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German Pages 508 [510] Year 2010
Königtum als lokale Praxis
HMRG Historische Mitteilungen Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft herausgegeben von Jürgen Elvert Band 80
Werner Tschacher
Königtum als lokale Praxis Aachen als Feld der kulturellen Realisierung von Herrschaft. Eine Verfassungsgeschichte (ca. 800–1918)
Franz Steiner Verlag 2010
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
und des Landschaftsverbandes Rheinland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09672-0 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Printed in Germany
INHALT INHALT .....................................................................................................................5 VORWORT .................................................................................................................9 1 EINLEITUNG .........................................................................................................11 1.1 Von Königen und Städten ............................................................................11 1.2 Herrschaft: Forschungsstand und Theorien..................................................18 1.2.1 Ein problematischer Begriff ................................................................18 1.2.2 Die Legitimation von Herrschaft bei Max Weber...............................26 1.2.3 Repräsentation und Kommunikation von Herrschaft in der neueren Politik- und Kulturgeschichtsforschung......................................30 1.2.4 Die Durchsetzung von Herrschaft nach Pierre Bourdieu ....................40 1.3 Der Untersuchungsraum Aachen: Thesen, Quellen- und Forschungslage...53 1.4 Der Aufbau der Arbeit..................................................................................56 2 KARL DER GROSSE, AACHEN UND DAS URSPRÜNGLICHE CHARISMATISCHER HERRSCHAFT (UM 800–814).................................................................................59 2.1 Einführung....................................................................................................59 2.2 Die problematische Legitimation des frühkarolingischen Königtums.........60 2.3 Die Repräsentation des charismatischen Frankenkaisers in Aachen............76 2.3.1 Aachen als Herrschaftszentrum des fränkischen Reiches ...................76 2.3.2 Karl der Große und die Mitkaisererhebung Ludwigs des Frommen...84 2.4 Die Praxis charismatischer Königsherrschaft als Akkumulation religiöskulturellen Kapitals ......................................................................................89 3 TRADIERTES CHARISMA ALS KAPITAL DER KRÖNUNGSSTADT (814–UM 1550) ...94 3.1 Einführung....................................................................................................94 3.2 Die Legitimation mittelalterlicher Königsherrschaft durch Charisma, Tradition und Recht......................................................................................96 3.3 Die Repräsentation und Kommunikation mittelalterlicher Königsherrschaft in Aachen .........................................................................................105 3.3.1 Karlskult und Krönungstradition.......................................................105
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Inhalt
3.3.1.1 Die Aneignung des Karlskults durch die römischdeutschen Könige ..................................................................105 3.3.1.2 Das Marienstift als Beherrscherin des Karlskults.................114 3.3.1.3 Der Zugriff der Stadtgemeinde auf den Karlskult ................118 3.3.1.4 Münster und Rathaus als Medien der Herrschaftskommunikation .....................................................................125 3.3.1.5 Der Reichstag als exklusives Forum der Stadtgemeinde......128 3.3.2 Die Krönungen in Aachen als ritualisierter Gabentausch .................130 3.4 Die Charismatisierung traditionaler Königsherrschaft als Aneignung fremden symbolischen Kapitals..................................................................149 4 VERBLASSENDES CHARISMA UND PORTABILITÄT DER TRADITION: DAS ENTRÜCKTE KÖNIGTUM DES ALTEN REICHES (UM 1550–UM 1800) ...................155 4.1 Einführung..................................................................................................155 4.2 Das Königtum im reichsständischen Herrschaftssystem............................156 4.3 Die Repräsentation und Kommunikation frühneuzeitlicher Königsherrschaft in Frankfurt und Aachen............................................................164 4.3.1 Eine Zäsur: Aachener Krongesandte bei den Frankfurter Krönungen.........................................................................................164 4.3.2 Die Kommunikation der Königsherrschaft in der katholischen Stadt ..................................................................................................174 4.3.2.1 Karlsfeste, Huldigungs- und Trauerfeiern ............................175 4.3.2.2 Münster und Rathaus nach dem Verlust der Krönungen ......183 4.3.2.3 Stadtgeschichtsschreibung als Schlachtfeld..........................189 4.3.2.4 Stadtgemeinde und Reichsöffentlichkeit...............................192 4.4 Königsherrschaft als Kampffeld um verbliebenes symbolisches Kapital ..195 5 TRADITIONSSCHÖPFUNG ALS KURZLEBIGE ERFOLGSSTRATEGIE: DER CÄSARISMUS NAPOLEON BONAPARTES UND DER AACHENER KARLSKULT (UM 1800–1814).................................................................................................199 5.1 Einführung..................................................................................................199 5.2 Wie ein zweiter Charlemagne? Napoleon Bonaparte als cäsaristischer Herrscher ....................................................................................................202 5.3 Kaiserbesuche und lokale Festkultur als Heldenkult..................................209 5.3.1 Die Aufwertung Aachens und ihre Folgen........................................209 5.3.2 Die Revolution der Aachener Symbolwelten....................................213 5.3.3 Anfänge des politischen Karlskults...................................................219 5.3.4 Napoleon und Josephine in Aachen ..................................................223 5.3.5 Das Fest der Kaiserkrönung und ihres Jubiläums .............................233 5.3.6 Die Geburts- und Tauffeiern des Kronprinzen..................................234 5.3.7 Napoleon und Marie-Luise in Aachen ..............................................237
Inhalt
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5.4 Kapitaltausch in einem revolutionierten Herrschaftsfeld ...........................239 6 INKOMPATIBLE TRADITIONEN: PREUSSISCHES KÖNIGTUM IM KATHOLISCHEN AACHEN (1815–UM 1890) ..................................................................................244 6.1 Einführung..................................................................................................244 6.2 Zwischen Gottesgnadentum und Nation: die Legitimation preußischdeutschen Königtums im 19. Jahrhundert ..................................................246 6.3 Ein schwieriger Dialog. Die Repräsentation und Kommunikation des preußischen Königs im katholischen Aachen ............................................255 6.3.1 Die preußischen Könige als fremde Herrscher (1815–1858/62).......255 6.3.1.1 Die ständische Huldigungsfeier 1815 ...................................255 6.3.1.2 Gescheiterte Repräsentation: der preußische König auf dem Aachener Monarchenkongress ......................................269 6.3.1.3 Die Restaurierung von Münster und Rathaus als Brücke zur Monarchie?......................................................................274 6.3.1.4 Ein politisches Missverständnis: Karl der Große, das Reich und die Revolution von 1848......................................283 6.3.2 Die ungenutzten Bindekräfte der nationalen Monarchie (1858/62–1890).................................................................................286 6.3.2.1 Die inszenierte Jubel-Huldigungsfeier der Reichsmonarchie 1865.....................................................................287 6.3.2.2 Enttäuschte Hoffnungen: Reichsgründung und Kulturkampf ....................................................................................298 6.3.2.3 Umstrittene Symbolpolitik: die Restaurierung von Münster und Rathaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ......300 6.3.2.4 Die Aachener Geschichtskultur zwischen Heimatliebe und Vaterlandstreue ..............................................................306 6.3.2.5 Ein trauriger Epilog...............................................................309 6.4 Konvertierungsprobleme: das kulturelle Kapital Aachens und das symbolische Kapital der Nation .................................................................310 7 DIE MEDIALE CHARISMATISIERUNG LEGALER KÖNIGSHERRSCHAFT: WILHELM II., KARL DER GROSSE UND AACHEN (UM 1890 – 1918) ....................314 7.1 Einführung..................................................................................................314 7.2 Königsmechanismus und Medienkaisertum: die Herrschaft Wilhelms II.................................................................................................317 7.3 Die Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation wilhelminischer Herrschaft in Aachen .................................................................327 7.3.1 Das katholische Aachen im Kaiserreich............................................327 7.3.2 Die wilhelminische Restaurierung des Münsters ..............................329
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Inhalt
7.3.3 Die Aktualisierung der mittelalterlichen Vergangenheit: das neogotische Rathaus ...............................................................................335 7.3.4 Die Kaiserdenkmäler als Symbole des neuen Reiches......................338 7.3.5 Wilhelm II. als neuer Karl der Große: Kaiserbesuch 1902 ...............342 7.3.6 Wilhelm II. als moderner Imperator: Kaiserbesuch 1911 .................352 7.3.7 Die Nationalisierung und Militarisierung des Kaiserkults im Spiegel der Aachener Feste...............................................................358 7.3.8 Geschichtspolitik im Dienst der Monarchie: das gescheiterte Projekt der Aachener Krönungsausstellung......................................363 7.3.9 Annexionshoffnungen und Schlachtenträume: die Hundertjahrfeier der Zugehörigkeit der Rheinprovinz zu Preußen im Mai 1915 ...........................................................................................366 7.3.10 Der umjubelte Kurzauftritt Wilhelms II. im kaisertreuen Aachen 1918 .....................................................................................367 7.4 Die Transformation des kulturellen Kapitals der Stadt in das symbolische Kapital des nationalen Führerkaisers ...........................................375 8 FAZIT .................................................................................................................379 8.1 Der König im lokalen Raum.......................................................................379 8.2 Königsherrschaft im Epochenwandel.........................................................391 8.3 Desiderate einer historischen Herrschaftstheorie .......................................399 9 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ................................................................................406 10 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS .........................................................409 10.1 Archivalien ................................................................................................409 10.2 Gedruckte Quellen.....................................................................................413 10.2.1 Zeitgenössische Quellenwerke und moderne Editionen .................413 10.2.2 Zeitungen.........................................................................................417 10.3 Literatur .....................................................................................................418
VORWORT
„Zu Aachen, im alten Dome, liegt / Carolus Magnus begraben. / (Man muß ihn nicht verwechseln mit Karl / Mayer, der lebt in Schwaben.) // Ich möchte nicht tot und begraben sein / Als Kaiser zu Aachen im Dome; / Weit lieber lebt ich als kleinster Poet / Zu Stukkert am Neckarstrome. // Zu Aachen langweilen sich auf der Straß / Die Hunde, sie flehn untertänig: / Gib uns einen Fußtritt, Fremdling, das wird / Vielleicht uns zerstreuen ein wenig. // Ich bin in diesem langweiligen Nest / Ein Stündchen herumgeschlendert. / Sah wieder preußisches Militär, / Hat sich nicht sehr verändert. Es sind die grauen Mäntel noch / Mit dem hohen, roten Kragen - / (Das Rot bedeutet Franzosenblut, / Sang Körner in früheren Tagen. // Noch immer das hölzern pedantische Volk, / So kerzengerade geschniegelt, / Als hätten sie verschluckt den Stock, / Womit man sie einst geprügelt.“1
Mit diesen wohlbekannten Versen über Aachen in Deutschland – ein Wintermärchen hat Heinrich Heine der Beständigkeit deutscher Verhältnisse ein literarisches Denkmal gesetzt. Als er aus seinem Pariser Exil kommend Ende 1843 die preußische Westgrenze passierte, erschien Aachen Heine als das verhasste Sinnbild des Zusammenspiels einer provinziellen, in vergangener Größe erstarrten Kultur mit einer repressiven Staatsgewalt. Autoritäre Obrigkeit und geistige Borniertheit, antiquierter Karlskult, blinder Franzosenhass und uniformer Zwang stehen hier signifikant der unangreifbaren inneren Freiheit des weltoffenen Poeten entgegen. Es mag dem subjektiven Empfinden anheimgestellt sein, ob sich die Stadt Aachen und mit ihr die deutschen Verhältnisse heutzutage einem heimkehrenden Weltenbummler sehr viel anders präsentieren als dem seinem Heimatland entfremdeten Heine. Zuweilen verstellt die sarkastische Kritik an der scheinbaren Unveränderlichkeit politischer Verhältnisse den Blick auf den sich anbahnenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandel. Wichtiger erscheint mir eine andere Erkenntnis: dass sich die Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse eines Landes auch und vielleicht vor allem in seiner tiefsten Provinz manifestieren – eine Provinz, die in Aachen stets aufgeladen war und ist mit der bleiernen Schwere ehrwürdiger Tradition. Und so war es vielleicht nicht die schlechteste Entscheidung, meine Vaterstadt zum Gegenstand dieses Buches zu machen. Das Werk wurde im Februar 2009 von der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen als Habilitationsschrift angenommen, die hiermit nun dem Leser in leicht gekürzter und überarbeiteter Form vorliegt. Gerne möchte ich mich hier bei all jenen bedanken, die mich auf meinem langjährigen, von diversen Projekten und Tätigkeiten unterbrochenen Qualifikationsweg wissenschaftlich begleitet haben: an erster Stelle Prof. Dr. Armin Heinen, 1
Heine, Deutschland – ein Wintermärchen, Caput 3, S. 613f. Vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 219.
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Vorwort
der als Betreuer mit großer Geduld und Freude am akademischen Austausch die Entstehung der Arbeit begleitete. Neben den hier ungenannt bleibenden Gutachtern, deren Anmerkungen in die Überarbeitung eingeflossen sind, möchte ich ganz besonders meinen Kollegen Dr. Stefan Krebs (Eindhoven University of Technology) und PD Dr. Rüdiger Haude (RWTH Aachen) sowie dem Kunsthistoriker Dr. Thomas Fusenig (Essen) danken, die mir bei der Lösung mancher Probleme rund um Herrschaft und symbolisches Kapital mit großer Diskussions- und Lesebereitschaft zur Seite standen. Unabdingbaren Rat und Entscheidungshilfe im wahren Leben als Akademiker fand und finde ich seit mehreren Jahre bei Grace Pampus (München). Mein besonderer Dank gebührt Saskia Werth, M. A., die das Manuskript mit großer Sorgfalt Korrektur las. Wiederum Stefan Krebs half bei der computergestützten Formatierung. Danken möchte ich hier auch den Mitarbeitern der benutzten Archive und Bibliotheken für ihre Hilfe bei Recherchen und für die akkurate Bereitstellung der umfangreichen Materialien. Zu großer Dankbarkeit verpflichtet bin ich der Gerda-Henkel-Stiftung (Düsseldorf) für die großzügige Gewährung eines Forschungsstipendiums und eines abschließenden Druckkostenzuschusses sowie dem Landschaftsverband Rheinland (Bonn) für die Bewilligung einer weiteren Druckkostenbeihilfe. Mein allergrößter Dank gilt meiner Ehefrau, Dr. Annette Fusenig, für ihre liebevolle, nicht nachlassende Unterstützung in allen schwierigen Phasen dieses Projektes. Ihr möchte ich dieses Buch von Herzen widmen. Werner Tschacher, Stolberg im August 2010
1 EINLEITUNG 1.1 VON KÖNIGEN UND STÄDTEN 1.1 Von Königen und Städten Am frühen Abend des 3. Mai 1918, im Licht der sich neigenden Sonne, hält ein Fotograf in Aachen eine denkwürdige Szene fest: den letzten Besuch eines deutschen Kaisers in der alten Krönungsstadt im äußersten Westen. Wilhelm II. schreitet über den weiten Platz zwischen Münster und Rathaus. Er hat die feldgraue Uniform eines Frontgenerals angelegt und trägt die preußische Pickelhaube. Den Kaiser flankieren zwei Herren im schwarzen Gehrock und mit Zylinder. Der groß gewachsene Begleiter zu seiner Linken, Oberbürgermeister Wilhelm Farwick, und ein kleinerer zur Rechten, der Beigeordnete Eduard Ebbing, vertreten die Aachener Bürgerschaft. Zwei feldgrau Uniformierte hinter dieser Dreiergruppe gehören dem kleinen kaiserlichen Gefolge an. Mit gebührendem Abstand, mühelos zurückgehalten von Polizisten, säumt eine schaulustige Menge den Weg des Kaisers, darunter viele Frauen und Kinder.
Wilhelm II. in Aachen am 3. Mai 1918 (STA Aachen, Fotosammlung, XXV, Nr. 4).
Nicht wenige Menschen jubeln dem Kaiser zu. Ehrfurcht und Disziplin der Zuschauer gegenüber dem Herrscher werden durch die räumliche Distanz und die Einhaltung der Ordnung gewahrt.
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1 Einleitung
Seit vier Jahren herrscht Krieg in Europa und der Welt. Deshalb ist auf den üblichen Pomp eines Herrscherbesuches verzichtet worden. Gleichwohl sind die Hauptpersonen auf ihr würdiges Auftreten bedacht, das in ihrer Haltung und Kleidung zum Ausdruck kommt: Wilhelm II. als Feldherr, seine zivilen Begleiter als Mitglieder des gehobenen Bürgertums. Im Hintergrund erkennt man deutlich den Block eines modernen Wohnhauses der damaligen Zeit, während das Aachener Münster, die über tausend Jahre alte Marienkirche Karls des Großen und Krönungsstätte des mittelalterlichen Reiches, nur in einem kleinen, dunklen Ausschnitt wahrnehmbar ist. Doch weder der ferne Anfang noch der nahe Untergang des deutschen Kaisertums kommen dem naiven Betrachter des Bildes in den Sinn. Nur mit dem Wissen, was vorher war und nachher geschah, kann der Szene eine historische Bedeutung abgerungen werden: Vor dem geistigen Auge ersteht jetzt das Bild des seinen Untertanen angenäherten, fußläufigen Kaisers „im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“1, dem kaum mehr etwas von der Entrücktheit und Erhabenheit jener mittelalterlichen Herrscher geblieben ist, die als Garanten einer „unbezweifelten Weltordnung“2 galten. Über allem scheint der leise Hauch des Abschieds von der Macht zu liegen. Das Foto mit dem hier festgehaltenen historischen Ereignis, auf das noch ausführlicher einzugehen sein wird3, steht programmatisch für den Inhalt dieses Buches. Von Kaisern und Königen soll die Rede sein. Doch weniger von einzelnen Herrscherbiographien oder Dynastien, den großen Staatsaktionen der Reichs- und Nationalgeschichte, den sich wandelnden monarchischen Konstitutionen oder Institutionen und verfassungs- und sozialgeschichtlichen Großstrukturen handelt das Buch, als vielmehr von der Königsherrschaft in ihrer lokalen Praxis4, greifbar in den vielen, sich wiederholenden und verändernden Handlungen von Menschen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Könige und Adlige, Kirchenleute und Bürger, bekannte Lokalgrößen und namenlose Statisten – sie alle sind Protagonisten königlicher Herrschaft. Denn Königsherrschaft funktioniert niemals als Alleinherrschaft, als Monarchie, sondern als eine auf Machtteilung beruhende Interaktion des Königs mit dem Adel, in der frühen Neuzeit dann auch mit dem Bürgertum der aufstrebenden Städte und zuletzt mit der Masse der Staatsbürger der segmentierten Gesellschaft der Moderne. Vom römisch-deutschen Wahlkönigtum des Mittelalters bis zur konstitutionellen Monarchie des langen 19. Jahrhunderts ist dies evident.5 Symptomatischerweise war in Deutschland nicht die Dominanz der Königsherrschaft, sondern die Zentrifugalität der sich von ihr emanzipierenden Territori1 2 3 4 5
Pohl, Der Kaiser im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zit. Wolff-Windegg, Die Gekrönten, S. 8. Ganz, Einhard’s Charlemagne. Vgl. Kap. 7.3.10. Zum soziologischen Begriff der Praxis Sahner, Praxis; Hörning/Reuer, Doing Culture; Hörning, Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung; Reckwitz, Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Riklin, Machtteilung; Loewenstein, Die Monarchie im modernen Staat; Kammler, Die Feudalmonarchien.
1.1 Von Königen und Städten
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alfürstentümer die „ausschlaggebende Triebkraft für das Wachstum der Staatsgewalt“.6 Königsherrschaft war immer auch ein situatives Aushandlungsprodukt prinzipiell konkurrierender Herrschaftsgruppen in Adel, Klerus, Militär und Verwaltung. Auf der lokalen Ebene traf sie mit der andersartig konstituierten Herrschaft stadtbürgerlicher Eliten zusammen, die als Bestandteil des monarchischen Herrschaftssystems in Konkurrenz zur königlichen Zentralgewalt, zum Territorialadel und zur Kirche stand. Freiheitsstreben7, Territorialgewalten und Föderalismus8, städtische Autonomie9, Kommunalismus und Klientelismus10, Regionalismus11 oder einzelne Milieus12 stellten historische Gegenkräfte zur Königsherrschaft dar. In dieser Arbeit wird das Bürgertum einer Stadt mit bedeutender reichsstädtischer Tradition gleichwohl mehr als Unterstützer, denn als Gegenspieler des Königtums erscheinen. Nur: In welchen konkreten Situationen fanden beide Pole zueinander, wie auf der Eingangs-Fotographie dargestellt? Im Rahmen dieser Studie wird fortan von König und Königsherrschaft als zentralen analytischen Kategorien gesprochen, während die Begriffe Monarch und Monarchie nur im Wissen um deren Ausgestaltung in der Verfassungswirklichkeit Verwendung finden. Die Begriffe Kaiser oder Kaisertum sind für die hier vorgelegte verfassungsgeschichtliche Untersuchung nur als symbolische Erhöhung des Königtums relevant. Die auf den König gemünzte Begrifflichkeit folgt der von Max Weber geprägten Auffassung von Herrschaft als „soziale[r] Regelungs- und Beziehungsform“.13 Königsherrschaft soll in einem einzigen städtischen Raum, in Aachen, über einen sehr langen Zeitraum dargestellt werden: von Karl dem Großen zu Wilhelm II., vom karolingischen Großreich des 8. Jahrhunderts bis zum Untergang des deutschen Kaiserreiches 1918. Beim Durchschreiten dieses langen Weges wird es um die Beantwortung der leitenden Fragestellung gehen: Wie wird Königsherrschaft im lokalen Raum und im Wandel der Zeiten kulturell realisiert? Vor allem die Cultural Studies haben Kultur in ihrer machtpolitischen Dimension sichtbar gemacht.14 Kultur stellt keineswegs „etwas an sich Harmloses“15 dar, sondern erscheint als ein „wütend umkämpftes Feld“16. Genauer gesagt ist sie ein 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Zit. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 26. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit; Schmidt/Gelderen/Snigula, Kollektive Freiheitsvorstellungen; Blickle, Freiheiten und Freiheit im alten Europa. Klueting/Schmale, Das Reich und seine Territorialstaaten; Burgdorf, ‚Reichsnationalismusދ gegen ‚Territorialnationalismus ;ދUmbach, German Federalism. Lehmann-Brauns/Hofer/Graf, Autonomie; Schilling, Stadt und frühmoderner Territorialstaat. Blockmans/Holenstein/Mathieu, Empowering Interactions; Blickle, Kommunalismus; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 239–247. Walker, German Home Towns; Applegate, A Nation of Provincials; dies., A Europe of Regions; Weichlein, Nation und Region; Klein, Zwischen Reich und Region; Confino, Die Nation als lokale Metapher. Loth, Integration und Erosion; ders., Milieus oder Milieu; Schank, ‚Kölsch-katholisch ;ދMergel, Milieu und Region. Zit. Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 9. Marchart, Cultural Studies, bes. S. 11–47, 251–253; Gibson, Culture and Power. Zit. Ebd., S. 12. Zit. Eagleton, Was ist Kultur?, S. 60.
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1 Einleitung
Feld asymmetrischer Machtbeziehungen und der Kämpfe um Hegemonie.17 Kultur trägt zur Bildung gesellschaftlicher Ein- und Ausschlussverhältnisse bei, zur Ausformung gemeinsamer Glaubensvorstellungen und sozialer Identitäten und zur „hegemonialen Stabilisierung der Gesellschaftsformation als ganzer“18. Kulturelle Realisierung von Königsherrschaft im lokalen Raum bedeutet die Aneignung und Nutzung dieses Raumes mit seinen kulturellen Vergemeinschaftungsformen, Artefakten und Bedeutungen für die Legitimation des Königs, für seine Selbstdarstellung durch Präsenz oder Repräsentation, für die Kommunikation königlicher Herrschaft durch die Vermittlungstätigkeit lokaler Unterstützer und für die Durchsetzung der Macht des Königs durch Repression, Folgsamkeit und Zulassung der Beherrschten. Kultur wird im Rahmen dieser Untersuchung als ein Symbolsystem verstanden, das die Stabilisierung oder Destabilisierung des Königtums unterstützt, indem bestimmte Symbole „bestimmte Sinn- und Wertvorstellungen repräsentieren und damit eine Funktion für die Identitäts- und Kohärenzstiftung haben“.19 Das Königtum kann als verstetigte, verinnerlichte und sich langsam wandelnde symbolische Ordnung mit regelnder und normativer Kraft verstanden werden, als Institution.20 Kultur erscheint demnach als ein relevanter Herrschaftsfaktor von langer Dauer, der von historischen Akteuren angeeignet, in politischen Kontexten als Bedeutungsträger zugerichtet und als Kapital zur Realisierung von Herrschaft genutzt wird. Im Fokus der Analyse sollen kulturelle Vergemeinschaftungsformen und Artefakte in ihrer Eigenschaft als Medien symbolischer und sprachlicher Kommunikation stehen: Krönungen und Herrscherbesuche, städtische Bauten, Denkmäler, Kunstwerke und manch anderes. In dieser Studie soll aufgezeigt werden, dass politische Herrschaft nicht zuletzt auf dem Wege kultureller Hegemonie realisiert wird und dass die physische und symbolische Inbesitznahme von Bedeutungsträgern, die Erlangung geschichtspolitischer Deutungshoheit21 und die dominante Präsenz in öffentlichen Räumen Herrschaftseliten in ganz unterschiedlichen Epochen auszeichnen. Königsherrschaft im lokalen Raum gehorcht wie alles Gewordene den Wandlungen und Beharrungskräften der Zeiten. Durch die unterschiedliche Beschleunigung paralleler Kulturen und die „Überlagerung chronologisch verschiedener Her-
17 Marchart, Cultural Studies, S. 16, 33–35. 18 Zit. Ebd., S. 13. 19 Zit. Hoffmann, Was sind ‚Symboleދ, S. 95. Vgl. für eine Begriffsbestimmung von Symbolizität und eine Systematik der aktuellen Symboltheorien Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung sowie zum Kulturbegriff Max Webers, dazu Müller, Max Weber, S. 63. 20 Göhler, Institution – Macht – Repräsentation; Melville/Vorländer, Geltungsgeschichten; Melville, Institutionalität und Symbolisierung; Melville/Rehberg, Gründungsmythen; Müller/Schaal/Tiersch, Dauer durch Wandel; Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen; ders., Macht-Räume als Objektivationen sozialer Beziehungen. 21 Speth/Wolfrum, Politische Mythen und Geschichtspolitik; Bock/Wolfrum, Umkämpfte Vergangenheit; Wolfrum, Geschichte als Waffe; Fröhlich/Heinrich, Geschichtspolitik; Winkler, Griff nach der Deutungsmacht.
1.1 Von Königen und Städten
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kunftsbestände“22 verstärkt sich insbesondere im lokalen Raum die Erfahrung einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.23 Die vorliegende Langzeituntersuchung bietet sich für einen epochenübergreifenden Blick auf die großen Entwicklungslinien der Königsherrschaft geradezu an. Welches spezifische Bild zeichnet die Königsherrschaft im lokalen Raum aus? Wie unterliegt Königsherrschaft im lokalen Raum dem politischen, sozialen und kulturellen Wandel? Lässt sich ihre Geschichte als Rationalisierungsprozess begreifen? Geht man von neueren Epochenbegriffen aus24, so dürfte die Königsherrschaft jeder Epoche durch diejenige der vorangegangenen vorstrukturiert werden. Kulturelle Vergemeinschaftungsformen und Artefakte werden hinterlassen und angeeignet, Herrschaftsfunktionen des lokalen Raumes in der kommunikativen und kulturellen Erinnerung tradiert.25 Zumeist an epochalen Zäsuren, aber auch durch kulturelle Veränderungen in der langsameren historischen Entwicklung, alltäglich wie außeralltäglich, werden nicht mehr benötigte, mit älteren Stadien der Königsherrschaft verbundene kulturelle Vergemeinschaftungsformen, Artefakte und Erinnerungsbestände von den Akteuren ausgeschieden, andere neu oder wieder übernommen, in ihrem Sinngehalt umgedeutet, über kürzere oder lange Zeiträume tradiert. Im Rahmen der Studie sollen Kontinuitäten und Diskontinuitäten kultureller Herrschaftsrealisierung in diachron vergleichender Perspektive aufgezeigt werden. Die Langzeituntersuchung soll den Blick für den Wandel der Vorstellungs- und Handlungsstrukturen der Akteure und die möglichen Gründe und Ursachen des Wandels öffnen.26 Eine kulturgeschichtlich und praxeologisch fundierte Geschichte von Königsherrschaft lässt sich als Verfassungsgeschichte schreiben. Der gängige Verfassungsbegriff meint „Zustand und Beschaffenheit“, „Ordnung“, „Errichtung bzw. Abfassung schriftlicher Form und Inbegriff des Verfaßten“.27 Er bezeichnet gewöhnlich die „rechtliche Gesamtordnung im Staat“28, dessen normative Grundlagen, Organisationsstrukturen und Institutionen. Klassische Verfassungsgeschichten beschreiben die gesetzlichen Grundlagen, die Funktionsweise von Verfassungsorganen im Willensbildungsprozess oder in der Verwaltung. Neuere Darstellungen beziehen stärker die strukturellen Grundlagen der Macht wie Grundbesitz und Militär und die theoretischen Reflexionen über die Verfasstheit der Gemeinwesen ein. Häufig bezeichnet Verfassung die rechtliche Lebensord-
22 23 24 25
Zit. Nolte, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, S. 134. Dazu ebd. Demel, ‚Fließende Epochengrenzen ;ދNolte, 1900; Maurer, Epochen. König, Politik und Gedächtnis; Fried, Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung; Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. 26 Dazu Dülmen, Historische Anthropologie, S. 101–104; Daum/Riederer/Segern, Fallobst, S. 5f.; Burke, Soziologie und Geschichte, S. 39–42; Haupt/Kocka, Der historische Vergleich. 27 Zit. Grimm/Mohnhaupt, Verfassung I–II, S. 832. Vgl. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, S. 7–9; Grimm/Mohnhaupt, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs. 28 Zit. Roth, Verfassung, S. 176.
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1 Einleitung
nung und Wertgrundlage eines Gemeinwesens.29 Der hier gemeinte Verfassungsbegriff bezieht sich auf die kulturell geschaffenen Machtverhältnisse in einer Gesellschaft.30 Königsherrschaft wird in der alltäglichen wie außeralltäglichen kommunikativen und interaktiven Praxis gewonnen, erneuert, modifiziert, beendet, ausgehandelt, angeeignet, bestätigt, gefestigt, geschwächt, akzeptiert und bestritten. Insofern stellt die hier angestrebte Verfassungsgeschichte der Königsherrschaft eine handlungsbezogene Machtgeschichte dar. Lässt sich aber eine solche Verfassungsgeschichte zugleich als Geschichte des lokalen Raums schreiben? Nicht die klassische Lokalgeschichte, wohl aber die Mikrogeschichte kann den Blick auf das Ganze eröffnen. Als Zweig der neueren Kulturgeschichtsforschung ermöglicht sie durch die Untersuchung kleiner Räume, überschaubarer Handlungseinheiten und sozialer Gruppen die „Details des Ganzen“31 vielseitig und präzise zu erfassen. Soziale Beziehungen und Bedeutungsuniversen können beschrieben, Lebenszusammenhänge näher erklärt, Machtkonstellationen aufgezeigt, Handlungslogiken und -spielräume der Akteure hervorgehoben und Einzelleben gewürdigt werden.32 Dadurch kann es der Mikrogeschichte gelingen, einfache oder grobe Erklärungsmuster zu relativieren und zu verfeinern. Allerdings stellt sich bei der Mikrogeschichte immer die Frage nach der Repräsentativität der gewonnenen Ergebnisse.33 Historische Kontextualisierung, wechselseitige Durchdringung von Mikro- und Makrogeschichte und Perspektivenwechsel sollen dieses zweifellos vorhandene Manko ausgleichen und die „Analyse komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge“34 ermöglichen. Die Stadt wird in der Untersuchung als situativer Handlungsraum von Königsherrschaft verstanden. Der Ansatz folgt damit dem spatial turn35 in der neueren historischen Kulturwissenschaft und versteht „Stadt als angeeignete[n] Raum“.36 Die Akteure bedienen sich der Stadt im Sinne von Raumkonstruktionen, 29 Quaritsch, Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung; Sprandel, Verfassung und Gesellschaft; Roth, Verfassung, S. 176f.; Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, S. 17–19; ders., Moderne deutsche Verfassungsgeschichte. 30 Grimm/Mohnhaupt, Verfassung I–II, S. 833, 874f., 881–883, 890; Fisch/Kersting, Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag; Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, S. 9–15; Quaritsch, Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, S. 25–27. 31 Zit. Dülmen, Historische Anthropologie, S. 47. 32 Burghartz, Historische Anthropologie/Mikrogeschichte; Büschel, Untertanenliebe, S. 28f.; Lüdtke, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie; Walser Smith, Lokalgeschichte. 33 Zur Kritik der Repräsentativität der mikrogeschichtlichen Forschungsergebnisse Schlumbohm, Mikrogeschichte – Makrogeschichte; Büschel, Untertanenliebe, S. 37–42. 34 Zit. Burghartz, Historische Anthropologie/Mikrogeschichte, S. 218. Vgl. Daniel, Clio unter Kulturschock, S. 215–217; Dülmen, Historische Anthropologie, S. 47–50, 95–98; Landwehr, Geschichte des Sagbaren, bes. S. 169; Ulbricht, Mikrogeschichte. 35 Bachmann-Medick, Cultural turns, S. 284–328; Rau/Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit, S. 20–23. 36 Zit. Schürmann/Guckes, Stadtbilder – städtische Repräsentationen, S. 7. Vgl. Guckes, Stadtbilder und Stadtrepräsentationen, S. 77f., 80–82. Wichtige neuere Studien: Springer, Verbaute
1.1 Von Königen und Städten
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um „Einverständnis über die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft zu finden.“37 Die Stadt erscheint als Raum verdichteter Kommunikation, sozialer Repräsentation und Klassenbildung. In der Stadt erweist die Anwesenheitskommunikation ihre soziale Relevanz und strukturbildende Kraft „für die Ausübung und Konstitution politischer Macht“.38 Im städtischen Raum existiert zudem ein dichtes Netz von Akteuren, Medien und Teilöffentlichkeiten. Konflikte werden auf engstem Raum ausgetragen und beigelegt. In städtischen Festen und Feiern äußern sich Kooperationen, Korporationen und Sozialhierarchien. Der öffentliche Raum der Stadt wird gleichsam zum Markt39, auf dem Akteure in vielfältiger Weise als Kommunikations- und Tauschpartner miteinander in Beziehung treten: Königtum, Adel, Klerus und Stadtbürgertum in ihren vielfältigen sozialen Differenzierungen und historischen Entwicklungslinien. Max Weber sah deshalb in der durch eben jene innere Dynamik ausgezeichneten Stadt den „Ursprungsort, [die] Wegbereiterin und kontinuitätsstiftende Trägerin ökonomischer, politischer und kultureller Rationalisierung.“40
Ausgangspunkt zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen ist zunächst der problematische Herrschaftsbegriff, dessen wissenschaftliche Tauglichkeit in einem ersten Schritt überprüft werden soll (Kap. 1.2.1). Danach sollen drei mit den Begriffen Legitimation, Repräsentation bzw. Kommunikation und Durchsetzung bezeichnete, forschungsgeschichtlich definierte Blickwinkel auf Herrschaft in ihrer analytischen Tragweite näher erläutert werden, da sie das methodische Grundgerüst der Untersuchung bestimmen werden. Dies soll auch mit dem Ziel geschehen, Möglichkeiten einer theoretischen Weiterentwicklung des Herrschaftsbegriffs auf interdisziplinärer Basis zu eröffnen (Kap. 1.2.2-1.2.4). Im Anschluss daran sollen kurz die Quellen- und Forschungslage zum lokalen Untersuchungsraum Aachen beleuchtet und einige leitende Arbeitsthesen vorgelegt werden (Kap. 1.3), bevor der Aufbau der Arbeit dargestellt wird (Kap. 1.4).
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Träume; Plato/Seegers, Städte, Stadtrepräsentationen und Medien; Hochmuth/Rau, Stadt – Macht – Räume, S. 23; Dumons/Zeller, Gouverner la ville en Europe; Finley-Croswhite, Henry IV and the Towns; Cassan, Die Krone und die Städte; Kaiser, Marseille im Bürgerkrieg; Gal, Grenoble; Lignereux, Lyon et le roi; Brakensiek u.a., Kultur und Staat in der Provinz; Brakensiek/Wunder, Ergebene Diener ihrer Herren; Ronald G. Asch, Staatsbildung als kultureller Prozess; Meumann/Pröve, Herrschaft in der Frühen Neuzeit; Saldern, Inszenierter Stolz; dies., Symbolische Stadtpolitik; dies, Sinfonie der Festtagsstimmung. Zit. Schreiner, Die mittelalterliche Stadt, S. 142. Den noch unzureichend erforschten Zusammenhang zwischen Raumkonstruktionen und Machtbeziehungen betonen Hochmuth/Rau, Stadt – Macht – Räume, S. 17–30. Zit. Hochmuth/Rau, Stadt – Macht – Räume, S. 19. Häußermann/Siebel, Stadtsoziologie, S. 56, 59. Zit. Schreiner, Die mittelalterliche Stadt, S. 119. Vgl. ebd., S. 131 sowie Häußermann/Siebel, Stadtsoziologie, S. 90–93.
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1 Einleitung
1.2 HERRSCHAFT: FORSCHUNGSSTAND UND THEORIEN 1.2.1 Ein problematischer Begriff 1.2 Forschungsstand und Theorien Der Zusammenhalt von Gemeinwesen hat die europäische Denkkultur seit der Antike beschäftigt. Die griechischen Philosophen bezeichneten die allermeisten der ihnen bekannten Organisationsformen von Herrschaft mit den Begriffen kratos oder archƝ: Monarchie, Aristokratie, Oligarchie, Demokratie, Ochlokratie, aber auch die Herrschaftslosigkeit, Anarchie.41 Nahezu uneingeschränkt sah man bis an die Schwelle der neuzeitlichen Revolutionen die seit vielen Jahrhunderten dominierende Herrschaftsform, die Königsherrschaft, zugleich als die beste an. Bei ihrer Beschreibung durch die Gelehrten des Mittelalters stand das Ziel der ethischen Belehrung des Fürsten im Vordergrund, bevor die Staatstheorie der Frühen Neuzeit sich ihrer als Gegenstand politischer Analyse annahm. Sie gab erstmals modern anmutende Hinweise auf die pädagogische und soziale Prägung der Beherrschten und auf den Profit, den Viele aus der Herrschaft des Einzelnen ziehen.42 Für die großen Philosophen und Staatsrechtler des Absolutismus und der Aufklärung, Hobbes, Pufendorf, Locke, Montesquieu, Rousseau, beruhte Herrschaft nicht allein auf Gewalt, sondern maßgeblich auf der Anerkennung durch die Beherrschten. Sie erkannten den der Herrschaft innewohnenden Nutzen der sozialen Koordination und des friedlichen Zusammenlebens für die Mitglieder eines Gemeinwesens. Die Vertragstheorie der rationalen Naturrechtslehre fand darin ebenso einen ihrer Ausgangspunkte wie die rationaltheoretische Richtung der modernen Herrschaftssoziologie.43 Der schottische Philosoph und Historiker David Hume bezeichnete gleichwohl die Leichtigkeit, mit der die Vielen mühelos durch Wenige regiert werden, als höchst erstaunlich und signalisierte damit weiteren Erklärungsbedarf: „Nothing appears more surprising to those who consider human affairs with a philosophic eye than the easiness with which the many are governed by the few.“44
Die Beschäftigung mit Herrschaft stand im 19. und frühen 20. Jahrhundert verstärkt unter dem Einfluss politischer Implikationen, nicht zuletzt in der deutschen Rechts- und Verfassungslehre, die den vom nationalstaatlichen Denken geformten Staatsbegriff auf die Herrschaftsverhältnisse der Vormoderne übertrug. Die meis41 Überblicke bei Carl, Herrschaft; Koselleck u.a., Herrschaft; Kroeschell, Herrschaft; Stockmeier, Herrschaft; Pohl, Herrschaft; Conze/Meier, Adel, Aristokratie; Meier u.a., Demokratie; Schulze, Monarchie; Ludz/Meier, Anarchie, Anarchismus, Anarchist. 42 Instrumentalistisch erscheinen Macht und Herrschaft noch bei Niccolò Machiavelli. Vgl. Pauen, Gottes Gnade – Bürgers Recht, S. 32–38. Eine quasi soziologische Begründung, warum sich Menschen freiwillig zu Knechten machen, lieferte Etienne de la Boétie in seinem ‚Discours de la servitude volontaire ou le contr’unދ. Vgl. La Boétie, Von der Freiwilligen Knechtschaft. 43 Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 9–11, 63f.; Koselleck u.a., Herrschaft, S. 33f.; Hennen/Prigge, Autorität und Herrschaft, S. 33–48; Becker, Herrschaftsvertrag. 44 Zit. nach Popitz, Prozesse der Machtbildung, S. 5.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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ten verfassungsgeschichtlichen Darstellungen verharrten aufgrund der rechtshistorischen Tradition zudem in der Beschreibung der Normen und Institutionen, häufig ergänzt um die politik- und ideengeschichtlichen Entwicklungen.45 Die von der Religionswissenschaft inspirierte Entdeckung des Herrschercharismas Anfang des 20. Jahrhunderts und die Ersetzung des Staates durch das Volk als maßgebliche historische Bezugsgröße können als Gegenbewegung zur rechtsgeschichtlichen und liberalen Prägung der klassischen Staats- und Verfassungslehre begriffen werden.46 Beeinflusst durch die Volkskunde, erneut zeit- und ideologiegebunden und „gewohnheitsmäßig mitgeschleppt“47, prägten die Lehren vom Königsheil, von der germanischen Freiheit und deutschen Treue oder vom Personenverbandsstaat bis in die jüngere Vergangenheit die Forschungsparadigmen insbesondere der westdeutschen Mediävistik.48 Ihre Konzentration auf normative Texte wie die mittelalterlichen Krönungsordines oder auf die Herrscherikonographie trug zu einer Fixierung des Forschungsinteresses auf Königtum und Adel als maßgebliche Akteure von Herrschaft bei. Die herrscherbezogenen Interpretationen lieferten wertvolle, aber einseitige Erkenntnisse zum Herrschaftsverständnis der vormodernen Welt und stellten das Pendant zur älteren politik- und ideengeschichtlichen Ausrichtung der Verfassungsgeschichte dar.49 Im Gefolge der seit den 1950er Jahren in Westdeutschland von Otto Brunner eingeleiteten sozialgeschichtlichen Wende der Verfassungsgeschichte betrachtete man Herrschaft als ein auf Gegenseitigkeit bedachtes Verhältnis von Herrscher und Beherrschten, geprägt durch Treue, Huld, Schutz und Schirm, Rat und Hilfe. Dabei wollte dieser Ansatz die angeblich in der germanischen Hausherrschaft wurzelnde 45 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1–2; Bader/Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte. 46 Forschungsüberblick bei Hechberger, Die Theorie vom Adelsheil im früheren Mittelalter, S. 427ff. und die Bibliographie S. 441–445; Oberkrome, Volksgeschichte. Vgl. dazu speziell die frühe Kritik bei Graus, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger, S. 17f., 313– 317; später ders., Verfassungsgeschichte des Mittelalters; Hannig, Consensus Fidelium, S. 27 und Anm. 4; Oexle, Feudalismus, Verfassung und Politik, S. 215–219; Blänkner, Von der ‚Staatsbildung ދzur ‚Volkswerdung ;ދAlgazi, Otto Brunner; ders., Herrengewalt und Gewalt der Herren, bes. S. 97–127; dazu wiederum: Schmitt, Schutz und Schirm oder Gewalt und Unterdrückung; Patzold, Die Bischöfe im karolingischen Staat, S. 133–136; Oexle, ‚Staat– ދ ‚Kultur‚ – ދVolkދ. Zuweilen merkwürdig affirmativ Schneidmüller, Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte der politischen Ordnungen. 47 Zit. Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter, S. 11. 48 Noch 1978 in der HZ: Kienast, Germanische Treue und ‚Königsheil ދsowie Erler, Königsheil. Vgl. die kritischen Bemerkungen zur Forschungsgeschichte bei Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue, S. 5–10, 135–137; Kroeschell, Haus und Herrschaft; Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 200f.; Wiedenmann, Treue und Loyalität, bes. S. 37f.; Buschmann, Die Erfindung der Deutschen Treue. 49 Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik; ders., Die Geschichte des mittelalterlichen Herrschertums im Lichte der Herrschaftszeichen; Kantorowicz, Laudes Regiae; ders., Die zwei Körper des Königs; Panofsky, Ikonographie und Ikonologie; Hardt, Herrschaftszeichen; Restle, Herrschaftszeichen; Engemann, Herrscherbild. Vgl. zur weiteren forschungsgeschichtlichen Einordnung Goetz, Moderne Mediävistik, S. 101-103, 174ff.; Bak, Medieval Symbology of the State; Hack, Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst-HerrscherTreffen, S. 253–256.
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1 Einleitung
Königsherrschaft weiterhin als eine maßgeblich von oben nach unten verlaufende Relation zwischen Herrscher, Adel und Volk verstehen: als Gefolgschaft.50 Das von der völkischen Wissenschaft in die Sozialgeschichte transportierte Modell konsensgestützter Herrschaft, die Gemeinschaft, war mehr weltanschauliches Leitbild für das gewünschte Funktionieren eines Staates als empirisches Erklärungsmodell. Mit diesem Forschungsparadigma hatten sich die neueren geschichtswissenschaftlichen Studien auseinanderzusetzen, die sich mit Beratung, Konsens, Vertrag und Eidesleistung in vormodernen Herrschaftsordnungen beschäftigten.51 Etwa parallel zu den Anfängen rechts- und verfassungsgeschichtlicher Forschung lieferte die materialistische Gesellschaftstheorie von Karl Marx und Friedrich Engels bedeutende Voraussetzungen für die Entstehung einer Soziologie der Herrschaft, indem sie Macht und Herrschaft von Klassen in der modernen Industriegesellschaft im Kapital, in der kapitalistischen Produktionsweise und insbesondere in der Verfügung über die Produktionsmittel objektiviert begriff.52 In deutlicher Anlehnung an Marx betrachtet der kritische Ansatz der Herrschaftssoziologie die materielle und akkumulationsfähige Basis, wie sie in der Feudalgesellschaft als Bodenbesitz53, in der modernen Industriegesellschaft als Kapital, geldvermittelter Warentausch oder monopolisiertes Wissen besteht, als ein grundlegendes Element jeglicher Herrschaft. Bei aller berechtigten Kritik an der ökonomistischen Ausrichtung der marxistischen Gesellschaftstheorie beruht die wichtige Erkenntnis, dass Herrschaft in der Moderne zunehmend unpersönlich und versachlicht ausgeübt wird, auf der materialistischen Herrschaftsanalyse. Die kritische Analyse richtete den Blick auf die Ideologie als bindendes Instrument der ökonomisch herrschenden Klassen zur Hegemonialisierung auch des geistigen Lebens einer Gesellschaft.54
50 Programmatisch Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte; ders., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte; ders., Land und Herrschaft, S. 111ff.; ders., Bemerkungen zu den Begriffen ‚Herrschaft ދund ‚Legitimitätދ. Würdigung der Forschungsgeschichte Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung; Oexle, Feudalismus, Verfassung und Politik; Epp, Amicitia, S. 4f.; Pohl, Herrschaft, S. 444, 446ff.; Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte. 51 Asch, Von der ‚monarchischen Republik ދzum Gottesgnadentum?; Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa, S. 1f.; Schorn-Schütte, Aspekte der politischen Kommunikation, S. 9; Apsner, Vertrag und Konsens im früheren Mittelalter; Hannig, Consensus fidelium; Oexle, Konsens – Vertrag – Individuum; Schulze, Der deutsche Reichstag des 16. Jahrhunderts; Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft; Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. 52 Bruch, Herrschaft in der modernen Gesellschaft, S. 20f., 28–31, 99–111; Hennen/Prigge, Autorität und Herrschaft, S. 53–66; Hösler, Vom Traum zum Bewußtsein; Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 117–137; Baberowski, Der Sinn der Geschichte, S. 80–98. 53 Vgl. exemplarisch Müller-Mertens, Karl der Große, Ludwig der Fromme und die Freien; ders., Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen. 54 Rehmann, Einführung in die Ideologietheorie, bes. S. 32f.; Bruch, Herrschaft in der modernen Gesellschaft, S. 54; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 29f., 115–145.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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Maßgeblich für die moderne Analyse von Herrschaft als „Eigenschaft eines sozialen Systems“55 war die Entfaltung der Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts.56 Gustave Le Bon sah in der Masse das unwillkürliche Streben am Werk, wie eine Herde dem gewaltsam agierenden Führer zu folgen57, während für Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto die Herrschaft einer Elite neben der physischen Gewalt auf dem Werte- und Normensystem der Gesellschaft beruhte, „dem Glauben der Massen an die politische Formel“58. Diese Formel kann auf die unterschiedlichen Vorstellungen religiöser, ideologischer oder mythischer Art projiziert werden, die Herrschende und Beherrschte miteinander teilen.59 Die Erlangung der Deutungshoheit, die Durchsetzung kultureller Hegemonie sowie wechselnde Konstellationen sozialer Gruppen, die mit und gegeneinander Machtkämpfe ausfechten, waren in der Theorie des marxistischen Philosophen und Historikers Antonio Gramsci wesentliche Merkmale von Herrschaft.60 Die Soziologie Max Webers übt bis heute den vielleicht größten Einfluss auf die Theorie von Herrschaft aus.61 Weber unterschied Herrschaft von „zufälligen Macht- oder Gewaltbeziehungen“62 und verstand sie als „Chance [...], für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“63
Diese Herrschaftsdefinition Webers ist eigentümlich nahe an seiner Definition von Macht als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“64
Mit dem Begriff des Gehorsams erscheint Herrschaft bei Weber als Sonderfall von Macht, reduziert auf den Zwangsaspekt dieser sozialen Beziehung.65 Insge-
55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65
So die Basisdefinition von Hennen/Prigge, Autorität und Herrschaft, S. 10. Kaesler, Klassiker der Soziologie, S. 11f. Hartmann, Elitesoziologie, S. 16–18. Zit. Tamayo, Die Entdeckung der Eliten, S. 67. Hartmann, Elitesoziologie, S. 19–31. Demirovic, Löwe und Fuchs. Zu Gramsci Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 131f. Zur Weber-Rezeption Torp, Max Weber, S. 161–167; Kaesler, Max Weber, S. 205–210; Radkau, Max Weber, S. 829–859; Schmitt, Vom Nutzen Max Webers für den Historiker; die Beiträge in Weiß, Max Weber heute; Hanke/Mommsen, Max Webers Herrschaftssoziologie. Zit. Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 9. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1, S. 28. Vgl. Koselleck u.a., Herrschaft, S. 99; Neuenhaus, Max Weber, S. 85; Döbert, Max Webers Handlungstheorie, S. 237–240; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 25f. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1, S. 28. Vgl. Koselleck u.a., Herrschaft, S. 99; Korte, Soziologie, S. 63. Dazu Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 17. Lottes, Staat, Herrschaft, S. 360f.
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1 Einleitung
samt überwiegt in der neueren Forschung die Tendenz, Herrschaft von Macht, Gewalt, Autorität oder Disziplin abzugrenzen.66 Herrschaft ist demnach nicht das einzige, zweifellos aber ein „zentrales Element sozialer Ordnung“67. Ebenso ist Herrschaft ein problematischer Forschungsbegriff, der in Bereiche menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns vorstößt, die für den Historiker in den Quellen kaum oder gar nicht zu erfassen sind.68 Mit der Historizität von Herrschaft und Sprache kommt ein weiteres Problem hinzu. Folgt man einer Reihe neuerer Darstellungen, dürfte der abstrakte heuristische Begriff Herrschaft für die Vormoderne nur unter strengen Auflagen oder am besten gar keine Verwendung finden, da das Mittelalter keinen abstrakten Herrschaftsbegriff kannte. Herrschaft wurde allein über konkrete Rechte und Befugnisse eines Herrn über Beherrschte erfahren.69 Der Herrschaftsbegriff habe, so wurde vor einiger Zeit konstatiert, „als theoretische Kategorie in Untersuchungen aktueller politischer und gesellschaftlicher Phänomene an Bedeutung verloren“.70
Neuerdings dominieren historische Darstellungen, die sich statt Herrschaft der Begriffe Macht, Gewalt oder Regierung bedienen, um politische und gesellschaftliche Strukturen zu beschreiben. Wie die ebenfalls problematische historische Verwendung des Staatsbegriffs zeigt71, wird man mit der Übertragung von Termini der modernen politischen Kultur auf vergangene Zeiten in der Tat behutsam
66 Bracher, Betrachtungen zum Problem der Macht; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 15–32; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt; Claessens, Macht und Herrschaft; Haude/Wagner, Herrschaftsfreie Institutionen, S. 51–61; Blanning, Das Alte Europa. Kultur der Macht und Macht der Kultur; Blockmans, Geschichte der Macht in Europa; Brodocz u.a, Institutionelle Macht; Carozzi/Taviani-Carozzi, Le pouvoir au Moyen Âge; Fisch/Gauzy/Metzger, Machtstrukturen im Staat; Mann, Geschichte der Macht 1–3; Finer, History of Government 1–3; Popitz, Prozesse der Machtbildung; ders., Phänomene der Macht; Göhler, Institution – Macht – Repräsentation; Melville, Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht; Andres/Geisthövel/Schwengelbeck, Die Sinnlichkeit der Macht; Jussen, Die Macht des Königs; Wittenauer, Im Dienste der Macht; Hennen/Prigge, Autorität und Herrschaft; Rabe, Autorität; Friedrich/Sikora, Disziplin; Schwerhoff, Gewalt; Meumann/Niefanger, Ein Schauplatz herber Angst; Lindenberger/Lüdtke, Physische Gewalt; Kintzinger/Rogge, Königliche Gewalt; Mensching, Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter; Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren; Ulbrich/Jarzebowski/Hohkamp, Gewalt in der Frühen Neuzeit, bes. S. 141ff. 67 Zit. Carl, Herrschaft, Sp. 399. 68 Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte, bes. S. 109–184; Hechberger, Die Theorie vom Adelsheil im früheren Mittelalter, S. 427; Weber, Der Fürst, Einleitung, S. 3. 69 Willoweit, Herr, Herrschaft, bes. Sp. 2177f.; Goetz, Herrschaft, S. 467. Vgl. zur personalen Herrschaft Carl, Herrschaft, Sp. 402f. 70 Aden, Herrschaftstheorien und Herrschaftsphänomene, S. 9. 71 Koselleck u.a. Staat und Souveränität; Breuer, Der Staat; Meumann/Pröve, Die Faszination des Staates; Ertman, Birth of the Leviathan; Pohl, Staat und Herrschaft im Frühmittelalter; Patzold, Die Bischöfe im karolingischen Staat, S. 133–139; aus rechtswissenschaftlicher Sicht Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit, dessen Darstellung mit dem Frankenreich einsetzt.
1.2 Forschungsstand und Theorien
23
umzugehen haben72, wenngleich bekanntlich selbst streng positivistisch arbeitende Historiker dem Konstruktionscharakter ihrer Texte nicht entgehen können. Der jüngste Versuch des Mediävisten Steffen Patzold, mit seiner generellen Kritik am „ideologisch gefärbt[en], weder interdisziplinär noch international anschlußfähig[en]“ Herrschaftsbegriff die Benutzung eines angeblich zur „Worthülse“73 verkommenen Begriffs Herrschaft insgesamt zu extrapolieren, mündete in eine Darstellung, die selbst nicht ohne Begriffe wie „Herrscher“, „Herrschaftsrechte“, „Bischofsherrschaft“ usw. auskam.74 Eine bloße Ersetzung des Herrschaftsbegriffs durch den vergleichsweise diffusen Begriff Macht erscheint keineswegs als der Weisheit letzter Schluss.75 Wolfgang Reinhard schlägt zur Abmilderung des hermeneutischen Dilemmas vor, statt der abstrakten Begrifflichkeit, die „historisch konkreten Personen und Institutionen in den Mittelpunkt zu stellen“.76 Dies führt zu einem praxeologischen Ansatz, wie er in der vorliegenden Untersuchung verfolgt werden soll. Seine besonderen Merkmale und Vorzüge lassen den Herrschaftsbegriff weiterhin wissenschaftlich operabel erscheinen, wobei die derzeitigen Erklärungsmodelle eine große Bandbreite aufweisen: Konservative, meist mit Hobbes argumentierende, und soziobiologische Macht- und Herrschaftstheorien gehen davon aus, dass Menschen in sozialen Gruppen immer, quasi natur- bzw. evolutionsbedingt, Herrschafts- und Machtstrukturen, Rangordnungen und Dominanz herausbilden. Nur kurzfristig würden sich, so wird behauptet, „Gemeinschaften, Interessen- oder Notgemeinschaften“, also Kooperationen, ausbilden, beruhe doch das Gruppenverhalten von Menschen (wie das der Tiere) auf Konflikten bzw. auf dem Wettbewerb prinzipiell egoistisch ihre Interessen vertretender Individuen.77 Pointiert erscheint vor diesem Hintergrund eine Äußerung des Historikers Thomas Nicklas, wonach die Macht „das unheimliche Band [sei], das alle Primaten umschlingt“.78 Der Behauptung einer Naturgegebenheit von Ungleichheit und Herrschaft diametral gegenüber steht das etwa von den Soziologen Rüdiger Haude und Thomas Wagner vertretene Theorem egalitär-herrschaftsfreier Gesellschaften, vorrangig in frühen und außereuropäischen Kulturen. Allen Machtverhältnissen wird von ihnen der Charakter von Einflussnahme und Zwang zugeschrieben. Auch Konflikt und Gewalt seien keine hinreichenden Definitionsmerkmale von Herr72 Dazu Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 16–18; Pohl, Staat und Herrschaft im Frühmittelalter, S. 9. 73 Patzold, Die Bischöfe im karolingischen Staat, S. 139. 74 Ebd., S. 139–141, 160f. 75 Gegen einen simplen Verzicht auf den Begriff bereits Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, S. 587; ferner Haude/Wagner, Herrschaftsfreie Institutionen, S. 51. Vgl. auch Kerner, Ideologie und Herrschaft im Mittelalter. 76 Zit. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 16. 77 Wuketits, Was ist Soziobiologie?, S. 33ff., 80ff., Zit. S. 88; ders., Soziobiologie, S. 51ff.; Voland, Grundriss der Soziobiologie, S. 76ff. Vgl. zur Entstehung sozialer Schichtung und Machtbeziehungen als Folge von Sesshaftwerdung und Agrarwirtschaft aus soziologischer Sicht auch Mann, Geschichte der Macht 1, S. 19–22, 65ff., 127ff. 78 Zit. Nicklas, Macht – Politik – Diskurs, S. 5.
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1 Einleitung
schaft, so dass sie in herrschaftsfreien Gesellschaften durchaus auftreten könnten.79 Haude und Wagner verstehen Herrschaft vorrangig als repressiven Modus der Macht im Sinne institutionalisierter „Befehl-Gehorsams-Strukturen“80. Dem stünden herrschaftsfreie Gesellschaften, etwa in Gestalt der durchaus machtgesteuerten „regulierten Anarchie“81 segmentärer Gesellschaften entgegen, wie sie bereits Weber diskutierte.82 Macht- und Herrschaftsstrukturen vereinen allerdings, so Haude, „Mechanismen der Institutionalisierung – Gründungsmythen, Zeitkonzepte, Aufladung des Raums mit Sinn“83, ein für die kulturhistorische Analyse zentraler Aspekt, der aber vom Autor leider nicht weiter vertieft wird. Neuere politologische und soziologische Theorien verstehen Herrschaft häufig als Interaktion antagonistischer, asymmetrischer Machtpotentiale und Handlungsspielräume besitzender Akteure, die auf dem Wege scheinbar gleichberechtigter und freiwilliger Aushandlung ihre jeweilige Über- oder Unterordnung festlegen. Übereinstimmend gehen die meisten Arbeiten davon aus, dass jeder Macht- und Herrschaftsbildung soziale Ungleichheit und eine Privilegierung von Wenigen zugrunde liegen, die sich in Besitz, Wissen und überlegener Sozialkompetenzen ausdrücken.84 Herrschaftsrealisierung ist allerdings nie so harmonisch und machtvergessen, wie dies liberale Vertragstheorien, die Konsenstheorien von Habermas und anderen85 sowie jene Theorien, die Herrschaft als ein „gesellschaftliches Organisationsprinzip“86 auffassen, suggerieren. Nicht selten scheinen sie mehr normativ als empirisch ausgerichtet zu sein.87 Hinter Normen und konsensualer Verständigung verbergen sich jedoch bei genauerem Hinschauen Antagonismen der Akteure, die bestimmte Kräfteverhältnisse sanktionieren und festschreiben wollen.88 Der Soziologe Stefan Breuer führt an, dass Herrschaft aus der Institutionalisierung und Formalisierung von Macht sowie der „Abstützung in der sozialen Struktur“89 hervorgehe. Macht findet sich demnach immer in Verbindung mit hierarchischer Über- und Unterordnung, doch nur für Herrschaftsstrukturen sind
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Haude/Wagner, Herrschaftsfreie Institutionen, bes. 23–54. Ebd., S. 58f., Zit. S. 59. Vgl. Haude, Institutionalisierung von Macht und Herrschaft. Haude/Wagner, Herrschaftsfreie Institutionen, S. 59. Sigrist, Macht und Herrschaft, S. 11. Zit. Haude, Institutionalisierung von Macht und Herrschaft, S. 15. Popitz, Prozesse der Machtbildung, S. 9ff.; ders., Phänomene der Macht, S. 107–129. Maßgeblich Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Kritisch dazu Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 7, 173f. Zit. Hennen/Prigge, Autorität und Herrschaft, S. 25. Vgl. zur Bedeutung von Organisation, Norm und Verfassung Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 17f. Melville, Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht, Vorwort, S. VII; Carl, Herrschaft, Sp. 401; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 22; Braddick/Walter, Negotiating Power. Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 171f. Zit. Breuer, Der Staat, S. 17.
1.2 Forschungsstand und Theorien
25
„stabile Machtasymmetrien“90 konstitutiv. Übereinstimmend definiert Claus Leggewie Herrschaft als „eine asymmetrische soziale Wechselbeziehung von Befehlsgebung und Gehorsamsleistung [...], in der eine Person, Gruppe oder Organisation anderen (zeitweilig) Unterordnung aufzwingen und Folgebereitschaft erwarten kann. Erst Regelmäßigkeit und Erfolg kennzeichnen H[errschaft] als Institution.“91
Eher nebenbei weist Leggewie auf den eigentlich problematischen Kern in Webers Herrschaftsdefinition92 hin, indem er das Motiv für den Gehorsam der Beherrschten offen lässt, da Herrschaft innerhalb einer gegebenen legitimen Ordnung funktioniere und auf der mal freiwilligen, mal erzwungenen Zustimmung der Beherrschten, ihrem „Gehorchenwollen“93, beruhe. Zur Erzeugung von Stabilität können einerseits Zwangs- und Gewaltausübung und Überzeugungs- und Strahlkraft der Herrschenden als auch andererseits Gehorsam, Treue, Fügsamkeit, Zulassung, Loyalität, Überzeugtheit und freiwillige Anerkennung der Beherrschten aufeinandertreffen. So meint auch Maurice Godelier zu Recht: „Ich bin der Meinung, daß jede Macht zu herrschen immer zwei Komponenten hat, welche unauflöslich miteinander verbunden sind und welche beide ihre Stärke und Wirksamkeit ausmachen: Gewalt und Zustimmung. Meiner Ansicht nach ist von diesen beiden Komponenten der Macht nicht die Gewalt der Herrschenden konstitutiv für die Herrschaft, sondern die Zustimmung der Beherrschten.“94
Ungeklärt bleibt, ob das Gehorchenwollen nicht allein bewusst, sondern auch unbewusst erzeugt werden kann, etwa durch kulturell eingelebte Formen der Disziplinierung, die den Legitimationsglauben prägen. Michel Foucault hat in seiner bekannten Studie über die Praxis des Überwachens und Strafens im 18. und 19. Jahrhundert die verfeinerten Disziplinierungsund Normalisierungstechniken des Staates decouvriert, die sich quasi in die Körper der Beherrschten einschreiben.95 Die Mikrophysik von Macht und Herrschaft ist demnach bis in die äußersten Verästelungen kultureller Praxis analysierbar.96 Das Denken und Handeln der Herrschenden und Beherrschten kann auf eine Vielzahl von Ursachen und Motiven zurückgeführt werden, die „von ‚Sitte ދund ‚dumpfer Gewöhnung ދbis zu zweckrationalen Erwägungen reichen“.97 Jenseits 90 Zit. Haude/Wagner, Herrschaftsfreie Institutionen, S. 59, ferner Haude, Macht und Herrschaft bei Pierre Clastres. Vgl. zur Asymmetrie von Machtverhältnissen auch Carl, Herrschaft, Sp. 400f. 91 Zit. Leggewie, Herrschaft, S. 251. 92 Buschmann/Murr, ‚Treue ދals Forschungskonzept, S. 13. 93 Zit. Leggewie, Herrschaft, S. 254. Vgl. Müller, Max Weber, S. 122f.; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 9, 33; Claessens, Macht und Herrschaft, S. 121; Anter, Max Webers Theorie, S. 59. 94 Zit. Godelier, Zur Diskussion über den Staat, S. 18. 95 Foucault, Überwachen und Strafen. Vgl. Ruffing, Michel Foucault, S. 23f., 55–66. 96 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Vorlesung vom 7. Januar 1976, S. 26; ders., Die Macht arbeitet. 97 Zit. Carl, Herrschaft, Sp. 400. Vgl. zu den verschiedenen Motiven der Fügsamkeit und den Instrumenten ihrer Erzeugung, Strafrecht, Repression und Kontrolle, Neuenhaus, Max Weber
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1 Einleitung
bloßer Gewalt- und Machtverhältnisse, vor allem wenn Beherrschte über Ressourcen und Freiheit, verstanden als „Nutzung herrschaftlicher Konzessionen“98 und Berufung auf kollektive Freiheitsvorstellungen verfügen, erscheinen Aushandlungs- oder Tauschprozesse99, emotionale Zustimmung zur „Autoritätswirkung einer Person“100, ideelle Überzeugung bis hin zur „Legitimitätsgeltung“ einer Ordnung101, aber auch unreflektierte Duldung von Herrschaft.102 Irrationalismen in Gestalt von Charismawirkung, Emotionen oder Sakralitätsglauben gehören anscheinend zu den ursprünglichsten und dauerhaftesten Merkmalen von Gemeinschafts- und Herrschaftsbildung.103 1.2.2 Die Legitimation von Herrschaft bei Max Weber Dies leitet über zur weiteren Vertiefung der Weberschen Herrschaftssoziologie, in deren Zentrum die Legitimation steht, die die Folgsamkeit der Beherrschten und damit den mehr oder weniger dauerhaften Bestand von Herrschaft gewährleistet. Weber unterscheidet drei Idealtypen legitimer Herrschaft: die charismatische, die traditionale und die rational-legale Herrschaft.104 Diese finden in ihrer Reinform keine Entsprechung in der Realität, sondern stellen lediglich gedankliche Konstruktionen und heuristische Hilfsmittel dar. In der historischen Wirklichkeit erscheinen die reinen Typen Webers stets in Kombination.105 So beruhen für Claus Leggewie die Formen totalitärer Herrschaft im 20. Jahrhundert auf einer beson-
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und Michel Foucault, S. 13f.; Lüdtke/Wildt, Gehorsam. Den Akt der durch Legitimation bewerkstelligten Überzeugungsarbeit und die Bedeutung legitimierender Sprache betonen Braddick/Walter, Grids of Power, S. 9. Vgl. auch Honneth, Kampf um Anerkennung; Honneth/Fraser, Umverteilung oder Anerkennung. Zit. Schmidt, Freiheit, Sp. 1146. Vgl. Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte, S. 64– 108. Dinges, Aushandeln von Armut; Kroll, Aushandeln von Herrschaft; Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa, S. 4. Zit. Popitz, Prozesse der Machtbildung, S. 6. Vgl. Popitz, Phänomene der Macht, S. 7–36. Popitz, Prozesse der Machtbildung, S. 14–17, Zit. S. 14. Godelier, Zur Diskussion über den Staat, S. 18–20. Althoff, Empörung, Tränen, Zerknirschung; François/Siegrist/Vogel, Nation und Emotion; François/Schulze, Das emotionale Fundament der Nationen; Le Jan, Die Sakralität der Merowinger; Erkens, Sakralkönigtum und sakrales Königtum; Wolf, Germanisches Sakralkönigtum?; Boshof, Die Vorstellung vom Sakralen Königtum; Anton u.a., Sakralkönigtum; ders., Sakralität; Körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade, S. 17–23. Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft. Darstellungen der Weberschen Herrschaftssoziologie bei Weber, Herrschaft, S. 1–114; Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie; ders., Bürokratie und Charisma; ders., Max Webers tragische Soziologie, S. 63–145; Hanke/Mommsen, Max Webers Herrschaftssoziologie; Kaesler, Max Weber, S. 207–215; Korte, Soziologie, S. 55–67; Hennen/Prigge, Autorität und Herrschaft, S. 66–80; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 26f., 33–62; Müller, Max Weber, S. 119–156. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1, S. 153f.; Müller, Max Weber, S. 63–67; Bendix, Max Weber, S. 224; Schluchter, Religion, S. 535–554; Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 389.
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27
ders zerstörerischen „Kombination von magischem Charisma und bürokratischer Rationalität“.106 Der Glaube an Charisma, Tradition und Legalität bezeichnet somit für Weber die drei zentralen Legitimitätsgründe von Herrschaft.107 Bei der charismatischen Herrschaft legitimiert der Führer seine der Stetigkeit entbehrende Herrschaft durch persönliche Qualifikation und fortwährende Bewährung. Sie basiert auf „dem Glauben an die außerordentlichen Fähigkeiten (Magie, Offenbarungskraft, Heldentum, Kraft der Rede) eines Führers und der affektuellen Hingabe der Beherrschten an die Person des Herrschers“.108
Vom Blickwinkel des Herrschers aus betrachtet, bedeutet Charisma dem griechischen Wortsinn entsprechend Gabe oder Gnadengeschenk. Aus der Perspektive der Beherrschten bezeichnet Charisma die mit magischen Handlungen vollzogene kultische Verehrung des Herrschers, wie sie bereits in archaischen und antiken Gesellschaften nachweisbar ist.109 Traditionale Herrschaft rührt her aus dem „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen.“110
Ihre reinste Form ist die patriarchalische Herrschaft bzw. der Patrimonialismus.111 Legale Herrschaft gründet „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“.112
Die reinste Form legaler Herrschaft ist die Bürokratie, der rechtmäßige technische Apparat unpersönlicher und institutionalisierter Prägung, wie er sich in der Neuzeit entfaltet hat. Allerdings ist für Weber jede Herrschaft durch die Existenz eines Verwaltungsstabes gekennzeichnet, ein institutioneller Kreis von Personen, der 106 Zit. Leggewie, Herrschaft, S. 256. 107 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 2, S. 552–558. Vgl. Müller, Max Weber, S. 130–136; Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 19; Claessens, Macht und Herrschaft, S. 122– 124; Leggewie, Herrschaft, S. 254f. Zu den Begriffen Legalität und Legitimität vgl. Winckelmann, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie; Würtenberger, Legitimität, Legalität. 108 Zit. Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 44. Vgl. Weber, Charismatismus; ders., Die drei reinen Typen charismatischer Herrschaft, S. 734–742; dazu Neuenhaus, Max Weber, S. 80; Radkau, Max Weber, S. 600–613; Kroll, Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft; Schluchter, Religion und Lebensführung, S. 535–554; Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 35–67; Gebhardt, Charisma als Lebensform, S. 22–104; Gebhardt/Zingerle/Ebertz, Charisma. 109 Taeger, Charisma 1–2; Geerlings/Heinzelmann/Hödl, Charisma; Claessens, Macht und Herrschaft, S. 122. 110 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1, S. 124. Vgl. ders., Die drei reinen Typen charismatischer Herrschaft, S. 729–734; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 45; Neuenhaus, Max Weber, S. 80; Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 68–123. 111 Weber, Patrimonialismus; ders., Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft, S. 729. 112 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1, S. 124. Vgl. ders., Die drei reinen Typen charismatischer Herrschaft, S. 726–729; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 45.
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1 Einleitung
meist aus eigenem Profitstreben die Anordnungen des Herrschers ausführt, Befehle durchsetzt und an der Durchsetzung der Herrschafts-Legende der Hochprivilegierten, des Legitimitätsglaubens, mitarbeitet.113 Obwohl Weber die drei von ihm entwickelten Herrschaftstypen nicht in ein geschichtsteleologisches Modell einfügt, führt er dennoch „die Struktur moderner Gesellschaft und die ihr eigene Herrschaftsform auf die Wirkung eines universalhistorischen Rationalisierungsprozesses zurück.“114
Den geschichtlichen Fortschritt begreift er folglich als eine zunehmende „Verbreitung bürokratischer Herrschaft in modernen Gesellschaften“.115 Das Werk Webers übte wie marxistische Ansätze seit den 1960er Jahren einen wesentlichen Einfluss auf politikwissenschaftliche, soziologische und geschichtswissenschaftliche Forschungen aus116, die sich in durchaus kritischer Absicht einer Sozialgeschichte der Herrschaftseffekte widmeten.117 Mehrheitlich verinnerlicht wurde Webers Definition von Herrschaft „als eine akteursbezogene und antagonistische Relation, die sich in Form eines politischen Herrschaftsverbandes“118
institutionalisiert. Stefan Breuer hat Anfang der 1990er Jahre die Weberschen Idealtypen gegen kritische, auch von Historikern erhobene Einwände bezüglich ihrer historischen Anwendbarkeit verteidigt, jene allerdings gleichzeitig wegen verschiedener Schwachstellen einer Modifikation unterzogen.119 Wolfgang Reinhards Plädoyer, Webers idealtypisches Herrschaftsmodell, „Inbegriff eines Konstrukts“, nicht als „zentrales heuristisches Instrument“ zu nutzen, um „ganze politische Systeme in solche Schemata zu zwängen“120, hat durchaus eine gewisse Berechtigung. Doch mündet diese Kritik in ein vorgeblich alternatives, tatsächlich Webers Begrifflichkeiten eher bestätigendes Modell, nach dem Herrschaft auf der Fähigkeit der Eliten beruht, zentrale Werte der politischen Kultur wie Religion oder Nation in den Dienst der Herrschaftslegitimation zu stellen. Diese politischkulturellen Werte könnte man je nach Funktion durchaus als Formen von Ideen-
113 Weber, Bürokratismus; ders., Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft, S. 728; dazu Müller, Max Weber, S. 123–130; Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 192–230; Schluchter, Aspekte bürokratischer Herrschaft. 114 Zit. Bruck, Herrschaft in der modernen Gesellschaft, S. 21. Vgl. ebd., S. 129f. und Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 49f.; Breuer, Die Evolution der Disziplin; Breuer, Der Staat. 115 Zit. Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 10. 116 Rausch, Herrschaft; Papalekas/Wickelmann, Herrschaft; Leggewie, Herrschaft; Zingerle, Max Webers historische Soziologie, S. 109ff.; Borchardt/Ay, Das Faszinosum Max Weber; Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, S. 171–216. 117 Haferkamp, Soziologie der Herrschaft; Richter, Die Expansion der Herrschaft, bes. S. 155– 170; Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 177f., 184–186, 225–227; Hübinger, Max Weber und die historischen Kulturwissenschaften. 118 Zit. Leggewie, Herrschaft, S. 254. 119 Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 90–103. 120 Zit. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 19.
