des jeweiligen Selbst-Verständnisses ist, sondern auch in spezifischer Weise die Wahrnehmungs-, Bewertungs-, und Denkschemata sowie die Handlungsstrategien in Bezug auf das deutsche Islambild beeinflusst. Von Interesse ist in diesem Fall besonders der Grad der individuellen Religiosität, d.h. die Bedeutung und Intensität, die die Befragten der Religion in Bezug auf ihr Selbst-Verständnis und ihr Alltagsleben zusprechen. Wie die o.g. Definition jedoch schon andeutet, ist eine ‚Messung‘ von Religiosität insofern schwierig, als es sich dabei um ein mehrdimensionales Phänomen handelt, das sowohl eine innere Haltung
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als auch die daraus abgeleiteten bzw. daraus hervorgehenden Denk- und Handlungsschemata umfasst. In der Religionssoziologie hat sich daher für die Untersuchung von Religiosität ein Katalog mit fünf Dimensionen von Religiosität etabliert.50 Dieser geht auf den US-amerikanischen Religionssoziologen Charles Glock (1969, 151) zurück, der mit dem expliziten Ziel einer religionsübergreifenden Betrachtungsweise zwischen folgenden Dimensionen differenzierte: • • • • •
experiental dimension ritualistic dimension intellectual dimension consequential dimension ideological dimension
(religiöse Erfahrung = emotionale Dimension) (rituelle Dimension = religiöse Praxis) (intellektuelle Dimension = religiöses Wissen) (ethische Dimension = Normen, Werte) (ideologische Dimension = Bekenntnis zur Religion, Dogma)
Abbildung 20: Fünf Dimensionen individueller Religiosität
Quelle: Eigene Darstellung, © M. Didero, Dimensionen nach Glock (1969)
Die Anordnung der Dimensionen in der Grafik (Abb. 20) soll verdeutlichen, dass jede Dimension entweder schwächer oder stärker ausgeprägt sein kann. Theoretisch sind die jeweiligen Ausprägungen der Dimensionen dabei voneinander unabhängig. In der empirischen Praxis sind jedoch bestimmte Konstellationen wahrscheinlicher als andere (vgl. im Folgenden unter anderem die Unterschiede zwischen „NeoMuslimen/Neo-Muslimas“ mit einer starken Betonung der Wissens- und Erfahrungs-
50 Je nach Autor wird dieser Katalog auf vier Dimensionen reduziert (Ministerium für Arbeit 2010, 65) oder auf sechs erweitert (Rieger 2008, 10).
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dimension und vielen Angehörigen der Elterngeneration, für die rituelle und ethische Dimension eine größere Rolle spielen). Wie lassen sich die fünf Dimensionen von Religiosität nun für den Islam „übersetzen“ und konkretisieren? Worauf beziehen sich meine Gesprächspartner/-innen, wenn sie auf ihre Religion verweisen? 51 1. Glaube und Bekenntnis: Für Muslime gilt die vDKGD, das Bekenntnis: „Ich bezeuge, daß es keine Gottheit außer Gott gibt und daß Mohammed der Gesandte Gottes ist“ (hier: Halm 2002, 60). Diese ist die erste von fünf Grundpflichten,52 die auch „Pfeiler des Islams“ genannt werden. Das bewusste Aussprechen dieser Formel gilt als Erklärung des Übertritts zum Islam. In dieser Formel enthalten ist das Bekenntnis des Glaubens an den einen Gott, seinen Propheten und an den Koran als das durch ihn überlieferte Gotteswort.53 Darüber hinaus sollen Muslime an die anderen heiligen Bücher (Evangelium und Thora), alle göttlichen Propheten (z.B. Jesus und Moses), Gottes Engel und den jüngsten Tag glauben (vgl. Tworuschka 2002, 82-98 unter Verweis auf Sure 2,284). Neben dieser theologischen Annäherung an die Dimension „Glaube und Bekenntnis“ kann diese Kategorie aus sozialwissenschaftlicher Perspektive aber auch auf die von Individuen vorgenommenen alltäglichen „Bekenntnisse“ zu ihrer Religion ausgeweitet werden bzw. sich auf die Fälle beziehen, in denen Personen sich selbst als Muslime identifizieren. 2. Religionspraxis: Die vier weiteren Grundpflichten (Pfeiler; DUNQ6LQJUXNQ) des Islams beziehen sich auf religiöse Praktiken. Diese beinhalten das rituelle Gebet ¬DOW das fünf Mal täglich zu bestimmten Uhrzeiten zu verrichten ist. Darüber hinaus existiert die Praxis des freiwilligen Gebets (GX·Ɨ). Die täglichen Gebete können sowohl in der Moschee als auch an jedem anderen Ort auf einem rituell reinen Untergrund verrichtet werden. Nur das Freitagsgebet, das eine Predigt beinhaltet, sollen die männlichen Muslime gemeinsam abhalten, so dass sie hierfür meist eine Moschee besuchen (Halm 2002, 61–65). Frauen dürfen, müssen aber nicht am Freitagsgebet in der Moschee teilnehmen. Als dritte Grundpflicht aller Muslime (mit Ausnahme von Kindern, Alten, Kranken und Schwangeren) gilt das rituelle Fasten im Monat UD PDQ das jeweils von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang dauert (vgl. Halm 2002,
51 Auch wenn zu Recht kritisch hinterfragt worden ist, ob sich mithilfe dieses Schemas eine weltweit und religionsübergreifende ‚Messung‘ von Religiosität realisieren lässt (vgl. Püttmann 2009; Knoblauch 2003, 48) hat sich das Konzept für eine differenzierte Betrachtung innerhalb einer Religionsgemeinschaft bewährt. Vgl. hierzu aber auch Boos-Nünning (2007, 121), die für junge deutsche Christinnen und Musliminnen ein sehr ähnliches allgemeines Verständnis von Religiosität nachwies. 52 Im islamischen Recht werden alle Handlungen des Menschen unterteilt in: IDUGZDMLE (= verpflichtend), PXVWDKDEE VXQQD (= Tun empfohlen), PDNU³K (=Unterlassen empfohlen), KDUP (= verboten), PXEK(neutral, vgl. Turner 2006, 132ff.). Die Feinheiten der hier zugrunde liegenden theologisch-juristischen Bestimmungen die im Detail auch zwischen den verschiedenen Rechtsschulen differieren zu erläutern würde hier zu weit führen. In der folgenden Darstellung der religiösen Vorschriften wird daher nicht theologisch-juristisch trennscharf zwischen fard und sunna unterschieden. 53 Zum Koran vgl. z.B. Bobzin (1999), zu Muhammad und seiner Zeit Paret (2008).
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65ff.). Eine einmalige Pflicht für alle Muslime, die über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügen und körperlich dazu in der Lage sind, ist die Pilgerfahrt nach Mekka (¨D¤¤ Für das Alltagsleben wesentlich wichtiger ist die fünfte und letzte Säule, die jährliche Pflichtabgabe der vermögenden Muslime zu Gunsten der Armen (die Almosen- oder Armensteuer; ]DNWHalm 2002, 67–74) Auch jenseits dieser fünf Grundpflichten beeinflusst der Islam die Alltagspraktiken der Gläubigen. Für die in Europa lebenden Muslime betrifft dies in erster Linie den großen Komplex der Reinheits- und Speisevorschriften.54 Die bekanntesten Verbote betreffen den Konsum von Wein (bzw. Alkohol), Schweinfleisch sowie allgemein den Verzehr von nicht nach islamischem Recht geschlachteten Tieren (vgl. Bobzin 1999, 75–78). Ebenfalls in den Kontext der religiös bedingten bzw. beeinflussten Alltagspraktiken gehören die religiös begründeten Kleidungsvorschriften. Unter den für Männer und Frauen besonders auch aus der sunna begründeten Vorschriften zur Art der Bekleidung ist die Frage der Kopfbedeckung der Frauen sicher die sowohl bekannteste als auch am stärksten umstrittenste Vorschrift (vgl. Bobzin 1999, 78f.). 3. Wissen: Im Islam hat sich anders als im Christentum keine kirchenähnliche Organisationsform herausgebildet und es gibt in diesem Sinne keine Differenzierung zwischen einem geweihten Priesterstand und den religiösen Laien. Dennoch gibt es eine Berufsgruppe im Islam, die über qualifiziertes religiöses Wissen verfügt und religiöse Autorität ausübt. „Es sind die Rechtsgelehrten, DOIXTDKƗ¸ (Singular: IDTªK) oder einfach die Gelehrten, DO½XODPƗ¸ (Singular: ·ƗOLP) […], die eine Ausbildung absolviert haben, die zu einem großen Teil aus Juristerei – aus dem Studium des traditionellen religiösen Rechts – besteht“ (Halm 2002, 77). Die nicht speziell religiös ausgebildeten Muslime dagegen erwerben ihr religiöses Wissen in der Familie, durch den Besuch der Freitagspredigten sowie religiöse Unterweisungen in der Moschee. Diese beginnen in der Regel mit dem Auswendiglernen des Korans auf Arabisch, d.h. genau in der Form, in der er überliefert wurde. Über Jahrhunderte bildete diese wortgetreue Überlieferung des Korans eine zentrale Grundlage islamischer Gelehrsamkeit (Schöller 2006, 172). Auswendiglernen heißt im Fall des Korans jedoch nicht automatisch auch Verstehen: Als äußert schwieriger und komplexer Text benötigt er eine Exegese, die traditionell in die Zuständigkeit der o.g. Gelehrten fällt. 4. Religiöse Erfahrungen und Emotionen: In dieser Dimension werden die spirituellen Erfahrungen und damit auch die „gefühlsmäßigen, emotionalen Beziehung[en] zu jenseitigen Kräften oder Wesen“ (Knoblauch 2003, 48) angesprochen. Im Kontext des Islams sind es besonders die Mystiker (auch Sufis genannt), die als „religiöse Virtuosen“ danach trachten jenseits von religiösem Wissen und regelgerechter Praxis eine persönliche, spirituelle Beziehung zu Gott aufzubauen (Elger 2012, 50 vgl. auch Endreß 1997, 67-72). Neben dieser „Frömmigkeit im engeren Sinne“ gehören zu dieser Dimension jedoch auch alle anderen Emotionen, die im Zusammenhang mit Religion evoziert werden, wie z.B. in positiver Hinsicht Gefühle von Trost, Vertrauen und Zuversicht (vgl. Boos-Nünning 2007, 121).
54 Das weit hierüber hinaus reichende komplexe System des islamischen Rechts (vDUª·), das neben religiösen auch familien- , wirtschafts-, zivil- und strafrechtliche Bestimmungen umfasst, kann hier nur gestreift werden (vgl hierzu u.a. Nagel 2001 und Rohe 2009).
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Der oben zitierte Weber’sche Begriff des „religiösen Virtuosen“ bezeichnet nach Engelbrecht (2010, 151) „people for whom religion builds the core of their individual lives and biographies.“ Eine absolute und begriffsscharfe Unterscheidung zwischen „Virtuosen“ und „Nicht-Virtuosen“ erscheint kaum praktikabel oder gerechtfertigt, wenn man wie oben erläutert Religiosität als mehrdimensional und in jeder Dimension kontinuierlich ausgeprägt fasst. In Bezug auf die in den Interviews her- und dargestellten narrativen Identitäten erweist sich diese begriffliche Unterscheidung jedoch dennoch als hilfreich. So kann unter Berücksichtigung aller Dimensionen und mit besonderem Blick auf die emotionale und spirituelle Gottesbeziehung zumindest grundsätzlich danach unterschieden werden, ob die Befragten im Interviewkontext Religion und Religiosität als einen existenziell wichtigen, weniger bedeutungsvollen oder (fast) gar nicht relevanten Bestandteil ihres Selbst-Verständnisses und ihrer Alltagsgestaltung ausweisen. 5. Ethik: In dieser Dimension von Religiosität werden alle aus der Religion abgeleiteten Vorschriften für moralisch richtiges Denken und Handeln zusammengefasst. Diese prägen das Alltagsleben der Gläubigen weit über den Bereich der rituellreligiösen Praxis hinaus. Für den Islam betreffen diese Regelungen und Vorschriften nach Szyska (2006) unter anderem die Verpflichtung zu Demut, Gerechtigkeit und Solidarität. Gutes ist zu tun, Schlechtes zu unterlassen und den Verpflichtungen und der Verantwortung gegenüber Eltern und der Gemeinschaft ist nachzukommen. Neben diesen allgemein geltenden (dem Prinzip nach universalistischen) Normen werden aus dem Feld religiöser Vorschriften auch Grundsätze einer Sexualmoral sowie Regeln zum Verhältnis der Geschlechter und genderspezifisch „richtigem“ Verhalten abgeleitet (vgl. Kap. 5.1). Konkret wären hier die Ablehnung von Sexualbeziehungen vor bzw. außerhalb der Ehe ebenso zu nennen wie die hohe Wertschätzung der Familie als Kern der Gesellschaft (vgl. Kap. 6.2.2 zur Bedeutung der Familie). 6.4.2. Religiosität von Muslimen in Deutschland Im Rahmen der in Kap. 3 beschriebenen Ereignisse und diskursiven Verschiebungen ist die Religiosität von in Deutschland lebenden Muslimen in den letzten zehn Jahren zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. Ging es in qualitativen Studien eher darum, die Vielfalt der unterschiedliche Ausprägungen muslimischer Religiosität zu beleuchten (vgl. u.a. Alacacioglu 2000; Frese 2002; Klinkhammer 2000; Nökel 2002; Schröter 2002; Tietze 2001, Jouili 2008 sowie Wensierski und Lübcke 2011), so versuchten sich erste großangelegte Befragungen auch an einer quantitativen ‚Messung‘ von Religiosität (vgl. u.a. Albert 2010; Brettfeld und Wetzels 2007; Haug et al. 2009; Pries 1999 und Rieger 2008). Obwohl sich einige quantitativ ausgerichtete Studien sehr stark an einem normativ geprägten Integrations- und Sicherheitsdiskurs ausrichten und daher z.T. einige als kritisch einzustufende Items abfragen (vgl. u. a Brettfeld und Wetzels 2007 und Frindte et al. 2011), sind andere Studien zumindest der Tendenz nach neutraler angelegt. Auch diese können aufgrund ihres einseitigen Fokuses auf muslimische Perso-
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nen mit Migrationshintergrund keine Repräsentativität für alle in Deutschland lebenden Muslime erheben.55 Für die entsprechend definierte Bezugseinheit bieten diese Arbeiten jedoch erstmals die Möglichkeit, muslimische Religiosität in Deutschland differenziert nach verschiedenen sozialen Gruppen, Herkunftskontexten und islamischer Strömungen zu betrachten (vgl. u.a. Haug et al. 2009; Rieger 2008). Mit einer speziell für NRW in Auftrag gegebenen Studie liegen erstmals auch nähere Informationen zu nordafrikanischen Muslimen in der hier interessierenden Untersuchungsregion vor (Ministerium für Arbeit 2010). Im Folgenden sollen daher einige zentrale Erkenntnisse aus den bisher vorliegenden quantitativen sowie qualitativen Studien vorgestellt und unter Bezug auf die in meiner Studie erhobenen Daten problematisiert werden. Religiöses Selbst-Bekenntnis und religiöse Selbst-Einschätzungen Jenseits aller methodischen und inhaltlichen Differenzen kristallisiert sich aus den quantitativen Befragungen von „Personen mit Migrationshintergrund aus Ländern mit einem hohem Anteil muslimischer Bevölkerung“ (s.o.) deutlich heraus, dass diejenigen, die sich selbst als Muslime identifizieren,56 sich in der Mehrheit auch als religiös oder sehr religiös bezeichnen. Dabei variiert die Stärke der SelbstIdentifikation als ‚religiös‘ nach Glaubensrichtung und Herkunftsregion: Die in NRW befragten Sunniten, zu denen sich die meisten der aus Südosteuropa, dem Nahen Osten, der Türkei und Nordafrika stammenden befragten Muslime zählen (55%, 74% , 84% , 87%), sehen sich als deutlich gläubiger an als die befragten Schiiten (zu ihnen zählen sich 91% der iranstämmigen Befragten und 25% der Personen aus dem Nahen Osten) oder die Aleviten (als solche identifizierten sich 13% der türkeistämmigen Muslime und 5% derjenigen aus Südosteuropa; Ministerium für Arbeit 2010, 41-44). Von den Befragten aus Nordafrika, die zu 2/3 aus Marokko stammen, bezeichneten sich 42% als sehr und 52% als eher gläubig, nur knapp 5% als eher nicht sowie 1,6% als gar nicht gläubig. Während sich die türkeistämmigen Musliminnen im Schnitt als religiöser sehen als die türkeistämmigen männlichen Muslime, ist bei den nordafrikanischen Befragten der Anteil der sich als gläubig bezeichnenden Frauen nahezu gleichhoch wie der der Männer (Ministerium für Arbeit 2010, 62ff.).57 Eine ähnliche Selbsteinschätzung zeigte sich auch bei den von mir befragten Personen. Entweder bereits im Erzählen oder auf meine Frage hin identifizierten und bekannten sich alle als Muslim/-in. Dies traf auch auf die beiden Interviewpartner/-
55 Vgl. Spielhaus (2011) kritisch zur hierdurch reproduzierten Begriffsäquivalenz „Muslim = Migrationshintergrund“. Diese definitorische Beschränkung der Bezugseinheit ist zwar einerseits methodisch bedingt, da es kein „Kirchenregister“ für Muslime gibt. Andererseits: Selbst wenn Informationen zur Religiosität von Personen ohne Migrationshintergrund vorlagen (vgl. Pries 1999, 19) wurden diese bewusst aus der Analyse ausgeklammert. 56 Eine offizielle Aufnahmeprozedur wie die Taufe und daraus folgende individuell registrierte Mitgliedschaft wie die deutschen Kirchen kennt der Islam nicht. 57 Unter den türkeistämmigen Muslimen bezeichnen sich 55% der Frauen, jedoch nur ca. 40% der Männer als sehr religiös. Muslime aus Nordafrika: 43% der Frauen und 42% der Männer.
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innen zu, die sich dezidiert als nicht praktizierend präsentierten. Auf der Ebene der nominellen Selbst-Identifikation gab es unter den mit muslimischen Eltern aufgewachsenen Personen folglich niemanden, der sich als Atheist oder Andersgläubiger definieren würde.58 Ebenfalls stimmten fast alle meiner Befragten darin überein, dass Religion für sie prinzipiell „schon wichtig“ ist (die Art und das Ausmaß der in den Interviews darstellten Religiosität differierte allerdings erheblich, vgl. Kap. 6.4.3). Dass von einer derartigen Selbst-Definition als ‚gläubig‘ oder ‚sehr gläubig‘ (Bekenntnisdimension) jedoch nicht auf eine ähnlich geartete Ausprägung von Religiosität im Sinne religiöser Emotionen und Erlebnisse (Religiosität im engeren Sinne) geschlossen werden kann, lässt sich bereits aus der genderspezifischen Analyse der Daten aus dem Religionsmonitor 2008 erschließen: "Im Zusammenhang mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Selbstcharakterisierung bezeichnen sich die meisten Frauen als hochreligiös; eine Einschätzung, die deutlich relativiert wird, wenn das wirkliche religiöse Interesse [detailliert] befragt wird. Religion dient also neben dem Familienstand und dem Bildungsinteresse auch und in besonderem Maße der Konstruktion eines Selbstbildnisses: Die ordentliche muslimische Frau hat selbstverständlich familienorientiert, bildungsbeflissen und damit auch religiös zu sein und präsentiert sich dementsprechend in der Öffentlichkeit." (Wunn 2008, 63)
Hier gilt es also auch bei den von mir erhobenen Daten sorgfältig zu differenzieren zwischen einer erfolgten Selbst-Identifizierung als Muslim/-in auf der kategorialen Ebene (Artikulation im Diskurs) sowie einer möglicherweise andersgearteten Bedeutung von Religiosität auf der Ebene des Selbst-Verständnisses bzw. der Alltagspraktiken. Religionspraxis im Kontext geschlechtsspezifischer Vorschriften Analog zu den genannten Differenzen in der Selbst-Einschätzung von Religiosität zeigten sich in der o.g. Studie auch in Bezug auf die religiösen Praktiken unterschiedliche Ausprägungen, die je nach Glaubensrichtung und/oder Herkunftsregion differierten. So gaben insgesamt 38% der in NRW befragten Muslime an täglich zu beten, 17% dagegen nie (alle anderen: seltener als täglich). Von den Muslimen aus Nordafrika gaben sogar 56% an, täglich zu beten (höchster Wert aller Herkunftsgruppen, Werte für Frauen und Männer ähnlich: 57%/ 54%; Ministerium für Arbeit 2010, 67). Auch hinsichtlich des Fastens im Monat Ramadan zeigen sich die befragten Nordafrikaner konsequent: 83% geben an, sich uneingeschränkt an das Fastengebot zu halten, während es im NRW-Durchschnitt ‚nur‘ zwei Drittel der Muslime sind, die dies tun (Ministerium für Arbeit 2010, 74). Die Speisevorschriften wollen ebenfalls 91% von ihnen als eingehalten verstehen. Allerdings ist anzunehmen (hier nicht abgefragt), dass die Praxis in Bezug auf die unterschiedlichen Verbote differiert: Sowohl der Religionsmonitor (Wunn 2008, 64) als auch meine eigene Beobachtungen deuten darauf hin, dass das Verbot von Schweinefleisch auch bei nordafrikanischen Musli-
58 Über die Frage, wie Selbst-Identifizierungen von Kindern bi-religiöser Eltern ausfallen kann in dieser Studie keine Aussage getroffen werden. Zum Einfluss der religiösen Erziehung im Elternhaus auf die Religiosität der Kinder vgl. Boos-Nünning (2007, 126f.).
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men tendenziell strenger eingehalten wird als das Alkoholverbot oder das Verzehrverbot von nicht nach islamischem Recht geschlachtetem Fleisch. Relevante genderspezifische Differenzen in der Religionspraxis zeigen sich bei den Muslimen in NRW – wie aufgrund der oben ausgeführten religiösen Vorschriften auch nicht anders zu erwarten – besonders hinsichtlich der öffentlichen Dimension muslimischer Religionspraxis (hier: Moscheebesuch und Befolgen von Kleidungsvorschriften). Während in NRW die Hälfte der befragten muslimischen Männer mehrmals im Monat oder häufiger religiöse Veranstaltungen (d.h. gemeinsames Gebet oder andere) besucht, sind es bei den Frauen weniger als ein Drittel. Auch wenn in diesem Fall für die nordafrikanischen Muslime keine spezifischen Daten erhältlich sind, bestätigt sich diese Tendenz für meine Interviewpartner/-innen. Auch unter ihnen sind es in der Regel die Männer, die regelmäßig zum Beten eine Moschee aufsuchen bzw. an der Freitagspredigt teilnehmen. Die Frauen besuchen eine Moschee insgesamt etwas seltener, meist in Zusammenhang mit besonderen Anlässen wie Feiertage oder Hochzeiten. Kontakt in die jeweilige Gemeinde besteht häufig aber auch über den Arabischunterricht der Kinder, zu dem diese von den Müttern gebracht bzw. begleitet werden. Die Möglichkeit zur religiösen Bildung durch Vortragsveranstaltungen in den Moscheegemeinden wird sowohl von den religiöseren Männern als auch von den dementsprechend interessierten Frauen wahrgenommen. Darüber hinaus betonten auch in den von mir geführten Gesprächen die religiös orientierten Frauen eher die emotional-spirituelle Dimension ihrer Religiosität, während die sich als religiös präsentierenden Männer die Bedeutung der öffentlichen, gemeinsam geteilten, sozialen Praxis des Gebets stärker hervorhoben und die Moscheen als gemeinschaftsstiftende soziale Treffpunkte stärker in den Mittelpunkt rückten (vgl. hierzu mit ähnl. Erkenntnissen Thielmann 2008, 20; Wunn 2008, 64). Die zweite Dimension öffentlicher Religionspraxis umfasst die religiös gebotenen oder empfohlenen Bekleidungsformen. Mit diesen wird eine persönliche Religiosität unter Umständen sichtbar in den öffentlichen Raum getragen (vgl. Abb. 20). Obwohl in jüngerer Zeit das negativ konnotierte Bild des männlichen Muslims mit Bart, langem Gewand und Pluderhose in die kollektive Vorstellungswelt der Deutschen eingezogen ist, wird diese Art der Bekleidung in Deutschland bisher hauptsächlich von solchen streng religiösen Muslimen propagiert, die sich sehr eng am Vorbild des Propheten und seiner Gefährten (Sunna) orientieren (Vgl. hierzu u.a. Ayoob 2011, 47, Denoeux 2011). De facto betrachtet sich die Mehrheit der männlichen Muslime in Deutschland mit ‚normaler‘ langer Hose und entsprechender Oberbekleidung als religiös angemessen bekleidet. Dies traf auch für alle meine Interviewpartner zu. Das in Marokko historisch übliche lange Männergewand dagegen ist weniger religiös denn traditionell begründet. In Europa wird es seltener getragen, z.B. zu besonderen Feiertagen (vgl. hierzu Kap. 6.2.2 Yasmina über die Re-Migration ihres Vaters). Die religiös begründeten Bekleidungsvorschriften für Frauen dagegen, die speziell die Frage der Kopfbedeckung betreffen, sind sowohl unter Muslim/-innen selbst als auch unter Außenstehenden zum Anlass kontroverser Debatten geworden. Gemäß der NRW-Studie trägt im Durchschnitt rund ein Drittel der befragten Musliminnen ein Kopftuch, die Mehrheit von zwei Drittel der Befragten tut dies nicht (Mi-
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nisterium für Arbeit 2010, 96).59 Auch hier scheinen unterschiedliche muslimische Strömungen, Rechtsschulen und/ oder regionalspezifische Traditionen die jeweilige Praxis zu bestimmten. So tragen deutlich weniger Musliminnen aus Südosteuropa, Zentralasien oder dem Iran ein Kopftuch, als dies bei Musliminnen aus der Türkei, dem Nahen Osten und Nordafrika der Fall ist. Wie in verschiedenen Studien erläutert, gibt es unterschiedliche Gründe und Auslöser für das Anlegen eines Kopftuches, wobei für die Trägerin eine starke Religiosität die Grundbedingung darstellt. Boos-Nünnings Resümee, „dass das Kopftuch in erster Linie ein Zeichen der tiefen religiösen Bindung seiner Trägerin ist“, und definitiv nicht (wie es die in Kap. 3 skizzierten Mediendebatten suggerieren) „als Indiz für ihre Ablehnung einer kulturellen Integration in die deutsche Gesellschaft angesehen werden kann“ (2007, 131), gilt dabei auch für meine Interviewpartnerinnen. Alle acht Frauen, die immer oder regelmäßig ein Kopftuch tragen, betonten ihre freiwillige und autonom getroffene Entscheidung für die Kopfbedeckung. Auch die anderen Frauen wiesen darauf hin, dass ein Kopftuch für sie zumindest vom Prinzip her zu einer religiösen Lebensführung dazu gehört.60 Ebenso deutlich wurde jedoch auch die von allen geteilte Überzeugung, dass jede Frau für sich selbst entscheiden muss, ob, wann und wo dies geschieht. Das Tragen eines Kopftuches ist somit immer in Zusammenhang mit der jeweiligen biographischen Situation zu sehen. So erzählten fünf Frauen, dass sie ihr Kopftuch erst seit wenigen Jahren tragen, wogegen zwei weitere es in ihrer Jugend (Schulzeit/ Studium) zwar trugen, es dann jedoch wieder ablegten. Dies nicht, weil sie die Praxis heute ablehnen, oder weil sie weniger religiös geworden wären, sondern – rein pragmatisch – weil sie das Kopftuch in Bezug auf ihr Ziel eines Bildungsabschlusses bzw. einer Arbeitsmarktintegration als zu großes Hindernis wahrnahmen. Die durch das Kopftuch deutlich erhöhte Diskriminierungsgefahr, die nicht nur auf dem Wohnungsmarkt (vgl. AntiDiskriminierungsBüro Köln 2011) sondern in besonderer Weise auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt droht (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2012) bedeutet, dass die von mir befragten Frauen zwischen ihrem Wunsch nach religiös begründeter Bekleidungspraxis und ihrem Wunsch nach Berufstätigkeit immer wieder neu abwägen müssen.61 Insofern wird das negativ konnotierte deutsche Islambild für die Frauen in seiner Alltagsrelevanz und seiner Auswirkung auf ihre sozio-ökonomischen Positionierungen sehr unmittelbar wirksam. Muslimische Männer dagegen müssen sich einer solch grundsätzlichen „Entweder-
59 Basis hier: persönlich befragte Frauen über 16 Jahre. 60 Dies in den Interviews im Jahr 2010. 2005 habe ich allerdings bei einer Veranstaltung der Deutsch-Maghrebinischen Gesellschaft in Bonn erlebt, wie sich marokkostämmige Frauen darüber stritten, ob und in welcher Form eine Kopfbedeckung religiös geboten ist. 61 So verzichtet Latifa auf ein Kopftuch, weil sie fürchtet sonst keine neue Stelle als Altenpflegerin zu bekommen. Die Rechtsanwaltsfachgehilfin Rihane zieht ihrem Arbeitgeber zuliebe während der Arbeitszeit kein Kopftuch an, sondern trägt es nur in ihrer Freizeit. Dieser Kompromiss würde ihr aber schwerfallen, wenn sie sich nach ihrer Elternzeit einen neuen Arbeitgeber suchen müsste. Die Studentin Amina dagegen hofft noch auf eine Berufstätigkeit in einem Umfeld, wo sie sich kleiden kann, wie sie es für richtig hält, ohne „dumme Kommentare“ zu hören oder „diese alltägliche Distanz“ zu erleben.
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oder“-Entscheidung nicht in gleicher Weise stellen. Auch wenn der ein oder andere darüber nachdenken mag ob er sich einen Bart wachsen lassen sollte oder lieber nicht – diese Entscheidung birgt nicht die gleiche Brisanz wie die für oder gegen das im deutschen Kontext eindeutig negativ konnotierte, stark politisierte und als Verdichtungssymbol für die negativen Islamassoziationen wirkende Kopftuch der Frauen. Multidimensionale Religiosität als biographische und generative Verlaufsform Unterschiede mit Bezug auf ihre Religionspraxis zeigen sich nicht nur wie bereits beschrieben zwischen Frauen und Männern, sondern auch zwischen den verschiedenen Generationen. Während die erste Generation der Arbeitsmigranten in einem Umfeld sozialisiert wurde, in dem eine bestimmte Ausprägung muslimischer Religiosität und Religionspraxis weitestgehend unhinterfragt die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata prägte, ist dies für ihre in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder nicht mehr der Fall (vgl. Abdel-Samad 2006, 193f.). Die bisherigen Studien zur Ausprägung und Entwicklung von muslimischer Religiosität in der deutschen ‚Diaspora‘ beschäftigten sich primär mit der jüngeren Generation (Eilers et al. 2008, 85). Im Gegensatz zur Elterngeneration (i.d.R. werden hier türkeistämmige Arbeitsmigranten angesprochen), deren Religiosität als stark von der rituellen Dimension von Religiosität geprägt beschrieben wird, konstatieren die Forscher/-innen für die in Deutschland aufwachsenden Muslime einen stärker individualisierten und damit auch pluralisierten Zugang zur Religiosität. Für türkeistämmige Musliminnen der zweiten Generation wird dabei u.a. zwischen traditionalisierenden, universalisierenden und exklusivistischen Formen islamischer Lebensführung unterschieden (Klinkhammer 2000, 283–288). Der bei Klinkhammer zugrunde gelegten Definition zufolge zeichnet sich eine traditionalisierende islamische Lebensführung durch eine bewahrende Haltung hinsichtlich der primär im familiären Kreis praktizierten religiösen Traditionen aus. Ein universalisierender Typus richtet sich dagegen stärker an (potenziell) universalistischen ethischen Werten aus und betont die spirituelle Dimension des Islam, die prinzipiell als „in andere (monotheistische) Religionstraditionen übersetzbar“ empfunden wird. Eine strikte Befolgung aller ritueller Vorschriften ist hier weniger wichtig (Klinkhammer 2000, 288). Frauen mit einer exklusivistischen islamischen Lebensführung dagegen beschreiben in ihren Biographien einen deutlichen Bruch mit der traditionellen Religiosität ihrer Eltern. Für ihre persönliche Religiosität ist sowohl die Akkumulation religiösen Wissens als auch die emotionale Dimension religiös-spiritueller Erfahrungen von zentraler Bedeutung.62 Unter diesen verschiedenen Ausprägungen von Religiosität hat besonders das „exklusivistische“ Religionsverständnis der „Neo-Muslimas“ die Aufmerksamkeit
62 Vgl. hierzu auch Jouili (2008, 468). In ihrer Untersuchung zu jungen männlichen Muslimen in Frankreich und Deutschland unterscheidet Tietze (2001, 157ff.) in ähnlicher Weise zwischen Praktiken des Ethisieren, Kulturalisieren, Ideologisieren und Utopisieren des Islams. Eine andere Typisierung von Religiosität und Biographien unter Einbezug auch nicht religiöser Lebensstile findet sich bei Wensierski und Lübcke (2011, 95). Eine detaillierte Beschreibung hierzu fehlt jedoch bisher.