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charisma, Tradition und Norm bezeichnen und damit der Weberschen Herrschaftssoziologie annähern.121 Bereits für Weber lief die Vielfalt der Werte auf fortlaufende Wertekonkurrenzen und Weltanschauungskämpfe hinaus.122 Dennoch blieb in der Historischen Sozialwissenschaft der 1960er und 1970er Jahre seine „Betonung des handelnden Individuums, seiner ‚Weltbilderދ, Sinnkonstruktionen und ‚Lebensführung“ދ123
noch unzureichend rezipiert. Erst in jüngerer Zeit analysierte Hans-Ulrich Wehler im Anschluss an Weber den Nationalismus als „Ideensystem“124, „Doktrin“125 und „Weltbild“126. Kultur bildet stets, durchaus im Sinne einer Sprache der Legitimation, einer Grammatik und limitischen Formation, „die diskursive Umgebung, in der Herrschaft legitimiert wird“.127 Otto Gerhard Oexle nutzte die Webersche Herrschaftstypologie für seine Analyse der verschiedenen Gruppen der mittelalterlichen Gesellschaft.128 Als ähnlich wertvoll erwies sich die Webersche Herrschaftssoziologie für die historische Analyse der Stadt.129 Wiederum Oexle, Breuer und jüngst Scheller griffen die neuere Diskussion über Webers Herrschaftssoziologie für ihre Analysen von Staat und Feudalismus auf.130 Webers Konzept charismatischer Herrschaft wurde von Wehler für seine weiterführende Analyse der Kanzlerdiktatur Bismarcks, der Reichspräsidentschaft Hindenburgs und des Führertums Adolf Hitlers verwendet.131 Ulrich Sieg analysierte mit Webers Idealtypus des charismatischen Führertums das leutselige Kaisertum Wilhelms II., Wolfram Pyta den politischen Aufstieg Hindenburgs im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik.132 Die Verwendung des von Weber geprägten Charismabegriffs zur Beschreibung der Qualität der in einer Gesellschaft als begnadet angesehenen Personen, Familien oder Gruppen gehört demnach bei aller Kritik zum etablierten terminologischen Repertoire der 121 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 24; dazu Reinhard, Was ist europäische politische Kultur. 122 Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 78f. 123 Zit. Torp, Max Weber, S. 167. 124 Zit. Wehler, Nationalismus, S. 13. 125 Zit. Ebd., S. 13. 126 Zit. Ebd. 127 Zit. Carl, Herrschaft, Sp. 401 nach Braddick, State formation, S. 69. Vgl. SchornSchütte/Tode, Debatten über die Legitimation von Herrschaft, S. 9–11; Wittenauer, Im Dienste der Macht. 128 Oexle, Priester – Krieger – Bürger; ders., Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen. 129 Dilcher, Max Webers ‚Stadt ;ދBreuer, Max Webers tragische Soziologie, S. 147–263; ders., Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 124–156. 130 Oexle, Feudalismus, Verfassung und Politik; Scheller, Stiftungen und Staatlichkeit; Breuer, Der Staat; ders., Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 156–190 131 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 362–376; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte 4, S. 513f., 542–580, 675–683. Vgl. Winkler, Der lange Weg nach Westen 1, S. 458– 460; Torp, Max Weber, S. 167. 132 Sieg, Wilhelm II.; Pyta, Hindenburg, S. 285–293.
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Geschichtswissenschaft. Er wurde im Rahmen der interdisziplinären Tagung Herrschaft und Charisma. Zum Wandel des Politischen im 20. Jahrhundert des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung im Sommer 2006 in kulturgeschichtlicher Erweiterung der Politikgeschichte erneut aufgegriffen und vertieft, wobei insbesondere der von Rainer M. Lepsius akzentuierte Webersche Begriff der Charismatisierung das neue Verständnis der Forschung für die Aktualisierungsbedingungen des Herrschercharismas in sozialen Beziehungen ausdrückt.133 Unter Berücksichtigung der Warnung Reinhards spricht nichts dagegen, die Herrschaftstypen Webers als analytische Orientierungspunkte für eine praxeologische Untersuchung von Herrschaft zu begreifen, wenn die Durchmischung der Idealtypen in der historischen Wirklichkeit hinreichend beachtet wird. Webers Typenmodell kann aber nicht die alleinige methodische Grundlage für eine Analyse von Königsherrschaft im lokalen Raum sein, blendet es doch zugunsten der Legitimitätsgründe die Akteure, die kommunikativen Grundlagen und die Praxis von Herrschaft weitgehend aus. Vor allem der Charismabegriff enthält Ansatzpunkte, um dieses Manko der Weberschen Herrschaftssoziologie zu überwinden.134 1.2.3 Repräsentation und Kommunikation von Herrschaft in der neueren Politikund Kulturgeschichtsforschung In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Politik-, Sozial- und Verfassungsgeschichte unter dem Einfluss neuer kulturwissenschaftlicher Methoden eine grundlegende Wandlung und Erneuerung erfahren.135 Der Blick richtete sich nun auf die Mechanismen der Herrschaftspraxis und die menschlichen Beziehungsgeflechte, die in den verschiedenen Formen der Herrschaftsrepräsentation und kommunikation, in Bauten, Symbolen, Ritualen und öffentlichen Inszenierungen, der Festkultur, der Austragung und Regelung von Konflikten, der Funktion des Schenkens sowie in den religiösen Kultformen, sichtbar wurden. Zwar haben bereits ältere Pionierstudien wie die von Paul Veyne über die Kultur des Schenkens in der antiken Gesellschaft den Zusammenhang zwischen Kulturformen und politischer Herrschaft umfassend deutlich machen können.136 Erst die stürmische Entwicklung politik- und kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahre aber brachte ein theoretisch erneuertes, insbesondere akteurs- und handlungszentriertes Nachdenken über Macht und Herrschaft auf die 133 Vgl. den Tagungsbericht Herrschaft und Charisma. Zum Wandel des Politischen im 20. Jahrhundert. 04.05.2006-06.05.2006, Potsdam, URL: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=1207 (eingesehen am 12.3.2010). 134 Leggewie, Herrschaft, S. 255; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 27, 29; Brinkhus, Macht – Herrschaft – Gegenmacht, S. 170–172. 135 Überblicke bei Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 228–246; Nünning/Nünning, Konzepte der Kulturwissenschaften; Reinhard, Lebensformen Europas, S. 9– 42. 136 Veyne, Brot und Spiele.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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Forschungsagenda. Hatte bereits 1987 Ulrich Sarcinelli eine elaborierte Theorie symbolischer Politik formuliert137, so wird die aktuelle Konjunktur der Kulturgeschichte durch zahlreiche Forschungsprojekte und Publikationen dokumentiert, die verfassungs-, politik- und kulturgeschichtliche Ansätze interdisziplinär miteinander verbinden.138 Nach der durch den linguistic turn ausgelösten heilsamen Krise der Geschichtswissenschaft wurde eine Zusammenführung politik- und kulturwissenschaftlicher Ansätze eingeleitet, die auch der Herrschaftsforschung zugute kam.139 Zuweilen verbarg sich hinter dem Neuanfang ein gewisser historiographischer Rückschritt, so bei Thomas Nicklas, der mit Nachdruck eine „Rückkehr zu den Tatsachen“140 forderte, gleichzeitig aber auch und berechtigterweise eine „politische Kulturgeschichte auf solidem praxeologischem Standbein“141, etwa in Gestalt neuer politischer Biographien. In diesen sollten die „Zeichensprachen der Politik“142 eine stärkere Berücksichtigung finden, sowie Studien zu den Schnittstellen von Politik und Wissenschaft, von Politik und Poesie und von zeremonieller Symbolik und „politischen Redeweisen und Argumentationsformen.“143 Thomas Mergel untersuchte in mehreren grundlegenden Arbeiten, zuletzt über den Reichstag der Weimarer Republik, politische Symbolik und Kommunikation in ihrer „Bindungswirkung auf Kollektive“.144 Studien wie jene von Barbara Stollberg-Rilinger über den absolutistischen Fürstenstaat als Maschine145, Andreas Dörner über den Hermannmythos146, Manfred Hettling und Paul
137 Sarcinelli, Symbolische Politik. 138 Vgl. etwa Theuws/Nelson, Rituals of Power; Becker, Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur; Brand/Schlegelmilch/Wendt, Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. Bedeutende Forschungsunternehmungen stellen dar: der Bielefelder SFB 584 ‚Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichteދ, das Münsteraner Graduiertenkolleg 582 ‚Gesellschaftliche Symbolik im Mittelalterދ, der SFB 496 ‚Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution ދin Münster, der Heidelberger SFB 619 ‚Ritualdynamik ;ދder Dresdener SFB 537 ‚Institutionalität und Geschichtlichkeitދ. 139 Zum Forschungshintergrund Jaeger u.a., Handbuch der Kulturwissenschaften 1–3; Wehler, ‚Moderne ދPolitikgeschichte; Mergel, Kulturgeschichte – die neue ‚große Erzählung ;ދLipp, Politische Kultur; Haupt/Tacke, Die Kultur des Nationalen; Wehler, Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts, bes. S. 61–104; Burke, Was ist Kulturgeschichte; Frevert/Braungart, Sprachen des Politischen; Frevert/Haupt, Neue Politikgeschichte; Nullmeier, Methodenfragen einer kulturwissenschaftlichen Politologie; Schorn-Schütte, Historische Politikforschung; Kraus/Nicklas, Geschichte der Politik. 140 Zit. Nicklas, Macht – Politik – Diskurs, S. 20. Vgl. die kritische Rezension von Barbara Stollberg-Rilinger, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-150 (eingesehen am 12.3.2010). 141 Zit. Nicklas, Macht – Politik – Diskurs, S. 22. 142 Zit. Ebd., S. 23. 143 Zit. Nicklas, Macht – Politik – Diskurs, S. 25. 144 Zit. Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, S. 587. Vgl. ders., Kulturwissenschaft der Politik; ders., Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. 145 Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. 146 Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik.
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Nolte über bürgerliche Feste147, Martin Warnke über die politische Architektur148, der von Rolf Reichardt, Rüdiger Schmitz und Hans-Ulrich Thamer herausgegebene Sammelband über symbolische Politik zwischen 1789 und 1848149 oder zuletzt Rüdiger Haude über die politische Symbolik der Luftfahrt150 lieferten wertvolle geschichts- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu diesem Thema. Die neueren Vertreter einer lokal- und regionalgeschichtlichen Herrschaftsforschung, die sich der Funktion staatlicher bzw. obrigkeitlicher Verwaltungsträger im örtlichen Bereich widmen, griffen kommunikationswissenschaftliche, handlungstheoretische und sozialanthropologische Methoden auf, um Herrschaft als kulturelle und soziale Praxis sichtbar zu machen.151 Herrschaft erscheint somit in politik- und kulturwissenschaftlicher Perspektive als Ergebnis wechselseitiger Handlungspraktiken von Herrschenden und Beherrschten152, als ein im Prinzip aushandelbares Sozialverhältnis bis hin zu Tauschakten.153 Herrschaft beruht allerdings nicht einfach auf erfolgreicher Handlungskoordination, aus der heraus rational handelnde Egoisten gemeinsame Ziele festlegen und individuelle Erträge ableiten154 oder auf der Aushandlung von Konsens durch gleichberechtigte Partner. In der Praxis der Vormoderne war sie sowohl von brutal ausgetragenen Konflikten als auch symbolischen Repräsentations- und Kommunikationsformen geprägt, welche die Bestätigung der hierarchischen Ordnung, sei es durch schweigende Zustimmung oder soziale Distinktion, ermöglichten.155 Feiern und Feste wie Krönungen, Huldigungen, Denkmalsenthüllungen, Einweihungen, offizielle Besuche politischer Repräsentanten, kirchliche Feiertage und Heiligenfeste, Ausstellungseröffnungen, Gedenktage und Anniversarfeiern erscheinen im Licht kulturwissenschaftlicher Fragestellungen als hochgradig aufgeladene Repräsentations- und Kommunikationsakte.156 Die dort verwendeten 147 Hettling/Nolte, Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert. 148 Warnke, Politische Architektur; ders., Politische Ikonographie. 149 Reichardt/Schmitz/Thamer, Symbolische Politik und politische Zeichensysteme im Zeitalter der französischen Revolutionen. 150 Haude, Grenzflüge, S. 15–34. 151 Exemplarisch die richtungweisenden Sammelbände von Baumann u.a., Reichspersonal; Brakensiek u.a., Kultur und Staat in der Provinz; Brakensiek/Wunder, Ergebene Diener ihrer Herren; Asch/Freist, Staatsbildung als kultureller Prozess; Meumann/Pröve, Herrschaft in der Frühen Neuzeit; Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis, bes. S. 18–32; Raphael, Recht und Ordnung. 152 Dazu den Sammelband von Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis. 153 Schlögl, Politik- und Verfassungsgeschichte, S. 107; Eibach, Verfassungsgeschichte als Verwaltungsgeschichte, S. 145f., 149; Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 158; Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 27–29, 63–114. 154 Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 65f. 155 Dartmann/Füssel/Rüther, Raum und Konflikt; Füssel/Weller, Ordnung und Distinktion; Stollberg-Rilinger, Rang vor Gericht; Dinges, Neue Kulturgeschichte, S. 186f. 156 Aus der Fülle der Forschungsliteratur: Behringer u.a., Fest; Hugger, Das Fest – Perspektiven einer Forschungsgeschichte; Schulz, Das Fest; Altenburg/Jarnut/Steinhoff, Feste und Feiern im Mittelalter; Beilharz/Frank, Feste; Düding u.a., Öffentliche Festkultur; Assmann, Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses; Kaschuba, Ritual und Fest; Maurer, Das Fest; ders.,
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symbolischen Ausdrucksformen – Objekte, Handlungen und Ereignisse – verfügen nicht mehr wie in älterer Sicht über einen innewohnenden, feststehenden Sinn- und Bedeutungsgehalt, sondern dieser erscheint durch soziale Praktiken wandelbar und „durch Beobachter im jeweiligen Kontext zugewiesen“.157 Die Einbeziehung der verschiedenen Medien und Öffentlichkeiten eröffnet den Blick auf das kommunikative Handeln der Akteure – und dies dezidiert zwischen den Herrschenden bzw. ihren Unterstützern und den Beherrschten.158 Die neuere Forschung wendet sich damit zugleich von einem Herrschaftsverständnis ab, das Norbert Elias als Ergebnis eines Zivilisationsprozesses159 und Gerhard Oestreich als eine von oben bewerkstelligte „Sozialdisziplinierung“160 beschrieben hatten. Zunehmend umstritten wurde damit die auf Elias zurückzuführende These, dass monarchische Zeremonielle vorrangig die Funktion von Macht- und Herrschaftsinstrumenten besessen hätten.161 Die Bochumer Mediävistin Hanna Vollrath bestritt jüngst sogar vollständig die „Macht der Rituale“ (Gerd Althoff) und verwies sie in das Reich einer angeblich unpolitischen Tradition.162 Ähnlich betonte Wolfgang Reinhard in Kritik an herrschenden Tendenzen in der Historischen Anthropologie, dass vermeintliche kulturelle Symbole häufig einen rein materiellen, geradezu trivialen Charakter besitzen würden.163 Doch konnte Marian Füssel jüngst einen so unverdächtig erscheinenden Vorgang wie die Freiburger Fronleichnamsprozession als vormodernes „Medium sozialer Distinktion“164 entschlüsseln, während Andrea Löther die Funktionalität städtischer Prozessionen zwischen politischer Partizipation und obrigkeitlicher Inszenierung städtischer Integration herausarbeitete.165 Bei allem berechtigten Zweifel an der Existenz unpolitischer Refugien im öffentlichen Raum weist die laufende Debatte auf die
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161 162 163 164 165
Feste und Feiern; ders., Prolegomena zu einer Theorie des Festes; ders., Zur Systematik des Festes; Lipp, Gesellschaft und Festkultur; Homann, Soziologische Ansätze einer Theorie des Festes; Hettling/Nolte, Bürgerliche Feste; Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert; Behrenbeck/Nützenadel, Inszenierungen des Nationalstaats; Kleiner, Der Kaiser als Ereignis; Biefang/Epkenshans/Tenfelde, Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich. Zit. Tacke, Denkmal im sozialen Raum, S. 18. Zum Wandel der Öffentlichkeitsformen Körber, Öffentlichkeiten in der Frühen Neuzeit, S. 1– 3; zum Wandel der Herrschaftsphänomene Aden, Herrschaftstheorien und Herrschaftsphänomene, S. 15–17. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation 1–2. Zu diesem Ende der 60er Jahre entwickelten Konzept Oestreichs Schlögl, Politik- und Verfassungsgeschichte, S. 106f.; Breuer, Max Webers tragische Soziologie, S. 326–348; Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff der ‚Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit ;ދSchmidt, Sozialdisziplinierung. Zur Kritik an Norbert Elias Peþar, Die Ökonomie der Ehre; ders., Gab es eine höfische Gesellschaft des Reiches; Duindam, Myths of Power; ders., Norbert Elias und der frühneuzeitliche Hof; Büschel, Untertanenliebe, S. 61–63. Althoff, Macht der Rituale; dazu Vollrath, Haben Rituale Macht, bes. S. 400. Reinhard, Manchmal ist die Pfeife wirklich nur eine Pfeife. Zit. Untertitel von Füssel, Hierarchie in Bewegung. Löther, Die Inszenierung stadtbürgerlicher Ordnung; Löther, Prozessionen in Nürnberg und Erfurt; Löther, Städtische Prozessionen; Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten.
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Notwendigkeit hin, die Funktion symbolischer Kommunikationsakte quellenkritisch abzusichern.166 Die Zauberworte der aktuellen, nahezu unübersehbaren politik- und kulturgeschichtlichen Herrschaftsforschung lauten Repräsentation, Kommunikation, Interaktion, Kult, Zeremoniell, Ritual, Performanz und Inszenierung.167 Manch alte Begriffe erscheinen in neuem Gewand. So stellte Adelheid von Saldern fest, dass sich „das Verständnis von Herrschaft durch die Neujustierung von Repräsentation merklich vertieft“168 hat. Repräsentation wird nun nicht mehr wie früher als juristische Stellvertretung, „Vergegenwärtigung des Abwesenden“169 oder „Vertretung, Darstellung, Vergegenwärtigung religiöser, rechtlicher, politischer, sozialer Sachverhalte“170 definiert, sondern als „Form gemeinsamen Handelns“171 und Kommunikationsakt.172 Die Folge für das Verständnis von Herrschaft besteht in einem Perspektivenwechsel weg von den Normen und Institutionen hin zur „Logik der Kommunikationssituationen“173, zur „Akteurszentrierung“ und „Praxeologie“174, damit zur Verfassungswirklichkeit, zur „gelebten Verfassung“.175 Herrschaftsrepräsentation, selbst wenn sie ein Zerrbild der tatsächlichen Machtverhältnisse darstellt, bildet Herrschaft offenbar nicht nur ab, sondern sie trägt, indem sie Ordnung konstituiert und Rangkonflikte aufbrechen lässt, maßgeblich zu ihrem Funktionieren bei. Sie ist „Verfassung in actu“176 in dem Sinne, dass sie Verfassung aktualisiert, erneuert und fortschreibt. Die aktuelle politik- und kulturwissenschaftliche Erforschung der Herrschaftskommunikation wendet sich dezidiert den Vermittlern, Medien und Be-
166 Dazu Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, S. 585f. 167 Vgl. Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft und ‚performative turn ;ދBachmannMedick, Cultural turns, S. 104–143 und exemplarisch die Studien von Schlögl, Symbole in der Kommunikation; ders., Vergesellschaftung unter Anwesenden; ders., Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum; Stollberg-Rilinger, Herrschaftszeremoniell; Wulf/Göhlich/Zirfas, Die Kultur des Rituals; Meyer/Ontrup/Schicha, Die Inszenierung des Politischen; Soeffner/Tänzler, Figurative Politik; Willems, Inszenierungsgesellschaft?; Arnold/Fuhrmeister/Schiller, Hüllen und Masken der Politik; Früchtl/Zimmermann, Ästhetik der Inszenierung. 168 Zit. Saldern, Herrschaft und Repräsentation in DDR-Städten, S. 45. 169 Zit. Röcke, Die Macht des Wortes, S. 209. 170 Zit. nach Gleba, Repräsentation, Kommunikation und öffentlicher Raum, S. 125f. 171 Zit. Ebd., S. 126. 172 Podlech, Repräsentation, S. 51ff.; Wenzel, Höfische Repräsentation, S. 12f.; Saldern, Herrschaft und Repräsentation in DDR-Städten, S. 44–46; Kirchgässner/Becht, Stadt und Repräsentation; Gleba, Repräsentation, Kommunikation und öffentlicher Raum, S. 125f.; Speth, Die symbolische Repräsentation. 173 Zit. Jussen, Diskutieren über Könige, S. XV. 174 Zit. Ebd. 175 Zit. Goetz, Moderne Mediävistik, S. 197. Vgl. Eibach, Verfassungsgeschichte als Verwaltungsgeschichte, S. 144–147. 176 Zit. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 512; Stollberg-Rilinger, Herrschaftszeremoniell, Sp. 417.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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herrschten im Herrschaftsprozess zu.177 Jede Interaktion zwischen Herrschenden und Beherrschten, jedes Herrschaftshandeln wird verstanden als „kommunikatives Handeln“.178 Die Ausübung von Herrschaft, verstanden als dynamischer und kommunikativer Prozess, ist in komplexe Kommunikationspraktiken mit multipolarer Struktur eingebunden.179 Die Forschungen Rudolf Schlögls und anderer haben gezeigt, dass die Ausbildung sozialer Ordnung und politischer Macht vor allem als Kommunikationsakt, sowohl unter Anwesenden, im physischen Beisammensein, als auch unter Vermittlung von Medien in öffentlichen Räumen erfolgt. Die Analyse politischer Kommunikation versucht, die Bedeutungszuschreibung der verwendeten Zeichen durch Sender und Empfänger sowie die in den sprachlichen und symbolischen Formen vermittelten Normen und Werte der Kommunikationspartner zu begreifen.180 Das Verstehen politischer Reden erfordert nicht mehr nur den Blick auf die „Sprechhandlung“ des Redners, sondern verstärkt auf die „Verstehenshandlung“181, die Anteilnahme und Reaktionen der Zuhörer. Auch zum Verstehen ritueller Handlungen ist eine detaillierte Kenntnis der Zeichensysteme, der Sinngehalte von „Gesten, Mimik, Körperhaltungen“182 in vergangenen Epochen, erforderlich. Der kommunikativen Vermittlung von Herrschaft dienen ganze kulturelle Repertoires, die Semantiken der politischen Sprache und Wertesysteme.183 Sprache wurde damit in ihrer Bedeutung für die Schaffung gesellschaftlicher Wirklichkeit erkannt, Handlungspraxis in ihrem Doppelcharakter als kulturell geformt und die Kultur formend.184 Die Einsicht in die kulturelle Konstruktion sozialer Ordnungen führte zu einem tieferen Verständnis für die Ausbildung und Einübung von Hierarchien185, für soziale „Identitätsbildung“186 und „Selbststilisierung“.187 Besonders greifbar wird dies bei dem für die vormoderne Herrschaftsausübung konstitutiven Ritual der Huldigung, das sich nach den Forschungen von André Holenstein durch seine reziproke Struktur, dem kommunikativen Wechselspiel von Herrscher und Untertanen, auszeichnet. Eine grundlegende Wandlung erfolgte im 19. Jahrhundert, indem die alte, der ständischen Gesellschaft entstammende Huldigung unter den Bedingungen konstitutioneller monarchischer Systeme als herrschaftliches Rechtsinstrument überflüssig wurde. Dafür behielt sie ihre legitimatorische Funktion als nunmehr einseitiger symbolischer Verpflich177 Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa, S. 3–6; ders., Adlige und bürgerliche Amtsträger. 178 Zit. Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 158. 179 Carl, Herrschaft, Sp. 401. 180 Schorn-Schütte, Aspekte der politischen Kommunikation; Hochmuth/Rau, Stadt – Macht – Räume, S. 19. 181 Zit. Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 158. 182 Zit. Ebd., S. 161. 183 Ebd., S. 161–163. 184 Dinges, Neue Kulturgeschichte, S. 187, 190. 185 Blockmans, Showing Status; Uytven, Showing off One’s Rank. 186 Zit. Dinges, Neue Kulturgeschichte, S. 188f. 187 Zit. Ebd.
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1 Einleitung
tungsakt der Untertanen, der, wie Jan Andres in seiner literaturwissenschaftlichen Analyse von Huldigungsgedichten des 19. Jahrhunderts herausarbeiten konnte, eine sich des Religiösen bedienende politisch-ästhetische Dimension erlangte. Die Huldigungen wandelten sich im wilhelminischen Kaiserreich von durch Amtsträger gestalteten Zeremonien in okkasionellen Teilöffentlichkeiten zu massenmedial verbreiteten Spektakeln mit entgrenzter Wirkkraft. Die im Huldigungsakt zum Ausdruck kommende innere Logik von Herrschaftsgestus, Loyalitätsbekundung und gegenseitigen Erwartungshaltungen wirkt wie seine äußeren Formen – Gesten, Defilees, Tischordnungen, das Überreichen von Blumensträußen und anderen Geschenken – bis ins Staatszeremoniell der Gegenwart nach.188 Kulturgeschichtlich inspirierte Arbeiten der letzten Jahre zeigten zudem die zentrale Bedeutung der persönlichen Ehre für das Verständnis der symbolischen Kommunikation in der Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit auf. So wurde seit dem 18. Jahrhundert Ehre zunehmend als emotional hochgradig besetztes Gut eines Kollektivs, vorrangig der Nation, verstanden.189 In den politik- und kulturgeschichtlichen Forschungsarbeiten trat auch die Ausdifferenzierung der Medien und Öffentlichkeiten als Herrschaftsfaktor hervor. Herrschaft wurde im Mittelalter noch vornehmlich in der Praxis direkter oraler oder symbolischer Kommunikation ausgeübt. Symbolische Handlungen und Zeichen bildeten bestehende Herrschaftsverhältnisse ab oder signalisierten Veränderungen. Ihre Einbindung in inszenierte Handlungsketten – Rituale – war, so Gerd Althoff, das Ergebnis bewusst getroffener Absprachen der beteiligten Akteure. Für spontanes Verhalten blieb angesichts des auf die Zukunft gerichteten, eindeutigen und verpflichtenden Charakters der Übereinkünfte und der bei der symbolischen Kommunikation gültigen Spielregeln kein Platz. Schließlich erkannten alle Beteiligten an diesem Schauspiel durch ihre Präsenz und ihr regelkonformes Verhalten die Gültigkeit der bestehenden Herrschaftsordnung an und vergewisserten sich ihrer mittels symbolischer Interaktion. Umgekehrt zeigten Regelverstöße oder Fernbleiben einen bestehenden Dissens an.190 Das Verhalten der Kommunikationspartner und deren Ausdrucksformen in Mittelalter und Früher Neuzeit unterschieden sich dabei grundlegend von öffentlichen Diskussionen in modernen Öffentlichkeiten. In der Vormoderne überwogen bei weitem situative okkasionelle Teilöffentlichkeiten, in denen Zustimmung oder Ablehnung nicht durch Redeargumente, sondern durch symbolische Teilnahmeverweigerung, vorzeitige Abreise oder andere Regelverstöße zum Ausdruck ge-
188 Hartmann, Staatszeremoniell; Holenstein, Die Huldigung der Untertanen; ders., Huldigung und Herrschaftszeremoniell; ders., Huldigung; Paulmann, Pomp und Politik; Andres, Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet; Büschel, Vor dem Altar des Vaterlandes; Büschel, Untertanenliebe; Schwengelbeck, Die Politik des Zeremoniells; Lemberg, Huldigung und Jubel; Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 159f. 189 Dinges, Neue Kulturgeschichte, S. 187; Reinhard, Lebensformen Europas, S. 518–527; Hirschi, Wettkampf der Nationen, S. 61–63. 190 Althoff, Herrschaftsausübung durch symbolisches Handeln.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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bracht wurden.191 Während Hof und Stadt in der Vormoderne relativ geschlossene Kommunikationsräume innerhalb einer face-to-face-Gesellschaft darstellten192, eröffneten Medienrevolutionen wie der die europäischen Gesellschaften revolutionierende Buchdruck und das Aufkommen der Massenpresse Ende des 19. Jahrhunderts neue, vielfältige und größere Kommunikationsräume. Jedes dieser Medien besitzt eine eigene, entscheidend vom sozialen und diskursiven Raum bestimmte Logik herrschaftsbezogener Sinnproduktion.193 Die epochale Öffnung der bis dahin weitgehend geschlossenen Kommunikationsräume einzelner sozialer Gruppen erfolgte im 18. Jahrhundert. Sie wurde von Jürgen Habermas mit einem einflussreichen, wenngleich mittlerweile umstrittenen Modell als Wechsel von der repräsentativen zur bürgerlichen Öffentlichkeit und von dieser unter Vermittlung einer literarischen Öffentlichkeit zur modernen, die gesamte Gesellschaft umfassenden, plebiszitär-akklamativen Öffentlichkeit gedeutet.194 Entsprechend lässt sich in der deutschen Sprache der Kollektivsingular Öffentlichkeit seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überhaupt und im Sinne eines Raums der öffentlichen Meinung seit etwa 1815 nachweisen.195 Anders als die relativ späte Begriffsbildung und der von Habermas dem Mittelalter abgesprochene „Gegensatz zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre“196 suggerieren, geht die neuere Forschung von der Existenz des Privaten und Öffentlichen in der Vormoderne aus.197 In den Medien- und Kulturwissenschaften 191 Thum, Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter; Gleba, Repräsentation, Kommunikation und öffentlicher Raum, S. 127. Zur oralen Kommunikation Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 4f., 10–12. 192 Schiewe, Öffentlichkeit, S. 13f., 58–60, 165–195. 193 Ebd., S. 103–162; Faulstich, Mediengeschichte von 1700 bis ins 3. Jahrtausend; Landwehr/Stockhorst, Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, S. 123–145; Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 13ff.; für die aktuelle Mittelalterforschung den Überblick von Goetz, Moderne Mediävistik, S. 174–224, 339–365; für die Frühneuzeitforschung Schlögl, Politik- und Verfassungsgeschichte, S. 108; Burkhardt/Werkstetter, Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit; Schwerhoff, Kommunikationsraum Dorf und Stadt. Mit Blick auf die Neuzeit Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 160–163. 194 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, bes. S. 17–41. Unkritische Übernahme etwa bei Lüsebrink u.a., Französische Kultur- und Medienwissenschaft, S. 25–27. Vgl. zum Modell von Habermas, dessen Weiterentwicklung und Kritik Blanning, Das Alte Europa. Kultur der Macht und Macht der Kultur, S. 17–25; Requate, Öffentlichkeit und Medien; Führer/Hickethier/Schildt, Öffentlichkeit – Medien – Geschichte; Bauer, Höfische Gesellschaft; Gestrich, Jürgen Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit; Peþar, Gab es eine höfische Gesellschaft des Reiches, S. 184f.; Thum, Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter, bes. S. 66–70; Schiewe, Öffentlichkeit, S. 249–266. 195 Zur Begriffsgeschichte Hohendahl, Öffentlichkeit; Schiewe, Öffentlichkeit, S. 44–53, 282. 196 Zit. Haverkamp, An die große Glocke hängen, S. 288. Vgl. Lüsebrink u.a., Französische Kultur- und Medienwissenschaft, S. 25; kritisch Löther, Städtische Prozessionen, S. 437. 197 Rau/Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit; dies., Zwischen Gotteshaus und Taverne; Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter; Thum, Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter; Wenzel, Höfische Repräsentation, S. 14–16; Hoffmann, ‚Öffentlichkeit ދund ‚Kommunikationދ. Faulstich, Der Öffentlichkeitsbegriff, S. 67–70 konsta-
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1 Einleitung
spricht man häufiger von Öffentlichkeiten bzw. Teilöffentlichkeiten.198 Die Vorstellung einer repräsentativen Öffentlichkeit als Herrschaftsinstrument im Absolutismus wurde seit den 1970er Jahren von Historikern aufgegriffen, symptomatischerweise verbunden mit Oestreichs Sozialdisziplinierungsthese und der machtfunktionalistischen Hoftheorie von Norbert Elias. Fürstliche Repräsentation erscheint in diesen Studien von oben her organisiert und „vor dem Volk“199 aufgeführt. Zweck der als Herrschaftsinstrument genutzten höfischen Aufführungen sei es gewesen, die charismatische Aura des Herrschers zu verstärken und dessen Distanz zu den Untertanen deutlich zu machen.200 Dagegen wurde eingewandt, dass der Typus der repräsentativen Öffentlichkeit zu statisch angelegt sei, wenn das Volk lediglich als Zuschauer, nicht als Akteur begriffen und wechselseitiges Herrschaftshandeln damit negiert werde.201 Jüngere Studien wie die von Andreas Gestrich, Edward Muir und Andreas Peþar maßen wiederum den Untertanen als Adressaten von Herrschaftsrepräsentation eine geringere Bedeutung zu als zwischenzeitlich angenommen. Stattdessen rücken nun die adligen Standesgenossen und Konkurrenten um Status, Rang und Ehre als Adressaten von Herrschaftsrepräsentation und politischer Kommunikation in den Fokus der Betrachtung.202 Eine weitere Möglichkeit, die handlungsorientierte Vorstellung von Herrschaft zu vertiefen, eröffnet das Konzept der agonalen Kommunikation, wie es ausgehend vom frühneuzeitlichen Ehrverständnis von Rainer Walz und anderen entwickelt wurde. Gemeint ist damit nicht allein die harte Konkurrenz um materielle Güter, sondern vor allem eine bestimmte Form der Auseinandersetzung, in der die Kontrahenten bestrebt sind, das Ansehen des Gegenübers zu mindern. Mittel zu diesem Zweck konnten grobe „Beschimpfungen, Drohungen, Selbsthilfe und Gewalt“203 wie im frühneuzeitlichen Dorf sein. Oder aber man bediente sich subtilerer Formen der symbolischen Kommunikation, was zu einer ritualisierten Austragung von Gewalt, dem adligen Duell, führen konnte, da Rang und Ehre des Betroffenen nicht minder verletzt worden war als bei einem tätlichen Angriff.204 Durch die Entwicklung neuer Medien und die Ausweitung bzw. Ausdifferenzierung neuer Teilöffentlichkeiten wurde die kommunikative Trennung von Menschen in der Neuzeit zunehmend überwunden. Neue gesellschaftliche Räume der
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tiert ebenfalls die Existenz von Öffentlichkeit bereits vor der Begriffsprägung, allerdings erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als die ersten Zeitungen entstanden. Faulstich, Mediengeschichte von den Anfängen bis 1700, S. 78–118; ders., Mediengeschichte von 1700 bis ins 3. Jahrtausend, S. 17; ders., Der Öffentlichkeitsbegriff, S. 70–73. Zit. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 61. So vor allem Kruedener, Die Rolle des Hofes im Absolutismus, bes. S. 28–38, 41–44. Vgl. Peþar, Gab es eine höfische Gesellschaft des Reiches, S. 184. Löther, Städtische Prozessionen, S. 437f., 458f.; Vgl. Brüning, Herrschaft und Öffentlichkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden, S. 7–10; Körber, Öffentlichkeiten in der Frühen Neuzeit, S. 4ff. Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, S. 119; ders., Höfisches Zeremoniell und Volk; Muir, Ritual in Early Modern Europe, S. 259; Peþar, Gab es eine höfische Gesellschaft des Reiches, S. 184ff. Zit. Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, S. 221. Ebd.; Rau/Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit, S. 19f. und Anm. 22.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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Kommunikation und Möglichkeiten der Herrschaftspartizipation wurden erschlossen. Dieser Prozess begünstigte die Assoziation und Organisation von Akteuren im Kampf um Einfluss, (Deutungs-)Macht und politische Herrschaft. Das Bildungsbürgertum verdankte seinen Aufstieg nicht zuletzt „neuen Formen von Geselligkeit und Diskursen, in Vereinen, Salons, Universitäten, Bibliotheken, Lesegesellschaften, Kaffeehäusern, Börsen und Messen“205
als vom Staat unabhängige, bürgerliche Teilöffentlichkeiten, die sich im Zuge des Aufkommens neuer Medien herausbilden konnten. Blickt man allerdings auf die, wie man früher meinte, rein privat-bürgerlichen und dem Staat gegenüberstehenden Assoziationen, Aufklärungsgesellschaften etwa, erweist sich die „Verquickung von (bürgerlichen und adligen) Eliten aus Staats- und Kirchendienst mit wirtschaftsbürgerlichen Kreisen“.206
Wenn man dennoch mit Habermas von einer bürgerlich dominierten Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert sprechen will, so war diese mit dem weitgehenden Ausschluss der Unterschichten weder gegen die bestehende Herrschaftsordnung gerichtet noch war sie staatsfern, da sie die Beamten einschloss.207 Erst im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Massenmedien entstand eine relativ offene und in einer Vielzahl konkurrierender Öffentlichkeiten „fragmentierte Massenkommunikationsgesellschaft“.208 Öffentlichkeit konnte so zum Forum politischer Opposition und „Regulativ unkontrollierter staatlicher Machtausübung“209 werden. Nicht selten aber wurde und wird sie zum bloßen Schauplatz politischer Inszenierungen der Herrschenden. Dem Außenstehenden bleiben nicht selten die unsichtbaren, nichtöffentlichen Machtkonstellationen verborgen, welche über die Vergabe, Ausdehnung oder Rücknahme von Herrschaft entscheiden.210 Die neueren politik- und kulturgeschichtlichen Arbeiten eröffnen stärker als Webers auf Legitimationsgründe fixierte, vergleichsweise statische Herrschaftssoziologie den Zugang zu Herrschaft als soziale und kommunikative Praxis. Die symbolischen Kommunikationsformen im Herrschaftsprozess zeigen, wie von den Akteuren Ordnungskonzepte performativ in die Diskussion gebracht und wie Konflikte über die Deutungen der zeremoniellen Akte im öffentlichen Raum ausgetragen werden.
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Zit. Faulstich, Mediengeschichte von 1700 bis ins 3. Jahrtausend, S. 18. Zit. Gestrich, Jürgen Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit, S. 31. Zimmermann, Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien, S. 16. Zit. Hübinger, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit, S. 234. Vgl. Faulstich, Mediengeschichte von 1700 bis ins 3. Jahrtausend, S. 18; Wischermann, Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900, S. 13, 47f.; Gestrich, Jürgen Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit, S. 33. 209 Zit. Raupp, Zwischen Akteur und System, S. 121. 210 Wenzel, Öffentliches und nichtöffentliches Herrschaftshandeln; Münkler, Die Visibilität der Macht; Melville, Institutionen und Geschichte; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht.
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1 Einleitung
1.2.4 Die Durchsetzung von Herrschaft nach Pierre Bourdieu Wie kaum ein anderes beschäftigt sich das Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu211 mit der Analyse von Machtbesitz, Machtkämpfen, Herrschaftsverhältnissen, Ungleichheit und der Reproduktion politischer Eliten in der sozialen Praxis. Im Zentrum steht der Praxissinn, das unbewusste Gespür für die regelhafte Auswahl von Praktiken und Handlungsstrategien, der zugleich immer Ausdruck der „Relation von bestimmten objektiven sowie einverleibten Strukturen“212 ist. Da Bourdieu in der Tradition der kritischen Richtung der Herrschaftssoziologie steht213, interessieren ihn die „ausgewogen-solidarische[n] Sozialbeziehungen“214 kaum. Gesellschaftlichen Konsens hält er für eine Fiktion.215 Bourdieu folgt der zentralen Erkenntnis Max Webers, dass Herrschaft niemals allein mit den Mitteln des Zwangs und der physischen Gewalt aufrecht erhalten wird, sondern auf der Zustimmung der Beherrschten bedarf, deren kulturelle Erzeugung keines Machtzentrums beruht.216 Anders als Weber kommt er nicht zu einer definitorischen Trennung zwischen Macht, Herrschaft und Gewalt, was nicht zuletzt mit der relativen Unschärfe der meisten Schlüsselbegriffe der Bourdieuschen Soziologie zusammenhängen wird. Um die begriffliche Stringenz der vorliegenden Untersuchung und den dargelegten Mehrwert des Herrschaftsbegriffs zu wahren, soll im Folgenden vom Herrschaftsfeld gesprochen werden. Bourdieus Analysen liegen nicht in Form einer systematischen Theorie vor, sondern in zahlreichen Einzelstudien, wie jene über die Reproduktion des „Staatsadels“ durch das französische Bildungssystem217 oder zur Ungleichheit der Geschlechterbeziehungen als Ausdruck männlicher Herrschaft.218 Bourdieu geht von der kämpferischen Relation der sozialen Akteure aus. Er folgt damit Weber, der Vergesellschaftung ebenso wie Vergemeinschaftung als Kampf-Beziehung betrachtete.219 Dieser Kampf wird durch Herrschaft, verstanden als Verstetigung und Verfestigung von Machtbeziehungen, ebenso wenig unterbrochen oder beendet 211 Zu Biographie und Werk Pierre Bourdieus Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus; FuchsHeinritz/König, Pierre Bourdieu. 212 Zit. Meier, Bourdieus Theorie der Praxis, S. 62. Vgl. Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 171–176; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 84–86; Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 50–55; Wayand, Pierre Bourdieu, S. 225; Bourdieu, Der Staatsadel, S. 330. Vgl. zum zentralen Begriff der Reproduktion bei Bourdieu Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 125–155; Hartmann, Elitesoziologie, S. 84–98. 213 Maurer, Herrschaftssoziologie, S. 139. 214 Zit. Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 128. 215 Wayand, Pierre Bourdieu, S. 221; Schönrich, Machtausübung und die Sicht der Akteure, S. 387; Bittlingmayer/Eickelpasch, Pierre Bourdieu, S. 15f.; Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 21. 216 Krais, Zur Funktionsweise von Herrschaft in der Moderne, S. 46–48. 217 Bourdieu, Der Staatsadel. Vgl. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 144–155. 218 Bourdieu, Die männliche Herrschaft. 219 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1, S. 20f., § 8: Begriff des Kampfs. Vgl. dazu Müller, Max Weber, S. 119f.; Hübinger, Max Webers soziologischer Grundbegriff des ‚Kampfes;ދ Hennen/Prigge, Autorität und Herrschaft, S. 72f.; Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 81ff.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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wie durch Kompromiss und Normbildung, da der Verlust oder die Akkumulation von Kapital durch die Akteure auf dem Herrschaftsfeld und diesen homologen Feldern, unaufhörlich weitergeht und kein Vorrang dauerhaft garantiert ist.220 Die Soziologie Bourdieus lässt einen geschärften Blick auf die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Dispositionen, Strategien – verstanden nicht als bewusste Intentionalität und rationales Kalkül, sondern als vom individuellen oder klassenspezifischen Habitus unbewusst generierte soziale Praxisformen – und die Interessen der Akteure, Individuen und Gruppen im permanenten Prozess der sozialen Differenzierung zu.221 Unter Habitus versteht Bourdieu „ein Ensemble einverleibter, unbewußter Denk-, Wahrnehmungs-, Sprach- und Emotionsschemata, welche die Äußerungen von Individuen oder Gruppen strukturieren.“222 Die unbewussten Strategien der einen Akteure richten sich auf die Bewahrung, die der anderen auf die Veränderung der bestehenden Herrschaftsordnungen und Kräfteverhältnisse. Den Abwehr- und Konservierungsstrategien der Herrschenden stehen Subversion, Veränderungsstrategie, aber auch Renitenz und Resistenz der Beherrschten gegenüber. Vor diesem Hintergrund versteht Bourdieu symbolische Kommunikation vordringlich als „unmerkliche, unsichtbare Gewalt“.223 Bourdieu fasst die soziale Welt als von materieller und symbolischer Konkurrenz beherrscht auf, durchzogen von agonal strukturierten Kampffeldern oder Spielflächen, auf denen Akteure, die an den Sinn und Wert des Spiels glauben und dessen Regeln akzeptieren, ihre Fähigkeiten, Interessen und Einsätze zur Geltung bringen und dafür regelrechte Kämpfe ausfechten.224 Er benennt in seinem Werk mehrere Felder, die ihre eigenen Logiken und Regeln (nomoi) besitzen und untersucht das religiöse, politische, künstlerische, wissenschaftliche und journalistische Feld sowie das den vorangegangenen homologe Feld der Macht (Herrschaft). Innerhalb der Gesamtheit der sozialen Welt ist das Feld ein „autonomer Mikrokosmos“, ein Teil-Raum, der mehr oder weniger geschlossen ist, nach eigenen Regeln funktioniert und seine eigene Logik besitzt. Den Spielakteuren geht es darum, mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen die bestmöglichen Positionen zur Bewahrung oder Veränderung der Kräfte auf dem Feld zu erlangen. Das
220 Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 168–171. 221 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 171–176; Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 188. 222 Zit. Wayand, Pierre Bourdieu, S. 226. Vgl. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 125–158; dazu Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 113–134; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 86–98; Schwingel, Bourdieu, S. 53–75; Fröhlich, Kapital, Habitus, Feld, Symbol, S. 41–43; Speth/Göhler, Symbolische Macht, S. 29–33; Reichardt, Bourdieu für Historiker, S. 73–75; Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 29– 34; Bohn/Hahn, Pierre Bourdieu, S. 257–261. 223 Zit. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, S. 8. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, bes. S. 63–78; Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 313–330; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 209–215. 224 Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 83, 85–110.
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1 Einleitung
Spiel der Akteure unterliegt zwar bestimmten Regeln, doch folgen die Praktiken vornehmlich der Strategie der Akteure.225 Mit dem Begriff doxa bezeichnet Bourdieu den Glauben an die Natürlichkeit der gegebenen Ordnung, gewissermaßen an das Grundgesetz des Feldes. Dies kann auf dem Feld der Herrschaft der Glaube an die Legitimation des Königtums sein, also durch Charisma, Tradition oder Legalität. Legitimitätsgründe wie diese verschleiern laut Bourdieu die Willkür der tatsächlichen Machtverhältnisse.226 Der gemeinsame Glaube an die Sinnhaftigkeit des Spiels in einem bestimmten Feld, die illusio, begründet das Interesse der Spieler.227 Dies wäre im Fall der Königsherrschaft die grundsätzliche Anerkennung ihrer jeweiligen Legitimitätsgründe: der Legitimitätsglaube. Würde er von einem Akteur grundsätzlich negiert, bedeutete dies für ihn das Verlassen des Spielfeldes. Mit dem für Bourdieu zentralen Begriff des Kapitals werden alle sozial erforderlichen Handlungsressourcen, Kräfte, Machtmittel bzw. Spieleinsätze erfasst, über die Akteure auf einem Feld verfügen. Diese sind stets ungleich verteilt. Kapital bedeutet für Bourdieu akkumulierte Arbeit. Diese akkumulierte Arbeit ist gewissermaßen die „Energie der sozialen Physik“.228 Deshalb ist Bourdieus Kapitaltheorie zugleich eine Handlungstheorie. Jede Art von Kapital kann als „Gegenstand der Akzeptanz und Wertschätzung“229 eingesetzt werden, mit dem Ziel, Machtansprüche durchzusetzen. Bourdieu unterscheidet drei grundlegende Arten von Kapital – ökonomisches, kulturelles und soziales –, die ineinander konvertiert werden können und spezifischen Feldern entsprechen.230 Unter ökonomischem Kapital versteht er die verschiedenen Formen des materiellen Reichtums und alle Arten von Tauschwert.231 Es ist „unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts“.232 225 Bourdieu, Das politische Feld, S. 41ff.; ders., Vom Gebrauch der Wissenschaft, S. 16ff.; ders., Die Regeln der Kunst, S. 353–360; ders., Der Staatsadel, S. 319–362; dazu FuchsHeinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 139–157; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 105–110, 136–144, 200–209; Schwingel, Bourdieu, S. 77–80, 91; ders., Analytik der Kämpfe, S. 60–80; Göhler/Speth, Symbolische Macht, S. 22–26; Bohn/Hahn, Pierre Bourdieu, S. 260–263. 226 Bourdieu, Meditationen, S. 133f. Vgl. zur verschleiernden Legitimierung des Willkürlichen Gabriel/Reuter, Religion und Gesellschaft, S. 195–212. 227 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 144–148, 201–206. 228 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 357. Vgl. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 112; Schwingel, Bourdieu, S. 81; Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 157; Reichardt, Bourdieu für Historiker, S. 75–82. 229 Zit. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 113. 230 Grundlegend Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. Vgl. die Übersichten bei Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 157–171; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 110–115; Fröhlich, Kapital, Habitus, Feld, Symbol, S. 34–37; Bohn/Hahn, Pierre Bourdieu, S. 263–265. 231 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 161f. 232 Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 185.
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Kulturelles Kapital liegt in drei verschiedenen Zuständen vor: Kulturelles Kapital in objektiviertem Zustand umfasst Bücher, Gemälde, Kunstwerke, Maschinen, technische Instrumente usw. Kulturelles Kapital in inkorporiertem Zustand begreift alle kulturellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen. Als kulturelle Kompetenz können diese durch Bildung im allgemeinen Sinn leiblich angeeignet und verinnerlicht werden. Damit werden sie Bestandteil des Habitus, der sich in Anlage, Haltung, Erscheinungsbild, Gewohnheit oder Lebensweise ausdrückenden dauerhaften Disposition eines Akteurs. Institutionalisiertes kulturelles Kapital schließlich existiert beispielsweise in Form von Bildungstiteln und ist durch objektive Nachweise legitimiert.233 Soziales Kapital kommt zustande, wenn ein Akteur Ressourcen aus seiner Gruppenzugehörigkeit schöpft, etwa aus Familie, Verbänden, Parteien, d.h. aus einem dauerhaften Netz von Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens. Die daraus erwachsende Solidarität der Gruppenmitglieder ermöglicht Vorteile bei der Durchsetzung von Interessen in Tauschgeschäften und die Vermehrung von Prestige.234 Wird ein Kapital „über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen, die seine spezifische Logik anerkennen“235, so ist es in symbolisches Kapital konvertiert worden.236 Unter symbolischem Kapital werden alle anerkennbaren oder durch erfolgte Anerkennung ausgezeichneten Formen der Hervorhebung begriffen. Dies könnten sein: Autorität, Berühmtheit, Charisma, Ehre, Gnade, Größe, Heiligkeit, Heldentum, Legalität, Legitimität, Prestige, Renommee, Reputation, Respekt, Ruhm, Stolz, Tradition, Treue, Vorbildhaftigkeit oder auch Würde.237 Die Anerkennung, in der sich die Macht symbolischer Distinktions- und Legitimationseffekte manifestiert, macht die „Komplizenschaft“ der Beherrschten mit der bestehenden Ordnung aus.238 Insbesondere institutionalisiertes kulturelles Kapital (Bildungstitel) und soziales Kapital (das Netz dauerhafter Beziehungen) funktionieren, da beide genuin der Logik des Kennens und Anerkennens unterliegen, immer als symbolisches Kapital. „Das symbolische Kapital [...] stellt nur die umgewandelte, d.h. unkenntlich gemachte und damit offiziell anerkennbare Form der anderen Kapitalarten dar.“239 Zum symbolischen Kapital gehören
233 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 39–57. Zu den drei Sorten des kulturellen Kapitals ders., Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 185–190; FuchsHeinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 162–166; Schwingel, Bourdieu, S. 83–87; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 110–115; Fröhlich, Kapital, Habitus, Feld, Symbol, S. 35f. 234 Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 190–195; ders., Das Sozialkapital; Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 166–158. 235 Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 112. 236 Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 195–198; FuchsHeinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 169–171. 237 Burkhart, Ehre; Droste, Habitus und Sprache, S. 101. 238 Zit. Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 108. 239 Zit. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 375. Vgl. Jurt, Das literarische Feld, S. 90; Schwingel, Bourdieu, S. 87f.; ders., Analytik der Kämpfe, S. 123f.
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1 Einleitung „sämtliche Formen des Kredites an sozialer Anerkennung [...], die sich innerhalb der verschiedensten sozialen Bereiche etablieren können, zum Beispiel die (symbolische) Wertschätzung, die ökonomisch reiche Akteure oder Institutionen sich durch ‚gemeinnützigeދ Spenden und Stiftungen verschaffen können [...], die (massenmedial vermittelte) Anerkennung, die einzelne Personen oder Gruppen in ihrer Eigenschaft als Politiker, Künstler, Sportoder Unterhaltungs-‚Stars ދusw. erhalten können, die alltägliche symbolische Hervorhebung, die Akteure oder Gruppen durch Verwendung von Statussymbolen und Distinktionsmerkmalen praktizieren [...] oder [...] das für viele ‚traditionale ދGesellschaften kennzeichnende Ehrenkapital an gegenseitiger sozialer Anerkennung.“240
So muss die Einrichtung eines Waisenhauses von der Gesellschaft notwendigerweise als Akt der Wohltätigkeit anerkannt sein, um als symbolisches Kapital wahrgenommen zu werden.241 Symbolisches Kapital ist faktisch nur zusammen mit den anderen drei Kapitalsorten anzutreffen und vermag, da es der „Logik der Hervorhebung und Anerkennung“ gehorcht, deren „spezifische Effizienz und Wirksamkeit zu steigern.“242 Die durch die Akkumulation symbolischen Kapitals erzeugte symbolische Macht trägt das „Vermögen der Welterzeugung“ in sich, d.h. „das Vermögen sehen und glauben zu machen, vorauszusagen und vorzuschreiben, bekannt und anerkannt zu machen.“243
Die Erzeugung des Legitimitätsglaubens durch anerkannte Deutungshoheit „bei gleichzeitiger Verschleierung der Kräfteverhältnisse, die der Gewalt zu Grunde liegen“244 – Bourdieu bezeichnet dies in Form einer contradictio in adjecto als symbolische Gewalt – bestimmt die Wahrnehmung der sozialen Welt und erzeugt Wirklichkeit. Begrifflich tritt sie damit an die Stelle des älteren Ideologiebegriffs.245 Die vorrangige Funktion symbolischer Gewalt besteht darin, eine beliebige objektive (ökonomische, kulturelle usw.) Macht gleichsam magisch zu erhöhen.246 Symbolische Gewalt wird z.B. bei „Feste[n], Zeremonien, Austausch von Geschenken, von Besuchen und Höflichkeiten, vor allem auch Heiraten“247
den Herrschenden und Beherrschten über soziale Prozesse der Symbolgenese und in fortgesetzter Prägung des Habitus inkorporiert. Auf diese Weise wird sie von 240 Zit. Schwingel, Bourdieu, S. 88. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 218; ders., Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 352; dazu Droste, Habitus und Sprache, S. 100f.; Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 112–124. 241 Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 113. 242 Zit. Schwingel, Bourdieu, S. 88. 243 Zit. Fröhlich, Kapital, Habitus, Feld, Symbol, S. 49. Vgl. Göhler/Speth, Symbolische Macht, S. 37–48. 244 Zit. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 191. 245 Schmidt/Wolterdorff, Symbolische Gewalt; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 189–215; Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 207–213; Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 103–110; Rehmann, Einführung in die Ideologietheorie, S. 127f. 246 Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 199; Wayand, Pierre Bourdieu, S. 232; Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 104f.; Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 353–355. 247 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 335.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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Generation zu Generation reproduziert und auch in das Materielle physisch eingeschrieben, wie dies jüngst Carsten Fischer anhand städtischer Räume aufgezeigt hat.248 Die Wirkung der sanften symbolischen Gewalt macht die Anerkennung der Beherrschten in unerträglich scheinenden sozialen Situationen verständlich, selbst wenn von den Machthabern keine Repression und Propaganda ausgeübt werden.249 Erst mit der Herausbildung autonomer Felder im Laufe der historischen Entwicklung, etwa des Feldes entzauberten wirtschaftlichen Handelns im modernen Kapitalismus oder des entwickelten kulturellen Feldes mit Schriftlichkeit und modernem Bildungssystem, können Kapitalien zu primärem Kapital, zu einer von gegenseitiger Anerkennung unabhängigen Verfügungsmacht werden.250 Der Wert eines Kunstwerks etwa ist vom „Glaubensuniversum“251 des jeweiligen Produktionsfeldes abhängig, welches jenes zum Fetisch macht. Dies kann in der vormodernen Welt häufig das Feld der Religion sein, aber erst seit dem 19. Jahrhundert das autonome Feld der Kunst an sich. Kulturelles Kapital bestünde demnach in der Vormoderne als religiöses Kapital, als symbolisches Kapital oder als Besitz. Erst in der Moderne wird kulturelles Kapital zu Primärkapital durch die Entfaltung der Distinktionsstrategie Geschmack252, durch die „Monopolisierung kultureller Traditionen“253 und die „Institutionalisierung kulturellen Kapitals“.254 Die Entstehung objektiver, institutionalisierter und versachlichter Herrschaftsbeziehungen, primären Kapitals und entsprechender autonomer Felder sollte nicht darauf schließen lassen, dass symbolische, auf Anerkennung beruhende Macht in der Moderne keine Rolle mehr spielt. Herrschaft benötigt zu allen Zeiten symbolische Formen der Macht zu ihrer Legitimation.255 Nicht allein die Verteilung der materiellen Ressourcen, sondern der vom Habitus und dem unterschiedlichen Zugang zu bestimmten Kapitalsorten bestimmte Zugriff der Akteure auf symbolische Macht führt laut Bourdieu innerhalb der sozialen Welt zur Bildung bzw. Stabilisierung von Klassen. Die Ungleichheit sozialer Klassen beruht auf einer dreifachen Differenz: die der Lebensbedingungen, d.h. des Umfangs und der Struktur des Kapitals, der Habitusformen und der Lebensstile.256 Bourdieu erarbeitet ein vereinfachtes Modell mit drei Grundklassen: erstens die herrschende Klasse, die Unternehmer, die viel ökonomisches, aber eher geringes kulturelles Kapital besitzen, und – quasi als beherrschte Herrschen248 Fischer, Symbolische Macht im städtischen Raum. 249 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, S. 63, 144; dazu Schmidt/Wolterdorff, Symbolische Gewalt, S. 8f. 250 Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 120f.; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 200. 251 Zit. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 362. 252 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 181–192; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 161–167. 253 Zit. Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 121. 254 Zit. Ebd. 255 Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 122. 256 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 187; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 169, 173–186; Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 34f.
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1 Einleitung
de – die Intellektuellen, bei denen dies umgekehrt ist, zweitens, die kleinbürgerliche Mittelklasse und drittens die beherrschte Klasse oder Volksklasse ohne nennenswertes ökonomisches oder kulturelles Kapital. In allen Klassen gibt es aufund absteigende Fraktionen.257 Die Akkumulation von symbolischem Kapital führt zur Sichtbarmachung von Distinktionsmerkmalen, weitgehend intentionsferne, strukturelle Gegensätze zwischen den Lebensstilen von Klassen258, von „feinen Unterschieden“259, von „Distinktionsgewinnen“260, von Prestigehierarchien, von ganzen Distinktionsklassen mit eigenen Lebensstilen und der Kultivierung der privilegierten Stellung dieser Distinktionsklassen. Der Kampf der so definierten Klassen und Fraktionen um Herrschaft wird nicht zuletzt auf der symbolischen Ebene als „Konkurrenz um Legitimationsmacht“261 ausgetragen, d.h. nicht als Kampf um materielle Güter, sondern als Kampf der gegeneinander stehenden Lebensstile und, meist innerhalb der herrschenden Klasse, um die „Durchsetzung von Bedeutungen“.262 Der Ausgang dieses Kampfes ist letztlich für die Anerkennung durch die Beherrschten, die Macht in Herrschaft verwandelt, entscheidend, denn er legitimiert die soziale Ungleichheit und ist damit zugleich „Ausdruck und Teil von Herrschaftsbeziehungen“.263 Für die Existenz jeder Gruppe ist die „Arbeit der Reproduktion der bestehenden Beziehungen – Feste, Zeremonien, Austausch von Geschenken, von Besuchen und Höflichkeiten, vor allem auch Heiraten“264
notwendig. Konstitutiv für diese Beziehungen ist der Geschenketausch, dessen Kalkül von den Akteuren, dem Beschenkten wie auch dem Schenkenden, durch den vorgeblichen Akt der Freigiebigkeit verschleiert wird.265 Freigiebigkeit unterliegt dem Kalkül der Akkumulation symbolischen Kapitals – Bourdieu beschreibt dies als Ehre, Prestige oder guter Ruf – „möglicherweise die kostbarste Akkumulationsform im Rahmen einer Gesellschaft“266. Dieses symbolische Kapital lässt sich, so Bourdieu, „unschwer in ökonomisches Kapital zurückverwandeln“.267 Die erfolgreichen Akteure wandeln ihr symbolisches Kapital in symbolische Macht und politische Herrschaft um.268 Diese Erkenntnis lässt sich zwar mit dem 257 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 176–181; Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 34; Reichardt, Bourdieu für Historiker, S. 77f. 258 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 192–194; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 157–161; Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 35–38. 259 So der Titel des mittlerweile klassischen Werkes Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Dazu Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 157–188; Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 87. 260 Zit. Bohn/Hahn, Pierre Bourdieu, S. 267. 261 Zit. Schwingel, Analytik der Kämpfe, S. 88. 262 Zit. Ebd. 263 Zit. Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 194. 264 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 335. 265 Ebd., S. 335ff. 266 Zit. Ebd., S. 349. 267 Zit. Ebd., S. 349. 268 Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 202.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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älteren soziologischen Charismabegriff verbinden, doch anders als etwa Weber, der dem Charismaträger eine alles weitere auslösende Überzeugungskraft zubilligt, versteht Bourdieu Charisma als ein dem Träger von seinen Anhängern zugeschriebenes, sozial konstruiertes symbolisches Kapital.269 Dieses wäre dann, anders als bei Weber, nicht mehr nur ein Phänomen des Außeralltäglichen oder Krisenhaften, sondern findet sich nicht zuletzt in der Normalität, den „scheinbar unbedeutenden Praktiken des Alltags“.270 Für Bourdieu unterliegen im Grunde alle Personen, Gegenstände und Situationen, die eine kulturelle Weihe erhalten, einer ontologischen Erhöhung und „fast schon magischen Verzauberung.“271 Mit dem kulturellen Charisma gelingt den Inhabern der symbolischen Macht, wie sie in der bürgerlichen Kultur vorliegt, die stillschweigende Definition der „Wahrheit der sozialen Welt, der sich andere soziale Gruppen vorauseilend anpassen und unterordnen“.272
Dem distinguierten Habitus der Charismaträger, die viel kulturelles Kapital inkorporiert haben, stehen die spezifischen Deutungsmuster und Verhaltensweisen der Charismagläubigen gegenüber, die sich in stillschweigender symbolischer Unterordnung und Anerkennung einer als legitim betrachteten charismatischen Kultur äußern. Bourdieus Blick auf die sozialen Mechanismen des Charismas richtet sich neben dessen Konstruktion geschärft auf die ihm innewohnende Reproduktionskraft.273 Anhand konkreter Felder können die bisherigen Ausführungen weiter konkretisiert werden. Das religiöse Feld sieht Bourdieu als vom Kampf um die legitime Ausübung religiöser Macht und die Verwaltung der Heilsgüter bestimmt. Die Priesterschaft legt fest, was als heilig gilt und was nicht. Sie ist Inhaberin des Monopols über die Produktion, Verwaltung und Nutzung des Heiligen. Ihr Ziel ist die Reproduktion des religiösen Habitus. Ihr stehen die in herrschende und beherrschte Klassen unterschiedenen Laien gegenüber. Im Interesse der Herrschenden liegt das Bedürfnis nach Legitimation, während die Beherrschten die Sehnsucht nach Erlösung vereint. Alle Akteure bedienen sich zur Vertretung ihrer Interessen der Konsekrationswirkung der Religion und der von der Gesellschaft autorisierten Vorstellung von der Wirkmächtigkeit des Glaubens.274 Das politische Feld definiert Bourdieu als den „Ort, an dem von den dort befindlichen, miteinander konkurrierenden Akteuren politische Produkte erzeugt werden (Probleme, Programme, Analysen, Kommentare, Konzepte, Ereig-
269 Bourdieu/Raphael, Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie, S. 81; Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 19. 270 Zit. Kraemer, Charismatischer Habitus, S. 128. 271 Zit. Ebd., S. 134. 272 Zit. Ebd., S. 135. 273 Kraemer, Charismatischer Habitus, S. 136f. 274 Bourdieu, Das religiöse Feld, S. 16f., 23f., 35f., 63, 67, 77, 82.
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1 Einleitung nisse), unter denen die auf den Status von ‚Konsumenten ދreduzierten gewöhnlichen Bürger wählen sollen [...].“275
Politik erscheint hier als ein Kampf der fundamentalen Ideen, die mobilisierende Kräfte entwickeln. Spieleinsätze auf dem politischen Feld sind primär die Vorstellungen der Akteure von der sozialen Welt, letztlich aber alle ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte, z.B. das für die Politiker besonders wichtige Ansehen, der Ruf, die Bekanntheit oder Popularität.276 Das politische Feld ist deshalb auf besondere Weise mit der Öffentlichkeit verbunden.277 Nach der Logik von Angebot und Nachfrage findet ein Austausch politischer Produkte „zwischen professionellen Produzenten und bloßen Laien“278 statt. Pointiert gesagt, geht es auf dem politischen Feld „um das Monopol des legitimen Sicht- und Teilungsprinzips der sozialen Welt.“279 Das politische Feld beruht ähnlich wie das religiöse „auf einer Trennung von Eingeweihten und Nicht-Eingeweihten“.280 Soziale Voraussetzungen bestimmen den Zugang zur Politik. Umstritten ist häufig die Kompetenz als unerlässliche Voraussetzung, um als eingeweihter Akteur auf dem politischen Feld, d.h. als Politiker, akzeptiert zu werden. Dagegen wird Laien Inkompetenz unterstellt, um sie aus dem politischen Spiel auszuschließen.281 Dabei betrachtet Bourdieu den auf dem politischen Feld ausgetragenen Machtkampf als „eine Konkurrenz um die Laien [...], genauer: um das Monopol auf das Recht, im Namen eines mehr oder weniger großen Teils der Laien zu sprechen und zu handeln.“282
Auf dem politischen Feld ist das entscheidende symbolische Kapital ein an den Bekanntheitsgrad gebundenes „Prestigekapital“.283 Das politische Kapital als symbolisches Kapital ist „ein Kredit, der sich auf die zahllosen Operationen gründet, mit denen die Akteure einer Person (oder einem Objekt), die gesellschaftlich als glaubwürdig angesehen wird, die ihr zuerkannten Machtbefugnisse erteilen.“284
Die politische Macht beruht demnach auf dem quasi magischen Glauben, den jene, die diese Macht erleiden, in denjenigen setzen, der sie ausübt. 275 Zit. nach Einleitung zu Bourdieu, Das politische Feld, S. 13. Vgl. Bourdieu, Die politische Repräsentation, abgedruckt in: Ders., Das politische Feld, S. 68f. 276 Pierre Bourdieu im Gespräch mit Philippe Fritsch [Lyon, 11. Februar 1999], abgedruckt in Bourdieu, Das politische Feld, S. 34f. Vgl. ders., Die politische Repräsentation, in: Ders., Das politische Feld, S. 101. 277 Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 200. 278 Zit. Bourdieu, Die politische Repräsentation, abgedruckt in: Ders., Das politische Feld, S. 68. 279 Bourdieu, Das politische Feld, S. 52. 280 Zit. Ebd., S. 42. 281 Ebd., S. 44f. 282 Zit. Bourdieu, Die politische Repräsentation, in: Ders., Das politische Feld, S. 96. 283 Zit. Bourdieu, Das politische Kapital, S. 52. 284 Zit. Bourdieu, Die politische Repräsentation, abgedruckt in: Ders., Das politische Feld, S. 98. Bei Fröhlich, Kapital, Habitus, Feld, Symbol, S. 36 erscheint politisches Kapital als Unterart des sozialen Kapitals.
1.2 Forschungsstand und Theorien
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Auf dem alle übrigen Felder wie ein Metafeld überwölbendem Feld der Herrschaft gilt der Einsatz der Spieler unter anderem der „Hierarchie der ethischen Bewertungsprinzipien“285 für die unterschiedlichen Machtformen und Kapitalsorten. Es geht also darum, den Primat einer Kapitalsorte über eine andere zu behaupten.286 Die Entstehung des autonomen Herrschaftsfeldes ist eng verbunden mit der Differenzierung und Autonomisierung anderer Felder. Die Homologie zwischen diesen Feldern gestaltet sich als Relation zwischen dem Angebot der Kapitalproduzenten und der Nachfrage von Konsumenten.287 Auf diese Weise wird ein bestimmtes Kräfteverhältnis „zwischen Machtformen oder verschiedenen Kapitalsorten“288 erzeugt, die sich bei den Kämpfen auf den unterschiedlichen Feldern auswirken. Die Arbeitsteilung innerhalb der herrschenden Klasse beruht auf der Durchsetzung eines legitimen Herrschaftsprinzips im Kampf zwischen den miteinander konkurrierenden „weltlichen und kulturellen Mächten“289, ökonomischer Dominanz in Form von Eigentum, Sachwerten, hohen Einkommen auf der einen und institutionalisierten kulturellen Kapitals in Form von Bildungs- oder Adelstiteln auf der anderen Seite.290 Die Bipolarität des Herrschaftsfeldes, die sich, so Bourdieu, bereits in der mittelalterlichen Ständegesellschaft im Gegenüber der über militärisches Kapital verfügenden bellatores und den religiöses Kapital besitzenden oratores äußert, wird in der Neuzeit zunehmend multipolar.291 Ökonomisches Kapital allein reicht niemals zum Machterhalt aus. Nur wer über ökonomisches bzw. militärisches und kulturelles bzw. religiöses Kapital verfügt und dieses in soziales und symbolisches Kapital zu verwandeln versteht, kann sich auf Dauer an der Spitze halten und ist vielleicht sogar in der Lage, diese Position zu vererben.292 In diesem Zusammenhang liegt es nahe, nicht nur an Webers Idealtyp der charismatischen Herrschaft, sondern vor allem an die traditionale Herrschaft zu denken, da Tradition, häufig als kulturelles Kapital objektiviert, institutionalisiert oder inkorporiert, eine besonders stabile und wirkmächtige Form des symbolischen Kapitals darstellt. Bourdieus Theorie des Macht- bzw. Herrschaftsfeldes, wie er sie vorrangig in seinem Spätwerk Der Staatsadel formuliert, erscheint an mehreren Punkten problematisch, zum einen weil sie mit seiner Klassentheorie in Konflikt gerät, zum anderen weil die Abgrenzung zum politischen Feld und zur Staatsgewalt unklar bleibt.293 In jenem Maße, in dem sich die Komplexität der Felder erhöht, wird auch die Arbeitsteilung zwischen den miteinander konkurrierenden, herrschenden Grup285 Zit. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 203. 286 Bourdieu, Das Feld der Macht und die technokratische Herrschaft, S. 77; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 203. 287 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 395–400. 288 Zit. Bourdieu, Der Staatsadel, S. 321. 289 Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 203f., Zit. S. 204. 290 Bourdieu, Das Feld der Macht und die technokratische Herrschaft, S. 73. 291 Ebd., S. 74f.; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 206f. 292 Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 204. 293 Bourdieu, Der Staatsadel. Vgl. Hartmann, Elitesoziologie, S. 106; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 200–209.
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1 Einleitung
pen, Bürokraten, Unternehmern, Journalisten, Professoren, Anwälten, Künstlern usw., zunehmend komplexer. Trotz der Antagonismen kommt es wie beim Bündnis zwischen Thron und Altar zu funktionaler Solidarität bis hin zu organischer Zusammenarbeit.294 Bei unkontrollierten Teilungen können „Palastkriege“295 ausbrechen. Angesichts der im historischen Prozess wachsenden Arbeitsteilung und der Homologie der Felder, auf denen Kapital akkumuliert wird, kann es auch den Monarchen im Sinne eines absolut Herrschenden immer weniger geben.296 Mit Bourdieu können Medien als mehr oder weniger eigenständige Akteure auf dem Feld von Macht und Herrschaft bezeichnet werden. Sie sind als „Kolporteure, Konverter, Verstärker, ja Konstrukteure von Lebensstilen [...] keine bloßen Mittel und Vermittler mehr, sondern sie inszenieren als symbolische Mächte in relativer Autonomie Realitäten.“297
Dies betrifft die primären Medien des menschlichen Körpers, Stimme und Sprache, vielmehr aber noch die Massenmedien, die ganze „Welten virtueller Wirklichkeit“298 zu schaffen imstande sind und ebenfalls symbolische Gewalt ausüben. Die auf dem Feld der Herrschaft tätigen Akteure glauben aufgrund ihres Habitus bei ihrem Kapitaleinsatz an die Macht sprachlicher Codes, die die klassenbezogene Verständigung über Herrschaft ermöglichen und bestimmte Gruppen ausschließen: Expertensprache, bildungsbürgerliche Wissenssprache, nationalistische und militaristische Sprache. Kämpfe um Herrschaft sind immer zugleich Kämpfe um Durchsetzung von Sprache und Bedeutungen.299 Schweigen drückt dagegen häufig Ohnmacht aus, den Ausschluss von Herrschaft.300 Institutionsriten, etwa die Beschneidung oder der Ritterschlag, sakralisieren nicht nur eine bestimmte Gruppe, sondern grenzen eine andere Gruppe sozial aus. Mit der Akzeptanz dieser Grenzziehung machen sie Herrschaft sichtbar und zementieren sie.301 Symbolische Gewalt stellt für Bourdieu in ihren Hauptspielarten Kolonialismus, kulturelle Herrschaft, Männlichkeit „die weltweit grundlegende Form der Herrschaft“302 dar, wobei er der nicht-symbolischen, physischen Gewalt Kritikern zufolge zu wenig Beachtung schenkt.303 Sind die Beherrschten vom Ausgang des Spiels enttäuscht, bleiben ihnen neben Resignation und Duldung der Ausstieg aus dem Spiel und die Aberkennung der von den Herrschenden gesetzten feldspezifischen Regeln. Es entbrennt ein revolutionärer Kampf zur Festlegung neuer Spielregeln, Ziele und Kapitaleinsät294 Bourdieu, Das Feld der Macht und die technokratische Herrschaft, S. 77; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 206f. 295 Zit. Bourdieu, Das Feld der Macht und die technokratische Herrschaft, S. 68, 93. 296 Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 207. 297 Zit. Fröhlich/Mörth, Lebensstile als symbolisches Kapital, S. 19. 298 Zit. Reinhard, Lebensformen Europas, S. 510. 299 Audehm, Die Macht der Sprache. 300 Bourdieu, Über das Fernsehen; ders., Was heißt sprechen; ders., Politik, Bildung und Sprache. 301 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 213–215. 302 Zit. Ebd., S. 212. 303 Ebd., S. 212f.
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ze. Bourdieu bezeichnet diesen krisenhaften Vorgang als „Hysteresis-Effekt“.304 Dieser allein ermögliche raschen historischen Wandel, während der Habitus diesem prinzipiell entgegenstehe.305 Die auf Kontinuität gerichtete Kraft des Habitus stellt die Normalität dar und lässt vornehmlich die Selbstreproduktion einer mit Symbolkämpfen beschäftigten Klassengesellschaft zu.306 Der Habitus erklärt auch die eingangs mit dem Ausspruch von David Hume aufgeworfene Frage nach der Leichtigkeit, mit der Herrschende ihre Herrschaft durchsetzen, denn in ihm ist die „Bereitschaft der Unterworfenen zu folgen“307 ebenso angelegt wie die persistente kulturelle und symbolische Überlegenheit der Herrschenden. Die Motivationsgründe für die Ausübung und Anerkennung von Herrschaft liegen für Bourdieu nicht wie bei Weber im willentlichen Gehorsam, sondern viel mehr im Unbewussten. Sie sind den Akteuren durch den Habitus inkorporiert, quasi „in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben.“308 In der Frage der Anerkennung von Herrschaft stellt sich Bourdieu gegen Weber, wenn dieser Gehorsam gegenüber der Macht als „Folge einer [rationalen, W.T.] Entscheidung aufgrund der Abwägung von Gründen oder bewusster Zustimmung zu einer politischen Ordnung“309
betrachtet. Der Habitus sorgt dafür, dass Herrschaft „durch den Glauben, durch ein doxisches Verhältnis zur Welt vermittelt“310 wird. Bourdieu wendet sich nicht nur gegen Webers rationales Handlungskonzept311, sondern, da er „jegliche weltgeschichtlich ausgreifende Evolutions- und Forschrittstheorie ablehnt“312, zugleich gegen dessen Vorstellung von epochenübergreifender Herrschaftsentwicklung als Rationalisierungsprozess. In der Geschichtswissenschaft erfreut sich die Soziologie Bourdieus gleichwohl steigender Beliebtheit, wobei eine wichtige Aufgabe des Historikers darin besteht, die sich wandelnden Wertigkeiten der Kapitalsorten und die Taxonomien der Felder in der von ihm untersuchten Zeit möglichst exakt zu bestimmen. Erst in Ansätzen wurde das Bourdieusche Instrumentarium für historische Analysen von Herrschaft herangezogen.313 Egon Flaig analysierte das in den politisch-religiösen Ritualwelten des Alten Rom produzierte symbolische Kapital in seiner herr304 305 306 307 308 309 310 311 312 313
Zit. Reichardt, Bourdieu für Historiker, S. 87. Ebd., S. 87; Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 32, kritisch S. 42–44. Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 191. Zit. Ebd., S. 208. Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht enthüllen, S. 82. Zit. Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 209, vgl. ebd. S. 273. Zit. Bourdieu, Das Feld der Macht und die technokratische Herrschaft, S. 90. Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 273. Zit. Ebd., S. 274. Allgemein Bourdieu/Raphael, Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie; Reichardt, Bourdieu für Historiker, bes. S. 82ff.; Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 490 und Anm. 6, S. 504 sowie Anm. 44, S. 506, 509 und Anm. 59; Gilcher-Holtey, Kulturelle und symbolische Praktiken; Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, S. 15–44. Vgl. als Vorreiter geschichtswissenschaftlicher Bourdieu-Rezeption in Deutschland die Arbeit von Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre.
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schaftsbegründenden Funktion.314 Die Münsteraner Dissertation von Stephanie Rüther über die Frömmigkeitspraxis Lübecker Ratsherren benutzte Bourdieus Begriffe des religiösen und symbolischen Kapitals zur Analyse der Funktion von Stiftungen für die Legitimation und Repräsentation bürgerlicher Herrschaft in der Stadt. Die Arbeit zeigt, wie die Akkumulation symbolischen Kapitals durch eine Gruppe von Reichen und Mächtigen dazu eingesetzt wurde, das von ihnen in der Stadt erwartete Handeln und Sein immer wieder neu zu bestätigen. Die in gegenseitiger Konkurrenz um Seelenheil und unter ständigem gesellschaftlichem Bewährungsdruck geleisteten Stiftungen trugen maßgeblich zur Festigung der politisch-sozialen Ordnung in Lübeck bei.315 Andreas Peþar nutzte die Kapitaltheorie Bourdieus zur Analyse der Reproduktion der adligen Herrschaftselite innerhalb des von ihm als „Ökonomie der Ehre“ bezeichneten höfischen Interaktionsraum am Kaiserhof Karls VI.316, während Marian Füssel das akademische Feld der frühneuzeitlichen Universität und Thomas Weller städtische Zeremonien in Leipzig zwischen 1500 und 1800 als Orte von Rangkämpfen und sozialer Distinktion untersuchten.317 André Krischer gelang es, mit Bourdieu die symbolischen Profite reichsstädtischer Eliten in ihrem politischen Zeichengebrauch herauszuarbeiten, die ihnen den Anschluss an die Symbolordnungen der Fürstengesellschaft ermöglichten. Damit konnte er aufzeigen, dass die Reichsstadt nicht, wie bislang geglaubt, ein politisches Gegenmodell zur Adelswelt darstellt, sondern als deren assimilierter Bestandteil zu gelten hat.318 Mit Hilfe des von der Soziologie Bourdieus bereitgestellten Instrumentariums kann die Akteurs- und Handlungsebene von Herrschaft systematisch analysiert werden, wenngleich in dieser Arbeit nicht auf der von Bourdieu praktizierten empirisch-quantitativen Grundlage, sondern vornehmlich mit der Sichtbarmachung von Relationen zwischen Akteuren. Insbesondere soll in der Arbeit gezeigt werden, nach welcher inneren Logik ein Herrschaftsfeld in einer Epoche funktioniert, wie es sich von Epoche zu Epoche verändert, wie sich im Laufe der Jahrhunderte immer neue Felder unterhalb des Herrschaftsfeldes herausbilden und wie Akteure im lokalen Raum insbesondere religiöses, kulturelles und symbolisches Kapital akkumulieren bzw. wie eine Kapitalsorte in eine andere überführt wird. All dies soll der Beantwortung der Kernfrage dieser Arbeit dienen, wie Herrschaft durch Machtausbau, Deutungshoheit (symbolische Gewalt) und Anerkennung durchgesetzt wird.
314 315 316 317 318
Flaig, Ritualisierte Politik. Rüther, Prestige und Herrschaft; Rüther, Soziale Distinktion und städtischer Konsens. Peþar, Die Ökonomie der Ehre. Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis; Weller, Theatrum Praecedentiae. Krischer, Reichsstädte und Fürstengesellschaft; ders., Das diplomatische Zeremoniell der Reichsstädte.
1.3 Untersuchungsraum Aachen
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1.3 Der Untersuchungsraum Aachen: Thesen, Quellen- und Forschungslage 1.3 Untersuchungsraum Aachen Trotz der nahezu unüberschaubaren Zahl von älteren und neueren Studien stellt eine epochenübergreifende, mikrogeschichtliche Analyse von Königsherrschaft Neuland dar. Unter der Vielzahl lokaler Räume, in denen man vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert der kulturellen Realisierung von Königsherrschaft nachgehen könnte, nimmt Aachen als Pfalz und Hauptsitz des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, Krönungsstadt der römisch-deutschen Könige, nationaler und europäischer Erinnerungsort einen besonderen Platz ein.319 Die lokalen kulturellen Vergemeinschaftungsformen und Artefakte geben Zeugnis von dieser Geschichte einer mehr als tausendjährigen Tradition der Legitimation, Repräsentation bzw. Kommunikation und Durchsetzung von Königsherrschaft. Die wechselvolle Geschichte Aachens vom Herrschaftszentrum des karolingischen Großreiches zur Reichsstadt im Flickenteppich des Heiligen Römischen Reiches bis zur mittleren Großstadt an der Peripherie Preußen-Deutschlands spiegelt wie die kaum einer anderen deutschen Stadt die Verfassungsgeschichte des fränkischen und deutschen Königtums wider. Nach dem Verlust der Krönungen 1562 an Frankfurt büßte Aachen seine frühere Funktion als Ort der Herrschaftslegitimierung ein und wurde vom „reicheren und ebenfalls ‚heiligen ދKöln“320 überflügelt. Für das frühneuzeitliche Königtum wurden aber vor allem Nürnberg, Regensburg, Augsburg und Frankfurt als wirtschaftliche Zentren oder Sitze von Reichsinstitutionen immer bedeutender, während Prag und Wien zu Residenzstädten ausgebaut wurden. Nachdem die linksrheinischen Gebiete des Alten Reiches Ende des 18. Jahrhunderts in den französischen Staat integriert wurden, wertete Napoleon Aachen als Ort persönlich-dynastischer Herrschaftslegitimation und regionales Zentrum wieder auf. Die preußischen Könige versuchten, die Aachentradition nach 1815 zur Integration des Rheinlandes in den preußischen Staat zu nutzen, was wegen der rasch aufbrechenden konfessionellen Spannungen aber unerwartete Schwierigkeiten bereitete. Als charismatischer Medienkaiser war Wilhelm II. wie keiner seiner hohenzollernschen Vorgänger bestrebt, das um Karl den Großen und Aachen gesponnene Mythenensemble zur Legitimation seines auf nationaler Integration basierenden persönlichen Regiments einzusetzen. Die zahlreichen Konjunkturen unterliegende, Jahrhunderte währende Aneignung der Tradition Aachens durch politische Akteure macht die Stadt als Untersuchungsraum besonders interessant. Seit der Gegenreformation kann Aachen dem „Typus der katholischen Reichsstadt“321 zugeordnet werden. Eine Studie von Rudolf Schlögl über die katholischen Städte Münster, Köln und Aachen konnte zeigen, dass
319 Überblicke bei Werner, Aachen – Aix-la-Chapelle; Meuthen, Aachen; Schmitt, Aachen; Boockmann, Aachen; Ennen, Aachen im Mittelalter. 320 Zit. Werner, Aachen – Aix-la-Chapelle, S. 49. 321 Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 100; Enderle, Die katholischen Reichsstädte, S. 229.
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1 Einleitung „Aachen mit einem bereits vom Verlag durchsetzten, exportorientierenden Metall- und Textilgewerbe im Übergang zum 19. Jahrhundert die vergleichsweise größte wirtschaftliche und soziale Dynamik auf[wies].“322
Neben dem Wirtschaftsbürgertum muss der Einfluss des um das Marienstift zentrierten Katholizismus auf die Aachener Stadtgeschichte als wichtiges Kontinuum betrachtet werden.323 Die vormodernen sozialen und konfessionellen Strukturen wirkten in Aachen wie in anderen Reichsstädten bis weit in das 19. Jahrhundert nach324, was zur Folge hatte, dass die Königsherrschaft im lokalen Raum Aachens noch 1918 maßgeblich von katholischen Eliten getragen und vermittelt wurde. Dem katholischen Klerus und dem alten, oligarchischen Bürgertum stand eine Minderheit von protestantischen und katholischen Liberalen gegenüber, denen der Aufstieg ins Großbürgertum gelungen war. Das katholische Milieu schloss im 19. Jahrhundert weite Teile des städtischen Kleinbürgertums und der Unterschichten ein. Die Konzentration der Untersuchung auf das Wechselspiel der lokalen katholischen Eliten mit den wechselnden Königsdynastien, zuletzt den protestantischen Hohenzollern, trägt der innerstädtischen Machtverteilung ebenso Rechnung wie der Quellen- und Forschungslage. Für die Analyse konnte auf eine Vielzahl von Vorarbeiten zurückgegriffen werden. Eine wichtige Grundlage bildeten die zahlreichen Studien zur Aachener Krönungsgeschichte des Mittelalters, im Jahre 2000 gebündelt im zweibändigen Katalog der Ausstellung Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos mit zahlreichen Aufsätzen zu den mittelalterlichen Krönungen und zum Aachener Krönungsmythos der Neuzeit.325 In seinem Begleitband zu dieser Ausstellung analysierte der Kulturhistoriker Rüdiger Haude die für 1915 geplante Aachener Krönungsausstellung und die Ausstellung zur Jahrtausendfeier 1925. Dabei arbeitete er stärker als andere Studien über dieses Thema die Bezüge zwischen politischer Symbolik und Geschichtspolitik beider Ausstellungsprojekte heraus.326 Das zweite Standbein bildeten die Forschungsarbeiten zum frühmittelalterlichen Aachen, zur Geschichte und zum Mythos Karls des Großen. Zuletzt widmete sich Max Kerner Karl dem Großen als Kultobjekt, mythische Figur und ideologisches Konstrukt in einer 2000 erschienenen Monographie.327 Das Nachleben behandelte 2003 ein Sonderband der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins mit zahlreichen Beiträgen namhafter Forscher.328 Matthias Pape und Karl Ferdinand Werner beschäftigten sich in mehreren Aufsätzen mit der politischen Inanspruch322 Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung, S. 30. 323 Ebd., S. 30f. 324 Ausgehend vom Beispiel Dortmund Schambach, Stadtbürgertum und industrieller Umbruch, S. 396. 325 Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 1–2. 326 Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaft ;ދferner ders., Krongeschmeide; ders., Hindernisrennen. Vgl. auch Breuer/Cepl-Kaufmann, ‚Deutscher Rhein – fremder Rosse Tränke?ދ. 327 Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos (dort auch Forschungsüberblicke). Vgl. ders., Die politische Instrumentalisierung Karls des Großen. 328 Kraus/Pabst, Karl der Große und sein Nachleben in Geschichte, Kunst und Literatur.
1.3 Untersuchungsraum Aachen
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nahme des Aachener Karlskultes.329 Zusammenhänge zwischen dem vom Totenkult ausgehenden Mythos Karls des Großen und der Legitimation von Herrschaft beleuchtete Olaf B. Rader.330 Die dritte Basis der Studie ist die überaus reichhaltige, aber äußerst disparate lokal- und regionalgeschichtliche Forschungsliteratur. Sie kann und soll hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden. Ihr quantitativer Schwerpunkt liegt auf dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Herangezogen werden Einzeldarstellungen über den lokalen Karlskult, die Krönungsgeschichte und Herrscherbesuche, die lokale Festkultur sowie über die Aachener Bauten und Denkmäler. Nicht minder wichtig sind verfassungs-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Einzelstudien zur neuzeitlichen Geschichte Aachens. Mit Ute Schneiders 1995 erschienener Studie liegt eine grundlegende Arbeit über die politische Festkultur in der Rheinprovinz zwischen 1806 und 1918 vor.331 Nach wie vor stellt das Fehlen einer modernen Stadtgeschichte das größte Manko jeder geschichtswissenschaftlichen Arbeit über Aachen dar332, was noch vor gut 15 Jahren Thomas Mergel davon abhielt, die Stadt in den Schwerpunkt seiner Untersuchung des katholischen Bürgertums im Rheinland einzubeziehen.333 Auch die 2001 erschienenen dreibändigen Deutschen Erinnerungsorte von Étienne François und Hagen Schulze enthalten zwar unter der Rubrik Reich einen Aufsatz von Joachim Ehlers über Charlemagne/Karl den Großen, jedoch keinen über Aachen.334 Die Forschungslage erschien Rüdiger Haude noch 2007 als „Stückwerk“335, was den „Dynamiken des Beharrens“336 in diesem lokalen Raum geschuldet sein mag. Die herangezogenen ungedruckten und gedruckten Quellen lieferten neue Einblicke in das Verhältnis des Königtums zu Aachen. Die Quellenlage für die Zeit vor dem Aachener Stadtbrand von 1656 erwies sich als nicht so schlecht wie befürchtet337, zumal sich umfangreiches, bereits in der älteren Forschungsliteratur 329 Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte. Vgl. ders., Karl der Große – Franke? Deutscher? oder Europäer?; Werner, Karl der Große oder Charlemagne; ders., Karl der Große in der Ideologie des Nationalsozialismus; ders., Charlemagne – Karl der Große. 330 Rader, Grab und Herrschaft. 331 Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert. 332 Die älteren Darstellungen von Haagen, Geschichte Achens 1–2; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte; Poll, Geschichte Aachens in Daten. Aber auch die neueren wie Wynands, Kleine Geschichte Aachens; Römling, Aachen – Geschichte einer Stadt können diesen Mangel bei weitem nicht ersetzen. Auch das 2009 erschienene Buch über die Region Aachen aus der Feder des erwähnten Matthias Pape hat daran nichts geändert, zumal sich der Autor explizit weigert, neue Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und überholte Narrationen perpetuiert. Vgl. Pape, Umbrüche, z.B. S. 158, Anm. 490, S. 168, Anm. 527, S. 173, Anm. 545 und dazu die kritische Würdigung in GiW 24 (2009), S. 133, Anm. 122. 333 Mergel, Zwischen Klasse und Konfession, S. 15. 334 Ehlers, Charlemagne – Karl der Große. Vgl. aber Gerstner, Aachen. 335 Zit. Haude, Grenzflüge, S. 34. 336 Zit. Haude, Dynamiken des Beharrens. 337 Kraus, Der Aachener Stadtbrand vom 2. Mai 1656. Überblicke bei Lepper, Reichsstadt und Kirche im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit; Kraus, Zur Geschichte Aachens im spä-
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1 Einleitung
verarbeitetes Material in neuer Frageperspektive als ausgesprochen wertvoll erwies. Die wichtigsten Quellen standen im Aachener Stadtarchiv zur Verfügung. Bestehende Lücken konnten durch Akten anderer lokaler und auswärtiger Archive sowie durch Zeitungsartikel kompensiert werden. Für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit wurden vorrangig Viten, Annalen und Chroniken, Urkunden, Siegel, Reichstags- und Ratskorrespondenzen herangezogen, für das 19. und 20. Jahrhundert Presseberichte, die Akten der städtischen und staatlichen Verwaltungsbehörden und Tagebücher. Die in der Neuzeit immer dichter werden Quellenlage ermöglicht eine verfeierte Analyse der Feste und kulturellen Artefakte, insbesondere der innerstädtischen Konflikte um deren Deutung und der dahinter liegenden Interessen. Dabei handelt es sich fast durchgängig um Diskurse miteinander konkurrierender Eliten. Grundsätzlich abweichende Haltungen sind erst für den Beginn des 20. Jahrhunderts näher zu fassen, als sich die politische und gesellschaftliche Ausdifferenzierung in der Massenpresse widerspiegelt. Deren Spektrum reicht in Aachen vom zentrumsnahen Echo der Gegenwart, über das parteiunabhängige, eher liberale Politische Tageblatt, die linksliberale Aachener Post, den der katholischen Arbeiterschaft nahe stehenden Aachener Volksfreund bis zur nationalliberalen Aachener Allgemeinen Zeitung. Für Aachen ist die weitgehend fehlende Überlieferung sozialistischer Presseorgane vor 1918 ein besonderes Manko.338 Die wenigen noch vorhandenen Spuren von Opposition lassen gleichwohl die Hypothese zu, dass die am Beispiel Aachens stark wahrnehmbare Eliten- und Herrschaftskontinuität nicht nur auf eine eindeutige ökonomische und politische Machtverteilung, sondern nicht zuletzt auf die kulturelle Schwäche der Beherrschten zurückzuführen ist. 1.4 DER AUFBAU DER ARBEIT 1.4 Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut und in sechs größere Zeitabschnitte unterteilt, die bestimmten historisch-typologischen Formen und Epochen der Königsherrschaft entsprechen (Kap. 2-7). Königsherrschaft im lokalen Raum soll aus den oben skizzierten drei forschungsgeschichtlichen Perspektiven untersucht werden, die weder alle älteren oder jüngeren Herrschaftstheorien umfassen noch selbst einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie sind in der Praxis von Herrschaft kaum voneinander zu trennen. Von den wechselnden Blickpunkten aus sollen in den sechs Großkapiteln verschiedenste Geschichten der Legitimation, Repräsentation bzw. Kommunikation und Durchsetzung von Königsherrschaft, weitmaschige Synthesen und detaillierte Mikrostudien, erzählt werden. Nach einem Einführungskapitel zu jedem Zeitabschnitt wird zunächst das Webersche Modell der drei idealen Herrschaftstypen – charismatische, traditionale, legale/rationale Herrschaft – heuristische Orientierungspunkte für eine Analyse ten Mittelalter; Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung; siehe auch unten Quellen- und Literaturverzeichnis. 338 Kennzeichnung bei Haude, Grenzflüge, S. 50.
1.4 Aufbau der Arbeit
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der unterschiedlichen Formen königlicher Herrschaftslegitimation liefern. Diese erste Analyseebene bildet zugleich die politik-, verfassungs- und sozialgeschichtliche Basis für die nachfolgenden Überlegungen zum Königtum in der lokalen Praxis und stützt sich deshalb vorrangig auf geschichtswissenschaftliche Untersuchungen klassischen Typs. Die zweite Analyseebene widmet sich aus kulturgeschichtlicher Perspektive der Repräsentation bzw. Kommunikation von Königsherrschaft im lokalen Raum Aachen. Zum einen sollen Vergemeinschaftungsformen analysiert werden, die ausschließlich mit dem repräsentativen Auftreten – eigentlich der Präsenz – des Königs in Aachen verbunden sind: Krönungszeremonielle, Huldigungsfeiern und Herrscherbesuche. Der etwas anders gelagerte Blickpunkt, die von der Präsenz des Monarchen gelöste Kommunikation von Königsherrschaft im lokalen Raum, ermöglicht einen Perspektivenwechsel. Dieser Teil der Untersuchung betrachtet das kommunikative Handeln der lokalen Eliten als Vermittler von Königsherrschaft. In beiden Fällen sollen nach Möglichkeit im Sinne des Ethnologen Clifford Geertz Texte dichter Beschreibung erzeugt werden. Dichte Beschreibung meint, die Bedeutungen politischer Sprachen und Symboliken, die interaktiven Handlungen sowie die von Kontext zu Kontext wechselnden Bedeutungen der verwendeten Codes, Strategien, Motive und Weltbilder der Akteure zu erfassen.339 Dabei soll auch die Funktion und Bedeutung der Medien und Öffentlichkeiten analysiert werden, die als kulturelle Artefakte und Vergemeinschaftungsformen im lokalen Raum aufzufassen sind. Es soll verdeutlicht werden, wie die Aneignung von Symbolen, Sprache, Medien und Öffentlichkeiten die Herrschaftsposition des Königs im Wechselspiel mit den lokalen Eliten verändert. Im Interesse einer flüssigen, chronologisch und thematisch geordneten Darstellung sollen beide Perspektiven einander abwechseln. Der dritte Blickpunkt, die Durchsetzung von Königsherrschaft, soll quasi als Fazit eines jeden Großkapitels die Bedingungen und Regeln des Feldes, die Kapitalverhältnisse, Machtrelationen und Kämpfe der Akteure nochmals mit den Begrifflichkeiten der Feld- und Kapitaltheorie Bourdieus durchdringen. Das Feld der Königsherrschaft im lokalen Raum erscheint als Spielfeld von Akteuren, die verschiedene Kapitalsorten akkumulieren und für ihre jeweiligen Interessen einsetzen. Das besondere Augenmerk der Untersuchung gilt den religiösen, kulturellen und symbolischen Kapitalien, mit deren Aneignung, Vermehrung, Verminderung oder Verlust der König und die übrigen Akteure ihre jeweiligen Positionen auf dem Feld der Herrschaft verbessern oder verschlechtern. Im Gesamtfazit werden die in den vorausgegangen Epochenkapiteln entworfenen Erzählungen gebündelt analysiert. Die Ergebnisse sollen zunächst im Hinblick auf den lokale Raum Aachen als mikrogeschichtlicher Zugang zur Königs339 Geertz, Dichte Beschreibung; dazu Fauser, Kulturwissenschaft, S. 28–30; Daniel, Clio unter Kulturschock, S. 208f.; Tacke, Denkmal im sozialen Raum, S. 19ff.; Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, S. 591ff.; Büschel, Untertanenliebe, S. 29. Zur kritischen Reflexion ethnographischer Texte vgl. Bachmann-Medick, bes. S. 22–37, Kultur als Text; Fauser, Kulturwissenschaft, S. 31f.
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1 Einleitung
herrschaft thematisiert werden. Danach soll die strukturelle Veränderung der Königsherrschaft im Epochenwandel zwischen der Mitte des 8. Jahrhunderts und 1918 reflektiert werden. Abschließend werden die drei forschungsgeschichtlichen Perspektiven auf den Herrschaftsbegriff in ihren Vorzügen und Defiziten diskutiert.
2 KARL DER GROSSE, AACHEN UND DAS URSPRÜNGLICHE CHARISMATISCHER HERRSCHAFT (UM 800–814) 2.1 EINFÜHRUNG „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“1 Was Thomas Mann über das Unerforschbare der Geschichte rätseln lässt, hat Historiker nicht davon abgehalten, sich der fernen historischen Figur Karls des Großen anzunähern. Sie sehen sich dabei mit einem dreifachen Problem konfrontiert: einer scheinbar „unverhältnismäßig gut[en]“2, tatsächlich aber lückenhaften Quellen- und Faktenlage, der vielfach einseitigen und tendenziösen karolingischen Überlieferung sowie der mythischen Überzeichnung durch die Nachwelt, zu der auch sie selbst manches beizutragen wussten.3 Die Erforschung der Herrschaft Karls und der Funktion seiner Aachener Pfalz bleibt vom biographischen Dilemma4 nicht unberührt. Die Analyse der Grundlagen frühkarolingischer Herrschaft (Kap. 2.2) hat von folgenden Fragen auszugehen: Wie gelang es Karl dem Großen angesichts der Usurpation des fränkischen Königsthrones durch seinen Vater Pippin, seine über 40 Jahre währende Königsherrschaft zu sichern? Worauf beruhte sein Erfolg? Welche Rolle spielten dabei sein Charisma, die Tradition des Königsamtes, der ihn stützende Hofkreis und die materielle Zufriedenstellung und Bindung des Adels? War Karl ein charismatischer Herrscher, wie dies sein zeitgenössischer Beiname der Große andeutet, oder wurde er dies erst im strahlenden Licht des Mythos? Aachen war unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen Herrschaftsmittelpunkt und Repräsentationszentrum des fränkischen Reiches. Die Zentralität des Aachener Hofes spielte bei der kulturellen Stabilisierung von Karls Herrschaft offenbar eine Schlüsselrolle (Kap. 2.3.1). Die Großbauten der Aachener Pfalz, das 1 2 3
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Zit. Mann, Joseph und seine Brüder, Vorspiel Höllenfahrt, S. 11. Zit. Fuhrmann, Kaiser Karl der Große, S. 65. Hampe u.a., Karl der Große oder Charlemagne; ders., Die Persönlichkeit Karls; Braunfels, Karl der Große. Ein Baumeister Europas; Borst, Das Karlsbild in der Geschichtswissenschaft vom Humanismus bis heute; Hauck, Karl der Große in seinem Jahrhundert; Morrissey, L’Empereur à la barbe fleurie; McKitterick, Karl der Grosse, S. 15–64; dazu Helg, Charlemagne in der Mythistoire Frankreichs; Dzuck, Zwischen Wissenschaft und Politik, bes. S. 55ff., 78ff.; Neubauer, Ein „germanischer Recke“; ders., Die Rezeption Karls des Großen in der Zeit des Nationalsozialismus. Vgl. zum weiteren Problemfeld Borgolte, Historie und Mythos; Schmale, Scheitert Europa an seinem Mythendefizit; Weber, Priester der Klio; Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs, bes. S. 51ff.; Schönwälder, Historiker und Politik; Moraw/Schieffer, Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert; Althoff, Das Mittelalterbild der Deutschen vor und nach 1945; ders., Die Deutschen und ihr Mittelalter. In aller gebotenen Nüchternheit Nelson, Charlemagne the man; große Narrationen radikal dekonstruierend dies., Um 801.
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höfische Leben, das karolingische Rechtswesen, die Dichtung und Geschichtsschreibung zeigen dies deutlich. Doch lassen die archäologischen Befunde zur Aachener Pfalz, insbesondere die weitgehend nur zu vermutende ikonographische Ausstattung von Marienkirche und Palastaula, wie auch die Lückenhaftigkeit und problematische Beschaffenheit der Schriftquellen weitergehende Schlussfolgerungen gar nicht oder lediglich eingeschränkt zu. Dem lokalen Raum Aachen fehlten in dieser frühen Zeit städtische Strukturen und gewachsene Tradition. Wie wurde dennoch karolingische Königsherrschaft in und aus Aachen kommuniziert? Anhand der Aachener Mitkaisererhebung Ludwigs des Frommen in Aachen 813 (Kap. 2.3.2) lassen sich die Herrschaftsrepräsentation Karls des Großen und sein Umgang mit den Großen des Reiches sowie den Mitgliedern des Hofkreises exemplarisch untersuchen. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Hielt sich Karl der Große bei der Regelung seiner Nachfolge an die fränkischen Traditionen? Lässt der Vorgang auf zurückliegende Veränderungsprozesse der Königsherrschaft Karls wähend seiner langen Regierungszeit schließen? Die Schlussanalyse mit Hilfe der soziologischen Analyseinstrumente Bourdieus (Kap. 2.4) wird von der Polarität des Herrschaftsfeldes und der relationalen Wertigkeit des ökonomischen und religiös-kulturellen Kapitals ausgehen: Die mithilfe des Heeres erworbene Kriegsbeute und das zu vergebende Land wurden vom König systematisch auf seinen Verwaltungsstab aus Adel und Klerus übertragen. Ökonomisches Kapital und symbolisches Kapital in Form prestigeträchtiger, königsnaher Ämter mussten in beträchtlichem Umfang an den Adel transferiert werden. Das mit Hilfe des Reichsklerus und der Hofgelehrten erworbene religiös-kulturelle Kapital in symbolisches Kapital wurde transformiert, um den Vorrang des Königs gegenüber dem konkurrierenden Adel zu bewahren und auszubauen. Amtscharisma, Tradition und legale Absicherung verstetigten die ursprüngliche charismatische Herrschaft Karls des Großen. 2.2 DIE PROBLEMATISCHE LEGITIMATION DES FRÜHKAROLINGISCHEN KÖNIGTUMS 2.2 Legitimation des frühkarolingischen Königtums Königsherrschaft war im Frankenreich des 8. Jahrhunderts eine Institution, die weitere Festigung und innere Ausgestaltung benötigte. Das Amt des Königs war in hohem Maße von der Person des jeweiligen Inhabers abhängig. Dessen Legitimation ruhte auf drei Säulen: Erstens auf seiner Idoneität und persönlichen Ausstrahlung als Voraussetzung für die Wahl durch den mächtigen Hochadel des Reiches, welche wie der symbolische Akt der Schilderhebung, die Aneignung des Königsschatzes und die Leistung des Eides dem germanischen Heerkönigtum entstammte. Zweitens basierte die Legitimation des Königs auf seiner edlen Abstammung bis hin zum Verweis auf die zur Tradition gewordene, erbrechtlich begründete Besetzung des Königsamtes durch ein Herrschergeschlecht, die Dynastie. Ohne Verweis auf eine vornehme Abstammung und die Beachtung der dadurch vorgegebenen Grundregeln des Miteinanders war die Auswahl des Kö-
2.2 Legitimation des frühkarolingischen Königtums
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nigs aus dem Kreis der adligen Mitbewerber undenkbar.5 Drittens legitimierte sich ein König durch die sakrale Überhöhung seiner Person, wie sie bei Krönung und Königsweihe durch die Übertragung göttlicher Gnade erzeugt wurde. Mit der Designation eines Königssohnes zum Nachfolger flossen erbrechtliche Vorstellungen in die Königsherrschaft ein, die grundsätzlich zur Dynastiebildung strebte und mit dem Idoneitätsprinzip der Wahl in Konflikt geraten konnte, bis hin zur Erhebung von Gegenkönigen.6 Unschwer lassen sich in diesen drei Punkten die idealtypischen Legitimationsgründe Webers, Legalität, Tradition und Charisma, wiedererkennen. Der Erfolg eines Königs bestand in allen drei Fällen in der Anerkennung seines legitimen Herrschaftsanspruchs durch die ausschließlich dem Adel entstammenden weltlichen Großen. Im Feudalsystem des Mittelalters war die große Mehrheit der Beherrschten nicht nur von der Königserhebung, sondern generell von der Herrschaftsausübung ausgeschlossen.7 Es beschränkte den Kreis der möglichen Akteure im Kampf um die Herrschaft auf eine relativ kleine Gruppe von Erbadligen mit dem Herrscher an der Spitze.8 Die Integration zentrifugaler Kräfte durch materielle Versorgung und Einbindung in das Gefolge in Hofkreis, Militär und Reichsverwaltung war eine fortwährende Aufgabe der potestas regia.9 Die Reziprozität von herrscherlicher Sorge und ehrfurchtsvoller Anerkennung des Herrschers durch das Gefolge bildete das Fundament mittelalterlicher Feudalherrschaft.10 Karl der Große war zweifellos vornehmer Abkunft. Als Enkel des fränkischen Hausmeiers Karl Martell und Sohn Pippins des Jüngeren, der 751 den letzten Merowingerkönig Childerich III. abgesetzt und sich selbst zum König hatte erheben lassen11, entstammte er zwei machtvollen Adelsfamilien: den Arnulfingern und den Pippiniden.12 Allerdings war Karl der Sohn eines Aufsteigers, der mit Hilfe eines Staatsstreiches zur Königsherrschaft gelangt war. Erst die päpstliche Sanktionierung des Königssturzes, die nachfolgende Wahl, Akklamation und Huldigung durch die fränkischen Großen und die Königsweihe mit der Behauptung, von Gott auserwählt zu sein, hatten das Königtum des Vaters legitimiert. Die Ü5
Pohl, Germanen, S. 67; Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich, S. 85f.; Boshof, Königtum, S. 56f. 6 Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter; ders., Das Frankenreich, S. 48f.; Hlawitschka, Königswahl und Thronfolge in fränkisch-karolingischer Zeit; Schreiner, Consanguinitas, S. 177; Schnettger, Dynastie; Wunder, Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit; Kunisch/Neuhaus, Der dynastische Fürstenstaat; Weber, Der Fürst; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 31f. 7 Fried, Der karolingische Herrschaftsverband im 9. Jh. 8 Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich, S. 70ff. 9 Krah, Anerkennung und Integration; dies., Die Entstehung der ‚potestas regia ދim Westfrankenreich. 10 Duby, Die drei Ordnungen, S. 96; Fleckenstein, Karl der Große und sein Hof, S. 55f. 11 Becher/Jarnut, Der Dynastiewechsel von 751. 12 Hlawitschka, Die Vorfahren Karls des Grossen; Riché, Die Karolinger, S. 27–93. Vgl. auch Fouracre, Age of Charles Martel, S. 33–45; Schieffer, Die Karolinger, S. 11–69; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 31–37; Becher, Karl der Grosse, S. 40–42; Schieffer, Karl der Große, S. 244.
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bertragung des Ehrentitels und Amtes eines Schutzherrn der Römer (patricius Romanorum) durch Papst Stephan II. hatte Pippins Herrschaft deutlich aufgewertet13, doch konnte sich die Königsherrschaft des Usurpatorensohnes Karl nicht auf eine dynastische Tradition stützen, wie sie den letzten Merowingerkönig ausgezeichnet hatte, dem nach der königlichen Autorität der Thron abhanden gekommen war.14 Kurz vor Pippins Tod am 24. September 768 erfolgte, fränkischer Tradition entsprechend, eine Teilung des Reiches.15 Die Thronerhebungen beider Söhne am 9. Oktober 768, Karls in Noyon, Karlmanns in Soissons, liefen mit der konsensualen Bestätigung der Großen, der Übergabe von Insignien und einer kirchlichen Weihe (consecratio) formal korrekt ab.16 Karl begann bald einen Machtkampf mit Karlmann, der nur durch dessen überraschenden Tod 771 nicht weiter eskalierte.17 Die Tatsache, dass nach Karls alleiniger Regierungsübernahme etwa zehn Jahre lang eine Spaltung des karolingischen Adels bestehen blieb, lässt darauf schließen, dass seine Königsherrschaft in ihren Anfängen eher schwach legitimiert war, begründet durch die fehlende königsdynastische Tradition der Karolinger und die Unzufriedenheit des fränkischen Adels, dessen Landhunger nicht mehr in dem Maße wie noch unter Karl Martell mit der Verteilung von Kirchengut befriedigt wurde.18 Wie konnte ein solches Legitimationsdefizit ausgeglichen, wie konnten die materiellen Bedürfnisse des Adels erfüllt werden? Die beschriebenen Umstände verlangten nach Karls Regierungsantritt zunächst die dezidierte Zurückdrängung der erbrechtlichen Legitimation zugunsten personaler Herrschaftsausübung: die Erzeugung und Verstärkung von Bindungen. Entsprechend bezeichnete vor mehr als einem Jahrzehnt die englische Mediävistin Janet L. Nelson unter Berufung auf Max Webers Herrschaftssoziologie die Herrschaft Karls des Großen als „patrimonial regime“19. Mit dem von Carl Ludwig von Haller in der Restaurationsära geprägten Begriff des Patrimonialismus ist die Vorstellung gemeint, der Herrscher verteile, gleichsam wie ein Hausvater, zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft die von ihm angesammelten materiellen Ressourcen wieder an seine Helfer, während die übrigen Beherrschten dem Patriarchen aufgrund seiner herkunftsbedingten Eigenwürde gehorchen.20 In seinem Frühwerk führte Weber die grundherrschaftliche Verwaltung der Domänen und die Vasalität als Beispiele für den Patrimonia13 Becher, Karl der Grosse, S. 34–40; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 37–75; Riché, Die Karolinger, S. 88–98. 14 Kerner, Die frühen Karolinger und das Papsttum, S. 11–18; Wood, The Merovingian Kingdoms, S. 290–292; Richter, Machtergreifung; Hartmann, Aufbruch ins Mittelalter, S. 86–89. 15 Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 55. 16 Ebd., S. 57, 61. 17 Ebd., S. 59f., 65f. 18 Schieffer, Karl der Große, S. 244f.; Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich, S. 41f.; Laudage/Hageneier/Leiverkus, Die Zeit der Karolinger, S. 25–28; Epperlein, Karl der Große, S. 17–20; Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue, S. 149f.; Nonn, Beobachtungen zur Herrschaft der fränkischen Hausmeier. 19 Zit. Nelson, Kingship and empire, S. 59. Vgl. Weber, Patrimonialismus, S. 235–370. 20 Weber, Patrimonialismus, S. 247ff.; ders., Die drei reinsten Typen der legitimen Herrschaft, S. 729. Vgl. Kuchenbuch, Feudalismus, S. 440.
2.2 Legitimation des frühkarolingischen Königtums
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lismus der Karolingerzeit an.21 Er erkannte aber später, dass die Vasalität22 als „Grenzfall des Patrimonialismus“23, zugleich als „Veralltäglichung eines nicht patrimonialen, sondern charismatischen Verhältnisses (der Gefolgschaft) behandelt werden kann“.24 Im Zuge der weiteren Überarbeitung seiner Herrschaftssoziologie entschied er sich schließlich dafür, die Nähe des Feudalismus „zur charismatischen Herrschaft [stärker] in den Vordergrund zu rücken.“25 Während der durch personale Bindung ausgezeichnete Lehensfeudalismus mehr zum charismatischen Herrschertum tendiere, nähere sich der Pfründenfeudalismus der traditionalen Herrschaft an.26 Gegen Nelson ließe sich einwenden, dass die Anwendung des Patrimonialismusbegriffs auf die mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch Georg von Below, später durch Otto Brunner einer grundlegenden Kritik unterzogen wurde. Diese richtete sich gegen die „Herleitung der staatlichen Gewalt aus privatrechtlichen Eigentumsverhältnissen“27 und die „Vermischung von privaten und öffentlichen Rechten“28 und brachte stattdessen den Feudalismusbegriff in die Diskussion.29 Doch ginge dies an Nelsons grundsätzlicher Beobachtung vorbei. Ausgehend von Weber lässt sich Karls Herrschaft noch weitgehender analysieren. In Kenntnis der älteren mediävistischen Debatte um den von Weber verwendeten Patrimonialismusbegriff merkte vor einigen Jahren der Soziologe Stefan Breuer an, dass sich die Legitimation der Königsherrschaft Pippins und zunächst auch Karls wegen der vorübergehenden Unterbrechung der erbcharismatischen Legitimation, wie sie die Merowingerkönige ausgezeichnet hatte, verstärkt auf das flüchtige militärische Charisma gestützt habe. Während der Regierung Karls habe dann die Idee des Geblüts- oder Gentilcharismas, d.h. die Versachlichung des Charismas, die Oberhand gewonnen.30 Damit angesprochen ist das Problem der
21 Weber, Herrschaft, Einleitung, S. 260. 22 Diestelkamp, Lehenswesen, Lehnrecht I, Sp. 1807f.; Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue, S. 137ff. Neuerdings wird die Existenz eines karolingischen Lehenswesens bezweifelt, vgl. Werner Hechberger, Das Lehnswesen. Ein Element der ‚Verfassung ދim Karolingerreich?, Vortrag, gehalten am 23.6.2007 am Historischen Institut der RWTH Aachen. 23 Zit. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 158. 24 Zit. Ebd., S. 158. 25 Zit. Ebd., S. 158. Vgl. Weber, Herrschaft, S. 49ff., 235ff. 26 Ebd., S. 160–162. 27 Zit. Weber, Herrschaft, Einleitung, S. 33. 28 Zit. Ebd., S. 33. 29 Otto Brunner lehnte Ende der 1930er Jahre die Klassifizierung des mittelalterlichen Staates als Patrimonialstaat als anachronistisch ab. Vgl. Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 128–159; ders., Land und Herrschaft, S. 146–163. Zur Verortung der zeitgenössischen Diskussion Weber, Herrschaft, Einleitung, S. 30–37; Kuchenbuch, Feudalismus, S. 145–228, 438–471; Breuer, Max Webers tragische Soziologie, S. 81, 84f., 90ff. 30 Weber, Umbildung des Charisma, S. 517ff.; Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 167–171; Boshof, Die Vorstellung vom sakralen Königtum, S. 333. Zum Gentil-, Erb- und Amtscharisma als Formen des institutionalisierten Charisma bei Weber Gebhardt, Charisma als Lebensform, S. 57–69; Schluchter, Religion und Lebensführung 2, S. 544f.; Kaesler, Max Weber, S. 212; Kroll, Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft, S. 48. Vgl. all-
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Umbildung und Erhaltung des Charismas, das im Weberschen Werk ausführlich besprochen wird und mit dem die Zurückdrängung charismatischer zugunsten traditionaler und rationaler bzw. legaler „Strukturformen der Herrschaft“31 gemeint ist. Der Gedankengang Breuers soll im Folgenden vertieft werden. „Du bist der Ruhm, die Hoffnung für die Deinen, Du bist die Freude Deines ganzen Reiches, Du Zierde der Kirche, ihr Lenker, Beschützer und Liebhaber.“32
An diese zeitgenössische Lobpreisung Karls des Großen aus der Feder Alcuins lässt sich die Frage anknüpfen, wie Karl sein Charisma erwerben und vor allem wie er es behalten konnte. Die erste Antwort ist nahe liegend: Innerhalb der agonalen adligen Kriegergesellschaft des frühen Mittelalters stand unter allen Regierungskünsten der militärische Erfolg des Herrschers an erster Stelle.33 Der aus dem Kriegshelden erwachsene König entspricht im Sinne Webers wohl am ehesten dem Typus des charismatischen Herrschers.34 Der Krieg führt zu „Situationen von existentieller Betroffenheit“35, in denen die „Routine des Alltags zerbricht“36 und deren Bewältigung durch militärische Wundertaten eine verbreitete Entstehungsbedingung charismatischer Herrschaft darstellt. Der charismatische Heerführerkönig ist aufgrund der relativen Labilität seiner Herrschaft gezwungen, seine besonderen Fähigkeiten immer wieder zu beweisen. Die Aufrechterhaltung charismatischer Königsherrschaft erfordert die Wiederholung militärischer Erfolge und deren eindeutige Rückführung auf den Herrscher. Die fortlaufende Bewährung zieht die routinemäßig eingeübte Zuschreibung von Charisma durch das Gefolge und die Festigung sozialer Beziehungen nach sich.37 In einer Gesellschaft wie der fränkischen, in der kriegerische Auseinandersetzungen zur alltäglichen Lebenswirklichkeit gehören, wandelt sich das Charisma des Heerführers vom Phänomen des Außeralltäglichen ins Komplemen-
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gemein zu den Begriffen Patriarchalismus und Patrimonialismus im Werk Webers Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 76–123. Zit. Weber, Umbildung des Charisma, S. 536. Vgl. ders., Erhaltung des Charisma; Weber, Staat und Hierokratie. Um 796 entstandene dichterische Lobpreisung Karls des Großen, Alcuin, Carmina (ed. Dümmler), Nr. XXVI, S. 245. Übersetzung nach Hägermann, Karl der Große, S. 149. Vgl. auch die vor 800 verfasste Grußbotschaft Alcuins an die Aachener Freunde, abgedruckt bei Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 41–45. Zum Krieg als Lebenserfahrung in der agonalen Welt des frühen Mittelalters und Herrschertugend Scharff, Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen, S. 184f.; Laudage/Hageneier/Leiverkus, Die Zeit der Karolinger, S. 166–171; Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft, S. 284–376. Weber, Charismatismus, S. 470–472; Schluchter, Religion und Lebensführung 2, S. 539. Zit. Schluchter, Religion und Lebensführung 2, S. 538. Zit. Ebd., S. 538. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1, S. 140–158; ders., Wirtschaft und Gesellschaft 2, S. 662–695, bes. S. 670f.; Möller, Charismatische Führer, S. 5; Nippel, Charisma und Herrschaft, S. 7ff.; Lipp, Stigma und Charisma, S. 63–71.
2.2 Legitimation des frühkarolingischen Königtums
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täre. Charisma wird im Alltag verstetigt und erscheint als soziales Grundprinzip menschlichen Handelns.38 In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts herrschte „permanenter Krieg“39. Es gehörte zur Lebenswelt des Kriegerfürsten Karl, Feinde töten zu lassen, Gefangene zu machen und Gebiete fremder Völker zu erobern. Siegreiche Schlachten, Heldentaten und Grausamkeiten dokumentierten seine Machtfülle und steigerten seinen Ruhm, dem der angelsächsische Gelehrte Cathwulf in einem Brief an den Frankenkönig vom Frühjahr 775 gar eine europäische Reichweite bescheinigte.40 Das fränkische Großreich erlangte in den mehr als vier Jahrzehnten der Herrschaft Karls seine größte Ausdehnung. Er weitete es vor allem nach Osten und Süden aus: gegen die Sachsen, Bayern, Awaren und Langobarden, zu deren König er sich 774 machte. Sogar im maurischen Spanien konnten die Franken trotz eines misslungenen Feldzuges Fuß fassen und eine Grenzmark errichten, die bis zum Ebro reichte.41 In der expansiven Ausweitung des Reiches übertraf Karl den Ruhm seiner Vorfahren bei weitem, auch wenn er nach Einschätzung von Rudolf Schieffer Eroberungszüge häufig unsystematisch und konzeptlos angegangen haben mag.42 Schon in seiner Jugend war Karl persönlich an der gewaltsamen Eingliederung Aquitaniens beteiligt. Zur Eroberung des Langobardenreiches führte er seine Truppen über die Alpen. Die Kämpfe gegen die Sachsen sahen ihn als Heerführer, ebenso wie der Beginn des Feldzuges gegen die Awaren.43 Wie andere frühmittelalterliche Könige nahm er in späteren Jahren nicht mehr selbst an Kriegszügen teil.44 Der persönliche Einsatz in der Schlacht kann bei Karl nur als wahrscheinlich vorausgesetzt werden, da er nicht durch Quellen belegt und auch nicht aus seinem Beinamen hervorgeht wie bei seinem Großvater Karl Martell.45 So beruht die spätere mythische Überhöhung Karls des Großen als Kriegsheld nur teilweise auf historischer Realität. Offenbar stellten auch für die Verbreitung seines Ruhmes als Eroberer noch zu Lebzeiten solche Taten keine notwendige Bedingung dar.
38 Für ein diesbezügliches Aufbrechen der Fixierung auf das Charisma als außeralltägliche Herrschaftsform Gebhardt, Charisma als Lebensform, S. 27ff. 39 Zit. Kapitelüberschrift bei Heer, Karl der Grosse und seine Welt, S. 69–80. 40 McKitterick, Karl der Grosse, S. 53f.; Story, Charlemagne’s Reputation, S. 1. Vgl. zur Sichtweise des Ruhmes im Mittelalter Althoff, Macht der Rituale, S. 8f.; Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 423–436; Thiele-Dohrmann, Ruhm und Unsterblichkeit, S. 83–168; kritisch Graf, Nachruhm, bes. S. 327–331; Althoff, Gloria et nomen perpetuum; Müller, Gloria Bona Fama Bonorum. 41 Zu den Feldzügen im Einzelnen: Schieffer, Karl der Große, S. 245–247; ders., Die Zeit des karolingischen Großreichs, S. 18ff., 100ff.; Becher, Karl der Grosse, S. 51–74; Riché, Die Karolinger, S. 112–148; Springer, Die Sachsen, S. 166–215. 42 Schieffer, Karl der Große – Intentionen und Wirkungen, S. 6f. Vgl. Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 300–321. 43 Schieffer, Karl der Große, S. 245f. 44 Schieffer, Karl der Große – Intentionen und Wirkungen, S. 6; Becher, Karl der Grosse, S. 44– 46; Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft, S. 357. 45 Joch, Legitimität und Integration.
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Die charismatische Königsherrschaft Karls des Großen besaß angesichts der Bedürfnisse des fränkischen Adels eine materielle Seite, die Norbert Elias zufolge oft genug eine notwendige Ergänzung zum Herrschercharisma bildet.46 Da sie sich vorrangig im Krieg verwirklichte, erwies sie sich nur im Erfolgsfall als gute Herrschaft.47 Plünderungen und die Verteilung der Beute gehörten nicht nur zum Kriegshandwerk. Sie waren notwendig zur Vermehrung der Lebensgrundlagen und der Entlohnung der adligen Gefolgschaft nach bestandenem Kampf.48 Karl gelang bei seinen Feldzügen gegen die Sachsen, Langobarden und Awaren die Eroberung gewaltiger Schätze. Der Krieg vergrößerte seinen Reichtum, die materielle Machtbasis, erheblich.49 Diese bestand vorrangig im Königsschatz50, im Königsgut51 und in der Vergabe von Ämtern, Geld und Land an den Adel.52 Mit Eroberungen stellte Karl den fränkischen Adel materiell zufrieden und vermehrte sein Prestige als Feldherr. Den Ruf eines freigiebigen Herrschers erwarb er, als er einen Teil des Awarenschatzes an sein adliges und geistliches Gefolge verschenkte, den anderen nach Rom zu Papst Leo III. bringen ließ.53 Erfolge im Krieg erwiesen ihn in den Augen des fränkischen Adels als geeigneten, machtvollen Herrscher. Als wiederholt siegreicher Feldherr konnte er sich den Ruf eines großen Königs verschaffen, wie Einhart in der Vita Karoli berichtet: „Karl erwies sich so, indem er sein Reich erweiterte und fremde Völker unterwarf, als großer Herrscher und war dauernd mit Plänen solcher Art beschäftigt.“ (Qui cum tantus in ampliando regno et subigendis exteris nationibus existeret et in eiusmodi occupationibus assidue versaretur...)54
Erfolg, insbesondere militärischer, war das zentrale Thema in Fürstenspiegeln, Geschichtsschreibung, Hagiographie und panegyrischer Dichtung der Karolingerzeit. Die dortige Formulierung einer karolingischen und fränkischen Erfolggeschichte stellte einen entscheidenden Beitrag zur Herrschaftsideologie Karls des Großen dar.55 Die aufgrund der frühmittelalterlichen Kommunikationsstrukturen zwar eingeschränkte, die überschaubare fränkische Oberschicht aber wohl meist
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Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 185. Scharff, Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen, S. 218. Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft, S. 340–356. Zur Bedeutung des Reichtums als Quelle der politischen Macht des Königs McCormick, Um 808, S. 61ff. Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 211. Riché, Die Karolinger, S. 170–172; Epperlein, Karl der Große, S. 76–80. Dorn, Die Landschenkungen der fränkischen Könige, bes. S. 101ff., 184ff.; Airlie, The aristocracy in the service of the state. Imhof/Winterer, Karl der Große, S. 35; Becher, Karl der Grosse, S. 51, 70; Scharff, Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen, S. 154. Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 16, S. 34f. Die Schreibweise Einhart statt Einhard folgt Tischler, Einharts Vita Karoli 1, S. 1 und Anm. 1. Vgl. zum Idoneitätsaspekt der karolingischen Königsherrschaft: Anton/Thomas, König, Königtum A–B, Sp. 1303. McKitterick, Karl der Grosse, S. 63f. mit Verwendung des Ideologiebegriffs.
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erreichende Verbreitung militärischer Erfolgsnachrichten festigte und vermehrte das Herrschercharisma Karls des Großen.56 Karl schuf mit der bis 800 nahezu ununterbrochenen militärischen Expansion und der daraus resultierenden Notwendigkeit zur Verwaltung des Riesenreiches eine materielle und symbolische Verteilungsmasse von Ämtern und Pfründen und nutzte dies zur Stärkung der Bindung des Gefolges an seine Person. Er machte nicht nur wie seine Vorgänger zahlreiche Schenkungen, sondern steigerte dies zum System. Auf diese Weise begründete er eine Reichsaristokratie aus Grafen, Äbten und Bischöfen mit hohem Sozialprestige und erweiterter Machtbasis.57 Die Crux daran war, dass die Stärkung des Adels im Fall von Opposition durchaus zu einem ernst zu nehmenden Problem für die Zentralgewalt werden konnte. Neben dem Krieg gab es in der fränkischen Gesellschaft weitere, wenn auch unspektakulärere Möglichkeiten des Prestigeerwerbs. Eine besonders erfolgreiche Jagd konnte das königliche Charisma innerhalb der adligen Hofgesellschaft vermehren, galt diese doch den Franken als Ausdruck der eigenen Identität und der Superiorität gegenüber anderen Völkern.58 Im Spiel der höfischen Jagd bekräftigte der König dem Adel gegenüber seine „Überlegenheit, indem er sich als freigiebiger ‚Freudenspender ދzeigte“59, besonders wenn er dabei selbst die größten Jagdtrophäen erringen konnte. In ihrer ritualisierten Form bildete die Jagd das Beutemachen im Krieg und die vorbildliche Herrschaftsordnung ab.60 Karls repräsentatives Auftreten trug zur Festigung der charismatischen Seite seiner Herrschaft bei.61 Er setzte sich als ein „mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder zumindest spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften“62
begabter, wenn nicht gottgesandter Führer ins Bild. Den mächtigen Kriegerkönig Karl erkannte man an seiner markanten Haartracht und der Krone. Auf seinem Thron sitzend, erhob er sich räumlich wie symbolisch über sein Gefolge. Inthroni56 Scharff, Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen; Rüngeler, Das Bild Karls des Großen in der zeitgenössischen Annalistik und in der Gedichts- und Briefliteratur, S. 10–14. Vgl. als Beispiel die Berichterstattung der fränkischen Reichsannalen über das sogenannte Blutbad von Verden bei Becher, Karl der Grosse, S. 63. 57 Hechberger, Adel, S. 186–194; ders., Adel, Ministerialität und Rittertum, S. 11–15; Riché, Die Karolinger, S. 161f.; Ullmann, The Carolingian Renaissance and the idea of Kingship, S. 111ff.; Kammler, Die Feudalmonarchien, S. 106f.; Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue, S. 144–167; Epperlein, Karl der Große, S. 84–87, 92–99. 58 Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 22, S. 44f. Vgl. Epperlein, Karl der Große, S. 133f.; Rösener, Jagd und höfische Kultur, S. 15f.; Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 116f.; Weber, Die drei reinen Typen charismatischer Herrschaft, S. 736 zu Charisma und Jagd. Ferner zur Jagd im Aachener Karlsepos Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters, S. 60–78. 59 Zit. Duby, Die drei Ordnungen, S. 437. Vgl. Thiele-Dohrmann, Ruhm und Unsterblichkeit, S. 253–255. 60 Schwedler, Ritualisiertes Beutemachen. 61 McCormick, Paderborn 799; Götz, Moderne Mediävistik, S. 212–218. 62 Zit. bei Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1, S. 140.
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sierung und Krönung gehörten bereits zum Erhebungsbrauch der westgotischen und langobardischen Könige und waren von dort aus spätestens in der Karolingerzeit zu den benachbarten Franken gelangt.63 Kronen, Throne und andere Herrschaftszeichen wurden aber erst im weiteren Verlauf des Mittelalters zu festen Symbolen des Königtums und der göttlichen Erwählung des Herrschers.64 Weitere sichtbare Medien der fränkischen Königsherrschaft waren Metallbullen, Siegel und Münzen, die zum Teil mit Porträtdarstellungen versehen waren.65 Karls kaisergleicher Empfang durch Papst Leo III. bei der Inszenierung des Herrscheradventus vor der Kaiserkrönung in Rom, die eigenhändige Krönung durch den römischen Stellvertreter Gottes auf Erden, die dem byzantinischen Hofzeremoniell entlehnte Proskynese und die Akklamation der laudes durch die Römer66 dokumentierten zur Genüge, dass Karl, der Schutzherr der römischen Kirche, zum würdigen Nachfolger der römischen Cäsaren erhoben worden war. Vorrangig gegenüber dem Kaiser in Byzanz, aber für alle Angehörigen der fränkischen Führungsschicht erkennbar, vertrat er den Anspruch, Inhaber der höchsten weltlichen Gewalt auf Erden zu sein, auch wenn ihm später die päpstliche Übertragung der römischen Kaiserwürde Unbehagen bereitete.67 Die erbrechtliche und traditionale Begründung des Königtums Karls des Großen war eher schwach ausgeprägt. Stattdessen kam es zu einer stärkeren Betonung der durch die Gnade Gottes verliehenen Herrschaft.68 Das Gottesgnadentum eines mittelalterlichen Königs wurde durch den sakralzeremoniellen Akt der Krönung rituell bekundet. Eine mit der Krönung verbundene Salbung Pippins 751/754 oder Karls 768 würde wohl den „Mangel an angeborenem königlichen Charisma“69 durch eine weitere Legitimierung von Seiten der allerhöchsten charismatischen
63 Schnith, Krönung; Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter, S. 16ff., 187ff.; Brühl, Kronen- und Krönungsbrauch; Hlawitschka, Königswahl und Thronfolge in fränkisch-karolingischer Zeit. 64 Drechsler/Engemann u.a. Thron; Schmidt, Zur Geschichte des fränkischen Krönungsthrons; Erler, Thronerhebung; Weidemann, Throne; Ott, Krone und Krönung; ders., Die Frühgeschichte von Krone und Krönung; Petersohn, ‚Echte ދund ‚falsche ދInsignien im deutschen Krönungsbrauch; ders., Über monarchische Insignien; ders., Die Reichsinsignien im Krönungsbrauch und Herrscherzeremoniell; Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik 1– 3; ders., Herrschaftszeichen; ders., Sphaira, Globus, Reichsapfel; ders., Die ‚Herrschaftszeichenދ, die ‚Staatssymbolik ދund die ‚Staatspräsentation ;ދFillitz, Die Reichskleinodien. 65 Schramm, Die zeitgenössischen Bildnisse Karls des Großen. 66 Wiemer, Akklamationen im spätrömischen Reich; Langgärtner/May, Akklamation; Elze, Die Herrscherlaudes im Mittelalter. 67 Becher, Karl der Grosse, S. 13–22, 85f.; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 418– 431. 68 Allgemein Ruppert, Gottesgnadentum. Eine Verchristlichung der Königsherrschaft und Ansätze zum Gottesgnadentum sind bereits in der Merowingerzeit festzustellen. Die Gratia-DeiFormel erscheint allerdings explizit erst mit der Salbung Pippins 754. Vgl. Kaiser, Erbe, S. 86f. Zu dem in den Urkundenformeln und im Königstitel Karls des Großen ausgedrückten Gedanken einer von Gottes Gnaden (dei gratia) verliehenen Herrschaft Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 66. 69 Zit. Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, S. 19.
2.2 Legitimation des frühkarolingischen Königtums
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Instanz, Gottes, kompensiert haben.70 Doch ist neuerdings ihre mit Pippin verbundene Einführung im Karolingerreich mit bedenkenswerten Gründen angezweifelt worden, so dass sie hier nur mit Vorbehalt als Argument für die charismatische Ausrichtung des Königtums Karls des Großen angeführt werden kann.71 Im Rückgriff auf die spätantike Herrschaftsrepräsentation wurde das karolingische Königtum in der Zeit Karls und nach ihm Schritt für Schritt aufgeladen durch antik-christliche Vorstellungen idealer Herrschertugenden, eine zunehmende Objektivierung und Institutionalisierung durch die Aufnahme von Krone, Thronsetzung, Huldigung und Krönungsordines in das Erhebungsritual sowie die Annahme von Herrschertitulaturen.72 Unter Karl dem Großen kam es zur Entfaltung eines hierokratischen Herrschaftsverständnisses, da sich der Karolinger in der Nachfolge des alttestamentarischen Priesterkönigtums als neuer David verstand und als solcher von den Gelehrten des Hofkreises anreden ließ.73 Zwar erreichte Karls Königsherrschaft niemals den Charakter einer „monolithischen Theokratie“74 wie dies in Byzanz der Fall war, doch verstärkte der beschriebene Aufladungsprozess deren charismatische Legitimation. Diese fand ihren wohl nachhaltigsten Ausdruck in der römischen Kaiserkrönung durch Papst Leo III. im Jahre 800 und in der Annahme des nach byzantinischem Vorbild formulierten Kaisertitels.75 Die Kaiserkrönung bedeutete zugleich aber auch die Anknüpfung an eine nichtfränkische, seit der Spätantike im Westen unterbrochene römische Tradition, derer sich Karl zur weiteren ideologischen Legitimation seiner Königsherrschaft im Frankenreich bemächtigte. Sie erhob den Franken Karl in den Augen der Zeitgenossen weit über alle germanischen Fürsten seit Theoderich den Großen und stellte ihn auf eine Stufe mit dem Basileus in Byzanz.76 Das Kaiser-
70 Weber, Staat und Hierokratie, S. 579f. 71 Zur Salbung die ältere Forschungsposition bei Brühl, Kronen- und Krönungsbrauch, S. 22– 27; Angenendt, Rex et Sacerdos; zur Königsweihe im Karolingerreich Reinhardt, Untersuchungen, S. 4–89; Dierkens, Krönung, Salbung und Königsherrschaft; Schneidmüller, Salbung. Neuere Debatte bei Semmler, Der Dynastiewechsel von 751; Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 110–132; Angenendt, Pippins Königserhebung und Salbung; Borgolte, Die Vorstellung vom sakralen Königtum, S. 336 und Anm. 17; Schieffer, Die Zeit des karolingischen Großreichs, S. 24f., 114f.; Boshof, Königtum und Königsherrschaft, S. 55–82; Erkens, Die Sakralität von Herrschaft, Einleitung, S. 3–6; ders., Herrschersakralität im Mittelalter, S. 27–33. 72 Straub, Vom Herrscherideal in der Spätantike; Alföldi, Die monarchische Repräsentation; Kolb, Herrscherideologie in der Spätantike; Anton/Thomas, König, Königtum A–B, Sp. 1298–1304; Anton/Oexle/Schneider, Ordo (Ordines) I–III; Bak, Coronations. 73 Anton/Thomas, König, Königtum, Sp. 1303; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 427f.; Angenendt, Geistliche und weltliche Gewalt, S. 9–14; ders., Karl der Große als ‚Rex et sacerdos ;ދErkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 133–155; Werner, Aachen – Aix-laChapelle, S. 33f.; Steger, David Rex et Propheta. 74 Zit. Le Goff, Das alte Europa, S. 17. 75 McKitterick, Karl der Grosse, S. 110–113; Becher, Karl der Grosse, S. 21. 76 Beumann, Nomen Imperatoris; Wolf, Kaisertum; Classen, Karl der Grosse, das Papsttum und Byzanz; Becher, Karl der Grosse, S. 13–22, 74–89; Hägermann, Karl der Große, S. 87–98; Schieffer, Karl der Große, S. 248f.; Riché, Die Karolinger, S. 149–156; Schieffer, Die Zeit
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tum Karls beruhte auf der engen Bindung des Herrschers an den Papst in Rom. Im Leib des Königs, des Stellvertreters Gottes auf Erden, vereinigten sich nach dem politischen Ideal der Karolinger die beiden herrschenden Prinzipien der geistlichen und weltlichen Gewalt.77 Anhand der Kaiserkrönung, der Constantin-Nachfolge Karls78 wie auch der karolingischen Renovatio79 kann für die Zeit um 800 noch kein Bewusstsein einer Translatio Imperii vom Römischen auf das Fränkische Reich, welches das neu erworbene Kaisertum reichsideologisch überhöht hätte, nachgewiesen werden. Karl begriff sich und sein Reich vorrangig in christlich-germanischer und nicht in römischer Tradition stehend. Auf das Frankenreich gemünzte Translationsvorstellungen erscheinen erst einige Jahrzehnte nach Karls Tod.80 Anstelle des Kaisertums weist die um 800 entstandene Metzer Karolingergenealogie, welche eine fiktive Ahnenreihe Karls bis zu Blithild, der Tochter des Merowingerkönigs Clothar I., zurückverfolgte, auf die Bemühungen des Königs um die traditionale Legitimierung seiner Herrschaft hin: die familiäre Anbindung der Karolinger an die jahrhundertealte Vorgängerdynastie.81 Der „lange Schatten der Merowinger“82 verfolgte ihn demnach selbst noch im Jahr seiner Kaiserkrönung! Die Ausübung direkter personaler Herrschaft vor Ort, Feldzüge und die neue Bedeutung Italiens und Roms für das Frankenreich zwangen Karl zu mühevollen Reisen. Karl soll dabei Distanzen bewältigt haben, die dem mehrfachen Erdumfang entsprachen.83 In dieser vermeintlichen Omnipräsenz kamen die übernatürlichen und übermenschlichen Eigenschaften des charismatischen Herrschers zum Ausdruck.84 Reichsversammlungen und Königsumritte85 dienten der Nachrichtenverbreitung, Verwaltung und Kontrolle des unruhigen Reiches. Erleichterung brachte erst 802 die Einführung der Königsboten, der missi dominici, die im Auftrag Karls Reichsangelegenheiten erledigten und Kontrolle ausübten. Loyale Ge-
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des karolingischen Großreichs, S. 104–110; Schneidmüller, Die Kaiser des Mittelalters, S. 15–37; Nelson, Um 801. Duby, Die drei Ordnungen, S. 116–122. Karl ließ sich von der Hofdichtung selbst als novus Constantinus feiern, sah sich aber auch in der Nachfolge des Ostgotenkönigs Theoderich und des biblischen Priesterkönigs David. Vgl. Krämer, Translatio Imperii, S. 33f.; Wolfram, Constantin als Vorbild; Ewig, Das Bild Constantins des Großen. McKitterick, Renovatio. Vgl. Stiegemann/Wemhoff, Kunst und Kultur, Bd. 2, S. 686–769. Thomas, Translatio Imperii, Sp. 944f.; Erler, Translatio imperii; Ditsche, Translationstheorie; Goez, Translatio Imperii, S. 62–76; Krämer, Translatio Imperii, S. 31–48. Anton, Karl der Große, die Karolinger und Europa, S. 11. Fouracre, The long Shadow of the Merovingians. McKitterick, Karl der Grosse, S. 165–179; Gauert, Zum Itinerar Karls des Grossen; Ohler, Reisen im Mittelalter, S. 208–218, bes. S. 209 mit Abb. des Itinerars Karls des Großen; Becher, Karl der Grosse, S. 97. Allgemein zum Reisekönigtum Ohler, Reisen, Reisebeschreibung I, Sp. 672; Althoff, Vom Zwang zur Mobilität; Seltmann, Zepter und Zügel; Kränzle, Der abwesende König; Müller-Mertens, Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen; Müller-Mertens/Huschner, Reichsintegration im Spiegel der Herrschaftspraxis Kaiser Konrads II. Schluchter, Religion und Lebensführung 2, S. 539. Schmidt, Königsumritt.
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folgsleute belohnte Karl mit der Ehre, als Zeugen in seinen Urkunden erscheinen zu dürfen.86 Die Heerführung delegierte er an Vertraute, die er durch die Erzeugung von Nähe und Ferne auszubalancieren trachtete. Feldzüge gegen Heidenvölker brachten für die christlichen Glaubenskrieger des fränkischen Heeres besondere Belohnungen durch den Herrscher ein.87 Dann wieder griff Karl in Adelsrivalitäten ein, um Konkurrenten zur Stärkung seiner Königsgewalt gegeneinander auszuspielen. Eine dauerhafte Anbindung des gesamten Hochadels an das Königshaus konnte er auf diese Weise zwar nicht erreichen, doch gelang ihm, anders als seinem Sohn Ludwig, der dauerhafte Herrschaftserhalt.88 In der Zeit Karls des Großen wurde Königsherrschaft vorrangig in direkter Form, face-to-face, ausgeübt. Königserhebung „Wahl, Akklamation, collaudatio, förmlicher Königseid, einfache professio, Treueid des Volkes“89 liefen als persönliche Kommunikationsakte ab, die zu wechselseitigen Verpflichtungen führten: Gehorsam und Treue der Beherrschten, aktive Gegentreue und Pflichterfüllung des Herrschers.90 Der König war gezwungen, überall, wo er Herrschaft ausübte, Präsenz zu zeigen. Aber auch der Adel musste mobil sein, wollte er seinen Einfluss behalten. Der König berief Hoftage ein, forderte Rat (consilium) und Hilfe (auxilium) seiner Getreuen (fideles) und Vasallen. Dafür gab er Schutz und Schirm. Er sprach Recht und verhängte Strafen, erwarb und vergab Land, verschenkte Geld, spendete Freude und Ehre. Die bestehenden Herrschaftsverhältnisse wurden bei allen Arten von Versammlungen, politischen Ereignissen und symbolischen Kommunikationsakten sichtbar, besonders bei Eides- und Geschenkleistungen, Bittstellungen, Unterwerfungshandlungen, Gastmählern und Friedensschlüssen. Im Rahmen dieser okkasionellen Teilöffentlichkeiten wurde der relationale Status der Beteiligten in Szene gesetzt: Überordnung, Unterordnung, genossenschaftliche Gleichrangigkeit (amicitia), Gemeinschaft, Feindschaft, Distanz, Bündnis, Freundschaft und Verbrüderung.91
86 Airlie, Charlemagne and the Aristocracy, S. 91–94. 87 Ebd., S. 94–97; Laudage/Hageneier/Leiverkus, Die Zeit der Karolinger, S. 155–157; Ohler, Reisen im Mittelalter, S. 218–220; Epperlein, Karl der Große, S. 87–90; Fleckenstein, Missus, missaticum, Sp. 679f. 88 Airlie, Charlemagne and the Aristocracy, S. 98–101; Kammler, Die Feudalmonarchien, S. 107–109; Boshof, Ludwig der Fromme, S. 198–210. 89 Zit. Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, S. 15. 90 Zur Reziprozität der Treue Buschmann/Murr, ‚Treue ދals Forschungskonzept, S. 20–22. 91 Althoff, Amicitiae und pacta; ders., Herrschaftsausübung durch symbolisches Handeln; ders., Die Macht der Rituale; ders., Der Inszenierungscharakter öffentlicher Kommunikation im Mittelalter; ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter; ders., Empörung, Tränen, Zerknirschung; ders., Das Privileg der ‚Deditio ;ދders., Der König weint; ders., Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahles; ders., Verwandte, Freunde und Getreue, S. 86–119, 182–211; Blockmans, Showings Status; Epp, Rituale frühmittelalterlicher ‚amicitia ;ދdies., Amicitia; Becher, Cum lacrimis et gemitu; Koziol, Begging Pardon and Favor; Leyser, Zeremonie und Gestik; Hack, Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst-Herrscher-Treffen; Schmidt-Wiegand, Gebärdensprache im mittelalterlichen Recht; dies., Mit Hand und Mund.
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Trotz allem Kaiserglanz war Karl der Große in erster Linie Oberhaupt seiner Sippe, des Hofes, der Reichsverwaltung, des Heeres und der Gerichtsbarkeit. Er verfügte über das machtvolle Rechtsinstrument des Königsbanns.92 Die karolingische Heiratspolitik erzeugte neue verwandtschaftliche Bindungen. Die Wahrung fränkischer Herrschaftstraditionen wie die Befragung und Einholung der Zustimmung der geistlichen und weltlichen Großen, der Heerführer, der Mitglieder der Reichsverwaltung und der gelehrten Persönlichkeiten des Hofes auf den Reichsversammlungen sollte Vertrauen schaffen und Eintracht demonstrieren.93 Dies war bitter notwendig, denn dem Herrscher standen die Familienmitglieder und übrigen Angehörigen der fränkischen Adelsgesellschaft mit ihren partikularen Machtinteressen faktisch gegenüber, anders gesagt, die monokratische Königsgewalt dem „ދgenossenschaftliche[n] ދWille[n]“94 der adligen Großen. Blutsverwandtschaft bildete zwar in der Karolingerzeit eine wichtige Grundlage sozialer Bindung in Form von Fehde- und Rachegemeinschaften oder Nepotismus, war aber kein Hindernisgrund, gegen den König zu rebellieren. Dies zeigen zur Genüge die von Pippin dem Buckligen 792 angeführte Adelsverschwörung gegen seinen Vater Karl und der Aufstand Bernhards von Italien gegen seinen Onkel Ludwig den Frommen 817.95 Korruption, brutale Gewalt, Zwang, Widerspruch und Racheakte gehörten zum sozialen Umgang innerhalb dieser Kriegergesellschaft, die sich mit Klostereinschließungen, politischen Prozessen und Blendungen statt Hinrichtungen zu zivilisieren versuchte.96 Nicht wenige Krisen, Verschwörungen und Aufstände stellten Karls Königsherrschaft auf die Probe. Die persönliche wie auch durch Stellvertreter gewährleistete Kontrolle des Reiches, die bisweilen in Schauprozesse ausartende Rechtsprechung gegen Aufrührer, die Eindämmung oppositioneller Personen oder Gruppen durch Entmachtung, Großzügigkeit, neue Koalitionen, die brutale Niederschlagung von Aufständen und das Bemühen um Rechtskodifizierung und Nachfolgeordnung gehörten zu den vielseitigen herrschaftssichernden Maßnahmen Karls des Großen.97 Vereinzelt kam es bereits in der Karolingerzeit zu Widerstandsleistungen von Freien (liberi homines) und Unfreien (servi) gegen die Bedrückungen der Feudalherren und Königsbeamten: zur Verweigerung von 92 Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 139–145. 93 Laudage/Hageneier/Leiverkus, Die Zeit der Karolinger, S. 163–166; Riché, Die Karolinger, S. 158–160, 172f. 94 Zit. Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 235. 95 Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 136f., 232–234, 275; Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue, S. 31–84, 121f. 96 Vgl. dazu die Beiträge in Das Mittelalter. Perspektiven Mediävistischer Forschung 12 (2007), Heft 1, insbesondere Hehl, Terror als Herrschaftsmittel. Die brutalen Machtkämpfe in der frühmittelalterlichen Gesellschaft des Frankenreiches werden anschaulich beschrieben von Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 145–148, 221f.; Heer, Karl der Grosse und seine Welt, S. 21–34; Busch, Vom Attentat zur Haft. 97 McKitterick, Karl der Grosse, S. 233f.; Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium; Brunner, Oppositionelle Gruppen, S. 40–95; Krah, Absetzungsverfahren als Spiegelbild von Königsmacht, S. 7–40; Becher, Karl der Grosse, S. 45ff., 89ff., 107ff.; Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 235f.