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der Forscher/-innen geweckt (vgl. Nökel 2002, 2007). Diese jungen Frauen (und Männer, wie das Beispiel Farids zeigt) zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Streben nach religiösem Wissen, d.h. religiös durchdrungenem, theologischem Wissen aus (vgl. Jouili 2008, 480). Neutral-distanziertes, religionskundliches Wissen über den Islam, wie es bspw. in der deutschen Islamwissenschaft vermittelt wird, wird als nicht hinreichend empfunden (vgl. Interview mit Amina). Dieses religiöse Wissen transformiert ihr gesamtes Alltagsleben und führt zu einer signifikanten Veränderung des jeweiligen Lebensstiles. Das hierdurch redefinierte Religions- und Selbst-Verständnis ermöglicht es den jungen Muslim/-innen, sich von dem Islam der Elterngeneration abzusetzen – der ja von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als rückständig und unterdrückend angesehen (vgl. u.a. Foroutan und Schäfer 2009, 14). Indem sie diesem das Konzept eines „wahren“, „wirklichen“, wissensbasierten und aufgeklärten Islam entgegen setzen, können sie sich von einem „familiären Milieu […] emanzipieren, ohne mit ihm zu brechen“ (Tietze 2001, 238). Unter meinen Interviewpartnern sind es besonders Amina und Farid, die einen solch dezidierten Bruch in ihrer Vita schildern; aber auch bei Amal finden sich Anklänge. Andere Gesprächspartner/-innen der zweiten Generation wie z.B. Faiza oder Rihane beschreiben eine intensivierte Religiosität, die ohne radikalen Bruch mit der Religionsauffassung der Elterngeneration gelebt wird. Gemeinsam ist allen dabei, dass sie in ihrer Kindheit in Familie und/oder Koranschule eine grundlegende religiöse Sozialisation erfahren haben „where the necessary discipline as concerns their Islamic habitus was shaped“ (Jouili 2008, 467; Herv. i.O.). Als Auslöser oder Begründung für ihre „Re-Konvertierung“ bzw. gesteigerte Religiosität nennen meine Gesprächspartner/-innen eine persönliche Krise/Krankheit (Amal), eine Re-Orientierung in Folge eines ausschweifenden Lebensstils (Farid), oder Begegnungen mit religiösen Personen bzw. Personen mit dezidiert religiösem Lifestyle (Faiza, Amina, Ines). Es handelt sich also durchgehend um Phänomene, die in der aktuellen Forschung als ‚typische‘ Auslöser für Re-Konvertierungsprozesse beschrieben werden (vgl. u.a. Jouili 2008, 468, Wensierski und Lübcke 2011, 95). Wie das Beispiel von Ines zeigt, ist ein solcher Prozess einer gesteigerten öffentlichkeitswirksamen Dimension von Religiosität auch reversibel. Ines hatte sich als junge Frau eine Zeitlang sehr intensiv mit ihrer Religion identifiziert. Sie begann, ein Kopftuch zu tragen und engagierte sich in einer muslimischen Jugendorganisation. Beides hat sie inzwischen aufgegeben. Ihre Religion ist ihr zwar auch heute noch wichtig. Aufgrund der von ihr empfundenen äußeren Zwänge hat sie ihre Religiosität jedoch wieder stärker auf den privaten Bereich verlagert. Somit zeigt sich auch für meine Interviewpartner/-innen sehr deutlich, dass die „Identifikation mit dem Islam keiner feststehenden Logik [folgt], sondern [sich] in Momente[.] einer Biographie [übersetzt]. […] Individualisierung und Pluralisierung gehen also mit einer gewissen Instabilität der Identifikationsformen einher“ (Tietze 2004, 199). Eine einmalige, endgültige „Schließung“ der Identität (vgl. Kap. 2.1.3) ist folglich auch in Bezug auf die Religion nicht feststellbar. Inwiefern derartige Pluralisierungen und biographisch bedingte Veränderungen persönlicher Religiosität nicht nur innerhalb der zweiten Generation, sondern auch bei Vertretern der ersten Generation von Zuwanderern in Deutschland vorkommen, ist bisher kaum untersucht worden. Bei den von mir befragten Angehörigen der ersten Generation waren radikale Brüche oder tief greifende Veränderungen der Religi-
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osität zwar eine Ausnahme, aber durchaus feststellbar, wie die zwei folgenden Beispiele zeigen: Angeregt von Arbeitskolleginnen begann die inzwischen fast 50-jährige Heiratsmigrantin und Fabrikarbeiterin Ketou erst vor wenigen Jahren damit, sich näher mit ihrer Religion zu beschäftigen. Inzwischen hat sie ein Kopftuch angelegt und besucht regelmäßig die arabischsprachige Moschee in ihrer Nähe. Im Gespräch repräsentiert sie sich als vollkommen erfüllt durch ihre Religiosität – genauso wie es auch für die jüngeren „Neo-Muslimas“ der zweiten Generation typisch ist. Der Sozialwissenschaftler Sami dagegen war während seines Studiums in Marokko aktives Mitglied der studentischen Organisation der Muslimbrüder. Wegen der damals eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen den Muslimbrüdern und der kommunistischen Studentenorganisation wurde er von seinem Vater nach Deutschland geschickt. Heute beschreibt er sich weiterhin als sehr religiös. Ein „exklusivistisches“ Religionsverständnis jedoch, wie man es bei dem (ehemaligen) Mitglied einer politisch-religiösen Vereinigung eventuell vermuten könnte, legt er nicht an den Tag. Er arbeitet für eine karitative kirchliche Einrichtung und ist mit einer ebenfalls sehr gläubigen orthodoxen Christin verheiratet. Probleme sieht er dabei keine: Sie hätte halt ihre Ikonenecke in der Wohnung und die gemeinsamen Kinder, „die haben ihre Bibel und lesen auch den Koran, wo soll da das Problem sein?“ Zwischenfazit: Religion, Milieu und Lebensstil Bisher konnte gezeigt werden, dass marokkostämmige Muslime in Deutschland ähnlich wie türkeistämmige Muslime eine deutlich ausgeprägte Religiosität aufweisen, die sie in unterschiedlichen Formen ausleben. Diese Formen von Religiosität können sich im Laufe eines Lebens verändern und in ihrer Intensität zu- oder abnehmen. Genderunterschiede lassen sich besonders in Bezug auf die jeweils ausgeübte Religionspraxis nachweisen. Welche der fünf Dimensionen von Religiosität im Einzelfall im Vordergrund steht, wird unter anderem durch die religiöse Sozialisierung beeinflusst, die immer in einem räumlich und zeitlich spezifischen Kontext stattfindet (z.B. einem Dorf im Marokko der 1950er/60er Jahren oder einer Stadt in Deutschland in den 1980er/90er Jahren).63 Angesichts der in Kap. 2.2.2 erarbeiteten Bedeutung translokaler Positionierungen für die individuelle Dispositionsgenerierung ist abschließend danach zu fragen, inwiefern sich auch unterschiedliche Positionen im sozialen Raum auf die Ausprägung individueller Religiosität auswirken. Anders als es die Sinus-Sociovision-Studie zu „Migrantenmilieus“ zu suggerieren scheint,64 zeigte sich bei meinen Interviewpartner/-innen, dass eine hohe Identitäts- und Alltagsrelevanz von Religion quer über alle sozialen Schichten und Bildungsniveaus zu finden ist. Was divergiert (und
63 Vgl. u.a. Zemni (2006) zu den jüngsten Veränderungen im marokkanischen religionspolitischen Feld, die sich heute auch in Form von veränderten Alltagspraktiken durchpausen. 64 Dieser Studie zufolge spielen „Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte“ nur für ein einziges, sozial niedrigstehendes Milieu mit einem „rural-traditionellen, von autoritärem Familiarismus geprägten Wertsystem“ eine Rolle. Für alle anderen Milieus seien diese Faktoren „nicht milieuprägend und auf Dauer nicht identitätsstiftend“ (Sinus Sociovision 2008, 2).
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mithilfe des eingangs vorgestellten Analyserasters sowohl zu erfassen als auch zu erklären ist), ist die Ausprägung der unterschiedlichen Dimensionen von Religiosität. Inwiefern also z.B. entweder eine wissensbasierte Religiosität oder aber ein stärker ritualistischer Zugang zur Religion vorherrscht, hängt u.a. von der jeweiligen Position im sozialen Raum und dem individuellen dispositionsprägenden Sozialisationskontext ab. So beschreibt die aus einer bildungsorientierten Städterfamilie stammende Manar ihr Erstaunen, als sie bei ehemaligen Gastarbeitern aus Marokko auf ein ganz anderes Religionsverständnis trifft, als sie es aus ihrer eigenen Familie kannte: „Das Leben in Tannenbusch, wo viele Migranten waren, das hat mich schon geprägt. Fand sie super nette Menschen. Mit ihren Problemen. Meine erste [Gast]familie kannte den Islam nicht so richtig, weil die Eltern Berberisch sprechen [und] auch nicht gut gebildet [sind]. Die andere Familie das Gleiche. Ihr religiöses Bild ist total anders, als was ich in Marokko erlebt habe. Also dieses offen [sein] und man muss lernen, man muss ambitiös sein [das kennen sie nicht]. Da[gegen] sind sie ein bisschen mehr so in einem Kokon und leben wie in einem Dorf. Die meisten kommen wie gesagt aus Nador. Sie sind wunderbare Menschen, die auch trotz ihrem wenigen Bildungsstatus Moschee gebaut haben und gerne und gute Muslime sind. Aber Islam können sie nicht weitergeben zu ihren Kindern.“ [Manar, 30, Studienmigrantin]
Auch wenn sich hier ablesen lässt, wie bedeutsam ein bestimmtes lokales Sozialisationsmilieu für die Entwicklung einer spezifischen religiösen Sozialisation ist, so kann deshalb jedoch noch lange nicht automatisch von einem bestimmten Sozial-Milieu auf eine bestimmte Form der Religiosität geschlossen werden. Dies zeigt das Beispiel von Fatou (ca. 35, Bergheim). Sie stammt aus einer Familie, die weitgehend dem von Manar skizzierten Milieu entspricht (d.h. dörflich, berbersprachig, weniger gebildet, im Norden Marokkos verortet). Im Anschluss an unsere Gruppendiskussion zeigte sie den anderen Kursteilnehmerinnen Fotos von der prachtvollen Hochzeit ihres jüngeren Bruders und erhielt daraufhin Komplimente für die sehr hübsche Braut. In dem sich daraufhin entspinnenden Gespräch über Hochzeitsfeiern und Hochzeitsbräuche erzählte sie, dass es von der Hochzeit ihres anderen Bruders keine Fotos gäbe. Dieser sei im Gegensatz zu dem frisch verheirateten Bruder „sunni“, also sehr streng gläubig, und habe daher keine Fotos zugelassen. Über die Schönheit seiner Braut hätten die Gäste nicht urteilen können: Sie blieb während der gesamten Hochzeitsfeier hinter einem Gesichtsschleier (niqƗb) verborgen. Somit belegen auch meine Interviewpartner/-innen die trivial klingende – jedoch durch die in Kap. 3.1.1 skizzierten homogenisierenden Mediendarstellungen für eine deutsche Öffentlichkeit verstellte – Erkenntnis, dass „Menschen auch hinsichtlich ihrer religiösen Einstellungen und Praktiken handelnde Subjekte sind“, die die Vorgaben ihrer Religion nicht nur passiv übernehmen sondern individuell verändern und entwickeln (Bielefeldt 2009, 178f.). Dementsprechend finden sich unter den Befragten quer zu den jeweiligen Positionierungen nach sozialer Klasse, Geschlecht und/oder Migrationsgeschichte sowohl sehr fromme als auch religiös eher indifferente Personen oder solche Muslime „deren religiöse Praxis nach persönlicher Lebenslage, dem Wechsel religiöser Feiertage, der Intensität familiäre Mitwirkungserwartungen und nicht zuletzt dem Lebensalter mehr oder weniger großen Schwankungen ausgesetzt ist“ (Bielefeldt 2009, 176f.).
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Fragt man sodann nach Lebensstilen und Lebenseinstellungen, so finden sich selbst unter den frommen Muslimen „solche mit Humor und völlig humorlose, Liberale und Konservative, Gelassene wie Verbissene, Ideologen und Pragmatiker, Menschenfreunde und Misanthropen; und nichts Anderes gilt auch für die Unfrommen oder die Gelegenheitsfrommen“ (Bielefeldt 2009, 176f.). 6.4.3. Bedeutung von Religion im Kontext narrativer Identitäten Nachdem das letzte Teilkapitel einen allgemeinen Einblick in die divergierenden alltags- und identitätsrelevanten Dimensionen von Religiosität gegeben hat, soll im Folgenden der Fokus noch einmal stärker auf die in den Interviews her- und dargestellten narrativen Identitäten gerichtet werden. Inwiefern werden im Rahmen von situierten performativen Erzählungen über sich selbst bestimmte Bezüge auf Religionspraxis oder Religiosität hergestellt? Mit der Ausnahme von Daoud haben sich alle Gesprächspartner/-innen entweder von selbst oder auf meine Frage hin dezidiert als Muslime identifiziert. Die Bedeutung, die die Befragten der Religion in den Interviews zuwiesen, differierte dagegen deutlich. Das Spektrum reichte dabei von Personen wie Farid, die sich bereits in ihrer Einstiegserzählung als Muslime vorstellen, bis hin zu Personen, die ich am Ende des Gesprächs nach ihrer Religion fragen musste, da sie in ihren Antworten keinerlei Bezug auf ihre Religion hergestellt hatten (vgl. Tab. 6 im Anhang). Eigenerzählungen über Religion und Religiosität In den Darstellungen der Interviewten, die von sich aus auf Religiosität und Religionspraxis zu sprechen kamen, lassen sich grob drei auslösende Kontexte unterscheiden: a) im Kontext von Erzählungen über Beheimatungen und Zugehörigkeiten bzw. soziale Beziehungen, b) im Kontext von Erzählungen über biographische Veränderungen (temporale Dimension narrativer Identitäten) und c) im Kontext eigener oder von mir angestoßener Erzählungen über Medienkonsumgewohnheiten. a) Beheimatung: Wie bereits ausgeführt, stellt die lokale Moschee bzw. die dort anzutreffende marokkanisch-muslimische Gemeinschaft für die vier in Bergheim und Setterich befragten Männer einen wichtigen Bestandteil ihrer lokalen Beheimatung dar. Religiosität taucht in ihren Erzählungen daher zuerst und dominierend in der Dimension der öffentlichen, in der Gemeinschaft geteilten Religionspraxis auf. Aber auch für den in Bonn aufgewachsenen Taufik begünstigt die Möglichkeit der praktischen Ausübung seiner Religion sein starkes Beheimatungsgefühl in Deutschland. Die ca. 40-jährige Heiratsmigrantin Heba bringt diese von ihr empfundene alltags- und identitätsrelevante Funktion ihrer Religion gleich in ihrer Einstiegserzählung zum Ausdruck: „Wir gehen hier noch zum Arbeiten und äh, ja, ganz normal. Ich finde da gibt's nichts Besonderes. Wir fasten auch und machen unseren Ramadan und unsere Kultur auch. Wir sind hier wie [in der] Heimat. Nur 'n bisschen gibt's Heimweh.“ [Heba, 45 Jahre, Aachen]
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b) Biographie und Religion: Eine sehr zentrale Rolle spielt Religion und Religiosität in den biographischen Erzählungen derjenigen, die wie Amina und Farid eine dezidierte und nur wenige Jahre zurückliegende Re-Konversion erlebt haben: Beide erzählen sehr ausführlich von ihrer religiösen Transformation, die sie als entscheidenden Teil ihrer biographischen Entwicklung ansehen und von ihrer Religiosität, die sie als zentralen Aspekt ihres Selbst-Verständnisses präsentieren. Auch bei den anderen Befragten, die von einer biographischen Veränderung ihrer religiösen Überzeugungen und/oder Praktiken berichten, taucht dieser Umstand früher oder später im Rahmen ihrer biographischen Selbstdarstellungen auf. Wie bereits im letzten Kapitel angesprochen, ist dabei besonders für die jungen Frauen die Frage zentral, ob und wann eine verstärkte religiöse Identifizierung in eine entsprechende religiöse Praxis umgesetzt wird (bzw. ob und wann diese Umsetzung wieder rückgängig gemacht wird): „Ich wusste immer, dass ich später ein Kopftuch tragen werde. Für mich war allerdings später immer weit über dreißig. Und ich hatte einfach nicht dieses Selbstbewusstsein. Ich war zwar immer selbstbewusst, aber nicht dieses Selbstbewusstsein, dass ich mit‘m Kopftuch rausgehen kann, und ich drüberstehe, wenn ich böse Blicke bekomme. Oder wenn jemand direkt ne blöde Frage stellt, die ja leider sehr üblich ist (lacht): ‚Von wem müssen Sie das Kopftuch aus tragen? Von ihrem Mann, ihren Eltern, ihren Schwiegereltern oder wer zwingt Sie jetzt dazu?‘ Und ja, irgendwann war es einfach so, dass ich mir das Kopftuch umgebunden hab und mich gefragt habe: ‚Wieso eigentlich nicht? Du stehst eigentlich immer über allem, also kannst du auch da drüber stehen.‘ Und ja, seitdem trage ich mein Kopftuch.“ (Faiza, 28)
Ganz anders als Faiza, Farid, Amina, Amal oder auch Ines, die alle von einer sich steigernden Bedeutung von Religiosität berichten – auch im Sinne von emotional empfundener Nähe zu ihrer Religion – ergeht es dem ebenfalls in Deutschland aufgewachsenen, inzwischen fast 30-jährigen Achraf. Sein Studienbeginn und der damit verbundene Eintritt in eine „andere Sphäre“ (d.h. das von Personen mit höherem finanziellen und kulturellem Kapital bevölkerte Feld der Wissenschaft) führt dazu, dass er seinen ‚Kinderglauben‘ verliert: „Also es ist ja in unserem Kulturkreis so, dass man von den Eltern beigebracht bekommt, was die Religion ist. Und als Kind und Jugendlicher trägt man das dann in sich, ohne darüber zu reflektieren. Ne? Man wächst halt damit auf. Und bei mir war das so, dass ich irgendwann im Laufe meines Studiums [gelernt habe] was Wissenschaft ist. Und da fing das an bei mir, sich langsam zu öffnen. Dass ich dann gesagt habe: Ok, Religion ist ein Teil von mir, aber ich möchte die Religion auch aus der westlichen Perspektive mal analysieren. Und dann entdeckt man etwas völlig Neues. Ja? Dann befasst man sich nicht nur mit der eigenen Religiosität, sondern auch mit anderen Religionen. Und dann ist dieser Dogmatismus nicht mehr da. Dieses Nicht-Hinterfragen, das fällt dann weg. Weil man ganz viele Gemeinsamkeiten entdeckt.“
Während Achraf also wegen seiner veränderten sozialen Positionierung einen stärker universalisierenden Zugang zu seiner Religion gewinnt, fühlt er sich auf sozialer Ebene hierdurch noch stärker isoliert:
310 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „Ich hab ja nich‘ so nen großen marokkanischen Freundeskreis. Und zwar unter anderem auch deshalb, weil die meisten Marokkaner, die hierher immigriert sind, in diesem Prozess [der Reflexion über Religiosität und Kultur] noch gar nicht sind. […] Auf dieser intellektuellen Ebene ist es schwierig Menschen aus meinem Kulturkreis [zu treffen] und Ansichten [zu erleben], die zukunftsfähig sind. Die sich mit den Herausforderungen dieses Jahrhunderts befassen. Nicht einfach immer dieses Rückwärtsgewandte, ‚wir müssen uns an die ursprünglichen Werte besinnen, so wie es damals war‘. Son Begegnungspunkt kommt selten vor. Dass man jemanden antrifft, der wirklich da in diesem Prozess ist, den ich gerade durchmache.“
Neben der emotionalen Dimension von Religiosität, die sich als ‚Halt‘ positiv auf Selbst-Verständnis und Selbstbewusstsein auswirken kann, zeigt sich nicht nur bei Achraf, sondern auch in anderen Interviews die hohe soziale Bedeutung von Religion und gelebter Religiosität: Über eine gesteigerte religiöse Identifizierung können soziale Beziehungen und ‚Halteanker‘ gewonnen werden (vgl. Amina, Farid, Ketou), sie können aber auch verloren gehen (vgl. Achraf oder Ines, die sich nach dem Ablegen ihres Kopftuches einen neuen Freundeskreis aufbauen musste, da eine solche Reversion für ihre politisch-religiös engagierten Freundinnen nicht akzeptabel war). c) Medien: Oft war es meine Frage nach der Mediennutzung, die die Befragten dazu veranlasse, sich als Muslim/-in zu identifizieren und in die Diskurse zu artikulieren. Am deutlichsten wird dieser Effekt in meinem Interview mit Habiba. Als ich sie nach den von ihr genutzten Medien frage, erzählt die fast 60-jährige ehemalige Fabrikarbeiterin von einem lokalen Radiosender, den sie beim Einschlafen hört: „Gestern war eine Sendung. Ein türkisches Mädchen, die redet nur von Islam. Wegen Beten, wegen Kopftuch. Und sie sagte: ‚ich bin Muslim. Ich bete nicht, aber trotzdem ich bin Muslim‘. Warum macht sie so was? Ich finde das nicht richtig! Islam ist fünf [mal] beten. Ja, unsere Religion ist offen. Jeder machen, was will. Wenn ich möchte nicht beten, das ist meine Sache. Wenn ich möchte kein Kopftuch, das ich meine Sache. Wenn ich Schwein essen, das ist meine Sache. Ich geh rein in das Loch [Grab MD], ne? Kommt keiner mit. Aber wenn eine [beten] will, dann ist [das auch] ihre Sache. Aber diese Frau sagt: […] ‚Ich bin Muslim ich bete nicht‘ und sie fragt: ‚Warum beten die andere Leute?‘ Das ist nix. Ist nix schön. Ist nicht richtig, was sie erzählt hat.“
In ihrer Auseinandersetzung mit der Radiosendung wehrt sich Habiba ausdrücklich gegen eine Auffassung, gemäß der die von ihr als essenzieller Religionsbestandteil angesehene Gebetspraxis unnötig oder entbehrlich sein soll. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss keineswegs, dass sie eine umfassende und buchstabengetreue Religionspraxis an den Tag legen würde: So erklärt sie zum Beispiel, dass sie aus Tradition und Bequemlichkeit häufig einen Schal über den Kopf ziehe, aber zu Feiertagen, wenn sie sich zurecht gemacht habe, auch ohne Kopftuch aus dem Haus gehe: „Ich machen das weg und alles ok. Ja, das ist Herz zeigen. Nicht Haare oder Gesicht oder von Klamotten. Nein: mein Gott ist [Herz]. Katholik hat auch ein Herz. Wenn ich beten [will] ich machen Kerzen an, ja? Das ist von mein Herz. Oder Kochen, ich koche mit Herz.“
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Habiba weist somit ein Religionsverständnis auf, das stärker durch Pragmatismus und ein individuelles Verständnis von Spiritualität gekennzeichnet ist, als durch Orthopraxis oder eine intellektuell-wissensbasierte Neo-Religiosität. Einerseits fastet sie zwar im Ramadan und berichtet sehr dankbar davon, dass in der Fabrikkantine für die muslimischen Arbeiter/-innen schon seit langer Zeit auch jeweils ein Gericht ohne Schweinefleisch angeboten wird. Andererseits tritt sie bestimmten, aktuell von ihr als zu fordernd und zu einschränkend empfundenen religiösen Forderungen und Praktiken sehr vehement entgegen: „Oder im Bus, ich muss auch setzten neben Deutsche. Wenn nicht, ich geh meine Heimat! Oder in Geschäft. Sie sagen: ‚Aldi, nicht mehr gehen bei Aldi, nicht bei Lidl‘, ‚Warum?‘, ‚Alkohol, sie verkaufen Alkohol‘ (heftiger, aufgeregt) [...] Ich muss mit 650 Euro leben. Miete bezahlen, Strom bezahlen. Ich muss zum Aldi gehen. Ich kaufe für ein Euro, fünfzig Cents, zwei Euro. Die arabischen Geschäfte, die haben kein so Preis! Warum ich geh dahin? (ruhiger) Ich kaufe immer Hähnchen bei Arabisch, das ist klar. Weil das ist von Islam. Halal geschlachtet. Das ist normal. Aber wenn ich geh Mehl kaufen so 25 Cents [bei Aldi], bei ihnen zwei Euro! – Wegen Alkohol? Ich trinke kein Alkohol! Ich geh Einkaufen und Wiedersehn! MD: „Wer sagt so was?“ H: „Ein Imam hat so gesagt! Da hab ich [ihm] gesagt: ‚Dann bitte, wenn du ein reicher Mann bist, Kapitalist, ne? Dann machst du ein großes marché für uns, nur Halal, alles Halal.‘ […] Aber wenn du arm [bist] und ich [bin] arm... (leiser) Ich muss gehen zum Aldi. Ich bin in Deutschland. Nicht in Marokko. Weil in Marokko, das ist meine Heimat. Ok? Ich weiß wo ich einkaufen gehen kann. […] Aber du bist in fremde Land und kommandieren?! Nein, das ist kein Imam.“
Dieses Zitat illustriert die Bedeutung einer spezifischen translokalen Positionierung für eine bestimmte Artikulation im Diskurs: Habiba begründet die Legitimität ihres Handelns erstens mit ihren geringen finanziellen Mitteln. Zweitens nimmt sie für sich ‚religiös korrektes‘ Handeln in Anspruch (weder trinkt, noch kauft sie Alkohol). Drittens führt sie ihren Gaststatus in Deutschland an (den sie auch nach 40 Jahren Aufenthalt nicht in Frage stellt, obwohl sie eine Remigration in ihre Kindheimat Marokko ebenfalls ablehnt), der ebenfalls ein angepasstes und nicht „kommandierendes“ Verhaltens erfordert. Wie in Kap. 7.1 noch ausführlicher zu zeigen, ist es genau diese Dimension translokaler Positionierungen, in der sich Arbeits- und Studienmigranten und die in Deutschland aufgewachsenen Personen in ihren Argumentationsmustern deutlich unterscheiden: Letztere beanspruchen im Gegensatz zu Habiba ‚qua Geburt‘ ein Recht auf Beheimatung und Mitsprache. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Thematisierung von Religion als selbsteingeführter Bestandteil von biographischen Erzählungen oder Alltagsdarstellungen im Rahmen von narrativen Interviews noch am ehesten die Möglichkeit bietet, muslimische Religiosität als etwas Persönliches und Alltägliches zu schildern. Somit kann auf individuell unterschiedliche Bedeutungen und Facetten von Religiosität eingegangen werden. Bereits in diesen Erzählungen finden sich jedoch in Nebensätzen oder Kommentaren häufig Anspielungen auf medial verbreitete Images und Stereotype. So wird z.B. in vielen Interviews ausdrücklich auf das Prinzip der Freiwilligkeit von religiösen Praktiken verwiesen. Auch Faiza berichtet nicht nur von den befürchteten Anfeindungen in Bezug auf ihr Kopftuch sondern charakterisiert
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auch die Koranschule ihrer Kinder ausdrücklich als „eine normale Koranschule“, „wo nicht sonst was gepredigt wird“. Dominant sichtbar wurden solche Äußerungskontexte jedoch in den Interviews, in denen ich selbst das Thema Religion als externen Input eingebracht habe. Anrufungen als Muslime In den (wenigen) Gesprächen, in denen das Thema Religion nicht von selbst angeschnitten worden war, habe ich am Ende des Interviews noch eine Frage hierzu gestellt. Dabei zeigten drei dieser Gespräche, dass die Erzähler/-innen durchaus religionsaffin waren. In ihrem Alltagsleben standen jedoch ganz andere, dringlichere Probleme im Vordergrund (R: prekäre wirtschaftliche Situation, H: traumatisierende Scheidung und Sorgerechtstreit, HS: Armut, Flucht, Illegalität, Misshandlungen). Der Gemüsehändler Daoud war der Einzige, der sich auf Nachfrage explizit von seiner Religion distanzierte: Kein Sex vor der Ehe, kein Alkohol und kein Glücksspiel – das sei zu anstrengend für ihn. Alle anderen Befragten reagierten dagegen affirmativ auf meine Frage nach ihrer Religion. Der ehemalige Studienmigrant Yassim beispielsweise erwähnte bereits zu Beginn des Gesprächs, er habe seinen Imbiss unter anderem deshalb eröffnet, damit die Deutschen sehen könnten, dass „wir (= Muslime und Araber) nicht nur Schlechtes machen“. Auf meine am Ende des Interviews gestellte Frage nach seinem Bezug zur Religion reagiert er mit einer durchaus überraschenden Metapher sowie einer erneuten Zurückweisung der von ihm offenkundig wahrgenommenen Verdachtsmomente: „Meine Religion ? Meine Religion ist für mich ist wie ein Bier für ‘nen Deutschen. Sie ist mir sehr, sehr wichtig natürlich. Ich hab vollen Respekt zu meiner Religion. Ja. Ich bin sehr, sehr froh Muslim zu sein. Ja. Sonst? Sonst habe ich nie Schwierigkeiten gehabt. Wenn wer Schwierigkeit irgendwann mal geben, werden wir zu Tisch sitzen und alles erklären. Was stört in meine Religion, was ist falsch in meine Religion? Ja, dann werden wir die Sachen klären. Aber mit Religion und Islam oder Christen – letzte Zeit sind immer so Kriege wegen [den] Medien, die machen alles schlecht. Das sind wirklich viele Sachen, die gar nicht stimmen. […] Ja, und können wir leider nichts machen. Aber wie gesagt, Religion ist friedlich. Und so genau sagt auch unsere Regel.“
Auch in den anderen Interviews, in denen das Thema ‚Islambild‘ bis zu dem entsprechenden Zeitpunkt noch nicht aufgetaucht war – also keinen textimmanenten Kontext bildete – war es für die Sprecher in dem Moment meiner Frage unmöglich, eine positiv-affirmative Haltung zu ihrer Religion einzunehmen ohne sich gleichzeitig von den Bildern und Konnotationen abzugrenzen, die sie selbst im Kopf hatten und daher auch bei mir vermuteten. Die Studienmigrantin Ghizlane z.B., die mir ihre Überlegungen zu einer möglichen bi-kulturellen Erziehung ihrer (zukünftigen) Kinder erläutert, antwortet auf meine Nachfrage, ob Religion dabei auch ein Thema wäre: „Ja. Religion sowieso. Für mich ist es wichtig, wenn man mit Religion halt aufwächst. Aber nicht was ich jetzt im Fernsehen sehe. Das ist was anderes. Das glaube ich niemals, was im Fernseher läuft.“ MD: „Was läuft denn im Fernsehen (lacht)?“ Gh: (lacht) „Über Terror, über
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Islam. Oder über diese dicken Themen. Und Bild macht sie größer. Aber die Wahrheit liegt woanders. Die Wahrheit ist ganz anders, als wie man sieht im Fernseher. Also ich glaube das niemals.“
Auch der in Deutschland geborene 16-jährige Najib, für dessen alltägliches Leben der Leistungssport und seine schulische Karriere eine sichtlich größere Rolle spielen als Religion, bemüht sich in seiner Antwort um die Zurückweisung von Medienbildern und die gleichzeitige Konstruktion und Betonung von ‚religiöser Normalität‘: MD: „Ja, vielleicht noch eine Frage: Spielt bei euch in der Familie Religion eine Rolle?“ N: „Eigentlich schon, ja. Also wir sind ja Islam, also sunnitischer. Ist so, ja, eigentlich so normal. Religion, also das ist nicht streng oder so. Ist jedem selbst überlassen, wie er es praktiziert. Und ja, meine Eltern beten halt und so, halt diese Hauptsachen, die man als Moslem macht. Bei mir aber sonst eigentlich nicht. Also man geht in die Moschee. Halt so wie als Christ, dass man sonntags in die Kirche geht. Also eigentlich nicht mehr. Nicht, dass man so extrem alles praktiziert, wie in den Medien immer gesagt wird – radikal-islamistische Gruppierungen und so. Obwohl das in den meisten Fällen eigentlich gar nicht so ist.“
Sobald das Thema Religion also von mir als nicht muslimischer Vertreterin der Mehrheitsgesellschaft in die Interviews eingebracht wird, werden die in Kap. 3 ausgeführten hegemonialen Islam-Images fast zwangsläufig mit aufgerufen. Meine Interviewpartner/-innen stehen somit vor den drei von Spielhaus (2011, 177) aufgeführten Entscheidungsmöglichkeiten: „keinerlei Aussage zu ihrer Religiosität zu treffen“, „sich von Islam und Muslimen zu distanzieren“ oder „sich als muslimisch bzw. der imaginierten muslimischen Gemeinschaft oder Kultur nahestehend zu präsentieren“. Wie oben geschildert, sehen die meisten meiner Interviewpartner/-innen ihre Religion als mehr oder weniger zentralen Teil der eigenen Identität und/oder Familiengeschichte an. Eine explizite und kategorische Distanzierung vom Islam war daher für sie (mit Ausnahme Daouds) keine Option. Auch ein Ausweichen vor einer Stellungnahme zu Religion und Religiosität war zwar im Rahmen der biographischen Erzählungen möglich. Sobald ich jedoch am Ende des Interviews konkret danach fragte, wirkte der Erzählzwang zu stark, um eine Antwort auf diese Frage kategorisch zu verweigern.65 Somit blieb ihnen nur die letzte Lösung übrig: Eine gleichzeitig persönlich affirmative wie in Bezug auf den Diskurs distanzierend-korrigierende Haltung einzunehmen: „Wer die letztere Option wählt, findet sich unweigerlich in einer Position wieder, das dominante Bild von einer rückständigen, gewalttätigen und frauenfeindlichen Religion zu hinterfragen und eine differenzierte Sicht einzufordern bzw. eigene Islaminterpretationen anzubieten.“ (Spielhaus 2011, 177)
65 In dem einzigen Gespräch, in dem eine Positionierung dezidiert abgewehrt wurde, hatte sich die Interviewte von Beginn an sehr misstrauisch und abwehrend gezeigt; als „narratives Interview“ stellte es somit einen Fehlschlag dar.
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Wie stark eine solche Anrufung wirkt, zeigte sich in dem Interview mit Loubna. Den Kontext für meine Frage bildete in diesem Fall ihre eigene Argumentation in Bezug auf ihr Kopftuch. Etwas irritiert von ihren widersprüchlich scheinenden Aussagen setze ich zu einer Nachfrage an, breche jedoch ab und versuche zunächst ihre allgemeine Haltung zur Religion zu klären: MD: „Ja. Ja. Wäre dann die Argumentation. Aber Sie sagen für sich …. (neu ansetzend) Oder wie ist das? Ist Religion für Sie dann wichtig, trotzdem also?“ L: „Ja. Ich meine jeder hat seine eigene Religion. Ich akzeptiere jeden anderen ja auch so. Es gibt ja auch viele (leiser) Schwule oder Lesben. Ja und? Dann sind die halt so, wenn’s denen doch gefällt. Ich mein, ich muss ja nicht wie diese Personen leben. Ist doch schön. Ich hab einen schwulen Freund (lacht), der ist voll lieb. Also ich finde ihn super, muss ich sagen. Er ist einfach klasse. Na und. Dann steht er halt auf Männer. Ist doch schön für ihn, wenn er glücklich ist. Und mit mir ist er super. Wir verstehen uns einfach sehr gut. […] Und das finde ich echt einfach klasse. Und da sage ich: ‚Ja. Ist doch dein Ding was du machst.‘“ [Handy klingelt]
Auf den ersten Blick scheint es, als ob Loubna meiner Frage ausweicht: Sie bestätigt die darin enthaltene Annahme mit einem kurzen „Ja“ und leitet dann auf ein scheinbar ganz anderes Thema um. Ihre Argumentation lässt sich jedoch auch als eine spezifische Artikulation in den Islamdiskurs lesen: So charakterisiert sie sich selbst zunächst als tolerant. Gleichzeitig „wendet“ und irritiert sie mit ihrer positiven Positionierung zu ihrem schwulen Freund auch ein hegemoniales Islambild, in dem Muslime als homophob charakterisiert und kritisiert werden.66 Mithilfe dieser spezifischen Positionierung kann sie mir zuletzt, ohne dies zu explizieren, die Schlussregel ihrer Argumentation klar machen: Die persönliche Religion eines jeden Einzelnen ist genauso zu akzeptieren und zu tolerieren wie seine oder ihre sexuellen Orientierungen.
6.5. D AS DEUTSCHE I SLAMBILD : ANRUFUNGEN UND ARTIKULATIONEN „Klar, die heutigen Eltern sind schon ein bisschen ideologisiert durch diese ganzen Nachrichten. Die gucken viel diese arabischen Programme, Al-Jazeera oder so. Und die zeigen ja wirklich schlimme Bilder, die man normal gar nicht zeigen kann. Man wird emotionalisiert. Und dementsprechend, obwohl die Leute noch nie mit einem Juden zu tun hatten, mögen sie sie nicht. Wie kann ich jemanden hassen, den ich nie gesehen oder gekannt habe? Aber wie gesagt, das ist diese negative mediale Beeinflussung. Und umgekehrt geht das Lieschen Müller und Hans-Peter genauso, ne? Durch die Nachrichten sind alle Moslems Terroristen. Und irgendwann mal glaubt man das, ne? Ist genau das gleiche!
66 Zu den divergenten und sich verändernden Realitäten des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit multiplen Formen von Sexualität und Geschlechtlichkeit in arabischen und europäischen Ländern vgl. die Beiträge in INAMO (52/2007) sowie Klauda (2008) und Bauer (2011, 268–311).
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Nur spiegelverkehrt! Lieschen Müller kauft seit zehn Jahren beim Türken ihre Tomaten und auf einmal sieht sie in ihm einen Fundamentalisten. Weil sie das jeden Tag in den Kopp rein gehämmert [bekommt] bis sie daran glaubt, ne?“ [Mimun, 33 Jahre, Köln]
Diese Passage ergab sich in meinem Gespräch mit Mimun, als ich etwas verwundert nach der in seiner Kindheit in Düsseldorf in Anspruch genommenen „jüdischen Hausaufgabenhilfe“ fragte und darauf verwies, dass heute manche muslimische Eltern erst überredet werden müssten, ihre Kinder in eine kirchennahe Nachmittagsbetreuung zu lassen. In seiner Antwort auf meine Einlassung spricht Mimun dabei die drei Fragestellungen an, die im folgenden Kapitel zu klären sind: •
•
•
Erstens geht es um die Frage, inwiefern das in Kap. 3.1.1 skizzierte negativ konnotierte Islambild zu ähnlich medienkritischen Haltungen meiner Interviewpartner/-innen beiträgt, wie sie bei Mimun oben durchscheinen. Inwieweit pausen sich solche Haltungen auch auf Mediennutzungsmuster durch? Werden eventuell alternative Informationsmedien genutzt? Zweitens wird es darum gehen, konkreter auf die drei bereits vorgestellten und für das deutsche Islambild in Medien und Öffentlichkeit kennzeichnenden Themenkreise einzugehen: Wie werden diese Themen von den Befragten selbst wahrgenommen? Wie positionieren sich sie sich im Interviewkontext dazu und welche Argumentationsmuster lassen sich erkennen? Drittens stellt sich die Frage, was passiert wenn „Lieschen Müller“ ihren marokkostämmigen Gemüsehändler trifft. In welchen Begegnungen und sozialen Interaktionen wird das Islambild relevant? Beeinflussen solche Bilder und Kategorisierungen das, was in solchen Situationen gesagt oder getan wird? Wie reagieren meine Interviewpartner/-innen in solchen „muslim moments“? Und was bedeuten diese langfristig für ihre Biographien und ihr Selbst-Verständnis?