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Zehntabgaben, Flucht, Bildung bäuerlicher Schwurbünde und Erhebungen. All dies mochte zwar die materielle Machtbasis des fränkischen Adels gefährden, Karls Herrschaft aber erschütterte es keineswegs. Immerhin gab die Zunahme der Revolten dem König Anlass zu Reformen.98 Die Gefolgsleute Karls – Familienmitglieder, Heerführer, weltliche und geistliche Fürsten, Verwaltungsfachleute und Gelehrte – hatten sich gegenüber dem Herrscher als loyale Unterstützer zu positionieren, um weiter agieren zu können. Konkurrenten, die mit Gewalt oder Intrigen zur Herrschaft gelangen wollten, wurden entfernt, Unterstützer mit Teilhabe an der Herrschaft belohnt. Auf diese Weise entstanden im schwer regierbaren karolingischen Riesenreich, wie schon in merowingischer Zeit, Teilreiche und Unterherrschaften, welche die Oberherrschaft Karls anerkennen mussten und streng überwacht wurden.99 Die bestehende Herrschaftskonkurrenz zwischen König und Adel wurde durch die Konsensformel verschleiert, die, an normative Vorstellungen der Merowingerzeit anknüpfend100, ein Mitspracherecht des Adels an der Herrschaft formulierte und zur „Mitarbeit am zentralen karolingischen Königsstaat“101 aufforderte. Der Konsens sollte die Spitzenstellung des Königs durch die Integration des Adels sicherstellen, stellte aber gleichzeitig ein Instrument des Adels dar, „seine Mitherrschafts- und Mitspracheansprüche durchzusetzen.“102 Der consensus fidelium war „keine inhaltsleere Rhetorik“103, sondern integraler Bestandteil karolingischer Herrschaftsideologie. Wie sehr der Frankenkaiser dem Konsensgebot misstraute, wird allerdings daran deutlich, dass er 802 alle Bewohner des Reiches einen Huldigungs- bzw. Treueid auf den Kaisertitel (nomen Caesaris) schwören ließ, der den bei seiner Königserhebung geleisteten erneuerte – ein als Inpflichtnahme, Unterwerfung oder gar Verknechtung (subiectio) verstandener symbolischer Akt, mit dem er sich zur rechtlichen Stabilisierung seiner Herrschaft der Loyalität der Beherrschten versichern wollte. 806 folgte ein Eid auf die Nachfolgeordnung der Divisio regnorum.104 Die von Karl dem Großen initiierten, als Mäzen geförderten und womöglich inhaltlich mitgestalteten Reformen in den Bereichen Kirche, Bildung und Wirtschaft, die auch unter dem Begriff karolingische Renaissance zusammengefasst
98 Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium, S. 20ff., 69ff.; ders., Karl der Große, S. 99–108; Müller-Mertens, Karl der Große, Ludwig der Fromme und die Freien. 99 Riché, Die Karolinger, S. 166–169; Schneider, Das Frankenreich, S. 50–56. 100 Hannig, Consensus Fidelium, S. 26–93. 101 Zit. Ebd., S. 300. 102 Zit. Ebd., S. 300. Vgl. Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 237; Althoff, Colloquium familiare; ders., Verwandte, Freunde und Getreue, S. 13–17; Apsner, Vertrag und Konsens im früheren Mittelalter. 103 Zit. Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft, S. 69. 104 McKitterick, Karl der Grosse, S. 235–237; Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 110–138; Becher, Karl der Grosse, S. 89–91; ders., Huldigung; ders., Die subiectio principum; Schieffer, Karl der Große, S. 249; ders., Die Zeit des karolingischen Großreichs, S. 115f.; Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich, S. 57; Epperlein, Karl der Große, S. 90–92.
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werden105, vergrößerten noch zu Lebzeiten seinen Ruhm.106 Nicht nur im Sinne eines von Walter Ullmann diagnostizierten „ekklesiologischen Umbaus der fränkischen Gesellschaft“107 trugen sie zur Stabilisierung seiner Herrschaft bei.108 Die Zusammenführung von Gelehrten aus vielerlei Ländern und damit reichhaltigsten Wissens am fränkischen Hof lieferten dem König eine Handlungs- und Deutungskompetenz, die ihn adligen Konkurrenten überlegen machte. Insofern war auch für Karl den Großen Wissen zugleich Macht.109 Die kulturelle Blüte veränderte die Gestalt der Königsherrschaft. Intensiv dachten die Gelehrten in der Entourage des Frankenkaisers über den idealen, der Weisheit verpflichteten Herrscher nach, und sie kommunizierten darüber untereinander und mit ihrem Herrscher. Nikolaus Staubach zufolge wurde „mit dem Reformwerk [...] zugleich auch eine Neuakzentuierung des frühmittelalterlichen Herrscherethos kirchlich-patristischer Prägung eingeleitet“.110
Karl der Große legte großen Wert auf sein Ansehen als rex religiosus und Friedensbewahrer.111 Die an der Erlangung des Seelenheils und politischer Ziele orientierte, sendungsbewusste Religiosität in Gestalt von Sachsenmission, Klosterund Kirchengründungen, kirchlichen Schenkungen und Privilegien formte in den Augen der Zeitgenossen das Bild des christlichen Herrschers und begründete den Mythos des Apostelkaisers.112 Bereits vor 779 überhöhte die Vita des fränkischen Abtes Sturmi Karl als den allerchristlichsten (christianissimus) König und Bekehrer der Sachsen.113 In großer Zahl erwarb er Reliquien, was darin begründet lag, dass man diesen eine den Sakramenten ähnliche Kraft zusprach. Reliquien ermöglichten die Vergegenwärtigung des Heiligen auf Erden und bewirkten Wunder.114 Die mit dem Reliquienkult verbundene Heiligenverehrung besaß eine magischreligiöse und zugleich eine politische Funktion.115 Für einen frühmittelalterlichen König wie Karl bedeutete eine in die Herrscherkrone eingefügte Reliquie Macht durch die Inbesitznahme magischer Kräfte, nicht zuletzt Schutz vor bösen Geis105 Laudage/Hageneier/Leiverkus, Die Zeit der Karolinger, S. 116–128; Jansen/Pohle, Die Künste am Hofe Karls des Großen; Dodds/Shaffer, Die karolingische Renaissance. 106 Ganz, Einhard’s Charlemagne. 107 Zit. Ullmann, The Carolingian Renaissance and the idea of Kingship, S. 33, Übers. W.T. 108 Ebd., bes. S. 21ff., 43ff. und dazu kritisch und mit Betonung der traditionalen Herrschaftsinstrumente Karls des Großen Nelson, Politics and Ritual in Early Medieval Europe, S. 49–67. 109 Kintzinger, Wissen wird Macht, bes. S. 25–37. 110 Zit. Staubach, Rex Christianus 2, S. 11f. Vgl. ders., Quasi semper in publico. 111 Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 322ff.; Rüngeler, Das Bild Karls des Großen in der zeitgenössischen Annalistik und in der Gedichts- und Briefliteratur, S. 14–25. 112 Schneider, Karl der Große – politisches Sendungsbewusstsein und Mission; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 647. Zu Mission, Stiftungen und Kirchengründungen: Büttner, Mission; Prinz, Schenkungen und Privilegien Karls des Grossen; Rüngeler, Das Bild Karls des Großen in der zeitgenössischen Annalistik und in der Gedichts- und Briefliteratur, S. 16– 21. 113 Schütte, Karl der Große in der Geschichtsschreibung des hohen Mittelalters, S. 226. 114 McKitterick, Karl der Grosse, S. 281–292. 115 Goetz, Moderne Mediävistik, S. 218–224; Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 149–166; Legner, Reliquien in Kunst und Kult.
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tern, das Siegel der göttlichen Erwählung und die Verwandlung in einen neuen Menschen: den Stellvertreter Gottes auf Erden.116 Der Herrscher als gottesfürchtiger Reliquiensammler und frommer Stifter erwarb in der christlichen Gesellschaft des Mittelalters erhebliches Prestige. Die bedeutendsten Reliquienerwerbungen gelangen Karl dem Großen in den Jahren vor der Kaiserkrönung: die Schlüssel des Petrusgrabes (795/96), Reliquien vom Heiligen Grab in Jerusalem (799), Stephanus-Reliquien (799), die Schlüssel des Heiligen Grabes, des Kalvarienberges sowie des Berges Sion und eine Fahne der Stadt Jerusalem (800).117 Während die Beschaffung der Petrusreliquie Karls besonderer Devotion für diesen Heiligen geschuldet war, stellte Jerusalem den geographischen und spirituellen Nabel der mittelalterlichen Welt dar, weshalb Reliquien von dort für den christlichen Kaiser besonders wertvoll sein mussten.118 802 überließ ihm der Kalif Harnjn al-RaschƯd die Verfügungsgewalt über das Heilige Grab, was sein Ansehen in der westlichen Christenheit noch weiter steigerte.119 Karl der Große war nun im Besitz der wichtigsten religiösen Symbole und Stätten der Christenheit. Das Königtum Karls des Großen erscheint nach dem Gesagten als eine Kombination aus charismatischer, traditionaler und legaler Herrschaft. Vieles deutet auf Bemühungen Karls des Großen hin, seine schon bei der Thronerhebung fast ausschließlich charismatisch begründete Königsherrschaft durch immer neuen Erwerb von Prestige und Ruhm, Traditionsbildung, machtpolitische und rechtliche Absicherung zu verstetigen.120 Im Anschluss an den Soziologen Heinrich Popitz bezeichnete Gerd Althoff „jenes Prestige [...], das Gehorsam und Gefolgschaft aus den unterschiedlichsten Gründen erreicht, sei es durch eine übernatürlich-sakrale Legitimierung, sei es durch die Attraktivität der Belohnungen“121
als autoritative Macht. Eine solche bildete die Voraussetzung für die dauerhafte Anerkennung Karls des Großen als Herrscher. Durch die energische Lenkung des Reiches, militärische Erfolge, Gesetzgebung, Reformen und die Förderung von Religion, Kunst, Bildung und Wissenschaft erwies Karl seine zur Führung des Königsamtes nötige Autorität, so lange er stark war und eine glückliche Hand bewies.122 Nimmt das Eigencharisma, etwa im Alter, ab und misslingen die zu dessen Kompensation angestellten Maßnahmen, gerät die zur Labilität tendieren116 Kohl, Die Macht der Dinge, bes. S. 31–68; Schnith, Krönung, Sp. 1548. 117 Hägermann, Karl der Große, S. 72–74, 101; ders., Herrscher des Abendlandes, S. 422f.; Schiffers, Der Reliquienschatz Karls des Großen, S. 7–37. 118 Krüger, Die Grabeskirche zu Jerusalem; ders., Die loca sancta in Jersualem zur Zeit Karls des Großen; Bonnery/Hidrio/Mentré, Jerusalem, S. 171–189;. 119 Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 422f.; Becher, Karl der Grosse, S. 88; Krüger, Die Grabeskirche zu Jerusalem, S. 76; Bonnery/Hidrio/Mentré, Jerusalem, S. 46f. 120 Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 205f.; dazu Weber, Erhaltung des Charisma, S. 558ff.; Hanke/Mommsen, Max Webers Herrschaftssoziologie, Einleitung, S. 4; Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 39–67. 121 Zit. Althoff, Macht der Rituale, S. 10. 122 Becher, Karl der Grosse, S. 91–107; Braunfels/Schramm, Karl der Große 1–2; Imhof/Winterer, Karl der Große, bes. S. 78–116.
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de charismatische Herrschaft ins Wanken. Das Ende der charismatischen Bindung des Adels an den König würde erklären, warum der mühsam bewahrte Grundkonsens in der fränkischen Führungsschicht nach dem Tode Karls des Großen so schnell zerbrach.123 Zu einer solchen Einschätzung würde auch die Dekompositionsthese von François Louis Ganshof, d.h. einer fortschreitenden Auflösung des Karolingerreiches im letzten Stadium von Karls Herrschaft passen, die auch von seiner „Verwaltungsmanie“124 nicht aufgehalten werden konnte. 2.3 DIE REPRÄSENTATION DES CHARISMATISCHEN FRANKENKAISERS IN AACHEN 2.3.1 Aachen als Herrschaftszentrum des fränkischen Reiches 2.3 Repräsentation des charismatischen Frankenkaisers Die Königsherrschaft Karls des Großen, deren Grundlagen und charakteristische Züge im vorigen Kapitel dargestellt wurden, findet sich im lokalen Raum Aachens widergespiegelt. Aachen war zwischen 800 und 830/40 das Zentrum des fränkischen Großreiches, wobei zu beachten ist, dass dem Frühmittelalter der Gedanke an eine hauptstadtähnliche Residenz fremd blieb.125 Das politische Gravitäts-, Herrschafts- und Kommunikationszentrum des Reiches war der jeweilige Aufenthaltsort des Königs und seines Hofes. Noch mehr war dies der ständige: Aachen.126 Bereits in der Regierungszeit von Karls Vater Pippin, mit dessen Aufenthalt zwischen Weihnachten 765 und Ostern 766 das mittelalterliche Aachen erstmals in den Quellen erscheint127, bestanden hier eine königliche villa, die den Verwaltungsmittelpunkt einer Domäne bildete, ein vicus und ein kleines palatium, das für Überwinterungen genutzt wurde. Die abhängigen, überwiegend unfreien Bediensteten des Fiskalbezirkes, die Bewohner der Kaufmanns- und Handwerkersiedlung neben der Pfalz und die verschiedenen Gruppen des Hofes, Adlige, Geistliche, Freie, Beamte, Hof- und Kammerdiener, Vasallen, Pfalzgrafen, Aufseher und Soldaten, hielten sich hier mehr oder weniger nah in der Umgebung des Königs auf.128 Anfangs war Aachen nur eine Pfalz von vielen. Der König war 123 Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 408–418; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 79ff., 97ff., 147ff., 155ff., 200ff., 211ff., 233ff., 321ff., 484ff., 552ff., 677–682; Becher, Karl der Grosse, S. 89ff.; Ehlers, Die Entstehung des deutschen Reiches, S. 73f. 124 Zit. McCormick, Um 808, S. 62. Vgl. Ganshof, Charlemagne; ders., La fin du règne de Charlemagne; ders., The Carolingians and the Frankish Monarchy, S. 240–260; Schieffer, Die Krise des karolingischen Imperiums; Anton, Karl der Große, die Karolinger und Europa, S. 25, der die von Karl auf den Weg gebrachten und im Reichskirchensystem Ludwigs des Frommen abgeschlossenen Reformen als Gegenargument zu Ganshof anführt. Vgl. auch die Analyse von Kammler, Die Feudalmonarchien, S. 126–137. 125 Schieffer, Reisekönigtum, S. 25–28; Epperlein, Karl der Gosse, S. 126f.; ders., Leben am Hofe Karls des Großen, S. 12f. 126 Airlie, The Palace of Memory; McKitterick, Karl der Grosse, S. 193–233; Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 371ff. 127 Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 52. 128 Keller, Die Pfalz Karls des Grossen in Aachen; Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen; Fle-
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eher selten zu Gast. Wohl seit den 780er Jahren ließ Karl Neubauten in seiner Aachener Pfalz errichten: Wohn- und Verwaltungsgebäude, Speicher und Ställe. Wegen der heißen, bereits in römischer Zeit genutzten Bäder129 erschien der Ort dem rheumageplagten Karl für Überwinterungen besonders geeignet. Seit 794/95 war er seine bevorzugte Winterpfalz und lief damit Herstal an der Maas den führenden Rang bei den Herrscheraufenthalten in der Region ab.130 Aachen übertraf zwar die älteren fränkischen Pfalzen an Ausdehnung und Pracht, möglicherweise noch imposanter sollte jedoch die von Karl begonnene, aber nicht mehr vollendete Pfalz Ingelheim werden.131 Der Frankenkönig feierte nun mehrfach das Weihnachts- und das Osterfest in Aachen, empfing Gesandtschaften und verfügte eine Vielzahl von Kapitularien.132 Seit 800 fanden hier mehrere Synoden und Reichstage statt.133 Aachen galt bereits in dieser Zeit als heilige Pfalz oder öffentliche Pfalz134. Ab 806 wurde Aachen dann Karls ständige sedes, eine Bezeichnung, die den Vorrang dieses Herrschaftssitzes gegenüber anderen Orten ausdrückte.135 Die
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ckenstein, Karl der Große und sein Hof; ders., Die Struktur des Hofes Karls des Großen; Flach, Untersuchungen zur Verfassung und Verwaltung des Aachener Reichsgutes, S. 55; Falkenstein/Nolden, Von der königlichen villa zur Stadtgemeinde Aachen, S. 950f.; Falkenstein, Charlemagne et Aix-la-Chapelle; Werner, Aachen – Aix-la-Chapelle, S. 30–32; Müller, Karolingisches Aachen, S. 224; Mann, Vicus Aquensis. Vgl. aus der älteren Literatur Kaemmerer, Die Aachener Pfalz Karls des Großen; Hugot, Die Pfalz Karls des Großen in Aachen; Schlesinger, Beobachtungen. Murken, Zur Heilung und zum Vergnügen; Epperlein, Leben am Hofe Karls des Großen, S. 13f. Vgl. Strauch, Römische Fundstellen in Aachen, bes. S. 27–38. Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 136f., 145; Müller, Von der Winterpfalz zur Residenz. Jacobsen, Pfalzenkonzeptionen; Imhof/Winterer, Karl der Große, S. 124–236; Lachenal/Weise, Ingelheim am Rhein; Grewe, Der Neubeginn archäologischer Ausgrabungen in der Königspfalz Ingelheim; ders., Die Königspfalz zu Ingelheim am Rhein; Falkenstein, Karl der Große und die Entstehung des Aachener Marienstiftes, S. 109 und Anm. 338; Schütte, Überlegungen; Hägermann, Karl der Große, S. 101f., 131f.; Luchterhandt, Päpstlicher Palastbau, S. 121. Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 144ff.; Capitularia Regum Francorum (ed. Boretius), S. 105ff. Vgl. Mordek, Kapitularien. Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 161ff.; Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 16–23; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 21–24. Der Diakon Fredegis redet um 800 in einem Brief den Palastadel als in sacro eius palatio consistentibus an. Vgl. Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 44f. Für die Bezeichnung in Aquis palatio publico vgl. zwei frühe Diplome Karls des Großen von 768, zit. bei Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 134 und Anm. 8 sowie die Admonitio generalis von 789, in: Capitularia Regum Francorum (ed. Boretius), Nr. 22, S. 52–62; Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 48f. Gussone, Ritus, S. 35f. Erstmals als sedes wird die Pfalz Aachen zum Jahre 798 in der Chronik von Moissac bezeichnet, vgl. Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 144 und Anm. 60. Eine Nennung Aachens als „königlicher Sitz“ (sedes regia) begegnet erst kurz nach dem Tode Karls des Großen, und zwar wiederum in der Chronik von Moissac zum Jahre 817. Vgl. Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 54f. Zur sedes Aachen in der Zeit Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und Lothars I. Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 136f.
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Ordnung und hierarchische Trennung im Zusammenleben von mehreren hundert Menschen in Aachen, von den hohen Adligen und Geistlichen bis zu Hilfsarbeitern, Armen, Bettlern, Straffälligen und Dirnen, wurde durch harte Hand des Königs gewährleistet.136 Hofleben und Reichsversammlungen erforderten den weiteren Ausbau der Pfalzanlage, an der noch unter Ludwig dem Frommen gearbeitet wurde. Technisch besonders aufwändig waren die großen Steinbauten, da in fränkischer Zeit Gebäude und Palisaden gewöhnlich aus Holz errichtet wurden. Sie werden nicht allein von einfachen, wenig gereisten Leuten als Monumente der überragenden Machtfülle und Wehrhaftigkeit des Königs bestaunt worden sein und können als sichtbares Zeugnis der Bemühungen Karls angesehen werden, seine charismatische Königsherrschaft zu repräsentieren und zu verstetigen.137 Die Großbauten der Pfalz ließen Aachen dem Geschichtsschreiber Nithard noch um 842, also im Rückblick, als „vornehmste Residenz des fränkischen Kernlandes“ (sedes prima Frantiae)138 erscheinen. Sie lassen die Suche Karls nach traditionaler Legitimation und charismatischer Aufwertung erkennen. Die von Karl 801 angeordnete Überführung einer Reiterstatue Theoderichs des Großen aus Ravenna und deren Aufstellung in der Pfalz wurde als Anknüpfung an die germanische Tradition und Abwendung von der römischen Ausrichtung seines Kaisertums gedeutet.139 Großes Aufsehen erregte sicherlich das Tiergehege der Pfalz. In diesem war der Karl vom Kalifen Harnjn al-RaschƯd geschenkte weiße Elefant, Abul Abaz, untergebracht, der als lebendes Symbol die in den fernsten Gegenden der Welt anerkannte Macht, Ehre und Friedensbereitschaft des Kaisers vor aller Augen erwies.140 Als ein technisches Wunderwerk galt die Wasseruhr, die der Kalif ebenfalls nach Aachen sandte.141 Noch die Dichter der Zeit Ludwigs des Frommen, Ermoldus Nigellus und Walahfried Strabo, rühmten die einem Vorbild am byzantinischen Hof nachempfundene Orgel in der Pfalz zu Aachen als Symbol der Gleichrangigkeit, wenn nicht Überlegenheit der Franken gegenüber den By136 Erst um 820 erließ Ludwig der Fromme das Capitulare de disciplina palatii Aquisgranensis, in: Capitularia Regum Francorum (ed. Boretius), Nr. 146, S. 297f.; Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 25ff. Dazu Mann, Vicus Aquensis, S. 8f. 137 Jacobsen, Herrschaftliches Bauen. 138 Lat. Zit. Nithard, Vier Bücher Geschichten IIII, 1 (ed. Rau), S. 446. Zit. Übers. Müller, Karolingisches Aachen, S. 225. Vgl. Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 6 und Anm. 21 und Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 137, Anm. 23. 139 Falkenstein, Charlemagne et Aix-la-Chapelle, S. 247f.; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 60– 62; Die Aachener Theoderich-Statue; Smolak, Bescheidene Panegyrik und diskrete Werbung; Hohmeyer, Zu Walahfrieds Strabos Gedicht über das Aachener Theoderich-Denkmal; Thürlemann, Die Bedeutung der Aachener Theoderich-Statue für Karl den Großen; Schnitzler, Die sogenannte Aachener Theoderichstatue; Schrade, Zum Kuppelmosaik und zum TheoderichDenkmal in Aachen; Bock, Die Reiterstatue des Ostengothenkönigs Theoderich vor dem Pallaste Karl d. Gr. zu Aachen. 140 Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 174; McKitterick, Karl der Grosse, S. 249f.; Fletcher, Ein Elefant für Karl den Großen, S. 39–74; Epperlein, Leben am Hofe Karls des Großen, S. 102– 104; Heuschkel, Zum Aachener Tiergehege zur Zeit Karls des Grossen; Altmann, Die Reise des Isaak und die politische Situation um 800. 141 Alertz, Das Horologium des Harnjn al-RaschƯd für Karl den Großen.
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zantinern.142 Trotz der schmeichelhaften Bezeichnungen in der karolingischen Dichtung ist unübersehbar, dass die Förderung Aachens abbrach. Die frühe Blütezeit Aachens war auf einen Zeitraum von wenigen Jahrzehnten begrenzt und an die Interessen und Vorlieben Karls des Großen und Ludwigs des Frommen gebunden.143 Auf der Basis der Quellen- und Forschungslage können nur wenige und vorläufige Aussagen über das genaue Aussehen der beiden zentralen Bauwerke der Aachener Pfalz gemacht werden. Das bedeutendste profane Bauwerk des karolingischen Aachen war die gewaltige, eingeschossige Königshalle144, erhalten im Fundament und Mauerwerk des späteren Rathauses. Sie war auf einem Hügel, dem höchsten Punkt der Anlage, errichtet und entsprach spätantiken Vorbildern. In ihrer Größe von fast 50 Metern Länge und über 20 Metern Höhe muss sie beeindruckend gewirkt haben. Sie barg in ihrem Innern, wahrscheinlich in der westlichen Apsis oder auf der Längsseite gegenüber dem Eingang, einen Thron, von dem aus Karl Gesandtschaften empfing und Versammlungen abhielt.145 Der größte und nachhaltigste Wurf gelang Karl dem Großen auf dem Feld des Sakralbaus. Die Aachener Marienkirche war das weithin bekannteste Bauwerk, das zu Lebzeiten Karls begonnen und noch vollendet wurde. Wahrscheinlich waren die Arbeiten am Rohbau der Aachener Marienkirche bereits um 798, also noch vor der Kaiserkrönung, nahezu abgeschlossen, doch kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie erst unter Karls Sohn Ludwig vollendet wurde.146 Einhart hob in der Vita Karoli ausdrücklich die „auf bewundernswerte Art und Weise erbaute Kirche der heiligen Mutter Gottes in Aachen“ (basilica sanctae Dei genetricis Aquisgrani opere mirabili constructa)147, die in das Bauensemble der Pfalz integrierte Pfarr- und Stiftskirche, als herausragendes Beispiel für die Leistungen des karolingischen Zeitalters hervor.148 Die auf achteckigem Grundriss erbaute Kirche ließ Karl im Inneren mit Spolien aus Rom, Ravenna und Trier ausstatten.149 Ihre Architektur lehnte sich an ostgotische oder byzantinische Vorbilder an. St. Vitale in Ravenna und SS. Sergios und Bacchos in Konstantinopel stehen im Fokus der Forschung, denkbar ist aber auch ein Zusammenhang mit dem Felsendom in Jerusalem.150 Das Bauwerk wurde mit prächtigen und wertvollen Goldund Silberornamenten, Leuchtern, Bronzegittern und -türen ausgestattet. Mögli142 Hack, Codex Carolinus, S. 700f. 143 Müller, Karolingisches Aachen, S. 224–226; Falkenstein, Karl der Große und die Entstehung des Aachener Marienstiftes, S. 109, Anm. 338; ders., Otto III. und Aachen, S. 2–17. Zur Rolle Aachens von Lothar I. bis in die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts hinein ders., Pfalz und vicus Aachen, S. 137–139. 144 Binding, Aula. 145 Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 146–150; Maas/Siebigs, Der Aachener Dom, S. 13f. 146 Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 177f. 147 Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 17, S. 34–37. 148 Hägermann, Karl der Große, S. 128–131; Falkenstein, Karl der Große und die Entstehung des Aachener Marienstiftes, S. 109. 149 Lennartz, Säulen im Aachener Dom. 150 Michel, Vorbildkirchen der Aachener Marienkirche; Bandmann, Die Vorbilder der Aachener Pfalzkapelle.
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cherweise zierte noch zu Lebzeiten Karls eine mosaizierte Maiestas Domini das Kuppelinnere.151 Der mächtige Kirchenbau, der vom Stiftskapitel praktizierte feierliche Gottesdienst und die großzügigen Schenkungen an die Kirche erwiesen Karl als frommen Unterstützer der christlichen Religion. Karl verlieh damit seiner persönlichen Religiosität Ausdruck und folgte theologischen und spirituellen Vorstellungen seiner Zeit.152 Das Stiftskapitel sollte das persönliche Gedächtnis an den großen Herrscher mit Gebeten für dessen Seelenheil bewahren. Die großzügige Ausstattung der Kirche deutet nach Auffassung von Ludwig Falkenstein auf die geplante Errichtung eines Reichsheiligtums hin.153 Wenn die neueren archäologischen Befunde des Kölner Archäologen Sven Schütte zutreffen, wurde der Thron im oberen Umgang des Oktogons bereits um 800 aufgestellt. Er dürfte den Charakter einer Christus-Reliquie besessen haben, sofern er tatsächlich, wie Schütte behauptet, aus Marmor vom Heiligen Grab in Jerusalem, dem wichtigsten Heiligtum der Christenheit, gefertigt wurde.154 Angesichts der weitgehenden Fertigstellung des Gotteshauses noch vor der Kaiserkrönung dürfte im Aachener Kirchenbau kein „imperiales Repräsentationsprogramm“155 Karls des Großen vorliegen, wie früher vermutet wurde. Der Aachener Hof entwickelte sich nach 800 zum Repräsentations- und Kommunikationszentrum des fränkischen Reiches. Er war Ziel und Ausgangspunkt historiographischer Werke, panegyrischer Vortrags- und Zirkulardichtung156, von Traktaten und Briefen mit theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Abhandlungen überragender Gelehrter wie Alcuin, Petrus von Pisa, Paulus Diaconus, Theodulf von Orléans und Angilbert. Besonders mächtig waren die Mitglieder der Hofkapelle, der führenden Geistlichen (Kapelläne), in deren Händen der Gottesdienst des Herrschers und die Verwaltung des Riesenreiches lagen.157 Die Kommunikationsstrukturen des Verwaltungs- und Literaturbetriebs am karolingischen Hof ermöglichten räumliche Nähe zum Herrscher, die Gewinnung von dessen Gunst und Vertrauen sowie Einfluss durch die Zugehörigkeit zur ausgewählten Umgebung des Herrschers. Entsprechend groß waren die 151 So die Annahme von Euw, Karl der Große als Schüler Alkuins. Vgl. für die Gestalt der Kirche im 9. Jahrhundert die bei Kerner, Der Aachener Dom als Ort geschichtlicher Erinnerung, S. 11–217, versammelten Beiträge; Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 169–178; Maas/Siebigs, Der Aachener Dom, S. 11ff. 152 Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 26, S. 50f. 153 Falkenstein, Karl der Große und die Entstehung des Aachener Marienstiftes, S. 113–119. 154 Schütte, Aachener Thron, S. 218–220; ‚Wir müssen Otto I. den Thron wegnehmenދ, AN vom 12.4.2006; Beumann, Grab und Thron Karls des Großen zu Aachen. Eine überprüfbare wissenschaftliche Dokumentation Schüttes steht immer noch aus. 155 Zit. Müller, Karolingisches Aachen, S. 227. 156 Schaller, Vortrags- und Zirkulardichtung. 157 Schefers, Die Hofschule Karls des Grossen; Tremp/Schmuki/Flury, Karl der Große und seine Gelehrten; Garrison, The emergence of Carolingian Latin literature; Godman, Poets and Emperors, S. 38–92; Fleckenstein, Alcuin im Kreis der Hofgelehrten Karls des Grossen; ders., Karl der Grosse, S. 66–70; Ratkowitsch, Karl der Große in der lateinischen Dichtung; Epperlein, Leben am Hofe Karls des Großen, S. 25ff.; Lohrmann, Alcuins Korrespondenz mit Karl dem Großen.
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Rivalitäten am Hof.158 Theologen, Geschichtsschreiber und Hofdichter waren geschätzte Ratgeber und kulturelle Vermittler der Herrschaft Karls des Großen. Sie bildeten die das Königtum Karls intellektuell tragende Kerngruppe, besaßen die für die kommunikative Verbreitung der königlichen Herrschaftsauffassung relevante Deutungsmacht, verherrlichten die Person des Königs und vermehrten damit dessen Ruhm im Urteil der Zeitgenossen.159 Die maßgebliche Rolle, die das Alte Testament mit den biblischen Königen David und Salomon für das politische Denken und Handeln der Karolinger spielte, ging auf den gelehrten Hofkreis zurück.160 Von diesem Denken geprägt waren die Fürstenspiegel, die Herrschaftsethos und praktische Ausübung von Herrschaft in didaktischer Absicht behandelten.161 In der noch weitgehend durch orale Kommunikation geprägten frühmittelalterlichen Gesellschaft war Schriftlichkeit „ein wirksames Instrument der Macht“162. Auf Schriftverkehr beruhende Öffentlichkeiten existierten im frühen Mittelalter vorzugsweise an den Höfen, Kirchen und Klöstern.163 Das traditionelle Medium zur rechtlichen Durchsetzung von Herrschaft war seit der Spätantike die Herrscherurkunde, welche der Sicherung und Durchsetzung des Rechts und damit der königlichen Macht diente. Bereits in karolingischer Zeit dienten die Narrationes der Urkunden der Propagierung herrscherlichen Selbstverständnisses.164 Differenzierte Formen der Herrschaftskommunikation fanden in spätkarolingischer Zeit Eingang in Krönungsordines165 und kirchliche Bußordnungen.166 Schriftlichkeit als Machtfaktor bedeutet in der Zeit Karls des Großen die Kommunikation und Interaktion einer kleinen herrschenden Schicht von Schreib- und Lesekundigen, die einer Mehrheit von herrschenden Analphabeten kulturell überlegen war.167 Bei den Schreib- und Lesekundigen der Karolingerzeit handelte es sich vor allem um gebildete Geistliche und adlige Laien. Karl der Große hatte wohl bereits in seinen Jugendjahren eine erzieherische Grundbildung erhalten und konnte selbständig lesen und schreiben. Mit der Admonitio generalis von 789 initiierte er die karolingische Bildungsreform, durch Gespräche mit den Hofgelehrten pflegte er seine eigene, für die Herrschaftsausübung unabdingbare Bildung.168 Die karolin158 Schaller, Poetic Rivalries at the Court of Charlemagne. 159 Rüngeler, Das Bild Karls des Großen in der zeitgenössischen Annalistik und in der Gedichtsund Briefliteratur, bes. S. 28ff. 160 Werner, Gott, Herrscher und Historiograph, S. 92. 161 Anton, Fürstenspiegel und Herrscherethos, S. 45ff., 132ff. 162 Übersetzung W.T. nach McKitterick, The Uses of Literacy, Conclusion, S. 324: “a potent instrument of power”. Vgl. Goetz, Moderne Mediävistik, S. 341; Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 364–368. 163 Faulstich, Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter; ders., Mediengeschichte von den Anfängen bis 1700, S. 78. 164 Merta, Recht und Propaganda. 165 Nelson, The Carolingian Renaissance and the idea of kingship, S. 329–360. 166 Schreiner, Nudis pedibus, S. 66f. 167 Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 215f. 168 Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 640f., 645–647; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 32.
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gische Schriftlichkeit war noch stark von mündlicher Kommunikation von Angesicht zu Angesicht bei den Reichsversammlungen, bei persönlichen Audienzen oder den Besuchen von Gesandtschaften durchdrungen. Mündlichkeit wurde nun zunehmend von Schriftlichkeit ergänzt und umgekehrt.169 Die Mehrheit der Beherrschten partizipierte nicht an diesen kommunikativen Strukturen, sondern war auf eine räumlich begrenzte mündliche Informationskultur oder heute weitgehend verlorene Bilderwelten angewiesen. Sie war damit von den schriftlichen Formen des in der Karolingerzeit wiederbelebten gelehrten Herrschaftsdiskurses ausgeschlossen, während die herrschende Elite ihre Teilhabe an der Herrschaft über die Fähigkeit zum Schriftgebrauch definierte.170 Das elitäre Selbstverständnis der gelehrten Gefolgsleute Karls belegen die dem Frankenherrscher gewidmeten panegyrischen Gedichte. Die karolingischen Hofdichter betrachteten sich selbst als Exponenten einer Hochkultur. Sie deuteten Karls Herrschaft im sprachspielerischen Vergleich mit den Vorbildern der antiken Welt unter weitgehend wörtlicher Zuhilfenahme römischer Literatur. Dies zeigt das kurz nach 800 wohl im Umfeld des Aachener Hofes geschriebene Karlsepos.171 In seinem ersten Teil enthält es ein umfängliches Herrscherlob Karls des Großen als einen dem Aeneas gleichen Helden (alter Aeneas), „überragenden Leuchtturm Europas“ (Europae [...] celsa pharus), „Vater Europas“ (pater Europae) und „Haupt der Welt“ (caput orbis). In einem metaphorischen Vergleich des mit seinem Hofnamen David bezeichneten Karl mit der Sonne erscheint dieser als vorbildlicher christlicher, weiser, gerechter und friedliebender Herrscher. Im zweiten Teil der Dichtung findet sich eine Art Stadtbeschreibung, die, freilich ohne explizite Nennung Aachens, weitestgehend den Worten entspricht, die Vergil in seiner Äneis für die Erbauung Karthagos gefunden hat: die Beschreibung einer antiken Weltstadt mit mächtigen Gebäuden, hohen Kuppelhallen, Forum, Senatsgebäuden, Burg- und Mauerbefestigung, Hafen, Theater, Badehaus und einem Tempel. Der überschwängliche Ruhm des „zweiten Rom[s]“ (Roma secunda), wiederholt in der Erwähnung einer „Stadtmauer des künftigen Roms“ (venturae moenia Romae)172, entsprach zwar nicht der überschaubaren Topographie der karolingischen Pfalzanlage und des winzigen vicus Aquensis, wohl aber dem Enthusiasmus am Hofe über das goldene Zeitalter, in dem man zu leben glaubte, und 169 Mersiowsky, Regierungspraxis und Schriftgebrauch, S. 127–145, 164f.; McKitterick, The Carolingians and the written word. Vgl. zur Wechselwirkung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit am Beispiel des mittelalterlichen Mönchtums die Beiträge in Kasper/Schreiner, Viva vox und ratio scripta. 170 Nelson, Kingship and empire; Goetz, Moderne Mediävistik, S. 352–360; Mersiowsky, Regierungspraxis und Schriftgebrauch, S. 114. 171 Zum aktuellen Forschungsstand Godman/Jarnut/Johanek, Am Vorabend der Kaiserkrönung; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 84–89, Brunhölzl, Über die Verse De Karolo Rege et Leone Papa; Hentze, De Karolo rege et Leone papa; Ratkowitsch, Karolus Magnus; Ratkowitsch, Karl der Große in der lateinischen Dichtung, S. 252. Vgl. auch die älteren Aufsätze von Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 375f.; Beumann, Das Paderborner Epos und die Kaiseridee Karls des Großen, S. 1ff. 172 Text und Übersetzung zit. nach Brunhölzl, Karolus Magnus et Leo papa, S. 60–97.
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nicht zuletzt über den alles überragenden Kaiser. Auch reflektierte die hymnische Lobpreisung offenbar die damalige Konkurrenzsituation des neuen okzidentalen Kaisertums Karls des Großen mit dem byzantinischen Kaiserhaus nach der Kaiserkrönung. Rückschlüsse auf weiterreichende imperiale Herrschaftsvorstellungen, wie die von Carl Erdmann konstruierte Aachener Kaiseridee173, oder auf Aachen gemünzte Hauptstadtkonzeptionen darf man vom Karlsepos nicht erwarten.174 Die karolingische Historiographie, insbesondere die Reichsannalen und ihre verschiedenen Fortsetzungen, ist ein die kollektiven Auffassungen der herrschenden Elite des Frankenreiches widerspiegelndes Instrument der Geschichtsdeutung und Herrschaftsdarstellung.175 In der Regel gingen Geschichtswerke aus der Entourage des Hofes, mitunter auch aus oppositionellen Kreisen innerhalb der fränkischen Führungsschicht hervor, während die von den Franken besiegten Stämme ebenso wie die Beherrschten kein Forum ihrer Erinnerungen vor der Geschichte fanden. So ist es keineswegs verwunderlich, dass diese parteiischen Texte etwa die Vorgänge bei der Nachfolge Karl Martells 741 verschleierten176, die Machtergreifung der Karolinger 751 legitimierten177, die Absetzung des Bayernherzogs Tassilo 788 verzerrten178, den Ablauf der römischen Kaiserkrönung Karls im fränkischen Sinne darstellten179, die Mitkaisererhebung Ludwigs 813 als juristisch vollgültige Kaiserkrönung interpretierten und eine von allen Franken einmütig begrüßte Nachfolge Ludwigs auf seinen Vater Karl behaupteten.180 Die zeitgenössischen Herrscherbilder Karls des Großen und seines Nachfolgers orientierten sich am Ideal des christlichen Herrschers und sparten nicht mit Herrscherlob. Sofern nicht gänzlich verfälschend, standen sie im Dienst von Herrschaftslegitimation und politischen Interessen.181 Eine gegenwarts- und interessenbezogene Idealdarstellung Karls des Großen vermittelte vor allem Einhart, dessen Vita Karoli, anders als immer wieder behauptet, kein historisch verlässliches Abbild des großen Karl liefert.182 Einharts
173 Erdmann, Die nichtrömische Kaiseridee. Vgl. zu Erdmanns wissenschaftlichem Konstrukt einer Aachener Kaiseridee kritisch Brühl, Deutschland – Frankreich, S. 527f. 174 Müller, Karolingisches Aachen, S. 228; Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, S. 179f. 175 McKitterick, The Illusion of Royal Power in the Carolingian Annals; dies., History and Memory in the Carolingian World, bes. S. 120–155; Innes/McKitterick, The writing of history; Goetz, Verschriftlichung von Geschichtskenntnissen; Nelson, Um 801, S. 46–49. 176 Becher, Eine verschleierte Krise. 177 Semmler, Zeitgeschichtsschreibung und Hofhistoriographie; Richter, Machtergreifung. 178 Becher, Eid und Herrschaft; ders., Zwischen Macht und Recht; Fried, Zum Prozeß gegen Tassilo; Schieffer, Ein politischer Prozeß des 8. Jahrhunderts; Kolmer, Tassilo überschrieben; Langen-Monheim, Tassilo III.; dies., Karl der Große und Tassilo III., bes. S. 120–125. 179 Nelson, Um 801, S. 46–49. 180 Siehe unten Kap. 2.3.2. 181 Nelsen-Minkenberg, David oder Salomon, S. 21f., 27, 31ff., 46ff., 62–70, 86. 182 Etwa die Biographie von Hägermann, Herrscher des Abendlandes; dazu die kritische Rezension von Johannes Fried in der FAZ vom 15.5.2000. Ferner Fried, Der Schleier der Erinnerung, S. 188; ders., Papst Leo III. besucht Karl den Großen in Paderborn; Ganz, Einhard’s
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Karls-Biographie ist ein ebenso durch Entstellungen wie durch authentische Wirklichkeitsbezüge gekennzeichneter manieristischer Text im Übergang zur Mythengeschichte, wenn auch keine pure Karlsfiktion. Der Autor formte darin „das Bild des idealen christlichen Herrschers“183, charakterisiert durch die Herrschertugenden Großmut (magnanimitas), Standhaftigkeit (constantia) und Geduld (patientia), welches er dem wankelmütigen und beeinflussbaren Sohn Ludwig zur Belehrung gegenüberstellte.184 Einhart, Poet, Verwalter, Chefarchitekt und Hauptvertreter charismatischer Herrschervorstellungen am karolingischen Hof im frühen 9. Jahrhundert185, transportierte den Ruhm Karls des Großen in die Nachwelt. Während der unruhigen Regierungszeit Ludwigs des Frommen186, in einer Zeit der langsamen Auflösung des Karolingerreiches, massiver Adelsopposition und Bruderkämpfe, war offensichtlich ein starkes Bedürfnis nach einer verklärten und idealisierten Herrscherfigur entstanden. Dabei ging es nicht in erster Linie um authentische Vergangenheitsdarstellung, sondern um die gegenwartsbezogene Vermittlung von Herrschaftsvorstellungen einer durch Einhart vertretenen Gruppe des fränkischen Hochadels. 2.3.2 Karl der Große und die Mitkaisererhebung Ludwigs des Frommen Für Karl stand nach der erfolgreichen Stabilisierung seiner Herrschaft die Fortführung der Dynastie im Vordergrund. Deshalb konzipierte er bereits vor der Divisio regnorum von 806 mehrere Nachfolgeordnungen, welche Karls Söhne unterhalb seiner uneingeschränkten monokratischen Herrschaftsgewalt zunächst zu Mitregenten (consortes regni) einsetzten und als Thronerben vorsahen.187 Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser in Aachen im September 813 kann mit Karls charismatischer Herrschaft in Verbindung gebracht werden. Im Folgenden soll an diesem Fallbeispiel die kommunikative Praxis karolingischer Herrschaft analysiert werden. Aus den Darstellungen der karolingischen Quellen und im Lichte der Forschung ergibt sich ein relativ gesicherter Ablauf der Ereignisse: Nachdem durch den Tod der Söhne Karl und Pippin die Nachfolgeregelung der Divisio regnorum
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Charlemagne; Becher, Neue Überlegungen zum Geburtsdatum Karls des Großen, S. 43–49; Tischler, Tatmensch oder Heidenapostel, S. 3. Zit. nach Herbers, Karl der Große, S. 184. Vgl. Semmler, Karl der Große. Tischler, Tatmensch oder Heidenapostel, S. 4. Vgl. für eine quellenkritische Einordnung von Einharts Karlsvita McKitterick, Karl der Grosse, S. 19–32; Tischler, Einharts Vita Karoli 1, S. 151–239 und Schefers, Einhard. Studien zu Leben und Werk. Tischler, Einharts Vita Karoli 1, S. 170, 223–228; Boshof, Die Vorstellung vom sakralen Königtum, S. 341f.; Binding, Einhard als Organisator am Aachener Hof. Schütte, Karl der Große in der Geschichtsschreibung des hohen Mittelalters, S. 227; Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich, S. 94. Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft, S. 136–165.
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hinfällig geworden war188, entschloss sich Karl nach längerem Zögern, im Rahmen einer Neuregelung der Nachfolge dem einzigen verbliebenen jüngsten Sohn aus legitimer Ehe, Ludwig, den Kaisertitel zu übertragen. Nach einer ersten Reichsversammlung im März 813, auf der bereits über diese Frage gesprochen worden sein dürfte189, rief er wenige Monate vor seinem Tod, im August 813, seinen Sohn nach Aachen und berief für den folgenden Monat eine Reichsversammlung der Bischöfe, Äbte, Grafen und des durch Geburt zur Beteiligung an der Führung des Reiches bestimmten Hochadels (maiores natu) ein.190 Zu Beginn hielt er eine Ansprache an die Vornehmsten (proceres), in der er Ludwig „wegen seines Gehorsams und seiner Liebe zu Gott und der Kirche“191 lobte. Vor den Versammelten ergriff dann Einhart das Wort und verwies auf die Verdienste Ludwigs, die ihn als zur Regierung würdig und zum Schutz des Reiches fähig erwiesen. Offenkundig bestand Uneinigkeit unter den Versammelten, ob Ludwig die nötige Idoneität zur Herrschaft besitze. Dann ermahnte Karl sie zur Treue gegenüber seinem Sohn und unterbreitete ihnen den Vorschlag, Ludwig den Kaisertitel (nomen imperatoris) zu übertragen. Dazu fragte er alle, „vom Ranghöchsten bis zum Niedrigsten“ (a maximo usque ad minimum)192, nach ihrer Meinung, was wohl nicht als Wahl zu interpretieren ist, aber dem rechtlich fundierten Konsensstreben im fränkischen Adel entsprach und aufgrund des zu Tage getretenen Zwiespalts in der Nachfolgeregelung nötig schien. Die Reichsfürsten erteilten laut Einhart ihre Zustimmung mit der Begründung, damit geschehe Gottes Wille.193 Am 11. September, dem auf das Fest der Geburt Mariens folgenden Sonn194 tag , vollzog man die Erhebung Ludwigs zum Mitkaiser in der Aachener Marienkirche, der vornehmsten Kirche des Karolingischen Reiches.195 Möglicherweise geschah dies, wie allerdings allein der Trierer Chorbischof Thegan berichtet, am Christus-Altar auf der Empore des Hochmünsters, auf dem Karl
188 Boshof, Ludwig der Fromme, S. 83–90; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 495– 508, 588f., 614–617; Becher, Karl der Grosse, S. 112–117; Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, S. 216–229; Boshof, Ludwig der Fromme, S. 85f. 189 Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 205. 190 Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 216. Dazu Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 202. 191 Zit. Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici (ed. Faral), S. 54. Vgl. Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 202f. 192 Zit. Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs (ed. Tremp), Cap. 6, S. 180. Vgl. Boshof, Ludwig der Fromme, S. 87f. und Anm. 21; Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 203f., 218; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 617f.; Classen, Karl der Grosse, das Papsttum und Byzanz, S. 100f. und Anm. 376. Vgl. zum Vorhandensein von Elementen des Wahlrechts in der Vorstellungswelt der Karolingerzeit Schneidmüller, Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum, S. 83. 193 Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 30, S. 56: divinitus. Vgl. Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 203. 194 Sierck, Festtag und Politik, S. 70f. 195 Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 216f.; Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 220.
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selbst die Krone Ludwigs deponiert habe.196 Karl, der sein Herrschergewand und seine Krone angelegt hatte, also unter der Krone ging197, betete gemeinsam mit seinem Sohn, ermahnte ihn „zur Gottesfurcht, zur Barmherzigkeit gegenüber allen Mitgliedern der Familie und zu gerechter Herrschaft gegenüber Kirche und Volk, ließ sich Gehorsam versprechen und krönte ihn dann selbst zum Mitkaiser.“198
Dabei sprach er, wenn man dem Dichter Ermoldus Nigellus Glauben schenken darf, die folgende Krönungsformel, die wahrscheinlich dem Ordo der Bischofserhebung199 entlehnt ist: „Empfange, Sohn, im Namen Christi, meine Krone, nehme zugleich die Kaiserwürde entgegen. Derjenige, welcher Dich in seiner Güte an die Spitze der Würde erhoben hat, gewährt Dir die Macht, ihm wohl zu gefallen.“ (Accippe, nate meam, Christo tribuente, coronam, / Imperiique decus suscipe, nate, simul. / Qui tibi concessit culmen miseratus honoris, / Conferat ipse tibi posse placere sibi.)200
Möglicherweise übergab Karl Ludwig neben der Krone als weitere Herrschaftsinsignie ein Zepter.201 Karl trat als Laie in vollem Ornat als Coronator auf, setzte seinem Sohn und Nachfolger das vornehmste Herrschaftszeichen jener Zeit, die – möglicherweise goldene – Krone202, aufs Haupt und befahl allen, ihn künftig als Kaiser und Augustus anzureden.203 Auf den Krönungsakt folgte die Akklamation des Volkes (populus), d.h. des anwesenden Reichsadels, in Form der fränkischen
196 Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 618; Nelsen-Minkenberg, David oder Salomon, S. 67–69. 197 Vgl. für diesen Aspekt Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 221; Brühl, Fränkischer Krönungsbrauch, S. 271, 276f.; Kantorowicz, Laudes Regiae, S. 85ff. 198 Zit. Boshof, Ludwig der Fromme, S. 89. Vgl. Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 204, 206f., 218f.; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 618. Dass sich Ludwig, wie Thegan berichtet, „mit den eigenen Händen“ (propriis manibus) die auf dem Altar liegende Krone aufs Haupt gesetzt habe, wird in der neueren Forschung mit guten Gründen ausgeschlossen. Vgl. Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs (ed. Tremp), Cap. 6, S. 184; Boshof, Ludwig der Fromme, S. 89; Classen, Karl der Grosse, das Papsttum und Byzanz, S. 100 und Anm. 377; Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 206. 199 Dazu Anton/Oexle/Schneider, Ordo (Ordines) I–III, Sp. 1437f. 200 Übersetzung W.T. nach Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici (ed. Faral), S. 54. Vgl. Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 206, Anm. 54. 201 Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 206. 202 Ebd., S. 219f., 226; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 618. Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 30, S. 55–57 spricht von einem „Diadem”, wie es als juwelengeschmücktes Band aus Gold in der Spätantike zu den Insignien des Kaisers gehörte. Vgl. Brühl, Kronen- und Krönungsbrauch, S. 19. 203 Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 30, S. 55–57. Vgl. Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 618 und zu Krönungen durch Laien im Mittelalter Brühl, Kronen- und Krönungsbrauch, S. 30f.
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Königslitanei „Vivat Imperator Ludovicus!“204 und das gleichfalls aus dem Alten Testament stammende Dankgebet Karls: „Gelobt bist Du, mein Gott, der Du gewährt hast, dass heute, im Angesicht meiner lebendigen Augen, auf meinem Thron der Sohn aus meinem Geschlecht sitzt.“ (Benedictus es domine meus, qui dedisti hodie sedentem in solio meo ex semine meo filum, viventibus occulis meis.)205
Demonstrativ habe der populus seine große Freude an jenem Tag geäußert, wie die Chronik von Moissac berichtet.206 Diese von den fränkischen Quellen berichtete heitere Gelöstheit suggerierte eine friedfertige und freundschaftliche Eintracht innerhalb des Reichsadels, des Klerus und vor allem der Königsfamilie, die keineswegs der Realität entsprach. Der in den Quellen nicht erwähnten hohen Geistlichkeit des fränkischen Reiches wurden lediglich die liturgische Feier zum Abschluss der Krönung und zusätzliche Gebete für den Kaiser überlassen.207 Karl hatte wie ein Priesterkönig den Platz des Coronators eingenommen. Als Abschluss des Erhebungsaktes fungierte ein prächtiges Krönungsmahl in der Palastaula, das rituell die Treue und die freundschaftliche Gesinnung der Anwesenden gegenüber dem Mitkaiser und die Zustimmung zu seiner Rangerhöhung als designierter Nachfolger Karls im Gesamtreich bekunden sollte.208 Angesichts der im Vorfeld aufgekommenen Spannungen unter den Fürsten des Reiches über die Nachfolgeregelung, die allein durch das Ehrfurcht gebietende Charisma Karls verdeckt wurden, erscheint das Krönungsmahl Ludwigs wie eine letzte rechtsrituelle Beschwörung Karls an die Tischgenossen zur Wahrung von Frieden und Gemeinschaft nach seinem Tod, wie er sie schriftlich in Form eines zur selben Zeit entstandenen Kapitulars, eine „Friedensvision in Gebetsform“ (Johannes Fried), formulierte.209 Denn in der Karolingerzeit stand der angestrebte genossenschaftliche Zusammenhalt der Anwesenden und deren personelle Bindungen im Vordergrund der symbolischen Kommunikation der Speisegemeinschaft (convivium).210
204 Zit. Chronicon Moissiacense (ed. Pertz), S. 310f. Vgl. Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 206, Anm. 55, 222. Vgl. zu den Krönungslaudes in karolingischer Zeit Kantorowicz, Laudes Regiae, S. 76–101; Elze, Die Herrscherlaudes im Mittelalter. 205 Übersetzung W.T. nach Chronicon Moissiacense (ed. Pertz), S. 310f. Vgl. Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 206, Anm. 56; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 619. 206 Chronicon Moissiacense (ed. Pertz), S. 310. Vgl. Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 221 und Anm. 200. Zur Deutung Althoff, Der frieden-, bündnisund gemeinschaftstiftende Charakter des Mahles, S. 13. 207 Boshof, Ludwig der Fromme, S. 89; Classen, Karl der Grosse, das Papsttum und Byzanz, S. 100; Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 220f. 208 Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 203, 207, 224–226. 209 Zit. nach Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 45. Vgl. ebd., S. 45–47; Fried, Elite und Ideologie. 210 Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue, S. 203–211; ders., Fest und Bündnis; ders., Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahles; Mittermayr, Das Mahl, bes. S. 9; Sierck, Festtag und Politik, S. 18–28.
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Mit der beschriebenen Zeremonie imitierte man am karolingischen Hof weitgehend das in Byzanz übliche Zeremoniell der Mitkaisererhebung durch den amtierenden Kaiser, wie sie der Patriarch von Konstantinopel als Mittelsperson des regierenden Hauptkaisers Michael I. 811 bei seinem Sohn Theophylaktos in Anwesenheit fränkischer Gesandter vorgenommen hatte. Karl der Große verzichtete, wie beschrieben, auf die Mittlerrolle des Klerus und drängte dessen sichtbare Präsenz bei den Krönungsfeierlichkeiten deutlich zurück, da seine eigene charismatische Autorität im Vordergrund stehen sollte.211 Anders als bei Karls Kaiserkrönung in Rom 800 wurde beim Krönungsakt von 813 auf die Mitwirkung des Papstes und der Römer verzichtet, was man als ein sichtbares Zeichen der Trennung des fränkischen Kaisertums „von seinen päpstlich-römischen Wurzeln“212 bewertet hat. Anscheinend verzichtete man ebenfalls auf die noch nicht im Krönungsritus etablierte Salbung. Ludwig selbst ließ bei seiner Kaiserkrönung in Reims durch Papst Stephan IV. 816 genau dieses sakral-kirchliche Element der Herrschererhebung nachholen und dokumentierte damit sein eigenes charismatisches Herrschaftsverständnis, während er selbst 817 seinen Sohn Lothar wie sein Vater Karl ohne Mitwirkung des Papstes von eigener Hand zum Mitkaiser krönte.213 Auffällig an der Krönung von 813 erscheint weiterhin, dass Karl seinen Sohn nach der Krönung zwar mit großen Ehren und Geschenken versah, was nach frühmittelalterlicher Vorstellung als konkretisierter Ausdruck der Liebe zwischen Familienmitgliedern, aber auch der Gefolgschaftsbindung des Beschenkten verstanden werden konnte214, und ihn unmittelbar darauf unter Umarmungen, Küssen und Tränen, wie Thegan unter Verwendung entsprechender Topoi vermerkt215, vom Hof entließ und nach Aquitanien schickte, ohne ihn in die Regierungsgeschäfte einzuweihen oder gar an der Herrschaft zu beteiligen. In der Forschung erblickt man darin Anzeichen für Spannungen216 oder eine „familiäre Konkurrenz auf engstem Raum, der sich der alte Kaiser nicht aussetzen mochte.“217 Tatsächlich waren bereits alle Hierarchiefragen zwischen Karl und Ludwig mittels symbolischer Kommunikation zugunsten des ersten geklärt worden. Von der im Zusammenhang mit der Krönung von den Reichsannalen wie auch von Einhart beschworenen freudigen Zustimmung aller Franken konnte wohl schon vor, mit 211 Boshof, Ludwig der Fromme, S. 88f.; Classen, Karl der Grosse, das Papsttum und Byzanz, S. 100f.; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 618f.; Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser, S. 207ff. Vgl. auch Nelson, The Carolingian Renaissance and the idea of kingship, S. 259–281. 212 Zit. Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 619. 213 Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 264f., 270f., 413; dazu Classen, Karl der Grosse, das Papsttum und Byzanz, S. 100; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 620. 214 Sierck, Festtag und Politik, S. 26. 215 Nelsen-Minkenberg, David oder Salomon, S. 70. Vgl. Althoff, Empörung, Tränen, Zerknirschung; Althoff, Der König weint; Schreiner, ‚Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundesދ. 216 Schieffer, Karl der Große, S. 249. 217 Zit. Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 621; Nelsen-Minkenberg, David oder Salomon, S. 69f.
2.4 Praxis charismatischer Königsherrschaft
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Sicherheit dann aber nach dem Herrschaftsantritt Ludwigs keine Rede sein, wie die bald nach dem Tode Karls einsetzenden blutigen Machtkämpfe und die Säuberung des Aachener Hofes durch den neuen Herrscher nachdrücklich aufzeigen.218 Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser verdeutlicht die Praxis der charismatischen Herrschaft Karls des Großen auf der Ebene direkter Herrschaftsrepräsentation und -kommunikation. Indem er selbst als Coronator auftrat, betonte er in stark hierarchisierter Form, dass er selbst es war, der kraft eigener charismatischer Autorität die Nachfolge vollzog. Zur äußeren Form der Herrschererhebung von 813 gehörten zwar auch die Übertragung imperialer Insignien, Krone und Zepter auf den Sohn, sowie die Akklamation des Adels219, doch fasste Karl diesen Akt „wie eine erbrechtliche Sukzessionsverfügung“220 auf und drängte dessen sakralen Charakter zurück. Die Nachfolge regelte er aus eigener Machtfülle, „fernab aller rechtlichen und institutionellen Schranken“221, wie es dem Wesen charismatischer Herrschaft entspricht. Schließlich erweist der Krönungsakt von 813 deutlich den nachlassenden Zusammenhalt der herrschenden fränkischen Führungsschicht gegen Ende von Karls Herrschaft. Offene Machtkämpfe konnten noch einmal soeben durch die Strahlkraft des königlichen Charismas, die Friedenbeschwörungen und Treueeinforderungen des alten Kaisers verhindert werden. 2.4 DIE PRAXIS CHARISMATISCHER KÖNIGSHERRSCHAFT ALS AKKUMULATION RELIGIÖS-KULTURELLEN KAPITALS 2.4 Praxis charismatischer Königsherrschaft Abschließend soll das Feld der Herrschaft in der Zeit Karls des Großen mithilfe der Soziologie Pierre Bourdieus näher beschrieben werden. Dabei ist zu beachten, dass im Mittelalter noch nicht von einer Auffächerung der von Bourdieu bestimmten Felder die Rede sein kann. Es gab vor allem kein autonomes Feld der Kultur, auf dem kulturelles Kapital einen Eigenwert besessen hätte. Bauten, Kunstobjekte, Bildung und Wissen können zwar als kulturelles Kapital identifiziert und bestimmten Akteuren zugeordnet werden, im Mittelalter sind sie aber untrennbar mit dem religiösen Kapital verbunden. Wie in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitet wurde, handelt es sich beim Königtum Karls um eine genuin charismatische Herrschaft mit der Tendenz zur Verstetigung durch Traditionsbildung, Patronage der Gefolgschaft und rechtliche Bindung der Beherrschten.222 Dieses Königtum wurde, der inneren Logik des mittelalterlichen Herrschaftsfeldes ent-
218 Becher, Karl der Grosse, S. 116; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 621f. 219 Böhmer, Regesta Imperii 1, S. 216f.; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 24. Vgl. Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser. 220 Zit. Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft, S. 162; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 619. Zur Familie Karls und zur Regelung der Nachfolge Becher, Karl der Grosse, S. 107–118; Fried, Elite und Ideologie. Zur profanen Aachener Krönung von 813 prononciert Brühl, Reims als Krönungsstadt, S. 4. 221 Zit. Hanke/Mommsen, Max Webers Herrschaftssoziologie, Einleitung, S. 4. 222 McKitterick, The frankish Kingdoms, S. 77–105.
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sprechend, durch die Akkumulation und Transformation bestimmter Kapitalien aufrechterhalten, wie im Folgenden gezeigt werden soll. An der Spitze der traditionalen Gesellschaft der Karolingerzeit stand eine schmale Adelsschicht, die über eine große Mehrheit von Freien und Unfreien herrschte und die Ressourcen des Landes untereinander aufgeteilt hatte. Stamm und Familie, der Clan, bildeten die zentralen Gemeinschaftsformen der fränkischen Gesellschaft wie traditionaler Gesellschaften überhaupt.223 Der König und seine Familie rekrutierten sich aus dem Adel und teilten den adligen Habitus, der ihr Denken, Wahrnehmen und Handeln bestimmte. Das „soziale Grundgesetz frühmittelalterlicher germanischer Königtümer“224 – die doxa des Herrschaftsfeldes – bildete der Gabentausch. Walter Demel zufolge sind „,ökonomisches( ދLandeigentum und Geld), ‚politisches( ދAmt), ‚kulturelles( ދBildung, erlesener Geschmack), ‚soziales( ދPatronagemöglichkeiten) und ‚symbolisches Kapital( ދEhre)“225
ineinander konvertierbare Formen der adeligen Lebensweise. Reichtum und Krieg bestimmten, untrennbar voneinander, die charismatische wie materielle Grundlage der Königsherrschaft und waren Voraussetzung der Anerkennung und Befriedigung des Adels und der Gefolgsleute. Diese Verbindung erklärt die innere Logik der permanenten Kriegsführung und Expansion, denn neues ökonomisches und symbolisches Kapital ging in der Zeit Karls traditionell aus den kriegerischen Beutezügen hervor. Die Verteilung der Beute brachte dem Herrscher soziales und symbolisches Kapital in Form von Hilfeleistungen, Loyalität und Treue ein, den Beherrschten materiellen Zugewinn und Ehre.226 Karl gelang es auf diese Weise, ein Netz „von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens“227, eine an seine Person als Herrscher gebundene soziale Gruppe mit hohem Elitebewusstsein zu schaffen. Die Grundlage für die Bewahrung seiner Anerkennung durch die ihn unterstützenden Personen und Gruppen bildeten materielle und symbolische Tauschbeziehungen und die durch den Profit der Einzelnen gewährleistete Solidarität, soziales Kapital.228 Diese durch Tausch erzeugte Solidarität ermöglichte den Zusammenhalt der Familien- und Adelsbeziehungen, der Hofgesellschaft und des Heeres. Insbesondere die Heftigkeit innerfamiliärer Machtkämpfe, Hofintrigen und Aufstände oppositioneller Gruppen im Frankenreich machten den Tausch ökonomischen Kapitals in soziales und symbolisches Kapital zur Vermeidung oder Lösung von gewaltsamen Konflikten und zur Aufrechterhaltung der Herrschaft zur permanenten Notwendigkeit. Der König verfügte zwar über das größte ökonomische Kapital, verminderte es 223 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 14; Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, S. 31. 224 Zit. Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 211. 225 Zit. Demel, Der europäische Adel, S. 14. Vgl. Paravicini, Interesse am Adel. 226 Gareis, Gabe. Vgl. zum Rechtsbegriff der Treue Kroeschell, Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte, bes. zum frühen Mittelalter S. 167–176. 227 Zit. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 190. 228 Ebd., S. 191f.
2.4 Praxis charismatischer Königsherrschaft
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aber notwendigerweise ständig, um seine Herrschaft aufrechterhalten zu können. Kapitalvergabe, Machtteilung, Übertragung von prestigeträchtigen Aufgaben bei der Kriegsführung und Verwaltung, welche die Dankbarkeit der Beschenkten und an der Herrschaft Partizipierenden gewährleisten sollten, schwächten die königliche Zentralgewalt. Das Vergabesystem sicherte der Herrschaft Karls des Großen über längere Zeit die grundsätzliche Folgsamkeit des Adels, denn dieser war der Hauptkontrahent des Königs im Kampf um die Herrschaft. In der Zeit Karls des Großen kam dem religiös-kulturellen und symbolischen Kapital eine gesteigerte Bedeutung für die Herrschaftssicherung des Königs zu. Wie die offenbar nur widerstrebend aus der Hand des Papstes empfangene Kaiserwürde, die Zurückdrängung der fränkischen Geistlichkeit bei der Mitkaisererhebung Ludwigs des Frommen sowie die Diskussion theokratischer Herrschaftsideen am karolingischen Hof nahe legen, bevorzugte Karl der Große eine religiöse Überhöhung seines Königtums kraft eigener charismatischer Autorität. Der gelehrte Hofkreis bildete neben dem Adel und dem Reichsklerus eine dritte Kerngruppe von beherrschten Herrschenden, die sich durch besondere Königsnähe auszeichnete. Seine Mitglieder konnten in der Regierungszeit Karls des Großen ihr symbolisches Kapital (Prestige) vermehren, durch die Erlangung von Ämtern und Pfründen in der sozialen Hierarchie aufsteigen und mit steigendem Einfluss selbst zu Akteuren auf dem Feld der Herrschaft werden. Mit der Diskussion charismatischer Herrschaftskonzepte, mit Herrscherpanegyrik, Geschichtsschreibung und repräsentativem Monumentalbau halfen die Mitglieder des Hofkreises, das religiös-kulturelle und symbolische Kapital der charismatischen Königsherrschaft Karls des Großen gewissermaßen aus seiner Person, in ihrer besonderen Verbindung zu Gott, hervorgehend erscheinen zu lassen. Das Königsamt besaß bei den Franken eine historisch gewachsene Autorität. Die traditionsbehafteten Königstitel der Franken und Langobarden und schließlich der römische Kaisertitel bedeuteten für Karl den Großen den Erwerb institutionalisierten religiös-kulturellen Kapitals. Dieses steht laut Bourdieu anders als das inkorporierte kulturelle Kapital nicht mehr unter Beweiszwang oder ist an die biologische Existenz seines Inhabers gebunden. Es bleibt dem Inhaber rechtlich garantiert, ist „relativ unabhängig von der Person seines Trägers“229 und deshalb von besonderem Wert. Die karolingischen Hofgelehrten versuchten in ihren Fürstenspiegeln, die ideelle, durch den Königstitel garantierte Legitimationsbasis Karls des Großen noch weiter zu stärken, indem sie die königliche Gewalt (potestas regia) rechtfertigten und den Gehorsam (obsequium) der Beherrschten einforderten. Damit wurde die bereits in der Merowingerzeit einsetzende Entwicklung eines dem König gegenüberstehenden Verbandes von Gehorsamspflichtigen auf eine quasi ideologische Grundlage gestellt.230 Karls als inkorporiertes kulturelles Kapital231 zu bezeichnende Kompetenz als Herrscher, verstanden als eine über die 229 Zit. Ebd., S. 190. 230 Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 207–214. 231 Zur Bildung inkorporierten kulturellen Kapitals Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 186–188.
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2 Karl der Große
Anwendung militärischer Gewalt und ökonomischer Macht hinausgehende Fähigkeit des Regierens, dessen Mindestvoraussetzung Lesen und Schreiben war, beruhte gleichfalls auf der Erziehungstätigkeit von Hofgelehrten. Der so erzeugte Kulturvorsprung des Hofes konnte gegenüber den adligen Konkurrenten Karls auf dem Feld der Herrschaft eingesetzt werden. Karl der Große akkumulierte mit den Sakral- und Profanbauten, den Kunstschätzen sowie den vielen anderen Erzeugnissen der karolingischen Renaissance große Mengen religiösen bzw. objektivierten kulturellen Kapitals. Durch die Sammlung von Reliquien, die christliche Missionierung der eroberten Völker und die Errichtung von Sakralbauten vermehrte er sein religiöses Kapital und machte sich innerhalb der von der christlichen Kirche und ihrem Wertekanon geprägten frühmittelalterlichen Gesellschaft zum priesterähnlichen Verwalter kostbarer Heilsgüter.232 Zur Produktion religiösen und kulturellen Kapitals war Karl der Große auf die Geistlichen, Künstler und Gelehrten in seinem höfischen Umfeld angewiesen. Nach Bourdieu ist objektiviertes kulturelles Kapital in Verbindung mit Eigentumsrechten oder in Form von Geschenken grundsätzlich übertragbar, ansonsten bleibt es an den Schöpfer oder Stifter gebunden.233 Der Hofkreis gewährleistete, dass nicht nur der Besitz zahlreicher Objekte, sondern auch die mit ihnen verbundene Deutungsmacht auf den König übertragen wurde. Karl erschien so innerhalb der fränkischen Oberschicht als ein um das Wohl seines Reiches und der Kirche bemühter, christlicher Friedenskaiser. Seine Herrschaft wurde durch die Produktion religiös-kulturellen Kapitals sakral-charismatisch und traditional überhöht, was mit Bourdieu als illusio, im Falle Karls als erfolgreiche Verschleierung des Gewaltaspekts königlicher Herrschaftsausübung durch die Konstruktion eines Priesterkönigtums mit edler Abstammung, gedeutet werden kann. Das System charismatischer Herrschaft, des „Krisentyp[s] der Einherrschaft“234, ist solange erfolgreich, wie der König genügend symbolisches Kapital produzieren kann. Die Königsherrschaft Karls hing also weniger von der Verteilung ökonomischen Kapitals durch Patronage ab, sondern vielmehr von der permanenten Produktion symbolischen Kapitals in Form von Charisma und Ruhm. Darüber hinaus versuchte Karl, seine charismatische Herrschaft durch traditionale Legitimation zu verstetigen. Doch konnte genau daraus ein Problem entstehen, da durch die Schaffung von Tradition und durch die ideellen wie materiellen Interessen der Anhängerschaft und des Verwaltungsstabes die Wirkung des genuinen Charisma, das Weber als „antitraditionalistische Macht“235 begreift, aufgebrochen wird. Eine Folge ist die institutionelle Wendung des persönlichen Charismas zum Erb- oder Amtscharisma, das durch eine erhöhte Stabilität gekennzeichnet ist, eine andere die Traditionalisierung, Legalisierung bzw. Rationalisierung und letztend-
232 Für den Zusammenhang zwischen Charisma und sozialem Kapital Möller, Charismatische Führer, Einleitung, S. 15. 233 Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 188f. 234 Zit. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 40. 235 Zit. Kroll, Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaft, S. 48.
2.4 Praxis charismatischer Königsherrschaft
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liche Auflösung charismatischer Herrschaft. Bei Karl dem Großen trat dieses Resultat nicht ein. Die Analyse karolingischer Herrschaft spricht im Gegenteil dafür, dass Karl der Große mit Hilfe seines Hofkreises eine neue Regel des Herrschaftsfeldes, die Überlegenheit des persönlichen Königscharismas gegenüber dem Wahlrecht, Amt und Geblüt des Adels, wie auch gegenüber dem charismatischen Übertragungsrecht der hohen Geistlichkeit generierte, festlegte und bis zum Ende seiner Regierung bewahrte.236 Dazu nutzte er die habituellen Prägungen und die traditionelle Taxonomie der Werte innerhalb der fränkischen Kriegergesellschaft und vermehrte sein soziales und symbolisches Kapital durch Feldzüge, Beutemachen und Jagden. Auf der Entscheidungsebene bediente sich die charismatische Königsherrschaft Karls des Großen der Strategie, rituelle Aushandlungsformen bei den Beratungen mit den Großen des Reiches beizubehalten. Zur Regelung seiner Nachfolge benutzte er zwar die inszenierte Form des Konsenses zur Übertragung symbolischen Kapitals auf die adligen Genossen, tatsächlich war aber seine charismatische Verfügungsgewalt maßgeblich, die sich in der Krönung seines Sohnes von eigener Hand äußerte. Von einer konstitutiven, konsensual erfolgten Handlung entwickelte sich die Wahl unter Karl dem Großen zur bloßen Bestätigung einer autokratischen Herrscherverfügung. Dieser Vorgang stellte einen gut verschleierten Bruch mit der fränkischen Tradition, beinahe schon eine Revolution der politisch-gesellschaftlichen Ordnung dar. Bereits Weber hat in diesem Zusammenhang das Charisma als „die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen“ bezeichnet.237 Nach dem Tode Karls brach das durch seine charismatische Persönlichkeit mühsam zusammengehaltene Herrschaftsgefüge beinahe folgerichtig Schritt für Schritt auseinander.
236 Zu Akteursrollen und Produktionsregeln des literarischen Feldes Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 83ff., bes. S. 168. 237 Zit. nach Gebhardt, Charisma als Lebensform, S. 43.
3 TRADIERTES CHARISMA ALS KAPITAL DER KRÖNUNGSSTADT (814–UM 1550) 3.1 EINFÜHRUNG 3.1 Einführung Die wesentlichen Legitimationsgrundlagen des mittelalterlichen Königtums finden sich bereits in der Karolingerzeit: Idoneität als unabdingbare persönliche Qualität des Herrschers, Charisma als dessen anerkannte magisch-religiöse Überhöhung, die funktionale Einbindung des Adels bei der Wahl und Erhebung des Königs, die für den Herrschaftserhalt notwendige materielle Zufriedenstellung des Adels, schließlich die charismatische, traditionale und legale Aufwertung des Königsamtes. Das genuine Herrschercharisma verstetigte sich unter den späten Karolingern und Ottonen zum Amtscharisma einer Theokratie. Die nun durchgängig von der hohen Geistlichkeit des Reiches erteilte Salbung und Investitur beim Krönungsakt begründeten die Stellung des Königs als Stellvertreter Gottes auf Erden und damit seine charismatische Qualität. Regelten bis ins Hochmittelalter mündliche Abmachungen und Gewohnheitsrecht die Beteiligung der Fürsten an Wahl und Herrschaft, schufen Goldene Bulle und Wahlkapitulationen schriftlich fixierte Rechtsverbindlichkeit. Als Legitimationsgrund der Königsherrschaft erfuhr zwar damit die Legalität eine deutliche Aufwertung, maßgeblich blieben aber Charisma und Tradition. Mit der zunehmenden Herrschaftsbeteiligung des Adels, der Objektivierung in Gestalt von Verschriftlichung und Verrechtlichung und der Verfestigung zeremonieller wie symbolischer Formen unterlag das Königtum einem langsamen, stetigen Wandel. In Kap. 3.2 soll mit Hilfe der Weberschen Begrifflichkeiten die Legitimation des mittelalterlichen Königtums durch Charisma, Tradition und Recht dargestellt werden. Wie agierte das Königtum im langen Zeitraum zwischen dem 9. und 16. Jahrhundert in Aachen? Die kultische Verehrung Karls des Großen stellt einen Indikator zur Beantwortung dieser Frage dar. Die Vereinnahmung Karls des Großen als Idealkaiser und dynastischer Ahnherr verlieh dem Königtum charismatische und traditionale Legitimation. Die Öffnung des Aachener Karlsgrabes durch Otto III. bildete einen ersten Höhepunkt dieser Aneignung, doch scheiterte die von Friedrich Barbarossa beabsichtigte Aufwertung des Frankenkaisers zum Reichsheiligen. Das Charisma Karls versiegte bis zu seiner Wiederentdeckung durch Karl IV. in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Parallel zur rückläufigen Bemächtigung durch die Könige im 13. Jahrhundert wurde der Karlsmythos in Aachen als städtischer Ursprungsmythos interpretiert und als solcher funktionalisiert. Auf lokaler Ebene verwaltete zunächst das allein Marienstift den Karlskult und moderierte als Hüter der von Karl gegründeten Marienkirche, der Krönungskirche des Reiches, dessen Übertragung auf den König. Damit verfolgte es zugleich eigene Interessen. Wie die Stiftsherren versuchten die führenden Vertreter der werdenden
3.1 Einführung
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Stadtgemeinde, ihre Identität über eine symbolische Bemächtigung Karls des Großen zu gewinnen und für eigene Herrschaftsinteressen zu nutzen. Das Marienstift mit der Kirche Karls des Großen und die Stadtgemeinde mit dem auf den Fundamenten der Königsaula der Pfalz errichteten Rathaus besaßen jeweils ein zentrales Medium, das Königsherrschaft in enger Verbindung mit dem Karlsmythos im lokalen Raum kommunizierte. Beide Bauwerke wurden zu symbolischen Orten der Erinnerung1 und Vergemeinschaftung aufgeladen. Nachdem sich die Stadtgemeinde im Spätmittelalter aus der politischen Vormundschaft des Marienstiftes zu lösen begonnen hatte, konkurrierte sie mit diesem nicht nur um die materiellen, sondern auch um die symbolischen Ressourcen der Stadt – eingesetzt zur Anerkennung des Königs wie zur Sichtbarmachung der reichsstädtischen Autonomie. Die Stadtgemeinde gewann mit ihrem Sitz im spätmittelalterlichen Reichstag ein exklusives Forum, in dem sie den Vorrang Aachens gegenüber anderen Städten vor der Reichsöffentlichkeit postulierte. Im innerstädtischen Machtkonflikt erhob sie gegenüber dem Stift den Anspruch auf die alleinige Vertretung der städtischen Interessen. In Kap. 3.3.1 werden diese Zusammenhänge ausführlicher erläutert. Wie Herrschaftsrepräsentation und -kommunikation in der Praxis als persönliches Zusammentreffen von Herrschenden und Beherrschten ablief, soll in Kap. 3.3.2 exemplarisch anhand der Aachener Krönungen analysiert werden. Bei den Krönungen trafen Könige und Reichsfürsten von Angesicht zu Angesicht auf die reichsstädtischen Eliten Aachens, die Vertreter des Marienstiftes und der Stadtgemeinde, sowie auf eine, streng nach Ständen gegliederte größere Menge von Beherrschten. Stiftsherren und Stadtgemeinde gewährten den Zugang zur Stadt und damit zum rechten Ort der Königserhebung. Sie versicherten mit dem bejubelten Empfang des neuen Herrschers und der Huldigung ihre Treue zu König und Reich. Dafür konnten sie vom neuen Herrscher die Gewährung und Bestätigung von Privilegien sowie Stiftungen und Geschenke erwarten. Königsherrschaft im lokalen Raum erscheint hierbei als hochgradig symbolischer Legitimations- und Kommunikationsakt und ritualisierter Gabentausch. In Kap. 3.4 soll mit Hilfe der Soziologie Bourdieus resümiert werden, wie die Könige von der Charismatisierung ihrer traditionalen Herrschaft profitierten, welche Rolle die Mittelgewalten, Reichsadel und Reichsklerus, als Akteure auf dem Feld spielten und inwiefern der wechselseitige Kapitaltransfer auch den lokalen Akteure zugute kam. Das Feld der Herrschaft weist im Mittelalter eine gravierende Verschiebung verschiedener Kapitalsorten auf. Lag die Masse des ökonomischen Kapitals in der Zeit Karls des Großen noch eindeutig in der Hand des Königs, hatte sie sich am Ende der Epoche auf die mächtigen Territorialfürsten des Reiches und die wohlhabenden Städte verlagert. Kulturelles, religiöses, politisches und symbolisches Kapital fand sich nicht mehr nur an den Fürstenhöfen, Kirchen und Klöstern, sondern wurde nun auch in Städten akkumuliert. Durch die Kapitaldistribution vermehrte sich die Zahl der Akteure auf dem komplexer werdenden Herrschaftsfeld. Das wohlhabende reichsstädtische Bürgertum Aachens 1
François/Schulze, Erinnerungsorte 1, S. 17f.
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3 Tradiertes Charisma
partizipierte an der Aneignung symbolischer Ausdrucksformen in Gestalt von Reliquien, Kunstgewerbe und Architektur. Es entwarf eigene Bildwelten und nutzte Schriftlichkeit als Medium der Herrschaftsvermittlung. Doch gelang es den Stadtbürgern noch nicht, die kulturelle Hegemonie von Adel und Klerus zu brechen und sich als wichtiger Akteur auf dem Herrschaftsfeld zu etablieren. Aachen wurde im Mittelalter gleichermaßen zum Kapitalgenerator wie zur Kapitalbörse. Verschiedene Akteure transformierten das religiöse und kulturelle Kapital von Stift und Stadt in symbolisches Kapital: materialisiertes Charisma und Tradition. 3.2 DIE LEGITIMATION MITTELALTERLICHER KÖNIGSHERRSCHAFT DURCH CHARISMA, TRADITION UND RECHT 3.2 Legitimation mittelalterlicher Königsherrschaft Charisma bezeichnete im frühen Mittelalter, wie die Analyse der Regierung Karls des Großen gezeigt hat, die genuinen, außergewöhnlichen wie außeralltäglichen Fähigkeiten eines einzelnen Herrschers, sein Gefolge in stetig wiederholter Bewährung hinter sich zu versammeln. Selbstverständlich blieb jedem mittelalterlichen König diese Möglichkeit des Charismaerwerbs erhalten, doch war in Europa nach dem Tod Karls des Großen die Zeit der großen Kriegerfürsten, die ganze Imperien durch ihre Kriege errichteten, vorbei. Schon bald zerfiel das Karolingerreich in Bruderkriegen und Teilungen. Aus dem ostfränkischen Reichsteil entwickelte sich unter Ottonen, Saliern und Staufern das Heilige Römische Reich, dessen Herrscher einerseits als Kaiser imperiale Politik betrieben, andererseits als römisch-deutsche Könige bestrebt sein mussten, das Ererbte angesichts einer Vielzahl innerer Krisen und äußerer Bedrohungen zu bewahren. Den Ruhm des Krieges suchten nicht wenige von ihnen in Italien, jenseits der Elbe und auf den Kreuzzügen ins Heilige Land, finden konnten sie ihn zumeist nicht. Das Mittelalter endete in einer das Reich und dessen ständische Gesellschaft tief erschütternden Krisenzeit.2 Das Charisma eines hoch- und spätmittelalterlichen deutschen Herrschers war kaum noch genuines, sondern vielmehr Erb-, Gentil- oder Amtscharisma. Das Erbcharisma, die im Ausnahmefall erwiesene magische Kraft des großen Ahnen, kann, als Qualität des Blutes geronnen, nach Max Weber auf einzelne Personen
2
Schneider, Das Frankenreich, S. 1f., 39; Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 408ff.; ders., Die Formierung Europas, S. 52ff.; Boshof, Königtum und Königsherrschaft, S. 3ff.; Ehlers, Die Entstehung des deutschen Reiches, S. 10ff.; Jakobs, Kirchenreform und Hochmittelalter, S. 16ff., 38ff.; Schimmelpfennig, Könige und Fürsten, Kaiser und Papst, S. 5ff.; Haverkamp, Zwölftes Jahrhundert, S. 56ff., 111ff.; Boockmann/Dormeier, Konzilien, Kirchen- und Reichsreform, S. 29ff., 79ff., 144ff., 162–169; Schmieder, Die mittelalterliche Stadt, S. 97– 117; Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 180–186; Stürner, Dreizehntes Jahrhundert, S. 156ff.; Dirlmeier/Fouquet/Fuhrmann, Europa im Spätmittelalter, S. 95ff.; Meuthen, Das 15. Jahrhundert, S. 40ff.
3.2 Legitimation mittelalterlicher Königsherrschaft
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oder als Gentilcharisma3 auf die Sippe vererbt werden. Die Übertragung des Erbcharismas auf ganze Sippen führt, wenn sich der politische Verband darüber definiert, zur Ausprägung eines von Weber als „Geschlechterstaat“4 bezeichneten Gemeinwesens. Die Königsdynastie verfügt damit über ein singuläres Charisma, das „als Kristallisationszentrum des Lehensnexus fungieren kann“.5 Das Erbcharisma eines Königs konnte beispielsweise durch den familiären Zusammenhang mit einem herausragenden Ahnen nachgewiesen werden. Die römisch-deutschen Königsdynastien des Mittelalters ließen zu dessen Nachweis fiktive oder reale Ahnenreihen erstellen. Die ihnen häufig nahe stehenden Genealogen und Geschichtsschreiber wählten für eine Ansippung der Königsfamilien Trojaner, Römer, Merowinger, Karolinger und andere berühmte Herrschergeschlechter.6 Um Helden und Heilige gesponnene „Geltungsgeschichten“7 und „Gründungsmythen“8 dieser Art übertrugen etwas vom Charisma der Vorläufer, konstruierten Kontinuität zwischen Herrscherdynastien und stabilisierten damit indirekt das Königtum als Institution. Dem König standen Konkurrenten aus einer ebenfalls „charismatisch qualifizierte[n] Herrenschicht“9 gegenüber, deren Charisma sich vielfach aus denselben Quellen ableitete.10 Karl der Große trug als ferner Spiegel11 auch zur Begründung partikularer Herrschaftsinteressen bei. Gerade weil jeder König selbst Mitglied dieses Hochadels war, musste er sein besonderes königliches Charisma permanent verdeutlichen.12 Anders als noch in der Zeit Karls des Großen definierte der Adel seit dem 10. Jahrhundert seine ökonomische und soziale Position zunehmend 3
Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 171f. Die Vorstellung einer Geblütsheiligkeit ist in der heutigen Mediävistik umstritten. Vgl. Weinfurter, Idee und Funktion des ‚Sakralkönigtumsދ, S. 106; Schmid, Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. 4 Zit. nach Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 162. 5 Zit. Ebd., S. 162. 6 Goetz, Zum Geschichtsbewusstsein hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber; ders., Konstruktion der Vergangenheit; Behr, Literatur als Machtlegitimation; Karpf, Herrscherlegitimation und Reichsbegriff.; Althoff, Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie; ders., Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter; ders., Studien zur habsburgischen Merowingersage; Nilgen, Amtsgenealogie und Amtsheiligkeit; Schneidmüller, Zwischen Gott und Getreuen, S. 199. 7 Zit. des Titels von Melville/Vorländer, Geltungsgeschichten. 8 Zit. des Titels von Melville/Rehberg, Gründungsmythen. Vgl. Schulze, Königsherrschaft und Königsmythos; Wunderli, Herkunft und Ursprung. 9 Zit. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 162. 10 Studt, Fürstenhof und Geschichte. Allgemein zu Herrschaftslegitimation, Herkunfts- und Selbstbewusstsein des mittelalterlichen Adels Oexle, Memoria in der Gesellschaft, S. 312– 317; ders., Memoria als Kultur, S. 37f.; Demel, Der europäische Adel, S. 9ff.; Kortüm, Menschen und Mentalitäten, S. 37–52; Bloch, Die Feudalgesellschaft, S. 157–179; Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter; ders., Adel, Ministerialität und Rittertum; Grabmayer, Europa im späten Mittelalter 1250–1500, S. 53f. 11 In Anlehnung an Tuchman, Der ferne Spiegel. 12 Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts, S. 216ff.; Ehlers, Die Entstehung des deutschen Reiches, S. 31f., 74f.; Dirlmeier/Fouquet/Fuhrmann, Europa im Spätmittelalter, S. 77–81, 208–210; Störmer, Früher Adel.
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3 Tradiertes Charisma
nicht mehr über die Nähe zum König und die „Beteiligung an den Unternehmungen der Zentralgewalt“13, sondern baute eigene Herrschaftszentren und Machtbereiche auf. Dabei entwickelte er auch sein eigenes Gentilcharisma weiter, das zunehmend nicht mehr auf die Königsfamilie beschränkt war, sondern sich generell in „ein Attribut der neuen adligen lignages“14 verwandelte. Dem König blieb eine exklusive, in der Karolingerzeit geschaffene Legitimationsgrundlage: Von der Bindung an Personen oder Gruppen gelöst fand sich das Charisma im Königsamt zu einer quasi heiligen Institution transformiert, die seinen Träger über alle Menschen empor hob.15 Insbesondere gegenüber der adligen Konkurrenz stützten sich die Könige auf ihr Amtscharisma. Das von Gott als Gnade auf den König übertragene Charisma veralltäglichte im Sakralkönigtum, das mit dem Investiturstreit in eine schwere Krise geriet, danach auf eine andere Legitimationsgrundlage gestellt werden musste und im Spätmittelalter eine neuerliche mystische Übersteigerung erfuhr.16 Christentum und Kirche hatten seit der Spätantike der Königsherrschaft charismatische Legitimität verliehen. Auf der Basis des Alten und Neuen Testamentes hatte sich eine kirchliche Herrschaftslehre entwickelt, welche die politische und soziale Ordnung auf Erden für gottgewollt erklärte und dem Fürsten ethische Vorgaben für eine gute Regierung machte. Sie leitete mit Paulus (Röm. 13,1–7) jede irdische Herrschaft von Gott ab. In den Zusammenhang einer langen exegetischen Tradition gehören die gelasianische Zweischwertertheorie, die Hierarchielehre des Dionysius Areopagita, die kirchlichen Devotionsformeln und die Lehre vom Herrscher als Stellvertreter Gottes (vicarius Dei) oder Abbild Gottes (imago Dei), welche die königliche Herrschaft im Gottesgnadentum begründete, sie an die ethischen Vorgaben göttlicher Normen band und die Erhebung wie auch die politischen Entscheidungen des Königs auf den auf Erden jederzeit präsenten göttlichen Willen zurückführte.17 Das Königtum wurde zum „Faktum der Heilsgeschichte“18. 13 Zit. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 171. 14 Zit. Ebd., S. 172. 15 Ehlers, Die Entstehung des deutschen Reiches, S. 34; dazu Gebhardt, Charisma als Lebensform, S. 30–34. 16 Anton, Sakralität; Anton u.a., Sakralkönigtum; Borgolte, Die mittelalterliche Kirche, S. 18f.; Boshof, Königtum und Königsherrschaft, S. 109–125; Boshof, Die Vorstellung vom sakralen Königtum; Bouman, Sacring and Crowning; Engels, Das ‚Wesen ދder Monarchie; Erkens, Der Herrscher als gotes drút; Erkens, Die Sakralität von Herrschaft; Erkens, Das sakrale Königtum in der Krise; ders., Vicarius Christi – sacratissimus legislator – sacra majestas; ders., Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume; ders., Der ‚pia ordinatione rex ;ދFried, Die Formierung Europas, S. 159f.; ders., Der Weg in die Geschichte, S. 775–816; Hamm/Herbers/Stein-Kecks, Sakralität zwischen Antike und Neuzeit; Körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade; Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 7f.; Schwineköper, Christus-Reliquien-Verehrung und Politik; Weinfurter, Idee und Funktion des ‚Sakralkönigtum ;ދKrieb, Gedächtnis und Herrschaft, S. 24, Anm. 4. 17 Affeldt, Die weltliche Gewalt; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 38–40; Werner, Gott, Herrscher und Historiograph, S. 108f.; Graus, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger, S. 303–313; Reitemeier u.a., Die christliche Legitimation von Herrschaft im Mittelalter, S. 57–59, 101–104; Anton, Gottesgnadentum; Kosuch, A deo electus;
3.2 Legitimation mittelalterlicher Königsherrschaft
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Einen Einschnitt in die sakrale Legitimation der Königsherrschaft bildete der Investiturstreit, der die Zurückweisung der theokratischen Ansprüche des Königtums, die Vertiefung des Dualismus zwischen Regnum und Sacerdotium und die Stärkung der päpstlichen Gewalt bedeutete. Die theokratischen Herrschaftsvorstellungen der Könige gerieten zwar in eine Krise, vollständig aufgegeben wurden sie nicht.19 Das römisch-deutsche Königtum bewahrte in seinem langsamen Säkularisierungsprozess mit der Salbung, Investitur und Krönung, die im symbolischen Akt der Herrschererhebung das göttliche Charisma übertrugen, die zentralen Instrumente seiner sakralen Legitimation.20 Um die Mitte des 12. Jahrhunderts erstarkte in Deutschland wie in anderen Ländern Europas, als Gegenbewegung zu den Ergebnissen des Investiturstreits, der Kult der heiligen Könige.21 Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts lieferte auch das Römische Recht Argumente für eine erneuerte sakrale Legitimation des Königtums, da insbesondere die lex regia des Corpus iuris die gottesunmittelbare Stellung des Herrschers stärkte.22 Das Amtscharisma des römisch-deutschen Königs speiste seit der Mitte des 10. Jahrhunderts zudem die von Karl geschaffene Verbindung mit der römischen Kaiserwürde, die ihn seinem Anspruch nach allen Königen der christlichen Welt überordnete.23 Die Wiederentdeckung der antiken Staats- und Gesellschaftslehre und die Rezeption des Römischen Rechts säkularisierten und legalisierten die königliche Herrschaftslegitimation. Es entwickelte sich eine neuartige Herrschaftstheorie, die neben der Person des Königs das von ihm regierte Reich erkannte und ihn wieder mit diesem verschmelzen ließ.24 Die Vorstellung eines transpersonalen Königtums mit unveräußerlichen Rechten drückte sich prägnant in der Begriffsverwendung corona als Metapher für die Monarchie an sich und das Reich aus.25 Zur politi-
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Althoff/Kamp, Die Bösen schrecken, die Guten belohnen, S. 59–69; Erler, Dei gratia; Schlinker/Willoweit, Gottesgnadentum. Zit. Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, S. 24. Hutter, Theokratie; Hartmann, Der Investiturstreit, bes. S. 50–52; Boshof, Königtum und Königsherrschaft, S. 122f.; Anton, Gottesgnadentum, Sp. 1593; Schnith, Monarchie; Erkens, Das sakrale Königtum in der Krise; Erkens, Der ‚pia ordinatione rex ;ދErkens, Herrschersakralität im Mittelalter, S. 156ff.; Schütte, Herrschaftslegitimierung im Wandel, bes. S. 165– 167; Schneidmüller, Zwischen Gott und Getreuen, S. 219–222; Ullmann, Von Canossa nach Pavia. Borgolte, Die mittelalterliche Kirche, S. 23–26, 80–82; Schimmelpfennig, Könige und Fürsten, Kaiser und Papst, S. 99–101; Engen, Sacred Sanction for Lordship, bes. S. 213ff.; Körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade; Struve, Die Salier und das römische Recht. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 98–105. Reinhard, Lebensformen Europas, S. 297f.; ders., Geschichte der Staatsgewalt, S. 34–37, 281–304; Erkens, Das sakrale Königtum in der Krise, S. 96f.; Kosuch, A deo electus, S. 423f.; Ullmann, Law and Politics in the Middle Ages, S. 81–116. Erler, Kaiser; Becker, Kaiserkrönung; Kempf, Das mittelalterliche Kaisertum. Hartmann, Der Investiturstreit, S. 51, 64, 98–101; Schneidmüller, Zwischen Gott und Getreuen, S. 194; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 102–104; Schmidt, Vollgewalt, Souveränität und Staat; Anton, Anfänge säkularer Begründung von Herrschaft. Schnith, Krönung, Sp. 1549; Cuvillier u.a., Corona I–IX, hier Sp. 252, 255; Kosuch, A deo electus, S. 424.
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schen Theorie weiterentwickelt wurde die Vorstellung von den zwei Körpern des Königs, von denen der weltliche als vergänglich, der überpersönliche, mit dem Staatskörper der Monarchie verschmolzene, dagegen als unsterblich angesehen wurde.26 Kommen wir zur Legitimation der Königsherrschaft durch Tradition. Das Wesen traditionaler Herrschaft besteht nach Weber in der Beharrungskraft, der Macht der Gewohnheit, des Alltäglichen und Trivialen, der Nachahmung und regelmäßigen Wiederholung, der Betonung von Konventionen und bestehenden Autoritäten.27 Tradition meint zudem einen in den Alltag übergegangenen Glauben an die Heiligkeit gesetzter Ordnungen und der Legitimität ihrer Träger.28 Mittelalterliche Königsherrschaft zeichnet sich durch eine fortschreitende Traditionalisierung und Verrechtlichung aus, von der auch das Charisma erfasst wurde, das im amtlichen Sakralkönigtum aufgehoben war.29 Die mit dem gebändigten Charisma eng verbundene Tradition wurde zum zweiten Legitimationsgrund des römisch-deutschen Königtums. Das ältere Verständnis des Traditionsbegriffs setzt die aktive und intentionale Herstellung von Kontinuität durch den Tradenten und die Herstellung zeitlich vertikaler Kommunikation voraus. In diesem Sinne meint Tradition Erbe. Im Falle Karls des Großen äußerte sich eine solche Weitergabe von Tradition in den Erbfolgeregelungen von 806 und 813. Tradiert wurden auch die in karolingischer Zeit weiterentwickelten Formen der Herrschererhebung, die Verbindung von Krönung und Salbung, und das nach einer Unterbrechung von Otto dem Großen wiederbelebte romgebundene Kaisertum. Als Erbe kann man auch die geistig-kulturelle Renaissance antiker Bildung und Hofkultur bezeichnen. Diese und andere karolingische Hinterlassenschaften spielten für die Ausprägung mittelalterlicher Königsherrschaft eine wichtige Rolle. Der Begriff des Erbes würde allerdings zur Beschreibung traditionaler Herrschaft im Mittelalter zu kurz greifen. In einem abweichenden Verständnis bezeichnet Tradition die Konstruktion einer Linie zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch den die Tradition retrospektiv Beobachtenden oder Aneignenden selbst, wie dies etwa bei der Konstruktion genealogischer Königsreihen zur Vermehrung des königlichen Amtscharismas geschieht. Die maßgeblichen Instanzen einer solchen erfundenen Tradition sind Autorität und Gedächtnis.30 Die Autorität des Überliefernden oder Überlie26 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Dazu Gebhardt, Charisma als Lebensform, S. 65f. 27 In Anlehnung an Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 70f. 28 Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 68–123. Vgl. Rösener, Tradition und Erinnerung, Einleitung, S. 12f. und kritisch Friedrich, Tradition und Autorität, S. 11, 36f. 29 Krieb, Gedächtnis und Herrschaft, S. 23f.; Schreiner, Religiöse, historische und rechtliche Legitimation spätmittelalterlicher Adelsherrschaft; Berbig, Zur rechtlichen Relevanz von Ritus und Zeremoniell. 30 Assmann, Zeit und Tradition, S. 63ff.; Hobsbawm/Ranger, The Invention of Tradition; Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen; Rösener, Tradition und Erinnerung; Althoff, Adelsund Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung; ders., Zur Verschriftlichung von Memoria in Krisenzeiten; Brogolte, Memoria; Oexle, Memoria, Memorialüberlieferung; ders., Memoria als Kultur; ders., Fama und Memoria; ders., Memoria in der Gesellschaft; Schmid, Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet; Johanek, Fest und Integration; Rösener, Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen.
3.2 Legitimation mittelalterlicher Königsherrschaft
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ferten bringt den Empfänger dazu, das Überlieferte mehr oder weniger unbesehen anzunehmen.31 Die Verschriftung von Memoria, man könnte auch sagen die Erfindung von Traditionen, stellt häufig eine Reaktion auf neuartige Situationen, Krisen und Modernisierungsschübe dar. Traditionen dieser Art steigern durch ihre Kollektivsymbolik den Zusammenhalt von Gruppen, „legitimieren Institutionen und Autorität. Sie etablieren Wertstrukturen und prägen Verhalten.“32
Eine dritte Legitimationsgrundlage römisch-deutscher Königsherrschaft war die Wahl durch die sich als Volk definierenden geistlichen und weltlichen Großen des Reiches (electio populi).33 Sie verlieh der im Vergleich zu Westeuropa schwachen königlichen Zentralgewalt entsprechend der Definition Webers eine legale Legitimation. Im Mittelalter betrachtete man die Wahl als einen auf göttlichen Ratschluss zurückzuführenden, durch menschliche Mitwirkung vollzogenen Akt. Wirklich herrschaftsbegründend war im frühmittelalterlichen Verständnis nicht das Mandat des populus, sondern der göttliche Wille bzw. die lex divina, das göttliche Recht. Der göttliche Wille war es, der das Streben der Wähler nach äußerem Konsens begründete.34 In der Realität kam es aber immer wieder zu Streitereien zwischen gegnerischen Parteien bis hin zur Wahl von Gegenkönigen. Zwischen dem traditionellen Wahlrecht der Fürsten und dem sich in der Designation artikulierenden erbdynastischen Streben der Könige musste nicht unbedingt ein Spannungsverhältnis bestehen, da den Wählern durch den König zunächst ein Wahlvorschlag unterbreitet wurde, der erst durch den konstitutiven Akt der Wahl Verbindlichkeit erhielt. Damit beruhte die Designation letztlich auf Verhandlungen des Königs mit den Reichsfürsten. Die erbrechtlichen Ansprüche eines Kandidaten konnten wie bei der Mainzer Königswahl Lothars III. 1125 von der Wahlentscheidung der Fürsten zurückgewiesen werden.35 Seit dem Interregnum gewann die Königswahl immer mehr an Bedeutung. Grundlegend war die seit 1298 erfolgte Institutionalisierung der fürstlichen Königswähler im Kurfürstenkollegium, das mächtige Gremium der Königswahl. Mit 31 Rösener, Tradition und Erinnerung, Einleitung S. 11. 32 Zit. Assmann, Zeit und Tradition, S. 85f. 33 Becker, Wahl, Wahlrecht; Schimmelpfennig, Die deutsche Königswahl im 13. Jahrhundert 1– 2; Schimmelpfennig, Könige und Fürsten, Kaiser und Papst, S. 80–84; Rogge, Die deutschen Könige im Mittelalter; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 75–82; Boshof, Königtum und Königsherrschaft, S. 55–73; Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 895–902; ders., Die Formierung Europas, S. 160f.; Stürner, Dreizehntes Jahrhundert, S. 109–121; Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 8–11, 37–39, 64–71, 105–109; Miethke, Approbation der deutschen Königswahl; Wolf, Die Kurfürsten des Reiches; Wolf, Königskandidatur und Königsverwandtschaft; Erkens, Kurfürsten und Königswahl; Schmidt, Königswahl und Thronfolge im 12. Jahrhundert; Schmidt-Wiegand, Wahl und Weihe des deutschen Königs; Schneider, Königswahl; ders., Wahlen und Wählen im Mittelalter; Wolf, Die Doppelregierung Kaiser Friedrichs III. und König Maximilians, S. 100–128. 34 Kosuch, A deo electus. 35 Nonn, Geblütsrecht, Wahlrecht, Königswahl; dazu Thomas, Wahl I, Sp. 1909; Klein/Puza/Schuler, Designation (Designatio), bes. Sp. 728f.
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dem Wahlakt in Frankfurt verfügten die geistlichen und weltlichen Kurfürsten über die maßgebliche Entscheidungsgewalt bei der Erhebung des neuen Königs.36 Ausdruck dieser Entwicklung war die Bildung des Rhenser Kurvereins und das Königswahlgesetz Licet iuris 1338.37 Das in der Goldenen Bulle von 135638 geregelte Wahlverfahren wurde zwar noch als Ausdruck des göttlichen Willens angesehen, wie das Feiern einer Messe des Heiligen Geistes, der die Herzen der Wähler erleuchten sollte, aufzeigt, doch hatte infolge der politischen Aristotelesrezeption seit Mitte des 13. Jahrhunderts der Gedanke einer wesentlich auf dem Naturrecht beruhenden Selbstlenkung des Volkes Eingang in die Theorie der Herrschererhebung gefunden.39 Bei der Wahl des Königs durch die Kurfürsten wurde ein Herrschaftsvertrag zwischen den Parteien ausgehandelt und geschlossen. In den Anfängen des Kurfürstenkollegiums geschah dies noch mündlich. Seit 1519 wurden die Ergebnisse der teilweise umfangreichen Vorabsprachen in Form der Wahlkapitulationen, welche die Bedeutung eines Reichsgrundgesetzes besaßen, schriftlich fixiert.40 König, Reichsfürsten und Stände bildeten am Ende der Epoche einen regelrechten „Herrschaftsverband“41. Im Sinne Webers bezeichnen diese Herrschaftsverträge zwischen dem König und den Reichsfürsten eine Form der legalen Legitimation von Herrschaft. Durch die Regelung der einzelnen Befugnisse wurden die Fürsten faktisch zu Mitregenten und Trägern des Reiches. Im Spätmittelalter übernahmen sie in ihren Territorien von der geschwächten königlichen Zentralgewalt die Wahrnehmung von Herrschaftsaufgaben.42 Der König hoffte zumindest in grundsätzlichen Fragen der Reichsregierung auf ihre Loyalität. Doch hielt sich nicht jeder König und Reichsfürst an seine bei der Wahl eingegangenen Selbstverpflichtungen.43 Herrscherkri-
36 Thomas, Wahl I, Sp. 1910f.; Erkens, Kurfürsten und Königswahl; Luttenberger, Kurfürsten, Kaiser und Reich; Schubert, Die Stellung der Kurfürsten in der mittelalterlichen Reichsverfassung; Wolf, Königliche Tochterstämme, Königswähler und Kurfürsten; Gussone, Ritus, Recht und Geschichtsbewußtsein, S. 40; Wolf, Die Kurfürsten des Reiches; Hehl, Die Erzbischöfe von Mainz; Militzer, Der Erzbischof von Köln; Weber, Der Erzbischof von Trier. 37 Thomas, Wahl I, Sp. 1911; Becker, Kurverein. 38 Zuletzt Schneidmüller, Das spätmittelalterliche Imperium als lebendes Bild (mit Lit.); Brockhoff/Matthäus, Die Kaisermacher; Buschmann, Kaiser und Reich, S. 104–156; Wolf, Die Vereinigung des Kurfürstenkollegs, S. 368f.; ders., Goldene Bulle; Hergemöller, Die ‚Goldene Bulle ދKarls IV. 39 Kosuch, A deo electus, S. 414, 424; Graus, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger, S. 306f.; Schnith, Monarchie, Sp. 729. 40 Haider, Die Wahlversprechungen der römisch-deutschen Könige; Wolf, Die Vereinigung des Kurfürstenkollegs, bes. S. 306 und 369; Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen; Lottes, Zwischen Herrschaftsvertrag und Verfassungsnotariat; Vierhaus, Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze; Ottomeyer/Götzmann/Reiss, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Kat.-Nr. IV.10, S. 254f. 41 Zit. Schneidmüller, Zwischen Gott und Getreuen, S. 195. 42 Schnith, Monarchie, Sp. 729; Thomas, Wahl I.; Grabmayer, Europa im späten Mittelalter 1250–1500, S. 55. 43 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, S. 14, 26f.; Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 10f.; Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit, S. 87f.
3.2 Legitimation mittelalterlicher Königsherrschaft
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tik war keineswegs unüblich.44 Politische Konflikte führten immer wieder zu Adelsaufständen, bei Regierungsunfähigkeit konnte es sogar zur Absetzung von Königen durch die über das Reich wachenden Fürsten kommen.45 Doch stellten sie ebenso wenig wie die Masse der Beherrschten die Königsherrschaft als Grundpfeiler der bestehenden Ordnung in Frage. Im Mittelalter besaß die beherrschte Mehrheit keine eigene Herrschaftslegitimation und so wenig Macht, dass sie häufig in den Zeugnissen der Eliten gar nicht vorkommt.46 Gegen Ende der Epoche häuften sich Unruhen und Aufstände47, schriftlich vorgebrachte Proteste der Untertanen48 und die Fälle, in denen Herrschende und Beherrschte die Geltung von Traditionen in der lokalen Praxis aushandelten.49 Die Sicherung politisch-sozialer Bindungen war die größte Herausforderung königlicher Herrschaft. Sie bestand vorrangig noch in der Herstellung persönlicher Treueverhältnisse durch den Transfer materieller Güter und rechtlicher Privilegien vom König auf den Adel, ergänzt und symbolische Aufwertungen wie Ritterschläge und Ehrenämter.50 Bis ins späte Mittelalter hinein blieben die Höfe weiter mobil. Die Herrscher regierten als Reisekönige, mussten Präsenz zeigen. Im Spätmittelalter regierten sie das Reich von Residenzen mit Hofverwaltung, höfischer Gesellschaft und literarischem Leben aus. Residenzstädte wie Prag und Wien wurden Machtzentren, Ausgangspunkte und Nahtstellen der Kommunikation von Herrschaft.51 Gleichzeitig bauten auch die Territorialfürsten ihre Höfe zu politischen und kulturellen Mittelpunkten aus. Könige und Fürsten traten nun häufig nur noch auf Reichsversammlungen, auf der Durchreise und bei Landesvisitationen in direkten Kontakt zu den Beherrschten.52 Die Lehen der Fürsten waren seit dem 11. Jahrhundert erblich geworden, deren Einziehung durch den König war nicht ohne massiven Widerstand möglich.53
44 Schreiner, ‚Correctio principisދ. 45 Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung; Schnettger, Fürstenabsetzung; Schubert, Die Absetzung König Adolfs von Nassau, S. 274, 301; ders., Probleme der Königsherrschaft im spätmittelalterlichen Reich, S. 179–184; ders., Königsabsetzung im deutschen Mittelalter; Rexroth, Um 1399; Graus, Das Scheitern von Königen; Walther, Das Problem des untauglichen Herrschers; Weinfurter, Herrschaft und Reich der Salier, S. 97ff., 139–155. 46 Reuter, Könige, Adlige, Andere, S. 145f. 47 Ehbrecht, Bürgertum und Obrigkeit; ders., Eintracht und Zwietracht; Ehbrecht, Stadtkonflikte um 1300; ders., Städtische Führungsgruppen; Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft; Becker, Protestacio, Protest. 48 Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen, S. 174. 49 Dazu am Beispiel der Fürstabtei Kempten im 15. Jahrhundert Krieb, Gedächtnis und Herrschaft, S. 26ff. 50 Überblicke bei Boshof, Königtum und Königsherrschaft, S. 83ff.; Schimmelpfennig, Könige und Fürsten, Kaiser und Papst, S. 84ff., 101ff.; Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 13ff., 31ff.; Stürner, Dreizehntes Jahrhundert, S. 100ff.; Schubert, Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter, S. 228–232. 51 Aretin, Das Reich ohne Hauptstadt; Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters; Studt, Residenz. 52 Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen. 53 Diestelkamp, Lehen, -swesen, Lehnrecht; Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige.
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3 Tradiertes Charisma
Dies hatte eine „Feudalisierung des Ämterwesens“54 zur Folge. Es entstanden zahlreiche an den König lehnrechtlich gebundene Herrschaftsbereiche. Die Könige sahen sich zunehmend gezwungen, im großen Umfang Rechte, Reichsgut, Regalien, Pfründen und Ämter an die Fürsten zu vergeben, um sich deren politische Unterstützung zu sichern. Damit schwand ihre ökonomische Machtbasis. Zwar war dies keineswegs ein ununterbrochener Prozess, da die königliche Macht im Reich unter stärkeren Herrschern zwischenzeitlich wieder ausgebaut werden konnte.55 Doch geriet das Königtum durch die Territorialisierung in eine tiefe Strukturkrise, in deren Gefolge es „seine übergeordnete Stellung, seine Autorität, seine Neutralität und Integrationskraft“56 weitgehend einbüßte. Die politische Schwächung des Königtums zugunsten der Reichsfürsten im deutschen Thronstreit beschleunigte den Aufstieg der Territorialstaaten und die Entwicklung der im Kern föderalen Struktur des Reiches.57 Die geistlichen und weltlichen Territorien wurden allen zentrifugalen Tendenzen zum Trotz durch die „letztgültige Legitimierungsinstanz“58 des Königtums und dessen innere Kohärenz, vielleicht mehr noch durch die des Reiches zusammengehalten. Im Gesamtverband der Reichsstände und an deren Spitze waren die Fürsten wie der König die „Träger des Reichs und Garanten der Ordnung“.59 Auf dem Reichstag entschied der König zusammen mit den nach Sitz und Stimme hierarchisch gegliederten Reichsständen über die Angelegenheiten des Reiches.60 Gegen die zunehmende Macht der Fürsten stützte sich der König auf die königstreue Reichskirche und die Reichsstädte, die er als Stadtherr mit Privilegien ausstattete und mit Verwaltungsaufgaben betreute. Dafür gewährte er ihnen seinen Schutz und Schirm. Die Herrschaftsordnung im Reich wurde auf diese Weise auch von den reichsstädtischen Ratskollegien, zunächst in Stellvertretung des Königs, seit dem 14. Jahrhundert zunehmend unabhängig von diesem, aufrechterhalten.61 Viele Städte schlossen sich gegen die Begehrlichkeiten der Fürsten zu Städtebünden zusammen. Deren Bürger bildeten
54 Zit. Diestelkamp, Lehen, -swesen, Lehnrecht, Sp. 1808. 55 Koller, Der Ausbau königlicher Macht im Reich des 15. Jahrhunderts. 56 Zit. Schlick, König, Fürsten und Reich, S. 179. Vgl. Schubert, Probleme der Königsherrschaft im spätmittelalterlichen Reich, S. 146f.; ders., Fürstliche Herrschaft und Territorium; Moraw, Königliche Herrschaft und Verwaltung im spätmittelalterlichen Reich, S. 190f. 57 Schaller, Der deutsche Thronstreit und Europa; Stürner, Dreizehntes Jahrhundert, S. 100f., 156–176; Schubert, Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter, S. 196–204. 58 Zit. Moraw, Königliche Herrschaft und Verwaltung im spätmittelalterlichen Reich, S. 190. 59 Zit. Schlick, König, Fürsten und Reich, S. 183. Vgl. Moraw, Königliche Herrschaft und Verwaltung im spätmittelalterlichen Reich, S. 189f. 60 Schubert, Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter, S. 232–239; Moraw, Reichstag; Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 47f. 61 Isenmann, Reichsstadt und Reich; Moraw, Reichsstadt, Reich und Königtum im späten Mittelalter; Voltmer, Reichsstadt und Herrschaft; Schubert, Probleme der Königsherrschaft im spätmittelalterlichen Reich, S. 145–147.
3.3 Repräsentation und Kommunikation
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genossenschaftlich organisierte Gruppen, Schwureinungen (coniurationes), Zünfte und Gilden, die selbst Herrschaft ausübten.62 Den römisch-deutschen Königen gelang es im hohen Mittelalter, die ihnen zukommenden Sonderrechte zu vermehren. Der König war nicht nur oberster Lehnsherr, er verfügte über das oberste Bannrecht63, die Reichsacht64, den Schutz des crimen lesae majestatis65, die oberste Gerichtsgewalt66 und die königlichen Regalien.67 Die faktische Umsetzung dieser Rechte in der Herrschaftspraxis erodierte allerdings im Spätmittelalter, da immer mehr Königsrechte an die Fürsten delegiert wurden.68 Nur teilweise gegenläufig dazu war die Tendenz zur Verdichtung, Verrechtlichung und Fiskalisierung der Herrschaftsverwaltung, welche auf die Entstehung der Staatsgewalt in der Frühen Neuzeit verweist, an der die Territorialfürsten maßgeblich Anteil besaßen.69 3.3 DIE REPRÄSENTATION UND KOMMUNIKATION MITTELALTERLICHER KÖNIGSHERRSCHAFT IN AACHEN 3.3.1 Karlskult und Krönungstradition 3.3.1.1 Die Aneignung des Karlskults durch die römisch-deutschen Könige 3.3 Repräsentation und Kommunikation Der Rückgriff auf „Ursprungsmythen, Herkunftssagen, epochemachende Leistungen des Spitzenahns“70 diente im Mittelalter der persönlichen und dynastischen Herrschaftslegitimation. Dichter und Geschichtsschreiber formten das mythische Bild Karls des Großen als vorbildlicher Herrscher, Apostelkaiser und Schlachtenheld.71 Karl erhielt von ihnen den Ehrentitel magnus, der auf dem Vergleich mit 62 Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue, S. 119–133; Althoff/Kamp, Die Bösen schrecken, die Guten belohnen, S. 89–99; Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter, S. 121–127, 299–340. 63 Krämer, Bann; Riu, Bann. 64 Battenberg, Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter. 65 Koch, Auf dem Wege zum Imperium Sacrum, S. 122f. 66 Drüppel, Gericht, Gerichtsbarkeit I. 67 Hägermann, Regalien, -politik, -recht. 68 Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 21–25, 71–73; ders., Rechtliche Grundlagen und Möglichkeiten römisch-deutscher Königsherrschaft; Schubert, Probleme der Königsherrschaft im spätmittelalterlichen Reich, S. 148–176. 69 Moraw, Königliche Herrschaft und Verwaltung im spätmittelalterlichen Reich, S. 194f.; Althoff/Kamp, Die Bösen schrecken, die Guten belohnen, S. 99–110. 70 Zit. Althoff, Geschichtsbewusstsein durch Memorialüberlieferung, S. 86. 71 Saurma-Jeltsch, Karl der Große als vielberufener Vorfahr; Bastert, Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters; Ratkowitsch, Karl der Große in der lateinischen Dichtung; Klein, Karl der Große in der deutschen Literatur; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos; Erkens, Karl der Große und das Erbe der Kulturen; Röcke, Literatur und kulturelles Gedächtnis; Fried, Karl der Grosse; Herbers, Karl der Große; Ehlers, Charlemagne – Karl der Große; Ehlers, Das westliche Europa, S. 101–106; Werner, Karl der Große oder Charlemagne; ders., Charlemagne – Karl der Große; Schneidmüller, Karolingi-
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anderen Großen der Geschichte beruhte. Er sollte den überragenden Rang seines Trägers ausdrücken.72 Das persönliche Attribut und der geläufige Name Karl der Große entstanden im Zuge der dynastischen Aneignung des Frankenkaisers durch die späten Karolinger gegen Ende des 9. Jahrhunderts.73 Schon früh hatten sich aber auch wie in der Visio Wettini Walahfried Strabos von 825/26 negative Stimmen unter die Lobpreisungen gemischt.74 Sündhaftigkeit, Wildheit und Brutalität taten der Größe Karls keinen Abbruch.75 Um mit Wolfgang Lipp zu sprechen, sind es „charismatische Helden [...], die zwischen ‚Finsternis ދund ‚Lichtދ, ‚Schuld ދund heiliger ‚Reinheitދ, ‚Martyrium ދund ‚Erlösung ދeine Brücke schlagen.“76
Karls Stigma vollendete sich dialektisch im Charisma, Unvollkommenheit in Vollkommenheit und erneuter Heilsbringerschaft.77 Die Erinnerung an Karl den Großen wurde in Deutschland „in einer esoterischen, literarisch-klerikalen Sphäre“78 tradiert. Es dominierte der religiöse Karlskult, begleitet von einem Sammelsurium aus volkstümlichen Sagen und Legenden.79 Eine Reihe römisch-deutscher Könige – Heinrich II., Heinrich III., wahrscheinlich auch Friedrich Barbarossa – führte ihre Abstammung auf Karl den Großen zurück. Die ostfränkischen und deutschen Geschichtsschreiber verbanden die Anfänge des Reiches mit der fränkisch-karolingischen Tradition. Sie stellten Herrschervergleiche mit Karl dem Großen an und verklärten den Frankenkaiser zum Reichsgründer.80 Die um Karl rankenden Gründungsmythen speisten die
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sche Tradition und frühes französisches Königtum; Brühl, Deutschland – Frankreich, S. 51– 75. Schieder, Über den Beinamen ‚der Großeދ, S. 11f.; Walther, Größe; Tischler, Einharts Vita Karoli 1, S. 217. Vgl. auch die an Karl den Großen geknüpften Überlegungen zur historischen Größe bei Fuhrmann, Karl der Große, S. 18–23; allgemeiner Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 497–499. Tischler, Einharts Vita Karoli 1, S. 119f. und Anm. 118; Hägermann, Herrscher des Abendlandes, S. 682; ders., Karl der Große, S. 133f.; Werner, Karl der Große oder Charlemagne, S. 32–34; Fried, Karl der Grosse, S. 22; Brühl, Deutschland – Frankreich, S. 142; Keller, Die Ottonen und Karl der Große, S. 69, Anm. 2. Fried, Karl der Grosse, S. 21f.; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 174–178; Fürbeth, Carolus Magnus. Schieder, Über den Beinamen ‚der Großeދ, S. 16, 19. Zit. Lipp, Stigma und Charisma, S. 15. In Anlehnung an Ebd., S. 255f. Zit. Schneidmüller, Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum, S. 203. Fried, Karl der Grosse, S. 35. Vgl. Ehlers, Charlemagne – Karl der Große, S. 42f.; Schneidmüller, Sehnsucht nach Karl dem Großen, S. 290–294. Petersohn, Kaisertum und Kultakte in der Stauferzeit, S. 101ff.; Hechberger, Staufer und Welfen 1125–1190, S. 141–148; Keller, Die Ottonen und Karl der Große, S. 92; Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 425f. und Anm. 166, 167; Weinfurter, Heinrich II., S. 78f.; Schmid, Ein verlorenes Stemma Regnum Franciae. Vgl. zur Historiographie Lehmann, Das literarische Bild Karls des Großen; Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne; Runge, Die fränkisch-karolingische Tradition; Graus, Lebendige Vergangenheit, S. 182–198; Wolfzettel, Karl der Große; Schütte, Karl der Große in der Historiographie der Ottonen- und Salierzeit; Schütte, Karl der Große in der Geschichtsschreibung des hohen Mittelalters.
3.3 Repräsentation und Kommunikation
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Tradition der Königsherrschaft, verliehen ihr Autorität und legitimierende Kraft.81 Nicht wenige Herrscherurkunden der späteren Karolinger, Kapetinger, Salier oder Staufer beriefen sich auf den ehrwürdigen Frankenkaiser.82 Mehrere Urkunden aus der Kanzlei Friedrichs I. lassen „ein karlisches, im Dienste der Herrschaftslegitimation stehendes Traditionsbewußtsein erkennen“.83
Die zahlreichen Fälschungen von Karlsurkunden für Erzbistümer, Bistümer, Domkapitel, Kirchen, Klöster und Stifte belegen, dass die autoritative Kraft Karls des Großen als Rechtsschöpfer und Rechtswahrer im hohen und späten Mittelalter mit großer Beliebtheit zur Legitimierung kirchenrechtlicher Streitfragen und Rechtsetzungen herangezogenen wurde.84 Ende des 13. Jahrhunderts leitete der einflussreiche Kölner Kanoniker und Gelehrte Alexander von Roes das an die rechtmäßige Wahl durch die deutschen Fürsten gebundene römische Kaisertum von einem angeblichen Karlsdekret ab und bezeichnete die Deutschen, im Gegensatz zu den Franzosen, als die wahren Erben Karls des Großen.85 Die östlichen Nachfolger des karolingischen Reiches besaßen günstige Voraussetzungen für die Aneignung Karls. Nachdem die sächsischen Ottonen zu Beginn des 10. Jahrhunderts die Nachfolge der Karolinger im ostfränkischen Reich angetreten und 925 Lotharingien erobert hatten, fiel ihnen mit dem alten Herrschaftssitz Aachen der zentrale Ort der Erinnerung an diesen in die Hände.86 Heinrich I., der erste sächsische Herrscher auf dem ostfränkischen Königsthron, wollte offenbar der Aachener Pfalz eine hervorgehobene Bedeutung bei der Integration Lotharingiens in sein Reich zuweisen.87 Neben dem von Karl gegründeten Marienstift und der wenig besuchten, allmählich verfallenden Pfalz bestand im Aachener Talkessel lediglich eine kleine Siedlung. Von einer Stadt konnte längst noch keine Rede sein.88 Heinrichs Sohn Otto bestieg am 7. August 936 den Thron auf der Empore der Aachener Marienkirche. Nach Auffassung von Hagen Keller war bei diesem Krönungsvorgang kein persönlicher Bezug Ottos I. zu „Karl dem Großen als nachah-
81 Friedrich, Tradition und Autorität, S. 37. 82 Schneidmüller, Die Gegenwart der Vorgänger; Zotz, Königtum und Reich zwischen Vergangenheit und Gegenwart. 83 Zit. Schütte, Karl der Große in der Geschichtsschreibung des hohen Mittelalters, S. 236. 84 Ebd., S. 238; Hägermann, Die Urkundenfälschungen auf Karl den Großen. 85 Schneidmüller, Die Qual der Wahl. 86 Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 2–7, 18–21. Als der westfränkische Karolinger Lothar 978 bei seinem Überfall auf Otto II. Aachen eroberte, bezeichnete jener diesen symbolischen Ort als den „Herrschersitz seiner Väter“ (sedes regni patrum suorum). Dazu Schneidmüller, Wahrnehmungsmuster, S. 280f. 87 Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 21. 88 Ebd., S. 2–17, S. 111 und Anm. 442, 217–226; Falkenstein/Nolden, Von der königlichen villa zur Stadtgemeinde Aachen, S. 953f.; Flach, Untersuchungen zur Verfassung und Verwaltung des Aachener Reichsgutes, S. 352.
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menswertes Vorbild“89 erkennbar. Die sächsische Geschichtsschreibung des 10. Jahrhunderts wusste von Karl beinahe nur noch als Bezwinger und Apostel der Sachsen zu berichten. Dessen transzendentale Überhöhung half deren Nachfahren, sich die Niederlage gegen die Franken plausibel zu machen. Selbst wenn ihm nicht an einer Karls-Imitatio gelegen sein mochte, stellte der neue König mit seiner Krönung in der Aachener Marienkirche, noch dazu gekleidet in fränkischer Tracht, seine Königsherrschaft in die „Tradition des fränkischen Königtums und Reiches“.90 Die Aachener Krönung am Ort der von Karl erbauten Marienkirche, seines Thrones und Grabes erklärt sich aus der legitimierenden Kraft des karolingischen Erbes, mehr aber noch aus dem politisch-dynastischen Zeitgeschehen.91 Otto der Große knüpfte mit der Erneuerung des Kaisertums 962 nochmals an Karl den Großen und dessen Herrschaftsrepräsentation an, ohne den Vorgänger einfach zu imitieren.92 Im weiteren Verlauf seiner Herrschaft stärkte er das verloren gegangene Ansehen der Pfalz Aachen und erhöhte die Stellung der Marienkirche.93 Dem Ausbau Magdeburgs zu einem neuen Zentrum ottonischer Herrschaft stand eine eher regionalpolitisch motivierte Aufwertung Aachens durch Schenkungen und Privilegien gegenüber.94 Mit der Verleihung eines Ehrentitels, worin er die Pfalz Aachen als „den hauptsächlichen königlichen Sitz diesseits der Alpen“ (hoc palatium Aquisgrani precipuam cis Alpes regiam sedes)95 bezeichnete, kam Otto I. 966 in einem Diplom für das Aachener Marienstift den Bedürfnissen der Stiftskanoniker nach Rangerhöhung entgegen.96 Umgekehrt baute der König mit Privilegien wie diesen seine eigene Herrschaft im Reich aus und schuf sich ein Netzwerk von Unterstützern. Auch Ottos Sohn und sein Enkel wurden in Aachen gekrönt, ohne dass damit eine Aachener Krönungstradition begründet wurde.97 Vor allem Otto III. versuchte seit 996 durch eine Reihe von Schenkungen an das Aachener Marienstift die von Karl dem Großen gegründete Kirche gezielt zu erneuern und zu erhöhen. Die persönliche Verehrung Karls des Großen war dabei sein Hauptmotiv, wie in einer 89 Zit. Keller, Die Ottonen und Karl der Große, S. 78. Vgl. ders., Die Einsetzung Ottos I. zum König; Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 24; Fried, Politik der Ottonen, S. 258; Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 474–479. 90 Zit. Keller, Die Ottonen und Karl der Große, S. 82. 91 Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 25; Keller, Die Ottonen und Karl der Große, S. 85; Schneidmüller, Fränkische Bindungen. 92 Keller, Die Kaiserkrönung Ottos des Grossen, S. 465. Die ottonische Kunst, insbesondere die Buchmalerei, knüpfte ebenfalls an Vorbilder der Karolingerzeit an. Vgl. McKitterick, Ottonische Bildung; Kahsnitz, Frühottonische Buchmalerei. 93 Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 25–54. 94 Ebd., S. 26–54; Schulze, Sachsen als ottonische Königslandschaft; Schubert, Imperiale Spolien im Magdeburger Dom; Puhle, Otto der Grosse; ders., Otto der Große, Magdeburg und Europa 1, bes. S. 30–107, 343–443; ders., Otto der Große, Magdeburg und Europa 2, S. 15– 103, 317–389; Beumann, Theutonum nova metropolis; Schneidmüller, Magdeburg und das geträumte Reich des Mittelalters. 95 Zit. DO I 316, Wisplinghoff, Rheinisches Urkundenbuch 1, S. 35. 96 Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 32 und Anm. 148. 97 Görich, Kaiser Otto III. und Aachen, S. 276; Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 30.
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997 ausgestellten Urkunde deutlich wird. Diese Urkunde, mit der die Übertragung des Ortes Dortmund an das Marienstift vollzogen wurde, enthält u.a. die Anweisung Ottos III., für ihn und seine Eltern, wie auch für das Seelenheil des Stiftsgründers Karl Fürbitten am Erlöseraltar der Marienkirche einzurichten: „aus Liebe zu Gott und zum Heil unserer Seele, dem Seelenheil unserer Eltern sowie demjenigen Karls verehrungswürdigen Angedenkens, des großen Kaisers, der jene Kirche neu gegründet hat, die wir wieder zu erneuern und zu erhöhen uns bemühen“ (pro dei amore nostreque anime ac parentum nostrorum nec non pro illius venerande memorie Karoli magni imperatoris qui eam quam redintegrare vel augere studemus noviter fundavit ecclesiam, anime remedio).98
Schenkungen und Stiftungen an Kirchen galten im Mittelalter als vornehmer Ausdruck der Freigiebigkeit und Frömmigkeit des Herrschers. Die Stifter erwarteten von diesen als Gegengabe ihr Seelenheil (donatio pro remedio animae), da in der beschenkten Kirche – im Fall der Stiftungen dauerhaft – Fürbitten gesprochen und alljährlich am Sterbetag eine Seelenmesse zugunsten des verstorbenen Stifters abgehalten wurde.99 Ende des 10. Jahrhunderts war so im Aachener Marienstift ein jährliches Totengedenken für Karl den Großen etabliert.100 Nach übereinstimmender Nachricht mehrerer Chronisten ließ Otto III. im Jahre 1000 das Grab Karls des Großen101 in der Aachener Marienkirche öffnen, wo er den Leichnam des großen Kaisers angeblich unverwest und in vollem Ornat in solio regio vorfand, wie Thietmar von Merseburg in seiner Chronik berichtet. Die Legende machte aus dieser Ortsangabe die Vorstellung eines auf seinem Thron bestatteten Karl, während dieser wohl eher beim Königsstuhl und liegend begraben wurde.102 Dem Toten schnitt der König persönlich die Nägel ab, ließ die verweste Nasenspitze in Gold ersetzen und entnahm einen Zahn, ein goldenes Hals-
98 Zit. nach Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 159. Vgl. ebd., S. 129–134, 159f. 99 Kaczynski, Seelenmesse; Kroeschell, Seelgerät; Schmid, Stiftungen für das Seelenheil; Hagemann, Gabe; Borgolte, Stiftung, Sp. 178–180; ders., Die Stiftungen des Mittelalters; ders., Stiftungen des Mittelalters im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft; ders., Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten; ders., Der König als Stifter; ders., Stiftungen, Kirchliche I.; ders., Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne, Einleitung, S. 9– 21; Lusiardi, Stiftung und Seelenheil; ders., Stiftung und städtische Gesellschaft, S. 9–25, 50– 65. 100 Als Folge der Grabesöffnung Karls des Großen durch Otto III. wurde wohl „keinerlei feierliches liturgisches Gedenken für Karl den Großen“ eingerichtet. So die Deutung von Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 163. Übersetzung der Textpassage der Chronik des Ademar von Chabannes bei Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 103. 101 Zur aktuellen Diskussion über das Karlsgrab Drechsler, Überlegungen zur Grablege; Ehlers, Magdeburg, Rom, Aachen, Bamberg; Becher, Karl der Grosse, S. 117f.; Heuschkel, Überlegungen zum Grab Karls des Großen; ders., Das Herrschergrab Karls des Großen. 102 Über die angebliche Sitzbestattung Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 394, Anm. 44; ders., Kaiser Otto III. und Aachen, S. 278; Keller, Die Ottonen und Karl der Große, S. 93. Unklar ist aber laut Görich, Kaiser Otto III. und Aachen, S. 278, warum das Motiv der Sitzbestattung in die von Thietmar unabhängige Chronik des Ademar von Chabannes (um 988–1034) einfließen konnte.
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kreuz sowie mehrere unversehrte Gewandteile.103 Bemerkenswert ist der Verzicht auf eine öffentliche Inszenierung des Vorgangs, ließ Otto doch das Grab heimlich (clam) öffnen, also vielleicht bei Nacht und in Anwesenheit weniger Personen.104 Knut Görich hat in jüngerer Zeit in dieser Graböffnung Vorbereitungen zu einer Heiligsprechung Karls des Großen erkannt, da Otto die von ihm dem Grab entnommenen Objekte wie Berührungsreliquien behandelt habe.105 Der junge Kaiser versuchte offenbar, mit der körperlichen Aneignung des Leichnams in die politische „Nachfolge des heiligen Reichsgründers und Bekehrer-Kaisers Karl“106 zu treten. Zur Begründung einer solchen Deutung des Geschehens muss man keineswegs eine Brücke zu Ottos angeblichem Programm einer Erneuerung des Römischen Reiches (Renovatio Imperii Romanorum) schlagen – ein wissenschaftliches Konstrukt Percy Ernst Schramms, das in der neueren Forschung auf berechtigten Widerspruch gestoßen ist.107 Ähnlich wie die Kapetinger im Westfrankenreich betrachteten sich die Ottonen als Erben der Karolinger.108 Wahrscheinlich sollte die „unmittelbare Verbindung mit dem Prestige des heiligen Bekennerkaisers Karls des Großen“109 die „Sakralisierung der ottonischen Herrschaft“110 voranbringen und zusätzlich legitimieren. Mit der physischen Berührung und Aneignung der am heiligmäßigen Körper Karls befindlichen Reliquien war eine „Partizipation an der Heiligkeit des Toten“111, an dessen besonderer Kraft (virtus), vielleicht sogar der Glaube an eine magisch-zeremonielle Über103 Zur Unversehrtheit als Leitidee mittelalterlicher Reliquienverehrung Angenendt, Corpus incorruptum, bes. S. 334f.; ders., Der ‚ganze ދund ‚unverweste ދLeib. 104 Zur Graböffnung Ottos III. Herbers, Karl der Große, S. 188f.; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 97–111; Schneidmüller, Sehnsucht nach Karl dem Großen, S. 294–297; Görich, Kaiser Otto III. und Aachen; ders., Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen; ders., Vor tausend Jahren: Kaiser Otto III.; ders., Otto III. Romanus Saxonus et Italicus, S. 78–80. 105 Zur Identifikation dieser Objekte als Berührungsreliquien im Kontext einer Heiligenverehrung Karls des Großen Görich, Otto III. Romanus Saxonus et Italicus, S. 79. Vgl. für eine Kritik an der Heiligsprechungsthese Görichs Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 160–164. 106 Zit. Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 105. Vgl. Keller, Die Ottonen und Karl der Große, S. 86ff. 107 Vgl. zur Kritik an der vom völkisch-nationalen Denken geprägten These Percy Ernst Schramms, wonach Otto III. ein regelrechtes Programm zur Erneuerung des Römischen Reiches gehabt habe, zusammenfassend Görich, Otto III. Romanus Saxonus et Italicus, S. 12–16, 187ff, 267–281; dazu auch Fried, Erinnerung und Vergessen. Görich, Otto III. Romanus Saxonus et Italicus, S. 269 bezeichnet Ottos Renovatio-Idee hingegen als „kurzfristig gestecktes politisches Ziel“. Vgl. die generelle Skepsis gegenüber der vorrangig von Robert Folz, Robert Holtzmann und Helmut Beumann vertretenen „politisch akzentuierten Deutung des Geschehens“ bei Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 388. Rader, Grab und Herrschaft, S. 179 spricht dagegen immer noch von einem über den Rückgriff auf Karl den Großen geplanten „Programm“ Ottos III. zur Erneuerung des Reiches. 108 Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 409 und Anm. 98. 109 Zit. Ebd., S. 409. 110 Zit. Ebd. 111 Zit. Dinzelbacher, Die ‚Realpräsenz ދder Heiligen, S. 134; Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 396.
3.3 Repräsentation und Kommunikation
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tragung von dessen Charisma verbunden, das vom Karolinger auf den Ottonen gleichsam überfließen sollte.112 Weiterhin kommen in der Graböffnung Vorstellungen von Herrschaftstranslation oder -kontinuität zum Ausdruck, wie man sie in ottonischer Zeit den überlieferten Berichten Lukans und Suetons von der Öffnung des Alexandergrabes durch Caesar, Augustus und Caligula vorgebildet finden konnte.113 Trotz manch offener Fragen legen Zusammenhänge dieser Art die damalige Verbindung von Heiligenverehrung und Herrschaftslegitimation nahe. Wahrscheinlich verhinderte allein der frühe Tod Ottos III. die Erhebung Karls zum heiligen Schutzpatron seines Reiches.114 Aachen profitierte nur begrenzt von der Aufwertung der fränkischkarolingischen Tradition und Karls des Großen unter den Ottonen. Den unter Karl erworbenen Rang einer bevorzugten sedes gewann der Ort nicht zurück. Es kam auch nicht, wie vielleicht geplant, zur Gründung eines Aachener Bistums.115 Doch wurde die Aachener Marienkirche, wie Olaf Rader es ausgedrückt hat, zum „Gravitationszentrum der Erinnerungen“116. Otto III. verfügte zum Zeichen der Verehrung und Nachfolge, neben seinem großen Vorbild Karl, in eben jener Kirche begraben zu werden.117 Nach seinem Tode wandte sich sein Nachfolger Heinrich II. von der Politik der Aufwertung Aachens ab.118 Bereits in der Herrschaftszeit Konrads II. galt der „von den früheren Königen und vornehmlich von Karl aufgerichtete berühmte Königsthron“ (publicus thronus regalis ab antiquis regibus et a Carolo praecipue locatus)
in der Aachener Marienkirche als „Erzstuhl des ganzen Reiches“ (totius regni archisolium).119 Den Höhepunkt der symbolischen Aneignung Karls des Großen durch die römisch-deutschen Könige bildete der Aachener Heiligsprechungsakt am 29. De112 Angedeutet bei Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 99. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 2, S. 680–682 und dazu Bendix, Max Weber, S. 235. 113 Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 389, der lediglich die politische Deutung der antiken Vorbilder mit dezidiertem Hinweis auf die von ihm bestrittenen Thesen Schramms vom ‚Römischen Erneuerungsgedanken ދzurückweist. Vgl. dagegen Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 64–105, dazu Boureau, Kantorowicz, S. 123ff., bes. S. 128; Kuder, Die Ottonen in der ottonischen Buchmalerei, S. 162–190, bes. S. 188f. 114 Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 415f. 115 Zur Aufwertung Aachens sowie zur Bistumsfrage Hehl, Aachen an der ersten Jahrtausendwende; Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 426f.; Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 79–169; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 107f., Görich, Kaiser Otto III. und Aachen, S. 275–278; Keller, Die Ottonen und Karl der Große, S. 87–90. 116 Zit. Rader, Grab und Herrschaft, S. 172. 117 Gussone, Kaiser Otto III. und sein Grab in Aachen; Drechsler, Überlegungen zur Grablege; Rader, Grab und Herrschaft, S. 172–179; Görich, Kaiser Otto III. und Aachen, S. 280f.; ders., Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen, S. 426f. 118 Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 174–216. Vgl. Schneidmüller/Weinfurter, Otto III. – Henrich II. Eine Wende. 119 Wipo, Gesta Chuonradi II, c. 6, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 110f. Dazu Müller, Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 261f.; Ehlers, Charlemagne – Karl der Große, S. 43.
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zember 1165. Als der Stauferkaiser Friedrich I. Barbarossa in der Aachener Marienkirche die Gebeine des Frankenkaisers eigenhändig aus dem Sarkophag in ein goldenes Reliquiar erhob, inszenierte er sich als Priesterkönig nach dem Vorbild Davids. Als David hatte sich einst auch Karl der Große in der Korrespondenz mit den Mitgliedern seines gelehrten Hofkreises anreden lassen. Damit knüpfte der Staufer in Zurückweisung der Ergebnisse des Investiturstreites an theokratische und charismatische Herrschaftsvorstellungen der Karolingerzeit an. Die „Sakralisierung des Herrscheramtes“120 und die „Demonstration von Heiligen in der Ahnenreihe [...] der herrschenden Königssippe“121 war das politische Ziel des Heiligsprechungsaktes. In den Quellen heißt es, die Kanonisation sei kraft der Autorität und mit Zustimmung Papst Paschalis III., nach dem Rat aller geistlichen und weltlichen Fürsten des Reiches, in Anwesenheit der Erzbischöfe von Köln und Mainz sowie zahlreicher Bischöfe und Adliger unter dem Jubel von Klerus und Volk erfolgt.122 Dies sollte der Zeremonie unter Rückgriff auf die Gepflogenheiten mittelalterlicher Herrschaftslegitimation die in den Augen ihrer Urheber nötige Legitimation verleihen. Allerdings wurde sie de facto ohne Mitwirkung des rechtmäßigen Papstes Alexander III. vollzogen, was die über die Grenzen des Reiches hinausgehende Geltung des Kanonisationsaktes untergrub. Die Heiligsprechung konnte zudem als politischer Affront gegen den die Karlstradition beanspruchenden französischen König und die Ambitionen des Klosters St. Denis als deren Hüterin verstanden werden123, was ein weiteres Manko darstellte, das die ungeteilte Anerkennung der Heiligsprechung verhindern musste. Im Gegensatz zur umstrittenen heimlichen Graböffnung Ottos III. mehr als 150 Jahre zuvor, erfolgte die staufische Translation der Gebeine Karls des Großen im Rahmen einer öffentlichen Inszenierung und eines kirchenrechtlich nicht zu beanstandenden Kanonisationsaktes. Wie Otto III. bezog sich Friedrich Barbarossa auf den großen Karolinger in politisch-religiöser Orientierung, doch war der Karlsmythos inzwischen erneut umgeformt worden. Karl wurde in der epischen Dichtung der Kreuzzugsepoche zum frommen Apostelkaiser stilisiert. Zur Heiligsprechung genügten jetzt der Eifer für die Verbreitung des christlichen Glaubens und die Bereitschaft, bei der 120 Zit. Göldel, Servitium regis und Tafelgüterverzeichnis, S. 177. 121 Zit. Ebd. 122 Petersohn, Kaisertum und Kultakte in der Stauferzeit, S. 110f.; Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, Nr. 1–2, S. 117; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 111; Belghaus, Der erzählte Körper, S. 30f. und Anm. 65; Laudage, Die Bühne der Macht. 123 Hägermann, Die Urkundenfälschungen auf Karl den Großen, S. 440. Vgl. Ehlers, Charlemagne – Karl der Große, S. 43–45; ders., Politik und Heiligenverehrung in Frankreich, bes. S. 150–155; Große, Parallele und Kontrast; Schramm, Der König von Frankreich 1, S. 131–144; Petersohn, Saint-Denis – Westminster – Aachen, S. 242–244; Spiegel, The Cult of Saint Denis, S. 58–61; Schneidmüller, Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum, S. 26–30; Le Goff, Reims, Krönungsstadt, S. 18ff., 28–31; Große, Saint-Denis zwischen Adel und König, S. 42–54, 175–194, 233f.; Gaborit-Chopin, Regalia, S. 11ff., 64–72, 81–83; Meuthen, Die Aachener Pröpste, S. 5, Anm. 3; Groten, Die Urkunde Karls des Großen für St. Denis; Große, Parallele und Kontrast, S. 409; Brühl, Reims als Krönungsstadt, S. 10; Bur, Reims, ville des sacres, S. 39–41, 44.
3.3 Repräsentation und Kommunikation
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Mission der Heiden den Märtyrertod zu erleiden. Dies machte Karl zum wahrhaften Bekenner des Glaubens und zum leuchtenden Vorbild für jeden Herrscher, insbesondere den Stauferkaiser, der in Karl sein alter Ego und wohl auch seinen Vorfahren erblickte.124 Auch hierin stand Barbarossa in Konkurrenz zu seinem welfischen Gegenspieler Heinrich dem Löwen, dem Herzog von Sachsen und Bayern, dessen machtpolitische Ambitionen er später unterband.125 Doch die Absichten Barbarossas gingen über die persönliche Verehrung Karls des Großen und die charismatische Aufwertung der eigenen Herrschaft hinaus. Ein wichtiges realpolitisches Ziel der Privilegierung Aachens war, den Aachener Markt „für den Überlandhandel zwischen dem Rhein und dem Maasgebiet, Brabant und Flandern anziehend zu machen und den Ort im Reichsinteresse handelspolitisch zu stärken.“126
Zudem betrieb die staufische Städtepolitik eine Aufwertung der königstreuen Pfalz- oder Reichslandstädte.127 Der Förderung Aachens und Duisburgs entsprachen Maßnahmen des Königs zur politischen und wirtschaftlichen Schwächung Kölns.128 Barbarossa Planungen zu einer „Reichshauptstadt“129 Aachen zu unterstellen, erscheint dagegen abwegig. Entscheidend blieb das übergeordnete herrschaftspolitische Ziel: Mit dem heiligen Karl als Patron des Reiches sollte der Vorrang des Sacrum Imperium vor allen anderen europäischen Königreichen herausgestellt und legitimiert werden.130 In Analogie zu St. Denis in Frankreich und Westminster in England, vielleicht auch zu den Krönungsstädten Monza in der Lombardei und Arles in der Provence, sollte in Aachen das deutsche Zentrum der Verehrung eines neuen Reichsheiligen entstehen, auf den sich die staufische Monarchie beziehen konnte und der die Heiligkeit des Reiches legitimieren sollte.131 Als der Kölner Metropolit Rainald von Dassel nachfolgend die Verehrung Karls als Heiligen im Rahmen des Karlsfestes anordnete, so war diese Maßnahme offenbar dazu bestimmt, den Kult des neuen 124 Vones, Heiligsprechung und Tradition, S. 89, 91; Hechberger, Staufer und Welfen 1125– 1190, S. 147 und Anm. 216; Belghaus, Der erzählte Körper, S. 36f.; Nilgen, Herrscherbild und Herrschergenealogie, S. 360f.; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 20f.; Heuschkel, Die Heiligsprechung Karls des Großen, S. 273. In den Zusammenhang gehört auch die Stiftung des Barbarossaleuchters für die Aachener Marienkirche (um 1170/84), vgl. zuletzt Schneider, Ein Abbild des himmlischen Jerusalem; Lepie/Schmitt, Der Barbarossaleuchter; Giersiepen, Die Inschriften des Aachener Domes, S. 24–27. 125 Vones, Heiligsprechung und Tradition, S. 103f. 126 Zit. Flach, Untersuchungen zur Verfassung und Verwaltung des Aachener Reichsgutes, S. 364. Vgl. auch Opll, Stadt und Reich, S. 29f.; Meuthen, Barbarossa und Aachen, S. 44–48. 127 Opll, Friedrich Barbarossa, S. 248–271, bes. S. 250f. 128 Stehkämper, Friedrich Barbarossa und die Stadt Köln. 129 Zit. des Titels von Meuthen, Aachen als Reichshauptstadt. 130 Koch, Auf dem Weg zum Sacrum Imperium; Moraw, Heiliges Reich. 131 Ehlers, Charlemagne – Karl der Große, S. 44; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 118–121; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 26; Vones, Heiligsprechung und Tradition, S. 89; Herbers/Neuhaus, Das Heilige Römische Reich, S. 106; Weinfurter, Um 1157.
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Reichsheiligen zu popularisieren.132 Doch war das deutsche Projekt eines Aufbaus Karls des Großen zum Reichsheiligen zum Scheitern verurteilt. Langfristig fehlte dem staufischen Karlskult die Kraft, einer Einigung der deutschen Stämme und Territorien den entscheidenden symbolpolitischen Impuls zu geben. Und auch die Translation der Gebeine Karls des Großen in den Karlsschrein, die Friedrich II. 1215 eigenhändig vollendete, scheint kaum mehr als eine „Propagandaaktion ohne tieferes religiöses Bedürfnis und ohne kulturgeschichtliche Konsequenzen“133
gewesen zu sein. Nur wenig mehr als eine Episode blieb auch die Wiederbelebung des Karlskultes durch Karl IV. in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die sich aus der persönlichen, religiös geprägten Verehrung für den heiligen Frankenkaiser und dem charismatischen Herrschaftsverständnis des Luxemburgers speiste.134 3.3.1.2 Das Marienstift als Beherrscherin des Karlskults Zu den Gewinnern der Heiligsprechung Karls des Großen zählten die Aachener Stiftskanoniker. Beim Heiligsprechungsakt standen sie, angeführt von ihrem Propst Otto von Andechs, einem Neffen des Kaisers, dem Herrscher zur Seite und drückten damit ihre unmittelbare Königsnähe und Reichstreue aus.135 Der Kaiser und seine Gemahlin Beatrix beschenkten die Aachener Kirche im Gegenzug mit goldenen Vasen und seidenen Tüchern und statteten sie mit einer jährlichen Dotation von zehn Mark aus.136 Wenige Tage später, am 8. Januar 1166, bestätigte der König dem Stift urkundlich seine gesamten Einkünfte und die Rechte und verlieh
132 Eine Zusammenstellung der chronikalischen Nachrichten findet sich bei Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, S. 107f. Vgl. Lohrmann, Politische Instrumentalisierung Karls des Großen, S. 98–105; Petersohn, Die päpstliche Kanonisationsdelegation; Sieger, Probleme um die Kanonisierung Karls des Großen, bes. S. 641–653; Belghaus, Der erzählte Körper, S. 19– 39; Deloie, Karlskanonisation von 1165, S. 417–435; Vones, Heiligsprechung und Tradition; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 111–133; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 18–23; Engels, Karl der Große, S. 348–356; ders., Die Kanonisation Karls des Großen; ders., Karl der Große und Aachen im 12. Jahrhundert; Schneidmüller, Sehnsucht nach Karl dem Großen, S. 297–299; Herbers, Karl der Große, S. 189–193; Heuschkel, Die Heiligsprechung Karls des Großen, S. 257–276; Petersohn, Kaisertum und Kultakte in der Stauferzeit, S. 108–112, 128–131; ders., Saint-Denis – Westminster – Aachen; Meuthen, Barbarossa und Aachen, S. 33–41. 133 Zit. Fried, Karl der Grosse, S. 40. Vgl. Belghaus, Der erzählte Körper, S. 39–45; Schneidmüller, Sehnsucht nach Karl dem Großen, S. 299; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 132f.; Petersohn, Kaisertum und Kultakte in der Stauferzeit, S. 115f., 133–136. 134 Faijt, Karl IV. – Herrscher zwischen Prag und Aachen; Kavka, Karl IV. (1349–1378) und Aachen; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 138–156; Machilek, Karl IV. und Karl der Große; Seibt, Karl IV. – das Charisma der Auserwählung. 135 Böhmer/Opll, Regesta Imperii 4, 2,2, Nr. 1538, S. 245. Vgl. Meuthen, Die Aachener Pröpste, S. 41–44; Göldel, Otto von Andechs. 136 Böhmer/Opll, Regesta Imperii 4, 2,2, Nr. 1526, S. 241f.