Medien und Alltagsbegegnungen stehen hier für zwei der verschiedenen „verstreuten Bereiche“ in denen nach Butler (2006, 245) die Anrufung und Einsetzung des Subjekts geschieht. Wie bereits gezeigt, hängen Mediendarstellungen und Alltagserlebnisse sehr eng zusammen. Auch in den narrativen oder argumentativen Passagen der Interviews wurden sie häufig verknüpft. Die folgende konsekutive Darstellung erfolgt aus analytischen Gründen und zum Zwecke einer besseren Übersichtlichkeit. Während das erste sowie das dritte Teilkapitel Mediendarstellungen und Face-toFace Kommunikationen als zwei verschiedene „Modi“ behandeln, durch die die Befragten als Muslime angerufen werden (Abb. 14, rechts), so beschäftigt sich das zweite Teilkapitel stärker mit der Frage, wie sich die Befragten im Rahmen der Gesprächssituation zu den entsprechenden Diskurse positionieren (Abb. 14, links). 6.5.1. Islambild und Medienkonsum: Ausgesetzt sein/sich konfrontieren lassen Fast alle Befragten wiesen den Medien eine zentrale Rolle für die gesellschaftliche Etablierung eines negativ konnotierten Islambildes zu:
316 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „Also Menschen werden natürlich durch Medien beeinflusst. Das sieht man schon bei kleinen Kindern. Wenn die irgendwas im Fernsehen sehen und du gehst mit denen innen Laden. Und dann rufen sie ‚Oh, Mama. Actimel! Ich möchte das haben!‘“ (MD: lacht) R: „Ne? Ist ja so! Aber wenn man in den Nachrichten sieht: Oh, DER ARABER hat DAS gemacht. Oh, DER ARABER hat DAS gemacht. Oder der Moslem oder wie auch immer. Dann sieht man natürlich wenn man rausgeht (misstrauisch): ‚Ah, das ist ‘nen Araber, ich glaub ich will lieber nix mit dem zu tun haben.‘ Was man vorher vielleicht nicht gedacht hat! Ich glaub schon, dass man durch die Medien beeinflusst wird.“ [Rihane, ca. 30, Rechtsanwaltsfachgehilfin, Baesweiler] „Nicht, dass die Deutschen blöd sind. Sondern in den Medien werden viele Sachen erzählt über die Muslime. Muslime, Bin Laden und [so weiter]. Und jeder der Bart hat ist wie ein Bin Laden. Dann haben die Deutschen auch Angst. Sind normale Deutsche. Aber wenn man diese Medien hört, dann hat man Angst vor dem Nachbarn. Obwohl sie den Nachbarn kennen. Aber diese Bilder machen ein bisschen dümmer.“ [Manar, ca. 40, Ärztin, Bonn]
Kritisiert wird an den Mediendarstellungen vor allem die fast nicht mehr auflösbare Äquivalentsetzung von Islam und Terrorismus. Darüber hinaus werden die starke Selektivität, der Negativismus und die Pauschalisierungen bemängelt, die dadurch entstehen, dass negative Einzelfälle und Ereignisse als repräsentativ für den Islam ‚an sich‘ bzw. ‚die Muslime‘ dargestellt werden. Die wenigen positiven Beispiele würden dagegen durchgehend als ‚Ausnahmen‘ gehandelt. Dass der auf dem Prinzip des „only bad news is good news“ beruhende Negativismus als beständiger „Nachrichtenfaktor“67 kaum zu durchbrechen ist und Kritik daran daher auch in Bezug auf das deutsche Islambild weitgehend ins Leere läuft, erkennen viele der Befragten. Was sie dagegen als problematisch und potenziell änderbar herausarbeiten, betrifft erstens die Medienmacher: So kritisiert beispielsweise Hadou, dass Journalisten ihre Darstellungen zu stark auf bereits zuvor gefassten Ideen und Urteilen aufbauen würden. Informationen und Bilder würden dann selektiert, um diese Ideen zu bestätigen. Zweitens werden aber auch die Medienrezipienten kritisiert: „Und leider, die meisten Menschen, die glauben alles was die lesen und was die sehen. Besonders wenn das Bilder sind: Die glauben alles. Du kannst denen erzählen was du willst. […] Wir in Marokko zumindest, wir sind anders aufgewachsen. Wir glauben nicht alles. Weil wir immer so politische Probleme gehabt haben. Also jetzt nicht extrem, aber wir hatten keine freie Presse. Und deswegen glauben wir nicht alles. Du kannst erzählen was du willst, aber pff! Und deswegen vielleicht, wenn ich die Zeitung lese, dann sag ich nicht ‚ah, das ist so‘ und das wars. Ne? Aber die meisten hier machen das so. Wenn einer zum Beispiel sagt ‚der Saddam Hussein ist ein Diktator‘ dann ist er ein Diktator, Schluss. Und wenn ich erzähle der eine ist korrupt, dann der ist korrupt – ob das stimmt oder nicht stimmt. Oder: was steckt dahinter? Der kann korrupt sein, aber warum haben die das gesagt? Es gibt tausend andere, die korrupt sind. Warum erwähnen die die nicht ne? Solche Sachen [fehlen] dann halt hier.“ [Yakub, Studienmigrant]
67 Zur medienwissenschaftlichen Nachrichtenwerttheorie vgl. u.a. Kunczik und Zipfel (2005, 245–265).
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Auch viele der in Deutschland aufgewachsenen Interviewpartner/-innen weisen eine hohe Skepsis gegenüber einem „Wahrheitsanspruch“ von Medien als Spiegel einer tatsächlich existierenden „Realität“ auf. Wie u.a. in der Einzelfallanalyse zu Raif ebenso deutlich wurde wie in Ghizlanes Kommentar zu ihrer Religiosität („aber nicht das aus den Medien – das glaube ich niemals, was ich da sehe“), resultiert diese reflektierende Distanz häufig aus der aktuellen Berichterstattung über Muslime. Als erstes in dieser Hinsicht bedeutsames Diskursereignis wurde dabei mehrfach auf den ersten Golfkrieg 1991 verwiesen. Die in Belgien geborene Yasmina (30) berichtet: „Zum Beispiel damals, der erste Irakkrieg mit Bush Senior. Da haben wir alle vorm Fernseher gesessen und diese grüne Bilder da angeguckt. Wo ich gedacht habe, schlechtes Feuerwerk. In den arabischen Sendern ist das natürlich ganz anders dargestellt [worden]. Die Totenzahlen waren andere. Die Hintergründe waren auch ganz andere. Und in den belgischen Nachrichten [war es anders]. Obwohl Belgisch schon sehr kritisch war. […] Die Deutschen sagen: ‚Ok, wir haben das und das aus der New York Times vernommen oder ein Pressesprecher hat das gesagt, also ist das so.‘ Ich finde, die hinterfragen viel zu wenig!“
Während demnach für meine Interviewpartner/-innen ein ‚Mainstream‘Mediennutzer in Deutschland erstens durch eine hohe Mediengläubigkeit, zweitens eine Tendenz zum wenig reflektierten ‚Nebenbeikonsum‘ (vgl. Raif) und drittens ein fehlendes Interesse am Thema Islam/Muslime bzw. arabische Welt gekennzeichnet ist, beschreiben sie sich selbst als kritische Mediennutzer. Aus ihrem Interesse für Nachrichten aus dem arabischsprachigen Raum, ihrer Betroffenheit als angerufene Muslime und drittens der Möglichkeit zum vergleichenden Medienkonsum entwickeln sie eine deutlich medienskeptischere Einstellung. Wie die folgenden Zitate zeigen, wird dabei besonders das deutsche Fernsehen sehr kritisch gesehen, während aus verschiedenen Gründen sowohl die Lokalzeitungen als auch die überregionale Presse eine etwas höhere Glaubwürdigkeit besitzen. So liest beispielsweise der in Bonn aufgewachsene Ladeninhaber Taufik (32) weiterhin regemäßig die Lokalzeitung, da es für ihn wichtig ist sich darüber zu informieren was in seiner Umgebung passiert: „[Aber] Fernseher die letzten Jahre sehr ungerne. Weil da für mich viele Unwahrheiten berichtet werden. Ich kann mich damit überhaupt nicht identifizieren. Wenn ich da gewisse Dinge recherchiere, dann finde ich wird das alles sehr stark übertrieben. Und irgendwo auch gehetzt. Und das finde ich persönlich schade. So was wie Bild und Express hab ich bestimmt seit zehn, fuffzehn Jahren nicht gelesen. Weil das bringt auch nix. Die Zeit ist doch viel zu schade dafür um sich damit zu beschäftigen, ne?“
Die in Aachen aufgewachsene Studentin Amina (27), der ihr Glaube sehr wichtig ist, argumentiert ähnlich. Sie versucht dabei jedoch, die entsprechenden medialen Anrufungen so weit wie möglich auszublenden: „Also ich hab kapituliert. Ich tu mir das nicht mehr an. Also Nachrichten guck ich nicht mehr. Mein Papa guckt oft Nachrichten und da bekomme ich automatisch einiges mit. Aber ich mache das nicht. […] Ich denke manchmal schon: ‚Das ist auch nicht so gut, dann bekommst du nicht mehr so viel mit, was in der Welt passiert‘. Aber wenn ich möchte, dann kann ich mir das auch anders anschauen. Ausgewählte Berichte dann eben übers Internet. Aber es nervt einfach,
318 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT es nervt! Ich hab wirklich die Nase voll. Das macht mich auch wütend, dass es immer so verzerrt dargestellt wird! Und da ist mir meine Zeit zu wertvoll um mich die ganze Zeit damit so zu beschäftigen.“
Da die meisten es für wichtig halten, sich in irgendeiner Weise über aktuelle Ereignisse zu informieren, suchen sie aktiv nach Informationsquellen, die sie für vertrauenswürdig halten und mit denen sie sich „identifizieren“ [Taufik] bzw. die sie als „authentische Quellen“ (an)erkennen können [Farid]. Besonders die jüngeren Befragten werden dabei im Internet fündig. Online erhalten sie neben den „ausgewählten Berichten“ verschiedener Mainstream-Medienbieter auch Anschluss an informelle Blogs und die dort repräsentierten, eher heterodoxen Medien- und Diskursstränge (vgl. Übersicht in Tabelle 2). Während die in Deutschland geborenen Personen aus den in Kap. 6.3.1 erläuterten Gründen weitgehend auf deutschsprachige Informationsquellen angewiesen bleiben, nutzen viele der Arbeits-, Heirats- und Studienmigranten auch arabischsprachige Quellen. Da marokkanische Sender als Informationsmedium auch aktuell noch skeptisch hinterfragt werden,68 präferieren viele entweder arabische Internetseiten oder die transnationalen arabischsprachigen Fernsehkanäle. Al-Jazeera, der bekannteste dieser Sender, auf den auch Mimun in dem einleitenden Zitat anspielt, ist bei meinen Interviewpartner/-innen durchaus umstritten. Die Studienmigrantin Manar, die nach ihrer Ankunft in Deutschland Informationen über den Nahost-Konflikt vermisste und daher immer wieder auf arabischsprachige Medien zurückgriff, vermeidet es heute Al-Jazeera zu schauen: „Da werde ich immer wütend auf meinen [deutschen] Mann, ich weiß auch nicht warum“. Und auch die Arbeitsmigrantin Habiba präferiert BBC Arabic. Al-Jazeera – das sei immer „Blut, Blut, Blut“, das könne sie nicht gucken. Andere der Befragten jedoch, wie z.B. die beiden Studienmigranten Hakim und Karim, nennen diesen Sender als ihre Hauptinformationsquelle. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit Ausnahme der aus sprachlichen Gründen aus diesem Diskurs ausgeschlossenen Personen alle Befragten mit den in Deutschland medial vermittelten Diskussionen über Muslime und den Islam vertraut sind. Insgesamt herrscht ein geringes Vertrauen in den Wahrheitsgehalt medial vermittelter Informationen vor, das nicht nur aus divergierenden Auffassungen in Bezug auf Islamdarstellungen, sondern teilweise auch aus einer in Marokko erfahrenen medienkritischen Sozialisation resultiert. Während die einen jedoch versuchen, Auseinandersetzungen mit dem einhellig als „negativ“ und „traurig“ charakterisierten Islambild aus dem Weg zu gehen indem sie die entsprechenden Medien meiden (Amina) oder durch anderssprachige Medien ersetzen (Hakim und Karim), setzen andere ihre Sprachkenntnisse ein, um durch einen einen gezielt sprach- und landesübergreifenden Medienkonsum zu einem stärker ausgeglichenem Bild zu kommen: „Ich nehme von dem Deutschen, von den Englischen, von den Französischen, von den Arabischen. Also aus dem Internet oder aus dem Fernsehen. Das werde ich alles irgendwie abglei-
68 Yassim z.B. kommt zu der Einschätzung: „Unser Fernsehen ist das Letzte, was man gucken kann. Das heisst ich gucke keine Medien. So marokkanische Medien meine ich natürlich. Die erzählen, was sie wollen. Die Wahrheit ist ganz, ganz, ganz anders.“
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chen. Weil […] wie gesagt, die Deutschen erzählen nur das Beste und die Araber erzählen nur das Schlechte. Und ich, ich nehme was in der Mitte ist, und dann komme ich auf die Wahrheit. Also wenn man mehrere Sprachen spricht, dann hat man die Möglichkeit, zur Realität zu kommen.“ [Amghar]
Auch wenn es eine Mitte, in der man die Wahrheit finden kann, aus konstruktivistischer Perspektive bekanntlich nicht gibt (vgl. Watzlawick 1997), erscheint eine derartige vergleichende und kritisch reflektierende Mediennutzung hilfreich, um eine vorschnelle Übernahme von stereotypisierenden Sichtweisen zu vermeiden. Sie fördert eine in alle Richtungen kritische Haltung (vgl. einleitendes Zitat von Mimun). Wie aber positionieren sich meine Interviewpartner/-innen nun ganz konkret zu den verschieden Facetten des deutschen Islambildes? 6.5.2. Artikulationen im (Medien-)Diskurs: „das Bild korrigieren“? Wie in den Einzelfallanalysen deutlich geworden ist, bezogen sich meine Interviewpartner/-innen zum Teil bereits in ihren biographischen Erzählungen auf das Islambild. Spätestens meine Nachfragen zur persönlichen Religiosität führten dazu, dass das in der deutschen Öffentlichkeit verbreitete Islambild fast automatisch aufgerufen wurde und einen gewissen Rechtfertigungsdruck erzeugte. Umgekehrt jedoch forderte auch die gedankliche Auseinandersetzung mit den Mediendarstellungen meine Gesprächspartner/-innen dazu heraus, sich selbst als Muslime zu identifizieren und sich aus einer entsprechenden Position heraus in dem Diskurs zu artikulieren. So antwortete der Studienmigrant Yakub auf meine Frage danach, wie er die Darstellungen des Islams in den deutschen Medien wahrnimmt: „Der Islam? Muss ich mal ehrlich sagen, sehr negativ. Sehr negativ. Warum? Weil äh ja, das ist eigentlich ein großes Thema. Das gibt so verschiedene Faktoren, die muss man dann halt besprechen. Aber die Medien, die beeinflussen die Leute. Ich bin selbst Moslem. Ich weiß ganz genau. Ich übe aus. Ich will nicht sagen ich kenne das alles auswendig – aber den größten Teil davon kenn ich. Ja, und ich kenn die ganzen Prinzipien von dem Islam und so was. Ich rede nicht über etwas, was ich nicht kenne. Und deswegen, wenn ich irgendwas in den Medien höre oder in der Zeitung oder so was: Da lach ich drüber, da lach ich wirklich drüber. Und ich finde das wirklich schade, dass die Medien einfach das ausnutzt um die Leute zu beeinflussen. Wenn ich dann halt höre Leute, die über Kopftuch reden oder über Terrorismus, oder so was. […] In den Medien verbinden die immer Terrorismus mit dem Islam. Obwohl das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun.“ [Yakub, ca. 40, Bonn; Herv. MD]
In dieser Aussage leitet Yakub die Autorität seiner Aussage aus seiner SelbstIdentifizierung als informierter und praktizierender Muslim ab: „Ich rede nicht über etwas, das ich nicht kenne“. Aus dieser Position heraus ist es für ihn möglich, die hegemoniale Äquivalentsetzung von Islam und Terrorismus kraftvoll und autorisiert zurückzuweisen. Eine ganz ähnliche Argumentation und Positionierung findet sich interessanterweise auch bei der in Belgien geborenen Yasmina, die sich dezidiert als nicht praktizierend beschreibt:
320 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „Also ich kenn den Islam. Und ich find ihn viel angenehmer. Ich kenn auch die Bibel und [die] Thora. Dadurch, dass ich in Belgien war. Klar Juden, da hatten wir sehr viel mit zu tun. Ich kenn sie alle drei. Und ich bin sehr gerne Muslimin. Weil da finde ich, dass ich als Frau die meisten Rechte habe. Das hört sich natürlich bekloppt an, weil die meisten sagen, ‚huch, der Islam, da werden die Frauen doch unterdrückt‘. Aber das stimmt doch gar nicht! In anderen [Religionen] werden sie nicht mal erwähnt!“
Bereits hier zeigt sich sehr deutlich das von Judith Butler beschriebene Paradox der Subjektivierung: erst indem eine – auch herabstufende und teilweise beleidigende – Anrufung angenommen und die entsprechende Subjektposition eingenommen wird, erhält die derart subjektivierte Person eine gesellschaftliche Existenz, also eine Position, aus der heraus verständliches und autorisiertes Sprechen möglich wird (Butler 2006, 15). Im Kontext des deutschen Islambildes bedeutet dies, dass die Annahme der Anrufungen als „Muslim“ es einerseits notwendig macht, sich in diesem Diskurs zu artikulieren, andererseits aber auch ermöglicht, dabei eine autorisierte Sprecherposition einzunehmen. Aus diesen Positionierungen heraus setzen sich nicht nur Yakub und Yasmina, sondern auch die meisten anderen Befragten mit den unterschiedlichen Facetten des deutschen Islambildes auseinander. Wie bereits in der oben zitierten Argumentation von Yakub gezeigt, wurden in den Interviews verschiedene Themen und Problemstellungen parallel und eng verknüpft diskutiert. Aus analytischen Gründen und mit Rücksicht auf eine bessere Lesbarkeit werden die entsprechenden Argumentationen im Folgenden jedoch entlang der drei in Kap. 3 herausgearbeiteten Hauptframes (Äquivalenzketten) vorgestellt. So soll zuerst das in fast allen Interviews angesprochene Thema ‚Terrorismus, Gewalt und Internationales Islambild‘ diskutiert werden. Zweitens geht es um die Argumentationen zum Thema ‚Frauen und Islam‘. Zuletzt werden die besonders im Herbst und Winter 2010 im Kontext der zu diesem Zeitpunkt aufgeloderten Sarrazindebatte aufgerufenen Fragen nach Integration, Zuwanderung und Religion aus der Perspektive der Befragten erörtert. Islam und Terrorismus In der Auseinandersetzung mit der nicht nur in Deutschland, sondern auch international nachweisbaren Gleichsetzung von Islam mit Islamismus und Terrorismus geht es für meine Interviewpartner/-innen darum, wie sie sich selbst als bekennende, gläubige und/oder praktizierende Muslime identifizieren können, ohne dabei die damit äquivalent gesetzte Fremd-Identifizierung als (potenzielle) Gewalttäter annehmen zu müssen. In den Interviews ließen sich hierzu drei verschiedene Argumentationsstrategien differenzieren: Erstens die direkte Zurückweisung einer Verantwortungsgemeinschaft, zweitens der Versuch einer Re-Signifizierung der zentralen Begriffe und drittens das Ausweichen auf „andere“ Wirklichkeitsbestimmungen. Eine sehr direkte Zurückweisung der von mir ins Gespräch eingebrachten Zumutung, sich über (andere) Muslime und deren Bild in den Medien äußern zu müssen, zeigte sich in meinem Gespräch mit dem Pharmareferenten Loutfi, für den seine eigene Religiosität nur eine untergeordnete Rolle spielt: MD: „Weil gerade auch wieder in den Medien ganz viel diskutiert wird über Muslime und den Islam: Wie nehmen Sie das wahr? Interessiert Sie das, oder ...?“
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L: „Was heißt interessiert mich das? Einfach erst mal, wenn jemand… Ich will keine Verantwortung für das nehmen, was die anderen sagen. Das ist nicht meine Rolle. So. Und wenn einer was sagt, das ist seine Meinung. Ich finde [es] nur einfach schade. […] Und ich kann nicht für die anderen reden, die was Schlechtes machen. Das tue ich nicht. Die sollen selbst erklären, warum sie das getan haben. Oder warum sie das so sehen. Ich kann nur meine Meinung sagen, also wie ich bin. Und die Toleranz ist einfach da. Ich komme mit allen Religionen zurecht.“
Unterstützt wird die Zurückweisung der entlang der Kategorie ‚Muslim‘ konstruierten Zurechnungs- und Verantwortungsgemeinschaft indem (nicht nur von Loutfi, sondern auch von vielen anderen) der friedliche und tolerante eigene Charakter als Gegenargument aufgeführt wird. Ebenfalls mit dem Ziel der Zurückweisung einer persönlichen Verantwortung für die Taten anderer wird der Blick auf die Größe und Diversität der derart diskursiv konstruierten Gemeinschaft gelenkt: „Ich mein, mein Gott, ähm, ich weiß nicht wie viele Muslime es gibt. Aber das ist die zweitgrößte Religion auf der Welt! Und warum sollte ich verantworten, warum? Ich mein, ich fühl mich doch auch nich‘ schuldig, nur weil ein Pfarrer hier Kinder missbraucht. Dafür können Sie nichts, kann ich nichts und… verstehen Sie was ich meine?“ MD: “ja, ja, ja“ Y: „Es ist absolut Schwachsinn! Und trotzdem führt man solche Diskussionen. Und trotzdem geben die einem diese Schuldgefühle.“ [Yasmina, 30, Köln]
In diesem Zitat zeigt sich, dass weder eine performative Zurückweisung, noch die theoretisch-intellektuell fundierte Erkenntnis der Nicht-Angehörigkeit zu einer Verantwortungsgemeinschaft bedeuten, dass sich eine Person den entsprechenden Diskursen und ihrer Subjektivierungswirkung entziehen kann: Obwohl Yasmina die Verantwortung für das, was ihr durch das Islambild zur Last gelegt wird, entschieden zurückweist, kann sie nicht verhindern, dass die performativ zurückgewiesenen Schuld- und Verantwortungsgefühle gleichzeitig Teil ihres Selbst-Verständnisses werden. Ihr und vielen anderen meiner Interviewpartner ergeht es so, wie es Butler mit Bezug auf den Zusammenhang von Diskurs und Subjektivierung postuliert: Obwohl sie sich umdrehen und gegen den Namen protestieren, den man ihnen zuruft, zwingt sich dieser Name weiterhin auf. Er umgrenzt den Raum, den sie einnehmen, und konstruiert eine gesellschaftliche Position. Sie werden – „allerdings in der Entfernung zu sich selbst – weiterhin durch den Diskurs konstituiert“ (Butler 2006, 59). Neben solchen Versuchen, die Anrufungen durch das Islambild zumindest auf Abstand zum eigenen Selbst-Verständnis zu halten, tritt bei vielen meiner Interviewpartner/-innen ein weiterer Argumentationsstrang. In diesem wird versucht, die Bedeutungshoheit über den als leeren Signifikanten wirkenden Begriff des ‚Islams‘ zurückzuerlangen und die Äquivalentsetzung der Signifikanten Islam und Terrorismus bzw. Gewalttätigkeit aufzubrechen. Geht es um einzelne kriminelle Akte, die in Deutschland oder Europa passieren, so werden z.B. die mediale Darstellung und das Attributieren der Personen als Muslime sehr dezidiert hinterfragt. In Einklang mit den Vorgaben des deutschen Pressekodex wird hier argumentiert, dass eine Charakterisierung als „Muslim“ zu unterbleiben habe solange der Glaube mit der Tat nichts zu tun hat. Dies gelte umso mehr,
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als viele der in den Medien als Muslime betitulierte Personen persönlich weder gläubig seien, noch praktizieren würden. In Bezug auf die medial seit 2001 im Fokus stehenden terroristischen Anschläge und Gewalttaten, die von sich dezidiert auf ihren Glauben berufenden Personen verübt wurden, ist die Argumentation eine andere, grundsätzlichere: Selbst wenn sich die betreffenden Personen als Muslime fühlen und sich als solche bezeichnen, wird ihnen die Zugehörigkeit zu dieser sozialen Kategorie von vielen meiner Interviewpartner/-innen abgesprochen. Am offensten in seinem Urteil bleibt dabei Abdou (52, Bergheim), der argwöhnt: „Gibt es viele Leute, die haben die Islam, ganz schlechte Bild gegeben. Und vielleicht diese Leute sind nicht richtige Muslim. Oder verstehen sie Islam falsch! Der Islam hat eine gute, gute Erziehung. Der Islam wollte, dass alle Menschen zusammen leben. (zunehmend aufgeregter) Und, äh jeder muss: was ich für mich will, muss ich für Sie auch wollen“ [d.h. Ich muss so handeln, wie ich selbst behandelt werden möchte]
Das Backing dieser Argumentationen ist die Aussage, dass ‚der Islam‘ das Töten verbietet (und der Sprecher dabei über das notwendige Wissen verfügt, um eine autorisierte Aussage zu treffen s.o.). Wer tötet, kann folglich kein Muslim, d.h. zumindest kein ‚richtiger‘ Muslim sein, da er ja gegen die Gebote seiner Religion verstößt. Welche Funktion diese Argumentation dabei für die Selbst-Identifikation meiner Interviewpartner/-innen hat, zeigt das folgende Zitat: „Aber die Leute, die sich hier umbringen oder was weiß ich. Das ist verboten im Islam. Das ist total verboten. Und also, wenn jemand mich fragt: Ich bin Moslem und ich schäme mich nicht. Medien sagt: ‚Ok, jemand hat sie bombardiert und der ist Moslem.‘ Also in mein Augen, ist kein Moslem. Überhaupt nicht. Der Islam verbietet das total.“ [Hachem, 54, Aachen]
Indem also ‚der Islam‘ als friedliche Religion konstruiert und re-signifiziert wird, und auf dieser Grundlage den Attentätern und Terroristen der Status als Muslime aberkannt wird, können sich die betroffenen Personen zumindest temporär wieder als Muslim/a identifizieren „ohne sich zu schämen“. In dem akuten Bewusstsein, dass es tatsächlich Personen gibt, die Gewalt religiös – in diesem Fall mit dem Islam – rechtfertigen, verweisen andere meiner Interviewpartner/-innen jedoch darauf, dass es durchaus auch Muslime gibt, die ihre Religion als Ideologie benutzen, um bestimmte Handlungen zu begründen: „Is leider traurig. Und is klar, gibt’s da vielleicht [einige], die die Religion, oder im Namen der Religion (holt Luft)… oder für mich sind das Menschen vielleicht, je nachdem, die die Religion auch missbrauchen, ne? Um eben Gedanken und ihre Gewalt zu rechtfertigen. Ne? (sehr leise) Das ist dann natürlich nicht so schön“ [Taufik, 32, Bonn] „Ist traurig, dass der Islam so falsch dargestellt wird. Aber auch dadurch, dass diese ganzen Terroristen da versuchen, durch den Koran irgendwie ‘nen Machtspiel zu gewinnen. Obwohl das gar nix damit zu tun hat. Aber ich glaub da musste jede Religion schon durch (lacht)“ [Rihane, 20, Baesweiler]
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Auch ohne den betreffenden Personen den Status als Muslime kategorisch abzusprechen wird hier versucht, die Äquivalentsetzung von ‚Religion‘ und ‚Gewalt‘ zu disassoziieren. Die Differenzlinie verläuft in diesem Fall jedoch zwischen dem Islam als ‚normaler‘ Religion einerseits sowie seiner manipulativen und missbräuchlichen Nutzung zur Verfolgung anderer Ziele (wie dem Ringen um weltliche Macht) andererseits.69 Die Frage nach den ‚eigentlichen‘ und wahren Motiven bestimmt auch die dritte Art der im Kontext ‚Islam und Terrorismus‘ auftauchenden Argumentationsmuster. In diesen geht es um das zentrale Diskursereignis der Anschläge vom 11. September 2001. Ebenso wie Amal (vgl. dort), ist auch Farid davon überzeugt, dass das Ereignis „ein Inside-Job war. Sprich ein geplanter amerikanischer Anschlag, also von den Geheimdiensten, von der Regierung. Ne inszenierte Sache auf jeden Fall.“ Als Beleg für diese These führen Amal, Farid, Amghar und Hakim von US-Amerikanern produzierte Dokumentarfilme und Internetquellen an,70 die die offiziellen Berichte über Hergang und Hintergründe der Anschläge anzweifeln (vgl. Abb. 21 unten). Mag man als politisch interessierter deutscher ‚Normalbürger‘ geneigt sein solche Darstellungen und Thesen schnell als „abstrusen Unsinn“ abzutun, so lohnt es sich doch, hier einmal genauer hinzusehen. Denn die Frage nach dem, was ‚wahr‘ ist und was nicht, ist aus diskurstheoretischer Sicht alles andere als einfach zu beantworten. Wahrheiten sind, wie wir gesehen haben, niemals absolut gültig oder endgültig fixiert: „In anderen diskursiven Kontexten können andere Diskurse hegemonial sein und damit andere Sichtweisen und Praktiken als ‚wahr‘ oder ‚richtig‘ gelten.“ (Glasze und Mattissek 2009b, 12; Herv. MD)71 Konkurrierende Zuschreibungen und Positionen lassen sich aus dieser Perspektive nur nach dem Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz unterscheiden: Allgemein anerkanntes Wissen kann als hegemonial (oder orthodox) eingestuft werden, während fehlende Anerkennung bestimmte Aussagen als marginales oder heterodoxes Wissen bzw. häretischen Diskurs kennzeichnen (vgl. Bourdieu 2005b). Da die „Existenz der [o.g.] Verschwörung von der Mehrheit der Bevölkerung, den Leitmedien und anderen gesellschaftlich legitimierten Deutungsinstanzen nicht anerkannt wird“, handelt es sich nach Anton (2011, 29f., 114) um eine „heterodoxe Verschwörungstheorie“, die durch eine „abweichende Wirklichkeitsbestimmung“ gekennzeichnet ist.
69 In diesen Konstruktionen des ‚eigentlichen‘ Islam in Abgrenzung zum islamisch konnotiertem Terrorismus spiegelt sich dieselbe semantische Strickleiter, die Husseini de Araújo (2011, 267) in ihrer Analyse transnationaler arabischer Zeitungsberichte herausarbeitete. 70 Genannt wurde u.a. der Film „Loose Change“. Zu weiteren Autoren und Darstellungen zu 9/11 mit verschwörungstheoretischem Ansatz vgl. Anton (2011, 86–98). 71 Vgl. aber auch Bourdieu (1986): „Es gibt eine Geschichte der Vernunft, was nicht heißt, daß Vernunft sich auf ihre Geschichte reduziert. Vielmehr ist damit gemeint, daß es historisch Bedingungen für das Auftreten gesellschaftlicher Formen der Kommunikation gibt, die die Produktion von ‚Wahrheit‘ ermöglichen. ‚Wahrheit‘ ist in jedem Feld Gegenstand von Kämpfen, von Auseinandersetzungen.“
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Abbildung 21: Der 11. September – ungeklärte Fragen
Aushänge in der Nähe von „Ground Zero“, 9/11 Memorial, Fotos © M. Didero, 2/2011
Neben den vielen Faktoren, die ganz allgemein die verschwörungstheoretische Deutung eines außergewöhnlichen historischen Ereignisses als das Werk von Geheimdiensten nahelegen,72 gibt es in diesem speziellen Fall zwei Faktoren, die die Plausibilität einer solchen „abweichenden Wirklichkeitsbestimmung“ für meine Interviewpartner/-innen erhöhen: Erstens ist dies der auch von europäischen und US- amerikanischen ‚Verschwörungstheoretikern‘ angeführte Umstand, dass US-Bürger zwar Opfer des Anschlages waren, dieser Anschlag jedoch für die US-Regierung insofern ‚nützlich‘ war, als sie ihn sehr schnell als Legitimierung für ihre Invasionen und Angriffskriege in Afghanistan und im Irak umzudeuten wusste.73 Wie Shadia Husseini (2010, 233f.) in ihrer Analyse transnationaler arabischer Printmedien nachweisen kann, „scheint ‚der Terrorismus‘ in den hier artikulierten Darstellungen zum ‚Freund‘ der USA zu avancieren, mit dessen Hilfe sie ihre imperialistische Politik legitimieren und ihre Rolle als einzige Weltmacht weiter festigen können“. Die bereits am Tag der Anschläge prognostizierbaren außenpolitischen Re-
72 Vgl. hierzu allg. Pfahl-Traughber (2002, 35f). Zu historisch belegbaren Konspirationen der US-amerikanischen Geheimdienste im speziellen vgl. u.a. Weiner (2007). 73 Zum in Bezug auf die Deutung von 9/11 in Deutschland weiterhin aktuellen „Kampf der Diskurse“ Anton (2011, 110) vgl. u.a. Klöckner (28.3.2012), der versucht nachzuweisen, dass in einer aktuellen Studie zur „Generation 911“ abweichende Darstellungen bereits in der Phase der Datensammlung weitestgehend „zensiert“ werden.
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aktionen der USA74 trugen dazu bei, dass die Anschläge vom 11. September nicht als Zäsur wahrgenommen wurden, sondern als Ereignis, das sich nahtlos in bereits zuvor verfolgte geostrategische Interessen einfügte. Aus dieser Perspektive ist es dann nur ein kleiner weiterer Schritt, die US-Regierung bzw. ihre Geheimdienste nicht nur als Nutznießer, sondern im Kontext von Verschwörungstheorien auch als Verursacher der Anschläge zu konstituieren. Zweitens zeigen die folgenden Zitate einen weiteren Faktor auf, der dazu führt, dass einige der Befragten sehr empfänglich für diese Verschwörungstheorien sind: „Und dass zum Beispiel das World Trade Center mit Sprengstoff explodiert ist, und nicht mit den Flugzeugen, […] [das ist eine Tatsache]. Aber die Menschen glauben das, was sie glauben wollen. Und wenn das dann einfacher ist zu sagen, der Islam und die Ausländer sind schuld, dann ist das so. Man stellt sich ja wohl lieber gegen den Islam und gegen ein kleines Volk an Ausländern, als gegen Amerika.“ [Amal] „Also meiner Meinung nach, alles was am 11. September stattgefunden hat, war erfunden. Ich glaube nicht an diese, äh … Tatsachen. Wirklich. Weil es gibt diese Verschwörungstheorien. […] Also jeder weiß, dass das alles erfunden ist. Und […] was Islam betrifft: 11. September Islam hat ein schlechtes Image bekommen. Jeder, der einen Bart hat, egal ob er ein gutes Herz hat, wird irgendwie beurteilt. Man denkt, dass er irgendwie böse ist. Seit 11. September, egal wo man hingeht, wird [man] ein bisschen schlecht angesehen. Nicht wie früher.“ [Amghar]
Das Misstrauen, die Anschuldigungen und die Rechtfertigungsforderungen, mit denen sich als Muslime identifizierte Personen in Deutschland aktuell auseinandersetzen müssen, werden von Amal und Amghar als Spätfolge des 11. Septembers bzw. der offiziellen Deutung dieses Ereignissen als islamistisch motivierter Anschlag interpretiert. Wenn jedoch unter Annahme der abweichenden heterodoxen Ereignisinterpretation der Verschwörungstheoretiker für dieses Attentat nicht Muslime, sondern die US-Geheimdienste verantwortlich sind, so können meine Interviewpartner/-innen (indirekt) auch die negativen Interpellationen, mit denen sie seitdem konfrontiert werden, als ungerechtfertigt zurückweisen. Die Verschwörungstheorien zum 11. September stellen für sie somit eine der stärksten Möglichkeiten dar, die Anrufungen durch ein negatives Islambild auf Distanz zu ihrem Selbst-Verständnis zu halten: Wenn die Tat nicht von Muslimen, sondern den ‚Anderen‘ begangen wurde, gibt es für sie endgültig keinen guten Grund mehr, sich für ihre Religion bzw. für die damit assoziierten Gewalttaten rechtfertigen zu müssen.