3.3 Repräsentation und Kommunikation
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ihm einen Ehrenvorrang innerhalb des Reiches.137 In seiner hervorgehobenen Stellung erschien das Marienstift wie ein Stellvertreter für das oppidum Aachen. Bei der Barbarossa-Urkunde handelte es sich zum einen, wie Erich Meuthen es ausdrückte, um eine „Grundurkunde der Kirche“138, zum anderen stellte sie den besonderen Vorrang Aachens vor anderen Städten im Reich heraus. Aachen wird ausdrücklich als „Haupt der Städte“ (Aquis Granum caput civitatum)139 und „Haupt und Sitz des Deutschen Reiches“ (caput et sedes regni Theutonici)140 bezeichnet, was sich offenbar vorrangig auf die Rolle als Krönungsort bezog, die auf den Thron (sedes) und das Grab Karls des Großen in der Marienkirche zurückging. In der Urkunde findet sich ein angebliches Privileg Karls des Großen inseriert und von Barbarossa erneuert, das möglicherweise in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts oder auch kurz vor 1158, gefälscht wurde, vielleicht sogar im Aachener Marienstift. Barbarossa vermerkt dort ausdrücklich, dass ihm das Karlsprivileg von den Kanonikern des Marienstiftes zur Bestätigung vorgelegt worden sei. Es muss sich also schon vorher in ihrem Besitz befunden haben. Bereits im Karlsdekret erscheint das angeblich von Karl dem Großen neu gegründete Aachen als „Haupt Galliens jenseits der Alpen“ (caput Gallie trans Alpes)141. Diesen Rang habe die Stadt wegen ihrer antiken Vorgeschichte, der Erhebung zum Hauptsitz des Reiches unter Karl, der einzigartigen Ausstattung mit den Reliquien der Heiligen sowie wegen ihrer städtischen Rechtsfreiheiten eingenommen.142 Die Fälscher legten dem fundator Karl zudem eine mirakulöse Gründungsfabel Aachens in den Mund: „Ihr wißt, wie ich zu dem Ort gekommen bin, der seinen Namen „Aachen“ von der Anpassung an die heißen Wasser hergenommen hat: Ich war nach meiner Gewohnheit zur Jagd ausgeritten, doch durch das Dickicht der Wälder und durch Abirren von den Wegen wurde ich von meinen Begleitern getrennt und entdeckte dabei dort die Bäder bei den heißen Quellen und die Paläste, die einst Granus, ein römischer Fürst, ein Bruder des Nero und der Agrippa, von Grund auf gebaut hatte. Diese, die seit langer Zeit verlassen und verfallen und auch von Gestrüpp und Dornbüschen überwuchert waren, habe ich jetzt erneuert, nachdem der Huf meines Pferdes, auf dem ich saß, in den Waldtälern die Rinnsale der heißen Quellen aufgespürt und aufgescharrt hatte. Dort ließ ich der heiligen Maria, der Mutter unseres Herrn Jesus Christus, ein Münster mit so viel Mühe und Aufwand wie möglich erbauen und es mit kostbaren Marmorsteinen ausschmücken, das mit Gottes Hilfe und Mitwirken eine solche Gestalt erhielt, daß ihm kein anderes gleichgestellt werden kann.“143
137 Ebd., Nr. 1538, S. 245. Die lateinischen Texte der Karls- und Barbarossaprivilegien für Aachen sind unter Einbeziehung der Überlieferung abgedruckt und kommentiert bei Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, Nr. 1–3, S. 81–127. 138 Meuthen, Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen, S. 67. 139 Zit. Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, S. 117. 140 Zit. Ebd., S. 18. 141 Zit. Ebd., S. 114. Vgl. Meuthen, Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen, S. 55f. und Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 376–379. 142 Meuthen, Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen, S. 61. 143 Übersetzung zit. nach Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 121–123. Lateinischer Text bei Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, S. 114.
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Aachen erhielt damit anstelle des heidnischen Frevlers und Tyrannenbruders Granus standesgemäß einen heiligen christlichen Kaiser zum Gründervater. Die neue symbolpolitische Trias lautete: Karl als „heiliger Herrscher und Reichsheiliger, Aachen als heiliger Ort und Barbarossa als ein neuer Karl, als jemand [...], der Karl als Vorbild für sein Leben und seine Herrschaft gewählt hat.“144
Eine heute in Bonn befindliche, um 1170/80 im Marienstift geschriebene Handschrift mit dem Barbarossa- und Karlsprivileg und anderen rechtswichtigen Dokumenten dokumentiert die rechtliche Bedeutung der Heiligsprechung für die Aachener Stiftskanoniker.145 Die Barbarossaurkunde erklärte Aachen zur „heiligen Stadt“ (sacra civitas)146 des Stauferreiches. Ein frommer Betrug und ein politischer Willensakt legitimierten die hervorgehobene Stellung Aachens im Reich und des Marienstiftes innerhalb der Stadt. Zweifel an der Echtheit der Karlsurkunde sollten erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts aufkommen.147 Bald nach der Kanonisation wurde den Stiftskanonikern mit dem alljährlich wiederkehrenden Karlsfest das liturgische Gedenken an den heiligen Karl den Großen in die Hände gelegt. Damit beherrschten sie einen bedeutenden Teil der städtischen Erinnerungskultur.148 Der Karlskult trug neben der Marienverehrung zum Rang Aachens als bedeutender Wallfahrtsort und damit zum Reichtum des Marienstiftes bei.149 Bereits die älteste Liturgie des Karlsfestes verknüpfte die Verherrlichung des heiligen christlichen Herrschers Karl mit dem Lobpreis der Stadt Aachen und des Marienstifts.150 Die Messtexte zeichneten entsprechend der literarischen Tradition das Bild Karls des Großen als Märtyrer, Kaiser und Bekenner. Die Mitglieder des 144 Zit. Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 116f. Vgl. Meuthen, Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen, S. 64f. 145 Handschrift Universitätsbibliothek Bonn S. 1559, vgl. Domkapitel Aachen, Federstrich, Nr. 2, S. 100 und Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 114. 146 Meuthen, Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen, S. 64 mit Anm. 103. 147 Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 377; Meuthen, Aachener Urkunden 1101– 1250, S. 99. Vgl. unten Kap. 4.3.2.1. 148 Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne, S. 177 und Anm. 97; Petersohn, Saint-Denis – Westminster – Aachen, S. 424f. und Anm. 9 sowie Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 277f.; Brecher, Die kirchliche Verehrung Karls des Großen; Erler, Karlskult; Heinig, Die Habsburger des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 160f.; Gatzweiler, Von den Karlsfesten; ders., Die liturgischen Handschriften des Aachener Münsterstiftes, S. 192–196; Eisenlohr, Paläographische Untersuchungen, bes. S. 6, dies., Niederschrift, S. 63 mit Anm. 102; Hoffmann, Zwischen Aufbruch und Erneuerung, S. 62–68; Domkapitel Aachen, Federstrich, S. 87–89, Nr. 2, S. 100; Pohl, Kompositionen, S. 118; Folz, Études sur le Culte liturgique de Charlemagne, S. 11. 149 Wynands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 44ff., 58ff.; Hegel, Prozessionen und Wallfahrten, bes. S. 305f.; Ploetz, Aachenfahrt; Scholten, Zu Ach hab ich gesehen. 150 Gatzweiler, Die liturgischen Handschriften des Aachener Münsterstiftes, S. 12–18, 80–82, 109–112, 142–144; Domkapitel Aachen, Federstrich, S. 89–98, Nr. 8, S. 106, Nr. 19, S. 117, Nr. 26, S. 124; Euw, Die liturgischen Handschriften, S. 24 mit Anm. 27; Hoffmann, Zwischen Aufbruch und Erneuerung, S. 72f.; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 277ff.
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Stiftskapitels riefen sich am Karlsfest gemeinsam „die Großtaten des großen Königs wieder in Erinnerung.“151 Der lokale Karlskult strahlte mit der Translation von Reliquienpartikeln und der Weitergabe der Karlsliturgie von Aachen auf zahlreiche Orte des Reiches und Europas aus.152 Das Stiftskapitel verfügte über die Deutungsmacht der Heiligkeit Karls, die Kontrolle über seine kultische Verehrung und über die Macht zur Weitergabe von Karlsreliquien. Deren Energie bestand in der magischen Kraft, die von jedem Heiligtum ausgeht: dem übermächtigen Faszinosum, dem Außeralltäglichen und der Zuschreibung durch die Menschen, die ein religiöses Erlebnis haben.153 Wenige Jahre nach der Heiligsprechung Karls, zwischen 1170 und 1180, entstand aus der Feder eines offensichtlich sowohl mit dem staufischen Hof als auch mit der Aachener Marienkirche in enger Verbindung stehenden unbekannten Klerikers ein aus älteren historiographischen und legendarischen Schriften sowie dem gefälschten Karlsdekret kompiliertes hagiographisches Werk in lateinischer Sprache, die Vita Karoli Magni.154 Die Karlsvita pries nicht allein die Gestalt des heiligen Karl als Werkzeug Gottes, Förderer der Kirche und Wahrer des Friedens, sondern hob den Rang der Aachener Marienkirche ausdrücklich hervor.155 Zu diesem Zweck findet sich in der Vita das gefälschte Karlsdekret und als neues legendarisches Element ein Bericht von der Weihe der Marienkirche durch Papst Leo III. in Gegenwart von 365 Bischöfen inseriert.156 Auch der Pseudo-Turpin, eine Dichtung des 12. Jahrhunderts über Karls Feldzug gegen die Mauren in Spanien, wurde in der Vita Karoli Magni rezipiert. Der christliche Heilige Karl verschmolz auf diese Weise mit dem „antimuslimischen Heros“157. Beide Werke wurden im
151 So der Text des Arnoldus-Graduale aus dem 12. Jahrhundert, fol. 149v: Hac in die festa magni regis magna gesta recolat ecclesia. Vgl. Euw, Die handschriftliche Überlieferung der mittelalterlichen Festliturgie Karls des Großen; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 31–54, 278f, 330f.; Hoffmann, Zwischen Aufbruch und Erneuerung, S. 78f.; Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne, S. 214–221; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 124–126. 152 Zender, Die Verehrung des hl. Karl, S. 106–112; Kötzsche, Darstellungen Karls des Großen, Hoffmann, Zwischen Aufbruch und Erneuerung, S. 68–70. 153 Baetke, Das Phänomen des Heiligen, S. 337–343, 346–351; Eliade, Das Heilige und das Profane, S. 13–16; Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, S. 556; Caillois, Der Mensch und das Heilige, S. 22; Thomas, Soziologische Zugänge zum Heiligen, S. 91. 154 Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne, S. 214–221; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 124–126; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 31–54. Eine heute in der Pariser Bibliothèque Nationale aufbewahrte und kurz nach 1179 entstandene Sammelhandschrift (Hs. 17656) mit diesem Text stammt wahrscheinlich aus Aachen. Außerdem wurden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Aachen zwei weitere Handschriften mit dem Werk geschrieben, heute im Stadtarchiv und im Domarchiv erhalten, vgl. Domkapitel Aachen, Federstrich, Nr. 6–7, S. 104f. 155 Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, Kap. I,16, S. 116–127. 156 Kettemann, Kirchweihe mit Papst Leo III.; Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 378; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, 39f., 120–127, Kap. II,23, S. 196f. und III,16, S. 262f. 157 Zit. Kerner, Der verschleierte Karl, S. 8.
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15. Jahrhundert in Handschriften des Aachener Marienstiftes gemeinsam überliefert.158 3.3.1.3 Der Zugriff der Stadtgemeinde auf den Karlskult Auch die Stadtgemeinde profitierte von der Heiligsprechung Karls des Großen, denn Barbarossa bestätigte Stift und Stadt gemeinsam in einer Urkunde den Vorrang Aachens als „Haupt und Sitz des Deutschen Reiches“ (caput et sedes regni Theutonici)159 und „heilige Stadt“ (sacra civitas).160 Der König nahm die Stadtgemeinde in seinen besonderen Schutz und verbriefte ihr Rechte und Freiheiten, namentlich die Abgaben- und Zollfreiheit bei ihren Geschäften im Reich, ferner die persönliche Freiheit der Einwohner.161 Zusammen mit den Stiftskanonikern erhielt die Stadtgemeinde einen ehrwürdigen Vorrang im Reich und wertvolle Privilegien, die sie erstmals aus dem Schatten des Stiftes heraustreten ließ. Am 9. 158 Es handelt sich um die Handschriften Aachen, Domarchiv G 12 und Aachen Stadtarchiv D 107 Nr. 173. Vgl. Domkapitel Aachen, Federstrich, Nr. 6–7, S. 104f.; Klein, Die Chronik von Karl dem Grossen und Roland, S. 16–20; Steinsieck, Karl der Große in der französischen Literatur, S. 467f.; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 169–173. 159 Die Städtebezeichnung caput lehnte sich an die antike und mittelalterliche Betrachtung Roms als ‚Hauptstadt ދder Welt an. Vgl. Esch, Ein Kampf um Rom, S. 27; Haverkamp, ‚Heilige Städte ދim hohen Mittelalter, S. 370f.; dazu Angenendt/Schieffer, Roma – Caput et Fons; Waiblinger, Roma Caput Mundi. Der Vorrang Aachens gegenüber allen Provinzen und Städten, wie ihn das Barbarossaprivileg formuliert, wurde von Friedrich II. und seinen Nachfolgern durch die Formulierung eingeschränkt, dass Aachen als Haupt des Reiches wie auch als Ausgangspunkt und Krönungsort der römischen Könige alle Provinzen und Städten ‚nach Rom ދan Würde und Ruhm überrage. Die Formulierung post Romam findet sich in der Urkunde Friedrichs II. für Aachen vom 29. Juli 1215, abgedruckt bei Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, Nr. 5, S. 130. Vgl. ebd., Nr. 10, S. 140; Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 1, Nr. 94, S. 43–45; Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 2, Nr. 73, S. 34–36; Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 2, Nr. 176, S. 88–90; Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 2, Nr. 193, S. 97; Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 2, Nr. 837, S. 376–380. Vgl. Schmidt, Mittelalterliches und humanistisches Städtelob, S. 120; Arnold, Städtelob und Stadtbeschreibung, S. 258; Kraus, Civitas Regia, S. 9, 11ff.; Ehlers, Metropolis Germaniae, S. 28; Groten, Die Urkunde Karls des Großen für St. Denis, S. 29; ausführlich Peyer, Friedrich Barbarossa, Monza und Aachen; Opll, Stadt und Reich, S. 498; ders., Friedrich Barbarossa, S. 64, 269; Ludwig, Die Darstellung südwestdeutscher Städte. 160 Im westdeutschen Raum findet sich um die Mitte des 12. Jahrhunderts die postulierte Heiligkeit der Stadt und eine Analogie zum himmlischen Jerusalem auf den Stadtsiegeln von Trier und Köln. Vgl. Haverkamp, ‚Heilige Städte ދim hohen Mittelalter, S. 363–366; Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 261–265, Farbtafel 4 und Abb. 60 (Köln) und S. 333–338, Abb. 89 (Trier). Groten, Studien zur Frühgeschichte deutscher Stadtsiegel, S. 445, 468f. Vgl. Kraus, Civitas Regia, S. 5f.; Haverkamp, ‚Heilige Städte ދim hohen Mittelalter, S. 371–373; Schmidt, Societas christiana in civitate, S. 316–320. 161 Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, Nr. 1–2, S. 55–119. Vgl. auch Böhmer/Opll, Regesta Imperii 4, 2,2, Nr. 1539, S. 245; MGH DD Karol. 1, Hannover 1906, Nr. 295, S. 441– 443.
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Januar 1166 verlieh der Kaiser Aachen noch dazu zwei Jahrmärkte mit voller Zollfreiheit und Sicherheit für die Kaufleute. Außerdem regelte er die städtische Münzprägung und Rechtsprechung.162 Den Vorrang des „königlichen Ortes Aachen an Würde und Ehre vor allen Provinzen und Städten“163 leitete Barbarossa ausdrücklich von der Grablege Karls des Großen und vom königlichen Thronsitz ab, den zentralen Orten der Krönungen und der Karlsmemoria in der Marienkirche. Tatsächlich gelang es, diesen Anspruch auf Vorrang auf dem Wege der schriftlichen Kommunikation zu verbreiten. So findet sich im 13. Jahrhundert die Formulierung von Aachen als Haupt des Reiches und der Städte mehrfach in den Briefen geistlicher und weltlicher Reichsfürsten sowie einzelner Städte.164 Geschichtsschreiber des hohen und späten Mittelalters setzten den Rang Aachens bzw. des Throns in der Marienkirche als Haupt und Sitz des Reiches als bekannt voraus.165 Die Stadtgemeinde profitierte wie das Stift auch ökonomisch von der Heiligsprechung Karls des Großen, da sie infolge des mit der Privilegierung von 1166 einsetzenden allgemeinen wirtschaftlichen Aufstiegs Aachens im 14. und 15. Jahrhundert zu großem Wohlstand gelangte.166 Die Bürger Aachens partizipierten an der Feier des Karlsfestes, ohne die Deutungs- und Konsekrationshoheit des Stiftsklerus in Frage zu stellen. Die in der Bevölkerung verbreitete Anschauung Karls des Großen als Volksheld trug zur wachsenden Beliebtheit des Heiligenfestes im Spätmittelalter bei, wie das Mitführen der riesenhaften Karlspuppe bei den Krönungen und kirchlichen Festtagsprozessionen erkennen lässt.167 Seit dem 14. Jahrhundert galt für die Karlsfeiertage, den Todestag, am 28. Januar, der mit einer Oktav am 4. Februar verbunden war, und das Translationsfest am 27. Juli, allgemeine Arbeitsruhe, um die Teilnahme
162 Böhmer/Opll, Regesta Imperii 4, 2,2, Nr. 1540, S. 245; abgedruckt bei Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, Nr. 3, S. 123–127, teilweise übersetzt von Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 203, 205. 163 Übersetzung Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 202–205, bes. S. 203; Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, Nr. 3, S. 123–127, hier lateinisches Zit. S. 125; dazu Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 29f. 164 Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 1, Nr. 107, S. 50f.; Nr. 208, S. 106; Nr. 237, S. 122f.; Nr. 243, S.127; Nr. 322, S. 127f. 165 Vgl. etwa die Annalen des Reiner von Lüttich zur Krönung Ottos IV. im Jahre 1198: oppidum Aquense, ubi caput regni et sedes noscitur esse, abgedruckt und übersetzt bei Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 122f.; die jüngere Chronik des Peter von Erfurt zur Krönung Albrechts I. von Österreich 1298: regni sedem, abgedruckt und übersetzt bei Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 144f.; die Gesta Baldewini, cap. 2, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 146–149 sprechen vom Thron als goldenem „Sitz des Reiches zu Aachen, der durch Kaiser Karl errichtet ist“ (ad auream regni sedem Aquisgrani per Carolum imperatorem situatam). 166 Lohrmann, Natürliche Ressourcen. Um 1500 gehörte Aachen mit rund 15.000 Einwohnern immerhin zu den kleineren Großstädten im ‚Heiligen Römischen Reichދ. Vgl. Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 11. 167 Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 278f.; Zowislo-Wolf, Die Messhandschrift ‚In festo beati Karoli imperatorisދ, S. 36 und Anm. 157. Zum Tragen der Karlspuppe bei den Krönungen und verschiedenen kirchlichen Festtagen vgl. Kap. 3.3.2.
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möglichst vieler Menschen zu ermöglichen.168 Die hochrangigen Vertreter der Stadt, Bürgermeister, Ratsherren und Beamte, nahmen an den feierlichen Gottesdiensten in der Marienkirche teil.169 Eine frühe Popularisierung des kirchlichen Karlskultes indiziert die wohl kurz nach 1165 entstandene Karlssequenz. Ihr Eingangsvers hob den neuen Anspruch Aachens auf Vorrang im Reich und die besondere Bindung der Stadt an das Königtum unmissverständlich hervor: Urbs aquensis, urbs regalis, regni sedes principalis, prima regum curia („Stadt der Wasser, königliche Stadt, des Reiches höchster Thronsitz, erster Hof der Könige“).170
Ursprünglich wurde sie innerhalb der Messe In virtute tua des Karlsfestes gesungen. Im Text des Liedes wird die Stadt Aachen zum einhelligen Lobgesang auf ihren heiligen Gründer Karl den Großen aufgefordert: auf den Streiter Christi und gerechten Richter, dessen Gegenwart zur Freude gereiche.171 In der Wendung karoli praesentia bringt es die Vergegenwärtigung, ja Allgegenwart des Heiligen zum Ausdruck. Symptomatischerweise verwendet die Sequenz „bei Berührung dreier Zeitstufen, nur ein Tempus: das Präsens.“172 Mit der wohl 1267 erfolgten Anbringung des genannten Eingangsverses als Bauinschrift am ersten Aachener Rathaus, dem sogenannten Grashaus, wurde nicht bloß an Karl erinnert.173 Die Stadtgemeinde machte den im Barbarossaprivileg verbrieften und in der Stadthymne popularisierten Vorrang Aachens als Haupt und Sitz des Reiches im öffentlichen Raum der Stadt dauerhaft sichtbar und bemächtigte sich damit dieses Anspruchs. Was Robert Folz als „ein literarisches Kleinod des Aachener kirchlichen Offiziums, ein wahrhaft lyrischer Ausdruck der Heiligsprechung Karls, eine Ode auf den städtischen Patriotismus“174
bezeichnet hat, wurde als fester Bestandteil der Inszenierung stadtbürgerlichen Gemeinschaftsgefühls aus dem rein liturgischen Zusammenhang gelöst und in einen säkularen übertragen. Die Karlsverehrung gehörte zur alltäglichen Frömmigkeitspraxis der Menschen im mittelalterlichen Aachen: 168 Wynands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 56f. 169 Zowislo-Wolf, Die Messhandschrift ‚In festo beati Karoli imperatorisދ, S. 36. 170 Abdruck, Übersetzung und Kommentar Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 324–329. Vgl. Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 134f.; Lermen, Urbs Aquensis, urbs regalis, S. 174; Zowislo-Wolf, Die Sequenz ‚Urbs Aquensis, Urbs regalis;ދ Belghaus, Der erzählte Körper, S. 52; Vones, Heiligsprechung und Tradition, S. 101; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 279–282; Eisenlohr, Niederschrift, S. 63; Domkapitel Aachen, Federstrich, S. 92. 171 Zowislo-Wolf, Die Messhandschrift ‚In festo beati Karoli imperatorisދ, S. 21, 23. 172 Zit. Ebd., S. 22. 173 Giersiepen, Die Inschriften der Stadt Aachen, Nr. 10†, S. 10–12; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 134 mit weiteren Details; Zowislo-Wolf, Die Messhandschrift ‚In festo beati Karoli imperatorisދ, S. 10; Pohl, Kompositionen, S. 119. Über das sogenannte Aachener Grashaus vgl. Faymonville u.a., Die profanen Denkmäler, S. 183–187; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 24–27. 174 Zit. nach der Übersetzung bei Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 134.
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„Im Münster wurde der als Heiliger verehrte Stadtpatron Karl der Große täglich fast in allen Gottesdiensten kommemoriert. Tag und Nacht brannten Kerzen vor seinen Reliquien.“175
Dies galt auch für andere Kirchen der Stadt.176 Zahlreich waren die Spenden der Bürger zur Präsenz, etwa für die Gabe von Wein und Geld an den Regularklerus und die Armen, für das Glockengeläut und die Illumination des Barbarossaleuchters im Oktogon der Marienkirche.177 Stadtrechnungen der Jahre 1334 bis 1394 belegen, dass die Bürgerschaft selbst die Ausweitung der Karlsfeier am 27. Juli vorantrieb. Stiftungen und Spenden der Aachener Bürger trugen dazu bei, aus dem Fest ein Ereignis mit größerer Reichweite und ökonomischer Bedeutung zu machen. Das Karlsfest am 4. Februar, die Oktav, profitierte von demselben Enthusiasmus.178 Die liturgische Feier des Stiftsklerus entwickelte sich, wie eine Chorordnung des Marienstiftes aus dem 14. Jahrhundert nahe legt, zu einem Bürgerfest. Zwischen dem Klerus und der Bürgerschaft der Stadt bestand diesbezüglich ein regelrechter Wetteifer um religiöse Anteilnahme.179 Die aktive Teilnahme des mittelalterlichen Stadtbürgertums an kirchlichen Festen, Gottesdiensten, Prozessionen, Stiftungen und Spenden spiegelt neben der Frömmigkeit auch die innerstädtischen Herrschaftsverhältnisse wider. Die Bürger überließen die liturgischen Feiern dem Stiftsklerus, nutzten sie aber durchaus zur Selbstdarstellung.180 Das forschungsgeschichtliche „Konzept der Kommunalisierung“181 bezeichnet nicht zuletzt die stadtbürgerliche Partizipation am Religiösen und die „Ausdehnung städtischer Herrschaft auf den Bereich ‚traditionell kirchlicher Zuständigkeiten“ދ.182 Dies gilt für die Kirchenfeste ebenso wie für das Spitalwesen, die kirchliche Vermögensverwaltung, die Sorge um die Altäre und die Ausübung des Pfarramtes, und nicht zuletzt für die Stiftungen. Beim stadtbürgerlichen Ausgreifen in den kirchlichen Bereich handelt es sich nach Auffassung von Benjamin Scheller „im Kern um eine Akkumulation von Stifterrechten“183, um die Übertragung von Patronatsrechten auf die Stiftungsdestinatäre und die Ausübung eines kommunalen Pfründenfeudalismus.184 Reichtum, Stiftungsbereitschaft, politischer Einfluss und damit die Legitimation der Zugehörigkeit zum Stadtadel bes175 Zit. Brecher, Die kirchliche Reform in Stadt und Reich Aachen, S. 288. Vgl. zu den mittelalterlichen Stadtpatronen Becker, Stadtpatrone und städtische Freiheit; Ehbrecht, Die Stadt und ihre Heiligen; Kirchgässner/Becht, Städtische Mythen; Bauer/Herbers/Signori, Patriotische Heilige. 176 Altmann, Die Pfarre St. Foillan 1, S. 57; Zender, Die Verehrung des hl. Karl, S. 106; Grimme, Karl der Große in seiner Stadt, S. 263; Teichmann, Das älteste Aachener Totenbuch, S. 24ff. 177 Teichmann, Das älteste Aachener Totenbuch, S. 26. 178 Folz, Études sur le Culte liturgique de Charlemagne, S. 6. Vgl. Laurent, Aachener Zustände im XIV. Jahrhundert, S. 110, 119, 123, 146, 179, 203, 377, 379, 395. 179 Folz, Études sur le Culte liturgique de Charlemagne, S. 8. 180 Zotz, Die Stadtgesellschaft und ihre Feste, S. 201f.; Schmugge, Feste feiern wie sie fallen, S. 65. 181 Zit. Scheller, Stiftungen und Staatlichkeit, S. 209. 182 Zit. Ebd. Vgl. Löther, Prozessionen in Nürnberg und Erfurt; Löther, Städtische Prozessionen. 183 Zit. Scheller, Stiftungen und Staatlichkeit, S. S. 210. 184 Ebd., S. 209–222.
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tätigten, so Stefanie Rüther am Beispiel der Hansestadt Lübeck, das Handeln und Sein der städtischen Oberschicht immer wieder neu. Die in gegenseitiger Konkurrenz um Seelenheil und unter ständigem gesellschaftlichem Bewährungsdruck stehenden Aktivitäten trugen maßgeblich zur Prägung der politisch-sozialen Ordnung in der Stadt bei.185 Im Hoch- und Spätmittelalter durchbrach das Aufkommen volkssprachlicher Literatur wie auch die schulische und universitäre Bildung des Stadtbürgertums das durch die Latinität schriftlicher Kommunikation geschaffene Deutungsmonopol von Königtum, Hochadel und Klerus.186 Die vielfältigen Formen der bildlichen Darstellung von Herrschaft187, die sich im städtischen Urkundenwesen äußernde Aneignung von Rechtswissen und Schriftlichkeit und die seit Beginn des 12. Jahrhunderts belegte inschriftliche Publikation von Rechtstexten im städtischen Raum brachten die wachsende Partizipation der Stadtgemeinden an der kommunalen Herrschaft und nachfolgend an der Herrschaft im Reich zum Ausdruck. Die Entwicklung in Aachen scheint diesem Trend weitgehend zu entsprechen, wie jüngst Tobias Herrmann gezeigt hat.188 Ein etwas anderes Bild zeigt der Blick auf die Geschichtsschreibung. Die in Aachen entstandenen Annalen und Chroniken des Mittelalters entstammten zumeist der Feder geistlicher Autoren und waren alles andere als kulturell hochstehend.189 Erstmals im Spätmittelalter traten eigenständige, wenn auch eher kümmerliche Geschichtswerke der Bürgerschaft hervor, die sich sowohl des Lateinischen wie der Volkssprache bedienten. Sie zeigen ein wachsendes historisches Interesse und kulturelles Selbstbewusstsein an.190 Gelegentlich hoben diese Texte den Zusammenhang zwischen Karl dem Großen und den Heiligtümern des Marienstifts hervor, was dessen fortbestehende Deutungshoheit auf dem Feld der Karlstradition verdeutlicht.191 Aachen brachte im 15. Jahrhundert keine große Chronik hervor, die die Tradition Karls des Großen hätte erneuern oder bereichern können, sondern nur eine mittelmäßig kompilierte Karlsvita, die symptomatisch-
185 Rüther, Prestige und Herrschaft; Schmid, Stifter und Auftraggeber im spätmittelalterlichen Köln; Lusiardi, Stiftung und städtische Gesellschaft. 186 Bertelmeier-Kirst/Young, Eine Epoche im Umbruch. 187 Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts, S. 66–91. 188 Herrmann, Anfänge kommunaler Schriftlichkeit. Vgl. Meuthen, Aachener Urkunden 1101– 1250; Kraus, Die Aachener Stadtrechnungen. 189 Vgl. etwa die um 1170 weitgehend kompilierten und bis 1196 fortgesetzten Annales Aquenses (ed. Waitz). 190 Die legendarische Gründung Aachens durch Karl den Großen ist zum Jahre 770 vermerkt in einer kurz nach 1482 geschriebenen Handschrift (Berlin, Königliche Bibliothek, Ms. Boruss., quarto 260), ediert von Loersch, Aachener Chronik, S. 1f. Der Text vertritt in Kenntnis des Karlsdekretes den Anspruch Aachens, Haupt aller Städte in Frankreich und Deutschland zu sein. Vgl. Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 382f. Eine mit dem Jahr 1319 beginnende, zwischen 1525 und 1531 entstandene kleine Chronik ediert Kaentzeler, Kleine Aachener Chronik. Dazu Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 384. 191 Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 380–384, hier S. 382; Schiffers, Aachener Heiligtumsfahrt, S. 192–194.
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erweise im Umfeld der Stiftskanoniker entstand.192 Die kulturelle Monopolstellung des Stiftes und die insgesamt wenig emanzipierte Schriftkultur der Gemeinde hatten offenbar eine Stagnation des lokalen Karlsdiskurses im Spätmittelalter zur Folge.193 Das Marienstift vertrat als dominierender politischer Akteur in Aachen die Belange der entstehenden Stadtgemeinde.194 Bis ins 12. Jahrhundert besaß es die alleinige Hoheit und Gerichtsbarkeit, bevor erstmals ein städtisches Schöffenkolleg in Erscheinung trat.195 Davon ausgehend bildete sich eine vom Stift und vom königlichen Schultheißen autonome Stadtgemeinde mit Bürgermeistern, Magistraten und städtischem Rat heraus.196 Erstmals entwickelte die entstehende Stadtgemeinde mit dem Stadtsiegel ein Symbol ihrer Identität.197 Auf Karl den Großen verwies das erstmals 1134 verwendete Karlssiegel, das von 1215 bis zum Ende des Alten Reiches als offizielles Stadtsiegel (sigilium civitatis) Verwendung fand, und zwar im Siegelbild des thronenden Kaisers und in der Umschrift KAROLVS MAGNVS – ROMANO – RV(M) IMP(ERATO)R AVGVSTV – S. Karl den Großen begriffen die Bürger als Vieles zugleich: als Ahnherrn des Reiches, genossenschaftliche Rechtsperson, lokale Integrationsfigur, Gründer und Patron von Stift und Stadt. Aufschlussreich für die Machtverhältnisse im mittelalterlichen Aachen ist der Umstand, dass das Siegel zusammen mit den kaiserlichen Privilegien in einer Holzlade beim Hochaltar der Marienkirche verwahrt wurde. Stadtsiegel und Urkunden mussten bei Bedarf von der Stadt beim Stiftskapitel ausgeliehen werden.198 Während auf diesem älteren Karlssiegel, auch Großes Stadtsiegel genannt, kein Hinweis auf den Stadtnamen Aachen zu finden ist, verbindet das kurz vor 1328 geschaffene Aachener Geschäftssiegel, das sogenannte jüngere Karlssiegel, das Bild der thronenden Maria und dem vor ihr knienden und ein Modell der Pfalzkapelle reichenden Kaiser Karl mit der auf den königlichen Sitz Aachen verweisenden Umschrift S(IGILLVM) · REGALIS : SEDIS : AQUENSIS : AD : CAVSAS. Das erstmals 1351 belegte Kleine Siegel Aachens, das sogenannte Sekretsiegel, zeigt diese Umschrift des jüngeren Karlssiegels zusammen mit der Krönung eines thronenden Königs durch zwei Bischöfe, zu des192 Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne, S. 513–517; Schiffers, Aachener Heilgtumsfahrt, S. 192–194. 193 Zowislo-Wolf, Die Messhandschrift ‚In festo beati Karoli imperatorisދ, S. 38. 194 Opll, Stadt und Reich, S. 26f. 195 Flach, Untersuchungen zur Verfassung und Verwaltung des Aachener Reichsgutes, S. 356, 376; ders., Pfalz, Fiskus und Stadt Aachen, S. 52ff. 196 Flach, Untersuchungen zur Verfassung und Verwaltung des Aachener Reichsgutes, S. 340, 353; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 14–16, 397. 197 Diederich, Siegel als Zeichen städtischen Selbstbewusstseins. 198 Vones, Heiligsprechung und Tradition, S. 101, 105; Meuthen, Zur Datierung und Bedeutung des älteren Karlssiegel, S. 13; ders., Aachener Urkunden 1101–1250, S. 111; Heuschkel, Die Heiligsprechung Karls des Großen, S. 266f. Über die Datierung und Bedeutung des Aachener Karlssiegels informieren Meuthen, Zur Datierung und Bedeutung des älteren Karlssiegel; ders., Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen, S. 68; Kloss, Epigraphische Bemerkungen; Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 153–156 und Abb. 3; Groten, Studien zur Frühgeschichte deutscher Stadtsiegel, S. 448–454; ders., Studien zum Aachener Karlssiegel.
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sen Füßen sich ein Wappenschild mit einem Adler – der früheste Beleg für das Aachener Stadtwappen – befindet. Nur allzu deutlich war die Stadtgemeinde darauf bedacht, den Rang Aachens als Krönungsstätte der deutschen Könige hervorzuheben.199 Die seit dem 13. Jahrhundert in den städtischen Urkunden auftretenden Selbstbezeichnungen der Aachener als „Bürger des königlichen Stuhls zu Aachen“ (cives regalis sedis Aquensis) und Aachens als „königliche Stadt“ (urbs regalis) lassen die Vermutung zu, dass sich die Stadtgemeinde durch eine besondere Nähe und Treue zum Königtum und zum Reich profilieren wollte und sich dabei symbolisch über den in der Marien- und Krönungskirche befindlichen Thronsitz definierte.200 In einer Beurkundung der Richter und Schöffen des Königlichen Stuhls zu Aachen (regalis sedis Aquensis) vom Februar 1310 über einen von den Schöffen des Dorfes Horion gegen Stablo angestrengten Rechtsstreit machten die Aachener Stadtväter selbstbewusst die Bezeichnung Aachens als „Haupt des Heiligen Römischen Reiches diesseits der Alpen“ (caput est sacri Romani imperii cis Alpes)201
zum Argument für die eigene juristische Praeeminenz.202 Als der Rat der Stadt Regenburg 1394 von Aachen einige Partikel aus dem Reliquienschatz, insbesondere Reliquien Karls des Großen erbat, erblickte man darin offensichtlich eine Konkurrenz um die Karlstradition und Gefahr für den Aachener Vorrangstatus im Reich. Wohl Stift und Rat gemeinsam schlugen die Bitte ab. Dies könnte bereits auf das Konkustodienrecht des Rates an den Heiligtümern des Stiftes verweisen.203 Obwohl die Reliquien ausschließliches Eigentum des Marienstifts waren, hatte die Stadt seit spätestens 1425 an ihnen wie auch an den übrigen Heiligtümern des Stiftschatzes eben jenes Mitbewahrungsrecht, das aus der Mitwirkung von Vertretern der Stadt an kirchlichen Feiern und einer Insignienschenkung Richard von Cornwalls an Stift und Stadt 1262 abgeleitet wurde.204 Das Stift dürfte der Stadtgemeinde das Konkustodienrecht nicht ohne vorangegangene Konflikte zugestanden haben, was den wachsenden Anspruch der
199 Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 156–158 und Abb. 4; 159f. und Abb. 7. 200 Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 1, S. 339; ders., Regesten der Reichsstadt Aachen 2, S. 45; Kraus, Regesten der Reichsstadt Aachen 3, S. 392; ders., Regesten der Reichsstadt Aachen 4, S. 450; ders., Regesten der Reichsstadt Aachen 5, S. 429. In der besonderen Beziehung zum Königtum konkurrierte Aachen mit mehreren Städten, wie etwa Frankfurt, das ebenfalls den Titel urbs regalis beanspruchte. Vgl. Belghaus, Der erzählte Körper, S. 52; Lermen, Urbs Aquensis, urbs regalis, S. 178. 201 Zit. Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 2, Nr. 89, S. 45. 202 Vgl. auch eine Beurkundung der Richter und Schöffen zu Aachen vom Juni 1312, ebd., Nr. 113, S. 60. 203 Kraus, Regesten der Reichsstadt Aachen 5, Nr. 704, S. 383: anno 1394 Ratisbonensium senatus per litteras particulas aliquas de sacro basilicae Aquensis reliquiarum thesauro, ac Caroli inprimis ossibus allisve [...] exuviis petivit, sed [...] negantur. 204 Schiffers, Die deutschen Königskrönungen; Huyskens, Der Plan des Königs Richard von Cornwallis.
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Stadtgemeinde verdeutlicht.205 Den Regensburgern gelang es übrigens 1458, unter Hinweis auf die eigene lokale Karlstradition eine Bulle Papst Pius’ II. zu erwirken, in der Regensburg als secunda civitas Aquensis dieselben Freiheiten bestätigt wurden, die Aachen bereits besaß.206 3.3.1.4 Münster und Rathaus als Medien der Herrschaftskommunikation Im Folgenden soll die Kommunikation von Königsherrschaft im lokalen Raum anhand der beiden zentralen Bauten Aachens, Marienkirche und Rathaus, näher analysiert werden. Dabei interessiert vorrangig die Ikonologie des Karlskults und der Krönungstradition als Signifikante der Vermittlung von Königsherrschaft im lokalen Raum. Mit dieser scheint eine innerstädtische Herrschaftskonkurrenz zwischen Stadtgemeinde und Marienstift verbunden gewesen zu sein, die sich in jahrhundertelangen Konflikten bis zum Ende des Alten Reiches äußerte.207 Der mächtige Bau der Aachener Marien- und Krönungskirche verkörperte die dominante Stellung des Marienstifts im Herrschaftsgefüge der Stadt und die königsnahe Stellung des Stiftes im Reich. In der Kirche befand sich das Grab Karls des Großen, über dem laut Einhart nach Karls Bestattung ein Grabmal mit vergoldetem Bogen (arcus [...] deauratus), Bild und Inschrift (cum imagine et titulo) errichtet worden war.208 Im Oktogon der Kirche wurde bereits in karolingischer Zeit unter dem Kranzgesims eine Inschrift aus der Feder Alkuins angebracht, die an die Erbauung der Kirche durch Karl den Großen erinnern und dem Bauwerk ein dauerhaftes Bestehen „in unvergänglichem Glanze“209 verheißen sollte. Die Heiligsprechung von 1165 machte die Aachener Marienkirche zum Mittelpunkt der kultischen Verehrung ihres Stifters und Erbauers, von dem aus zahlreiche Orte im Reich die Karlstradition übernahmen.210 Zu diesem Zweck wurde die Kirche prachtvoll ausgestattet. Für die von Friedrich II. angeordnete Translation der Gebeine Karls des Großen schuf man mit dem Karlsschrein das zentrale Objekt des
205 Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 221–223; Siemons, Das Konkustodienrecht der Stadt Aachen; Ramjoué, Eigentumsverhältnisse, S. 30f., 46–59. Vgl. auch Pauls, Geleitsrechte, S. 94f.; Rober, Die Beziehungen zwischen der Stadt Aachen und dem Marienstift, S. 24–41. 206 Kraus, Civitas Regia, S. 98. Vgl. Schubert, Die Quaternionen, S. 40; Kraus, Civitas Regia, S. 86–89; Schmuck, Regensburg; Schmid, Regensburg als Schauplatz mittelalterlicher Reichsversammlungen; Schmid, Von der bayerischen Landstadt, bes. S. 41. Vgl. für das Städtelob Regensburgs im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit Kraus, Civitas Regia, S. 90–102, bes. S. 99. Bereits nach 1185 war Regensburg wegen der besonderen Königsnähe „Stadt des Kaisers“ (civitas sua) genannt worden. Dazu Opll, Friedrich Barbarossa, S. 253. 207 Dazu Rober, Die Beziehungen zwischen der Stadt Aachen und dem Marienstift; Siemons, Das Konkustodienrecht der Stadt Aachen. 208 Lateinisches Zit. und deutsche Übers. nach Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 16, S. 58f. Vgl. Beumann, Grab und Thron Karls des Großen zu Aachen, S. 350f. 209 Zit. Grimme, Karl der Große in seiner Stadt, S. 229. 210 Jakobi-Mirwald, Edificium s. marie.
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Karlskultes.211 Die Inschriften dieses Schreins enthalten einen Auszug aus der Dispositio des Karlsprivilegs, in dem der Zusammenhang zwischen dem königlichen Thron in der Marienkirche und der Stadt Aachen als „Haupt aller Städte und Provinzen Galliens diesseits der Alpen“ (caput omnium civitatum et provinciarum Gallie trans alpes)212
nachdrücklich betont wird.213 Bis 1414 befand sich der Schrein im karolingischen Oktogon, danach in der im selben Jahr am 28. Januar, dem 600. Todestag Karls des Großen, fertig gestellten und geweihten Chorhalle. Neben dem Karlsschrein dienten mehrere Reliquiare des Stiftsschatzes der lokalen Karlsverehrung: das staufische Armreliquiar214, die von Karl IV. gestiftete Karlsbüste mit der Hirnschale Karls des Großen215, das Karlsreliquiar216 und das von Ludwig XI. 1481 gestiftete Armreliquiar.217 Auf den heiligen Kaiser und Kirchenpatron Karl den Großen verwiesen auch zahlreiche ikonographische Elemente des Kirchenbaus, insbesondere die Fresken und Pfeilerfiguren der Chorhalle bis hin zum Schlussstein, den Stifter der Kirche.218 Wie die Heiltümer und die drei sogenannten Aachener Reichskleinodien219 wurden die in den Schränken der Sakristei aufbewahrten Reliquiare außerhalb von Festtagen vorzugsweise adligen Rei-
211 Belghaus, Der erzählte Körper, S. 40–70; Deloie, Der Karlsschrein im Aachener Dom; Domkapitel Aachen, Der Schrein Karls des Großen; Kahsnitz, Der Wandel des Karlsbildes, S. 312f.; Grimme, Der Karlsschrein; ders., Der Aachener Domschatz, Nr. 44, S. 66–69; ders., Der Dom zu Aachen, S. 167–175; Maas/Siebigs, Der Aachener Dom, S. 57–59 sowie die Abbildung S. 131; Wiese, Der Aachener Karlsschrein; Nilgen, Herrscherbild und Herrschergenealogie, S. 361f.; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 128–133; Deutz/Deutz, Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 9–12; Kroos, Zum Aachener Karlsschrein, bes. S. 61; Müllejans, Karl der Große und sein Schrein in Aachen; Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne, S. 197–202; Kaentzeler, Gebeine Karls des Großen. 212 Zit. Meuthen, Aachener Urkunden 1101–1250, S. 88. 213 Giersiepen, Die Inschriften des Aachener Domes, Nr. 34, S. 29–36, bes. S. 31; Meuthen, Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen, S. 70. 214 Grimme, Das Armreliquiar Karls des Großen; ders., Der Aachener Domschatz, Nr. 43, S. 64– 66; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 148–150, 167. 215 Grimme, Der Aachener Domschatz, Nr. 69, S. 88–90; ders., Der Dom zu Aachen, S. 215f.; Wynands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 55f. 216 Grimme, Die gotischen Kapellenreliquiare; ders., Der Aachener Domschatz, Nr. 70, S. 90– 94; ders., Der Dom zu Aachen, S. 216–221; Wynands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 56. 217 Grimme, Der Aachener Domschatz, Nr. 100, S. 113; ders., Der Dom zu Aachen, S. 263f. 218 Kahsnitz, Der Wandel des Karlsbildes, S. 325–328 (mit Abb.); Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 194–214 (mit Abb.); Knopp, Das Glashaus von Aachen, S. 12f., 22; Maas/Siebigs, Der Aachener Dom, S. 50, 54; Heinen, Die Restaurierung der Wandmalereien, bes. S. 246, 249; Hilger, Marginalien zu einer Ikonographie, S. 1 58; Oellers, Zur Frage der älteren Verglasung des Aachener Domes, S. 113; Stephany, Zur Verglasung der Chorhalle am Aachener Dom, S. 117; Deutz/Deutz, Heilsgeschichte in Glasbildern des Aachener Domes. 219 Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien. Über den Gesamtbestand der Reichskleinodien siehe unten Kap. 3.3.2.
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senden präsentiert.220 Der heilige Karl der Große wurde in der zwischen 1455 und 1474 errichteten Karls- und Hubertuskapelle des Münsters, genauer im oberen Geschoss, an einem ursprünglich dem heiligen Mauritius, später einem gemeinsam mit Karl auch den vier Gekrönten, panonischen Märtyrerheiligen, geweihten Altar und damit „in einem eigenen Huldigungsraum“221 verehrt.222 Ob man aber in dem Bildprogramm der Chorhalle eine Verbindung von „Marien- und Karlspatrozinium, Heiligtumsverehrung und imperiale[m] Karlskult“223 oder gar „das monumentalste Zeugnis des von Kaiser Karl IV. erneuerten Kultes Kaiser Karls des Großen“224, ein „Kaisermausoleum“225 und „Abbild des Reiches“226 erblicken kann, erscheint ausgesprochen fraglich. In unmittelbarer Nähe zur Marienkirche verkörperte das erste Aachener Rathaus, das Grashaus, das Selbstbewusstsein der frühen Stadtgemeinde. Auf der Fassade des Gebäudes, unter dem Gurtgesims, hatte man, wie erwähnt, den patriotischen Eingangsvers der Karlshymne angebracht. 1273 stellte man auf der Höhe des Obergeschosses die heute verschollenen Standbilder eines Königs, wahrscheinlich Rudolf von Habsburg oder Richard von Cornwall, umgeben von sechs Kurfürsten auf.227 Die symbolische Aneignung der beiden bedeutendsten Traditionsbestände Aachens, des Karlskults und der Krönungstradition, kann als Ausdruck des reichsstädtischen Stolzes wie auch der Konkurrenz der Stadtgemeinde gegenüber dem Marienstift interpretiert werden. Das nach 1334 über der karolingischen Palastaula erbaute gotische Rathaus, das Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. ein Jahrhundert später in seiner Germania als „pallatium tota Germania nobilissimum“228 bezeichnete, dokumentiert den mittlerweile weiter gewachsenen Anspruch der Aachener Bürger. Die Hauptfassade des Gebäudes an der auf den Markt gerichteten Nordfassade war besonders prachtvoll.229 Über dem Haupteingang erhob sich, wahrscheinlich umgeben von zwei Bischofs- oder Paladinfiguren, die beinahe lebensgroße Figur
220 Reisebeschreibung des Fulgenzio Ruggieri von 1561 bei Pastor, Eine ungedruckte Beschreibung der Reichsstadt Aachen, S. 108. 221 Zit. Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 253. 222 Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 285–301; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 250–253 (mit Abb.); Wynands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 56; ders., „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 168–170; ders., Karl der Große als Patron, S. 165–170; Winands, Zur Geschichte der Architektur, S. 132–159; Heuschkel, Der ‚Kapellenkranz ދam Aachener Dom, S. 548f. 223 Zit. Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 214. 224 Zit. Hilger, Marginalien zu einer Ikonographie, S. 149. 225 Zit. Ebd., S. 160. 226 Zit. Ebd., S. 165. 227 Faymonville u.a., Die profanen Denkmäler, S. 183–187; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 24–27. 228 Zit. nach Helmrath, Sitz und Geschichte, S. 731f., Anm. 38; Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 21. Vgl. dazu Rotthoff-Kraus, Krönungsfestmähler, S. 575. 229 Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 60–97; Grimme, Das gotische Rathaus der Stadt Aachen; Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 22–65.
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Karls des Großen in einer baldachingekrönten Nische.230 Über jedem der Fenster des Festsaals befanden sich seit 1370 je zwei bunt bemalte Standbilder von Kaisern und Königen. Die Reihe von insgesamt 32 Herrscherfiguren schloss mit dem 1376 in Aachen gekrönten Wenzel. Außerdem schmückten die Fassade Apostelstandbilder und Figuren des Alten Testaments.231 Im Inneren des Rathauses, wahrscheinlich links vom Treppenaufgang, wurden nach 1452 goldene Wandinschriften angebracht, darunter als Zeichen Friedrichs III. dessen abgekürzter Wahlspruch AEIOV (Austria est imperare orbi universo) sowie Fridericus. Romanorum. Imperator.232 Auch wenn entsprechende Selbstzeugnisse nicht überliefert sind, dürfte die wohlhabende Aachener Oberschicht das Rathaus als Zeugnis ihres bürgerlichen Wohlstands, ihres reichsstädtischen Bewusstseins und ihrer kulturellen wie politischen Emanzipation angesehen haben, so wie dies auch in anderen Reichsstädten der Fall war.233 3.3.1.5 Der Reichstag als exklusives Forum der Stadtgemeinde Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts war das Spannungsverhältnis zwischen dem postulierten, theoretisch anerkannten Vorrang Aachens als Haupt des Reiches und der faktischen Lage der Stadt an der westlichen Peripherie desselben immer deutlicher geworden. So dankte Ludwig der Bayer den Richtern, Schöffen, Bürgermeistern, Rat und Bürgern Aachens in einem Schreiben vom 10. August 1346 zum einen für ihre Treue zu ihm und zum Reich, befahl ihnen aber im gleichen Atemzug, ihre Stadt wegen der Grenzlage nicht zu verlassen, „want ir sizzet up ein ende vam rige.“234 Stattdessen sollten sie „die stat inde oyg unsen kunneglichen stul alda“235 zur Ehre und zum Nutzen des Reiches beschirmen. In der exponierten Lage an der Westgrenze des Reiches war Aachen vermehrt den Begehrlichkeiten und kriegerischen Übergriffen der benachbarten Territorialherren, der Herzöge von Burgund, Brabant und Jülich und der Erzbischöfe von Lüttich und Köln, ausgesetzt.236 Der vom Aachener Stift und Magistrat in Urkunden, Geschichtswerken, Hymnen und Bauten vertretene Vorrang fand unter diesen Vorzeichen keine Entsprechung in der Realität. Der Ehrentitel eignete sich gleichwohl als historisches Argument zur Durchsetzung politischer Ziele. 230 231 232 233
Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 34. Ebd., S. 35; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 35f. Giersiepen, Die Inschriften der Stadt Aachen, Nr. 31†, S. 22. Domanski/Friese, Roland und Karl der Große am Rathaus in Bremen; Albrecht, Das Bremer Rathaus im Zeichen städtischer Selbstdarstellung; Albrecht, Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland, bes. S. 11–13, 143–159; Geis/Krings, Köln: Das gotische Rathaus; Leiverkus, Köln, S. 121–151, 188–197; Hufschmidt, Rathäuser im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit; Büttner/Schilp/Welzel, Städtische Repräsentation. 234 Zit. Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 2, Nr. 788, S. 358. 235 Zit. Ebd., S. 358f. Vgl. auch die Urkunde Karls IV. vom 14. Februar 1357 bei Kraus, Regesten der Reichsstadt Aachen 3, Nr. 194, S. 132–134. 236 Janssen, Die Reichsstadt zwischen den Territorien.
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Seit dem 15. Jahrhundert erhielt die Stadtgemeinde auf den Reichstagen ein Forum, um sich vor der Reichsöffentlichkeit als Hauptvertreter der städtischen Interessen Aachens zu profilieren. Dabei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Städten über die den Vorrang im Reichstag symbolisierende Sitzordnung (sessio), mit der nach mittelalterlichem Verständnis zugleich die Repräsentation von Herrschaft verbunden war.237 Mit Hinweis auf den im Barbarossaprivileg von 1166 und in dessen spätere Bestätigungen verbrieften Rang als Haupt und Sitz des Reiches machten die Aachener Ratsgesandten wohl erstmals auf dem Reichstag von Regensburg im Mai 1454 diesen Anspruch gegenüber Köln und allen anderen Städten des Reiches geltend, indem sie sich am Eröffnungstag demonstrativ auf die ersten Plätze der Städtebank setzten. Den Kölnern gelang es bereits am folgenden Tag, ihren angestammten Sitz wieder einzunehmen, während die Forderungen Aachens zurückgewiesen wurden. Köln führte dabei erfolgreich eine Vielzahl historischer und juristischer Argumente ins Feld.238 Aachen hatte dieser gewichtigen „mythischen Stadtgeschichtskonstruktion“239 nur wenig entgegenzusetzen. Man beschränkte sich deshalb in der Erwiderung auf den Rang als Krönungsstadt der römischen Könige und dem im Privileg Friedrich Barbarossas festgelegten Vorrang Aachens als Haupt des Reiches und hob einen wunden Punkt Kölns hervor: Während Aachen von Anfang an zum Reich gehört habe, habe Köln jahrhundertelang einen Erzbischof zum Stadtherrn gehabt und sei erst später Reichsstadt geworden.240 Der in Regensburg ungeklärt gebliebene Streit zwischen Aachen und Köln setzte sich auf den späteren Reichstagen fort. Auf dem Wormser Reichstag 1495 wurde eine Klage Aachens auf Vorsitz nach Prüfung alter Akten abgewiesen. Dies geschah mit der Begründung, dass die Stadt noch auf dem Regensburger Tag 1471 unter Köln, selbst noch unter Straßburg gesessen habe. Den Vorrang Aachens beim Krönungsmahl Maximilians I. 1486 betrachtete man als eine einmalige Ausnahme „zu besonderm gunst als dem wirt in seinem haus“.241 Dies leitet über zu einem anderen Aspekt der Herrschaftsrepräsentation und -kommunikation im lokalen Raum: dem persönlichen Auftritt des Königs bei den Aachener Krönungen.
237 Maßgeblich Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren, bes. S. 96ff. Vgl. Erler, Sitzen; ders., Vorrang, Vortritt. 238 Helmrath, Sitz und Geschichte, S. 720–726; Spiess, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, S. 50 und Anm. 54; Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung, S. 86. 239 Zit. Helmrath, Sitz und Geschichte, S. 727. 240 Ebd., S. 749f. 241 Zit. Angermeier, Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. 5,2, S. 1555f. Vgl. Helmrath, Sitz und Geschichte, S. 758, Anm. 135; Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung, S. 87f.
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3 Tradiertes Charisma
3.3.2 Die Krönungen in Aachen als ritualisierter Gabentausch Legitimation und Repräsentation von Königsherrschaft gehörten im Mittelalter untrennbar zusammen. Machtvolle Präsenz und gewandtes öffentliches Auftreten zeichneten einen fähigen König aus. Sie waren von zentraler Bedeutung für die Anerkennung seiner Herrschaft. Mittelalterliche Herrschaftsausübung bestand in beständig aufeinander folgenden Repräsentationsakten. Monarchische Repräsentation war nicht nur eine Inszenierung der bestehenden Herrschaftsordnung, sondern ein konstitutiver Akt der Herrschaftsaushandlung und -anerkennung, der entweder scheiterte oder gelang.242 Das Aachener Krönungszeremoniell war ein herausragender Bestandteil der Inszenierungskultur der vormodernen Welt. Es war ein „politisches Schauspiel“243, das sichtbar machte, wie Klerus, Adel und die große Masse der Beherrschten zu ihrem König standen und „wie dieser sein Verhältnis zu Gott ausgelegt wissen wollte“.244 Die „öffentliche Interaktion der Führungsschichten“245 während des Krönungsrituals visualisierte die ständischen Rangunterschiede innerhalb der mittelalterlichen Feudalgesellschaft.246 Die Krönungen waren Bühnen des Gabentauschs, der symbolischen Verknüpfung gegenseitiger Verpflichtungen wie auch der Sichtbarmachung königlicher Superiorität.247 Ihr ritualisierter Ablauf zeichnete normativ die Anerkennung des Herrschers wie auch dessen Wahrnehmung der Herrscherpflichten vor, die beide außerhalb des Rituals, im Regierungsalltag, unter Beweis gestellt wurden.248 Die Aachener Königskrönungen gingen von der bereits erwähnten Krönung Ottos I. 936 aus. Unter Heinrich II. wechselte der Krönungsort vorübergehend nach Mainz, was aber nicht als Entscheidung gegen Aachen und die dortige Karlsmemoria interpretiert werden sollte. Vielmehr gaben die Rangstreitigkeiten zwischen den Erzbischöfen von Köln und Mainz den Ausschlag.249 In Konkurrenz zu Mainz und Köln setzte sich Aachen als Krönungsort im 12. Jahrhundert endgültig durch. Erst jetzt kann von einer anerkannten Aachener Krönungstradition die Rede sein, wie sie mit der ausdrücklichen Erwähnung Aachens als rechter Ort der deutschen Königskrönung in der Dekretale Venerabilem Papst Innozenz’ III. vom März 1202 vorausgesetzt wird.250 Die gewohnheitsrechtliche Festlegung fand 1356 Aufnahme in die Goldene Bulle, wurde damit zur reichsrechtlichen Instituti242 243 244 245 246 247
Wenzel, Öffentliches und nichtöffentliches Herrschaftshandeln, S. 247ff. Zit. Schnith, Krönung, Sp. 1548. Zit. Ebd. Zit. Althoff, Inszenierte Herrschaft, S. 277. Weinfurter, Das Ritual der Investitur, S. 143; Keller, Ritual, Symbolik und Visualisierung. Mauss, Die Gabe; Godelier, Das Rätsel der Gabe; Kohl, Die Macht der Dinge, S. 133–138; Algazi, Negotiating the Gift. 248 Schwedler, Erfindung, Planung und Aushandlung von Ritualen, S. 43f. 249 Falkenstein, Otto III. und Aachen, S. 174f.; Hehl, Die Erzbischöfe von Mainz, S. 99f.; Militzer, Der Erzbischof von Köln, S. 106; Müller, Die Königswahlen und Königskrönungen, S. 915; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 261f.; Spiess, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, S. 49; Boshof, Köln, Mainz, Trier. 250 Hageneder, Anmerkungen zur Dekretale Per venerabilem Innocenz’ III.
3.3 Repräsentation und Kommunikation
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on und dauerte bis zur letzten Aachener Krönung, derjenigen Ferdinands I. 1531, an. Von 1562 bis zur letzten Krönung des Alten Reiches 1792 wurden die Krönungen aus einem Bündel verschiedener Gründe – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – in Frankfurt vorgenommen.251 Im 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung und der Revolutionen, gerieten die Krönungen zu einem immer häufiger belächelten, nicht mehr zeitgemäßen Anhängsel der Monarchie.252 Abgeschafft wurden sie nicht! Der in verschiedene epochale Abschnitte einzuteilende Zeitraum zwischen 936 und 1531, als in Aachen 32 Könige bzw. Mitkönige und 12 Königinnen gekrönt wurden, ist durch Kontinuitäten, mehr aber noch durch fundamentale Wandlungen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens gekennzeichnet, die sich in den Krönungen wie in einem Brennglas widerspiegeln. Vergleichsweise wenige Veränderungen betrafen den formalen Ablauf des kirchlich-liturgischen Krönungszeremoniells. Wie erwähnt fand bereits in karolingischer Zeit die Salbung als „Zeichen göttlicher Zustimmung zur Einsetzung“253 des Herrschers Eingang in das Krönungszeremoniell.254 Ende des 10. Jahrhunderts wurde sie im ostfränkisch-deutschen Reich obligatorisch. Ein den Ablauf des Zeremoniells regelnder Krönungsordo kann im westfränkischen Reich seit Mitte des 9. Jahrhunderts, im ostfränkischen Reich mit dem Ottonischen Pontifikale aus Mainz seit 961 nachgewiesen werden. Erst 1308 folgte diesem ein neuer, an die Dreikönigsliturgie angelehnter Krönungsordo.255 Eine Londoner Handschrift enthält außerdem einen um 1350 entstandenen Aachener Krönungsordo, der ebenso wie spätere Krönungsberichte Rückschlüsse auf den Ablauf des liturgischen Zeremoniells und die räumlichen Gegebenheiten in der Krönungskirche erlaubt.256 Wurden beim Krönungsakt bis ins Hohe Mittelalter hinein noch eher beliebige Insignien und Gewänder verwendet, verstetigten sich diese zum schatzartigen Ensemble der Reichskleinodien.257 Die Langlebigkeit und relative Unveränderlichkeit des Krö251 Siehe unten Kap. 4.3.1. 252 Textbelege bei Erkens, Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume, S. 9f. 253 Zit. Ott, Die Frühgeschichte von Krone und Krönung, S. 126. 254 Dierkens, Krönung, Salbung und Königsherrschaft. 255 Anton/Oexle/Schneider, Ordo (Ordines) III, Sp. 1439–1441; Vogel, Le Pontifical RomanoGermanique du dixième siècle 1–3; Elze, Die Ordines für die Weihe und Krönung des Kaisers und der Kaiserin, S. VII–XV, 1–9; Fried, Politik der Ottonen; Gussone, Ritus, Recht und Geschichtsbewußtsein, S. 36f., 40; Erdmann, Königs- und Kaiserkrönung im ottonischen Pontifikale. 256 Müller, Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 265; ders., Die Königskrönungen in Aachen, S. 53; Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 650; Goldinger, Das Zeremoniell der deutschen Königskrönung. Vgl. zu dem um 1350 entstandenen Aachener Krönungsordo in der Londoner Handschrift Add. 6335 Stephany, Über den Empfang des Römischen Königs; Geis, Überlegungen zur Liturgie, S. 568–570. Für die Krönung Friedrichs III. 1442 ist ein regelrechtes Regiebuch, die Festsetzungen des Erzbischofs Dietrich von Köln, überliefert. Vgl. Hansen, Zur Krönung König Friedrichs III., S. 212f. 257 Trnek, Die Insignien des Heiligen Römischen Reiches; Fillitz, Die Reichskleinodien – ein Versuch zur Erklärung ihrer Entstehung und Entwicklung; ders., Die Reichskleinodien; Peter-
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nungszeremoniells kennzeichnet dieses als zentralen Traditionsbestand der Königsherrschaft in der vormodernen Welt. Die Krönungen in Aachen liefen zwar als formalisierte Rituale, nie aber völlig gleich ab. Der starre, durch den Krönungsordo vorgegebene Ablauf konnte durch unvorhergesehene Vorkommnisse und dadurch notwendig gewordene Improvisationskünste verändert werden. Wenn einzelne Stücke der Reichskleinodien nicht vorhanden waren, konnten durchaus andere Gewänder und Insignien zum Einsatz kommen.258 Durch bauliche Veränderungen der Krönungskirche im Laufe der Jahrhunderte ergaben sich Abweichungen im detaillierten Ablauf der Krönungen, vor allem bedingt durch die wechselnde Funktion der Altäre im Krönungsritus259 nach dem Bau des großen Chores, der 1414 zur Krönung Sigismunds eingeweiht wurde. Die zuvor in den Krönungsritus einbezogenen Petrus- und Karlsaltäre verloren danach ihre Funktion zugunsten des in die Chorhalle verschobenen Marienaltars. Die früh- und hochmittelalterlichen Krönungsmähler fanden noch in der alten Königshalle der karolingischen Pfalz statt. 1298, bei der Krönung Albrechts von Österreich, musste man aber schon angesichts des baufälligen Zustands der Halle in die Propstei ausweichen. Wahrscheinlich seit der Krönung Karls IV. 1349 nutzte man den großräumigen Festsaal im Obergeschoss des neuen gotischen Rathauses, das, wie erwähnt, wegen seiner prächtigen, mit Reihen von Königsfiguren geschmückten Fassade weithin gerühmt wurde und das reichsstädtische Selbstbewusstsein der Aachener Bürger verkörperte. In ihrer vollen Ausprägung folgten die Aachener Krönungen einer festen Abfolge von Einzelzeremonien. Die sich seit dem 14. Jahrhundert immer mehr verdichtende Quellenlage lässt folgende idealtypische Stationen erkennen: Krönungsreise des gewählten Königs vom Wahlort Frankfurt nach Aachen – Lager des Königs vor der Stadt – Einzug in die Stadt (Herrscheradventus) – am folgenden Morgen Salbung, Investitur mit der Übergabe der königlichen Insignien und der Thronsetzung im Rahmen einer Messe in der Aachener Marienkirche – Krönungsmahl im Rathaus – Huldigung und Treueid der Bürger – Privilegienbestätigung – Schenkungen – Auszug des Königs aus der Stadt. Dieses im Spätmittelalter vollständig ausgeformtes Krönungszeremoniell soll im Folgenden unter Einbeziehung kulturwissenschaftlicher Methoden nachgezeichnet werden, um die Funktion symbolischer Kommunikation für die Selbstdarstellung von Königsherrschaft im lokalen Raum aufzuzeigen. Nach der Frankfurter Wahl zog der zu krönende König in der Regel mit seinem Gefolge in der Regel vom Rhein über Köln und Düren nach Aachen.260 Dem sohn, Die Reichsinsignien im Krönungsbrauch und Herrscherzeremoniell; ders., Über monarchische Insignien; Erler, Herrschaftszeichen; ders., Reichsinsignien, Reichskleinodien; Kubin, Die Reichskleinodien. 258 Petersohn, Die Reichsinsignien im Krönungsbrauch und Herrscherzeremoniell. 259 Geis, Überlegungen zur Liturgie, S. 569f. 260 Hilger, Der Weg nach Aachen; Volk, Von Grenzen ungestört – auf dem Weg nach Aachen; Müller, Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 265; Fromm, Zeitgenössische Berichte über Einzug und Krönung Karls V., S. 207, 225, Anm. 2; Brüning, Die Aachener Krönungsfahrt Friedrichs III.; Schneider, Johann Reuchlins Berichte, S. 549f.
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König wurde dabei in Köln ein festlicher Empfang bereitet, während in Düren lediglich die Übernachtung in einer Herberge anstand.261 Der Krönungszug nach Aachen wie auch der spätere Einritt in die Stadt zur Krönungskirche und später von dort zum Krönungsmahl diente der Einholung der Zustimmung der Reichsuntertanen zum gewählten König.262 An der Grenze des Aachener Reiches, also weit vor den Toren der Stadt, traf sich der König mit den Kurfürsten und den übrigen Großen des Reiches. Dort bezog er sein Königslager und ordnete den Krönungszug für den Einzug in die Stadt. Schon das Zusammentreffen der adligen Rivalen und Parteiungen im Lager gestaltete sich wie eine Heerschau.263 Dies führte häufig zu Rangstreitigkeiten unter den Fürsten.264 Bei der Krönung Karls IV. 1349 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Grafen von Jülich und dem Markgrafen von Brandenburg über das Tragen des Zepters.265 1376 wurde die Krönung Wenzels durch einen Disput zwischen Herzog Wenzel von Böhmen und Herzog Wenzel von Sachsen über das Marschallamt gestört.266 Karl V. vermochte 1520 Streitereien unter den Fürsten nicht rechtzeitig zu schlichten, so dass er bei einbrechender Dunkelheit und schließlich im Lichte entzündeter Fackeln in Aachen einziehen musste.267 Vorfälle dieser Art waren in der litigiösen, durch Rangdenken bestimmten Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit keineswegs ungewöhnlich und konnten bisweilen zu Handgreiflichkeiten und Duellen führen.268 Schließlich wurde der in seinem Rang Angegriffene in seinem Ehrgefühl provoziert, drohte er Ansehen und Respekt seiner Umgebung zu verlieren.269 Nicht zuletzt wurde er aber „in signis exterioribus“270 mit konkreten Herrschaftsansprüchen des Angreifers konfrontiert, so dass der König eingreifen und mitunter mühsam schlichten musste. An der gut eine Meile vor den Mauern gelegenen Stadtgrenze präsentierte der gewählte König (electus) dem Bürgermeister und den anderen Vertretern der Stadt, die ihm zur Begrüßung mit gebotener Ehrfurcht entgegen gekommen wa-
261 Belegt im Bericht des Ludwig von Eyb zur Krönung Maximilians I. 1486, vgl. Bader, Bericht des Ritters Ludwig von Eyb, S. 3f. Vgl. auch Schneider, Johann Reuchlins Berichte, S. 550. 262 Duchhardt, Krönungszüge, S. 293. 263 Spiess, Kommunikationsformen im Hochadel und am Königshof, S. 276f. 264 Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 60; Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 265. Vgl. zum Königslager auch die älteren Arbeiten von Schellhaß, Das Königslager vor Aachen; Weirich, Über das Königslager. 265 Heinrici Rebdorfensis annales imperatorum et paparum 1294–1362, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 150f. 266 Dynteri Chronicon, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 154f. 267 Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 257. 268 Erler, Vorrang, Vortritt; Fuchs, Beleidigung; Frevert, Duell. 269 Paravicini, Zeremoniell und Raum, S. 20; Spiess, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter; Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 506–509; dies., Zeremoniell als politisches Verfahren, S. 95f. 270 Bartholomäus Cassanaeus, Catalogus gloriae mundi, zit. nach Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren, S. 95 und Anm. 13.
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ren, zum Beweis seiner rechtmäßigen Wahl die Wahlurkunde.271 Beim Entgegenkommen (occursus) der Stadtoberen handelt es sich um den ersten zustimmenden rituellen Akt der Beherrschten gegenüber dem neu gewählten König.272 Die Delegation begleitete ihn daraufhin zu Pferde bis zur Stadt. Unter dem Fanfarengetöse der Stadtwächter nahmen ihn die Ratsherren, die als Zeichen ihrer Würde weiße Stäbe in den Händen trugen, und die Geistlichkeit des Marien- und Adalbertstiftes an einem der äußeren Stadttore, in der Regel am Kölntor, in Empfang. Der gewählte König stieg vom Pferd, verneigte sich vor der von den Stiftsherren mitgebrachten Karlsbüste und küsste das Lotharkreuz wie auch andere Reliquien. Mit diesem Begrüßungsritual erwies er vor Aller Augen dem Stifter der Krönungskirche und heiligen Stadtpatron seine Reverenz, brachte sein freundschaftliches Einvernehmen mit Stift und Stadt zum Ausdruck und bekannte sich in Demut und Gehorsam zum Dienst an der christlichen Religion.273 Die Büste mit der Schädelreliquie Karls des Großen sollte ihn an das leuchtende Herrschervorbild erinnern. Zugleich demonstrierte sie die Verfügungsgewalt des Marienstiftes und der Stadt über die heiligen Gebeine Karls und die von ihnen ausgehende religiös-politische Kraft.274 Dann nahmen die Stadtknechte dem König das Pferd ab. Entsprechend dem mittelalterlichen Brauch der Spoliierung des Herrschers275 wurde es gegen Zahlung von 55 rheinischen Gulden wieder ausgelöst. Der König bestieg ein frisches Pferd.276 Pferdewechsel und Einritt des Herrschers durch das Stadttor besaßen wegen der besonderen symbolischen Bedeutung dieses Bauwerkes, noch dazu in der Krönungsstadt, die Qualität eines magisch-religiösen Initiationsritus und
271 Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 265f. Die Aachener waren zumeist zuvor vom König selbst oder vom Frankfurter Rat von der erfolgten Wahl unterrichtet worden. Vgl. Brüning, Die Aachener Krönungsfahrt Friedrichs III., Anlage Nr. IV., S. 103; Kraus, Studien zur Vorgeschichte der Krönung Karls IV. in Aachen, S. 63; ders., Unbekannte Quellen zu den Krönungen, Nr. 1, S. 196f., Nr. 2, S. 197; Miethke, Die ‚Wahldekrete ދbei der Wahl eines rex Romanorum. 272 Duchhardt, Krönungszüge, S. 294; Tenfelde, Adventus, S. 48–54. 273 Schreiner, ‚Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes ;ދFuhrmann, ‚Willkommen und Abschiedދ, S. 113–120, 128–130. 274 Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 64f.; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 257; Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266; Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 564. Vgl. den Bericht eines Mitglieds des Aachener Marienstiftes zur Krönung Sigismunds 1414, De coronatione regis et introitu, abgedruckt bei Kerler, Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, 1. Abt., Nr. 168, S. 245f.; Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 156–159 sowie die Ordnung über den Einritt und Aufenthalt Friedrichs III. zu seiner Krönung 1442, abgedruckt bei Herre, Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 2. Abt., Nr. 100, S. 170–176. Vgl. Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 162f. 275 Niederstätter, Königseinritt und -gastung, S. 497. 276 Zu diesem beim Einritt Friedrichs III. 1442 belegten Brauch Brüning, Die Aachener Krönungsfahrt Friedrichs III., S. 88; für den Einritt Maximilians I. 1486 Bader, Bericht des Ritters Ludwig von Eyb, S. 5; Schneider, Johann Reuchlins Berichte, S. 550, Müller, ReichsTags Theatrum, Bd. 1, S. 32; dazu Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266.
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Reinigungsrituals, stand dem weltlichen Körper des Königs doch bald die Verwandlung zum Stellvertreter Gottes bevor.277 Der zu krönende Herrscher ritt inmitten seines großen, farbenprächtig ausstaffierten und streng nach Rängen geordneten Gefolges in die Stadt ein, was mehrere Stunden dauern konnte. Die prächtige Kleidung der Fürsten zeigte ihren hervorgehobenen Status an, schuf Distinktion.278 Bei der Krönung Karls V. 1520 soll es sich um einen Zug mit 4.500 bis 5.000 Reitern gehandelt haben. Diese Zahl erscheint durchaus plausibel.279 Zusätzlich gehörten zahlreiche mit Büchsen, Beilen und Lanzen bewaffnete Fußsoldaten zum Gefolge.280 Am Krönungszug nahmen weiterhin die geistlichen und weltlichen Kurfürsten, Reichsfürsten und der Reichsklerus, die Aachener Kleriker, Ordensgeistlichen und Magistrate, ferner zahlreiche Ritter, Knechte, Pfeifer und Trommler teil. Die Aachener Magistrate hoben sich als Stadtadel dadurch hervor, dass sie wie die Fürsten und ihr engeres Gefolge zu Pferde erschienen waren und prächtige Kleidung angelegt hatten.281 Unter einem Baldachin wurde die Karlsbüste, begleitet von zwei Priestern und acht mit langen Kupferhörnern ausgestatteten städtischen Torwächtern, getragen. Der durch das Blasen der Hörner und Pfeifen und das Schlagen der Trommeln erzeugte Lärm war fester Bestandteil der pompös inszenierten Ankunft des Königs in der Stadt, erzeugte Aufmerksamkeit und demonstrierte eindrucksvoll dessen Machtfülle.282 Als Erzmarschall des Reiches trug der Herzog von Sachsen das mit der Spitze nach oben gezückte Reichsschwert dem König voraus. Damit dokumentierte er den symbolischen Anteil der Kurfürsten am Majestätsrecht.283 Es 277 Schütte, Stadttor und Hausschwelle, S. 306–309, 315–318; Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 238ff. 278 Uytven, Showing off One’s Rank, S. 20, 29–34; Köb/Riedel, Kleidung und Repräsentation. 279 Fromm, Zeitgenössische Berichte über Einzug und Krönung Karls V., S. 224–237, bes. S. 237 und Anm. 2. Vgl. zum Einzug Maximilians I. 1486 Huyskens, Die Krönung König Maximilians I. zu Aachen, S. 80–83; Angermeier, Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. 1,2, S. 812ff.; Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 292ff. Bei der Landshuter Hochzeit des Herzogs Georg von Bayern-Landshut mit der polnischen Königstochter Hedwig 1475 wurde die Rekordzahl von 6000 auswärtigen Gästen mit über 6000 Pferden verzeichnet. Zum durchschnittlichen Gefolge eines Kurfürsten gehörten in dieser Zeit 200 bis 600 Pferde. Vgl. Spiess, Kommunikationsformen im Hochadel und am Königshof, S. 263–267 und Anm. 16. 280 Peter à Beeck, S. 218–221; Noppius, Aacher Chronick, Kap. 11, S. 46; Schulte, Die Kaiserund Königskrönungen zu Aachen, S. 60–66; Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 564, 568; Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 265f. Vgl. für die Krönung Friedrichs III. 1442 den Augenzeugenbericht des Johann Burn von Mohausen, abgedruckt bei Hansen, Zur Krönung König Friedrichs III., S. 213–216. Für den Einritt Maximilians I. 1486 vgl. den Bericht des Ludwig von Eyb, abgedruckt bei Bader, Bericht des Ritters Ludwig von Eyb, S. 4f. sowie Müller, Reichs-Tags Theatrum, Bd. 1, S. 32f. 281 Noppius, Aacher Chronick, Kap. 11, S. 46. Vgl. zur Bedeutung der vornehmen Kleidung als Ausdruck des sozialen Status Uytven, Showing off One’s Rank, S. 20, 29–34. 282 Dotzauer, Die Ankunft des Herrschers, S. 255 und Anm. 67; Žak, Luter schal und süeze doene. 283 Wolf, Die Vereinigung des Kurfürstenkollegs, S. 368; Kreiker, Marschall; Kocher, Schwert, Rechtssymbolik; Münkler, Schwert-Bilder.