74 Nachdem am 11. September 2001 die erste Überraschung und der Schock über die auf allen TV-Kanälen laufenden Live-Bilder verwunden war, lautete der erste Kommentar meines Vaters: „…und morgen marschieren die Amerikaner in Afghanistan ein…“. Obwohl die Kriegsvorbereitungen doch etwas länger dauerten, war also für einen regelmäßigen Zeitungsleser mit politischen Interesse sofort klar, wo die Schuldigen für diesen Anschlag gesucht werden würden.
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Frauen und Islam In Bezug auf den Themenkomplex ‚Frauen und Islam‘ und die darin äquivalent gesetzten Signifikanten ‚Kopftuch‘, ‚Zwang‘ und ‚Gewalt‘ besteht der machtvollste Widerspruch sicherlich in der Gesamtheit der Positionierungen meiner weiblichen Interviewpartnerinnen. Die Frauen, die sich auf diese Art des narrativen Interviews eingelassen haben, präsentierten sich als sehr selbstbewusst und selbstbestimmt. Ihre Lebensgeschichten (vgl. u.a. Hasna und Ketou) zeugen von starken Persönlichkeiten, die auch vielen Widrigkeiten und Problemen zum Trotz ihren eigenen Weg gehen. Selbst eine Frau wie Heba, die durch die Interviewsituation insgesamt etwas eingeschüchtert wirkte, positionierte sich in Bezug auf die öffentliche Kopftuchdebatte sehr kraftvoll und entschlossen. Drüber hinaus finden sich in den Interviews sowohl mit Männern als auch mit Frauen explizite Bezugnahmen auf die Debatten zum Thema Frauen(rechte). Gemeinsames Kennzeichen ist die Zurückweisung der hegemonialen Images. Unterschiede ergeben sich jedoch in den Akzentuierungen. Der in Bonn aufgewachsene Taufik beispielsweise hinterfragt das Topos von Zwang und Unterdrückung, indem er das Bild einer freiheitlich organisierten deutschen Gesellschaft dagegen setzt. Diejenigen, die an diesem Ort zu dieser Zeit sozialisiert werden, haben für ihn diese freiheitliche Grundordnung soweit inkorporiert, dass sie sich nicht (mehr) fremdbestimmen lassen: „Wenn ich jetzt HÖRE, zum Beispiel in der Presse oder in den Medien (lacht, leichtes Schnauben), dass die Frauen gezwungen werden, Kopftücher zu tragen. Oder zwangsverheiratet werden. Ist für mich immer total lustig. Also wir leben im Jahr 2010! Die Jugendlichen, jungen Damen oder wie auch immer: Ich glaub nicht, dass die sich hier in Deutschland [zu etwas zwingen lassen]. Wenn Sie mir jetzt sagen, irgendwo in einem Dorf in Marokko oder so. Dann würd ich vielleicht noch überlegen: Ist das vielleicht so? Muss ich da [was gegen tun]? Aber in Deutschland! Lässt sich wirklich HIER, die Jugend, die HIER aufgewachsen ist, ein Kopftuch [aufzwingen]? Ich glaub‘s nicht! Und auch die Eltern wissen ganz genau: Wenn sie morgen beim Jugendamt ist oder beim Schulleiter, dann is vorbei. Das Kopftuch is weg! So.“ [Taufik]
Meine in Deutschland geborenen und sozialisierten Interviewpartnerinnen würden Taufik insofern zustimmen, als sie sich selbst und ihre Entscheidungen hinsichtlich von Freundschaften, Eheschließungen oder religiöser Praxis ausschließlich als Resultat ihres ‚freien‘ Willen und ihrer selbstständigen Entscheidung ansehen. Der in die hegemonialen Diskurse eingeschriebenen pauschalen Disqualifizierung: „Ja, alle Frauen die ‘nen Kopftuch tragen wurden gezwungen, haben keine Schulbildung, können kein Deutsch, können nichts. Können weder lesen noch schreiben und alle Kinder von denen werden geschlagen, alle Frauen werden geschlagen“ [Faiza], treten sie entschieden entgegen. Einige von ihnen sind allerdings aufgrund ihrer Biographie stärker dafür sensibilisiert, dass auch ein pauschaler Umkehrschluss wie der von Taufik nicht haltbar ist. Sie haben erfahren, dass es durchaus auch Mädchen und Frauen gibt, die sich zumindest in ihrer Kindheit und Jugend den traditionellen Vorstellungen und den internen Machtstrukturen innerhalb der Familie beugen:
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„Also bei uns, also bei den Marokkanern ist das wirklich nix gezwungenes! Meistens ist das sogar so, dass ein Mädchen kommt mit vierzehn und sagt: ‚Ich will jetzt schon Kopftuch tragen‘ und die Mutter sagt: ‚Ne, ne, ne! Noch nicht! Du bist noch nicht so weit!‘ Weil sie im Kopf noch gar nicht reif genug dafür ist. Wiederum andres ist das, ich kenn das von meiner Freundin, die ist Türkin. Da gibt es welche die sagen: ‚Ja, du trägst das‘. Ich hatte in meiner Klasse in der Realschule viele Mädchen, die ein Kopftuch getragen haben. Und als wir uns nach weiß ich nicht wie vielen Jahren wieder getroffen haben, haben die das nicht mehr getragen! Die waren von zu Hause raus, haben wahrscheinlich geheiratet, wie auch immer, aber haben dann das Kopftuch entfernt. Weil sie die ganze Zeit dazu praktisch gezwungen wurden, ne? Eine von denen trägt es jetzt wieder, aber halt eben freiwillig. Die sagt auch selbst: ‚Ja das ist was anderes. Weil vorher hat mein Vater gesagt: ‚Ja du musst das tragen.‘ obwohl ich das nicht wollte und jetzt will ich es halt selbst.‘“ [Rihane]
Ein solches Bewusstsein dafür, dass die medial fokussierten und konstruierten Problematiken im Kontext „Frauen und Islam“ nicht einfach pauschal negiert und zurückgewiesen werden können, erschwert eine gegenläufige Argumentation. Eine ‚Lösung‘ dieses Problems ist die Einführung neuer sozial konstruierter Gruppen in die Diskussion: Rihane setzt ihre eigenen Erfahrungen mit der der marokkanischen Community gleich und grenzt sich so von dem ab, was ehrfahrungsgemäß von anderen muslimischen Gruppen praktiziert wird. 75 Eine zweite Argumentationsstrategie besteht darin, in Abgrenzung von den Mediendebatten, wo der Einzelfall für die Gesamtheit gesetzt wird, die Singularität der Vorkommnisse zu betonen. Dies z.B. wenn Faiza von einzelnen „schwarzen Schafen“ spricht, die sich ohne eigene Überzeugung auf eine arrangierte Ehe einlassen. Ausgehend von Einzelfällen deren Faktizität nicht bestritten wird, wird drittens auch kritisch gefragt, in welche Erklärungsframe eine solche Handlung eingebunden wird und inwieweit diese angebracht sind: „Manchmal hört man ja: ‚Ali hat sein Freundin getötet. Ehrenmord. Keine Ahnung.‘ Warum das? Hat [es] ein Thomas oder ein Christoph gemacht, [sagt man]: ‚Ah, er war so verliebt in diese ganz hübsche Frau. Und dann war er so eifersüchtig und deshalb hat er sie getötet.‘ – Ich mein, beides ist die gleiche Kriminalität, ist der gleiche Mord. Aber dann wird das [eine] mehr islamisch [interpretiert]. Und das andere wird einfach als ganz normal [dargestellt]. Und das ist eigentlich beides zu verachten. Beides ist schlimm. Und man darf das wirklich nicht mehr so machen. Wirklich, das Gewicht in den Medien find ich, was das angeht, schlecht.“ [Manar, Ärztin, Bonn]
Wie komplex eine solche Argumentation werden kann, mit der versucht wird, hegemoniale Diskurse zu irritieren, zeigt sich bei Taufik. In Bezug auf den oben angesprochenen ‚Ehrenmord-Vorwurf‘ verknüpft er das Einzelfall-Topos mit einer kritischen Hinterfragung des religiösen „Frames“ der Tat einerseits sowie einer genuin
75 Zu den auch in marokkanischen Familien in Deutschland wirksam werdenden innerfamiliären Aushandlungsprozessen und der Bedeutung unterschiedlicher Erziehungsstrategien vgl. Hajji (2009).
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religiösen Argumentation, d.h. einem Bezug auf den ‚eigentlichen‘, den ‚wahren‘ Islam andererseits: „Genauso, wenn ich höre, EHRENMORD. Gut, ein deutscher Mann bringt seine Frau um. Ham wir doch auch. Dann lesen wir, ganz interessant dann, ‚Familiendrama‘. Wenn ein Mann seine Frau [umbringt], ich sag mal: ‚Leider Gottes. Schlimm!‘ Aber wie das DARGESTELLT wird! Ehrenmord gibt’s nicht im Islam. Zeigen Sie mir Ehrenmord im Koran, dann können wir drüber diskutieren. Aber es steht nirgendwo. Ein Mord kann kein Ehrenmord sein! Im Gegenteil. Sie finden Aussagen im Koran ‚Wer eine Menschenseele tötet, ist wenn er die ganze Menschenseele getötet hat, und wer eine Menschenseele RETTET, ist so, als wenn er die ganzen Menschenseelen gerettet hat‘. Von daher kann ich mich mit diesen Aussagen nicht identifizieren. Sicherlich gibt’s da Geschichten. Äh, wie viel Menschen leben in Deutschland? 40 Millionen?“ MD: 80 T: „Und viereinhalb Millionen Muslime. […] Gut, das kann sein, dass es vielleicht vier Spinner gibt, deutschlandweit, die der Schwester etwas Schlimmes antun, oder so. (sehr leise) Aber ob das was mit der Religion zu tun hat, das mag ich bezweifeln.“ [Taufik]
Mithilfe seiner Argumentation kann Taufik die an ihn herangetragene Anrufung als potenzieller Gewalttäter effektiv zurückweisen: Gestützt auf die Autorität des Korans als unmittelbare und unhinterfragte Grundlage seines Glaubens kann er seine Religion – und folglich auch sich selbst – erfolgreich von diesem Vorwurf dissoziieren. Mit den einzelnen ‚Spinnern‘, die so etwas tun, braucht er sich nicht zu identifizieren. Die Frage, ob und welche kulturell geprägten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata sich in solchen kriminellen Akten ggf. (auch) niederschlagen, steht aus dieser Perspektive dann nicht mehr zur Debatte. Auch mit der im Jahr 2010 unter neuen Vorzeichen aktualisierten Kopftuchdebatte setzten sich viele meiner Interviewpartner/-innen auseinander. Dabei waren sie sich im Großen und Ganzen sehr einig: Ein Verbot der Vollverschleierung (Gesichtsschleier), wie es in Frankreich und Belgien im März und September 2009 erlassen wurde, erschien vielen verständlich und akzeptabel.76 Akzeptabel, da sie hierfür keine religiöse Notwendigkeit sehen. Verständlich, da sie dem sicherheitspolitischen Postulat zustimmen, wonach ein Individuum in der Öffentlichkeit jederzeit erkennbar sein sollte (s.u. Zitat Heba). Während jedoch die politischen Maßnahmen weitgehend gebilligt werden, wird die mediale Inszenierung der Debatte sehr kritisch hinterfragt: „Also man muss ja Kopftuch nicht mögen, aber jedem steht das frei, ne? Ok, Burka ist natürlich verboten. Ist ja gegen das Anti-Vermummungsgesetz, ne? Man muss sich ja schon erkennen. DAS finde ich verständlich. Aber es gibt halt vielleicht vier, fünf Burka-Trägerinnen. Dieses Theater! Ne? Die kann man anhalten, womöglich einen Strafzettel schreiben und gut ist es.
76 Entgegen der Wahrnehmungen meiner Interviewpartner/-innen ist ein solches Verbot in Deutschland nur diskutiert, nicht jedoch erlassen worden. Das „Vermummungsverbot“ (Mimun), ist juristisch auf die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen (§17a VersG) beschränkt. An einer Schule in Bonn wurden jedoch 2006 zwei Schülerinnen mit Niqab vom Unterricht ausgeschlossen (pädagogische Maßnahme, vom Zentralrat der Muslime in Deutschland gebilligt).
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Aber daraus ein Theater zu machen (lacht kurz auf): Als ob die alle hier mit Burka rumlaufen.“ [Mimun, 33, Köln,]
Auch die Heiratsmigrantin Heba argumentiert sehr vehement gegen das Tragen eines Gesichtsschleiers. Im Gegenzug reklamiert sie jedoch das Recht auf eine individuelle Entscheidung für oder gegen ein Kopftuch: „Wie zum Beispiel jetzt wegen Niqab (Gesichtsschleier): Zudecken verboten. Ich gebe zu Recht die Deutsche. Ich bin nicht gegen Islam. Ich bin selbst Moslem. Die haben trotzdem Recht. [Man weiß nicht: wer ist darunter?] Mann oder Frau? Kann was Schlimmes passieren. Kann eine Bombe in City machen. Man weiß gar nichts. Hallo? OK, unsere Islam sagt das. Und sagt, das muss nicht. Das muss die Frau machen wann sehr, sehr, sehr, hübsch. So. Mach das in dein Heimat bitte. Du bist hier in Deutschland. Vergiss mal nicht, wir leben hier, nicht die Deutschen leben bei uns. Wir müssen laufen auf die Gesetze von Deutschland, nicht die Deutschen laufen auf unsere Gesetz. Ja, Wahrheit ist so. Aber viele Leute, die wollen das nicht verstehen. Nur Kopftuch: Sorry. Ich respektiere deine Religion. Ich sage nicht, dein Religion ist nicht gut. Ich muss Respekt dir geben, gibst du mir Respekt. Zum Beispiel, wenn einer sagt, „Du musst das auch [ablegen]“. Das mache ich nicht. Lieber gehe ich in mein Heimat. Tue ich nicht ab. Ne! Das, nie! Ich habe das gemacht. Nicht mein Mann hat mir das gesagt oder jemand anders. Ich habe viel gelesen. Ja, okay das anders Geschichte. […] Aber diese Niqab, das gebe ich viel Recht nicht nur Deutschland, ganze Europa. […] Vielleicht anders Muslime, wenn die mich hören, die schreien mich. Egal, ich sage die Wahrheit, egal ob die mich schreien.“ [Heba, 45, Aachen, geb. in Marokko]
In dieser (sehr komplexen und auch widersprüchlichen) Argumentation zeigt sich erneut die Bedeutung einer spezifischen translokalen Positionierung: Wie Habiba begründet auch Heba ihre Haltung zur religiösen Praxis des Niqab mit ihrem Gaststatus in Deutschland. Während ihr die meisten in Deutschland aufgewachsenen Frauen und Männer der Intention nach voll und ganz zustimmen würden, würden sie der von Heba eingenommenen Selbst-Identifizierung als Gast in Deutschland vehement widersprechen: Wo Heba „die Deutschen“ mit „unseren Gesetzen“ kontrastiert, vergleicht der in Deutschland aufgewachsene Mimun Religionspolitik in Kanada, Spanien und Deutschland und stellt fest, dass „nur wir hier“ ein derartiges Problem mit dem Kopftuch haben. Die „Heimat“, in die Heba ihrer Vorstellung nach zurückkehren kann, existiert für die „Postmigranten“ (Foroutan 2010) nicht (mehr). Integration – eine Frage der Religion? Die „Sarrazindebatte“ Angesichts der hohen medialen Präsenz der in Kap. 3.2 skizzierten Debatten rund um Demographie, Zuwanderung, Islam und Integration in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 kann es kaum verwundern, dass diese Themen auch in den von mir geführten Interviews sehr regelmäßig angesprochen wurden. Obwohl ich selbst in allen Gesprächen den Begriff der ‚Integration‘ vermieden habe, wirkte die Anrufung durch den deutschen „Integrationsimperativ“ (Mecheril 2011, 50) so stark, dass sich fast alle meiner Gesprächspartner/-innen von sich aus zu diesem Thema äußerten. Besonders deutlich wurde dies in dem Interview mit dem in Bonn aufgewachsenen Ge-
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schäftsinhaber Taufik. Gleich im Anschluss an seine Einstiegserzählung, noch auf meine erste Frage hin, positioniert er sich in diesen Kontext: „Die letzten zehn Jahre hört man sehr viel Negatives über Türken, Marokkaner, Ausländer, Muslime, Integration: Sind Sie integriert? Sind Sie nicht integriert? Und so weiter und so fort. Also ich, wir haben gar keine Probleme damit. Wir fühlen uns hier [integriert]. Ich frage mich: ‚Von wem spricht man?‘ Meine Eltern sind schon verstorben. Und was wollen sie an mir integrieren? Ich bin hier praktisch aufgewachsen, hab hier das Laufen gelernt. Ich spreche die Sprache dieses Landes, bin selbstständig, zahle meine Steuern. Von daher weiß ich nicht, wer da gemeint sein soll (lacht).“
Ebenso wie bei Taufik lässt sich auch in den Selbst-Identifizierungen der anderen Befragten ein gemeinsamer Tenor erkennen, der lautet: „Wir und unsere Familien sind integriert – uns betrifft diese Forderung nicht“. Während dabei jedoch die Studienmigranten vor allem ihre Vorbereitung auf den Aufenthalt in Deutschland sowie ihre mentale Offenheit als Voraussetzung für ihre Integration in den Vordergrund stellen, verweisen sowohl die älteren Arbeitsmigranten als auch die jüngeren, wie Taufik in Deutschland aufgewachsenen Personen, auf ihre langjährige Sozialisation ‚vor Ort‘, die für sie ihr ‚Integriert-Sein‘ begründet. Auch dem inzwischen in Deutschland etablierten „Minimalkonsens“ eines über Sprachkenntnisse, Bildungsabschluss und Berufstätigkeit definierten Integrationsbegriffes (=„nützliche Ausländer“ vgl. kritisch hierzu Friedrich 2011a, 23f.) können sich die meisten meiner Interviewpartner/-innen anschließen.77 Während Sprach- und Integrationskurse für Neuzuwanderer jedoch als notwendig und hilfreich eingestuft werden, wird die verpflichtende „nachholende“ (z.B. sprachliche) Integration von langjährig in Deutschland lebenden Personen kritisch gesehen: Nachträglich einzufordern, was die deutsche Zuwanderungspolitik über Jahre versäumt hat, erscheint vielen nicht unbedingt als sinnvoll. Für tatsächlich diskussionswürdig halten viele dagegen die Situation der in Deutschland aufwachsenden Kinder aus Migrantenfamilien. Auch wenn der Integrationsbegriff selbst als zu ambivalent und vage kritisiert wird, nehmen besonders die im Bereich der Sozialarbeit engagierten Personen durchaus Probleme wahr, die – wenn man so wollte – auch als Integrationsprobleme definiert werden könnten: „Integration ist eine sehr vage, allgemeine Sache. Die betrifft vor allem Leute, die hier geboren sind, aufgewachsen sind. Die haben Probleme die ich gar nicht kenne. Die kämpfen mit der SCHULE, mit dem System: Missverständnisse, Eltern, Schule, zu Hause, Arbeitsmarkt und so weiter. Das Ganze kenne ich nicht (lacht). Gott sei Dank. Kenne ich nicht.“ [Louay, Studienmigrant, Übersetzer, ehrenamtlich engagiert]
Die Studienmigranten Louay und Yakub stellten sich bei ihrer Ankunft in Deutschland die Frage, warum sie so wenige marokkostämmige Studenten an der Universität
77 Eine Ausnahme stellt Mimun dar, der diesen Konsens ganz im Sinne Sezers (2010) in Frage stellt und darauf beharrt, dass sein seit über 30 Jahren in Deutschland lebender Vater trotz dessen unvollkommenen Deutschkenntnissen als integriert anzusehen sei.
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in Bonn treffen. Warum schaffen es Personen, die aufgrund ihrer deutschen Sozialisation „perfekt Deutsch sprechen“ zu häufig nicht, sich beruflich zu etablieren oder einen gesellschaftlichen Aufstieg zu realisieren? Eine Antwort fanden sie zum einen in den in Deutschland vorherrschenden sozialen Strukturen. Yakub ruft die Diskriminierungspraktiken ins Gedächtnis, mit denen besonders Kopftuchträgerinnen rechnen müssen. Louay verweist auf eine „Gegenreaktion“, die er selbst bei denjenigen Jugendlichen wahrnimmt, „die ein Gymnasium besuchen und sich anstrengen“: „Wenn ich die frage: ‚Seid ihr zufrieden?‘ ‚Ne, nicht ganz. Wir sind immer noch am Rande der Gesellschaft‘ ‚Warum?‘ ‚Ja, wir werden immer noch betrachtet als etwas Fremde, als äh ja, als etwas Triviales sogar‘ – Und das ist irgendwie beängstigend.“
Eine etwas anders gelagerte Positionierung nimmt Ines ein, die in einer Schule im Bonner Norden als Sozialarbeiterin tätig ist. Selbst als Tochter eines Gastarbeiters ohne Schulbildung und einer Mutter mit marokkanischem Abitur großgeworden, nimmt sie in Bezug auf ihre ‚Landsleute‘ eine sehr offensiv-kritische Perspektive ein.78 Gleichzeitig jedoch verweist sie auf die Bedeutung von Bildungsunterschieden: „Auch diese Debatte über dieses Buch [von Sarrazin], ne? (lacht) Natürlich ist es sehr pauschal. Aber es gibt schon Sachen, wo ich weiß: Da ist auch ein bisschen was dran. Und das ist eigentlich traurig. Da müsste man gucken, dass man das verändert. Und das wär unsere Gesamtaufgabe. […] Dadurch, dass ich Einblick in beide Welten hab, seh ich auch, dass viele Ausländer oder jetzt in Bezug, gerade muslimische Familien, ne, das gar nicht wollen. Die wollen gar nichts mit Deutschstämmigen zu tun haben. […] Die werden ihre Gründe haben. Die bestimmt auch damit zu tun haben, dass sie Diskriminierung erlebt haben. Oder dass sie Angst haben, dass ihre Werte verloren gehen. Das gibt es auch. Und die werden mit ihren Kinder nicht in die Bücherei gehen oder ihnen ein Buch kaufen: Weil die einen anderen Bildungsstand haben, weil sie‘s nicht kennen. Weil es überhaupt nicht zu ihrem Habitus gehört.“
Obwohl, oder vielleicht gerade weil Ines in ihrer täglichen Arbeit mit Problemstellungen konfrontiert wird vor denen sie die Augen nicht verschließen kann, regte sie sich auch über die (Post-)Sarrazindebatte so auf, dass sie in dieser Zeit den „Fernseher häufig an und dann wieder aus gemacht hat“. Auf meine Frage nach dem „warum“ antwortet sie: „Ja weil, wie soll ich das formulieren? Manchmal kommt mir das alles sehr geheuchelt vor, ne? (holt Luft) Ähm, ich glaub jeder weiß, was es für Probleme gibt. Aber die Politiker reden sich einfach raus. Und das bin ich irgendwie satt! Ich muss auch ganz ehrlich sein, ich weiß auch schon gar nicht mehr, wen ich wählen soll, ne? Dann wird Stunden diskutiert. Und ein halbes Jahr später hat‘s sowieso jeder wieder vergessen. Und die Leute, die bleiben sich selbst über-
78 Die marokkanische Studentin, die für mich dieses Interview transkribierte, erzählte mir im Nachhinein, dass sie sich über Ines‘ Aussagen fürchterlich aufgeregt hatte, bevor sie im Laufe der weitern Forschung verstand, dass es die geschilderten Problemlagen tatsächlich gibt.
332 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT lassen. Und das ärgert mich. Es wird stundenlang diskutiert, aber ich merk nicht, dass sich was verändert. Oder wenig. Es gibt gute Ansätze. Zum Beispiel die Ganztagsschule: Das ist eine sinnvolle Sache. Weil mehr Fördermöglichkeiten für die Kinder geschaffen werden können. Sie sind mit anderen Kindern zusammen, sie können die Sprache besser lernen, ne? Gerade in Hinblick darauf, dass es numal auch Familien gibt, wo wirklich den ganzen Tag der Fernseher läuft. Aber das gibt’s auch bei Deutschen. Ich glaub das hat ganz viel mit Bildung [zu tun]. Weil eine arabische Familie mit hohem Bildungsniveau, Intellektuelle, die werden auch zur Musikschule gehen und so, ne? (lacht) MD: Ja (lacht) I: Und daran müsste eben gearbeitet werden! Weil es ist auch egal, wo man herkommt. Und dann regt mich das eben auf, wenn ich die Diskussion höre und dann denke ‚Mein Gott! Die haben überhaupt nix mitbekommen!‘ Ne?“
Anders als in den Stellungnahmen meiner Interviewteilnehmer/-innen zur Terrorismusdebatte, wo es ihnen primär um eine Widerlegung der hegemonialen Images geht, setzen sie sich im Kontext der Integrationsdebatten sehr viel stärker auch mit den dahinterliegenden Politiken und Gesetzgebungen auseinander. Die unter dem Motto „Fordern und Fördern“ (CDU 2009) stehende Integrationspolitik der Bundesregierung wird allgemein akzeptiert. Sehr deutlich kritisiert werden dagegen die an der Gesetzgebung beteiligten Politiker/-innen dafür, dass sie in ihren medienwirksamen Statements „Negativnarrative über die ‚verweigerte‘, ‚misslungene‘, die ‚verpasste‘ oder gar die ‚unmögliche‘ Integration“ (Mecheril 2011, 50) in den Vordergrund stellen. Wie Ines finden es auch viele andere nicht nachvollziehbar, dass die Bringschuld der ‚Integration‘ als einseitige Forderung an die Zuwanderer gerichtet, während die propagierten Fördermaßnahmen sehr spät und zögernd initiiert wurden und auch aktuell unterfinanziert bleiben.79 Auch der populistische Grundtenor, der den Medienauftritten von Mitgliedern der Regierungsparteien im Herbst 2010 zugrunde liegt, entgeht meinen Interviewpartner/-innen nicht. Nachdem mir z.B. die ehemalige Fabrikarbeiterin Habiba erklärt hatte, dass das Attentat auf den dänischen Autor der Muhammad-Karikaturen „dumm und falsch“ gewesen sei, regte sie sich im Anschluss aber auch darüber auf, dass dieser von Angela Merkel einen Preis erhalten hat: „Das muss Merkel nicht machen. Die hat gemacht bei Muslim, Araber, ...wie bekloppt jetzt!“ MD: „Haben sich viele drüber aufgeregt?“ H: „Aufgeregt. Warum die wollten jetzt Bombe in Berlin? Wenn die Sachen sagen… Warum? […] Und danach, die wollte nix sagen Ausländer raus. Aber hat ein anderes Wort gesagt. Weil die hat Angst wenn die will sagen ‚Deutschland raus! Ausländer raus!‘ Ähm… „ma br¡tschi tig¹l al-aj¡nib jachruju min al balad“ [MD: sie wollte nicht sagen: die Ausländer sollen raus aus dem Land] ‚¾atat t¾abir achur. ¾atat t¾abir achur‘. [MD: 2x: Sie hat einen anderen Ausdruck verwendet]. Sofort. Aber wir haben sofort verstanden!“ [Habiba, 8.11.10]
79 Vgl. hierzu exemplarisch Bertelsmann Stiftung (2011b, 9); Schenk (6.12.2012) oder Entschließungsantrag der Linksfraktion zum Haushalt (2011): http://dip21.bundestag.de/ dip21/btd/17/039/1703902.pdf (11.02.2013).
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Der „andere Ausdruck“ auf den Habiba sich an dieser Stelle bezieht, war Merkels These: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ (Spiegel online 16.10.2010) mit der sie sich in Bezug auf die in Kap. 3.2 vorgestellte SarrazinWulff-Seehofer-Integrations-Debatte positioniert hatte. Dass Habiba an dieser Stelle in den marokkanischen Dialekt fällt, obwohl sie sich vorher und nachher tapfer in ihrem „Lindt-Deutsch“ durch das Interview gekämpft hat, deutet an, wie sehr sie sich in diesem Moment aufregt und wie wichtig es ihr ist, mir klarzumachen, was ‚hinter‘ den Worten von Frau Merkel steckt. Mit der in diesem Kontext erneut aufgekommen „Leitkultur-Debatte“ und dem Versuch, Deutschland als „jüdisch-christliche“ Entität zu definieren (vgl. Kap. 3.2), setzt sich auch der in in Nordmarokko aufgewachsene Mimun auseinander. Allerdings kommt er über Umwege auf die deutschen Debatten zu sprechen. Eigentlich unterhalten wir uns über berbersprachige Medienangebote. In diesem Kontext gibt er zu bedenken: „Also hier in Deutschland: ‚Marokko ein arabisches Land‘. Dämlicher könnte ne Aussage gar nicht mehr sein, ne? Dem ist nicht so. Gehört zum arabischen Kulturkreis. Wie man sagen würde Deutschland gehört zum jüdisch-christlichen Blablabla. Kennen Sie ja das Wort jüdischchristlich?! Besinnt man sich! Also die Juden hat man dreizehn Jahrhunderte lang verfolgt und auf einmal soll (lacht) ‚jüdisch-christliche Tradition‘. Also das ist schon ein wenig… ja: Veräpplerei.“ MD: „Hm, ja. Die Debatten sind seltsam.“ Mi: „Also dieses Wortspiel: Jüdischchristliche Kultur. Worin bestand die? Pogrome, also die Judenverfolgung, gab es nicht erst seit 1938. Die waren im Mittelalter, in der Neuzeit, schon immer. Früher religiös bedingt und dann später auch rassistisch, ne?“
Mimun, dem eine jüdische Hausaufgabenhilfe den Weg zum deutschen Abitur geebnet hat und der den bExodusq des jüdischen Geschäftspartners seines Großvaters aus Marokko mit den Worten kommentiert: dDer Wunsch eines jeden frommen Juden ist halt unter den Palmen des Jordans begraben zu werden, ne?s, lässt sich in Bezug auf die europäisch-jüdische Geschichte nichts vormachen. Aus seiner spezifischen translokalen Positionierung heraus geling es ihm, das Konstrukt einer jüdisch-christlichen Geschichte erfolgreich zu hinterfragen. Gleichzeitig jedoch benutzt er das für Deutschland hinterfragte Konzept des ‚Kulturkreises‘ in Bezug auf Marokko als Teil eines „arabischen Kulturkreises“ vergleichsweise unkritisch. Obwohl er den Kulturkreis als transnationalen und räumlich unscharf gefassten Begriff benutzt, um einer nationale Imagination in Bezug auf Marokko zu widersprechen, zitiert er so gleichzeitig die ‚Raum-Kultur-Kategorie‘ die auch Seehofers Anti-ZuwanderungsStatements zugrunde lag. Hier zeigt sich also bereits, wie schwierig es ist, jenseits der diskursiv vorgeprägten Begriffe und Konzepte zu denken oder argumentieren. Dies wird noch deutlicher, als ich Mimun im Anschluss konkret danach frage wie er denn die aktuellen Mediendebatten wahrnimmt. Er fährt fort: „Es wird viel geheuchelt. Gerade auf der konservativen Seite. Wenn man sagt: Unsere jüdischchristliche Kultur, die wir verteidigen müssen vor irgendetwas. Das ist für mich als ob man das Pferd von hinten zäumt. Weil das Problem liegt nicht dort. Es gibt schon – wie heißt das – Extremismus, islamistisch. Aber die sind VERSCHWINDEND gering. Die Minderheit. Also unter einem, unter 0,5 Prozent. Und die als Maßstab zu nehmen, für die ganzen 99,99%. Ja, alle über
334 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT den Kamm zu scheren, das ist schon typisch. […] Also diese Integrationsdebatte geht völlig am wirklichen Leben vorbei. Wie gesagt, 99,9% der muslimischen Migranten: Das einzige was sie wollen ist arbeiten, Geld verdienen, ein bisschen bilden und das wars auch.“ [Herv. MD]
Obwohl Mimun in diesem Abschnitt versucht die Konstitution Deutschlands als exklusiv ‚jüdisch-christlich‘ kritisch zu hinterfragen, führt dies dazu, dass er – quasi automatisch – auch auf den ‚islamistischen Extremismus‘ als das diskursiv konstituierte ‚Andere‘ zu sprechen kommt. Von diesem wiederum springt er zur Sarrazindebatte, die sich zentral an den als muslimisch konnotierten Zuwanderern in Deutschland abarbeitet. Diese soziale Gruppe versucht er mit Hilfe des Minderheitentopos (s.o.) vom Vorwurf des Extremismus‘ freizusprechen. Indem Mimun jedoch versucht, sich gegen die hegemoniale Diskursformation zum Islam zu stellen, ruft er somit genau dieselbe Begriffskette [Islam-Terrorismus-Zuwanderer-Integration] wieder auf, durch die diese geprägt ist. Ebenso oft also, wie versucht wird das Bild ‚des Islams‘ und ‚der Muslime‘ in Deutschland zu korrigieren (so wird an anderen Stellen vehement gegen die Gleichsetzung von Migranten mit muslimischen Migranten argumentiert, die Mimun hier unkommentiert aufruft), ‚schleichen‘ sich an anderen Stellen die Artikulationen und Äquivalentsetzungen wieder in die Argumentationen ein und werden re-aktiviert. Eine Korrektur des Islambildes durch eine „Verschiebung“ des Diskurses oder DesArtikulation der Äquivalentsetzungen scheint somit im Kontext der Interviews nur sehr begrenzt bzw. temporär möglich zu sein. 6.5.3. Das Islambild im Alltag Was passiert jedoch, wenn meine Interviewpartner in ihrem Alltagsleben dem eingangs angesprochenen „Hans-Peter“ oder „Lieschen Müller“ begegnen, die aufgrund ihrer möglicherweise wenig kritischen Medienrezeption das Bild des arabischmuslimischen Fundamentalisten „in den Kopp gehämmert“ bekommen haben? Beeinflussen solche Bilder und Kategorisierungen das, was in diesen Situationen gesagt oder getan wird? Was bedeutet das für die derart angerufenen Personen und ihr Selbst-Verständnis? Und inwiefern lassen sich vorgefasste Meinungen und/ oder im Islambild artikulierte Assoziationen in solchen Momenten eventuell irritieren oder aufbrechen? Um diesen Fragestellungen nachzugehen, wird im Folgenden zunächst erörtert wann und warum Personen als als ‚Muslim/-a‘ angerufen werden. Im Anschluss werde ich den Begriff des „nigger moment“ einführen, mit dessen Hilfe eine Antwort auf die Frage gesucht werden kann, wie und warum sich die in bestimmten Situationen aufgerufenen sozialen Kategorisierungen auf das Selbst-Verständnis von Subjekten auswirken und somit auch die Interpretation von späteren Erlebnissen verändern. Zuletzt geht es um die Frage, ob die von Butler theoretisch eröffnete Möglichkeit der „subversiven Resignifikation“ von beleidigenden Begriffen und Anrufungen eventuell auch von meinen Gesprächspartner/-innen gesehen und genutzt wird. Kategorisiert und angerufen werden Der von mir befragte marokkanisch-deutsche Gemüsehändler verkaufte „Lieschen Müller“ gerade Trauben und verriet ihr dabei seinen persönlichen Geheimtipp für ei-
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ne Kfz-Werkstatt, als ich seinen Laden in Aachen betrat. Auch im Interview konnte oder wollte er von keinen außergewöhnlichen Vorkommnissen berichten. Die vorstehen Einzelfallanalysen haben jedoch bereits gezeigt, dass andere meiner Interviewpartner/-innen sich sehr wohl an verschiedene Situationen erinnern, in denen sie mit auch medieninduzierten Vorannahmen und Vorurteilen in Bezug auf ihre Religionsangehörigkeit konfrontiert wurden. Damit die Kategorie ‚Muslim‘ in alltäglichen sozialen Interaktionen jedoch wirksam werden kann, müssen die entsprechenden Personen als solche identifizierbar sein. Eine solche Fremdidentifizierung als Muslim erfolgt über dezidiert als religiös definierte visuelle ‚Marker‘ wie die Kopfbedeckung bei Frauen oder das Tragen eines Vollbartes bei Männern. Aber auch diejenigen, die diese ‚Marker‘ nicht aufweisen bzw. bewusst darauf verzichten, sind von einer direkten oder indirekten Anrufung als Muslime nicht ausgenommen. Die Ko-Konstitution der beiden sozialen Kategorien ‚Zuwanderer‘ und ‚Muslim‘, die sich in den seit der Jahrtausendwende in Deutschland etabliert hat, sorgt dafür, dass alle, die „einen bestimmten Teint“, „eine typische Nase“ oder einen „einschlägigen Namen“ haben (Sezgin 2010, zitiert nach Spielhaus 2011, 135), mit einer solchen Fremdidentifizierung und Anrufung rechnen müssen.80 Während also eine eindeutig als ‚arabisch‘ oder ‚türkisch‘ eingeordnete Physiognomie einer Fremd-Kategorisierung als Muslim Vorschub leistet, berichtet z.B. Amghar (der sehr dunkel ist) davon, dass er nie auf seine Religion angesprochen wird, da er sowohl vom Aussehen als auch der Herkunft nach „hybrid“ und ambivalent wirkt und daher vorschnelle Kategorisierungen irritiert und erschwert: A: „Also bei mir: Ich bin irgendwie nicht weiß und nicht dunkel. Man weiß nicht, ob ich Muslim bin, oder…?“ L: „Oder nicht.“ Maike: (lacht) „ja.“ A: „Deshalb habe ich das überhaupt nicht gemerkt. Und weil ich drei verschiedene Staatsangehörigkeiten habe weiß man auch nicht: Wer bin ich?“
Die meisten anderen jedoch können sich unabhängig von ihrer tatsächlichen Religiosität oder Religionspraxis der Anrufung als Muslim/-in nicht entziehen: „Selbstverständlich ist man betroffen. Ich kann nicht sagen ich bin [es nicht]. Ich gehöre zu dieser Gruppe, ob ich das will oder nicht. Ja, äußerlich oder nicht äußerlich. Weil alleine wenn ich mein Namen (lacht) erstmals ausspreche, dann: ‚Wo kommst du her?‘ Ist normal, ne? Ein Marokkaner ist meistens Moslem, und ein Moslem ist zurzeit … fraglich. Ja, und dann steht man zwischen allen Stühlen, ne? Früher hatte ich das Gefühl, ich muss mich jetzt nicht äußern und erklären wer ich bin. Aber jetzt hat man manchmal indirekt das Gefühl: ‚Hmm, und? Ja, du bist Muslim, und welcher? Welche Sorte? Die gefährliche, oder die harmlose? Gebildet oder dumm?‘“ [Louay]
80 Wie stark diese Ko-Konstitution wirksam ist, zeigte sich bei einem Workshop für Migrantenselbstorganisationen, an dem neben mir auch einige andere Personen teilnahmen, deren persönlicher Migrationshintergrund etwas länger als zwei Generationen zurücklag. Eine dieser Frauen, Kopftuchträgerin, stellte sich nicht ohne Bitterkeit in ihrer Stimme vor: „Ich heiße xyz. Ich bin 40. Mit 20 bin ich zum Islam konvertiert. Bis dahin war ich Deutsche, seitdem bin ich Ausländerin.“
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Was bedeutet dieser Umstand des „Identifiziert-Werdens“ für meine Interviewpartner/-innen? Und welche Auswirkungen hat dies auf ihre Biographien, ihre Selbst-Identifizierungen und ihr Selbst-Verständnis? Biographisch relevant werden zum einen Diskriminierungserfahrungen im engeren Sinne. Damit sind Situationen gemeint, in denen die Betroffenen aufgrund bestimmter Merkmale oder Gruppenzugehörigkeiten eine weniger günstige Behandlung erfahren haben oder erfahren würden, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation (EU Richtlinie 2000/43). Von dieser Art der Ungleichbehandlung, die in verringerten Chancen auf soziale Teilhabe und sozialen Aufstieg resultiert, berichten meine Gesprächspartner/-innen hauptsächlich in Bezug auf das aus religiösen Gründen getragene Kopftuch. Diesem wird sowohl im Rahmen von Bildungseinrichtungen als auch hinsichtlich des Wohnungs- und Arbeitsmarktes ein diskriminierungsauslösender Effekt attestiert. Zum anderen jedoch berichten viele der Befragten auch von anderen, eher alltäglichen Situationen, in denen sie mit dem deutschen Islambild sowie seinen negativen Konnotationen konfrontiert werden. Die in diesen Situationen erfolgenden Anrufungen lassen sich unterscheiden in direkt-verbale, indirekt-verbale und nonverbale Interaktionen. Von direkt-verbalen Anrufungen erzählen u.a. Raif oder Achraf, die das Gefühl haben von ihren Kunden und Kollegen mit kritischen Fragen und Vorwürfen zu ihrer Religion und deren Verhältnis zum Terrorismus geradezu „bombardiert“ zu werden. Dass die kopftuchtragenden Frauen bissigen Kommentaren und kritischen Fragen ausgesetzt sind, kann angesichts der extremen symbolischen Aufladung dieses Stoffstücks (vgl. Kap. 3) nicht wundern. Darüber hinaus werden sowohl die Einhaltung von Speisegeboten (Yakub – kein Schweinefleisch) als auch die Nicht-Einhaltung derselben Gebote (z.B. das „Feierabendbier“ von Hachem) zum Anlass von Vorwürfen und Diskussionen. Solche Kommentare und Diskussionen werden nicht nur von Kollegen oder Bekannten, sondern teilweise auch von völlig fremden Passanten oder Kneipenbesuchern angestoßen. Die zweite Art der Anrufung erfolgt indirekt. Diese Ereignisse entsprechen der von Althusser entworfenen Szene des Polizisten, der einen Passanten in der Straße nicht mit seinem oder ihrem Namen, sondern einem anonymen „He! Sie da!“ anspricht. Während bei einer direkter Ansprache wie den o.g. genannten Beispielen eine Positionierung des derart angerufenen schwer zu vermeiden ist, steht es bei dieser zweiten Art der Anrufung dem oder der Betroffenen offen, ob er oder sie darauf reagiert und sich tatsächlich umdreht bzw. auf die Anrufung antwortet. Von einer solchen Anrufung berichtete z.B. Karim, der bei einer Straßenbahnfahrt in Köln hörte, wie jemand hinter seinem Rücken „Schläfer, Schläfer“ rief. Obwohl er das Gefühl hatte, dass er gemeint war, reagierte er nicht darauf, sondern tat so, als hätte er nichts gehört. Faiza dagegen, die zufällig überhörte, wie zwei Frauen auf der Straße eine abfällige Bemerkung über ihre Kinder machten, die – vermeintlich – Kopftuch trugen, konnte sich eine verbale Reaktion auf diese indirekte Anrufung nicht verkneifen (vgl. Kap. 6.5.3). Drittens berichten einige der Befragten von Situationen, in denen es nicht um verbale Interpellationen geht, sondern um Gesten, Mimik und andere Praktiken, die als verletzend und zurückweisend wahrgenommen werden. Von einer solchen – für
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ihn sehr eindeutig zu interpretierenden Situation – erzählt z.B. Hakim, der im September 2001 bei einem großen Chemiekonzern beschäftigt ist: „Ich meine, wenn ich Moslem bin oder ich glaube an Gott, was haben Sie damit zu tun? Lassen Sie mich spinnen! Das ist meine Vorstellung (lacht). Oder mein Fantasie. Ich stör ja nicht. Aber [dann] kommt [jemand] und behandelt Sie so, als wären Sie ein Terrorist. Ich habe [hier in der Nähe] gearbeitet am 11. September als Aushilfe. Vier Monate. Da ist das passiert. Ich war im Labor oben. Ich stand allein. Wenn ich Nachtschicht hatte – da kam nie einer zu mir. Seit dem 11. September aber, (lacht) kamen die nach oben. Sagen, sie suchen irgendwas hier (lacht): Kugelschreiber oder so. Aber ich sag: Ich bin ja auch nicht dumm. Okay, ich hab ja nichts gesagt, aber die kontrollieren dann halt. Dann merkt man: Islam.“ [Hakim, 34, Köln; Herv. MD]
Die zeitliche Nähe zwischen dem 11. September als Diskursereignis und den daraufhin veränderten Handlungspraktiken lässt in diesem Fall Hakims Deutung der Situation als sehr plausibel erscheinen. Andere Situationen und Begegnungen sind jedoch schwieriger zu ‚lesen‘. Auch diffuse, unreflektierte und eher reflexartige Praktiken, wie das plötzliche Festklammern einer Handtasche oder das Verziehen der Gesichtszüge in (scheinbarer) Reaktion auf die Annäherung einer betroffenen Person werden inzwischen auf die neuetablierte soziale Kategorie des Muslimseins bezogen. So wirft die junge, zierliche und sehr offen wirkende Amina in ihren Ausführungen zum Islambild die folgende Frage auf: „Also, ich geh studieren, ich bin relativ engagiert. Ich unterstütze die Johanniter. Aber wenn ich auf der Straße bin, und ich setze mich neben eine ältere Frau, und ich merke, dass sie irgendwie Angst erfüllt ist oder so was, dann tut mir das weh. Also woher kommt das?“
Aminas Frage ist an dieser Stelle eher rhetorisch. Aus dem Kontext des zuvor und anschließend Gesagten wird sehr offensichtlich, dass sie diese Reaktion auf ihr Kopftuch bezieht. Dieses betrachtet sie als ihre einzige ‚Eigenschaft‘, die im Kontext eines medial etablierten Islambildes Furcht erwecken könnte. „Muslim moments“: Re-Definitionen des Selbst? Gemeinsam ist allen o.g. Erlebnissen, dass sie als ausgrenzend und erniedrigend empfunden werden. Sie werden als Situationen interpretiert, in denen durch Aufrufung einer bestimmten Kategorie symbolischer Herrschaft die derart Angerufenen als Subjekte in einem untergeordneten gesellschaftlichen Status konstituiert werden (vgl. Butler 2006, 36). Für diese Art von Situationen, in denen eine bestimmte Kategorie den Vorrang über alle anderen intersektionalen Positionierungen erhält, und somit als „Master Status“ (Hughes 1945) die Interpretation der sozialen Interaktionen in diesem Moment bestimmt, hat der US-amerikanische Soziologe Elijah Anderson (2011, 253) den Begriff des „nigger moment“ geprägt. Er bezeichnet damit einen häufig entwürdigenden und verletzenden Moment, in dem eine Person durch Sprechakte oder Handlungen auf ihre Hautfarbe und die damit vermeintlich einhergehende untergeordnete gesellschaftliche Stellung verwiesen wird. Eine solche Erfahrung macht nach Anderson fast jede/r Schwarze in den USA zumindest einmal in seinem oder ihrem Leben. Oft handelt sich hierbei um explizite Beleidigungen oder diskriminierenden Praktiken. Ein solcher Moment kann jedoch
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auch nicht intentional, z.B. aus einer Verwechslung oder einem Missverständnis entstehen. Aufgrund der automatischen Assoziierung von dunkler Hautfarbe mit niedrigem sozialem Status werden z.B. auch schwarze Angehörige der Mittelschicht oft mit einem Hausmeister oder einer Putzfrau verwechselt (Anderson 2011, 263). Genau hierüber empört sich auch die Unternehmensberaterin Yasmina, die in unserem Gespräch ironisch kommentierte: „Im Sommer brauche ich nichts Weißes tragen und mich in der Nähe der Toiletten aufhalten – das Geld bekomme ich immer“ (vgl. für ähnl. Beobachtung Gümüsay 2012). In solchen nicht intentionalen Momenten ist den „Tätern“ oft gar nicht bewusst, dass ihre Aussage oder ihre Handlung von ihrem Gegenüber als verletzend empfunden wird. Die Frau, der Amina in der Straßenbahn begegnet, nimmt vielleicht noch nicht einmal ihre eigene – unwillkürliche – Reaktion auf die Sitznachbarin wahr. Noch viel weniger ist ihr bewusst, dass sie diese damit verletzt. In den USA ist es nach Anderson (2011) das Topos des „iconic ghettos“, 81 das in solchen auch nicht intentionalen Momenten die „Skripte“ für die Handlungsmuster von Weißen gegenüber Schwarzen liefert. Analog hierzu kann man in Deutschland aktuell davon ausgehen, dass es die im ‚Islambild‘ verwobenen Äquivalenzketten sind (vgl. dort), die in bestimmten Situationen die Praktiken von Nicht-Muslimen gegenüber von als Muslimen identifizierten Personen anleiten. Diese können somit entsprechend als „muslim moments“ definiert werden. Kompliziert wird die Interpretation der in solchen Momenten stattfindenden Begegnungen jedoch durch die bereits angesprochene Ambivalenz solcher Situationen: Wie in Kap. 2.1 ausgeführt, wird jeder Mensch durch verschiedene intersektional wirksame Kategorisierungen angerufen und sozial positioniert. Dies bedeutet, dass eine bestimmte Situation zwar hinsichtlich eines bestimmten „master status“ interpretiert werden kann. In der gleichen Situation können aber auch alternative soziale Differenzkategorien wirksam werden und/oder für relevant gehalten werden (vgl. hierzu Diskussion „Gefahrenlage“ in Bad Godesberg Kap 5.1.3). Diese Ambivalenz zeigt sich beispielhaft in dem folgenden Zitat. Der derzeit als Busfahrer arbeitende Hakim spricht gerade über seine Wahrnehmung des deutschen Islambildes. Dabei erinnert er sich an ein unangenehmes Erlebnis: „Die haben jetzt ein anderes Bild vom Islam gegeben. Aber wenn mich Menschen wirklich kennen, jetzt Deutsche oder so, dann mögen die mich auch automatisch. […] Aber wenn ich in der Bahn sitze und einer guckt mich blöd an oder so: Das interessiert mich nicht. Ist egal, was die sagen. Wichtig für mich ist, der kommt mir nicht nach, der fasst mich nicht an. Einmal war das so: Ich stand an der Endstation. Ich hab den Bus da hingestellt und bin dann erst rausgegangen. Da kam einer, der spuckt vor meinen Fuß. Vor meinen Fuß. Wirklich, ich habe mich so beherrscht! Ich habe gesagt: ‚Naja. Ist egal.‘ Ich habe mich umgedreht. Und dann hat der nur geschimpft und so. Aber nicht wegen mir: Der dachte ich wäre von den Kontrolleu-
81 Hierunter versteht Anderson die automatische, assoziativ erfolgende Äquivalentsetzung aller Schwarzen (bes. junger schwarzer Männer) mit ‚der‘ armen und gefährlichen in den innerstädtischen ‚Problemgebieten‘ lebenden schwarzen Unterschicht (2011, 98f., 254f.).
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ren, weil ich stand vor dem Bus. Und die hatten ihn rausgeschmissen und Polizei geholt und so. Und als der zu mir kam und fragt, wo die sind – da habe ich es verstanden: Der hat mich verwechselt! Aber auf der anderen Seite, ich hätte auch anders reagieren können, ne? Warum spuckt der mich dann an? Aber ich als Fahrer, ich muss ruhig sein. Gerade in Deutschland. Es könnte sein, dass ich ihn [zurück]schiebe. Dann ist da die Kamera: ‚Ok, du hast den berührt, hier hast du Beweise‘. Dann kommt wieder: Ausländer sind aggressiv. Ne?“ [Hakim, 34, Köln]
Obwohl Hakim die Passage als Teil seiner Ausführungen zum Islambild erzählt, interpretiert er die beleidigende Praxis des Fahrgastes nicht – wie er es durchaus auch könnte – als einen Affront auf seinen Status als ‚Muslim‘ hin, sondern erkennt darin ein individuelles Problem und benennt auch das diesem zugrunde liegende Missverständnis. Gleichzeitig begründet er jedoch sein eigenes Handeln in dieser Situation mit seiner Zugehörigkeit zu der sozial konstruierten Kategorie ‚Ausländer‘: Will er die von ihm wahrgenommenen Klischees der Gewalttätigkeit von Ausländern im Allgemeinen nicht bestätigen, muss er sich sehr bewusst zurückhalten und seine Emotionen unter Kontrolle bringen. In einer spezifischen Situation, in der eklatant gegen die Norm eines zivilisierten Umgangs zwischen Fremden verstoßen wird, steht es den betroffenen Personen also zunächst offen, ob und in welcher Art und Weise sie reagieren: Sie können sich provozieren lassen oder sich bewusst zurückhalten und die Aggression von sich abprallen lassen. Zum anderen können sie – sowohl in der Situation selbst als auch in der anschließenden Reflexion über diese Erfahrung82 – unterschiedliche, in diesem Moment vermeintlich wirksam werdende soziale Kategorisierungen identifizieren oder aber nach einer „universalistischen“, auf den Einzelfall bezogenen Erklärung suchen, wie es Hakim in seiner Erzählung tut. Wie eine Situation in einem bestimmten Fall konkret interpretiert wird, d.h. ob eine solche Begegnung als Reaktion auf eine Gruppenangehörigkeit hin gedeutet wird oder nicht, hängt dabei nicht nur von den zur entsprechenden Zeit am entsprechenden Ort wirksamen hegemonialen Images ab (s.o.). Ebenso spielt es eine Rolle, welche anderen Erfahrungen die betreffende Person bis zu diesem Zeitpunkt gemacht hat und welche sozialen Kategorisierungen sie bis dahin in ihr Selbst-Verständnis inkorporiert hat.83 Dieser Zusammenhang wird verständlich, wenn wir uns den in Kap. 2.3 dargestellten zirkulären Zusammenhang von Diskurs, Praxis und Identität in Erinnerung rufen: Das Selbst-Verständnis, das sich biographisch im Spannungsfeld zwischen diskursiv konstituierten Kategorien symbolischer Herrschaft einerseits sowie unter-
82 Vgl. den von Geiselhart (2012, 36) vorgestellten Erfahrungsbegriff nach Dewey. Erfahrung entsteht „in einem zyklischen Prozess des Handelns, des Erleidens und der intellektuellen Reflexion“; Erkenntnis benötigt praktische, emotionale und intellektuelle Erfahrungen. 83 Anderson (2011, 189–215) konstatiert für die USA einen entscheidenden Unterschied zwischen eher „kosmopolitisch“ eingestellten Personen (die Individualität und Meritokratie als entscheidende gesellschaftliche Prinzipien sehen) sowie primär „ethnisch“ eingestellten Personen (die aufgrund ihrer Erfahrungen und Sozialisierung überzeugt sind, dass die Hautfarbe in den USA weiterhin ein zentrales gesellschaftliches Sicht- und Teilungsprinzip ist). Letztere interpretieren eine Konfrontation schneller und leichter als „racialized“.
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schiedlichen Positionierungen in sozialen Feldern und den hiermit in Zusammenhang stehenden Kapitalarten andererseits ausprägt, wirkt in konkreten sozialen Interaktionen und biographischen Erlebnissen als „sens pratique“, der die in dieser Situation angewendeten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata bereitstellt. Die einzelnen Erlebnisse und die darin aufgerufenen Kategorien symbolischer Herrschaft wiederum können durch „Sedimentierung“ der Erfahrungen in das individuelle Selbst-Verständnis und die entsprechenden Dispositionen eingehen und somit auch die Interpretation von (zukünftigen) sozialen Interaktionen prägen und überlagern. 84 Solche als Resultat von wiederholten Anrufungen und Konfrontationen mit einem negativ konnotierten Islambild in Folgesituationen hineingetragenen Denk- und Wahrnehmungsschemata wurden von mehreren Interviewpartner/-innen angesprochen. So erzählte Achraf zum Beispiel, wie er auf eine – vielleicht völlig harmlose und einfach nur neugierige – Nachfrage seiner (nicht muslimischen) Kollegen sehr allergisch reagierte: „Mit den Kollegen von der Arbeit haben wir uns mal privat getroffen und sind son bisschen auf dem Weihnachtsmarkt spazieren gegangen. Und dann kam von jemandem eine Frage, warum wir denn kein Weihnachten feiern. Und ist ja eigentlich ne ganz normale Frage. Aber in dem Augenblick sah ich mich in einer Verteidigungsposition. Ich sah mich zurück gedrängt. Und äh, ich sag mal so, es fehlt mir in vielen Situationen, [die Möglichkeit] Verständnis zu entwickeln. Ja? Stattdessen entwickele ich gleich ne Art Verteidigung. Ich ziehe mich ins Schneckenhaus zurück. Das ist halt diese kulturelle Ausgrenzung, ne? Ich meine, was ist das für ne Frage: ‚Wieso feiert ihr kein Weihnachten?‘ Ich hab doch meine eigene Kultur und das ist doch irgendwo verständlich, ne? Ist doch alles global. Aber anderseits ist es emotional schwierig, das Ganze immer auszuhalten und zu ertragen. Oft ist es auch so, dass ich solchen Diskussionen aus dem Weg gehe. Einfach aus unbewusster Angst heraus, dass das irgendwann eskalieren könnte.“
Wäre dieselbe Frage vor 30 oder 40 Jahren einem marokkanischen Arbeitsmigranten gestellt worden, hätte er darin wahrscheinlich eine ganz normale Frage seiner bis dato in Bezug auf seine Religion ahnungslosen Arbeitskollegen gesehen. Vor dem Hintergrund des heute etablierten negativen Islambilds und der mehrfach gemachten Erfahrung, sich für seine Religion und die Taten anderer Muslime rechtfertigen zu müssen, fühlt sich Achraf dagegen durch die Frage ausgegrenzt und herabgewürdigt. Dass er nicht Weihnachten feiert, grenzt ihn nicht nur aus einer ‚deutschen Normalität‘ aus, er hat darüber hinaus auch das Gefühl, dieses ‚Anderssein‘ begründen und verteidigen zu müssen. Und dies obwohl – so seine Argumentation – in einem Zeitalter globaler Kontakte ganz selbstverständlich bekannt sein müsste, dass es unterschiedliche Religionen und Religionspraktiken jenseits des Christentums gibt. Während Achraf also auf einer rationalen Ebene die Frage als unsensibel und borniert zurückweisen kann, verhindert dies nicht, dass ihn die emotionale Dimensi-
84 Vgl. hierzu auch Anderson (2011, 164; 249-271). Beispiele dafür, wie genau umgekehrt Erlebnisse und Begegnungen im öffentlichen Raum vorgefasste Meinungen und Vorstellungen vom „Anderen“ durchbrechen können, finden sich bei Wiesemann (2012).
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on dieses Erlebnisses nachhaltig prägt und daher sein derzeitiges und zukünftiges Handeln in solchen Situationen beeinflusst. Wie stark eine solche in das eigene Selbst-Verständnis inkorporierte negativ konnotierte Anrufung als Muslim/-a wirksam werden kann, zeigt die folgende Erzählung der Studentin Amina: „Heute wird man direkt eingeordnet. Vor allem weil man mich [mit meinem Kopftuch] direkt zuordnen kann (lacht). Da wird man dann ja nicht nur zu einer Religionsgruppe zugeordnet. Also manchmal steige ich in den Zug – das war letzte Woche, genau. Da waren zwei oder drei Meldungen nacheinander in den Nachrichten. Da hat sich einer in die Luft gesprengt und er hätte dabei auch noch gesagt ‚allahu akbar‘. […] Und da ist ein Mann direkt vor mir eingestiegen. Der war auch [Muslim], das hat man an seinem Bart gemerkt. Und ich dann danach. Aber ich kannte diesen Mann nicht (lacht). Und dann dachte ich: Das könnte gut sein dass der ein oder andere wirklich jetzt son bisschen Herzrasen bekommt (zweifelnd): ‚Kann das sein dass sie zusammen sind? Die steigen in den Zug. Terrorwarnung hier?‘ – also es ging [auch um Terrorwarnung in] den Nachrichtenberichten in den Tagen. Und ja, dann habe ich gedacht: Echt verrückt, was für Themen mich beschäftigen! Anstatt dass ich einfach in den Zug einsteige und sage: ‚Ja, ich bin total kaputt. Was soll ich essen wenn ich zu Hause ankomme?‘ [Stattdessen beschäftige ich mich mit Themen], die eigentlich SO weit von mir entfernt sind. Also damit, dass jemand Angst vor mir hat, oder die Ahnung haben könnte, dass ich vielleicht irgendwas Böses vorhätte.“
In dieser Situation ist es gar keine ‚reale‘ Anrufung mehr, die bei Amina das Islambild als Rahmung der Situation evoziert. Stattdessen ist es das Medienbild selbst, das sich ihr aufdrängt und ihre Selbst-Definition als „müde Arbeitnehmerin auf dem Weg nach Hause“ machtvoll überlagert. Vergleichen wir die beiden kurzen Erzählungen von Amina und Hakim (s.o.), so lässt sich ein entscheidender Unterschied erkennen: Während Amina sich der FremdAnrufung quasi wider ihren ‚eigentlichen‘ Willen nicht erwehren kann, gelingt es Hakim, die Anrufung auf Distanz zu halten. Er ist über das negative mediale Islambild zwar gut informiert und er regt sich auch darüber auf. Die Anrufung als ‚Muslim‘ nimmt also auch er an. Dennoch gelingt es ihm auf der Basis seines spezifischen Selbst-Verständnisses die im öffentlichen Raum an ihn herangetragenen kritischen Bemerkungen oder ängstlichen Blicke mit einem Achselzucken abzutun: „Interessiert mich nicht“. Einer Subjektivierung durch das Islambild können sich also die Wenigsten erwehren. Je nach ihren individuellen Dispositionen und translokalen Positionierungen erfolgt die Subjektivierung jedoch durch eine Anrufung aus größerer oder kleinerer Entfernung: Während für die einen der rufende „Polizist“ wie ein Schatten ist, der sie ständig in unmittelbarer Nähe begleitet, so bleibt er für andere eine schemenhafte Figur am Ende der Straße, auf die sie zumindest nicht immer und in jedem Fall unmittelbar reagieren müssen. Performative Sprechakte – Widerstand (un)möglich? Was aber passiert nun, wenn die im Alltagsleben derart angerufenen und auf die vermeintlich negativen Eigenschaften ihrer Religionszugehörigkeit verwiesenen Personen nicht stumm bleiben, sondern antworten und reagieren? Und wovon hängt es ab, ob geantwortet wird oder nicht?
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Ob und in welcher Form eine verbale oder non-verbale Antwort auf eine Anrufung als Muslim/-a erfolgt, wird durch die Art der Anrufung ebenso beeinflusst wie durch die subjektive Interpretation der Situation. Wie bereits in der Geschichte des Busfahrers Hakim deutlich wurde, spielen die gesellschaftlichen Positionierungen der Akteure in diesem Kontext eine entscheidende Rolle. Sehr anschaulich wird dies an einem Zwischenfall, von dem der Ingenieur Yakub berichtet. Seine in Deutschland aufgewachsene Frau hatte einen Besichtigungstermin für eine Wohnung vereinbart. Die Vermieterin hatte am Telefon sehr positiv reagiert. Als sie nun jedoch dort ankamen, schaute die Vermieterin aus dem Fenster und schüttelte nur den Kopf: „Ohne Quatsch, die hat einfach nur so gesagt (Kopfschütteln), Fenster zugemacht, weg. Ich hab meiner Frau gesagt ‚Steig ein‘. Sie: ‚Ne wieso, warum?‘ Die hat das gar nicht verstanden, ne? Ich sag: ‚Ja, wegen deinem Kopftuch. Komm, steig ein‘. Das wars. Die hat mit ihr am Telefon gesprochen. Die dachte, das wäre ne Deutsche, weil die redet ganz normal Deutsch. Und als sie dann halt gesehen habe, das ist ein Kopftuch… Nein, was willst du machen? Da kannst du nix machen. Ne? Und das ist schon schon verletzend.“
Dass Yakub in diesem Fall nicht einmal versucht zu protestieren oder zu argumentieren, liegt zum einen an dem der Situation zugrundeliegenden Machtdifferenzial zwischen Vermietern und Mietern. Unter den Bedingungen eines Nachfragemarktes befinden sich die Mieter in einer untergeordneten Position. Zum anderen beruht Yakubs schneller Rückzug jedoch auch auf den Erfahrungswerten, die er mit Bezug auf das deutsche Islambild gesammelt hat: „Ehrlich gesagt hab ich früher viel drüber diskutiert. Mit Kollegen oder privat. Aber ich hab bemerkt, dass es keinen Unterschied macht. Weil die Leute glauben nur das, was die im Fernsehen sehen. Solange sie nicht selbst nach der Wahrheit suchen und sich dafür interessieren, kannst du erzählen was du willst. Ich kann erzählen was ich will, die glauben mir nicht. Ich bin keine Quelle für die. Aber Zeitung: Alles was in der Bildzeitung drinsteht glauben die. Jetzt Bild oder Express oder so, das ist eine Zeitung für die Masse. Einfach die erste Seite so nackte Frau ‚wow hey‘ und dann die zweite Seite ‚blabla, Islam und Terrorismus‘. Und die Leute werden damit beeinflusst. Und egal was ich sage, ich als Moslem, der ich von der Islamwelt komme, die glauben es nicht. Ne, und wie gesagt mit der Zeit hab ich dann halt gelernt gar nicht mehr drüber zu reden.“ [Herv. MD]
An dieser Stelle zeigt sich sehr deutlich, was Bourdieu in seinen Überlegungen zu den „gesellschaftlichen Bedingungen der Wirkung des rituellen Diskurses“ (2005, 101) ausführt: Dass nämlich die Autorisierung des Sprechers, d.h. seine oder ihre im Rahmen der bestehenden symbolischen Ordnung diskursiv-gesellschaftlich ausgehandelte Ausstattung mit symbolischem Kapital für die Wirkung eines bestimmten Sprachaktes von entscheidender Bedeutung ist. Während offensichtlich die deutschen Medien bis hin zur „billigen Bildzeitung“ [Yakub] als „Träger des skeptron […] anerkanntermaßen befugt und befähigt [sind], diese besonders Klasse von Diskursen [Sprechakten] zu produzieren“ (Bourdieu 2005b, 105; Herv. i.O.), gilt dies für eine Person, die ihre Autorität aus ihrer eigenen Religiosität und ihrem Herkunftskontext bezieht, nicht in jedem Fall.
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Im Gegensatz zu den Medien, die die Legitimität ihrer Wirklichkeitskonstruktionen auf das ihnen verliehene institutionsspezifische symbolische Kapital gründen können, müssen individuelle Sprecher ohne herausgehobene gesellschaftliche Funktion und hierdurch übereignete „delegierte Macht“ (Bourdieu 2005b, 102) die Autorität ihrer häretischen (dem hegemonialen Diskurs widersprechenden) Sprechakte in einem Prozess produzieren, der „auf der Dialektik von autorisierter und autorisierender Sprache“ beruht sowie auf „den Dispositionen der sozialen Gruppe, die dieser Sprache und über die Sprache sich selbst, eine Autorität verschafft“ (Bourdieu 2005b, 133). Auf die Frage jedoch wie genau die „Aussagearbeit“ aussehen kann, mit der der häretische Diskurs nicht nur im Rahmen von Prophezeiungen, sondern auch im alltäglichen Sprechen „einen neuen common sense schaffen“ und „die Grenzüberschreitung [realisieren kann] die unerlässlich ist, um das Unnennbare nennen [...] zu können“ offeriert Bourdieu (2005b, 132f.; Herv. i.O.) keine überzeugende Antwort. In ihrer kritischen Lektüre von Bourdieus Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheorie bietet Butler (2006, 228f.) hierzu eine Lösung an: Geht man von Derridas Austin-Lektüre aus, so wird klar, dass die performative Kraft einer Äußerung aus „der Wiedergabe konventioneller Formeln in nicht-konventionellen Formen resultiert“ (aus dieser nach Derrida notwendigen Iteration einer Aussage und dem damit immer einhergehenden Risiko des „Scheiterns“ ergibt sich für Butler wie in Kap. 2.1.5 gezeigt die grundsätzliche Offenheit gesellschaftlicher und sprachlicher Strukturen). In einem Interview gibt Butler ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie durch „subversive Resignifikation“ auch diskriminierende und beleidigende Begriffe und Kategorien von den damit Bezeichneten den hegemonialen Diskursen „entwunden“ und in anderer, verschobener, positiver und widerständiger Bedeutung wiederangeeignet werden können: „I remember once walking on a street in Berkeley and some kid leaned out of a window and asked, ‚Are you lesbian?‘ I replied, ‚Yes, I am a lesbian.‘ I returned it in the affirmative. It was a completely impulsive moment. It was an interpellation from nowhere. Of course, what such a questioner is really asking is, ‚Are you this thing that I fear and loathe? Do you dare to say yes to this thing that you apparently are, at least on the basis of what you look like? […]‘ To the extent that I was able very quickly to tum around and say, ‚Yes, I am a lesbian‘, the power of my interrogator was lost. My questioner was then left in a kind of shock, having heard somebody gamely, proudly take on the term […]. It was a very powerful thing to do. It wasnތt that I authored that term: I received the term and gave it back; I replayed it, reiterated it“ (Olson und Worsham 2000, 759f.).