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galt als Schwert Karls des Großen und symbolisierte die weltliche Gewalt über das Reich und dessen Schutz als Aufgabe des Königs.284 Bei den Krönungen Maximilians I. 1486 und Ferdinands I. 1531 nahm auch der jeweils regierende Kaiser – Friedrich III. bzw. Karl V. – am Krönungszug teil. Er verkörperte leibhaftig die Herrschaft über das im Verständnis der Zeit von Karl dem Großen begründete Heilige Römische Reich Deutscher Nation.285 Die zeitgenössischen Berichte vom bildgewaltigen und symbolbeladenen Adventus286 des zu krönenden Königs in der Stadt lassen weitere Detailbeobachtungen zu. Bereits anlässlich der Krönung Richards von Cornwall 1257 berichtet ein Geschichtsschreiber, der Annalist der mittelenglischen Benediktinerabtei Burtonon-Trent, über den Einzug des gewählten Königs in Aachen, dass diesem und seinem Gefolge „am Eingang in die genannte Stadt Geistliche und Laien, Adlige wie Unedle, Ritter und alle anderen Bürger“ entgegengekommen seien und den Krönungszug „mit großer Ehre und mit sichtlicher freudiger Bewegung, froh und heiter, ohne jede wie auch immer geartete Schwierigkeit“287 empfangen hätten. Von der allgemeinen Freude der Aachener Bürgerschaft wie auch des in die Stadt geströmten Landvolkes und der Ausschmückung der Straßen und Häuser mit Teppichen und Decken weiß der Chronist Johann von Viktring zur Krönung Rudolfs von Habsburg 1273 zu berichten.288 Auch die Krönung Adolfs von Nassau 1292 erfolgte, wie es heißt, „im Freudentaumel von Volk und Stadt Aachen“.289 Heinrich VII. wurden 1309 bei seinem Einzug in Aachen unter dem Jubel der Bürger von Aachen die Stadtschlüssel übergeben, die Zeichen der Zugangs- und Verfügungsgewalt des Königs und der Unterwerfung der reichsstädtischen Bürger gegenüber dem königlichen Stadtherr.290 Wie bei den Herrscheradventus seit dem frühen Mittelalter üblich, läuteten die Glocken der Stadt, was den Einzug Christi 284 Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 19. 285 Neuhaus, Die Römische Königswahl vivente imperatore in der Neuzeit; Wolf, Die Doppelregierung Kaiser Friedrichs III. und König Maximilians; Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, S. 10f. 286 Kölzer, Adventus regis, Sp. 170f.; Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 47–59; Tenfelde, Adventus; ders., Adventus: Die fürstliche Einholung als städtisches Fest; Niederstätter, Königseinritt und -gastung; Hack, Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen PapstHerrscher-Treffen, S. 4–9, 271–384; Mersiowsky/Widder, Der Adventus in mittelalterlichen Abbildungen. 287 Ex annalibus Burtonensibus, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 134f.: venimus Aquisgranum, occurentibus nobis in dicte civitatis introitu clericis et laicis, nobilibus et ignobilibus, militibus et aliis universis civibus eiusdem, qui nos cum honore magno et amplo tripudio leti et hilares sine cuiuslibet difficultatis obstaculo susceperunt. Vgl. Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 1, Nr. 87, S. 40f. 288 Iohannes abbatis Victoriensis Liber certarum historiarum, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 138f.: civitate autem et omni terre populo iocundante, tapetibus stratoriis plateis et domibus decoratis. 289 Iohannes abbatis Victoriensis Liber certarum historiarum, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 142f.: cum magno populorum et civitatis Aquensis tripudio. 290 Gesta Baldewini, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 146–149. Vgl. Reith/Nilgen, Schlüssel, Sp. 1493; Erler, Schlüssel; Tenfelde, Adventus: Die fürstliche Einholung als städtisches Fest, S. 50f.; Niederstätter, Königseinritt und -gastung, S. 492.
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in Jerusalem widerspiegeln und reinszenieren sollte. Das Glockengeläut entfaltete dabei eine integrative Wirkung auf die Beziehungen zwischen Herrscher und Stadtgemeinde, erzeugte Öffentlichkeit und brachte apotropäische Kräfte hervor.291 Zu einer vom gewählten König erwarteten, würdevollen und ehrenhaften Krönung gehörte demnach im Verständnis der Zeitgenossen ein möglichst begeisterter und prachtvoller Empfang durch die Bürger der Krönungsstadt. Der König besaß einen Anspruch auf Huld.292 „Die empfangende Stadt oder Untertanenkorporation signalisierte durch ihre Haltung eine friedliche Gesinnung, sie war für den Herrn offen im wörtlichen und figurativen Sinn des 293 Wortes und gab ihre Bereitschaft zur Unterwerfung, Anerkennung und Aufnahme“
zu verstehen. So stellte ein gelungener Empfang des Königs in seiner Krönungsstadt durch Präsenz und Akklamation der Beherrschten ein unabdingbares Gebot der Herrschaftskonstituierung dar, selbst wenn manche Berichte die Freude in der Stadt häufig mehr in topischer Wendung, als in der Beschreibung tatsächlichen Geschehens herausstellen.294 Umgekehrt wären eine „mangelnde rituelle Anteilnahme des Publikums“295 oder gar Protest und Kritik296 als misslungener performativer Akt und als „negative Kommunikation“297 zu bewerten gewesen. Schließlich wurde die Form der Aufnahme des Königs in den verschiedenen Städten von dessen Hofstaat kritisch beäugt und zuweilen in einer regelrechten Rezeptionsskala miteinander verglichen. Herrscheradventus und Krönung waren für die Ausübung personaler Herrschaft in der mittelalterlichen Welt konstitutiv. Sie gerieten zu öffentlichen Demonstrationen der königlichen Macht und des Vorrangs der Majestät. Von entscheidender Bedeutung war dabei die Anerkennung der königlichen Würde durch die soziale Umwelt: die Sichtbarmachung der Exzellenz.298 Reziprozität als ein bestimmender Mechanismus der symbolischen Kultur der Vormoderne lässt sich besonders anhand des Herrscheradventus aufzeigen.299 Im öffentlichen Zeremoniell des Herrscheradventus kamen nicht allein die Macht des Königs und der Gehorsam der Untertanen zum Ausdruck300, sondern auch die empfangende Stadt und ihr Klerus mahnten die Pflichten des Königs an: „das Versprechen einer guten 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300
Haverkamp, An die große Glocke hängen, S. 285f., 295f. Althoff, Huld. Zit. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 442. Duchhardt, Krönungszüge, S. 294, 296; Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 54–57. Zit. Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol, S. 395. Dazu kam es vor allem beim Einzug des römisch-deutschen Königs zur Kaiserkrönung in Rom, vgl. Duchhardt, Krönungszüge, S. 295. Zit. Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol, S. 395. Vgl. Duchhardt, Krönungszüge, S. 292; Löther, Städtische Prozessionen, S. 458f.; Niederstätter, Königseinritt und -gastung, S. 499. Korff, Ehre, Prestige, Gewissen, S. 34. Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 39; Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 493f., 496. Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 59–65.
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und gerechten Herrschaft“.301 Das Adventuszeremoniell besaß sowohl für den König wie auch für die Stadtregierung die Funktion der öffentlichen und rechtlichen Legitimation in wechselseitiger Anerkennung.302 Und nicht zuletzt machte es die interne Gliederung der Stadt nach Korporationen und bestehenden Sozialhierarchien sichtbar.303 Der Krönungszug demonstrierte die ganze Fülle königlicher Macht und Waffengewalt. Es war üblich, die Straßen Aachens zum Schutz des Königs mit Ketten abzusperren, was die ohnehin durch die Spalierbildung der Stadtsoldaten gegebene Distinktion zwischen den Zugteilnehmern und der Bevölkerung, Herrschenden und Untertanen, noch mehr vertiefte. Ketten und Spaliere sollte die Beherrschten disziplinieren, Zwischenfälle und Protestaktionen verhindern.304 Das Funktionieren der Zuschauer im Rahmen der Kulisse stellte eine konstitutive Bedingung der repräsentativen Öffentlichkeit dar.305 Doch stand das schaulustige Volk nicht allein in einer passiven Zuschauerrolle den eigentlichen Akteuren gegenüber, die das Geschehen instrumentellstrategisch zur Visualisierung ihrer Macht benutzten.306 Die Aachener Bürger führten eine Karl den Großen darstellende Riesenpuppe mit sich307, die den König symbolisch begrüßte und ihn, verstärkt durch ihre Ausmaße, an den übermächtigen Ahnherrn des Reiches und Vorbild aller Herrschertugenden erinnern musste. Bei diesem Riesen-Karl handelte es sich um eine Gliederpuppe aus Flechtwerk von über drei Metern Höhe mit Perücke und Bart, einer Krone auf dem Haupt, ein Zepter oder Schwert in der rechten und die Aachener Münsterkirche in der linken Hand, bekleidet mit einem Gewand aus gelbem Damast, auf dem vorne und hinten der Reichsadler zu sehen war, sowie mit Manschetten und Handschuhen ausgestattet. Sie wurde von einem Mann, der sich inmitten des Flechtwerks befand, an Kopf und Gliedern bewegt. Man weiß von der unter dem Karlspatronat stehenden Zunft der Fleischer, dass sie diese Puppe gleichfalls bei der Fronleichnamsprozession mitführte.308 Sie muss in der Aachener Bürgerschaft derart beliebt gewesen sein, dass sie auch bei den Prozessionen am Karlsfest, am Himmelfahrtstag und am St. Aegidiustag fest zum Straßenbild gehörte. Die Ursprünge dieser volkstümlichen Form der Aachener Karlsverehrung liegen im Dunkeln, wohl aber kennt man in West- und Südeuropa zahlreiche Beispiele für das Mitführen solcher Um301 Zit. Duchhardt, Krönungszüge, S. 295. 302 Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 509. 303 Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 522. Vgl. zur sozialen Gliederung der Stadt Ehbrecht, Zu Ordnung und Selbstverständnis städtischer Gesellschaft; Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter, S. 245–290. 304 Krönungsbericht bei Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 223. Vgl. Duchhardt, Krönungszüge, S. 298f. Brüning, Die Aachener Krönungsfahrt Friedrichs III., S. 95, Anm. 2; Tenfelde, Adventus, S. 54f. 305 In Anlehnung an Haverkamp, An die große Glocke hängen, S. 287f. und Anm. 44. 306 Spiess, Kommunikationsformen im Hochadel und am Königshof, S. 273 und Anm. 49; Münkler, Die Visibilität der Macht. 307 Belegt etwa bei der Krönung Karls V. 1520, vgl. Fromm, Zeitgenössische Berichte über Einzug und Krönung Karls V., S. 225. 308 Brecher, Die kirchliche Reform in Stadt und Reich Aachen, S. 288.
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gangsriesen bei Volksfesten.309 Die aus der karnevalistischen Festtheorie Michail Bachtins ableitbare Annahme, dass die Karlsfigur der Anteilnahme der Bevölkerung an der Herrschererhebung neben dem affirmierenden zugleich einen subversiven Charakter verliehen hätte310, kann bezweifelt werden, weil ihr in der Neuzeit als karnevalesk oder auch grotesk empfundenes Aussehen nicht der vormodernen Wahrnehmung entsprach. Sie gehörte schlicht zur religiösen Volkskultur Aachens. Das stark betonte Adlersymbol drückte die enge Verbindung der Aachener Bürger mit Kaiser und Reich aus.311 Der Zug des Königs bewegte sich derweil weiter vom Stadttor und durch die verwinkelten Straßen zur Marienkirche. Zum Zeichen der Herrschaftsübernahme streuten Reiter Gold- und Silbermünzen unter das Volk, deren Ikonologie und Umschriften Hinweise auf das Selbstverständnis des Herrschers, seine persönlichen Tugenden sowie sein politisches Programm gaben. Die Münzen warfen Glanz auf das gesamte Geschehen und waren inmitten des Pomps sichtbarer Ausdruck der Freigiebigkeit (liberalitas) des Königs. Solche Wohltaten sollten „moralische und außerrechtliche Bindungen, Dankbarkeit und Loyalitäten“312 der Beherrschten einfordern. Vielleicht vermochte der Münzwurf als vormoderne Form der Sozialfürsorge tatsächlich manchen Unzufriedenen von Protestaktionen abzuhalten.313 Vor dem Atrium hatte der Coronandus – der zu krönende König – erneut vom Pferd zu steigen, das üblicherweise der Marschall des Erzbistums Köln oder auch der Graf bzw. spätere Herzog von Jülich als Aachener Stadtvogt erhielt. Das Pferd des Königs wurde gegen Zahlung von 50 rheinischen Gulden wieder ausgelöst.314 Danach führte man den König in die Kirche, wo er zunächst im Eingangsbereich vom Dekan und vom ältesten Stiftskanoniker anhand der dortigen sogenannten Wölfin und des Pinienzapfens315 eine Unterweisung über die Bedeutung des Ortes und die königliche Herrschaft erhielt. Unter dem Barbarossaleuchter in der Mitte des Oktogons leistete er einen Kniefall, wobei er sich zum Zeichen der höchsten Selbsterniedrigung und in Erwartung von Gott erhört zu werden unter dem orgelbegleiteten Gesang des Tedeum316 mit ausgebreiteten Armen, in Kreuzesform, auf den Boden legte (prostratio).317 Danach betete er und leistete eine Spende am Marienaltar.318 Die Demutsbezeugungen des Königs folgten den Vorgaben des Krö309 Beitl, Die Umgangsriesen. 310 Behringer u.a., Fest, Sp. 916f., 937f.; Maurer, Prolegomena zu einer Theorie des Festes., bes. S. 21, 32–38, 42, 46. 311 Korn, Adler und Doppeladler; Hye, Der Doppeladler als Symbol für Kaiser und Reich; Bleisteiner, Der Doppeladler von Kaiser und Reich im Mittelalter. 312 Zit. Duchhardt, Münzwurf und Krönungsmünze, S. 625. 313 Duchhardt, Krönungszüge, S. 293, 295–297; ders., Münzwurf und Krönungsmünze, S. 631. 314 Müller, Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266; Müller, Reichs-Tags Theatrum, Bd. 1, S. 32. 315 Heuschkel, Die Aachener Lupa; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 58–60. 316 Žak, Das Tedeum als Huldigungsgesang. 317 Althoff, Fußfälle, S. 114ff.; Weinfurter, Das Demutsritual als Mittel zur Macht. 318 Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 222; Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266; Geis, Überlegungen zur Liturgie, S. 569.
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nungsordos und demonstrierten mit der Huldigung Gottes seine Frömmigkeit. Nach dem Bericht des Hartmann Mohr zur Krönung Karls V. 1520 zog sich der König daraufhin mit den Kurfürsten in die Sakristei zurück319, wo er in geheimer Unterredung ihre Privilegien bestätigte und anschließend einen Eid auf die im Jahr zuvor erstmals eingeführte Wahlkapitulation leistete, bei der es sich, wie oben erwähnt, um einen ausgehandelten Herrschaftsvertrag zwischen König und Kurfürsten handelte. Schließlich begaben sich alle zur Nachtruhe in ihre Herbergen.320 Der Schlaf des Königs zwischen dem Tag des Einzuges in die Stadt und dem eigentlichen Krönungstag symbolisierte das Zurücklassen seiner rein weltlichen Existenz in einer Art Trennungs- oder Übergangsritus.321 Am folgenden Morgen in aller Frühe schritt der zu krönende König mit seinem Gefolge und in Anwesenheit aller geladenen fürstlichen Hoheiten sowie einer großen Volksmenge in die Marienkirche zum eigentlichen Krönungszeremoniell. Dessen Termin war im Vorfeld mit Bedacht gewählt worden, besaß doch der Krönungstag eine geradezu magische Bedeutung, wenn er mit einem anderen kirchlichen Feiertag zusammenfiel.322 Auch in der Kirche kam es zu einem gewaltigen Menschenauflauf, der 1486 den Augenzeugen Johann Reuchlin zwang, seinen Bericht erschöpft abzubrechen: „Ich kann yetzo nit mee.“323 Obwohl 1520 bei der Krönung Karls V. nach einem Gästeverzeichnis nur die Fürstenfamilien eingelassen und auf den in zwei Abteilungen und nach Rang geordneten Bänken sowie in den mit Teppichen behängten Logen Platz finden sollten, entstand ein dermaßen chaotisches Gedränge, dass sich einzelne verkleidete Personen und Zurückgewiesene teilweise mit Gewalt Zugang zum Altarbereich verschaffen konnten.324 Eine wirkliche Gefährdung der rituellen Herrschaftsaneignung des Königs oder gar Widerstandshandlungen bedeuteten diese Störungen allerdings nicht. Der nun folgende Krönungsritus war in eine Messe eingebunden und fand unter Leitung der geistlichen Kurfürsten am Marienaltar des großen Chores, im sogenannten Marienchörchen325, statt, während die weltlichen Kurfürsten entspre-
319 Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 222. 320 Ebd.; Fromm, Zeitgenössische Berichte über Einzug und Krönung Karls V., S. 245–251; Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 66; Müller, Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266. Die königliche Herberge befand sich im Propsteigebäude, vgl. Pick, Die ‚Kaiserherbergen ދin Aachen, in früheren Jahrhunderten übernachtete der Electus in der alten Mauritiuskapelle der Marienkirche, vgl. Wynands, Karl der Große als Patron, S. 165. Für die Reimser Krönungen vgl. Le Goff, Reims, Krönungsstadt, S. 57. 321 Vgl. zu diesem von Arnold van Gennep geprägten Begriff im Zusammenhang mit der Salbung Nelson, The Carolingian Renaissance and the idea of kingship, S. 270. 322 Sierck, Festtag und Politik, S. 33–37, 68–120; Goetz, Der kirchliche Festtag, S. 58f. 323 Bericht des Gesandten Johann Reuchlin an Graf Eberhard von Württemberg vom 13.4.1486, abgedruckt bei Angermeier, Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. 1,2, Nr. 877, S. 825–827, Zit. S. 827; Schneider, Johann Reuchlins Berichte, S. 554. 324 Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 223; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 259; Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 564. 325 Becker, Die ehemalige Marienkapelle des Aachener Münsters.
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chend den ihnen bei der Krönung zugedachten Ämtern die Insignien trugen.326 Der mit einem goldenen Obergewand bekleidete König warf sich, während der Kölner Erzbischof über ihm das Domine, salvum fac regem sprach, wiederum unter dem Barbarossaleuchter mit ausgebreiteten Armen auf den Boden nieder. Danach nahm er im Chor vor dem Marienaltar auf einem ausstaffierten Stuhl Platz. Die Königin wurde herangeführt und neben ihn gesetzt.327 Dann folgte die eigentliche Messe. Entsprechend den Formeln der jeweiligen Krönungsordines richtete der Erzbischof von Köln als Coronator328 einige Fragen an den zu Krönenden, die als Mahnungen zur christlichen Ausübung seines künftigen Herrscheramtes zu verstehen waren. Auf die Befragung durch den Coronator antwortete der König in einer Professio, wobei er die einzelnen Fragen mit einem „Volo!“ erwiderte.329 Abgeschlossen wurde die Befragung mit einem Eid des Königs. Der Kölner befragte nun auch die übrigen Kurfürsten, den Klerus und den als populus bezeichneten Reichsadel. Dieser Teil des Ritus endete mit der Akklamation der Fürsten, dem Gelöbnis von Treue und Gehorsam gegenüber dem König, abgeschlossen mit dem dreimaligen Fiat.330 Die lateinische Befragung wurde auf Deutsch wiederholt, wenn der König des Lateinischen nicht mächtig war. Dies war wohl recht häufig der Fall.331 Nach den Gebeten der Bischöfe für den Herrscher erfolgte die etwa anderthalbstündige Salbung durch den Erzbischof von Köln.332 In der Sakristei wurde dem König zunächst mit einem einfachen Baumwolltuch das Salböl abgewaschen. Indem der König geistliche Gewänder anlegte, trat er in den Klerikerstand ein. Mit Dalmatica, Alba, Stola, Strümpfen, Handschuhen, Schuhen und Pluviale erhielt er im Regelfall den Krönungsornat aus dem Bestand der Reichskleinodien.333 Zurück am Marienaltar, gaben ihm die drei geistlichen Kurfürsten von Köln, Mainz und Trier unter Segnungen den gezückten Säbel Karls des Großen in die Hand, und die weltlichen Kurfürsten gürteten ihm diesen dann, in die Scheide gesteckt, an die Seite. Als Zeichen des Römischen Reiches legte ihm der Erzbischof von Köln einen goldenen Ring an. Darauf reichte er dem König das Zepter in die rechte und den Reichsapfel in die linke Hand. Anschließend zogen ihm zwei weltliche Kurfürsten, in der Regel der Pfalzgraf bei Rhein und der Markgraf 326 Fromm, Zeitgenössische Berichte über Einzug und Krönung Karls V., S. 237–244; Classen, Beiträge zur Geschichte der Reichsstadt Aachen unter Karl V. 327 Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 68f.; Goldinger, Das Zeremoniell der deutschen Königskrönung, S. 105; Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; Geis, Überlegungen zur Liturgie, S. 569. 328 Erkens, Ex jure regni debitus coronator. 329 Reitemeier u.a., Die christliche Legitimation von Herrschaft im Mittelalter, S. 162. Vgl. Fried, Politik der Ottonen, S. 258. 330 Langgärtner/May, Akklamation; Reitemeier u.a., Die christliche Legitimation von Herrschaft im Mittelalter, S. 162. 331 Müller, Reichs-Tags Theatrum, Bd. 1, S. 36f.; Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 225–228; Goldinger, Das Zeremoniell der deutschen Königskrönung, S. 106. 332 Reitemeier u.a., Die christliche Legitimation von Herrschaft im Mittelalter, S. 162. 333 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 117; Tschacher/Tölke, Denkmäler der Geschichte, S. 7, 13.
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von Brandenburg, den Krönungsmantel an. Zum Abschluss der Investitur setzten die drei geistlichen Kurfürsten gemeinsam dem König die Reichskrone auf.334 Damit war der König nach mittelalterlichem Verständnis zum „Stellvertreter Christi“ (vicarius Christi) auf Erden, zum „Mittler zwischen Klerus und Volk“ (mediator cleri et plebis) 335 erhoben. Das heilige Spiel der Messe verlieh dem Geschehen den Charakter einer göttlichen Offenbarung und war ein Gabentausch zwischen Mensch und Gott.336 Mit dem Übergangsritus von Salbung und Investitur erreichte die Königserhebung die Stufe der theokratischen Legitimation.337 Beide verliehen dem König höchste Würde und Gnade und stellten ihn an die Spitze der „gratialen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung“338. Selbst wenn nach dem Investiturstreit des 11. und 12. Jahrhunderts, der die sakrale Legitimierung des Königtums nachhaltig erschütterte, das Selbstverständnis des Königtums tief greifenden Veränderungsprozessen unterworfen war339, bestand die sakrale Herrscherwürde bis weit in die Neuzeit hinein fort in der von ihm erteilten, von Gott abgeleiteten Gnade (gratia Dei), die ihn aus dem Menschentum heraushob, ohne ihn in ein göttliches Wesen zu verwandeln.340 Nach der Investitur leistete der König einen Eid auf das Reich und den rechten Glauben, indem er im aufgeschlagenen Reichsevangeliar das Pergamentblatt mit dem Beginn des Johannesevangeliums im Schwurgestus berührte. Bei einzelnen Krönungen las er entsprechend diakonalem Recht, aber außerhalb der Vorschriften des Krönungsordos selbst den Text des Evangeliums.341 Auf der Empore des Oktogons vollzog man dann die Inthronisierung des Königs auf dem mit golddurchwirkten Teppichen bedeckten Thron Karls des Großen. Dort empfing er die Glückwünsche des Kurfürstenkollegiums, trat der Kanonikergemeinschaft des Marienstiftes bei342 und schlug unter dem ambrosianischen Lobgesang zahlreiche 334 Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266; Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 564; Reitemeier u.a., Die christliche Legitimation von Herrschaft im Mittelalter, S. 162f.; Mentzel-Reuters, Die Goldene Krone; Schaller, Die Wiener Reichskrone; Wolf, Die Wiener Reichskrone. 335 Zit. Schieffer, Mediator cleri et plebis. 336 Lang, Heiliges Spiel. 337 Weinfurter, Das Ritual der Investitur; Keller, Die Investitur; Krieger/Puza, Investitur; Steinicke/Weinfurter, Investitur- und Krönungsrituale. 338 Zit. Weinfurter, Das Ritual der Investitur, S. 141. 339 Vgl. Kap. 3.2. 340 Weinfurter, Das Ritual der Investitur, S. 142, 145, 149, 151; Erkens, Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume, S. 27–29. 341 Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 237; Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 70–73; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 259f.; Goldinger, Das Zeremoniell der deutschen Königskrönung, S. 106; Heimpel, Königliche Evangeliumslesung bei königlicher Krönung; Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; ders., Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266. 342 Lichius, Die Verfassung des Marienstiftes zu Aachen, S. 105–108; Fleckenstein, Rex Canonicus; Groten, Von der Gebetsverbrüderung zum Königskanonikat; Göldel, Servitium regis und Tafelgüterverzeichnis, S. 166–170; Borgolte, Über Typologie und Chronologie des Königskanonikats; Schieffer, Hofkapelle und Aachener Marienstift.
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Personen zu Rittern. Dabei handelte es sich zumeist um Mitglieder der Kaiser-, Königs- und Kurfürstenhöfe. Mit der Erhebung in den Adelsstand machte der König sie zu Mitgliedern einer Ehr- und Heldengemeinschaft und versuchte, sich ihrer Gefolgschaft zu versichern.343 Danach erfolgte in der Unterkirche gegebenenfalls die Krönung der Königin. War diese beendet, wurde die Messe fortgesetzt. Mit dem feierlichen Evangeliengesang, dem Messopfer und der Kommunion sowie einem abschließenden, als Akklamation des neuen Königs zu verstehenden Tedeum344 ging sie gegen Mittag zu Ende. In einzelnen Augenzeugenberichten ist zudem noch von einer Glückwunschrede auf das Königspaar die Rede.345 Nach der insgesamt etwa vierstündigen Krönungsmesse begab sich der Zug in strenger Ordnung zum Rathaus, wobei erneut Münzen unters Volk geworfen wurden. Der anonyme Autor der Descriptio accurata der Krönung Maximilians I. 1486 bemerkt dazu süffisant: „das Volk lief mehr dem Geld als dem König nach.“346 Im oberen Saal des mit Läufern und Gobelins prächtig ausstaffierten Rathauses fand nun das Krönungsfestmahl statt, das bis in den späten Nachmittag dauerte und nach den zeremoniellen Vorschriften der Goldenen Bulle ablief.347 Das Krönungsmahl begründete und erneuerte, in der Tradition der rituellen Speisegemeinschaft stehend, das Beziehungsgeflecht zwischen dem Herrscher und den Eliten des Reiches. Das gemeinsame Mahl „drückte die prinzipiell freundschaftlich und friedlich gestimmte Gesinnung der beteiligten Personen aus und bestärkte das Gemeinschaftsgefühl der Speisenden und Trinkenden.“348
Mehrere Berichterstatter hoben die beeindruckende Pracht des Aachener Rathauses hervor und bestätigten damit den Aachener Bürgerstolz, als dessen Ausdruck das Bauwerk errichtet worden war.349 Bei der Krönung Maximilians I. 1486 wur343 Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 237–239; Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 73f.; Müller, Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266; Reitemeier u.a., Die christliche Legitimation von Herrschaft im Mittelalter, S. 163. Eine umfangreiche Liste der von Maximilian I. 1486 zu Rittern geschlagenen Personen findet sich bei Müller, Reichs-Tags Theatrum, Bd. 1, S. 38–40; Huyskens, Die Krönung König Maximilians I. zu Aachen, S. 88–90. Vgl. zum Ritterschlag Hechberger, Adel, Ministerialität und Rittertum; Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters; Huizinga, Herbst des Mittelalters, S. 85ff.; Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 312–333. 344 Žak, Das Tedeum als Huldigungsgesang, S. 9f. 345 Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 240; Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 74; Goldinger, Das Zeremoniell der deutschen Königskrönung, S. 107f.; Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; Reitemeier u.a., Die christliche Legitimation von Herrschaft im Mittelalter, S. 163. 346 Descriptio accurata [...] coronationis Maximiliani [...] archiducis Austriae etc. in regem Romanorum, celebrata […] in Aquisgrano, […] e vetusta eius aevi editione incerto auctore (Auszug), zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 164–171, hier S. 166f. 347 Schwedler, Dienen muß man dürfen. 348 Zit. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 473. Vgl. Kolmer/Rohr, Mahl und Repräsentation; Schwedler, Dienen muß man dürfen. 349 Reisetagebuch des wahrscheinlich aus der Steiermark stammenden anonymen Autors zur Krönung Friedrichs III. 1442, abgedruckt bei Brüning, Die Aachener Krönungsfahrt Fried-
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den, wie der Berichterstatter Ludwig von Eyb notiert, zum „zeichen der miltigkaytt von koniglicher macht“350 Fleisch, Brot, ganze Hasen und gebratene Lämmer durch die Fenster den schreienden Armen und Hungerleidern auf dem Markt zugeworfen. Schließlich galten Almosen nach mittelalterlicher Vorstellung als Ausdruck christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Sie gaben dem Spender die Möglichkeit, sich „Gott zum Schuldner machen zu können“351, d.h. Wiedergutmachung für begangene Sünden zu leisten und Seelenheil zu erwerben.352 Im Gegensatz zum Getöse auf den Straßen fanden die Gespräche im Festsaal in eher gedämpfter Atmosphäre statt.353 Das Krönungsmahl erzeugte Privatheit, die Kommensualität sollte die prinzipiell freundschaftliche Beziehung der Tischgenossen, unter denen sich auch die Aachener Ratsherren befanden, und deren Exklusivität gegenüber den nichtteilnehmenden Bürgern zum Ausdruck bringen.354 Die geistlichen Kurfürsten sprachen die Tischgebete vor. Währenddessen führten die weltlichen Kurfürsten die Erzämter aus.355 Mitunter kam es beim Krönungsmahl zu Rangstreitigkeiten über die Tischordnung und die Erzämter. Bei der Krönung Rudolfs von Habsburg 1273 stritten sich beispielsweise die Erzbischöfe von Mainz und Köln über den Sitz rechts vom König.356 Mit dem Hinweis, die Freude des Festes nicht zu beeinträchtigen, brachte der König den Mainzer Erzbischof zum Nachgeben, woraus ihm keinerlei Nachteil erwachsen sollte.357 Beim Krönungsmahl Karls V. gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen den
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richs III., S. 93 und Herre, Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 2. Abt., Nr. 108, S. 192–195; auch abgedruckt in Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 163f.: Auch was da ein allerhübsch rathaws, das ich seinen gleich nie gesehen habe noch von seinem gleich nie gehört hab als von stainberch gewelibt. Und ist ein schenner prun da von stainberch. Auch der Kölner Hartmann Mohr hob in seinem Bericht zur Krönung Karls V. 1520 das Aachener Rathaus mit seinen Königsstatuen und Marmorsteinen als über die massen schön und wolgebauwen hervor. Vgl. Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 173. Zit. Bader, Bericht des Ritters Ludwig von Eyb, S. 12. Zit. nach Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, S. 376. Gründel, Almosen; Lindgren/Schlageter, Armut und Armenfürsorge; Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, S. 373–378, bes. S. 375f. sowie zum Verdienst der göttlichen Gnade ebd. S. 577–584. Belegt bei der Krönung Maximilians I. 1486 und Karls V. 1520. Vgl. Descriptio accurata, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 164–171, hier S. 164f.; dazu Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 564, 568. Descriptio accurata, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 164–171, hier S. 168– 171. Vgl. insgesamt Rotthoff-Kraus, Krönungsfestmähler, S. 573–582; Huyskens, Die Krönungsmähler. In Anlehnung an Löther, Städtische Prozessionen, S. 448f. Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 76f.; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 260f.; Rotthoff-Kraus, Krönungsfestmähler, S. 576, 578; Müller, Die Aachener Marienkirche als Krönungskirche, S. 266. Elze, Rechts und Links; Goetz, Der ‚rechte ދSitz. Protestacio de discidio inter archiepiscopos orto, zit. nach Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 140f. Vgl. zu den Vorgängen von 1273 auch Mummenhoff, Regesten der Reichsstadt Aachen 1, Nr. 269, S. 140f. Vgl. Spiess, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, S. 45f., 60, Anm. 104.
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Gesandten des böhmischen Königs und dem Erbschenk von Limburg darüber, wer dem König den ersten Wein kredenzen dürfe.358 All diese Konflikte sind keineswegs verwunderlich, bedeutete doch „die Nähe zum Herrscher […] hohes Sozialprestige und politischen Einfluss zugleich.“359 Die beim Krönungsmahl versammelten Gäste hatten sich nach der in der Goldenen Bulle bestimmten Tischordnung zu platzieren. Der König saß sechs, die Kurfürsten eine Stufe höher als die übrigen Anwesenden, darunter nachweislich seit 1442 auch die Gesandten der Städte Aachen, Nürnberg und Frankfurt sowie häufig auch Kölns.360 Der Mainzer Erzbischof trug als Erzkanzler für Deutschland einen Stab, an dem an einer Schnur sämtliche Siegel des Reiches befestigt waren. Diesen überreichte er dem König, der ihn sofort zum Symbol der Machtteilung an die Kurfürsten zurückgab.361 Vor dem Rathaus war inzwischen der Erzmarschall des Reiches auf seinem Pferd in einen Haferhaufen geritten und hatte symbolisch anstelle der Majestät mit einer Messschaufel Hafer ausgegeben. Als schließlich der Rest des Hafers unter das Volk geworfen wurde, entstand, wie es über die Krönung Maximilians I. von 1486 heißt, „darueber Gedrenge und Raffens“362. Neben dem Haferhaufen gab man unmittelbar nach Beginn des Krönungsmahles einen am Spieß gebratenen Ochsen sowie einen mit dem Reichsadler und zwei Löwen geschmückten Weinbrunnen dem gemeinen Volk zur Bedienung frei. Dabei handelte es sich um ein bei adligen Feiern übliches Schauessen, das mit einem Überraschungseffekt versehen war, da sich im Ochsen ein Kalb, in diesem ein Schwein oder eine Gans, in diesem wiederum ein Huhn und darin schließlich ein Ei befanden. Gebratenes Fleisch und Weinfontänen dem Volk als „Andeutung des Schlaraffenlandes [...] hervorzuzaubern“363, gehörte zur Pflicht jedes römisch-deutschen Königs zu Beginn seiner Regierung. Wie es in dem oben erwähnten Bericht heißt, hatte die Gabe wiederum einen Tumult zur Folge: „und als der Ochß gebraten / ward er von dem Volck in Stuecken zerrissen / und so gar hingetragen / daß gantz nichts ueberbliebe / erhob sich auch darob ein groß Gedreng / Raufen und 364 Geschleg / denn ein ieder wollte des Ochßens ein Stueck haben“.
358 Rotthoff-Kraus, Krönungsfestmähler, S. 579. 359 Zit. Spiess, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, S. 44f. 360 Müller, Reichs-Tags Theatrum, Bd. 1, S. 41; Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 78; Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 175–177. Vgl. Rotthoff-Kraus, Krönungsfestmähler, S. 576; Spiess, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, S. 43 und Anm. 17; Huyskens, Die Krönung König Maximilians I. zu Aachen, bes. S. 92–96. 361 Rotthoff-Kraus, Krönungsfestmähler, S. 578. 362 Zit. Müller, Reichs-Tags Theatrum, Bd. 1, S. 40. Vgl. Angermeier, Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 1,2, Nr. 918, S. 976. 363 Zit. Schmugge, Feste feiern wie sie fallen, S. 73. Vgl. Spiess, Kommunikationsformen im Hochadel und am Königshof, S. 269 und Anm. 30. 364 Zit. Müller, Reichs-Tags Theatrum, Bd. 1, S. 43. Ähnliches berichtet Johannes Reuchlin zur Krönung Maximilians I. 1486, vgl. Angermeier, Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 1,2, Nr. 876, S. 825. Vgl. auch Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen,
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Großzügige Geschenke dieser Art brachten dem Spender die Zufriedenheit der Untertanen und Sozialprestige ein, da dessen finanzielle Kraft sichtbar vor Augen geführt und ein tiefer Eindruck beim beherrschten Volk erzeugt wurde.365 Volksfest und Spektakel gehörten fest zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Feierkultur. Sie waren integraler Bestandteil der Herrschaftsrepräsentation. Deren wichtigste Spielregel war die sichtbare Wahrung der Distanz und damit der hierarchischen Sozialordnung.366 Tatsächlich stabilisierte die aktive Teilnahme der Untertanen am Krönungsfest bei aller Ausgelassenheit die bestehende Herrschaftsordnung und Sozialhierarchie, signalisierte sie doch deren prinzipielle Zustimmung und Zufriedenheit. Die tradierte, im Alltag verinnerlichte und deswegen auch nicht in Frage gestellte monarchische Herrschaftsordnung fand sich in der außeralltäglichen Situation des Festes rituell bestätigt, denn nirgendwo im Krönungszeremoniell wurden die im guten Geschmack und in feinen Tischsitten zum Ausdruck kommenden sozialen und kulturellen Differenzen zwischen Adel und bürgerlicher Oberschicht im Rathaus und dem losgelassenen, unzivilisierten Volk auf den Straßen sichtbarer. Die Randgruppen der mittelalterlichen Gesellschaft bleiben in den Quellen und Forschungen zur Krönungsgeschichte häufig außen vor, was ihre marginalisierte Stellung verdeutlicht. Nach der bereits zitierten, 1719 entstandenen Quellensammlung Johann Joachim Müllers zur Aachener Krönung Maximilians I. habe eine jüdische Delegation367 dem König einen vergoldeten Korb mit goldenen Eiern zum Geschenk machen wollen. Dieser habe die Überbringer zum Scherz festnehmen lassen und sich in folgendem Wortspiel ergangen: „Solche Huener / die so koestliche Eyer legen / muesse man nicht schlechts wieder fliegen 368 lassen / sondern einstallen und wohl halten.“
Danach habe er die Juden unter Danksagung wieder freigelassen. Bei der geschilderten Szene handelt es sich zwar lediglich um eine später entstandene Anekdote,369 die aber vor dem Hintergrund der besonderen Verfügungsgewalt des Königs über die Juden in seinem Reich und deren Besitz zu verstehen ist. Tatsächlich gebot Friedrich III. am 28. Februar 1486 der „gemeinen Judenschait“370 des Reiches, unter Androhung einer Leibes- und Vermögensstrafe seinen Sohn Maximili-
365 366 367 368 369
370
S. 79f.; Huyskens, Die Krönung König Maximilians I. zu Aachen, S. 97; Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 565; Rotthoff-Kraus, Krönungsfestmähler, S. 576, 578. Spiess, Kommunikationsformen im Hochadel und am Königshof, S. 276; Wolf, Die Vereinigung des Kurfürstenkollegs, S. 371. Spiess, Kommunikationsformen im Hochadel und am Königshof, S. 269f., 272f. Eine jüdische Gemeinde ist in Aachen für diese Zeit nicht nachgewiesen, vgl. Lepper, Von der Emanzipation zum Holocaust 1, S. 5. Zit. Müller, Reichs-Tags Theatrum, Bd. 1, S. 45. In den zeitgenössischen Berichten zur Krönung Maximilians I. in Aachen kommt die Geschichte noch nicht vor, vgl. Angermeier, Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. 1,1– 2, Nr. 918, S. 967–978. Wie sie in die Quellensammlung Müllers Eingang fand, konnte nicht ermittelt werden. Zit. Heinig, Regesten Kaiser Friedrichs III., Nr. 909, S. 439.
3.3 Repräsentation und Kommunikation
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an mit 1.000 Gulden zu beschenken.371 Denn seit Sigmunds Krönung 1414 galt die Bestimmung, dass sie dem neuen König ein Krönungsgeschenk zu übergeben hatten.372 Die Juden standen als Kammerknechte unter königlichem Schutz und waren im Gegenzug zu erheblichen Steuerleistungen verpflichtet.373 Die historischen Umstände des Krönungsgeschenks von 1486 dokumentieren zur Genüge die organisierte Willkür der spätmittelalterlichen Könige bei der Behandlung der Juden.374 Abgeschlossen wurde das Aachener Krönungszeremoniell mit einem abendlichen Festbankett. In den folgenden Tagen fanden weitere Feierlichkeiten, die Huldigung der Bürger auf dem Marktplatz, das urkundlich bezeugte Treuegelöbnis des Stadtrates, eine außerordentliche Zeigung der Heiligtümer der Marienkirche für den neuen König und die wichtige Erneuerung der städtischen Privilegien statt.375 Die Korrelation von Huldigung und Privilegienbestätigung erweist erneut den wechselseitigen Charakter vormoderner Herrschaftsrituale als Gabentausch. „Indem der Fürst die Loyalitätsbekundungen seiner Untertanen entgegennahm, verpflichtete er sich dazu, sich dieser Loyalität würdig zu erweisen, den Untertanen ein guter und gerechter 376 Herrscher bzw. Landesvater zu sein und ihre Erwartungen nicht zu enttäuschen.“
Die Anerkennungsleistung der Beherrschten mit der beeideten Treue- und Gehorsamsverpflichtung im politisch-rechtlichen Übergangsritus der Huldigung zog die Bestätigung der vom König gewährten Freiheiten und Rechte der Stadt nach sich.377 Die Krönungen hatten nicht nur für den König, sondern auch für die Stadt Aachen im wahrsten Sinne des Wortes ihren Preis. Nachdem die Aachener König Ruprecht den Zugang zur Krönungsstadt nach dessen Wahl 1400 wegen der vorausgegangenen Absetzung Wenzels verweigert hatten und sich der Gewählte daraufhin in Köln krönen lassen musste, verhängte der König gravierende Strafmaßnahmen gegen die Stadt. Schließlich wurde im Vorfeld der Aachener Thron371 372 373 374
Angermeier, Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. 1,1, Nr. 204, S. 202f. Aufgebauer/Schubert, Königtum und Juden im deutschen Spätmittelalter, S. 292–299. Cluse/Schmandt, Stadtbürger und Kammerknechte. Aufgebauer/Schubert, Königtum und Juden im deutschen Spätmittelalter, S. 306–312. In Frankfurt war es den Juden der Stadt bei der Wahl und Huldigung des Königs streng verboten, sich außerhalb der Judengasse auf den Straßen blicken zu lassen. Mit Ausnahme der Krönung Franz’ II. 1792 galt dieses Verbot auch für die Krönungen. Vgl. Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 90; Hattenhauer, Wahl und Krönung Franz II. AD 1792, S. 200, 473f. sowie zum mittelalterlichen Ausgehverbot für Juden bei christlichen Festen Wenninger, Das gefährliche Fest. 375 Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 84–86; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 261f.; Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 210ff.; Kraus, Studien zur Vorgeschichte der Krönung Karls IV. in Aachen, S. 64; ders., Unbekannte Quellen zu den Krönungen, Nr. 3–5, S. 197–199; ders., Regesten Kaiser Friedrichs III., Nr. 12, S. 52–55; Müller, Die Königskrönungen in Aachen, S. 54; Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 565, 568f. 376 Zit. Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 159f. 377 Holenstein, Die Huldigung der Untertanen; ders., Huldigung, Sp. 661f.; Diestelkamp, Huldigung; Kölzer, Huldigung; Staudinger, Bilder vom idealen Reich: die Huldigungen.
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3 Tradiertes Charisma
besteigung Ruprechts 1407 ein schriftlich fixierter Vergleich zwischen den Räten des Königs und den Aachener Schöffen abgeschlossen: Während die Aachener dem König neben der Huldigung einen expliziten Treueschwur leisten und ihm für die während der Krönungsfahrt nach Aachen benötigte Kost und Zehrung 8.000 rheinische Gulden zahlen mussten, hob der König alle Strafmaßnahmen auf und bestätigte urkundlich alle Privilegien und Freiheiten der Stadt.378 In der symbolischen Kommunikation des Adels mit den Stadtbürgern verbanden sich ausgefeilte ethisch-politische Verhaltenscodices, wie sie Knut Görich anhand des gescheiterten Versuchs der Stadt Mailand, die verletzte Ehre Friedrich Barbarossas durch eine Geldzahlung aufzuwiegen, dargestellt hat. Eine im öffentlichen Ritual inszenierte Geldzahlung demonstrierte die wiederhergestellte Ehre des Königs, seine Suprematie und die Unterordnung der Stadt.379 Auch jenseits solcher Sondervereinbarungen kam es zu einem regen Austausch von Geld- und Sachleistungen. Aus Dank und Reverenz an Karl den Großen erhielt das Marienstift vom König nach altem Recht die kostbaren Stoffe, Kissen und Tapisserien, die bei der Krönung Verwendung fanden, ferner den königlichen Ornat sowie für die Aufnahme in die Kanonikergemeinschaft 56 Goldgulden und drei Fuder Wein, von denen einer dem Adalbertstift abgegeben werden musste. Dies war ein guter Tausch im Vergleich mit den eher geringen Weinspenden, die umgekehrt das Marienstift dem König bei den Krönungen zu entrichten hatte. Der König erhielt allerdings mit der Aufnahme in die Kanonikergemeinschaft des Stiftes neben entsprechenden Rechten und Einfluss vor allem Einnahmen aus einer Präbende.380 Die Ausgaben der Stadt für die Krönungen waren wesentlich höher als die des Stiftes. Die Bereitstellung und Herrichtung der Quartiere für die zahlreichen hochadligen Gäste, die Ausschmückung der Häuser und Straßen, Beleuchtung und Bewachungsmaßnahmen und nicht zuletzt die prachtvolle Ausstattung des Festssaales im Rathaus für das Krönungsmahl stellten eine enorme finanzielle Belastung der Bürgerschaft dar.381 Sie erhöhten aber nach 378 Vertrag vom 22. Juli 1407, abgedruckt bei Weizsäcker, Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht, 1. Abt., Nr. 233, S. 270f. Vgl. Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 156.; Kraus, Unbekannte Quellen zu den Krönungen, Nr. 6, S. 199f.; die Privilegienbestätigung König Ruprechts für Aachen am 14. November 1407, Weizsäcker, Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht, 1. Abt., Nr. 239, S. 277. Über Einrittsverhandlungen des Königs mit anderen Städten berichtet Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 443f. 379 Görich, Geld und ‚honor ;ދders., Die Ehre Friedrich Barbarossas; ders., Ehre als Ordnungsfaktor; Althoff, Genugtuung (satisfactio); Althoff, Compositio. 380 Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 241; Keussen/Scheins, Rechte der Aachener Münsterkirche bei der Königskrönung; Schulte, Die Kaiser- und Königskrönungen zu Aachen, S. 83; Nolden, Nachrichten zu den spätmittelalterlichen Aachener Königskrönungen; Minkenberg, Der Aachener Domschatz und die sogenannten Krönungsgeschenke. 381 Kraus, Krone und Geld; Kraus, Studien zur Vorgeschichte der Krönung Karls IV. in Aachen, S. 64; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 256f. Anlässlich der Krönung Sigismunds schenkte die Stadt Aachen dem Königspaar jeweils vier Silberkannen und -becken, feine Brüsseler Tuche sowie sechs Fuder Wein im Wert von 1200 rheinischen Gulden. Vgl. Kerler, Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, 1. Abt., Nr. 171, S. 250; Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 160.
3.4 Charismatisierung traditionaler Königsherrschaft
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mittelalterlichem Verständnis deren Prestige, weil sie den Reichtum und sozialen Status der Gastgeber nachwiesen.382 Nicht mehr exakt festzustellen ist, in welchem Maße die Stadt indirekt über Besucherströme, Handel und Dienstleistungen von den Krönungen ökonomisch profitierte. In der Regel zog der gekrönte König von Aachen aus wieder zurück nach Köln. Maximilian I. besuchte nach einem prächtigen Einzug in die Rheinmetropole den Dom mit dem Schrein der Heiligen Drei Könige, bestätigte die Freiheiten der Stadt, empfing eine Gesandtschaft, erteilte Ritterschläge und feierte Feste wie auch ein mehrtägiges Turnier.383 Die materielle und symbolische Ausdruckskraft des königlichen Besuchs in Köln nach der Aachener Krönung lässt an die bestehende Konkurrenz zwischen Kölnern und Aachenern denken. Der König war bestrebt, die Ehre der beiden rivalisierenden Städte gleichermaßen zu wahren oder gegebenenfalls ihre Konkurrenz für eigene politische Zwecke auszuspielen. In der neueren Forschung hat man von der integrativen Funktion der weitgehend auf den Prinzipien von Gabe und Gegengabe und hierarchischer Unterordnung errichteten vormodernen Kultur, von ihrer konsens- und gemeinschaftsstiftenden Kraft gesprochen.384 Dies wird man nach dem Vorangegangenen differenzierter betrachten können. Nicht allein die in der Huldigung der Untertanen, sondern gerade die in den subtileren Symbolordnungen und Ritualen des Krönungsfestes zum Ausdruck kommenden sozialen Distinktionen erscheinen als „Manifestation des Obrigkeitsstaates und [...] Ausweis autokratischer, von oben nach unten durchstrukturierter Herrschaft“.385
Am Beispiel des mittelalterlichen Aachen wird deutlich, wie außeralltägliche Rituale Königsherrschaft stabilisieren und symbolische Profitsysteme in weite Bereiche des Alltags der Beherrschten erfolgreich und dauerhaft hineinwirken, so dass sich jenseits aller Konflikte eine prinzipiell königstreue Mentalität der Bewohner der Reichs- und Krönungsstadt herausbilden konnte. Mit der Gestaltung der öffentlichen Bauten und der Festkultur schrieben die Beherrschten ihre Treue zum Monarchen gleichsam in die Topographie ihrer Stadt ein. 3.4 DIE CHARISMATISIERUNG TRADITIONALER KÖNIGSHERRSCHAFT ALS ANEIGNUNG FREMDEN SYMBOLISCHEN KAPITALS 3.4 Charismatisierung traditionaler Königsherrschaft Da der nomos des Herrschaftsfeldes im Hoch- und Spätmittelalter einer sich verfestigenden feudalen Ständeordnung mit einem König an der Spitze gehorchte, kamen für die Vergabe des Königsamtes weiterhin nur Mitglieder des Hochadels in Betracht. Vergleicht man das hoch- und spätmittelalterliche Feld der Königsherrschaft mit dem der Zeit Karls des Großen, kann eine weitergehende Auswei382 Uytven, Showing off One’s Rank, S. 20. 383 Schneider, Johann Reuchlins Berichte, S. 551f., Anlage 2, S. 554–557, Anlage 3, S. 558f. 384 Schenk, Zeremoniell und Politik, S. 39f., 510; Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 518–520. 385 Zit. Frevert, Neue Politikgeschichte, S. 159f.
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3 Tradiertes Charisma
tung des Gabentauschs materieller Ressourcen um den Transfer religiöskulturellen und damit symbolischen Kapitals konstatiert werden. Charisma, Tradition und Recht wurden als Legitimationsgrundlagen des Königtums ausgebaut und institutionalisiert. Sie waren nicht mehr an die Person des Königs, sondern an sein Amt gebunden und wegen ihrer Ableitung von Gott oder einer mythischen Figur wie Karl dem Großen fremdes symbolisches Kapital. Mit dessen Akzeptanz verfestigten sich zugleich die illusio, der die Anerkennung bedingende Glaube der Akteure, und die doxa, die Verkennung der Willkür des bestehenden Herrschaftssystems, durch die Annahme ihrer Natürlichkeit. Die theologisch verfestigte sakrale Überhöhung des Königs spiegelt sich im ausgefeilten Krönungszeremoniell, vor allem in der Investitur und Salbung wieder, das die Stellung der hohen Geistlichkeit auf dem Herrschaftsfeld erhöhte. Die drei Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier gehörten zur führenden Gruppe der Kurfürsten, die seit dem Spätmittelalter über die Wahl des Königs bestimmte und faktisch die Herrschaft mit ihm teilte. Der durch die Herrschaftskonkurrenz mit den mächtigen Reichsfürsten gewachsene Bedarf des Königs an charismatischer und traditionaler Überhöhung seines Herrscheramtes kann an der Funktionalisierung Karls des Großen als genealogischer Ahnherr des deutschen Königtums und mythischer Reichsgründer aufgezeigt werden. Die Verrechtlichung der Königsherrschaft grenzte den König nun auch rational bzw. legal von den übrigen Adligen ab und fundierte seine Stellung an der Spitze des mittelalterlichen Herrschaftssystems. Darüber hinaus können eine Vergrößerung der Anzahl der Spielakteure und deren soziale Differenzierung festgestellt werden. Zum König mit seinem Hof und seinen natürlichen Kontrahenten, den Reichsfürsten, traten reichstädtischen Akteure, die Vertreter des Aachener Marienstifts und der Stadtgemeinde, was den Bedeutungszuwachs der der Städte in diesem Zeitraum widerspiegelt. All diese Akteure versuchten, in Tauschgeschäften mit dem König ihre Kapitalien zu vermehren, ohne dabei dessen Vorrang grundsätzlich in Frage zu stellen, da ihr eigener Vorrang gegenüber nachgeordneten Konkurrenten letztlich vom König abhing. Im lokalen Raum Aachens folgte auf den Verlust der ohnehin nur vorübergehenden Residenzfunktion der Pfalz in der Karolingerzeit nach einer längeren Unterbrechung der Gewinn des Krönungsortes, dem die lokalen Akteure ihren Status als Mitspieler auf dem Herrschaftsfeld verdankten. Denn die Präsenz des Königs und der Fürsten im lokalen Raum beruhte im Wesentlichen auf der bis 1531 anhaltenden Aachener Krönungstradition. Sie war das Ergebnis des Charisma- und Traditionsbedarfs mittelalterlicher Königsherrschaft, der sich in der Ausbildung des königlichen Amtscharismas und der materialisierten Tradierung dieses Charismas im Rahmen institutionalisierter zeremonieller Abläufe äußerte. Kern dieses materialisierten Charismas war die Ausbildung von Gründungsmythen, vor allem die an heilige Objekte gebundene verehrende Erinnerung und Überhöhung Karls des Großen als Gründer des Reiches, Heiliger, Ahnherr von Herrscherdynastien, mythischer Held und Stadtpatron. Nur im Rahmen dieses Prozesses konnte die von Karl erbaute Marienkirche mit dessen Thron und Grab zur Krönungskirche des Reiches werden. Hier erfolgten die rituelle Ausstattung des neuen Königs mit
3.4 Charismatisierung traditionaler Königsherrschaft
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Charisma und die Aneignung der mit Karl verbundenen Herrschaftstradition. Die Krönungsfeiern ermöglichten als zentrale kulturelle Vergemeinschaftungsformen der genannten Akteure im lokalen Raum eine face-to-face-Kommunikation über die Gestaltung der Herrschaft und verliehen dem religiösen und symbolischen Kapital die Handlungsdynamik reziproken Austauschs, von Gabe und Gegengabe. Das Spiel der Akteure auf dem mittelalterlichen Feld der Königsherrschaft im lokalen Raum ist durch eine Verzahnung von Religion und Herrschaft sowie durch eine enorme Dynamik der Akkumulation und Transformation von religiöskulturellem in symbolisches Kapital gekennzeichnet. Allen Akteuren des Feldes ging es mit den Krönungen und der Memoria Karls des Großen weniger um die Schaffung einer Erinnerungsgemeinschaft386 oder gar „Einverständnisgemeinschaft“387, als um den konkurrierenden Erwerb symbolischen Kapitals. Der König empfing in Aachen die sakral-charismatische Legitimation als Stellvertreter Gottes auf Erden und die traditionale Legitimation als Nachfolger Karls des Großen. Die an Aachen als Krönungsort gebundene Sanktionierung der Königswahl durch sakrale Überhöhung bedeutete für den König den Erwerb institutionalisierten religiös-kulturellen Kapitals, des Königstitels, und symbolischen Kapitals, Charisma, und die daraus folgende Anerkennung seiner überragenden Herrscherwürde. Diese Kapitalien distinguierten ihn von seinen adligen Konkurrenten und lieferten gute Voraussetzungen für den Bestand der Königsherrschaft. Noch war die sakrale Bestätigung des Königtums durch die Aachener Krönung die höherwertige Ergänzung der Frankfurter Wahl. Die Wahl entschied sich durch Vorabsprachen und Transferleistungen zwischen dem Königskandidaten und den ihn wählenden Reichsfürsten und war darüber hinaus rechtlichen Regelungen unterworfen. Der König musste auch nach absolvierter Wahl und Krönung die Akzeptanz seiner Herrschaft durch die adligen Standesgenossen und die übrigen Reichsstände mit der Transferierung ökonomischen und symbolischen Kapitals absichern. Die Vergabe, Schenkung und Bestätigung von Gütern, Ämtern und Privilegien sollte als Gegengabe die Bindung und Dankbarkeit der Beschenkten nach sich ziehen. Dies hatte zwar die materielle Schwächung des Königtums und den Gewinn ökonomischen und symbolischen Kapitals der übrigen Reichsstände zur Folge, bedeutete aber den Erhalt der Königsherrschaft. Mit der Diversifizierung des adligen und stadtbürgerlichen Wertekanons erhielt im Hoch- und Spätmittelalter die Ehre eine gesteigerte Bedeutung für die sozialen Beziehungen, so dass das symbolische Kapital einer Belehnung, Ämtervergabe oder Privilegierung durch den König eine bislang unbekannte immaterielle Bindekraft entfalten konnte. Die hohe Bedeutung der Ehre für den Adel zeigen die bei den Aachener Krönungen erteilten Ritterschlägen und die Rangstreitigkeiten unter den Reichsfürsten beim Krönungszug. Die Stadtbürger imitierten die Wertcodices und symbolischen Formen des Adels. Wie bedeutsam Ehre für eine Reichsstadt wie Aachen wurde, belegt zum einen die Hervorhebung Aachens als Haupt der Städte und Sitz des Reiches im wiederholt bei den Krönungen erneuerten Barbarossaprivileg und in 386 Maurer, Feste zwischen Memoria und Exzess, bes. S. 118ff. 387 Zit. Voltmer, Leben im Schutz der Heiligen, S. 235f.
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3 Tradiertes Charisma
den städtischen Urkunden. Dieser Ehrenvorrang hob die Reichs- und Krönungsstadt aus der Vielzahl der übrigen Städte hervor und sicherte als symbolisches Kapital ihre Loyalität zum König zusätzlich ab. Zum anderen trugen seit dem 15. Jahrhundert die Reichsstädte Aachen und Köln nach adligem Vorbild mit ihrem politischen Rangstreit im Reichstag zugleich einen Kampf um Ehre aus. Die geistlichen und weltlichen Kurfürsten verfügten bei der Frankfurter Wahl und Aachener Krönung des Königs über die maßgebliche Konsekrationsmacht.388 In der repräsentativen Öffentlichkeit des lokalen Raumes demonstrierten sie ihre Teilhabe an der Herrschaft im Reich. Insbesondere die geistlichen Würdenträger, an der Spitze der Erzbischof von Köln als Coronator, übten mit dem von ihnen eingebrachten religiösen Kapital – der Leitung der Krönungsmesse nach dem im Ordo vorgesehen Ablauf, der Befragung des Königs, der Salbung, Investitur und Thronsetzung – großen Einfluss auf die Legitimation und Repräsentation der königlichen Herrschaft aus. Dieses in die Krönung eingebrachte religiöse Kapital entfaltete innerhalb der christlich geprägten Gesellschaft des Mittelalters eine unmittelbare Wirksamkeit auf dem Herrschaftsfeld. Dadurch erwarben die geistlichen Kurfürsten zugleich symbolisches Kapital, das sie vom übrigen Reichsklerus abhob und ihren Vorsprung auf dem Feld der Königsherrschaft begründete. Auch die weltlichen Kurfürsten überragten die anderen Reichsfürsten in ihrer Würde, dem wichtigen symbolischen Kapital des mittelalterlichen Herrschaftsfeldes. Wie dem König ermöglichte den Kurfürsten eine Mischung aus charismatischer, traditionaler und legaler Legitimation ihre faktische Herrschaftsteilhabe. Der Anteil der weltlichen und geistlichen Kurfürsten an der Herrschaft musste bei der Wahl mühsam ausgehandelt werden und wurde in Wahlkapitulationen rechtlich fixiert. Der Aufstieg Aachens zum blühenden Wirtschaftszentrum des RheinMaasgebiets gab dem Marienstift wie der Stadtgemeinde große Mengen ökonomischen Kapitals zur Vermehrung ihres kulturellen und religiösen Kapitals in die Hand. Das bedeutendste Kapital Aachens war der in der Marienkirche begrabene Leichnam Karl des Großen – biologisches Urkapital, das in religiöses Kapital, Reliquien, überführt worden war.389 Die Öffnung des Karlsgrabes durch Otto III., die Heiligsprechung Karls des Großen durch Friedrich Barbarossa und die Entstehung der Aachener Krönungstradition zeigen, dass der um die Marienkirche zentrierte Karlsmythos zunächst als religiöses Kapital verstanden werden muss, das durch die Aneignung der Könige unmittelbar auf dem Herrschaftsfeld zum Einsatz kam. Die auf Karl den Großen und das Königtum bezogenen Artefakte, im lokalen Raum zunächst in der Marienkirche und im Rathaus räumlich zentralisiert, können als religiöses und objektiviertes kulturelles Kapital aufgefasst werden, das in symbolisches Kapital, Tradition und Charisma, transformiert und als solches in erster Linie von den Königen und, deutlich vermindert, auch von den lokalen Akteuren angeeignet wurde. Die lokalen Eliten übten diverse Funktionen als königliche Amtsträger, religiös-kulturelle Experten und beherrschte Herrschende aus. Das Aachener Marien388 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 272. 389 Tschacher, Karl der Große: Aachens dienstbare Leiche, S. 30.
3.4 Charismatisierung traditionaler Königsherrschaft
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stift als Hüterin von Thron und Grab Karls des Großen, Bewahrerin der Karlsmemoria und Besitzerin heiliger Reliquien und Teilen der Reichskleinodien, die bei der Krönung Verwendung fanden, besaß zunächst die exklusive priesterliche Deutungshoheit über das religiös-kulturelle Kapital der Stadt, die den Erwerb politischen und symbolischen Kapitals nach sich zog. Diese Schlüsselrolle machten sie mit der Feier des Karlsfestes, der hervorgehobenen Rolle beim Krönungszeremoniell, der kulturellen Dominanz, insbesondere mit der Geschichtsschreibung, und der monumentalen baulichen Erweiterung der Marienkirche Karls des Großen deutlich. Der Besitz der symbolischen Gewalt, die Macht über das Heilige und die Reproduktion des religiösen Habitus, unterschied die Kanoniker des Marienstifts maßgeblich vom Aachener Patriziat und begründete ihren Vorrang. Im Hoch- und Spätmittelalter gelang es insbesondere den Aachener Patriziern als herausgehobene Vertreter des städtischen Bürgertums, sich als eigenständige Akteure in die Realisierung von Königsherrschaft im lokalen Raum einzubringen. Ihre hervorgehobene Rolle bei den Krönungen als Approbanten des königlichen Introitus in die Stadt, die beeindruckende Ausstattung des Rathauses, die Mitwirkung am Karlskult und die Vertretung der Stadt im Reichstag brachten ihnen symbolisches Kapital ein. Ökonomisches, rechtliches und symbolisches Kapital erhielten sie vor allem durch die Erneuerung der städtischen Privilegien durch den König, die als Gegengabe für die mit der Huldigung zum Ausdruck gebrachte Königstreue der Aachener Bürgerschaft zu verstehen ist. Die Krönungen und die Vertretung der Stadt im Reichstag gaben dem Aachener Patriziat zudem öffentliche Bühnen, um ihren Vertretungsanspruch der Stadt in Konkurrenz mit dem Marienstift zu demonstrieren. Diese okkasionellen Öffentlichkeiten, ausgezeichnet durch die räumliche Nähe zum König und zu den Reichsfürsten, brachte dem sich als Stadtadel begreifenden Patriziat wichtiges symbolisches Kapital ein, das beim Kampf um die innerstädtische Herrschaft gegenüber den Stiftsherren und den nachgeordneten Mitgliedern der Stadtgemeinde, insbesondere den aufstrebenden Zunftbürgern, gebraucht wurde. Die soziale Ausdifferenzierung innerhalb des städtischen Bürgertums machte sich in Konflikten zwischen Patriziat und Zunftbürgern bemerkbar. Ein bedeutender Vorgang ist das Hervortreten kultureller Experten im Raum der Stadt, Geschichtsschreiber, Juristen und Kunsthandwerker, die an der autonomen Akkumulation kulturellen und symbolischen Kapitals durch das städtische Bürgertum mitwirkten. Im Frühmittelalter waren die kulturellen Experten nur am Königshof, an den Bischofskurien und in den Klöstern vorhanden gewesen. Von den lokalen Akteuren weist das städtische Patriziat das größte Entwicklungspotential auf dem von Adel und Klerus dominierten Herrschaftsfeld auf. Mit seiner aktiven Beteiligung an den kulturellen Vergemeinschaftungsformen, der Produktion von kulturellen Artefakten, der Schaffung exklusiver Teilöffentlichkeiten und der Anerkennung der symbolischen Gewalt der Herrschenden affirmierte es die bestehende Ordnung. Diese Ordnung garantierte dem Aachener Stadtadel und dem Klerus die innerstädtische Vorherrschaft und den übrigen sozialen Gruppen die Rechtssicherheit ihrer Standeszugehörigkeit. Das reichsstädtische Bestands- und Autonomieinteresse war aufs Engste mit dem Legitimations-
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3 Tradiertes Charisma
bedürfnis des Königtums verbunden. Der Bestand der Reichsstadt hing vom König, dem Stadtherrn, ab, dessen Legitimation von der Tradition der Krönungsstadt. Diese verinnerlichte Haltung machte den Kern der symbiotischen Beziehung zwischen der Aachener Stadtgemeinde und dem mittelalterlichen Königtum aus.
4 VERBLASSENDES CHARISMA UND PORTABILITÄT DER TRADITION: DAS ENTRÜCKTE KÖNIGTUM DES ALTEN REICHES (UM 1550–UM 1800) 4.1 EINFÜHRUNG 4.1 Einführung Die mittelalterliche Königsherrschaft hatte sich im lokalen Raum Aachens maßgeblich in den Großereignissen der Krönungen manifestiert: im pompösen Einzug des Königs, in der Übertragung des göttlichen Charismas auf den Träger der Königswürde und der sozialen Distinktion beim Krönungsmahl. Die Karlstradition stellte jeden König bei seiner Krönung in Aachen in die Nachfolge des mythischen Reichsgründers. Dessen Strahlkraft war am Ende der Epoche gemeinsam mit der umstrittenen Heiligkeit im Schwinden begriffen. Die Ausbildung der rational-legalen Herrschaftslegitimation des Königs in Form der Wahlkapitulationen mit den Kurfürsten wirkte bis in das Aachener Krönungszeremoniell hinein, was den zunehmenden Charakter der Frankfurter Wahl als politisches Geschäft zwischen dem Königskandidaten und den Fürsten des Reiches zur Genüge aufzeigt. Das Königtum wurde in der Frühen Neuzeit zum Mittelpunkt des reichsständischen Herrschaftssystems, das die Säule des Alten Reiches bildete, und es war eingebunden in die allmähliche Herausbildung der Staatsgewalt. Dieser grundlegende Veränderungsprozess soll in Kap. 4.2 näher beschrieben werden. Der Paradigmenwechsel des Königtums der Frühen Neuzeit fand einen signifikanten Ausdruck im Transfer der Krönungen von Aachen nach Frankfurt (Kap. 4.3.1). Die Frankfurter Krönungen liefen als repräsentative Akte weitgehend nach dem Aachener Vorbild ab. Die römisch-deutschen Könige erwarben durch sie weiterhin ihre sakrale Herrschaftslegitimation. Die Verlagerung der Krönungen in die Stadt der Wahl zeigt wiederum, dass die materielle Übertragung von Tradition und Charisma, wie sie in Aachen vollzogen wurde, ihre frühere Bedeutung für die Herrschaftslegitimation gegenüber dem legalen Legitimationsinstrument der Wahl eingebüßt hatte. Das Charisma wurde reguliert, die Tradition wurde nicht vollständig gebrochen, sie wurde gewissermaßen portabel. Der lokale Raum Aachens büßte wegen der Nichtpräsenz des Königs bis zum Ende des Alten Reiches einen zentralen Modus seiner mittelalterlichen Herrschaftsfunktion ein. Die Distanz zwischen dem König und mit ihm des Herrschaftszentrums zum lokalen Raum vergrößerte sich weiter – eine Tatsache, die nur durch zwei Faktoren abgemildert wurde: Zum einen hatte der Prozess der Ablösung des Königtums von diesem lokalen Raum bereits mit dem Ende der Residenzfunktion Aachens in der Karolingerzeit, der Rückkehr zum Reisekönigtum und der Bildung anderer Herrschaftsmittelpunkte im Reich begonnen. Bereits im Spätmittelalter waren Könige nur noch ihrer Krönung wegen nach Aachen gekommen. Zum anderen verlor die
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4 Verblassendes Charisma
persönliche Präsenz des Königs aufgrund der Entstehung der Staatsgewalt in der Frühen Neuzeit ohnehin ihre frühere Bedeutung. Für die Vertreter der beiden Akteursgruppen innerstädtischer Herrschaft, Marienstift und Stadtgemeinde, bildeten die Krönungsfahrten nach Frankfurt neue Möglichkeiten und Herausforderungen. Die Aachener Stadtgemeinde und das Marienstift nutzten das durch die dauerhafte Abwesenheit des Königs entstandene Vakuum, um ihre Rolle als Vermittler von Königsherrschaft im lokalen Raum auszubauen. Sie bemächtigten sich der symbolischen Ausdrucksformen des Karlskults und der Krönungstradition (Kap. 4.3.2). Dies geschah bei den Karlsfesten, den Huldigungs- und Trauerfeiern, im ikonographischen Programm der Marienkirche und des Rathauses, in der sich fortentwickelnden Lokalgeschichtsschreibung und wie bereits im Spätmittelalter durch die Nutzung des Reichstages als Forum der Stadtgemeinde. Dabei verschob sich die Deutungshoheit über die städtische Geschichte und die Verehrung Karls des Großen, der nun zunehmend auf die Funktion als Lokalheiliger und Patron der katholischen Stadt reduziert wurde, vom Marienstift auf die Stadtgemeinde. Kulturelle Experten – Juristen, Archivare und Geschichtsschreiber – spielten bei diesem Verlagerungsprozess eine tragende Rolle. Die Akkumulation der von Bourdieu benannten Kapitalsorten auf dem Feld frühneuzeitlicher Königsherrschaft im lokalen Raum unterlag, wie abschließend in Kap. 4.4 gezeigt werden soll, einer zweifachen Verschiebung der Taxonomie. Zum einen erhielt das religiöse Kapital der Akteure auf dem lokalen Herrschaftsfeld einen anderen Spielsinn, da es nicht mehr um die Heiligung des Königtums und der Stadt gehen konnte. Die Konfessionalisierung beeinträchtigte die Treue der vorübergehend protestantischen Reichsstadt zum Königtum nicht, vertiefte aber im Ergebnis der Gegenreformation die Bindung der nun katholischen Stadt zur regierenden katholischen Habsburgerdynastie. Zum anderen zeichnete sich das Feld der Königsherrschaft durch eine deutliche Aufwertung des symbolischen Kapitals der Ehre aus. Ehrkonflikte wurden nun auch für das städtische Bürgertum zu einer zentralen Angelegenheit, was sich besonders in den Rangstreitigkeiten der Vertreter Aachens mit Köln, Nürnberg und Frankfurt bei den Krönungen und im Reichstag sowie den Auseinandersetzungen zwischen den Krongesandten des Aachener Marienstiftes und des Magistrats äußerte. 4.2 DAS KÖNIGTUM IM REICHSSTÄNDISCHEN HERRSCHAFTSSYSTEM 4.2 Königtum im reichsstädtischen Herrschaftssystem Das römisch-deutsche Königtum im Alten Reich der Frühen Neuzeit war alles andere als ein absolutistisches Herrschertum, wie es Ludwig XIV. scheinbar verkörperte.1 Denn der als Kaiser titulierte Herrscher des Heiligen Römischen Rei1
Meumann/Pröve, Die Faszination des Staates, S. 23–32; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 50–52, 112f.; Asch/Duchhardt, Absolutismus – ein Mythos; Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 46f., 166–171. Vgl. zur Ausprägung des Absolutismus in Frankreich Burke, Ludwig XIV. Einschränkend Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 65; Hartmann, Der ‚Absolutismus ދLudwigs XIV; Cremer, Um 1661.
4.2 Königtum im reichsstädtischen Herrschaftssystem
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ches war weit mehr als andere europäische Monarchen in seiner Allmacht durch die Reichsstände eingeschränkt. Er war ein Primus inter Pares. Seine Herrschaft beruhte auf der Entscheidung der Kurfürsten, die als Königsmacher mit den vom König abgerungenen, grundgesetzähnlichen Herrschaftsverträgen, den Wahlkapitulationen, faktisch Mitregenten waren.2 Insofern könnte man diese Herrschaftsform mit Alexander Jendorff als Kondominat bezeichnen.3 Nicht die Fortsetzung der Schwächung des Königtums, sondern dessen Einbindung in das sich verfestigende Herrschaftssystem aller Reichsstände zeichnete das Alte Reich in der Frühen Neuzeit aus. Die konfessionelle Spaltung des Reiches führte zu tiefen Gegensätzen zwischen den protestantischen Fürsten und der katholischen Zentralmacht, die sich in der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges entluden.4 Trotz der Reichsreform des 15. Jahrhunderts, die eigentlich der Stärkung der Zentralmacht hatte dienen sollen, lag das Gewaltmonopol bei einem Kammergericht, das nicht ausschließlich vom König abhing. Die Vollstreckung des Rechts wurde im Reich seit der Exekutionsordnung von 1495 faktisch von den Ständen und den Reichstagen ausgeübt. Zum Aufbau einer Reichsbürokratie, die allein imstande gewesen wäre, die Reichssteuer, den Gemeinen Pfennig, direkt bei den Untertanen einzuziehen, kam es ebenfalls nicht, so dass das Reich als Empfänger der Matrikularbeiträge der Stände faktisch deren „Kostgänger“5 war. Aufgrund ihrer Ressourcenverschwendung bei den vorangegangenen Dynastiewechseln und annähernd permanenter Kriegsführung waren die Habsburger gezwungen, sich beinahe ausschließlich auf ihre Hausmacht zu stützen.6 Doch lassen sich auch Argumente gegen das tradierte Bild vom schwachen Herrscher des Heiligen Römischen Reiches in der Frühen Neuzeit anführen. So blieb die Stellung des Königs als Reichslehnherr bis 1806 bestehen, auch wenn die Neuvergabe heimgefallener Reichslehen an die Zustimmung der Kurfürsten gebunden wurde.7 Nach dem Westfälischen Frieden wurden die königlichen Reservatrechte zwar beschnitten8, aber auch sie blieben in beachtlichem Umfang erhalten, wenngleich häufig an die Zustimmung der Reichsstände gebunden.9 Wolfgang Reinhard erkannte übrigens in dieser Kooperation Züge des ersten europäischen Verfassungsstaates.10 Mit Arno Buschmann ist zu konstatieren, dass der römisch-deutsche König weiterhin an der Spitze des verfassungsrechtlichen
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Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit, S. 12, 87f. Jendorff, Gemeinsam herrschen. Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert; Kohler, Das Reich im Kampf um die Hegemonie in Europa, S. 22–26, 33–47, 77ff.; Duchhardt, Altes Reich und europäische Staatenwelt, S. 3–14. 5 Zit. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 54. 6 Ebd., S. 53f.; Kohler, Das Reich im Kampf um die Hegemonie in Europa. 7 Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit, S. 15f. 8 Ebd., S. 17–19. 9 Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, S. 43f. 10 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 48, 55.