Von ganz ähnlichen Situationen, in denen sie eine als beleidigend und herabstufend empfundene Anrufung annehmen, diese jedoch gerade nicht schweigend erdulden, sondern sie mitsamt den darin mitschwingenden Konnotationen zurückspiegeln, berichten auch einige meiner Interviewpartner/-innen. So erzählt mir z.B. der Studienmigrant Louay am Ende des Interviews, nachdem ich das Aufnahmegerät schon ausgemacht hatte, von einer fast parallelen Situation. Er ordnet das Ereignis zuerst in die Zeit nach dem 11. September ein, korrigiert sich dann aber und meint es sei kurz nach dem Anschlag in Madrid 2004 gewesen:
344 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT Da sei er abends unterwegs gewesen und sei einem leicht angetrunken jungen Mann begegnet. Gut angezogen, also kein Obdachloser [die in Bonn in Bahnhofsnähe häufig anzutreffen sind M.D.]. Und der habe ihn gesehen und plötzlich gefragt: "Muslim?" Und auf seine Bestätigung hin habe der mit einer Handbewegung (Hand hoch runter) weiter gefragt: „Gefährlich, oder nicht?" Daraufhin habe er den jungen Mann zurück gefragt: "Deutscher?" Und auf die Bestätigung hin, hätte er ebenfalls nachgefragt: "Nazi, oder ungefährlich?" Daraufhin sei der Mann ausgerastet und habe sich empört, das hätte ja nichts miteinander zu tun. Und er habe erwidert, dass sei ein 100% stimmiger Analogieschluss. Dann sei der andere tatsächlich ins Nachdenken gekommen und habe sich etwas beruhigt. [Loay, Übersetzer, 37 Jahre, Bonn]
Weniger durch Argumentation als durch die Zurückspiegelung der Images und die Mittel von Vergleich und Ironie gelingt es in solchen (seltenen?) Momenten, die Legitimität der Anrufung zu destabilisieren und infrage zu stellen. Als ich sie nach den Reaktionen auf ihr frisch angelegtes Kopftuch frage, resümiert eine junge Mutter aus Bergheim zum Beispiel: „Also das sind immer diese ganz blöden Kommentare eigentlich. Ich mein, ich steh drüber. Mir macht es nix. Wenn einer freundlich fragt, finde ich‘s ok. Wenn aber dann direkt kommt: ‚Oh sie haben doch so schönes Haar, warum zeigen Sie das nicht?‘ Dann denke ich mir ganz ehrlich, ‚Ja, sie haben doch so schöne Beine, ziehen sie doch die Hose aus!‘“ [M lacht] F: „Ne, so ungefähr. Das denke ich mir allerdings. Weil ich möchte ja nicht so rüberkommen, wie die Leute mir entgegen kommen. […] Das Krasseste war [aber einmal] im Sommer. Meine Töchter müssen ja was aufziehen, wenn es so heiß ist. Und Käppies bleiben bei ihnen nicht so gerne auf dem Kopf. Also nehmen wir diese Dreieckstücher, die einfach super süß aussehen, gerade wenn da diese Locken rausgucken. Damit sind wir also aus der Wohnung gegangen, und wollten auf den Spielplatz. Und da sind dann so drei ältere Damen, wo die eine zu der anderen sagt: (flüstert) ‚Hey, jetzt guck mal. Jetzt müssen die Kinder dat auch schon tragen.‘ Und weil sie natürlich taub sind die älteren Frauen, oder ein bisschen schlechter hören, haben sie‘s natürlich laut gesagt. Und dann habe ich mich nur umgedreht und hab mir gedacht: So, wenns um meine Kinder geht, werde ich GANZ, GANZ biestig. Ich sag: ‚Ja, und passen Sie auf, wenn der Vater gleich kommt: Dem sein Bart ist EXTREEM lang!"‘[M lacht] Also DAS konnte ich mir dann wieder nicht verkneifen. Aber (wieder ernster) das finde ich schon krass. Also man könnte es mir ja dann irgendwann sagen, wenn ich alleine bin. Aber nicht wenn die Kinder dabei sind!“
Das, was in solchen Momenten spontaner Interaktionen im öffentlichen Raum stattfindet, stellt für Butler eine Art stillschweigende „Verhandlung“ über den Gebrauch und die Bedeutung bestimmter Begriffe sowie von als beleidigend und herabwürdigend intendierter (oder wahrgenommener) Anrufungen einer Person in Bezug auf ihre Hautfarbe, Herkunft, Religion oder sexuelle Ausrichtung dar. Hierzu merkt Salih (2003) allerdings kritisch an, dass es – wie Butler in dem o.g. Interview selbst zugibt – durchaus nicht sicher ist, wie solche Momente der Irritation und Neuverhandlung auf die „Anrufer“ wirken. Weder ist klar, ob sie hierdurch zum
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Nach- und Umdenken gebracht werden,85 noch ist sicher, ob und inwiefern einzelne Begegnungen und „Verhandlungen“ langfristig tatsächlich zu einer Neukonnotierung von Begriffen, einer Destabilisierung und Des-Artikulation von Äquivalenzketten, kurz einer „Verschiebung“ des Diskurses beitragen.86 Dennoch sind solche Momente extrem wichtig. Denn wie zu Beginn dieses Kapitels bereits erläutert, gehen sie als einer von vielen „muslim moments“ in den individuellen Erfahrungsschatz ein und können so langfristig auch Dispositionen und das individuelle Selbst-Verständnis beeinflussen. Indem die Angesprochenen in den hier angeführten Situationen die jeweilige Klassifizierung bzw. deren beleidigende Wirkung offenlegen und hinterfragen, weisen sie die hierdurch erfolgende „Konstitution des Subjektes in untergeordneter Stellung“ (vgl. Butler 2006, 36) zurück. Durch die Zurückweisung der Anrufung in einer spontanen Reaktion erhalten sie ein – temporäres – Gefühl von Handlungs- und Definitionsmacht: „It was a very powerful thing to do”. Genau dies ist das Entscheidende an den Interaktionen: Das Gefühl, die Machtverhältnisse destabilisiert zu haben und im besten Fall eine wirkliche Reflexion und ein Umdenken ausgelöst zu haben stärkt das Selbstwertgefühl ebenso wie es durch andere, unterordnende Anrufungen potenziell geschwächt und gefährdet wird. 6.5.4. Zwischenfazit: 9/11 als Zäsur? Die von Riem Spielhaus interviewten „öffentlichen“ Muslime identifizierten den 11. September in Zusammenhang mit den darauffolgenden Diskursereignissen als „zent-
85 Beispiele für die Persistenz hegemonialer Diskurse und dafür, wie sich diese trotz gegenteiliger persönlicher Begegnungen und Erfahrungen durchsetzen, finden sich mit Bezug auf das deutsche Islambild bei Attia (2007, 95–150). Dass sich vorgefasste Images und Meinungen durch Begegnungen und Kontakte im öffentlichen Raum durchaus auch verändern lassen, konnte von Wiesemann (2012) am Beispiel Köln gezeigt werden. 86 Als einen Beleg für einen performativen Akt mit dem die herrschende (symbolische) Ordnung nachhaltig verändert wurde, führt Butler die schwarze Bürgerrechtlerin Parks an, die sich 1955 in einem Bus weigerte für einen Weißen aufzustehen: „Als Rosa Parks im vorderen Abteil des Busses saß, hatte sie dazu kein vorgängiges Recht, das irgendeine Rassentrennungskonvention der Südstaaten garantiert hätte. Und trotzdem verlieh sie, indem sie ohne vorgängige Autorisierung Anspruch auf dieses Recht erhob, ebendieser Handlung eine gewissen Autorität und leitete den Umsturz der bestehenden Legitimitätscodes ein“ (Butler 2006, 230). Auch wenn dies unzweifelhaft zutrifft, so übersieht Butler doch, dass Parks nicht die erste war, die diesen Akt zivilen Ungehorsams beging. Ein wichtiger Grund dafür, dass es ihre Handlung war, die diese Wirkung erzielte (und nicht die ihrer Vorgängerinnen wie Claudette Colvin oder Mary Louise Smith) kann u.a. in ihrer Integrität gesehen werden. Diese lässt sich mit Bourdieu als symbolisches Kapital identifizieren, das ihr Anerkennung und Autorität sicherte. Ihre Vorgängerinnen, die über ein solches symbolisches Kapital nicht verfügten, waren daher auch nicht als geeignete Symbolfiguren für eine kollektive Widerstandsbewegung eingestuft worden. Sie mussten die Folgen ihres Handelns persönlich ertragen, ohne hierdurch im großen Maßstab Veränderungen der symbolischen Ordnung erwirken zu können (vgl. Artikel von Younge 10.12.2000).
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rales Schlüsseldatum [für] die Veränderung des Diskurses über Muslime und Islam in Deutschland“ (Spielhaus 2011, 133). Der Aussage, dass sich erstens das Bild der Muslime in der deutschen Presse und Öffentlichkeit in den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert hat und dass zweitens die soziale Kategorie „des Muslims“ eine zuvor unbekannte Sichtbarkeit und Relevanz erhalten hat, würden ohne Zweifel auch meine Gesprächspartner/-innen zustimmen.87 Sowohl in Bezug auf die negative Ereignisvalenz der meisten Darstellungen als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Diskursstränge korrespondiert die Wahrnehmung des Islambildes aus Sicht der Betroffenen also durchaus mit den zentralen Erkenntnissen der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu diesem Thema (vgl. Kap. 3). Die „betroffenen“, als Muslime angerufenen und positionierten Personen sind jedoch nicht nur religiöse (oder weniger religiöse) Personen. Sie werden durch eine ganze Reihe unterschiedlicher intersektionaler Kategorien gekennzeichnet und positioniert: Sie sind Arbeiter/-innen oder Student/-innen, Angestellte oder Selbstständige, leben in einer Beziehung oder auch nicht, sie sorgen für Kinder oder sind nur für sich selbst verantwortlich, sie spielen Golf und laufen Marathon, sie leben im schicken Eigenheim oder schlagen sich am Existenzminimum durch. Fragt man sie also, wie ich es getan habe, nicht gezielt nach dem 11. September, sondern erkundigt sich im Rahmen eines narrativen Interviews ganz allgemein nach den in Deutschland in den letzten zehn Jahren wahrgenommenen Veränderungen, so wird deutlich, dass es keineswegs das Islambild ist, das die persönlichen Retrospektive dominiert. So nannten zwar einige als Antwort das zunehmend schlechtere Image von Muslimen und dem Islam. Sehr viel häufiger jedoch dachten die Befragten in diesem Zusammenhang an die wirtschaftliche Situation in Deutschland. Für die meisten ist die letzte Dekade zuallererst durch eine lokal oder deutschlandweit empfundene wirtschaftliche Rezession gekennzeichnet. Die erschwerte Sicherung eines (guten) Lebens geht dabei einher mit der verstärkten Sichtbarkeit von Arbeitslosigkeit und sozialer Not: „Das soziale Klima ist rauer geworden“ (Hadou) – und das gilt sowohl für die sozial Schwächeren als auch für die Ausländer und Zuwanderer, die durch verstärkte Integrations- und Assimilationsforderungen unter Druck geraten. Andere beschreiben in diesem Zusammenhang aber auch eine gegenläufige Bewegung. Den scharfen, aggressiven und exkludierenden Mediendebatten zum Trotz nehmen sie in ihrem alltäglichen Lebensumfeld wahr, dass ‚die Deutschen‘, mit denen sie zu tun haben, „offener“ und „lockerer“ werden. Schließungs- und Öffnungstendenzen verlaufen parallel und ergeben ein widersprüchliches, brüchiges Gesamtbild. Wiederum andere meiner Interviewpartner/-innen jedoch dachten bei der Frage nach den Veränderungen der letzten zehn Jahre nicht primär an umfassendere sozialökonomische Umbrüche, sondern fokussierten auf ihren eigenen, biographischen Veränderungen: Sie verwiesen auf ihr inzwischen gewonnenes Selbstbewusstsein, dass es ihnen ermöglicht, den zu Beginn ihres Aufenthaltes in Deutschland stumm erduldeten unhöflichen Zurechtweisungen und Beleidigungen entschieden entgegen zu treten. Oder sie dachten an den Weg, den sie seit ihrer Ankunft im „sozialen
87 Das heißt diejenigen unter ihnen, die bereits vor diesem Datum in Deutschland lebten und aufgrund ihrer Sprachkenntnisse ausreichend in die Debatten eingebunden sind.
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Raum“ zurückgelegt haben und der ihnen heute, aus ihrer persönlichen Sicht, eine verbesserte oder verschlechterte Positionierung eingebracht hat. Wenn im folgenden Kapitel nun also versucht werden soll, eine Antwort auf die eingangs gestellte Forschungsfrage nach den Folgen und Auswirkungen des deutschen Islambildes auf Identitätskonstruktionen und Alltagspraktiken zu finden, so gilt es daher zweierlei zu berücksichtigen: Zum einen, dass die Frage nach dem deutschen Islambild als Forschungsfokus von mir als Forscherin eingebracht und an die biographischen Erzählungen und Interviews herangetragen wurde. Die entsprechenden diskursiven Verschiebungen sind jedoch nur eine [von mehreren] strukturellen Bedingungen, die Alltagleben und Identitätsartikulation rahmen. Über die Frage, welche Folgen sich aus der jeweiligen Rezeption des Islambildes ergeben, sind daher diejenigen Fälle nicht zu übersehen, für die das Islambild keinen Interpretationsrahmen von primärer Relevanz offeriert. Zum anderen gilt es die Vielschichtigkeit sozialer Positionierungen sowie die individuelle Bedeutung biographischer Prozesse ernst zu nehmen und in die Analyse einzubeziehen. Hierfür bietet das in Kap. 2.2. erarbeitete Konzept der translokalen Positionierungen einen hilfreichen Rahmen, der daher im Folgenden aufgegriffen wird. Zunächst soll jedoch noch einmal zusammengetragen werden, welche unterschiedlichen Bedeutungen dem Islambild im Rahmen von Erzählungen über das Selbst zugewiesen werden und von welchen veränderten Alltagspraktiken in diesem Kontext berichtet wird.
7
Diskussion und Fazit
7.1. W ANN
WIRD DAS DEUTSCHE I SLAMBILD ( IR -) RELEVANT FÜR NARRATIVE I DENTITÄT UND ALLTAGSLEBEN ?
? Narrative Identitäten und Alltagspraktiken Wie sowohl in den drei Einzelfallanalysen als auch in der fallübergreifenden Analyse zum Thema ‚Religion und Religiosität‘ gezeigt werden konnte, ermöglichte es der für dieses Forschungsprojekt gewählte, narrativ-biographische Ansatz den Befragten, in ihren Erzählungen nur soweit auf ihre persönliche Religiosität oder auf hegemoniale Islamimages einzugehen, wie es ihnen jeweils notwendig erschien. Dementsprechend wurden z.B. von Daoud, Hasna, Hachem, Loutfi, Najib, Yassim, Ghizlane und Rachid zunächst nur Aspekte thematisiert, die ihre biographische Entwicklung, ihre aktuelle Lebenssituation und ihre Alltagssorgen sowie ihr heutiges SelbstVerständnis und ihre Selbst-Identifizierung sehr viel stärker prägen als ihre Religion und/oder die Darstellung derselben in den Medien. Aber auch Personen wie die Studentin Amina, für die ihre Religiosität einen wichtigen Teil ihrer Biographie und ihres heutigen Selbst-Verständnisses darstellt, konnten im Gesprächskontext ihre persönlichen, zum Teil stark emotional geprägten Bezüge auf die Religion in den Vordergrund stellen, ohne sich dabei notwendigerweise auf ein negativ konnotiertes Islambild beziehen zu müssen. Erst als ich die Befragten entweder auf ihre Religion hin ansprach, sie also konkret als Muslime anrief, oder wenn das Gespräch auf Mediendarstellungen zum Themenkomplex Zuwanderung, Islam und Muslime gelenkt wurde, konnten sich meine Interviewpartner/-innen einer Positionierung und Artikulation in das entsprechende Diskursfeld nicht erwehren. Wie in Kap. 6.4.3 gezeigt, waren in einem solchen Kontext weder zurückweisendes Schweigen noch eine vollkommene Distanzierung von der derart diskursiv konstituierten sozialen Gruppe eine Lösung. In genau diesem Zusammenhang bestätigte sich, was Riem Spielhaus (2011) mit Bezug auf Butler (2001) für in Deutschland öffentlichkeitswirksam sprechende Muslime festgestellt hat: Erst die Unterwerfung unter den Diskurs ermöglicht die Existenz des Subjektes und schafft eine Subjektposition, aus der heraus nicht nur das Sprechen, sondern auch die Opposition gegen als verletzend empfundene, von außen „aufgezwungene“ Benennungen und Anrufungen möglich wird (Butler 2001, 99f.). In dem Maße also, wie konkret erfahrene und/oder „verstreut wirkende“ gesellschaftliche Anrufungen als Muslim/-a angenommen und „gewendet“ werden, wird auch der Widerstand gegen ein hegemoniales Islambild erst möglich. Gleichzeitig re-produzieren die Spre-
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cher/-innen durch ihre Opposition jedoch sowohl die Begriffe als auch die eigene Unterwerfung unter den Diskurs. Besonders deutlich wird dieser reziproke und paradoxe Prozess der Subjektivierung als Möglichkeitshorizont für autorisierte Sprechakte in dem folgenden Gesprächsausschnitt mit der in Belgien geborenen Yasmina: „Auch in Deutschland, diese Diskussion hier: ‚Integration‘. Also mich nervt das. Ich wills nicht mehr hören! Schon allein der Begriff. Ich wüsste nicht, wen ich verklagen müsste. Dieses Wort ‚Islamist‘. Das gibts nicht für mich! Das existiert nicht für mich! Man ist Muslima, oder man ist Terrorist. Aber man ist kein Islamist! […] Das sind so Sachen. Oder Seehofer, der so Äußerungen macht, im Fernsehen: Leitkultur Deutschland, und die Juden und die Christen, die gehören dazu. […] Also ich bin jetzt seit einer Woche Mitglied bei der CDU. Ich muss den Typen, (sehr aufgeregt) also ich muss den irgendwie drankriegen. Ich weiß nicht, wie ich das machen werde, aber – Entschuldigung! Er sorgt dafür, dass wir Extremisten werden!“ MD: Mhm. Y: „Ich bin, ähm, gläubig. Ich bin Muslimin. Ich praktiziere aber (..) quasi nichts. Ich trinke sehr gerne Kölsch. Ich liebe Wein. Ich liebe Currywurst und so was. Was das Leben halt so bietet! Ich hab nen deutschen Freund. Ich lebe mit ihm hier. Aber ER sorgt dafür, dass ich wieder anfange nachzudenken, sage: ok, ich bin eine Muslimin. Nur was habe ich? Warum beleidigt er mich? Dabei habe ich ihm nichts angetan. Ich zahle sein Gehalt, damit ich seine Beleidigungen anhöre? Das brauche ich nicht!“ [Yasmina, 30, Unternehmensberaterin, Köln, 11.11.2010]
Hier zeigt sich, dass keine persönliche „Ansprache“ notwendig ist, sondern – wie in Kap. 2.1.1 bereits argumentiert – auch „verstreute“, anonyme Diskurse ausreichen, um Yasmina zu einer Selbst-Identifizierung und Positionierung als (nicht praktizierende) Muslima zu bewegen. Obwohl Religion im Rest des Interviews und ganz offensichtlich auch in ihrem Alltagsleben nur eine untergeordnete Rolle spielt, fühlt sie sich durch die Mediendebatten sogar dazu aufgerufen, in das für sie neue Feld der deutschen Politik einzutreten. Gleichzeitig jedoch ruft Yasmina ähnlich wie Mimun (vgl. Kap. 6.5) in und durch ihre Opposition gegen die hegemonialen Images genau die Begriffe, Äquivalentsetzungen und Vorannahmen wieder auf, durch die diese gekennzeichnet sind. Obwohl also im Interviewkontext und in den darin rapportierten Alltagsbegegnungen („muslim moments“) vereinzelt sehr machtvolle und überzeugende widerständige Argumentationen auftauchen, bestätigt sich das von Butler postulierte Paradox: Das durch den Diskurs konstituierte Subjekt kann den Diskurs nicht eigenmächtig und im Alleingang verändern. „Es wurde nun Teil davon und stärkt ihn und seine dominanten Begrifflichkeiten damit.“ (Spielhaus 2011, 179f.) Das oben genannte Zitat wirft jedoch die Frage auf, inwiefern die wiederholten (und negativ konnotierten) Anrufungen als Muslim/-a auch bei anderen Befragten nicht nur zu verstärkten Selbst-Identifizierungen als Muslime oder einem veränderten Selbst-Verständnis führen, sondern sich eventuell auch auf der Ebene alltäglicher Praktiken niederschlagen. Hierzu lässt sich zunächst festhalten, dass für die meisten meiner Interviewpartner/-innen eine „Subjektivierung“ durch den Islamdiskurs nicht notwendigerweise mit einer veränderten Handlungspraxis einhergeht. Auch wenn sie sich unter Umständen stärker als Muslim bzw. Muslima selbst-identifizieren oder das Gefühl haben, in eine veränderte gesellschaftliche Position gerufen zu werden, ändert
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sich ihr Alltagsleben nicht. Einige der Befragten jedoch erzählen durchaus auch von veränderten Alltagspraktiken, die sie mehr oder weniger unmittelbar durch das deutsche Islambild beeinflusst sehen. Hierzu zählen zum einen die in Kap. 6.3.2 beschriebenen veränderten Medienkonsumgewohnheiten, durch die einige der Befragten den in den deutschen Mainstream-Medien verorteten negativen Islamdarstellungen ausweichen oder mit alternativen und ergänzenden Informationen zu komplettieren suchen. Neben den medialen Anrufungen führen auch die persönlichen Anrufungen als Muslim/-a zu unterschiedlichen Reaktionen: Informieren sich die einen mehr über ihre Religion, um besser argumentieren zu können (Raif), so ziehen sich andere aus Angst vor Konflikten noch weiter zurück (Achraf). Wieder andere versuchen, die von ihnen als kritisch und spannungsgeladen wahrgenommenen „muslim moments“ im öffentlichen Raum durch betonte Freundlichkeit, Offenheit und ein Lächeln zu entschärfen (Amina). Auf die alltäglichen Aktionsräume der Befragten wirkte sich das Islambild in den meisten Fällen kaum aus: Entgegen möglicher Vorannahmen nannten sie in ihrem alltäglichen Lebensumfeld keine Räume, die sie aktiv vermeiden oder gehäuft aufsuchen. Farid allerdings nennt als einen von mehreren Gründen für seine geplante Emigration nach Marokko die dort vorhandene Akzeptanz seiner Religion, die er in Deutschland vermisst. Die negativen Konnotationen führten außerdem dazu, dass einige Frauen ihr aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch wieder ablegten, ihre öffentliche religiöse Praxis also aufgrund des deutschen Islamdiskurses modifizierten. Sowohl eine gesteigerte Religiosität als auch das (Un-)Sichtbarmachen derselben durch An- oder Ablegen des Kopftuches wirken sich dabei auch auf die Zusammensetzung von Freundeskreisen aus und beeinflussen somit die daraus resultierenden alltäglichen Interaktionen (vgl. Kap. 6.4.3). Einige Elemente deuten jedoch auch auf einen umgekehrten Effekt. Denn auch wenn zwei Frauen, die bereits Ende der 1990er Jahre ein Kopftuch trugen, dieses (einmal vor, einmal nach 2001) ablegten, weil sie die damit verbundenen Diskriminierungs- und Beleidigungserlebnisse nicht länger ertragen wollten, fanden sich unter den von mir befragten Frauen andererseits erstaunlich viele, die ihr Kopftuch erst im Anschluss an die „Kopftuchdebatte“ anlegten. Diese Frauen waren sich folglich den negativen Konnotationen und den daher zu ewartenden negativen Anrufungen durchaus bewusst. Die entsprechende Erzählung bei Faiza deutet darauf hin, dass diese Entscheidung unter Umständen nicht nur ein Zeichen tiefer persönlicher Religiosität und traditionell gelebter Religionspraxis ist. Ebenso kann sich hierin eine trotzige Widerstandsreaktion gegen ein negativ konnotiertes Islambild spiegeln (nach dem Motto: jetzt erst recht). Welche Rolle dieses Motiv jedoch bei der Entscheidung genau spielte, lässt sich aus dem empirischen Material nicht rekonstruieren. Ebenso muss die Frage offen bleiben, inwiefern die seit Anfang des Jahrtausends intensivierten Pro- und Kontra-Debatten über das Kopftuch auch auf einer übergeordneten Ebene dazu beigetragen haben, die Bedeutung dieses Symbols zu stärken und bei gläubigen Musliminnen somit das Gefühl der Notwendigkeit der Ausübung dieser religiö-
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sen Praxis zu fördern (auch wenn ein solcher Verstärkungseffekt durchaus plausibel erscheint).1 Eher eine Ausnahme stellen dagegen Personen dar, die durch die Islam- und Zuwanderungsdebatten zu gesellschaftspolitischem Engagement angeregt werden: Entweder weil sie sich im Rahmen ihres bereits zuvor ausgeübten religiösen Engagements in den Moscheegemeinden zunehmend zu Sprechern im „interreligiösen“ und „interkulturellen“ Dialog berufen sahen. Oder weil sie durch die auf nationaler und/oder lokaler Ebene geführten politischen Debatten über Zuwanderung und den Islam aufgeschreckt und zu einem aktiven (partei-)politischen Engagement angeregt wurden (vgl. Amal, Manar und Yasmina s.u.). Von der Bedeutung translokal erworbener Dispositionen Wie hängen Anrufungen, Selbst-Identifizierungen und alltagspraktische Handlungen und Entscheidungen zusammen? Warum artikulieren sich die Befragten nicht nur in unterschiedlichen Positionen in den Diskurs (temporäre Sprechpraxis), sondern zeigen auch langfristig gesehen unterschiedliche (oder auch gar keine) biographisch relevante Reaktionen auf die Anrufungen durch das deutsche Islambild? Die aus dem konstitutiven Mangel des Diskurses ableitbare (begrenzte, aber vorhandene) Handlungs- und Entscheidungsfreiheit von Subjekten wurde in Kap. 2.2.3 bereits poststrukturalistisch hergeleitet (vgl. u.a. Laclau 1990, 210). Auch nach Butler funktioniert eine Interpellation oder Anrufung nur, indem sie scheitert. So hat der Diskurs zwar die Macht, „ein Subjekt durch Aufzwingen seiner eigenen Bedingungen zu formen und zu reglementieren.“ „Psychisch“ werden diese Bedingungen jedoch nur in und durch die Bewegung, „durch die sie verborgen und ‚gewendet‘ werden.“ Die diskursive Macht setzt ihr Subjekt als einen Akteur also in genau dem Maße ein, „in dem sie daran scheitert, ein solches Subjekt erschöpfend in der Zeit zu bestimmen“ (Butler 2001, 183). Warum aber reagiert der eine in einer Weise und die andere auf eine ganz andere Art? Ist der Zusammenhang von Anrufung, Selbst-Identifizierung und Alltagspraktiken beliebig? Oder lassen sich Zusammenhänge erkennen zwischen historisch sedimentierten Subjektivierungsformen (Dispositionen) und bestimmten Handlungspraktiken und Entscheidungsfindungen? Ich möchte im Folgenden argumentieren, dass letzteres der Fall ist. Diskutieren lässt sich dies besonders gut am Beispiel von Yasmina, die mit ihrem Eintritt in die CDU (s.o.) sicherlich die ungewöhnlichste Reaktion auf die deutsche „Sarrazindebatte“ zeigt. Daher frage ich auch im Interview nach: MD: „Wie kommt es, dass Sie sich entschieden haben, in die CDU einzutreten?“ Y: „Weil ich bins leid, dass die Leute über meinen Kopf hinweg meinen zu wissen, was für mich [gilt]. Weil die sprechen ja bestimmte Bevölkerungsgruppen an. Und komischerweise immer nur die Muslime. […] Das ist doch falsch, das ist nicht logisch! […] Ich hab lang überlegt: FDP? Nun die sind schon sehr exotisch. Nen Schwulen und dann noch nen Ausländer, also den Koreanischen, das reicht vollkommen. Also da habe ich gedacht, dann nehmen wir mal die Christliche Demokratische Partei. Warum nicht?“
1
Zu den Kopftuchdebatten und ihren bereits Anfang des Jahrtausends nachweisbaren Neben- und Folgewirkungen vgl. u.a. Amir-Moazami (2007, 263f.).
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MD: „Um da innerhalb was zu ändern?“ (lächelt) Y: „Ja, klar. Ich werde aktiv. […] Weil ich habe die gewählt! Ich habe die Frau Merkel gewählt. Normalerweise ist das geheim, aber egal. Ich hab die gewählt, aber von soner Partei möchte ich mir das nicht anhören müssen. […] Die machen so viel kaputt! Weil es viele Leute gibt, die sehr viel machen. (ruhiger) Die dazugehören wollen, und was leisten. Es werden aber immer nur schlechte Beispiele rangeholt. Wie sollen die Neuen dann daran glauben, dass es klappt? In den Medien, von den Politikern sind wir hilfsbedürftig, wir können nichts, wir sprechen nicht. Verstehen Sie, was ich meine?“ [Herv. MD]
Die in einer ähnlichen sozio-ökonomischen Position stehende Yasmina artikuliert sich in dieser Passage auf eine ganz andere Weise in den Diskurs als die in der Einzelfallstudie vorgestellte beruflich ebenfalls gut etablierte Ärztin Majida. Obwohl Yasmina als Unternehmensberaterin mit perfekten Deutschkenntnissen, einem deutschen Pass, einem deutschen Freund und – im Gegensatz zu Majida – als nicht praktizierende Muslimin eigentlich noch eher sagen könnte: Die Mediendebatte „betrifft mich nicht“, denn „da gehöre ich nicht zu“, grenzt sich Yasmina nicht von den im hegemonialen Islambild als ungebildet, hilfsbedürftig und integrationsresistent konnotierten ‚muslimischen Durchschnittsmigranten‘ ab. Stattdessen identifiziert und solidarisiert sie sich mit den diskursiv Angerufenen so stark, dass sie ihren Parteieintritt als für sie notwendige und evidente Antwort auf die Debatten präsentiert. Warum Yasmina so und nicht anders argumentiert und handelt, lässt sich aus einer Bourdieu’schen Perspektive erklären, wenn man ihren Habitus als System „strukturierte[r] Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“ (Bourdieu 1976, 165) in die Analyse miteinbezieht. Von den Ereignissen und Anrufungen, die ihre Dispositionen wesentlich mit prägten, erzählte Yasmina im Interviewkontext unmittelbar bevor sie auf die deutsche Integrations- und Islamdebatte zu sprechen kam. Sie kontrastierte die Situation nach ihrer Heiratsmigration nach Deutschland mit ihrer Kindheimat in Belgien: „Das Ruhrgebiet, die haben so nen schlechten, Ruf, ne? Also für mich war das genau das Richtige! Als Ausländer nach Dortmund zu kommen. Weil die Dortmunder, die sind so: Entweder die mögen dich oder sie mögen dich nicht. […] Und das hat selten was damit zu tun, wo man herkommt. Und das war sehr faszinierend für mich. Dadurch konnte ich mich entwickeln. In Belgien war ich immer so verbittert. Ich hab immer gedacht, die wollen gar nicht, und alle sind gegen mich. Und das war auch so! Also wie viele Erlebnisse ich hatte, das ist unglaublich! Ich hätte jeden Tag zur Polizei gehen und Anzeige erstatten können. […] Ich hab das ne Weile auch gemacht. Aber das hält man nicht lange durch.“ MD: „Mhm. Was waren das für Ereignisse?“ Y: „Ja dass man bespuckt wird, dass man – das ist kein Scherz, nein! Also das fängt sehr früh an.“
Yasmina erzählt davon, dass sie u.a. von ihrer Lehrerin ausgelacht wurde, als sie auf die Frage nach ihrem Berufswunsch „Premierministerin“ angab. Auch eine Bewerbung wurde abgelehnt mit der Begründung, „weil wir keine Ausländer anstellen“. Sie erlebte, „wie plötzlich Grenzen gesetzt werden“. Diese Erlebnisse waren für sie extrem verletzend und frustrierend. Dennoch gibt sie zu bedenken:
354 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT „Vielleicht sind wir auch schwierig, die zweite Generation. Weil meine Eltern, die haben gearbeitet, die haben ihre Aufgabe erledigt. Mussten auch gar nicht die Sprache lernen. Weil die für nen bestimmten Zweck da waren. […] Und wir waren in der Schule. Wir mussten, ähm, wir (stammelt auffällig) m-, m-, also das ist, wie soll ich das? (.) Man wird rausgeworfen. Man glaubt, man ist eine von denen. Man meint, man gehört dazu. Aber bei jeder Gelegenheit wird einem gezeigt, dass es nich so ist! Statt die Gemeinsamkeiten# Ich versteh das auch in Deutschland [nicht]. Diese Diskussion hier über Integration […]“
Aus der eigenen Erfahrung von ethnisierend-diskriminierenden Erfahrungen sowie dem Widerspruch, der sich aus diesen Erfahrungen einerseits sowie ihrem biographisch begründeten Anspruch auf Zugehörigkeit und Beheimatung andererseits ergibt, erklärt sich in diesem Fall die Annahme der Anrufung durch die deutsche „Sarrazindebatte“. Sozialisiert in einer durch islamische Religionspraxis geprägten Familie, klinkt sich Yasmina in die durch die diskursive Ko-Konstitution der Begriffe ‚Ausländer/-in‘ und ‚Muslim/-a‘ geprägte Subjektposition ein, die ihr das autorisierte Sprechen in diesem Kontext ermöglicht. Warum sie sich jedoch nicht nur sprachlich-diskursiv positioniert, sondern auch konkret tätig wird, erklärt sich, wenn man Yasminas früh eingeübte Protesthaltung gegen Ungleichbehandlungen in die Analyse miteinbezieht (sie erzählt u.a. davon, wie sie bei einer Demonstration in Belgien einmal festgenommen wurde). Ihre hart erkämpfte gehobene soziale Positionierung im Zusammenspiel mit der Artikulation in einem meritokratischen Diskurs erleichtern es ihr schließlich, einen Anspruch auf Widerspruch und einen Eintritt in das politische Feld zu legitimieren: „Ich zahle sein Gehalt, da muss ich mich nicht beleidigen lassen.“2 Sowohl Yasminas temporäre Artikulationen in den Diskurs als auch ihre realen, lebensweltlichen Handlungsentscheidungen und Praktiken lassen sich also durch ihre spezifischen, translokal erworbenen Dispositionen sowie ihre aktuell eingenommene Position im sozialen Raum erklären. Diese Zusammenhänge werden besonders deutlich, wenn man Yasminas Fall mit den in den drei Einzelfallanalysen detailliert dargestellten Diskursartikulationen und Reaktionen auf das deutsche Islambild kontrastiert: So kommt beispielsweise Raif, der im Prinzip ähnliche Kindheitserfahrungen und ähnliche Beheimatungsansprüche aufweist wie Yasmina, nicht auf die Idee, sich deswegen politisch zu engagieren. Er hat stattdessen sehr früh ein Gefühl der Machtlosigkeit internalisiert (ich war klein – ich konnte nichts dagegen tun), das durch das fehlende Verständnis der älteren Generation noch verstärkt wurde. Die Schülerin Amal dagegen entwickelt in einem spezifischen lokalpolitischen Kontext in Kombination mit ihrer in den letzten Jahren verstärkt ausgebauten religiösen Identifizierung das Bedürfnis, den lokalen Gegenspieler der anti-muslimischen Partei PRO NRW zu unterstützen. Ihr politisches Engagement (das nur in Weiterempfehlungen besteht – ihre deutsche Staatsangehörigkeit hat sie in diesem Kontext noch nicht beantragt) begründet sie anders als Yasmina primär mit dem Ziel, dafür mitarbeiten zu wollen, dass die bisher von Muslimen in Deutschland ausgeübte Reli-
2
Zur Bedeutung der Ausstattung mit Kapitalia für das Gefühl der Legitimierung politischen Handelns und für einen realen Eintritt in das politische Feld vgl. ausführlich Didero (2013).
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gionsfreiheit auch in Zukunft bestehen bleibt und nicht – wie von vielen NichtMuslimen befürwortet (vgl. Kap. 3.1.2) – eingeschränkt wird. Der lokalpolitische Kontext ist auch einer der beiden Faktoren, die erklären, warum Majidas in Bonn lebende Schwester – die einen sehr ähnlichen Lebensweg, eine sehr ähnliche soziale und berufliche Positionierung sowie eine insgesamt sehr ähnliche Werteorientierung aufweist – sich nicht nur mit anderen deutsch-marokkanischen Muslimen/Musliminnen solidarisiert, sondern aus einer Kontra-PRO-NRW-Position heraus ebenfalls politisch aktiv wird. Ein zweiter Erklärungsansatz findet sich dabei in ihrer Biographie: Anders als Majida, die nach Deutschland nachkam, war ihre Schwester die erste aus ihrer Familie, die zum Studium nach Deutschland einreiste. In der ersten, sehr schwierigen Orientierungsphase wurde sie in zwei marokkostämmigen Arbeiterfamilien aufgenommen. Sie stellte schnell fest, dass diese in einer „ganz anderen Welt“ lebten und mit „ganz anderen Problemen“ kämpften. Mit den Personen aus diesem von ihr als konservativ-ländlich beschriebenen Milieu kann sie sich heute ebenso wenig identifizieren wie ihre Schwester. Zugehörig fühlt sie sich hier nicht. Sie hat in ihren Gastfamilien zwar wenig(er) gebildete, aber dennoch sehr liebevolle und fürsorgliche Menschen kennengelernt, die nach dem ‚richtigen‘ Leben streben, hierfür jedoch z.B. in religiöser Hinsicht nicht über genügend Kenntnisse verfügen. Da sie einerseits um die Probleme dieser Familien weiß und ihr andererseits sehr bewusst ist, dass sie als Teil einer Akademikerfamilie eine sehr privilegierte Position einnimmt, entwickelt sie ein persönliches Verantwortungsgefühl. Aus diesem speisen sich ihre Solidarisierung sowie ihr Engagement. Obwohl also die subjektivierende Wirkung eines medial und hegemonial konstruierten Islambildes für fast alle in die deutschen Diskurse eingebundenen Interviewpartner/-innen nachgewiesen werden kann, artikulieren sich die einzelnen in sehr unterschiedlicher Weise in diese Diskurse und reagieren auf die erfolgten Anrufungen mit divergierenden Handlungsstrategien. Eine Antwort darauf, warum jemand in einer bestimmten Weise reagiert (oder eben auch nicht), bieten dabei die in bestimmten lokalen Kontexten erlebten und inkorporierten, historisch sedimentierten Subjektivierungsformen der Befragten sowie die daraus resultierenden Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster in Zusammenhang mit den jeweils biographisch generierten Ansprüchen auf Beheimatung und Zugehörigkeit. Resümee Zusammenfassend lassen sich somit an dieser Stelle folgende Faktoren benennen, die sowohl die Rezeption von als auch die Artikulation innerhalb der deutschen Islamund Einwanderungsdebatten wesentlich beeinflussen (vgl. Abb. 22 unten): Die jeweiligen Sprachkenntnisse wirken als Filter. Eine Subjektivierung durch die explizite Anrufung als Muslim/-a kann nur in den Sprachen erfolgen, die verstanden und für Alltagskommunikation und Medienkonsum benutzt werden. Wie in Kap. 6.3 gezeigt, sprechen die meisten meiner Gesprächspartner/-innen zwei, häufig auch mehr Sprachen. Anzahl und Art der gesprochenen und geschriebenen Sprachen variieren mit dem Alter, Geschlecht, nach Ort und Dauer des Schulbesuchs sowie nach Migrationsmotiv und den hierfür jeweils etablierten politisch-juristischen Rahmenbedingungen. Personen (fast) ohne Deutschkenntnisse finden sich nur unter denjenigen, die in Folge einer ausgebliebenen Einbindung in ein Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis und der Integration in ein sprachlich ähnlich geprägtes Wohnumfeld weder
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externe Anreize zum Spracherwerb erhielten noch eine intrinsische Motivation entwickelten. Es sind daher vor allem einige der als Heiratsmigrantinnen von Mitte der 70er Jahre bis zu den Reformen der Einwanderungsbestimmungen nach Deutschland eingewanderten Frauen, die mit dem deutschsprachig vermittelten Islambild kaum oder gar nicht konfrontiert werden. Die Erwerbspersonen in den Haushalten dagegen werden auch bei eher schwachen Deutschkenntnissen in alltäglichen Interaktionen und häufig auch über ihren Medienkonsum durch die entsprechenden Diskurse „angerufen“. Für viele (ältere) Männer scheinen darüber hinaus auch die Moscheen und ihre ‚Stammcafés‘ Orte zu sein, an denen sie auch bei geringeren Kenntnissen der deutschen Sprache in Mediendebatten und politische Diskussionen eingebunden werden (vgl. Kap. 5.2.2). Die Auswahl und Nutzung verschiedener Nachrichtenmedien erfolgt in Abhängigkeit der Sprachkenntnissen ein- oder mehrsprachig. Während jedoch bei den in Marokko aufgewachsenen Migranten der ersten Generation eine multi-nationale und multi-linguale Mediennutzung vorherrscht, sind die in Deutschland aufgewachsenen Personen meist stärker einsprachig auf deutsche Mediendiskurse fokussiert. Aber auch sie erhalten durch ihr Umfeld (Eltern, ältere Geschwister, Freunde und Bekannte) Einblick in die in anderen Sprachen verhandelten Konstruktionen von Wirklichkeit. Die aus dieser vergleichenden Perspektive resultierende, skeptisch-distanzierte Form der Medienrezeption entwickelten einige der Befragten bereits während des ersten Golfkrieges, der als erstes einschneidendes Diskursereignis mit Bezug auf das deutsche Islambild beschrieben wird. Verstärkt und ausgeweitet wurde diese Haltung bei vielen jedoch durch die Islamdarstellungen und -debatten der letzten zehn Jahre. Diese führten in Einzelfällen dazu, dass deutsche Mainstream-Nachrichtenmedien, besonders das Fernsehen, heute weitgehend gemieden werden. Ergänzend oder als Alternativ-Medien greifen die Befragten dabei je nach Sprachkenntnissen und Technikaffinität entweder auf anderssprachige Nachrichtenmedien und/oder das Internet als (auch) heterodoxe Quelle zur Informationsgewinnung zurück. Fazit 1: Weitestgehend irrelevant ist das deutsche Islambild für eine beschränkte Anzahl an Personen ohne deutsche Sprachkenntnisse und ohne Einbindung in politische Debatten über individuelle Freundschaftsnetzwerke. Alle anderen werden jedoch entweder über Alltagskommunikation und/oder ihren Medienkonsum mit den entsprechenden Images konfrontiert und müssen sich damit auseinandersetzen. Zweitens war zu Beginn des Forschungsprojektes angenommen worden, dass sich der Grad und die Art individueller Religiosität darauf auswirken, wie die deutschen Islamdebatten wahrgenommen werden, und welche Bedeutung ihnen für die individuelle Biographie und Identität zukommt. Dass Religiosität in diesem Zusammenhang tatsächlich einer von mehreren relevanten Einflussfaktoren ist, konnte empirisch nachgewiesen werden. Aufgrund des multidimensionalen Charakters von Religiosität (vgl. Kap. 6.4) ist die Beziehung zwischen eigener Religiosität und Rezeption des Islambildes jedoch komplex und nicht uni-direktional zu erfassen. So erhöht die öffentlich ausgeübte Religionspraxis (d.h. z.B. das Befolgen von Speise- oder Bekleidungsvorschriften) die Wahrscheinlichkeit einer FremdIdentifizierung als Muslim/-a. Wichtig ist, dass die eigene Religionspraxis die Wahrscheinlichkeit nur erhöht und nicht bedingt. Denn wie in Kapitel 6.5.3 gezeigt, wer-
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den auch viele nicht praktizierende Personen aufgrund ihrer physiognomischen Erscheinung als Muslime identifiziert. Aufgrund dieser Fremd-Identifizierung in Alltagssituationen als „Muslim/-a“ angesprochen oder auf der Basis dieser sozialen Teilungskategorie in einer bestimmten Weise behandelt zu werden, bedeutet im gravierendsten Fall „echte“ Diskriminierungserfahrungen im Sinne einer unmittelbar wahrnehmbaren Schlechterstellung auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt. Als Auslöser für derartige Erfahrungen wurde von den Befragten vor allem das, wie in Kap. 3 gezeigt, als Verdichtungssymbol fungierende Kopftuch genannt. Sehr viel häufiger und alltäglicher sind jedoch „muslim moments“, in denen die als „Muslime“ fremd-identifizierten Personen kritische Nachfragen zu ihrer Religion beantworten sollen und/oder mit Misstrauen, Beleidigungen und Vorwürfen konfrontiert werden. Während in einigen dieser Situationen sehr explizit auf die Religion als sozial eingesetzte Sicht- und Teilungskategorie zurückgegriffen wird, bleiben andere unangenehme Situationen ambivalent. Diese können von den Betroffenen mit Bezug auf allgemein zwischenmenschliche Missverständnisse und Dissonanzen erklärt werden oder aber in Zusammenhang mit einer der beiden im deutschen Diskurs inzwischen fast synonym gebrauchten sozialen Kategorien des ‚Ausländers‘ (der Ausländerin) oder des ‚Muslims‘ (der Muslima) gebracht werden. Wie die Interpretation erfolgt, hängt stark davon ab, welche vorgängigen Erfahrungen die in diese Situation involvierte, „angerufene“ Person gemacht hat und welche sozialen Differenzkategorien bis zu diesem Zeitpunkt in ihrem Selbst-Verständnis „ritualisiert und sedimentiert“ wurden (Butler 2006, 240). Dies bedeutet: Je stärker zu einem gegebenen Zeitpunkt die Selbst-Identifizierung als Muslim/-a ist – wobei eine starke Selbst-Identifizierung häufig, aber nicht immer, mit einem höheren Grad an emotionaler Bindung an die eigene Religion (Erfahrungsdimension) und/oder einer entsprechenden Religionspraxis einhergeht – umso höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Fremd-Anrufung als Muslim/-a mitsamt den darin mitschwingenden Konnotationen und Vorannahmen angenommen und auf sich selber bezogen wird; somit also eine Einnahme der durch den Diskurs bereitgestellten Subjektposition erfolgt. Wie in Kap. 6.5.3 für Amina gezeigt, besteht dieser Zusammenhang nicht nur für direkte Face-to-Face-Interaktionen, sondern „funktioniert“ auch für „verstreute“, medial vermittelte Anrufungen. Während folglich die religiöse Praxis die Wahrscheinlichkeit einer Anrufung als Muslim/-a über das unabhängig davon bestehende Maß hinaus erhöht, und eine affirmative Selbst-Identifizierung als Muslim/-a die Annahme der Anrufung fördert, wirken anderseits die direkt und indirekt erfahrenen, „verstreut wirksamen“ Anrufungen als Muslim/-a auf die verschiedenen Dimensionen von Religiosität zurück: Diese können in Reaktion auf die Erlebnisse und Erfahrungen einerseits gesteigert werden; z.B. durch affirmatives Selbstbekenntnis als Muslim/-a (Yasmina), gesteigerte Akkumulation religiösen Wissens (Raif) oder das Anlegen eines Kopftuches trotz erwarteter negativer Kommentare (Faiza). Mit Bezug auf die sichtbare religiöse Praxis der weiblichen Kopfbedeckung wird in Reaktion auf die negativen Alltagsbegegnungen jedoch andererseits auch eine modifizierte, abgeschwächte Praxis erkennbar: Entweder indem das Kopftuch ganz abgelegt wird (Ines, Loubna) oder aber indem es, abweichend vom eigenen Bedürfnis, dem Arbeitgeber zuliebe nur außerhalb der Arbeitszeit getragen wird (Rihane).
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Fazit 2: Der angenommene Zusammenhang zwischen persönlicher Religiosität und Wahrnehmung von Reaktionen auf ein hegemoniales Islambild in der deutschen Öffentlichkeit erweist sich als mehrdimensional und reziprok. Eine Analyse dieses Zusammenhangs muss daher am Einzelfall ansetzen und kann auch dann – getreu des hier gewählten Ansatzes der Analyse von im Gesprächskontext her- und dargestellten narrativen Identitäten – nur ansatzweise, d.h. als Rekonstruktion dritten Grades erfolgen. Wie die Anrufungen als Muslim/-a im Kontext der hegemonialen Diskurse wahrgenommen werden, und welche Reaktionen darauf erfolgen (oder nicht), lässt sich, wie im letzten Teilkapitel gezeigt, weder aus der Integration in die Sprachgemeinschaft noch aus der individuellen Religiosität ableiten. Stattdessen gilt es, eine Reihe weiterer Faktoren zu berücksichtigen. Diese sind erstens die Dispositionen, die sich ja – daran sei erinnert – im biographischen Verlauf im Zusammenspiel von sedimentierten individuellen Erfahrungen und Lebenswegen sowie den nacheinander und gleichzeitig eingenommenen Positionen in verschiedenen sozialen Feldern sowie den darin wirksamen symbolischen Herrschaftsformen ausprägen. Von besonderer Bedeutung sind Ereignisse, in denen Personen aufgrund ihrer Religion, Herkunft und/oder ihres Aussehens mithilfe bestimmter Kategorien fremd-identifiziert werden – besonders wenn diese Interaktionen mit Diskriminierungs- oder Ausgrenzungsgefühlen verbunden sind. Zweitens wirken die aktuell verfügbaren Handlungsressourcen in Form von kulturellem, sozialem, ökonomischem und symbolischem Kapital als ermöglichende und einschränkende Faktoren. Drittens erweisen sich für die subjektiven Artikulationen in die deutschen Zuwanderungs- und Islamdebatten wie gezeigt auch die individuellbiographisch begründeten Ansprüche auf Zugehörigkeiten sowie der (lokal-) politische Kontext als bedeutsam. Nur im Zusammenspiel dieser drei Faktoren mit den oben erläuterten multidimensionalen Ausprägungen von persönlicher Religiosität lassen sich die in den Interviews aufscheinenden unterschiedlichen Artikulationen in einen deutschen Islamdiskurs bzw. die daraus abgeleiteten veränderten Alltagspraktiken erklären. Fazit 3: In Bezug auf die Frage, wie im spezifischen Interviewkontext eine Artikulation im Islamdiskurs vorgenommen wird, wie das Islambild verhandelt wird und welche Bedeutung darin für die individuelle Biographie gesehen wird, haben sich die folgenden Einflussfaktoren als relevant erwiesen (vgl. hierzu Abb. 22 unten): 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Sprache: Filter oder mehrsprachige „Wirklichkeiten“ Medienkonsum: heterodoxe oder hegemoniale Medienkanäle Mehrdimensionale Religiosität: mehr oder weniger ausgeprägt Soziale Positionierung und Kapitalausstattung: prekär bis elitär Ausgrenzungserfahrungen: markant bis (fast) irrelevant Translokale Biographien, Habitus und Selbst-Verständnis: divergierende Ansprüche auf (raumbezogene) Zugehörigkeiten
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Abbildung 22: Das deutsche Islambild – Zusammenhänge zwischen SelbstVerständnis und sozialer Praxis
Quelle: Eigene Abbildung, © M. Didero
Fragt man aus dieser Perspektive danach, warum einige der Befragten es besser oder einfacher schaffen, die Anrufung durch das negativ konnotierte Islambild auf Distanz zu sich selbst zu halten, während andere durch die entsprechenden medialen und konkret-interaktiven Anrufungen sehr unmittelbar verletzt werden, sich quasi „bis ins Mark“ getroffen fühlen (bzw. im Interviewkontext sich so konstituieren), so erweist sich das Konzept der Anerkennung als hilfreich – und zwar in allen drei von Honneth
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(1992) ausgearbeiteten Anerkennungssphären: der Liebe (emotionale Zuwendung), des Rechts (kognitive Achtung) und der sozialen Wertschätzung (Solidarität). 3 Nicht nur in dem Interview mit Amal (siehe dort) wurde sehr deutlich, dass das deutsche Islambild dann für besonders relevant gehalten wird bzw. zu Widerspruch und aktiver Opposition führt, wenn es von einer rhetorischen Ebene in das politische Feld getragen wird. Dort also, wo die Macht verortet ist, über den rechtlichen Status von Religion und Religionsangehörigen zu entscheiden. Die Gefahr der Entrechtung, also des Entzuges von bereits gewährten bzw. ausgeübten Rechten der Religionspraxis, ist die Dimension, die bei den gläubigen und praktizierenden Gesprächspartnern/Gesprächspartnerinnen jenseits von Alter und/oder Sozialisationskontext mobilisierend wirkte. Eine Hauptforderung an Gesellschaft und Politik ist der Respekt und die Anerkennung der Religionsfreiheit. Diese Forderung wird – wie am Beispiel Yasminas gezeigt – durchaus auch von selbst nicht praktizierenden oder sich als gläubig positionierenden Personen geteilt. Je nach persönlicher translokaler Positionierung fallen die subjektiven Artikulationen in diesem Kontext ebenso unterschiedlich aus wie die lebensweltlichen ‚Antworten‘. Dennoch ist davon auszugehen, dass die europaweiten Diskussionen über Kopftuch-, „Burka-“ und Minarettverbote und das daraus resultierende Gefühl einer Bedrohung der rechtlichen Anerkennung der Religion zu der Subjektkonstitution der von diesem Diskurs Angerufenen ebenso stark beiträgt wie deren persönliche Erfahrungen von Diskriminierung und religionsund/oder herkunftsbezogener Abwertungen. Fragt man umgekehrt nach den Fällen, in denen – jenseits einer möglichen persönlichen Religiosität – das deutsche Islambild im Rahmen der in der Interviewsituation her- und dargestellten narrativen Identitäten ebenso irrelevant erschien wie in den darin rekonstruierten Lebensgeschichten, so fällt auf, dass es sich dabei jeweils um eine in gewisser Weise krisenhafte Biographie handelt. Für jemanden wie Rachid, der ohne eigene Familie lebt und weder mit seiner Wohn- noch mit seiner Arbeitssituation zufrieden ist, steht seine prekäre Lebenssituation im Vordergrund seiner Selbst-Darstellung. Deutsche Debatten über Islam und Muslime sind für ihn solange nicht relevant, wie er sich in seinem Alltagsleben ebenso wie in Bezug auf seine Zukunftspläne durch seine geringen und unregelmäßigen Einkünfte stark eingeschränkt fühlt.
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Honneths „Kampf um Anerkennung“ (1992) bezieht sich auf frühe Texte von Hegel, in denen Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung hinsichtlich der Beziehungsformen der persönlichen Liebe, des Rechts und der solidarischen Zusammenarbeit diskutiert werden. Honneth (1992, 310) geht davon aus, dass ein Subjekt eine funktionierende Selbstbeziehung nur dann herstellen kann, wenn es alle drei Anerkennungsformen erfährt. Umgekehrt ist anzunehmen, dass eine Missachtung auf der Ebene persönlicher Beziehungen (durch Gewalt, aber auch Entzug von Bejahung; vgl. Ricoeur 2006) sich negativ auf das subjektive Selbstvertrauen auswirkt. Missachtung durch Entrechtung und (juristisch definierte) Ausschließung kann die Selbstachtung beschädigen. Die Vorenthaltung sozialer Anerkennung schließlich (z.B. durch Entwürdigung und Beleidigung) beschädigt die Würde und „Ehre“ des Subjekts und beeinträchtigt das Selbstwertgefühl („Selbstschätzung“) (Überblick in Honneth 1992, 211; für eine kritische Diskussion der drei Dimensionen von Anerkennung vgl. Rothfuß 2012, 33-51).
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Auch die Arbeitsmigrantin Hasna lässt sich in ihren Selbst-Darstellungen kaum auf eine Diskussion des deutschen Islambildes ein. Dies ist kaum erstaunlich, wenn man sich ihre Biographie anschaut: Hasna ist ebenfalls unter sehr prekären ökonomischen Bedingungen aufgewachsen. Als geschleuste, zwar zeitweise legalisierte, jedoch zumeist zur Schwarzarbeit gezwungene Migrantin ist ihr Lebensweg vom Kampf um ihre ökonomische Lebensgrundlage ebenso gekennzeichnet wie von ihrem Ringen um rechtliche Anerkennung. Das Fehlen letzterer ist es schließlich, das sie am Ende ihrer Odyssee an ihren frisch geheirateten Ehemann bindet und sie seine Misshandlungen erdulden lässt. Diese Erfahrung von Missachtung auf der persönlichen, emotionalen Ebene prägt sie zutiefst. Das deutsche Islambild? Dritt- und viertrangig angesichts der Probleme und Herausforderungen, die sie in ihrem Alltagsleben seit ihrer Kindheit zu meistern hatte. Der ehemalige Studienmigrant Hachem dagegen zeigt, wie bedeutsam nicht nur die von Honneth ausgeführten körperlichen Missachtungsformen im Rahmen von Primärbeziehungen sind, sondern ebenso die auf Ricoeur (2006, 239f.) zurückgehende Erweiterung auf mentale Formen der Verweigerung von Bejahung. Für ihn ist es die Geschichte seiner Scheidung und seines jahrelangen, am Ende verlorenen Streits um das Sorgerecht seiner Tochter, die seine narrative Identität dominiert. Diese Bürde, die er mit sich trägt, und die sein Vermögen beeinträchtigt, sich in seiner aktuellen Familienkonstellation seiner Frau und Tochter gegenüber so einzubringen, wie er es für richtig halten würde, ist für seine Selbstsicht sehr viel bedeutender als z.B. das von ihm als Versagen empfundene nicht beendete Studium. Von negativen Vorurteilen gegenüber Muslimen in Deutschland weiß er zwar; er hat diese auch zum Teil selbst erfahren. Der Stellenwert dieser Begegnungen und Erfahrungen ist jedoch absolut nachrangig angesichts der von ihm auf der persönlichen, emotionalen Ebene gemachten Erfahrung von Missachtung. Die Frage der sozialen Anerkennung und Wertschätzung schließlich erweist sich für die konkrete Fragestellung nach der Bedeutung des Islambildes für Biographien, Identitätskonstruktionen und das soziale Zusammenleben in Deutschland als sehr zentrales Element. So zeigte bereits die narrative Identitätsanalyse für Majida, dass es die soziale Anerkennung ist, die sie aufgrund der von ihr erreichten beruflichen Situation für sich beanspruchen kann bzw. die ihr gewährt wird, die es ihr ermöglicht, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln und somit kränkende Erfahrungen in der Vergangenheit in ihrer Bedeutung zu relativieren. Aus ihrer aktuell privilegierten gesellschaftlichen Position heraus kann sie die negativen Konnotationen des Islambildes auf die nicht erfolgreichen deutschen Muslime übertragen und so die entsprechende Anrufung zwar nicht aussetzen, aber in Distanz zu ihrem Selbst-Verständnis halten. Für den erfolgreichen Ingenieur Yakub ist es ebenfalls der symbolische Wert seiner beruflichen Fähigkeiten, der es ihm erlaubt, sich von den negativen Anrufungen zu distanzieren. Die international in vielen Ländern zu findende Anerkennung seines inkorporierten kulturellen Kapitals eröffnet ihm die Möglichkeit, auszuwandern und dorthin zu gehen, wo er – als Person und als Muslim – eine höhere Akzeptanz findet, falls diese in Deutschland irgendwann einmal nicht mehr ausreichend gegeben sein sollte. Während ihr symbolisches Kapital den beiden Studienmigranten also eine mentale und/oder geographische Distanzierung ermöglicht und ihnen soziale Anerkennung ebenso wie eine weitgehende finanzielle Sorgenfreiheit sichert, ist darüber hinaus ein weiteres Element von Belang: Aufgewachsen in Marokko und aus freier
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Entscheidung als Erwachsene nach Deutschland migriert, haben die Studienmigranten (in dieser Hinsicht ähnlich wie die Arbeitsmigranten der ersten Generation) keinen absoluten und unantastbaren Anspruch auf Zugehörigkeit zu ihrem neuen Wohnort bzw. Land entwickelt. Sie sehen sich selber als Zuwanderer. Die entsprechenden Anrufungen und diskursiven Konstruktionen als ‚Fremde‘ können sie daher tendenziell besser mit ihrem Selbstbild übereinbringen, als es für in Deutschland aufgewachsene Personen der Fall ist. Somit lässt sich festhalten, dass die im deutschen Islambild manifeste diskursive Ausgrenzung entlang religiös-kultureller Grenzen (vgl. Kap. 3) für diejenigen besonders relevant wird, die in Deutschland aufgewachsen sind und daher ein Bedürfnis nach und einen Anspurch auf Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft empfinden. Die Relevanz der aktuellen Debatten wird dann gesteigert, wenn die immer schon vorgängig subjektivierten Personen zuvor zusätzlich erfahren haben, was es heißt, als rassifizierte und „physiognomisierte Andere“ (Mecheril 2003a, 67) erkannt und behandelt zu werden. Wenn ihre Erfahrungen mit Ausgrenzung, Diskriminierung und „othering“ ihnen also bereits vor Etablierung und Sichtbarwerdung des Islams als soziales Sicht- und Teilungsprinzip die Chance verwehrt haben, „ungekränkt […] aufzuwachsen“ (Habermas 2009). Wie in den letzten Kapiteln gezeigt, wird die negativ konnotierte und ausgrenzende Anrufung als ‚Muslim‘ umgekehrt tendenziell weniger relevant für solche Personen, deren soziale Anerkennung hierdurch weniger gefährdet wird, weil sie nicht in Deutschland aufgewachsen sind und daher Fremdbild und Selbstbild als ‚Zugewanderte‘ stärker übereinstimmen. Dieser Schutzmechanismus wird weiter verstärkt, wenn die betreffenden Personen aufgrund von Bildung, internationaler Erfahrung und Berufserfolgen über soziales Prestige verfügen. Hierdurch wird es für sie möglich, sich entweder mental als nicht zu der Gruppe der durch das deutsche Islambild beschriebenen Muslime zugehörig zu konstruieren oder/und auch real-geographisch auf andere Länder und andere Kontexte ausweichen, sobald die Situation in Deutschland ihren Ansprüchen und Präferenzen nicht mehr genügt.
7.2. S CHLUSSBETRACHTUNG Im Zentrum dieser Arbeit stand die Frage, wie in Deutschland lebende und als Muslime identifizierbare Personen das im deutschen Sprachraum vorherrschende Islambild wahrnehmen. Um die Fremd-Identifizierung als Muslim/-a im Interviewkontext nicht (oder zumindest nicht vorschnell) zu reproduzieren, wurden aus Marokko stammende Personen ausgewählt und entsprechend angesprochen. Diese wurden zuerst gebeten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, bevor sie im letzten Teil der qualitativen Interviews explizit aufgefordert wurden, sich zu den Islamdebatten in den deutschen Medien und der deutschen Gesellschaft zu positionieren. Bei der Auswertung der Interviews wurde danach gefragt, ob und wie sich das in Deutschland stark negativ konnotierte Islambild (vgl. Kap. 3) auf die Identitätskonstruktionen und das Alltagsleben der befragten Personen auswirkt. In der folgenden Schlussbetrachtung werden zunächst die theoretischen Grundlagen der Arbeit zusammengefasst, zweitens die verwendeten Methoden diskutiert und drittens die zentralen Ergebnisse der empirischen Analyse skizziert.
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Theorie – Subjekte als Produkte und Produzenten symbolischer Ordnung In dem ersten, theoretisch angelegten Teil der Arbeit galt es zunächst, den allzu vieldeutigen Begriff der ‚Identität‘ zu definieren und präzisieren. Hier habe ich gezeigt, dass es auch in der kultur- und sozialgeographischen Forschung sinnvoll und hilfreich ist, die von Brubaker und Cooper (2000) entwickelte Differenzierung zwischen erstens Praktiken und Kategorien der Selbst- und Fremdidentifizierung, zweitens dem von einer Person im Laufe ihres Lebens entwickelten „Selbst-Verständnis“ und drittens einem davon zu unterscheidenden Konzept von „Zugehörigkeit“ zu unterscheiden. Mithilfe dieser Differenzierung konnte die Fragestellung präzisiert werden: So sollte das in Deutschland etablierte Islambild • • •
erstens auf seine Auswirkungen für die Selbst- und Fremdidentifizierungen der Betroffenen hin befragt werden, zweitens in Bezug auf seine Folgen für das als „sens pratique“ wirkende SelbstVerständnis diskutiert werden, und drittens auf seine Konsequenzen für gruppen- und raumbezogene Zugehörigkeitsgefühle hin untersucht werden.
Bevor diese Fragen mithilfe der empirisch gewonnenen Erkenntnisse beantwortet werden konnten, galt es, das Verhältnis von (handelndem) Subjekt und Diskurs zu klären. Hierfür habe ich zunächst die Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe herangezogen. Mithilfe des bei Althusser entlehnten und poststrukturalistisch gewendeten Konzeptes der „Interpellation“ einerseits und mittels des Anschlusses an die psychoanalytische Theorie von Lacan anderseits bestimmt dieser Ansatz das Verhältnis von Diskurs und Subjekt als wechselseitige Artikulation. Aus einer solchen poststrukturalistischen Perspektive heraus betrachtet sind weder Diskurse noch die von ihnen bereitgestellten Subjektpositionen endgültig schließ- oder fixierbar. Aufgrund dieser Unabgeschlossenheit des Diskurses tritt das Subjekt als notwendige Größe auf. Subjekte werden einerseits durch Diskurse in bestimmte Subjektpositionen gerufen. Andererseits identifizieren sie sich mit bereitgestellten Subjektpositionen, die sich wiederum in und durch diese Artikulation verändern können. Während also Personen, sobald sie in eine soziale Interaktion eintreten, immer schon durch symbolische und soziale Strukturen „angerufen“ und subjektiviert worden sind, verfügen sie andererseits über einen gewissen Grad an Handlungsfreiheit. Diese liegt jedoch nicht in dem intentional-bewussten Sprechen und Handeln eines sich selbst transparenten Subjekts begründet, sondern in der Instabilität und Offenheit von Diskursen, die in und durch Sprechakte und Alltagspraktiken immer wieder neu rekonstruiert und re-etabliert werden müssen. Allerdings – und in dieser Hinsicht stimme ich der von Rothfuß und Dörfler (2013, 17) geäußerten Kritik an diskurstheoretischen Subjektkonzeptionen zu: Was mit Laclau und Mouffe nicht zu erklären oder zu bearbeiten ist, ist die Frage danach, welche Rolle eine sedimentierte Sozialität für die Konstitution eines handlungsleitenden Selbst-Verständnisses spielt (vgl. Kap. 2.1.3). Um die Bedeutung von solchen vorgängigen symbolischen und sozialen Strukturen für die Subjektkonstitution klären zu können, habe ich daher in einem zweiten Schritt eine vertiefte Beschäftigung mit der Theorie der Praxis nach Bourdieu angeschlossen. Bourdieus Konzept des Habi-
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tus, definiert als Set von Dispositionen, die gesellschaftlich strukturiert sind und denk-, wahrnehmungs- und handlungsleitend wirken, bietet eine hilfreiche Erklärung dafür an, wie Personen im Laufe ihrer Biographie ein bestimmtes – jedoch weder einheitliches noch zeitlich konstantes – Selbst-Verständnis ausbilden. Die seiner Theorie zugrunde liegende strukturalistisch-konstruktivistische Perspektive ermöglicht es, die Bedeutung symbolischer Herrschaft und symbolisch etablierter sozialer Sicht- und Teilungsprinzipien ebenso in den Blick zu nehmen wie die konkreten Chancen und Grenzen biographischer Lebensgestaltung, die aus einer bestimmten Kapitalausprägung und dem dieser in einem bestimmten sozialen Feld zugewiesenen Wert resultieren. Während Bourdieu aufgrund der von ihm untersuchten gesellschaftlichen Strukturen vom Regelfall der Habitus-Struktur-Kongruenz und der Reproduktionsfunktion sozialer Praxis ausgeht, liefert Butler mit ihrem Konzept der Performativität eine Erklärung dafür, wie durch Sprechakte und soziale Praxis soziale und diskursive Strukturen (nicht intentional) verändert werden können, obwohl Individuen immer durch die vorgängigen symbolischen und sozialen Strukturen subjektiviert worden sind. Durch den Rückgriff auf die praxistheoretischen Ansätze sowohl von Butler als auch von Bourdieu lässt sich ein Spannungsfeld herausarbeiten, innerhalb dessen sowohl Re-Produktion als auch Veränderung sozialer und diskursiver Strukturen denkbar werden. Subjekte werden von den Strukturen eingesetzt, können aber durch ihr Handeln die Strukturen auch verändern. Subjekte sind also weder „Vollautomaten“ noch sich selbst transparente, autonome und rational handelnde Akteure. Sie konstituieren sich immer im Modus eingeschränkter Kontingenz. In der Auswertung der verschiedenen theoretischen Ansätze belegt meine Arbeit, dass praxis- und diskurstheoretische Ansätze durchaus anschlussfähig und kombinierbar sind, ohne dass es hierdurch notwendigerweise zu epistemologischen Verwirrungen kommen muss. Das einleitend problematisierte theoretische und methodische Dilemma kann somit erfolgreich aufgelöst werden. Unter Rückgriff insbesondere auf Bourdieu und Butler, aber auch unter Berücksichtigung der subjekttheoretischen Konzeptionen von Foucault und Laclau und Mouffe konnte ich folglich ein Subjektverständnis „jenseits poststrukturalistischer Ideologismen oder rational handelnder Akteure“ entwickeln, wie es unlängst von Dörfler (2013, 55) als Desiderat für eine theoretisch fundierte raumbezogene qualitative Sozialforschung eingefordert wurde. Ein potenzielles Anwendungsfeld des hier erarbeiteten Subjektverständnisses findet sich in dem bisher besonders in der feministischen Geographie adaptierten Konzept der Intersektionalität (vgl. u.a. Bauriedl et al. 2010; Büchler 2009; Herzig und Richter 2004; Pratt und Hanson 1994; Strüver 2012; Valentine 2007). Interessiert man sich für die ungleichheit(re)produzierenden „Wechselwirkungen von Raum-, Gesellschafts- und Identitätskonstruktionen“ (Strüver 5/2010), so wurde bisher die „Mehrebenenanalyse der Intersektionalität“ (Degele und Winker 2007, Winker und Degele 2009) als ein vielversprechender, jedoch erkenntnistheoretisch eher fragwürdiger Analysezugang bewertet (Strüver 5/2010). Dagegen bieten die hier dargelegten subjekttheoretischen Erkenntnisse – insbesondere der ‚Dialog‘ zwischen Butler und Bourdieu zur Bedeutung von Sprache und der Iterabilität oder Reproduktion sozialer und symbolischer Strukturen – eine erkenntnistheoretisch konsistentere Grundlage, mit deren Hilfe die Zusammenhänge zwischen symbolischen Repräsentationen, sozi-
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alen Strukturen und subjektiven „Identitäten“ in sich widerspruchsfreier und schlüssiger untersucht werden können. In Bezug auf die in diesem Kontext angesprochene räumliche Dimension von Subjektkonstitutionen habe ich in Kapitel 2.2 argumentiert, dass hierbei erstens Raumsemantiken zu berücksichtigen sind. Diese fungieren als „Kürzel“ für Soziales und stellen somit naturalisierend wirkende soziale Sicht- und Teilungsprinzipien dar, mithilfe derer Personen identifiziert werden und sich selbst identifizieren und verorten können. Fragt man jedoch nicht nur nach raumbezogenen Praktiken der Selbstund Fremdidentifizierung, sondern möchte auch wissen, ob, wann und wie sich Gefühle von raumbezogener Zugehörigkeit ausprägen – wenn es also darum geht, was klassischerweise mit dem Begriff der ‚Beheimatung‘ gefasst wird – ist es ebenso wichtig, auch die leiblich erfahrbare, lebensweltliche Verortung von Subjekten mit zu berücksichtigen. Diese lebensweltlich erfahrbaren ‚Orte‘ als zweite Spielart subjektrelevanter Raumdimensionen habe ich mit Escobar und Massey als temporäre, unabgeschlossene, immer trans-lokal verbundene Konstellationen bestimmt. Das Verhältnis von Orten und Dispositionen wird aus dieser Perspektive als ein dialektisches definiert: Durch die Inkorporierung des Habitus „mit dem ganzen Leib“ (Bourdieu 1987b, 142) schreiben sich sowohl die Objektwelt als auch die in diesen Objekten materialisierten gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die damit verknüpften symbolischen Bedeutungen in den Körper und die Dispositionen ein. Diese Dispositionen wiederum prägen raumwirksame und durch Raumwirkungen beeinflusste Praktiken. Reproduziert und/oder verändert werden diese Strukturen wiederum durch die sozialen und räumlichen Praktiken der Subjekte (vgl. Kap. 2.1 Dialog Bourdieu/Butler). Dabei gilt, dass umgekehrt auch die Raumwahrnehmung ebenso wie die an einem bestimmten (trans-lokalen) Ort gemachten Erfahrungen und die an diesen Ort geknüpften Erinnerungen davon abhängen, welche Position eine Person im (symbolisch vorstrukturierten) sozialen Raum einnimmt (vgl. Kap. 5.2). ‚Beheimatung‘ ist aus dieser Perspektive sowohl zeitgleich als auch biographisch konsekutiv an mehreren Orten und in verschiedenen sozialen Konstellationen möglich. Der ‚Kindheimat‘, d.h. dem räumlichen und sozialen Milieu, in dem die Erstsozialisierung einer Person stattfindet, kommt dabei zwar eine besondere Bedeutung für zukünftiges raumwirksames Handeln und Beheimatungsprozesse zu. Sie wirkt jedoch keinesfalls determinierend: Sozial-räumliche Bewegungen (Umzug, Wanderung, Eintritt in ein neues soziales Feld) können, wie gezeigt, sowohl eine Hysterestis des Habitus produzieren als auch eine Veränderung der Dispositionen bewirken. Zuletzt hat die empirische Untersuchung ergeben, dass die emotionale Dimension der Erlebnisse und Interaktionen, durch die sich ein Selbst-Verständnis herausbildet, bei der Analyse des Zusammenhangs von Diskurs und Subjekt unbedingt zu beachten ist. Im Kontext dieser Arbeit habe ich daher Butlers performanztheoretischen Zugang von „hate speech“ (2006) genutzt, um erklären zu können, wie und warum sprachliche Anrufungen (z.B. als Muslim/-in; als Ausländer/-in, aber auch als Neger/-in) das Potenzial haben, Personen zu verletzen. Mit der von Butler theoretisch eröffneten Möglichkeit „subversiver Resignifikation“ konnte ich die Erzählungen meiner Interviewpartner/-innen andererseits auch danach befragen, inwiefern diese durch eine (stolze, selbst-bestätigende) Selbst-Aneignung bestimmter Begriffe eine verletzende Wirkung abwehren und ein Gefühl von Handlungsmacht erzeugen können. Hier-
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durch lässt sich dann eine bestimmte belastende Situation mit einem letztlich positiven, bestätigenden Gefühl (= positives Selbst-Wertgefühl) auflösen. Elijah Andersons (2011) soziologisch-ethnographische Beobachtungen der stark rassifizierten US-amerikanischen Gesellschaft liefern in diesem Zusammenhang einen Zugang zu solchen Begrifflichkeiten (insbesondere der Herkunft und des Aussehens), deren verletzende Wirkung in sozialen Interaktionen nur schwer aufzuheben ist – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie in gewisser Weise als „Platzanweiser“ im sozialen und geographischen Raum wirken (vgl. Kap. 6.5.3 „iconic ghetto“). Wie die empirische Analyse gezeigt hat, werden Interpellationen und soziale Interaktionen sowie die damit einhergehenden Gefühle und Empfindungen spätestens im Moment der Wiedergabe in Worte gefasst und dabei in der Regel auch in Bezug auf bestimmte Kategorien interpretiert und reflektiert. Sowohl die Situationen selbst als auch die hierin aufgerufenen sozialen Kategorien sind dabei unterschiedlich stark vordefiniert. So bietet eine Anrufung wie „Scheiß-Muslim“ oder „Ausländer raus“ sehr viel weniger Interpretationsspielraum als ein schiefer oder kritischer Blick, der sich auf sehr unterschiedliche Aspekte, Handlungen oder Eigenschaften einer Person beziehen mag. Wie genau ein konkretes Erlebnis empfunden und wie es langfristig verarbeitet und in ein Selbst-Verständnis integriert wird, hängt dabei von der jeweils zuvor erfolgten Vorprägung („sedimentierte Sozialität“) ebenso ab wie von den konkreten Machtverhältnissen in der Situation selbst sowie zum Zeitpunkt des Erzählens. Somit erlaubt es das hier vorgestellte Subjektkonzept auch ohne eine explizite Rückbindung an Theoriekonzepte der „emotional geographies“ oder einen Pragmatismus Dewey’scher Prägung die Bedeutung zu berücksichtigen, die individuellbiographischen Erlebnissen und Erfahrungen und den damit verbundenen Empfindungen und Emotionen hinsichtlich der Konstitution eines Selbst-Verständnisses zukommt. Als entscheidend in Bezug auf eine langfristige Subjektkonstitution hat sich das in bestimmten Erlebnismomenten hergestellte oder verweigerte Gefühl von Anerkennung herauskristallisiert (vgl. Kap. 2.2.4 mit Bezug auf Bourdieu und 7.1 mit Bezug auf Honneth). Als Ziel und „Einsatz“ in den verschiedensten sozialen Feldern wirkt das Streben nach Anerkennung als Antriebsfeder menschlichen Daseins und beeinflusst insofern das subjektive Handeln in den verschiedensten Situationen und sozialen Kontexten. Methodik – narrative Identitäten als performative Praxis analysieren Den empirischen Zugang zur Fragestellung mithilfe von narrativ-fokussierten Interviews mit „weicher“ Gesprächsführung habe ich gewählt, nachdem der in einer Voruntersuchung verwendete thematische Leitfaden die Befragten in eine zu starke Verteidigungshaltung gedrängt hatte. Die verwendeten narrativ-fokussierten Interviews dagegen haben sich als optimaler Zugang zu der vorliegenden Fragestellung bewährt. Wegen der offenen und wenig interrogativen Art der Gesprächsführung fehlen an einigen Stellen zwar biographische Details. Dies ist jedoch insofern unproblematisch, als per se keine vollständige Rekonstruktion eines „wahren“ gelebten Lebens angestrebt wurde. Durch die im Gespräch immer nur sehr vorsichtig oder gar nicht vorgenommene Hinterfragung der Selbst-Sichten der Gesprächspartner/-innen konnte ein „Doppelspiel der gegenseitigen Bestätigung der Identitäten“ (Bourdieu 1997c, 791) zwar nicht vollständig verhindert werden. Dies wurde jedoch in der Analysephase entsprechend reflektiert. Angesichts der zeitgleich mit den Interviews sehr vehement
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geführten öffentlichen Debatte um Islam, Integration und Zugehörigkeit erschien es in diesem Fall deutlich wichtiger, den Befragten durch eine nicht interrogative Gesprächsführung das Gefühl von Anerkennung zu vermitteln, das ihnen in alltäglichen, von Misstrauen und Rechtfertigungsdruck gekennzeichneten Begegnungen allzu oft verwehrt bleibt. Entsprechend der gemischten, biographisch-narrativen und fokussierten Interviewgestaltung erfolgte auch die Auswertung und Analyse der Interviewtranskripte zweigleisig. Erstens wurden drei kontrastierende Einzelfälle für eine vertiefte Analyse ausgesucht. In diese Detailanalysen wurde jeweils die Gesamtheit der in einem Interview produzierten Aussagen, Interaktionen und Positionierungen einbezogen. Indem ich die in den Interviews re-produzierte Lebensgeschichte (= „narrative Identität“) als performative Praxis aller an dieser Situation beteiligten Personen ausgewertet habe, konnte ich das im ersten Teil der Arbeit theoretisch hergeleitete Verständnis von Praktiken der Selbst- und Fremd-Identifizierung als temporäre Artikulationen in den Diskurs methodisch angemessen ‚übersetzen‘. In einem zweiten Schritt habe ich in den Einzelfallanalysen die Argumentationen meiner Gesprächspartner/-innen auf die diesen zugrunde liegenden Vorannahmen und hieraus abzuleitenden Hinweise auf symbolische und soziale Strukturen befragt. Erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Analyse habe ich in den Transkripten gezielt nach den darin auftauchenden Abgrenzungspraktiken gesucht. Hierbei hat es sich als sinnvoll und hilfreich erwiesen, erstens induktiv nach den erwähnten sozialen Sicht- und Teilungskategorien zu fragen. Zweitens habe ich aber auch gezielt nach Hinweisen auf rassifizierende, klassifizierende oder genderbezogene Differenzkategorien gesucht. Somit wurden auch solche externen Kategorien an die Texte herangetragen, die in der Literatur zur Intersektionalität als für die Positionierung von Subjekten in (post-)modernen „kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften“ relevant bestimmt worden sind (Winker und Degele 2009, 38; vgl. aber auch Bourdieu 1987a, 157 und Foucault 1994, 247). Durch diesen Analyseschritt wurden die subjektiven „Platzierungsleistungen“ (Dörfler 2013, 43) der Subjekte kritisch danach befragt, welche Dimensionen und Kriterien sozialer Ungleichheit von ihnen nicht genannt wurden, aber vielleicht dennoch ihre Position in einem bestimmten sozialen Feld signifikant beeinflussen. Dieser Schritt einer objektivierenden Hinterfragung verringert die Gefahr, den Befragten an kritischen Stellen „auf den Leim zugehen“ – z.B. wenn sie die Kapitalausstattung, die sie in einer bestimmten Hinsicht privilegiert, von ihrem subjektiven Standpunkt aus gar nicht wahrnehmen und daher auch nicht thematisieren können (vgl. Kap. 2.1.4 und 5.3). Im zweiten Teil der Analyse wurde eine thematische Codierung in Anlehnung an das von Flick (1996) entwickelte Verfahren genutzt, um die stärker strukturierten Teile der Interviews auszuwerten. Diese Querschnittsanalyse zielte darauf ab, fallübergreifende Erkenntnisse über bestimmte Faktoren zu gewinnen, von denen angenommen wurde, dass sie die persönliche Wahrnehmung des deutschen Islambildes beeinflussen. Die hier analysierten Themenbereiche betrafen individuelle Sprachkenntnisse und Mediennutzungsstrategien, Religiosität und religiöse Praxis sowie raumbezogene Aspekte (z.B. hinsichtlich der Wohnorte, Wanderungen und raumbezogenen Zugehörigkeiten).
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Empirische Erkenntnisse – von der Bedeutung translokaler Positionierungen Die im fünften Kapitel dargestellten Einzelfallanalysen zeigen, wie im spezifischen Kontext der Interviewsituation in und der durch die Interaktion zwischen Interviewerin und Interviewten narrative Identitäten hergestellt werden. Dabei hat sich Halls Diktum bestätigt, wonach Subjekte im Sprechen – auch und besonders im Erzählen über sich selbst – gezwungen sind, zumindest temporär eine bestimmte Position im Diskurs einzunehmen. Dies bedeutet, dass sie sich in einer spezifischen, das heißt kontingenten, aber nicht beliebigen Form in den Diskurs einklinken („artikulieren“). Die hierbei eingenommenen Positionierungen und Selbst-Identifizierungen wurden dort besonders deutlich sichtbar, wo sich die Befragten von anderen Personen und Gruppen abgrenzen. Die jeweils besonders prominent hervortretenden Abgrenzungslinien – die mit gesellschaftlichen Sicht- und Teilungsprinzipien wie Geschlecht, Herkunft, Bildungsniveau oder ökonomischem Reichtum (Klasse) korrespondieren – differierten dabei je nach Position und Lebenslage der Befragten: Für die promovierte Ärztin ist es ihr Bildungskapital, das sie von anderen – auch anderen Deutsch-Marokkanern bzw. -Marokkanerinnen – unterscheidet. Der selbstständige Autohändler mit Hauptschulabschluss reflektiert in seiner Erzählung dagegen vor allem die Bedeutung, die sein ausländisches Aussehen für seine Biographie und die von ihm erworbenen Dispositionen spielte. Für die in Kap. 5.1 vorgestellte, deutlich jüngere Abiturientin ist es ihre Position als Frau und ihre Rolle als zukünftige Ehepartnerin, mit der sie sich aktuell besonders stark auseinandersetzt, während ihr „Ausländer-Sein“ zwar erwähnt wird, sie in ihrer gegenwärtigen Situation jedoch weniger beschäftigt. Die in den Einzelfallanalysen bereits deutlich zutage tretenden Unterschiede zwischen dem Alltagsleben und dem Selbst-Verständnis der Befragten wurden durch die im sechsten Kapitel dargestellte fallübergreifende Querschnittsanalyse bestätigt und unterfüttert. Die Interviewpartner/-innen unterscheiden sich nicht nur nach ihrer Ausstattung mit kulturellem Kapital (das Spektrum reicht von einer einsprachigen Analphabetin ohne Schulbesuch bis zur perfekt dreisprachigen Akademikerin, vgl. Kap 6.1 und 6.3), sondern ebenso nach dem Grad und der Ausprägung ihrer Religiosität und Religionspraxis (vgl. Kap 6.4). Auch in Bezug auf die diversen, im Lebensverlauf ausgeprägten Raumbezüge, die räumlichen Mobilitäts- und Wanderungspraktiken sowie die raumbezogen formulierten Gefühle von Beheimatung und Zugehörigkeit zeigt sich eine große Heterogenität (vgl. Kap. 6.2). Somit belegt diese Arbeit, wie wenig zutreffend und irreführend die in den Medien und den gesellschaftlichen Debatten immer wieder re-produzierten Vorstellungen eines homogenen und den individuellen Lebensstil bestimmenden „arabischmuslimischen“ Kulturkreises sind. Sicherlich würden sich alle Befragten irgendwie auch als Marokkaner/-innen identifizieren. Was jedoch grundlegende Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster angeht, so lässt sich, jenseits der geteilten Wertschätzung der Institution Familie sowie des der Religion entgegengebrachten Respekts, kaum etwas finden, zu dem alle Befragten eine einheitliche oder überhaupt ähnliche Meinung entwickeln würden. Zu unterschiedlich sind ihre biographischen Werdegänge, ihre beruflichen Positionen, ihre Freizeitbeschäftigungen; zu stark divergieren ihre Dispositionen und sozialen Positionen sowie die hieraus resultierenden Blickwinkel auf die soziale Welt.
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Entsprechend dieser stark differierenden translokalen Positionierungen zeigten sich bei den Befragten ebenfalls deutlich divergierende Einstellungen und Reaktionen mit Bezug auf das deutsche Islambild. Einerseits unterliegen alle Befragten der subjektivierenden Wirkung des Diskurses. In den Interviews wurde deutlich, dass die Befragten aktuell die ‚Religion‘ als eine sozial wirksame Kategorisierung anerkennen. Daher identifizieren sich die meisten eher und stärker als Muslim/-a, als sie es etwa vor 15 Jahren getan hätten. Andererseits jedoch unterscheiden sie sich in ihren Haltungen zum Islambild und in den daraus abgeleiteten Handlungspraktiken sehr deutlich. Die Reaktionen reichen von verstärkter Informationssuche über die eigene Religion bis hin zum vollständigen Ausweichen der Thematik; von der verstärkt-demonstrativ ausgeübten Religiosität und verstärkter Identifizierung hin zu einem Ablegen des zuvor getragenen Kopftuches und/oder einem Rückzug in die private Sphäre der Religiosität. Gesellschaftspolitisches Engagement in religiösen oder politischen Gruppierungen – als dezidierte Reaktion auf die aktuellen Diskurse – ist dagegen eher eine Randerscheinung (vgl. dazu Didero 2013). Wie anfänglich angenommen, bietet die individuelle Religiosität einen wichtigen Erklärungsansatz hinsichtlich der Frage, warum sich die Befragten durch das Islambild in unterschiedlicher Art und Weise tangiert fühlten. Besonders relevant in diesem Kontext ist eine diskriminierungsfördernde öffentlich sichtbar ausgeübte Religionspraxis (z.B. Kopftuch) oder auch ein stark religiös definiertes Selbst-Verständnis. Wie im letzten Kapitel jedoch ausführlich diskutiert, lassen sich die Reaktionen und veränderten Praktiken der Befragten allein mit ihrer individuellen Religiosität nicht erklären. Vielmehr ist das Gesamtgefüge der translokalen Positionierungen der Befragten zu berücksichtigen. Verstärkte emotionale Betroffenheit und ggf. hieraus resultierendes offensives Engagement ließen sich dabei auf zwei nicht zuletzt auch raumbezogene Faktoren zurückführen: Erstens war in einem lokal-politisch stark kontroversen und politisierten Kontext wie in Bonn (PRO NRW vs. BFF/BIG) eine deutlich höhere Tendenz zu einer gesellschaftspolitischen Mobilisierung der Befragten zu erkennen als in anderen städtischen Lebenskontexten (vgl. Didero 2013). Zweitens konnten die subjektivbiographisch akquirierten Dispositionen und translokalen Positionierungen der Befragten als grundlegende Erklärungsfaktoren für ihre Reaktionen auf das deutsche Islambild ermittelt werden. Hierbei spielt erstens die Positionierung im sozialen Raum eine wichtige Rolle. Diese geht mit einem bestimmten symbolischen Kapital in Form von Anerkennung und Prestige einher und offeriert oder beschränkt bestimmte Möglichkeiten der Lebensgestaltung: So lässt sich beispielsweise ein gesellschaftlich anerkannter und wertgeschätzter Beruf (Arzt/Ärztin und/oder Ingenieur/-in) in ökonomisches Kapital (Einkommen) und gesellschaftliche Anerkennung transferieren, die eine Zufriedenheit mit der aktuellen (post-)migrantischen Lebenssituation erleichtern. Wie am Beispiel der in Kap. 5.3 vorgestellten Ärztin gezeigt, fällt es derart ausgestatteten Personen tendenziell leichter, die negativen Konnotationen des deutschen Islambildes mental zurückzuweisen („da bin ich nicht mit drin“). Alternativ können sie den Stereotypen auch real-räumlich entkommen, indem sie ihren Wohnort in eine Weltregion verlagern, wo ihr erworbenes kulturelles Kapital nachgefragt wird und andererseits weniger mit religions- und herkunftsbedingten Vorurteilen und Benachteiligungen zu rechnen ist. Für diese Personen erwiesen sich die verletzenden Anrufungen
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durch das deutsche Islambild somit als relevant, jedoch nicht unbedingt als unmittelbar „bedrohlich“. Die räumliche Dimension der translokalen Positionierungen ist als zweiter relevanter Aspekt für die Handlungsrelevanz des deutschen Islambildes zu nennen. Personen mit eigener Zuwanderungserfahrung können die mit den Anrufungen als Muslim/-innen verknüpften Fremd-Identifizierungen als „Fremde“ und „Ausländer/innen“ mit ihren eigenen biographischen Raumerfahrungen in Einklang bringen. So identifizieren sich viele der ehemaligen „Gast“-arbeiter/-innen bis heute mit ihrem Gaststatus. Auch die meisten Bildungsmigranten bzw. Bildungsmigrantinnen können aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung der Wanderung die Kategorisierung als „Ausländer/-in“ besser mit ihrem Eigenkonzept vereinbaren. Die im Diskurs deutlich werdende Gleichsetzung von „Deutschen“ mit „Nicht-Muslimen“, die deutsche Muslime aus einer derart konzipierten Vorstellung von Gemeinschaft ausschließt, ist dagegen für diejenigen besonders schwer zu ertragen, die in Deutschland aufgewachsen sind: Als Ergebnis ihrer Sozialisation in einer bestimmten Stadt in Deutschland empfinden sie häufig ein starkes Gefühl der Beheimatung („raumbezogene Zugehörigkeit“), das sich sowohl auf ihre Heimatstadt als auch ein sozial-räumlich weiter gefasstes Verständnis einer in Deutschland lebenden Gesellschaft bezieht. Die betreffenden Personen nehmen daher die in den Mediendiskursen enthaltene „kulturelle Ausgrenzung“ als besonders verletzend wahr. Somit zeigt sich die Wirkung der Integrations- und Islamdebatten der letzten Jahre als Paradoxon: Am wenigsten von der Ausgrenzung und dem IntegrationsImperativ betroffen sind diejenigen, die aufgrund ihrer nicht vorhandenen deutschen Sprachkenntnisse aus den Diskussionen ausgeschlossen bleiben. Ihnen bleiben Beleidigungen, Anschuldigungen und Vorwürfe wegen ihrer Integrationsunfähigkeit zumeist erspart. Andererseits sind es diejenigen, die die Anforderungen eines „Minimalkonsenses von Integration“ erfüllen, die intellektuell in die deutschen Debatten und strukturell in den deutschen Arbeitsmarkt eingebunden sind, die sich paradoxerweise genau aufgrund ihrer Integriertheit den entsprechenden Diskursen nicht entziehen können. Sie müssen daher Mittel und Wege finden mit diesen Anrufungen und Ausgrenzungen umzugehen. Dennoch: Die meisten meiner Interviewpartner/-innen – egal ob Angehörige der ersten oder zweiten Generation, ob beruflich und sozial gut etabliert oder eher mäßig erfolgreich – sehen ihre persönliche Zukunft auch weiterhin in Deutschland. Anders als es teilweise von türkeistämmigen Deutschen der zweiten oder dritten Generation bekannt ist, lockt sie bisher kein attraktiver Arbeitsmarkt „zurück“ nach Marokko. Die meisten von ihnen fühlen sich im Zweifelsfall auch in ihrem aktuellen Wohnumfeld in Nordrhein-Westfalen heimischer, als sie es an irgendeinem Ort in Marokko sein könnten. Eine Ausnahme stellen hier die zu Beginn der Anwerbephase nach Deutschland gekommenen Arbeitsmigranten/Arbeitsmigrantinnen dar, von denen viele nach Eintritt des Rentenalters nach Marokko zurückgekehrt sind. Viele von ihnen pendeln jedoch auch weiterhin regelmäßig zwischen ihren marokkanischen und deutschen Heimaten und den dort jeweils lebenden Familienangehörigen (vgl. Kap. 6.2.2). Somit lässt sich zusammenfassend resümieren, dass meine Interviewpartner/innen eine ausschließende und „spaltende“ Wirkung des deutschen Islambildes durchaus empfinden. Dies führt jedoch nicht zu einer weitreichenden „Abschottung
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von Muslimen durch generalisierende Islamkritik“ (Leibold et al. 2006). Die von mir befragten, sich als Muslime identifizierenden und bekennenden Personen fühlen sich in Deutschland weiterhin als Teil der hier lebenden Gesellschaft. Hier gehören sie hin und hier möchten sie leben. Gerade die Städte in Nordrhein-Westfalen beschreiben sie als alltägliche Lebensräume, die Platz für Heterogenität und Vielfalt bieten. Den auch in westdeutschen Städten regelmäßig und heftig aufflammenden Diskussionen und Konflikten über Moscheebauten, Minarette oder Muezzinrufe zum Trotz, lässt sich hier (noch?) keine umfassende „purification of space“ (Sibley 1988) konstatieren, wie sie beispielsweise von Chatterjee (2012) für die indische Stadt Ahmedabad beschrieben wird. Die sprachlichen, symbolischen und „real“-raumwirksamen Ausgrenzungspraktiken wie die diskursive Ausgrenzung von Muslimen aus einer als „jüdisch-christlich“ definierten gesellschaftlichen Tradition, die im öffentlichen Raum sichtbar zur Schau gestellte Wahlwerbung mit „Anti-Moschee-Plakaten“ oder die aufgrund eines „ausländischorientalischen“ Aussehens oder Kopftuches als sichtbares Zeichen der eigenen Religiosität erschwerte Wohnungs- und Arbeitssuche – sie alle sind vergleichsweise „subtile“ Formen der Raum- und Gesellschaftsproduktion bzw. der Ausübung symbolischer Herrschaft. Zuletzt jedoch stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Wird es „immer schlimmer“, wie die Bonner Abiturientin in unserem Gespräch meint? Oder werden die Menschen in Deutschland „immer vernünftiger“, wie es ein anderer Gesprächspartner am Ende unseres Gespräches hoffnungsvoll formuliert? „Dennoch, ich denke mal, die jüngeren Generationen … es gibt ja immer mehr Ausländer. Vor allen Dingen mehr Kinder. Und die wachsen ja alle zusammen. Und ich denk mal die Menschen werden ja auch immer intelligenter. Immer reifer, immer vernünftiger. Wie gesagt, die ersten, die hier waren, das waren ja Einwanderer. Manche waren sogar Analphabeten. Dann kamen wir. Wir mussten uns erst mal hier durchboxen. Jetzt kommt eine nächste Generation, die wir dann großziehen werden. Wir werden denen das genau erklären, wir werden die auch unterstützen. Und, ich denk mal, dann fängstތs irgendwann mal an, dass man sich dann respektiert und sich gleichwertig ansieht. Dass keiner sagt ‚Ja, der ist Deutscher, der ist nix wert.‘ Und der andere sagt ‚Ja, das ist eh nur ein Ausländer, der ist nix wert.‘ Sondern: ‚Okay, das ist mein Freund. Der ist in Ordnung, der ist gut.‘ Oder man sagt: ‚Der ist schlecht.‘ Ist egal, wo der herkommt oder was für eine Hautfarbe oder was. Ne? Also, dass man nach den Menschen persönlich urteilt, ja? Und nicht einfach sacht: ‚Ja, diese Art von Menschen ist schlecht.‘ Sondern: ‚Das Mädchen hier ist schlecht, weil sie mich beleidigt hat.‘ Ne?“ (Raif, Bergheim, November 2010)
In den Medien wie in der breiten Öffentlichkeit lassen sich Anzeichen für beide Tendenzen erkennen. Einerseits bemühen sich Journalisten und Autoren um nuanciertere und selbstkritische Artikel, wenn es um heikle und umstrittene Themen wie Zuwanderung in Europa oder die Stellung des Islams und die Rechte und Pflichten von Muslimen im deutschen Staatswesen geht. Andererseits jedoch beobachten renommierte Forscher bei vielen deutschen Bürgern eine Zunahme menschenfeindlicher Einstellungen. Anders aussehende, anders gläubige, aber auch sozio-ökonomisch
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schwächere Personen werden nicht nur als ‚anders‘ angesehen, sondern ihnen wird auch die oben erwähnte Gleichwertigkeit abgesprochen (vgl. Kap. 3.2 und 3.3). Die biographischen Erzählungen meiner Interviewpartner/-innen machten deutlich, dass die Kategorie ‚Muslim‘ in ihrer ausschließenden Funktion ältere Kategorien sozialer Exklusion lediglich überdeckt. Soziale Ungleichheiten werden hierdurch bestätigt und legitimiert. Weiterhin wirksame rassifizierende Unterscheidungspraktiken werden wirksam verschleiert. Die Bilanz hinsichtlich des Umgangs mit Muslimen und anderen sozial konstituierten Minderheitengruppen in Deutschland bleibt dementsprechend ambivalent. In Kap. 6.5 wurde darüber hinaus gezeigt, dass die Anrufungen als ‚Muslim/-a‘ und die damit einhergehenden Diskriminierungserfahrungen bei einigen meiner Gesprächspartner/-innen eine vertiefte Hinwendung zur Religion und eine verstärkte religiöse Praxis ausgelöst haben. Inwieweit solche Re-Orientierungen umgekehrt zu einer – ungewollten – Verstärkung des Misstrauens von Seiten der Mehrheitsbevölkerung führen, konnte hier nicht endgültig geklärt werden. Eine solche nicht intendierte Wirkung bleibt jedoch zu befürchten. Auch die Gefahr, dass eine hieraus resultierende Spirale des Misstrauens in Einzelfällen zu einer Radikalisierung von deutschen Muslimen oder Musliminnen führt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Angesichts der in diesem Band dargestellten Zusammenhänge zwischen Selbstund Fremdidentifizierungen und individuell-subjektiven Handlungspraktiken gilt es daher weiterhin sorgfältig zu beobachten, wie sich das Zusammenleben in Deutschland gestaltet. Schulen mit interkultureller und interreligiöser Ausrichtung stellen dabei einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar. Nur mit dem Wissen um und die Anerkennung von als ‚anders‘ wahrgenommen Lebensformen und Lebensweisen einerseits und einem Minimum an Solidarität mit ökonomisch schlechter gestellten Personen andererseits lässt sich ein gesellschaftliches Miteinander gestalten, das diesen Namen verdient.
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Anhang
A) ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS s.a. d.h. u.a. z.T. z.B. Kap. vgl. Bsp. bspw. UN NRW
siehe auch das heißt unter anderem zum Teil zum Beispiel Kapitel vergleiche Beispiel beispielsweise United Nations Nordrhein-Westfalen
410 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT
B) T ABELLEN Tabelle 3: Köln – Bezirke mit Anzahl Marokkaner (Stand 31.12.2011) Stadtbezirk Stadt Köln
Einwohner insgesamt
DeutschMarokkaner
Marokkaner
Marokkaner (inkl. Doppeltstaatler)
Marokkaner (ges.) in% von Ew.
Köln Gesamt
1036117
3690
2137
5827
0,56
1 / Innenstadt
127.811
264
229
493
0,39
2 / Rodenkirchen
102.446
266
198
464
0,45
3 / Lindenthal
141.187
229
112
341
0,24
4 / Ehrenfeld
104.509
321
172
493
0,47
5 / Nippes
113.350
293
145
438
0,39
6 / Chorweiler
80.247
212
87
299
0,37
7 / Porz
108.324
468
200
668
0,62
8 / Kalk
113.041
922
574
1.496
1,32
9 / Mülheim
145.202
715
420
1.135
0,78
Quelle: Stadt Köln. Amt für Stadtentwicklung und Statistik. Informationsservice.
Tabelle 4: Köln – Stadtteile nach Anzahl Marokkaner (Stand 31.12.2011) Stadtteile Köln (geordnet nach% Mar./Ew)
Einwohner insgesamt
DeutschMarokkaner
Marokkaner
Marokkaner (inkl. Doppeltstaatler)
Marokkaner (ges.) in% von Ew.
Humboldt/ Gremberg
15.238
210
147
357
2,34
Kalk
21.798
244
184
428
1,96
Gremberghoven
2.871
31
24
55
1,92
Buchforst
7.318
89
42
131
1,79
12.556
137
73
210
1,67
Vingst Neubrück
8.717
95
49
144
1,65
Porz
14.304
112
54
166
1,16
Mülheim
41.475
256
177
433
1,04
Ostheim
11.183
74
40
114
1,02
Höhenberg
12.252
80
44
124
1,01
Quelle: Stadt Köln. Amt für Stadtentwicklung und Statistik. Informationsservice.
A NHANG
| 411
Tabelle 5: Diskursereignisse Datum
International
1961-71
1979
National
Lokal
Anwerbung von Gastarbeitern aus der Türkei, Marokko, Tunesien, Jugoslawien Islamische Revolution im Iran
1988/ 1989
Salman Rushdie „Satanische Verse“ Fatwa von Chomeini
1991
1. Golfkrieg
1993
Artikel zu These vom Kampf der Kulturen von Huntington erscheint Staatsbürgerrechtsreform tritt in Kraft
1.1. 2000
11.9.2001
USA: Anschlag auf Pentagon und WTC Folge: Invasionen in Afghanistan und dem Irak
Juni 2003
Spanien: Bombenanschlag Madrid
Sept. 2003 Nov. 2004
Kopftuchdebatte: Fall Ludin entschieden Niederlande: Ermordung Theo van Gogh (9.11)
Ehrenmorddebatte nach Mord von Hatun Sürücü
Feb. 2005 Juli 2005
Großbritannien: Anschlag in London BW: Gesprächsleitfaden für Einbürgerungsanträge von Personen aus Staaten der Organisation der Islamischen Konferenz (2011 abgeschafft)
Jan. 2006
Feb. 2006
Spiegel-Cover-Story: Allahs rechtlose Töchter (15.11)
Dänemark und islamische Welt: Streit um Muhammad-Karikaturen eskaliert
Aug. 2006
„Kofferbomber“ gefasst
Sept. 2006
- Innenministerium initiiert deutsche Islamkonferenz - Papstrede Regensburg - Absetzung Oper Idomeno
28.8.2008
Köln: Baugenehmigung für DITIBZentralmoschee
19.9. 2008
Köln: AntiIslamisierungskongress der „Bürgerbewegung Pro-Köln“ begleitet von Gegenprotesten
Juli 2009
Mord an Marwa El-Sherbini in Gerichtssaal, Dresden, Motiv: Muslimfeindlichkeit
412 | I SLAMBILD UND I DENTITÄT Bonn: Kommunalwahl Teilnahme ProNRW (Anti-MoscheeKampagne) und BFF
30.08.2009
Interview mit Thilo Sarrazin in “Lettre International” (86)
Herbst 2009
29.11.2009
Schweiz: Volksabstimmung gegen Bau von Minaretten erfolgreich (57.5% dafür)
29.3.2010
Belgien: Parlament verabschiedet Verbot Vollverschleierung Landtagswahl NRW, Pro-NRW: AntiMinarettkampagne
09.05.2010 Thilo Sarrazin stellt Buch vor: „Deutschland schafft sich ab“
Sept. 2010
14.9.2010
Frankreich: Verbot Vollverschleierung verabschiedet Rede von Bundespräsident Wulff: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“
3.10.2010
seit Dez. 2010
“Arabischer Frühling”: Bürgerproteste und Machtwechsel in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen; Aufstand Bahrein, Bürgerkrieg Syrien
23.7.2011
Norwegen: Attentat in Oslo /Utoya: rassistische und antimuslimische Ideologie Der Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)“ werden Morde an ausl. Unternehmern, Banküberfälle und Bombenattentate vorgeworfen
Nov. 2011
Mai 2012
Bonn und Solingen: gewalttätige Auseinandersetzungen Pro-NRW Anhänger, Polizei, Salafisten
Juni 2012
Köln: 1. Islamischer Friedenskongress (Salafisten): friedlich
Aug. 2012
NRW führt Islamischen Religionsunterricht ein
Sept. 2012
In den USA produzierter Anti-Islamischer Film löst in Nahost Proteste aus.
Jan 2013
Militärische Intervention Frankreichs in Mali: Unterstützung Regierungstruppen gegen islamistische Rebellen
Quelle: eigene Zusammenstellung, u.a. basierend auf Spielhaus (2011, 65f.).
A NHANG
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Tabelle 6: Überblick: Bezüge auf Religion im Interviewkontext Frühe Erwähnung
Biographie Veränderungen
Biographie Verlauf
Amina, Farid Ines Loubna
2.
Erzählung Re-konvertierung (Neo-Muslime)
2. 2.
Erzählung Re-konvertierung (Kopftuch ausgezogen) Ablegen Kopftuch Suche nach reflektiert-distanzierter Religiosität nach Habitus-Schock Durchgehende religiöse Bezüge (Neo-Muslima) Religionsvermittlung in Gastfamilie Spirituelle Heimat in Saudi-Arabien Einleitung: wir leben hier wie zu Hause: Kultur und Religion Ersterzählung: hier ist Heimat, pflegen Identität, Kultur und Religion
Achraf
2.
Ketou Manar Yakub
H/A Stud. Stud.
Heba
H/A
Taufik
2.
Faiza
2.
Amal
2.
Beheimatung Späte Erwähnung Biographie Veränderungen Biographie Alltag
Frage Wohnort
Latifa
2.
Majida
Stud.
Raif
2.
Abdou
H/A
Amghar
Stud.
Hadou
Stud.
Rihane
2.
Samiha
Stud.
Karim
Stud.
Alltagstheorien
Rückfrage Sicherheit M.D.
Hakim Stud. Kontext: Medien und Islambild Unmittelbare Selbstpositionierung
Selbstpositionierung indirekt od. später
Laite
Stud.
Habiba
H/A
Yasmina
2.
Mimun
1,5
Sami
Stud.
Louay
Stud.
Muslimische Heirat (Religiöser werden) Gymnasium keine Diskriminierung wg. Kopftuch (Rekonvertierung) Ratsuche bei Imam nach Kritik => moralisch richtiges Verhalten Kinder Ziel Arabisch lernen und Koran lesen Bergheim als Heimat: Aufwachsen, Freunde, außerdem: Moschee Bergheim als Heimat, Moschee schön Vorteil Setterich: Sprach- und Religionsgemeinschaft, Nachbarschaft Vorteil Aachen: Internationalität, auch in Moscheegemeinschaft Frage nach Berufstätigkeit anderer – Problem Kopftuch – auch für sie selber Netzwerk: gemischte Ehen, Religion als mögliches Problem – ich auch Muslima In Köln sicherer als Ostdeutschland, als Muslim seit 2001 unsicher In Deutschland seit 2001 als Muslim unwohl, unsicher Änderungen seit 2001: arbeitet an Öffnung Moscheeverein (Transparenz) Frage Mediennutzung: Kritik an akt. Sendung, Darlegung eigenes Religionskonzept Diskriminierung BE – Mediendebatte Muslime + Integration D „Ich bin Muslima“ Debatte Muslime+ Integration, Abgrenzung zu Konvertiten „Religion ohne Kultur“ Erst Frage MD Islambild, dann Biographie, heute Kinder Koran und Bibel Veränderungen => Islamdebatte => angerufen werden (Religion als Teilidentität)
Nur auf Nachfrage thematisiert Rachid Yassim, Ghizlane Najib Loutfi Hasna, Hachem Daoud
St.
praktiziert, Ramadan trotz Leistungssport, Netzwerke: religiös indifferent
St.
„schon wichtig“, gehört dazu, praktizieren, sind informiert
2. St. A/ St 2.
gehört dazu, alltägliche Familientradition Muslim ja, aber weniger praktizierend, keine Priorität in Kindererziehung Interview von anderen Sorgen dominiert, eher kulturell-ethisch religiös Unwichtig, religiöse Ge-/Verbote „zu anstrengend“
Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis der Interview-Transkripte