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Gefüges der Reichsstände stand und über eine Fülle von Rechten verfügte.11 Mehr noch als im Spätmittelalter kann ein Dualismus zwischen Zentralgewalt und aufstrebenden Territorialstaaten in der Frühen Neuzeit als Mit-, Neben- und [vor allem] Gegeneinander des Königs auf der einen und den Partikulargewalten auf der anderen Seite betrachtet werden.12 Das Verhältnis der Reichsstädte zum Königtum war nicht allein das einer Unterordnung und Unterstützung des königlichen Stadtherrn, sondern sie forderten ihrerseits von diesem eine über die rechtliche Bestätigung ihrer Autonomie und Schutzgewährung hinausgehende „politisch-soziale Geltung und Akzeptanz“13. Die Königswahl entwickelte sich auf Kosten der vielfach nur noch als symbolische Bestätigung des eigentlichen Rechtsaktes aufgefassten Krönung zum konstituierenden Faktor der Herrschererhebung.14 Das Nebeneinander einer dominanten Wahl und einer zunehmend als deren Anhängsel betrachteten Krönung steht für den langsamen Abschied vom Mittelalter zugunsten der Durchsetzung des Neuzeitlichen.15 Bei der durch politische Streitschriften und finanzielle Transaktionen geprägten Wahl Karls V. 1519 wird dies nur zu offensichtlich.16 Der Bruch mit der Tradition der Aachener Krönungen 1562 brachte die Bedeutungsverschiebung vollends zum Ausdruck.17 Auch beim römischen Kaisertum entwickelte sich eine Dominanz der Wahl gegenüber der Krönung. Maximilian I. beanspruchte 1508 den Kaisertitel allein kraft seiner Wahl durch die Kurfürsten. Karl V. war der letzte König des Heiligen Römischen Reiches, der – 1530 in Bologna – seine Kaiserkrönung durch den Papst empfing. Der hergebrachte Zug nach Italien entfiel fortan ebenso wie das päpstliche Approbationsrecht der Königswahl.18
11 Buschmann, Kaiser und Reichsverfassung. 12 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 23; Klueting/Schmale, Das Reich und seine Territorialstaaten. 13 Zit. Krischer, Reichsstädte und Fürstengesellschaft, S. 3. Vgl. Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, bes. S. 38–49; Isenmann, Zur Frage der Reichsstandschaft der Frei- und Reichsstädte; ders., Reichsstadt und Reich; ders., Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250– 1500, bes. S. 107–130. 14 Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, S. 17, 23, 26f.; Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 9; Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 8–11; Neuhaus, Königswahl; Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 6–14; Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495–1806, S. 23; Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 29f.; Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 230f.; Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 642; Reuter-Pettenberg, Bedeutungswandel der Römischen Königskrönung; Schieffer, Reisekönigtum, S. 37f. 15 Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 47f.; Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, S. 7f.; Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, S. 143. 16 Wrede, Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. und zur vorsichtigen Bewertung der missglückten Krönung Karls V. Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 563; Dotzauer, Die Ausformung der frühneuzeitlichen deutschen Thronerhebung, S. 39–42. 17 Siehe Kap. 4.3.1. 18 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 52; Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, S. 11.
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Die Konsekrationsmacht der Kurfürsten wurde durch die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts immer häufiger vorkommenden Königserhebungen vivente imperatore, bei denen der regierende Kaiser als Königsmacher seines Sohnes oder Bruders auftrat, nur scheinbar eingeschränkt. Denn die Kurfürsten fungierten häufig als Initiatoren der Nachfolgebestimmung des Königs.19 Insofern erscheint die lediglich im 18. Jahrhundert kurzzeitig unterbrochene dynastische Herrschaft der Habsburger von 1438 bis zum Ende des Alten Reiches nur bedingt als Stärkung der monarchischen Zentralgewalt. Von der Durchsetzung des Erbprinzips im Reich konnte auch in der Frühen Neuzeit keine Rede sein.20 Die im Mittelalter weitgehend auf ihre charismatische und traditionale Legitimation wie auch auf personale Rechtsbeziehungen gestützte Königsherrschaft erhielt in der Frühen Neuzeit eine deutlichere Entwicklungsrichtung hin zu dem von Max Weber benannten legal-rationalen Typus der Herrschaft. Dieser Typus beruht, wie bereits erwähnt, auf dem Glauben der Beherrschten an die Legitimität einer beliebig gewillkürten Satzung, verstanden als System von allgemein verbindlichen Regeln und Normen, das der Verwissenschaftlichung und dem Prinzip der Positivität unterliegt. In der Frühen Neuzeit nahm vorrangig das Naturrecht als Grundlage der Vertragstheorien die Rolle eines solchen Regelsystems ein. Der Durchbruch legal-rationaler Herrschaft erfolgte im Okzident Schritt für Schritt seit dem 17. Jahrhundert, endgültig dann in den verfassungsmäßigen Kodifikationen des Revolutionszeitalters.21 In den großen Staatstheorien der Epoche beruhte die Monarchie nicht mehr auf der sakral oder traditional legitimierten Stellung des Königs, sondern auf einem naturrechtlich fundierten Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag.22 Den Inhaber der Herrschaft im vorkonstitutionellen Ständestaat der Frühen Neuzeit bezeichneten bereits die Zeitgenossen mit dem Begriff der Obrigkeit, die Beherrschten demgegenüber als Untertanen.23 Diese neue Auffassung wurde durch die Übersetzung und Exegese von Röm. 13,1 in der Lutherbibel auch religiös-politisch legitimiert: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.“24
Die Gehorsamspflicht des Untertanen stand zur Gewissensfreiheit des Christenmenschen, wie sie, basierend auf der von Luther formulierten Lehre, 1555 im Augsburger Religionsfrieden zum Bestandteil der Reichsverfassung geworden war, keineswegs im Widerspruch. Eingeschränkt wurde die Pflicht zum Gehorsam zum einen durch naturrechtlich-christliche und kollektive Freiheitsvorstellungen wie durch das religiös motivierte Recht zur Auswanderung, zum anderen durch 19 Neuhaus, Königswahl; Dotzauer, Königswahl, S. 4f. 20 Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, S. 40. 21 Breuer, Max Webers tragische Soziologie, S. 63–79; ders., Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 191–208. 22 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 100–124. 23 Herms, Obrigkeit; Lotz, Obrigkeit und Untertan. 24 Zit. nach Dibelius, Obrigkeit, S. 11 zur Wirkungsgeschichte aus theologischer Sicht.
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die im Humanismus entdeckte Vorstellung von der deutschen bzw. ständischen Freiheit. Die in der westeuropäischen Staatstheorie des 18. Jahrhunderts postulierten Menschen- und Freiheitsrechte gründeten auf diesen Traditionen.25 Wenn Jacques Le Goff bei der Beschreibung des epochalen Wandels in der Frühen Neuzeit den Begriff der Säkularisierung26 vermeidet und stattdessen von einer „Übertragung des Sakralen auf den Staat“27 oder einer „Autonomisierung der Politik gegenüber der Religion“28 spricht, so findet dieses Urteil mit Blick auf die Reformation und ihre Folgen wie auch auf die frühneuzeitliche „Verdichtung von Herrschaft“29 seine Berechtigung.30 Das auf religiös-magischen Vorstellungen beruhende persönliche Charisma des Herrschers trat im Alten Reich der Frühen Neuzeit in den Hintergrund, ohne aber gänzlich zu verschwinden. Die Heilkraft der wundertätigen Könige propagierte man in England hingegen noch im 18. Jahrhundert, in Frankreich sogar noch 1825 beim Herrschaftsantritt Charles’ X.31 Wolfgang Reinhard macht für den langen Prozess des Niedergangs der Monarchie das „Ausrinnen der Transzendenz“32 aus dem Bewusstsein der herrschenden Eliten verantwortlich. In der Frühen Neuzeit fand der im Mittelalter begonnene Prozess der Verstetigung, Versachlichung und Institutionalisierung des im Amt verstetigten Charismas des Herrschers seine Fortsetzung. Dessen Charisma wurde reguliert, indem es in verfassungsähnliche und bürokratisch-rationale Strukturen eingebunden wurde. Doch blieb es Charisma, weil es weiterhin außergewöhnlich und nicht jedermann zugänglich war.33 Ältere verfassungsgeschichtliche Forschungen erkannten zwei Typen von Monarchien in der Frühen Neuzeit: die dynastische Erbmonarchie in Westeuropa und die Wahlmonarchie im Alten Reich34, jene fortschrittlich, diese angeblich in vielfacher Weise rückständig. In der heutigen Forschung wird überwiegend bestritten, dass das Alte Reich ein Nationalstaat oder überhaupt ein Staat gewesen sei, doch können Prozesse der Teilmodernisierung auch auf verfassungspolitischem Gebiet nicht übersehen werden.35 Bei diesem in Europa nicht ganz so sin25 Schmidt, Freiheit, Sp. 1150. 26 Von Entsakralisierung spricht etwa Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 7. Vgl. zur neueren Debatte Bielefeldt, Säkularisierung – ein schwieriger Begriff; Lehmann, Säkularisierung; Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung, S. 19–28. 27 Zit. Le Goff, Das alte Europa, S. 42. 28 Zit. Ebd. 29 Zit. Völker-Rasor, Die Epoche im Europa-Maßstab, S. 35. 30 Schorn-Schütte, Die Reformation; Jussen/Koslofsky, Kulturelle Reformation; Vierhaus, Frühe Neuzeit – Frühe Moderne; Bogner, Säkularisierung als Programmierungswechsel. 31 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 94f. 32 Zit. Ebd., S. 93. 33 Gebhardt, Charisma als Lebensform, S. 44–46, 49–69. Vgl. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 215ff. Zur schwachen Ausprägung der charismatischen Überhöhung des römischen-deutschen Königtums gegenüber den Königen in Frankreich und England auch Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495–1806, S. 23. 34 Duchhardt, Krönungszüge, S. 292. 35 Schmidt, Das frühneuzeitliche Reich; ders., Geschichte des Alten Reiches; Schnettger, Imperium Romanum – Irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat, bes. S. 247ff.; Gotthard, Das
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gulären Gebilde36 handelte es sich um einen föderalen, dezentral gelenkten Dachverband, der zahlreiche Territorien überwölbte. Sein eigentlicher Zweck war die innere und äußere Friedenswahrung und der Schutz des Rechts. In Abgrenzung zum modernen Flächenstaat wurde das Reich als eine aus verschiedenen Ländern „zusammengesetzte Monarchie“37 bezeichnet. Die personale Herrschaft des Mittelalters wandelte sich im Laufe eines langen Wachstums- und Verdichtungsprozesses zur neuzeitlichen Staatsgewalt.38 Dieser war durch eine fortschreitende Institutionalisierung und innere Organisation der Zentralmacht gekennzeichnet. Die Lenkung des Reiches und der Territorien erforderte im wachsenden Maße den Erlass von Gesetzen und Ordnungen. Für den einzelnen Untertanen manifestierte sich Obrigkeit im Alltag vornehmlich als lokale Verwaltung. Amtsträger traten als Vertreter des Königs in Erscheinung. Die Schaffung eines professionellen Regierungs- und Verwaltungsapparates in Gestalt der modernen Bürokratie war ein Ergebnis dieses Prozesses, die Entstehung der Ständeversammlungen und Parlamente als Erweiterung der Curia Regis ein anderes.39 Ein weiterer Indikator für diesen Prozess ist die Huldigung der Untertanen, der im Mittelalter auf rechtlich fixierten Leistungen und Gegenleistungen zwischen Herrscher und Beherrschten, Schutz und Schirm gegen Treue, beruhte, sich aber in der Frühen Neuzeit zunehmend vom Rechtsakt zum barocken Fest wandelte.40 Im sich ausbildenden modernen Staat, wie er sich erstmals im absolutistischen Polizeistaat manifestierte, wurde der Eid zunehmend einseitig.41 Der Staat vereinnahmte den Untertan und assimilierte ihn schließlich als Staatsangehörigen.42 Es entstand die Gesetzgebungshoheit des souveränen Staates. Die Zentralbehörden wurden zur modernen Verwaltungsbürokratie ausgebaut. Es folgten die Formulierung einer „säkularisierte[n] Gemeinwohlideologie“43 und die „Vollendung der Verwissenschaftlichung des Rechts“.44 Die Entwicklung des modernen Staates ist als „Stabilisierung der dynastischen Fürstenherrschaft“45 zu verstehen.
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Alte Reich 1495–1806, S. 1–9; Schilling, Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 53f. Für die ältere Forschungsdiskussion vgl. vor allem Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776–1806, 1–2; ders., Das Reich; Press, Das Heilige Römische Reich in der deutschen Geschichte; Brauneder, Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit; Aretin, Das deutsche Problem im Alten Reich, S. 6. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 44–47. Zit. Ebd., S. 44. Reinhard, Lebensformen Europas, bes. S. 20–26; ders., Lebensformen Europas, S. 293–304; Breuer/Treiber, Entstehung und Strukturwandel des Staates; Breuer, Der Staat; Carl, Herrschaft, Sp. 405f. Neuerdings abweichend für eine Staatsbildung ‚von unten ދBlockmans/Holenstein/Mathieu, Empowering Interactions. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 125–209, 224f. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 217–384, bes. S. 361–371, 433–478. Ebd., S. 514f. Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Zit. Reinhard, Lebensformen Europas, S. 300. Zit. Ebd. Zit. Schnettger, Dynastie, Sp. 2; Kunisch/Neuhaus, Der dynastische Fürstenstaat.
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Der moderne Staat bildete sich nicht vorrangig im obersten Stockwerk des Reiches, der Königsherrschaft, sondern insbesondere nach 1648 auf der darunter liegenden Ebene der Territorien heraus. Dies ist der Grund, warum im Verhältnis des Königs und der Reichsstädte manches beim Alten blieb. Das Wachstum der Staatsgewalt erfolgte in den deutschen Ländern als Sammlung unterschiedlichster Herrschaftsrechte durch „Kauf, Tausch, Erbschaft, Heirat, Schenkung oder auch Gewalt“.46 Im Laufe der Zeit setzte sich hier mit der Primogeniturerbfolge das Prinzip der Unteilbarkeit des Landes zu „einer von der Person des Inhabers unabhängig existierenden Anstalt“47 durch. Verlierer der frühneuzeitlichen Verfassungsentwicklung waren trotz häufig praktizierter Dynastiebildung und nepotistischer Bindung an die weltlichen Territorialherren die geistlichen Fürstentümer. Den weltlichen Fürsten gelang es infolge der Reformation auf deren Kosten, die landesherrliche Kirchenherrschaft in Landeskirchentümer mit konfessionsstaatlicher Prägung zu verwandeln.48 Die Legitimation des Herrschers und des Adels durch Tradition wurde in der Frühen Neuzeit modifiziert, nachdem humanistisch gebildete Gelehrte wie Nikolaus von Kues, Lorenzo Valla oder Erasmus von Rotterdam mit kritischphilologischen Methoden zentrale Texte und Urkunden mittelalterlicher Herrschaftslegitimation als Fälschungen entlarvt hatten. Die genealogischen Abstammungslegenden als Stützpfeiler der traditionalen Herrschaft des Adels mussten nun mit beeideten Adelsproben und recherchierten Stammbäumen historisch und rechtlich abgesichert werden. Der patrizische Stadtadel übernahm in seinem Bestreben, mit dem Landadel gleichgestellt zu werden, diese Form der Herrschaftslegitimation.49 Debatten über legitime Herrschaft, Obrigkeitskritik und das postulierte Recht auf Not- und Gegenwehr formulierten in der Frühen Neuzeit den wachsenden Anspruch der Untertanen auf Herrschaftsteilhabe und Bestimmung der normativen Grundlagen gerechter Herrschaft. Bereits im Mittelalter war es zu Aufständen, Herrscherabsetzung oder gar -tötung gekommen. In der Frühen Neuzeit trat eine neue Widerspenstigkeit der Untertanen in Erscheinung, die wie in England eine revolutionäre Dimension annehmen konnte. Als tradierte Institution blieb die europäische Monarchie trotz aller Erschütterungen und verfassungsrechtlichen Modifikationen erhalten.50 Erst die Aufklärung brachte eine prinzipielle und radikale Herrschaftskritik hervor, die prägend für die politische Kultur der Französischen Revolution werden sollte. 46 47 48 49
Zit. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 56. Zit. Ebd. Ebd., S. 56f., 59. Angenendt, Verschriftlichte Mündlichkeit – vermündlichte Schriftlichkeit, S. 10–13; Gersmann, Adel, bes. Sp. 45f.; Graf, Ahnenprobe. 50 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 226–239; Schorn-Schütte, Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht; Schorn-Schütte/Tode, Debatten über die Legitimation von Herrschaft, Einleitung, S. 11; Heinig, Fürstenmorde; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 296; Schmale, Mentalitätengeschichte, S. 177f.; Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 519; Carl, Herrschaft, Sp. 409–413.
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Die bereits im Spätmittelalter feststellbare Sesshaftwerdung des Reisekönigtums in Residenzen setzte sich in der Frühen Neuzeit als Prinzip durch. Die Herrschaftsausübung des Königs war in der Frühen Neuzeit nicht mehr wie im Mittelalter an seine persönliche Präsenz vor Ort gebunden.51 In Westeuropa hatte dies die Konzentration der Königsherrschaft in einer einzigen Regierungs- und Verwaltungszentrale zur Folge. Das Alte Reich wurde hingegen von mehreren Hauptstädten mit unterschiedlichen Funktionen aus regiert.52 Wien, das Ferdinand I. 1533 zu seinem Wohnsitz gemacht hatte, entwickelte sich zur Residenzstadt. Als ständiger Sitz des Kaiserhofes, des Reichshofrats und des Reichsvizekanzlers besaß die Stadt wichtige, aber nicht alle Funktionen einer Hauptstadt.53 Bedeutende zentrale Institutionen des Alten Reiches befanden sich in anderen Städten.54 Frankfurt war Stadt der Königswahl und Krönungsstadt, Nürnberg und Aachen Aufbewahrungsorte der Reichskleinodien. Mainz bezog seine Bedeutung aus der Stellung des Erzbischofs als Reichserzkanzler, Coronator und ranghöchster geistlicher Würdenträger des Reiches.55 Augsburg war nicht nur ein bedeutendes Finanzzentrum, sondern „längere Zeit fast regelmäßig Ort der Reichstage“.56 Regensburg, bereits im Mittelalter Schauplatz zahlreicher Reichsversammlungen, erhielt im 17. Jahrhundert den Immerwährenden Reichstag. Speyer und Wetzlar beherbergten nacheinander das Reichskammergericht.57 Die Vielzahl der Territorien brachte außerdem mehrere hundert Fürstenhöfe hervor, von denen aus im Reich mitregiert wurde.58 Residenzen aufstrebender Territorialstaaten wie Berlin, Dresden, Hannover oder München gewannen deshalb zunehmend an Bedeutung.59 Die Polyzentrik des Reiches hatte eine Entfaltung der Herrschaftskommunikation zur Folge, die sich beispielsweise in der Entstehung der Reichspost unter Maximilian I. widerspiegelt.60 Gleichzeitig wurde das diplomatische Gesandtschaftswesen zum Medium grenzüberschreitender Herrschaftskommunikation zwischen Reichen und Territorien.61 Der Ausbau der Residenzstädte brachte eine Prachtentfaltung der Herrschaftsarchitektur mit sich. Das Barockschloss erscheint als „Tempel der Religion roy-
51 Rudolph, Die visuelle Kultur des Reiches, S. 232. 52 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 86; Brunn, Die Deutschen und ihre Hauptstadt, S. 19; Ehlers, Metropolis Germaniae, S. 27; Eibach, Hauptstadt. Schieffer, Reisekönigtum, S. 25f., 38; Boockmann, Aachen, S. 12; Kraus, Civitas Regia, S.10f. und Anm. 7. Problematisch Berges, Das Reich ohne Hauptstadt. 53 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 86; Brunn, Die Deutschen und ihre Hauptstadt, S. 20; Aretin, Wien; Mikoletzky, Das ‚Kaiserliche Hoflagerދ. 54 Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 2; Brunn, Die Deutschen und ihre Hauptstadt, S. 20. 55 Theissen, Mainz, S. 146. 56 Zit. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 86. 57 Aretin, Das Reich ohne Hauptstadt; Theissen, Speyer; Schmidt, Wetzlar. 58 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 83, 86. 59 Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 70; Baumunk, Von Arolsen und anderen Hauptstädten; Müller, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit. 60 Gerteis, Reisen, Boten, Posten, Korrespondenz; Behringer, Im Zeichen des Merkur, S. 127ff. 61 Lutter, Politische Kommunikation.
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ale“ und Bühne des frühneuzeitlichen „Theaterstaats“62. Die Architektur diente hier nicht allein der Herrschaftsrepräsentation, sondern darüber hinaus als Instrument der Rang- und Statuskonkurrenz, als Abbild der von den Königen und Fürsten beanspruchten reichsstaatlichen Stellung. Machtpolitische Ansprüche konnten durch besonders prächtige und aufwändige Bauten nachhaltig legitimiert und kommuniziert werden.63 Die übrigen Reichsstände imitierten die adlige Zurichtung der Architektur zum Medium konkurrierender Herrschaftsrepräsentation und -kommunikation. In den wohlhabenden Städten des Reiches entstanden prächtige Rathäuser als Ausdruck der Vorrangstellung des patrizischen Stadtadels und der „Visualisierung der städtischen Ordnung“64. Für den weiteren Fortgang der Überlegungen stellt sich die grundlegende Frage, wie sich die beschriebenen Veränderungen der Königsherrschaft im lokalen Raum manifestierten. Dies ist insofern eine spannende Frage, weil insbesondere den Reichsstädten in der Frühen Neuzeit von der Forschung eine rückständige Passivität im Rahmen des frühstaatlichen Modernisierungsprozesses bescheinigt wird.65 Deshalb sollen zunächst die von Aachen nach Frankfurt verlagerten Königskrönungen daraufhin untersucht werden, wie das Königtum mit den übrigen Reichsständen, insbesondere den Vertretern der Reichsstadt Aachen, unter den Bedingungen dieser Raumverlagerung interagierte und welchen Part die verschiedenen Akteure bei der Herrschaftslegitimation und -repräsentation im Krönungszeremoniell fortan spielten.
4.3 DIE REPRÄSENTATION UND KOMMUNIKATION FRÜHNEUZEITLICHER KÖNIGSHERRSCHAFT IN FRANKFURT UND AACHEN 4.3.1 Eine Zäsur: Aachener Krongesandte bei den Frankfurter Krönungen 4.3 Repräsentation und Kommunikation frühneuzeitlicher Königsherrschaft Die Reichsstadt Aachen verlor bei der Erhebung Maximilians II. 1562 ihre jahrhundertelange Funktion als Krönungsort der römisch-deutschen Könige an Frankfurt, Stadt der Königswahl und Wirtschaftsmetropole im Rhein-Main-Gebiet.66
62 Zit. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 87. Vgl. Benedik, Die Architektur als Sinnbild der reichsstaatlichen Stellung; Müller, Das Schloß als Bild des Fürsten; Müller, Um 1740. 63 Benedik, Die Architektur als Sinnbild der reichsstaatlichen Stellung, S. 103. 64 Zit. Maué, Visualisierung städtischer Ordnung. 65 Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 38–49. 66 Zur Entwicklung Frankfurts in der Frühen Neuzeit Schembs, Frankfurt am Main; Schindling/Schmidt, Frankfurt am Main; zum wirtschaftlichen Erfolg der Messestadt am Main Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 28. Über die Krönungen in Frankfurt informieren Ottomeyer/Götzmann/Reiss, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, S. 248–276; Duchhardt, Krönungen außerhalb Aachens; Gall, FFM 1200, S. 153–182; Wanger, Kaiserwahl und Krönung; Koch/Stahl, Wahl und Krönung in Frankfurt am Main 1–2; Meinert, Von
4.3 Repräsentation und Kommunikation frühneuzeitlicher Königsherrschaft
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Damit eröffnete sich außerhalb Aachens ein neuer Raum der Legitimation und Repräsentation von Königsherrschaft. Der Ortswechsel brachte kaum Veränderungen im zeremoniellen Ablauf der Königserhebung. Er nahm allerdings Aachen bis zum Ende des Alten Reiches die Präsenz des Königs und entzog den Vertretern der Aachener Stadtgemeinde und des Marienstiftes die Bühne der Repräsentation vor der eigenen Stadtbevölkerung. Die veränderte Situation verlangte den Aachener Krongesandten, die die drei Aachener Reichskleinodien ins ferne Frankfurt zu bringen hatten und als hervorgehobene Städtevertreter am dortigen Krönungszeremoniell teilnahmen, ein anderes Rollenverhalten ab. Auch bedeutete der Wechsel des lokalen Raumes die Erschließung einer neuen Teilöffentlichkeit, die die Repräsentanten der städtischen Eliten Aachens für ihre Zwecke nutzen konnten. Der Wechsel des Krönungsortes war aufgrund eines Bündels sich wiederholender aktueller, religiöser und pragmatischer Gründe erfolgt. Als tiefere Ursache lag ihm der oben geschilderte verfassungsgeschichtliche Wandel im deutschen Königtum zugrunde. Den äußeren Anlass bildete der Umstand, dass zur Krönung Maximilians II. im November 1562 der Kölner Erzbischof noch nicht seine Weihe empfangen hatte und deshalb nicht berechtigt war, das Amt des Coronators bei der Aachener Krönung auszuüben. Paul-Joachim Heinig führte daneben als Grund für den Wechsel „den fortschreitend calvinistischen Charakter der Krönungsstadt“67 an. Tatsächlich wurde Aachen seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von schweren konfessionellen Unruhen erschüttert68, die noch bei der Erhebung Matthias’ 1612 die Stadt als Krönungsort ungeeignet erscheinen ließen.69 In eine gegenläufige Richtung führten die eher auf die Person Maximilians II. fixierten Erklärungsversuche, so dessen Abneigung gegen die im katholischen Aachen praktizierten Kultformen.70 Mit Blick auf einzelne Kurfürsten ist nicht auszuschließen, dass die „protestantische Einstellung gegen katholisches Sakralwesen, Heiligen-, besonders Marienverehrung, Wallfahrt, Prozession, Reliquienkult, Festmesse, katholisches Brauchtum“71,
die in Aachen stärker als in Frankfurt zur Geltung kamen, für das Ende der Aachener Krönungstradition mitverantwortlich war.72 Für eine neue rationalpragmatische Sicht auf die Krönungen spricht das 1562 von den politischen Eliten
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Wahl und Krönung der deutschen Kaiser zu Frankfurt am Main. 1653 und 1690 fanden die Krönungen in Augsburg, 1575 und 1636 in Regensburg statt. Zit. Heinig, Die letzten Aachener Krönungen, S. 563f. Asten, Die religiöse Spaltung in der Reichsstadt Aachen. Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 103. Dotzauer, Die Ausformung der frühneuzeitlichen deutschen Thronerhebung, S. 76; ders., Die Entstehung der frühneuzeitlichen deutschen Thronerhebung, S. 17. Zit. Dotzauer, Die Ausformung der frühneuzeitlichen deutschen Thronerhebung, S. 74f. Zu den Gründen Herkens, Der Anspruch Aachens auf Krönung der deutschen Könige nach 1531, S. 6ff.; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 15, Anm. 30; Dotzauer, Die Entstehung der frühneuzeitlichen deutschen Thronerhebung, S. 7, 15f.; Sellert, Zur rechtshistorischen Bedeutung der Krönung, S. 23; Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 229f.
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des Reiches selbst vorgebrachte und bei den folgenden Krönungen erneut angeführte Argument, durch den Verbleib in Frankfurt „Zeit und Kosten sparen“73 zu wollen. Auch die Aachener gingen mit der Veränderung pragmatisch um, denn obwohl zuvor in Aachen ein protestantischer Rat die Macht übernommen hatte, nahmen 1562 die Vertreter der Stadt, wie gewohnt, am Krönungsmahl Maximilians II. teil. Auch später versicherte dieser dem kaiserlichen Stadtherrn seinen Gehorsam.74 Wie in Aachen wurde in Frankfurt der heilige Karl der Große als Stadtpatron und zweiter Patron der Krönungskirche St. Bartholomäus verehrt. Die bauliche Gestaltung der Kirche – u.a. das Chorgestühl und das Portalprogramm am südlichen Querhaus – wie auch die städtische Ikonologie zeigten Darstellungen des heiligen Karl, so im Stadtsiegel, Goldgulden und Galgentor. Im Gegensatz zu Aachen besaß man in Frankfurt allerdings keine Reliquien des Heiligen. Auch nachdem die Frankfurter Bürgerschaft 1533 mehrheitlich protestantisch geworden war, konnte das Karlsfest von den katholischen Gemeinschaften gemäß den Bestimmungen des Augsburger Interim von 1548 weiterhin gefeiert werden, an Sonntagen sogar mit einer Prozession. Die Frankfurter bewahrten die Funktion der Aachener Krönungen, die konstituierende, säkulare Wahlentscheidung der Fürsten sakral zu überhöhen. Sie boten dem gewählten König nach wie vor die erste Gelegenheit zur öffentlichen Selbstdarstellung als neues Reichsoberhaupt und Stellvertreter Gottes auf Erden.75 Die weitgehende Beibehaltung der in Aachen praktizierten zeremoniellen Formen der Krönung sollte keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Gottgewolltheit des Erhebungsvorgangs aufkommen lassen. Der mittelalterliche Krönungsordo wurde bis zur letzten Frankfurter Krönung 1792 beibehalten.76 Den in der Bartholomäuskirche errichteten Thron bezeichnete man noch bei der Krönung Josephs II. 1764 als „Thron Karls des Großen“77. Allerdings warf sich der König nicht mehr, dem in Aachen praktizierten mittelalterlichen Krönungsbrauch folgend, vor dem Altar der Krönungskirche in Kreuzesform nieder, sondern beließ es bei einem Kniefall. Auch andere Elemente der Aachener Liturgie wurden weniger akribisch gestaltet.78 Die der Legende nach auf Karl den Großen zurückgeführten und bei der Krönungsmesse verwendeten Aachener und Nürnberger Reichskleinodien stellten nach wie vor „eine mystische Verbindung zwischen dem Gewählten und seinem berühmten Vorgänger“79 her. Nach dem Tode Maximilians I. spielte die
73 Zit. Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 230. Vgl. bereits Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 65. 74 Schmitz, Verfassung und Bekenntnis, S. 63, 71. 75 Zu Publizitätswirkung und Öffentlichkeitsgrad der Frankfurter Krönungen Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 38, 113. 76 Hattenhauer, Wahl und Krönung Franz II. AD 1792, S. 162–186. 77 Zit. Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 663. 78 Dotzauer, Die Ausformung der frühneuzeitlichen deutschen Thronerhebung, S. 76–79. 79 Zit. Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 229. Vgl. Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 656, 662, 667, 672, 674. Auch die Reichskrone betrachtete
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geblütscharismatische Verbindung der Habsburger mit Karl dem Großen als Instrument dynastischer Legitimation keine größere Rolle mehr, obwohl dem Karolinger als Ahnherrn des Kaisertums nach wie vor Hochachtung entgegengebracht wurde.80 Der Verweis auf den Aachener Karlskult wurde offenbar bei den Frankfurter Krönungen nicht mehr wie ehedem benötigt.81 Im Frankfurter Römer lief das Krönungsmahl weiterhin nach den Bestimmungen der Goldenen Bulle und damit nach dem Aachener Vorbild ab. Zur Wahl und Krönung Karls VI. 1711 stattete man die Wände des Kaisersaals mit Porträtbüsten der römisch-deutschen Könige von Konrad I. bis Ferdinand III. aus82 und eröffnete damit eine in diesen Kunstobjekten symbolisierte Ahnentradition, in die sich jeder neue König einreihte. Karl der Große wurde vom Frankfurter Rat in das Vorbild einer neuen mythischen Vorgeschichte des Deutschen Reiches abgedrängt – ein deutlicher Bruch mit der Aachen-Tradition. Die Inszenierung der Krönungen wurde im 16. und 17. Jahrhundert im gewandelten Umfeld kaum modernisiert, jedenfalls nicht durch Dekorationen der in Mode gekommen Triumphzüge, -bögen oder -wagen, sieht man einmal von der Teilnahme exotischer Menschen und Tiere bei den Aufzügen ab, die der Szenerie gelegentlich etwas Opernhaftes verliehen. Die Trionfo-Kultur ging weitgehend spurlos an den Frankfurter Krönungen vorüber, ganz im Gegensatz zu den in dieser Zeit üblichen Einzügen der Reichsoberhäupter in den Städten.83 Goethe klassifizierte den bei der Krönung 1745 in vollem Ornat aus dem Dom zum Römer schreitenden Franz I. spöttisch als „Gespenst Karls des Großen“84. Doch zeigen gerade die beiden letzten Frankfurter Krönungen, Leopolds II. 1790 und Franz’ II. 1792, das Bemühen um ästhetische Aktualisierung und Einbeziehung der Öffentlichkeit bis hin zur publizistischen Diskussion der Wahlkapitulation und der Inszenierung der Krönung als ein antirevolutionäres deutsches Nationalfest.85 In der Wahrnehmung der Untertanen brachten die Krönungen den Königen vorrangig durch die Prachtentfaltung des Adventus und die einschlägigen Volksbelustigungen Ochsenküche, Weinbrunnen, Artisten, Glücksspiele, Theateraufführungen, Musikdarbietungen, Ehrentänze, Turniere, Jagden und Feuerwerke
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man in Nürnberg als Krone Karls des Großen (Caroli Magni Krone) oder „karolingische Krone“. Heinig, Die Habsburger des 15. und 16. Jahrhunderts; Holländer, Memoria und Repräsentation. Ausführlich Kloft, Karlsverehrung in Frankfurt am Main; Jacobs, Das Bild Karls des Großen in der Stadt Frankfurt; Schenk/Kling, Karl der Große und Frankfurt; Erler, Die Karlsliturgie im Frankfurter Kaiserdom. Tipton, Res publica bene ordinata, S. 306f. Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 62–67; Rudolph, Die visuelle Kultur des Reiches, S. 232ff.; Tenfelde, Adventus: Die fürstliche Einholung als städtisches Fest, S. 54f. Vgl. als Kontrast den feierlichen Einzug des französischen Königs Ludwig XIV. in Paris 1660 bei Burke, Ludwig XIV., S. 59–64. Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 675 mit Hinweis auf Goethe, Dichtung und Wahrheit, Erster Teil, Buch 5. Vgl. dazu Beetz, Überlebtes Welttheater. Haaser, Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen; Hattenhauer, Wahl und Krönung Franz II. AD 1792, S. 41–67; Kohler, Die Kaiserwahl von 1792.
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Prestige ein.86 Der verrechtlichte Wahlablauf oder der schematisch beibehaltene liturgische Krönungsritus vermochten dies nicht zu leisten. Die pompösen Teile des Krönungsfestes wurden durch den Herrscherkult mehr denn je zum „Gottesdienst“87 der Untertanen, zur „Massensuggestion“88 und „Prätention von Macht“89. Wie im Mittelalter bildeten die Krönungen die bestehende Herrschaftsordnung ab, allerdings mit der in Krönungsberichten und bildlichen Darstellungen zum Ausdruck kommenden Tendenz, schematisch das gottgegebene Ideal eines harmonischen Miteinanders von König und Reichsständen vermitteln zu wollen.90 In der Renaissance und im Barock machte sich eine positive Einstellung zur persönlichen Prachtentfaltung und zur Vergöttlichung des Herrschers entsprechend der auf die Antike zurückgreifenden Herrscherapotheose bemerkbar.91 Das fürstliche Prestigebedürfnis war entsprechend gestiegen. Dies zeigte sich wohl am deutlichsten am Auftritt der Kurfürsten, die bei den Krönungszügen mit prächtigem Gefolge in die Stadt einritten und auf diese Weise Prestige zu erwerben suchten, ließ sich doch der Rang des Fürsten „am Umfang seines Gefolges ablesen“92. Seit dem 17. Jahrhundert ging man dazu über, in prachtvollen Kutschen statt zu Pferde in die Stadt einzuziehen, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zu lenken. Darin traten die Fürsten in Konkurrenz zum Monarchen, dessen Macht sie auf diese Weise symbolpolitisch beschränken wollten. Doch blieb es den Fürsten untersagt, mit einem zahlenmäßig größeren Gefolge als der König in die Krönungsstadt einzuziehen, obwohl dies der eine oder andere sicherlich durchaus gekonnt und zur Steigerung seines Prestiges auch gerne getan hätte.93 Gegenüber dem Volk demonstrierten die Kurfürsten wie der König ihre gesellschaftliche Vorrangstellung dadurch, dass sie nach erfolgter Wahl den Weg zur Krönungskirche in edelster Kleidung zu Pferd oder zu Fuß zurücklegten.94 Nur noch Bedeutung als zeremonieller Traditionsbestand hatten in der Neuzeit die Erzämter, die noch dazu häufig von den Wahlgesandten der Kurfürsten verrichtet wurden.95 Das frühneuzeitliche Königtum bewahrte mit dem überlieferten Krönungszeremoniell, insbesondere der Salbung96, den Gedanken der von Gott gestifteten Heiligkeit der Herrschaft und des Reiches – zumindest noch im eigenen Selbst-
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Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 130–153. Zit. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 85. Zit. Ebd. Zit. Ebd. Rudolph, Die visuelle Kultur des Reiches, bes. S. 231, 240; Matsche, Frühneuzeitliche Kaiserkrönungen, bes. S. 252; Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, S. 12; Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 74. Zur Kontinuität der Idee des Sacrum Imperium über den Westfälischen Frieden hinaus Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 690. Kohler, Kaiserikonographie und Reichsemblematik. Zit. Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 50. Ebd., S. 56–62. Ebd., S. 67f., 229. Ebd., S. 122–125. Ebd., S. 111–122.
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verständnis.97 Mit den bei der Krönung erteilten Ritterschlägen behielt der König weiterhin die „Definitionsmacht über die Adelsqualität“98 in Händen, womit er über die „Reproduktion der Schicht“99 und deren „interne Hierarchisierung“100 bestimmte. Die Präsenz des neu gewählten und zu krönenden Herrschers im heiligen Aachen und seine Inthronisation auf dem Thron Karls des Großen war in der Frühen Neuzeit, wie erwähnt, zur Herrschaftslegitimation nicht mehr erforderlich. Waren schon seit dem 13. Jahrhundert die römisch-deutschen Könige nur noch der Krönungen wegen nach Aachen gekommen, so besuchte nach dem Wechsel des Krönungsortes 1562 bis zum Ende des Alten Reiches nur noch Joseph II. als Badegast die Stadt, was die gesunkene Vorliebe der Monarchen für Aachen nur allzu deutlich anzeigt.101 Zum Vergleich: Das wie Aachen und andere alte Reichsstädte im 16. Jahrhundert wirtschaftlich niedergehende, aber verkehrstechnisch ungleich günstiger gelegene Nürnberg brachte es zwischen 1571 und 1792 auf sieben Kaiserbesuche.102 Mit der ausbleibenden Realpräsenz des Königs büßten die Aachener erhebliches Prestige ein: die mit dem Herrscheraufenthalt und der Krönungszeremonie verbundene Hervorhebung von Stift und Stadt. Dem Aachener Stiftsklerus entging mit der physischen Abwesenheit des Königs die rituelle Bestätigung des Karlskultes, vor allem aber der besonderen Ehrwürdigkeit und Autorität des Stiftes durch die Berührung der Karlsbüste, den Kuss des Lotharkreuzes und anderer Reliquien des Stiftschatzes, die Belehrung des neuen Herrschers anhand der Wölfin und des Pinienzapfens im Eingangsbereich des Münsters sowie die Zeigung der Heiligtümer nach der Krönung.103 Allerdings war es auch in Frankfurt üblich, dass zwei Geistliche des Aachener Marienstifts den König nach erfolgter Krönung an den alten Brauch seiner Mitgliedschaft in der Kanonikergemeinschaft erinnerten und ihn den Kanonikereid schwören ließen.104 Doch war der Aachener Magistrat nun nicht mehr in die Lage versetzt, einem gewählten König rituell das Vorzeigen der Wahlkapitulation abzuverlangen oder ihm gar den Einzug in die Stadt zu verwehren, wie dies im Mittelalter mehrfach geschehen war. Mit dem Verlust des prächtigen Krönungszuges war den Aachener Eliten die Bühne genommen, ihre Rangerhöhung gegenüber den anderen Bewohnern der Stadt zu demonstrieren. Das Fehlen der zeremoniellen Repräsentation vor Ort und 97 Hattenhauer, Über die Heiligkeit des Heiligen Römischen Reiches; Neuhaus, Das Ende des Alten Reiches, S. 200f., 203. 98 Zit. Schlögl, Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum, S. 192. 99 Zit. Ebd. 100 Zit. Ebd. 101 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 60ff.; Plötz, Aachenfahrt und Heiltumsweisung, S. 148. 102 Endres, Nürnberg, S. 85. Vgl. zu Nürnberg im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit Boockmann/Dormeier, Konzilien, Kirchen- und Reichsreform, S. 140–144; Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 25-28. 103 Zur Deutung vgl. Kap. 3.3.2. 104 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 121; Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 252f.
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der damit verbundenen räumlichen Nähe zum König schmälerten das innerstädtische Prestige der Magistrate und der Stiftskanoniker und nahmen der Aachener Bevölkerung die wohl einzige Möglichkeit, den Herrscher leibhaftig zu sehen.105 Marienstift und Magistrat wurden seit 1562 im Vorfeld jeder Königswahl durch den Erzbischof von Mainz in seiner Eigenschaft als Erzkanzler des Reiches brieflich aufgefordert, die drei im Besitz der Marienkirche befindlichen und für das Krönungszeremoniell benötigten Reichskleinodien – die Stephansburse, das Reichsevangeliar und den Säbel Karls des Großen – nach Frankfurt zu transportieren und dort für das Krönungszeremoniell zur Verfügung zu stellen. Die symbolische Bedeutung dieser Reichssymbole blieb nach wie vor bestehen. Über dem Reichsevangeliar legte der zu krönende König seinen Eid ab. Die Stephansburse stand bei der Krönung auf einem Kredenztisch beim Altar, und mit dem Säbel Karls des Großen wurde der König bei der Investitur durch die Kurfürsten umgürtet.106 Mit der gemeinsamen Teilnahme der Vertreter von Stift und Magistrat konnten sich beide Akteursgruppen vor der Reichsöffentlichkeit in den Akt der Königserhebung einbringen und erfuhren daneben auch eine persönliche Rangerhöhung, wenn einzelne Krongesandte vom König zu Rittern geschlagen wurden.107 Die städtischen Gesandten verkörperten die königstreue Reichsstadt als konstitutives Glied und Stand des Reiches, die Stiftsherren daneben noch das Ansehen des Marienstiftes. Der König gehörte weiterhin der Kanonikergemeinschaft des Stiftes an. Deshalb lag es im ureigensten Interesse von Stadtgemeinde und Stift, mit ihren Abordnungen an den als „nationale Demonstration“108 begriffenen Krönungsfeierlichkeiten in Frankfurt teilzunehmen. Mit der weiten und beschwerlichen Reise nach Frankfurt glichen sich die Aachener Gesandten in der Logik vormoderner Rangsymbolik den geladenen Vertretern der übrigen Städte an. Sofort nach ihrer Ankunft reklamierten sie jedes Mal den in der Goldenen Bulle verbrieften rechten Krönungsort und erhielten in Form stereotyper Reverse entsprechende Bestätigungen des Königs, Kompensationen für die der Stadt und dem Stift entgangenen Krönungsgeschenke und seit 1658 eine hohe Entschädigung für die Reisekosten.109 Am Morgen des Krönungstages sollten gewöhnlich die Krongesandtschaften aus Aachen und Nürnberg in der Wahlkapelle den Erzbischöfen die von ihnen mitgebrachten Reichskleinodien übergeben. Wie bei den Krönungen Matthias’ 1612 und Karls VII. 1742 belegt, legten die Aachener ihre Kleinodien demonstrativ selbst auf den Altar, um ihren Sonderstatus gegenüber den Nürnbergern auszudrücken.110 Beide Delegationen 105 Tenfelde, Adventus: Die fürstliche Einholung als städtisches Fest, S. 49. 106 Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 225–227; Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 644. 107 Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 656, 665f. 108 Zit. Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 232. 109 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 103; Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 249, 253, 256f. 110 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 102–112; Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 250; ferner Koch/Stahl, Wahl und Krönung in Frankfurt am Main 2, S. 147–151, 204f.; [N.N.], Tagebuch über die Überbringung der Krönungs-Insignien.
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erhielten während des Krönungszeremoniells in der Frankfurter Bartholomäuskirche mit ihrem Standort bei den Altären einen hervorgehobenen Rang zugewiesen.111 Zu einer tiefen Verärgerung kam es auf Aachener Seite, wenn, wie bei der Krönung Josephs I. 1690, nicht der Säbel Karls des Großen, sondern das Nürnberger Zeremonienschwert bei den Ritterschlägen Verwendung fand.112 Bei der Krönung Josephs II. 1764 durften die Nürnberger Gesandten bei der Abschiedsaudienz den König vor den Aachenern aufsuchen, was die Präferenz des Habsburgers deutlich machte und die Verlierer kränkte.113 Die Aachener Ratsgesandten, signifikanterweise nicht die Vertreter des Stifts, beanspruchten in Frankfurt gegenüber den Vertretern Nürnbergs den Besitz aller seit 1424 dort verwahrten Reichskleinodien. In einem den Nürnberger Delegierten bei diesen Gelegenheiten ausgehändigten Notariatsinstrument behaupteten sie, dass diese ursprünglich aus dem Besitz Karls des Großen stammten und von König Richard von Cornwall 1262 der Stadt Aachen übergeben worden seien.114 Später seien sie dann nach Nürnberg gekommen, in eine Stadt, die später zur Reformation übergetreten sei. Seit 1653 legten die Aachener beim Kaiser und bei den Kurfürsten und seit 1690 auch schriftlich bei den Krönungen Protest gegen die Rückführung der Kleinodien nach Nürnberg ein. Die Forderungen des Aachener Rats fanden 1712 sogar Eingang in das Krönungsdiarium Karls VI. Die haltlosen Besitzansprüche Aachens waren nicht von Erfolg gekrönt. Die Nürnberger wehrten sich mit überlegenen Gegendarstellungen, darunter sogar eine juristische Dissertation. Der Versuch des Aachener Rates, mit einem vor der Reichsöffentlichkeit ausgetragenen Konflikt Prestige zu erwerben, Objekte des Karls- und Krönungsdiskurses zu beschaffen, sich auf Kosten des Marienstifts zum alleinigen Sprachrohr der Rechte Aachens an den Nürnberger Reichskleinodien zu machen und vielleicht sogar mit Hilfe dieser Initiativen das „Recht als Krönungsstadt zurückzuerhalten“115, war grandios gescheitert. Ebenso heftig wurde unter den Aachener Akteuren um Prestige und handfeste Rechtsansprüche gerungen. Seit dem 15. Jahrhundert war es über das Konkusto111 Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 246, 250f. Vgl. AndrianWerburg, Krongesandtschaften; Braun, Zwölf Briefe über die Kronbegleitung von Nürnberg nach Frankfurt. 112 Berbig, Der Krönungsritus im Alten Reich, S. 659. 113 Ebd, S. 665. 114 [N.N.], Tagebuch über die Überbringung der Krönungs-Insignien, S. 73–75. Vgl. Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 257f.; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 23, 59–66; Schiffers, Die deutschen Königskrönungen; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 264f.; Huyskens, Der Plan des Königs Richard von Cornwallis; Herkens, Der Anspruch Aachens auf Krönung der deutschen Könige nach 1531, S. 88ff.; Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 58. Vgl. zu den Nürnberger Reichskleinodien allgemein Kirchweger, Die Reichskleinodien in Nürnberg; Schnelbögl, Die Reichskleinodien in Nürnberg 1424–1523; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 14–16; Fillitz, Die Reichskleinodien; ferner Machilek, Die Heiltumsweisungen; Böckel, Heilig-Geist in Nürnberg; Kühne, Ostensio reliquiarum. 115 Zit. Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 105.
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dienrecht an den Heiligtümern des Aachener Marienstiftes mehrfach zu ernsten Auseinandersetzungen gekommen, deren Hintergrund anhaltende Machtkämpfe beider Parteien und wirtschaftliche Interessen der Stadtgemeinde bildeten, die sich aus den alle sieben Jahre wiederkehrenden Heiligtumsfahrten ergaben. Der Dauerkonflikt zwischen Stift und Stadt äußerte sich vor und nach den Frankfurter Krönungsfahrten in Ränkespielen bei der gemeinsamen Abholung und Rückführung der Reichskleinodien in die Marienkirche. So kam es vor, dass das Stift den Ratsvertretern untersagte oder auf anderen Wegen unmöglich machte, bei diesen Gelegenheiten anwesend zu sein. Zuweilen unterließ man auch provokant die übliche Einladung an die Stadt zur gemeinsamen Krönungsfahrt. Zuweilen belasteten peinliche, mitunter sogar zu Handgreiflichkeiten führende Streitereien unter den Aachenern den würdigen Verlauf der Krönungen.116 Um keine Entscheidung in diesem Konflikt herbeiführen zu müssen, verzichtete Matthias bei seiner Krönung 1612 auf die gewohnte Einladung an den Magistrat und lud allein die Vertreter des Marienstifts zur Krönung, weshalb beim Krönungsmahl an der Städtetafel nur die Gesandten Nürnbergs, Kölns und Frankfurts teilnahmen.117 Bei einer neuerlichen Eskalation des Konflikts 1757 verklagte die Stadt das Stift vor dem Reichshofrat in Wien, das zwei Jahre später zu einem kaiserlichen Mandat führte, das dem Stift untersagte, die städtische Ausübung des Konkustodienrechts weiterhin zu behindern. Der Streit endete 1761 mit der Anerkennung der Rechtslage durch das Stift.118 Der kostspielige und mühsame Transport der Aachener Reichskleinodien nach Frankfurt brachte weder dem Magistrat noch dem Stift Prestige ein, sondern verursachte im Gegenteil keineswegs unbeträchtliche Kosten.119 Nicht nur waren die Aachener Krongesandten regelmäßig auf den Schutz durch das militärische Geleit anderer Territorien angewiesen, vielmehr kam es wegen der daraus folgenden Dispute immer wieder zu unliebsamen Vorfällen und damit zu weiteren Prestigeverlusten während der eigentlichen Reise. 1742 bei der Fahrt zur Krönung Karls VII. verwehrte der Kölner Rat den Aachener Deputierten mit ihrem Tross und Geleit den direkten Weg durch die Stadt, weshalb sie einen ebenso demütigenden wie beschwerlichen Weg an den Binnengräben entlang nehmen mussten.120 Auslöser dieser Vorgänge war der bereits seit Mitte des 15. Jahrhunderts auf den Reichstagen ausgetragene Sessionsstreit zwischen Köln und Aachen, der bis ins 18. Jahrhundert fortgesetzt wurde. Nach dem Vorbild der Sitzordnung auf den Reichstagen wurde der Kölner Krongesandtschaft bei der Krönung von 1562 wie 116 Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 233; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 57; Siemons, Das Konkustodienrecht der Stadt Aachen, S. 151f. 117 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 110, 129. 118 Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 57f. 119 Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 264–266; [N.N.], Tagebuch über die Überbringung der Krönungs-Insignien, S. 38–59. 120 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 108f.; Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 233–245.
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auch 1612 der Vorrang beim Krönungsmahl an der Städtetafel eingeräumt. 1575 entbrannte bei der Regensburger Krönung Rudolfs II. ein heftiger Streit zwischen den Aachener und Kölner Delegierten um den Vorrang.121 Bei der Frankfurter Krönung Ferdinands II. 1619 kam es vollends zum Eklat, als die Kölner unter Protest die Tafel verließen.122 Vor der Krönung 1658 protestierten die Aachener schon im Vorfeld gegen die Anwesenheit der Kölner. Mit Erfolg, denn der Kölner Rat schickte in jenem Jahr wie auch 1690 keine Gesandten zum Festbankett.123 Die Aachener Delegierten führten mehrere Gründe für den von ihnen geforderten Ausschluss Kölns an: Aachen trage mit den drei Reichskleinodien anders als Köln essentiell zur Krönung bei. Köln sei hingegen nur eine Reichsstadt unter vielen, die bei der Krönung keine Funktion habe. Aachen sei durch die Privilegierung Karls des Großen nach Rom die vornehmste Stadt im Heiligen Römischen Reich. Deshalb habe die Stadt bei Versammlungen und Feierlichkeiten grundsätzlich einen Anspruch auf den Vorsitz.124 Nach einem Zwischenspiel 1711, bei dem Kölner und Aachener an einer runden Städtetafel platziert worden waren, ohne dass dadurch der Konflikt beendet worden wäre, vermied man es, eine Einladung an den Kölner Rat zu schicken, „um einen Präzedenzstreit von vornherein auszuschließen.“125 Auch 1742 war das Mobbing aus Aachen erfolgreich. Kölner Gesandte wurden nicht zur Frankfurter Krönung Karls VII. eingeladen.126 Beim Krönungsmahl führten bis zum Ende des Alten Reiches in den meisten Fällen anstelle der Kölner die Aachener Delegierten den Vorsitz an der Städtetafel127, was ihnen einigen Prestigegewinn einbrachte, zumal, wenn ihnen darüber auch noch entsprechende Bescheinigungen ausgestellt wurden.128 Konkurrenzkämpfe nach dem Vorbild der Adelsgesellschaft waren seit dem Spätmittelalter zum Profilierungsterrain der Städte geworden. Aachen zeichnete sich dabei besonders aus, möglicherweise um den Verlust der Krönungen mit all seinen Folgen durch den Erwerb von Prestige zu kompensieren. Auch wenn die direkten und indirekten Folgen nach derzeitigem Forschungsstand nicht quantifiziert werden können, verschärfte der Wechsel des Krönungsortes das Problem der Grenzlage Aachens. Die Entstehung der benachbarten protestantischen Niederlande und die fortdauernden Kriege im Westen des Reiches vervollständigten das Bild einer Stadt an der Peripherie.129 Umliegende Territorien wie das Herzogtum 121 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 62. 122 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 129. 123 Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 67; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 265f.; Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 129. 124 Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 242f. Vgl. für diese Argumentation auch Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 67; Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 129. 125 Zit. Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 129. 126 Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 242f. 127 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 129. 128 Ebd., S. 128f. 129 Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 68f.; Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 4, 110f., 117. Zur Beziehung der Niederlande zum Reich Arndt, Das Heilige
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Jülich als Inhaber der königlichen Vogteirechte über Aachen, das Herzogtum Brabant, das Kurfürstentum Köln und das Fürstbistum Lüttich gewannen eine Vielzahl von Fremdrechten und regierten in die innerstädtische Politik hinein.130 Seit dem Aufstieg Wiens zum politischen Zentrum des Alten Reiches vergrößerte sich die räumliche Distanz zwischen der Monarchie und der Reichsstadt im fernen Westen.131 Hinzu kam die Vernachlässigung der Reichspolitik durch die Könige seit Karl VII.132 Andererseits fühlte sich die Reichsstadt Aachen wie viele andere Kleine des Reiches dem zugehörig, was man als Corpus Catholicorum133 bezeichnet hat. Sie zählte zu jenen Territorien des Reiches, „die auf Schutz und Schirm des Kaisers angewiesen und ihm deshalb politisch botmäßig waren.“134 Die Treue zum Reich und zum Kaiserhaus bildete einen angesichts der äußeren Schwäche der Reichsstadt überlebensnotwendigen politischen Grundkonsens innerhalb der Bürgerschaft und Grundlage der verbrieften Selbstverwaltung. Wie stark der Reichspatriotismus der Aachener ausgeprägt war und wie fest er zur stadtbürgerlichen Identität gehörte, ist nicht systematisch untersucht und deshalb nur schwer einzuschätzen. Generell geht die Forschung davon aus, dass er im Süden Deutschlands stärker als im Norden ausgeprägt war.135 Seine Erwiderung fand die Treue Aachens zu Kaiser und Reich weiterhin in der Erneuerung der reichsstädtischen Privilegien. Zumindest beließ der Verlust der Krönungen Aachen den Erhalt seiner Rechtsstellung im Gesamtgefüge der Reichsstände. 4.3.2 Die Kommunikation der Königsherrschaft in der katholischen Stadt Um die Veränderung der Kommunikation von Königsherrschaft im frühneuzeitlichen Aachen zu erfassen, soll zunächst der Blick auf die Aachener Festkultur gerichtet werden. Danach werden in einem zweiten Schritt die baulichen Veränderungen am Aachener Münster und am Rathaus analysiert, um auch hier der Frage
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Römische Reich und die Niederlande; Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 68; Duchhardt, Altes Reich und europäische Staatenwelt, S. 63–67. Janssen, Die Reichsstadt zwischen den Territorien; Kolewa, Reichsstadt und Territorium; Kraus, Jülich, Aachen und das Reich; Kempen, Die Streitigkeiten zwischen dem Kurfürsten von der Pfalz als Herzog von Jülich und der Reichsstadt Aachen. Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 70. Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, S. 179; Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 126, 151, 163f.; Herbers/Neuhaus, Das Heilige Römische Reich, S. 268. Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776–1806 1, S. 63f.; Luh, Unheiliges Römisches Reich. Zit. Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 167. Bußmann, Europa von der Französischen Revolution, zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, S. 12; Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776–1806 1, S. 90–94; Wrede, Das Reich und seine Feinde; Schilling, Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation, S. 387; Schmidt, Geschichte des Alten Reiches, S. 348; Aretin, Reichspatriotismus; Moraw/Conze/Fehrenbach, Reich, S. 475; Berbig, Kaisertum und Reichsstadt; Friedeburg, ‚Patria ދund ‚Patrioten ދvor dem Patriotismus; Waldmann, Reichspatriotismus; Hirschi, Wettkampf der Nationen; Blitz, Aus Liebe zum Vaterland.
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nachzugehen, wie die Eliten der Stadt mit der Zäsur von 1562 umgingen. Im Anschluss daran wird anhand der Entwicklung der Aachener Lokalgeschichtsschreibung der Prozess der Verlagerung der historischen Deutungshoheit vom Marienstift auf die Stadtgemeinde untersucht. Den Abschluss des Kapitels bildet die im Spätmittelalter zu beobachtende Nutzung des Reichstages durch die Stadtgemeinde, um sich in Rangkonflikten mit konkurrierenden Städten als treue Unterstützerin der Könige und alleinige Vertreterin der städtischen Interessen zu profilieren. 4.3.2.1 Karlsfeste, Huldigungs- und Trauerfeiern Zunächst also zur Aachener Festkultur der Frühen Neuzeit. Aus den konfessionellen Wirren und der protestantischen Ratsherrschaft zwischen 1580 und 1617 ging Aachen als katholische Stadt hervor. Die protestantischen Einwohner wurden überwiegend vertrieben.136 Die Frömmigkeit des Barock, die Wirkung der Gegenreformation und die konfessionelle Intoleranz von Klerus, Magistrat und Bevölkerung schufen eine ausgeprägte katholische Festkultur, in der die religiöse Dominanz des Marienstiftes und des übrigen lokalen Klerus zum Ausdruck kam. Der die traditionelle Bindung der Stadt an das Königtum und die städtische Identität ausdrückende Karlskult war gleichwohl einem Veränderungsprozess unterworfen. Als Heiligenkult war er von den Päpsten von Anfang an nicht gefördert, sondern eher „stillschweigend geduldet“137 worden. Erst Benedikt XIV. erlaubte im 18. Jahrhundert verbindlich eine lokal begrenzte Verehrung Karls des Großen als Seligen.138 In der Frühen Neuzeit wurde der Karlskult im Reich durch mehrere Faktoren allmählich zurückgedrängt: die Reformation, einen Einstellungswandel im habsburgischen Kaiserhaus, das Aufkommen des konkurrierenden Borromäuskultes im Rheinland sowie die Wirkung von Humanismus und Frühaufklärung. Das für den Ehrenvorrang Aachens so bedeutsame Karlsprivileg wurde im 17. Jahrhundert von protestantischen Philologen als Fälschung entlarvt.139 Der Karlskult beschränkte sich infolge dieses Zurückdrängungsprozesses nur noch auf Aachen, Frankfurt und wenige andere Städte im Reich.140
136 Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung; Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 98–103; Schmitz, Verfassung und Bekenntnis; Molitor, Reformation und Gegenreformation in der Reichsstadt Aachen; Kottmann, Die Anfänge der Reformation in Aachen. Vgl. auch Schneider, Der Niederrheinisch-Westfälische Kreis im 16. Jahrhundert, S. 216– 226; Bergerhausen, Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen, S. 169–173. 137 Zit. Brecher, Die kirchliche Verehrung Karls des Großen, S. 153. 138 Sieger, Probleme um die Kanonisierung Karls des Großen, S. 653, 657. 139 Fälschungsvorwürfe erhoben Melchior Goldast (1578–1635) und Hermann Conring (1606– 1681). Unter Staatsrechtlern des 18. Jahrhunderts galt die Fälschung des Karlsprivilegs als erwiesen. Vgl. etwa Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 54. 140 Moeller, Karl der Große in der Reformation; Wynands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 57; ders., „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 139–148; Heinig, Die Habsburger des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 160f.
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Die um das Karlsfest zentrierte Verehrung Karls des Großen als heiliger Stadtgründer gehörte bis zum Ende des Alten Reiches zum religiösen Alltag der Aachener Bürgerschaft. Die mittelalterliche Liturgie des Karlsfestes wurde in dieser Zeit im Wesentlichen beibehalten.141 War das Karlsfest bis ins 15. Jahrhundert im hohen kirchenrechtlichen Rang eines triplex gefeiert worden, beging man es danach nur noch duplex 1. classis, verbunden mit einer Oktav.142 Es gehörte entsprechend den Statuten des Marienstifts zu den bedeutenden Kirchenfesten im Jahr und wurde vom Stiftsdechanten zelebriert.143 Weiterhin nahmen der Magistrat, die Schöffen und die Ordensgeistlichen am Vorabend des Karlsfestes am Vespergottesdienst sowie am eigentlichen Karlstag am feierlichen Hochamt im Münster teil.144 Das gemeinsame Singen der Karlshymne bei der Karlsmesse blieb sicht- und hörbarer Ausdruck des städtischen Patriotismus. Mit dem rituellen Andenken an Karl den Großen riefen sich alle Anwesenden die ehrwürdige Geschichte der Stadt in Erinnerung. Den Kanonikern des Marienstiftes bot sich durch die Leitung von Messe und Prozession die Gelegenheit, ihre hervorgehobene Stellung innerhalb der Stadt zu demonstrieren. Den Ablauf eines frühneuzeitlichen Karlsfestes beschrieb 1620 der Aachener Geschichtsschreiber Petrus à Beeck: Auf den bevorzugten Plätzen im Kirchenchor versammelten sich „die Corps und Klostergeistlichen und die ersten Magistrats-Personen“.145 Der übrige Stadtklerus und „die Menge des Volks“146 verfolgten derweil die Karlsmesse im überfüllten Kirchenraum. Während der folgenden Prozession durch die Stadt wurde die von den Krönungen bekannte Riesenpuppe Karls des Großen147 von den Bürgern voran getragen. Dahinter trugen zwei Mitglieder des Schöffenkollegiums die Karlsbüste, die ihnen am Eingang der Kirche von den Stiftskanonikern übergeben worden war. Andere Schöffen führten zwei weitere Karlsreliquien aus dem Münsterschatz mit: das Jagdhorn148 sowie den Säbel Karls des Großen, der zu den drei Aachener Reichskleinodien gehörte.149 Auch andere Heiligenreliquien waren bei der Prozession zu sehen. Die Vertreter der Bürgerschaft demonstrierten durch das Mitführen der Reliquien für alle sichtbar das Recht des Aachener Rates an der Mitbewahrung der Schätze des Marienstiftes und nahmen aktiv Anteil an der dem Stiftsklerus obliegenden liturgischen Verehrung des Heiligen. Zudem erwarben die als Träger ausgewählten 141 Geis, Überlegungen zur Liturgie; Deutz/Deutz, Die Heiligsprechung Karls des Großen, S. 585–589. Vgl. auch dies., Die Aachener ‚Vita Karoli Magniދ, S. 280–282. 142 Folz, Études sur le Culte liturgique de Charlemagne, S. 11; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 215. 143 Lichius/Huyskens, Die Feier der 900. Wiederkehr des Todestages Karls des Großen, S. 158. 144 Wieth, Das Tagebuch des Aachener Stadtsyndikus Melchior Klocker 3, S. 18; [N.N.], Des Königlichen Stuhls und der Kaiserlichen freyen Reichs-Stadt Aachen Raths- und StaatsKalender, S. 2v–3r. 145 Zit. Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 129. 146 Zit. Ebd. 147 Siehe Kap. 3.3.2. 148 Grimme, Der Aachener Domschatz, Nr. 11, S. 17f. 149 Die Zeigung des Säbels am Fronleichnamstag ist seit 1376 belegt, vgl. Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 1, Nr. 3.6, S. 329.
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Schöffen nicht geringes Sozialprestige durch ihr exponiertes Auftreten bei der Prozession. Dem liturgischen Geschehen folgte das gemeinsame patriotische Bekenntnis von Bürgerschaft und Klerus, wie Petrus à Beeck berichtet: „Durch diese öffentlichen Freudenzeichen bekennen Alle und rufen einstimmig, daß sie Karl’n, dem Vater ihrer Vaterstadt, dem ersten und besten Gründer, ihre Vaterstadt und die Vorrechte derselben verdanken.“150
Der zur städtischen Tradition gewordene Karlskult erfuhr im Gefolge der in Aachen intensiven gegenreformatorischen Ordensaktivitäten eine neuerliche Entfaltung in den deutschsprachigen Stücken des Jesuitentheaters. An der Inszenierung Karls des Großen in den Aufführungen in den Jahren 1640, 1699 und 1727, stets ein „multimediales Großereignis“151, nahmen auf dem Aachener Marktplatz zahlreiche Bürger als Mitwirkende und Zuschauer teil. Wie ein Stück über den ruhmreichen König Salomon, das zur Heiligtumsfahrt 1692 aufgeführt wurde, griff man gelegentlich auch den volkstümlichen Karlsstoff auf, um eine Brücke zu den Aachener Zuschauern zu schlagen.152 Die Darstellung Karls des Großen als christlich-katholischer Held, Apostelkaiser, Gründer von Marienstift und Stadt war mit einer Apotheose der Vaterstadt Aachen verbunden. Neben dem katholischen Glauben sollte durch zahlreiche Gegenwartsbezüge das Reichsbewusstsein der Aachener Bürger gestärkt werden.153 Die Wirkung der volkstümlichen Inszenierungen auf die Stärkung des katholischen Glaubens und den reichsstädtischen Patriotismus der Bevölkerung dürfte nicht zu unterschätzen sein. Das Jubiläum des 900. Todestages Karls des Großen vom 28. Januar bis zum Sonntag, den 4. Februar 1714, wurde scheinbar in patriotischer Einmütigkeit begangen. Bürgermeister, Ratsherren und städtische Beamte wohnten am ersten und letzten Tag der Oktav auf Einladung des Stiftskapitels dem Festgottesdienst in der mit Lorbeer, Blattschmuck, Teppichen und Kerzen ausstaffierten Marienkirche geschlossen bei. Als zentrales Objekt der Messe hatte man die Karlsbüste hinter dem Hauptaltar aufgestellt. Am Vortag sowie am Festtag läuteten alle Glocken der Aachener Kirchen und Klöster. Das Stiftsorchester wurde durch die Musiker eines in Aachen liegenden kaiserlichen Regiments verstärkt. Die Vertreter der Stadtgemeinde gaben die Anweisung, am Schluss der Oktav während Hochamt und Vesper jeweils 15mal die städtischen Böller abzuschießen.154 Der Magistrat hatte allerdings, wohl nicht zuletzt wegen der anhaltenden Querelen mit dem Stift, beschlossen, eine eigene Feier im kleinsten Rahmen abzuhalten. Zu diesem Zweck wurden schon am Vortag (pridie Caroli Magni) Kanzlei und Rentkammer geschlossen gehalten und die städtischen Beamten zu einem Glas Wein in das 150 151 152 153
Zit. Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 129. Vgl. Beeck, Aquisgranum, Kap. 5, S. 81. Zit. des Untertitels von Pohle, Das Jesuitentheater im Rheinland. Pohle, Frommes Schauspiel und Erbauung der Sinne, S. 144. Breuer, Karl der Große im Jesuitendrama der Barockzeit; Pohle, Theater der Jesuiten in Aachen, S. 51; ders., Frommes Schauspiel und Erbauung der Sinne, S. 147–150, 158; Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 282. 154 Lichius/Huyskens, Die Feier der 900. Wiederkehr des Todestages Karls des Großen, S. 158f.; Brecher, Die kirchliche Reform in Stadt und Reich Aachen, S. 289.
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„new gemache“155 des Rathauses eingeladen. Das Marienstift beging das Fest demnach in üblicher Würde und Festlichkeit, der Stadtrat hingegen eher schlicht. Dies überrascht umso mehr, als der Magistrat die Feste gerade zu Ehren von Kaiser und Reich in dieser Zeit ausgesprochen pompös inszenierte. Die Teilnahme an den Feiergottesdiensten behandelten die Ratsherren und Beamten nach eigenem Beschluss als Dienstgeschäft und versüßten es sich mit der Auszahlung von Präsenzgeldern, was die unspektakuläre Behandlung der ganzen Angelegenheit durch die Stadt zusätzlich unterstrich.156 Der Magistrat sah im Karlsfest einen geselligen Brauch, der sich auch politisch nutzen ließ. Dies belegt eine Nachricht des Bürgermeistereidieners Johannes Janssen, wonach in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Rathaus, bereits als ein „von Alters hergebrachtes Tractament“157, am Abend vor dem Karlsfest gemeinsame Abendessen der Bürgermeister und Beamten sowie der Schöffen der Stadt mit dem Vogtmajor des Herzogtums Jülich stattfanden. Bei diesen sei die gegenseitige Freundschaft bekundet und fortzusetzen gelobt worden, was angesichts häufiger Querelen nötig war.158 Die Anniversarfeier des Jahres 1714 könnte demnach auf den ersten Blick als Zeugnis eines nachlassenden Interesses am Karlskult gedeutet werden. Es scheint, als hätte Karl der Große in den Augen der städtischen Obrigkeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts keinen allzu hohen Stellenwert mehr eingenommen, während maßgeblich der Aachener Stifts- und Ordensklerus mit den liturgischen Karlsfesten auch die Pflege des populären Karlskultes als Tradition der Reichsstadt bewahrt habe. Tatsächlich bemächtigten sich die Vertreter der Stadtgemeinde aber des Karlsfestes, indem sie es in Abgrenzung vom Marienstift als säkulare Feier begingen.159 Dass erstmals in der Stadtgeschichte ein mit dem heiligen Reichs- und Stadtgründer verbundenes Jubiläum gefeiert wurde, verdeutlicht den nicht nur religiös, sondern auch aus der historischen Erinnerung begründeten Stellenwert, dem man dem Karlsfest nun zumaß. Die Feier dieses Jubiläums lässt einen offenbar bestehenden Bedarf der herrschenden Eliten nach historischer Orientierung erkennen. Die Bewahrung der gemeinschaftsstiftenden Erinnerung an Karl den Großen kann als Versuch der institutionellen Absicherung der symbolischen Ordnung bewertet werden, mit der die Herrschaftsordnung insgesamt gemeint war.160 Zum Verständnis wird man die näheren historischen Umstände der Feier, den Thronwechsel von Joseph I. zu Karl VI. 1711, den sich im Aachener Land deutlich auswirkenden, 1713/14 beendeten Spanischen Erbfolgekrieg und vor allem
155 Zit. nach Lichius/Huyskens, Die Feier der 900. Wiederkehr des Todestages Karls des Großen, S. 161. Dazu Brecher, Die kirchliche Reform in Stadt und Reich Aachen, S. 289. Welcher Raum des Rathauses gemeint ist, bleibt unklar. Vgl. Faymonville, Die profanen Denkmäler und die Sammlungen der Stadt Aachen, S. 122. 156 Lichius/Huyskens, Die Feier der 900. Wiederkehr des Todestages Karls des Großen, S. 162. 157 Zit. Notizen des Bürgermeistereidieners Johannes Janssen bei Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener Patrizier-Familien 3, S. 135 (zum Jahre 1748). 158 Ebd., S. 135. 159 Zur Säkularisierungstendenz der Feste in der Frühen Neuzeit Behringer, Fest, Sp. 919. 160 Müller u.a., Das historische Jubiläum; Münch, Historische Jubiläen; Münch, Jubiläum.
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die Spaltung der Aachener Bürgerschaft infolge beständiger Machtkämpfe zu beachten haben.161 In allen Reichsstädten wurden aus Anlass der Königswahlen und Krönungen sowie der Hochzeiten und Taufen im Herrscherhaus Dank- und Freudenfeste gefeiert. Damit dokumentierten sie ihre besondere, aus dem verfassungspolitischen Status resultierende Verbundenheit mit dem regierenden Königshaus und dem Reich.162 Die Frankfurter besaßen als Einwohner der Krönungsstadt das Recht, dem neuen König als Erste zu huldigen. Die Huldigungsfeierlichkeiten wurden zunehmend als Volksbelustigungen gestaltet. In Frankfurt fanden diese Divertissements noch am Krönungstag statt. Der Huldigungsakt der Frankfurter Bürgerschaft erfolgte dagegen am Morgen eines vom Kaiser bestimmten Tages, vor dessen Abreise aus der Stadt.163 Dieser wurde keineswegs nüchtern, sondern als barockes Fest mit Aufmärschen, Lobreden, Liedern, Böllern und Feuerwerken gestaltet.164 Huldigungsfeiern aus Anlass der Frankfurter Krönungen beging man auch in Aachen und anderen Städten des Reiches. Für die Identität Aachens als königlichem Sitz und das Gemeinschaftsgefühl der Bürger waren sie ebenso unabdingbar wie für die königliche Bestätigung der rechtlichen Stellung der Reichsstadt durch die Erneuerung der Privilegien und Schutzverpflichtung.165 Bei allem Festcharakter bestand demnach die reziproke Struktur der Huldigung in der Frühen Neuzeit fort.166 Für den 12. Februar 1690, zwei Wochen nach der Augsburger Krönung Josephs I., ordnete der Aachener Magistrat Feiern mit einem musikalischen Hochamt im Kaisersaal des Rathauses und abendliche Freudenfeuer an. Ein Aachener Pfarrer verfasste aus diesem Anlass lateinische Chronogramme, in denen er die geschlossene Freude der Aachener Bevölkerung zum Ausdruck brachte und Glückwünsche an die Majestät und die Reichsstadt Aachen richtete. Zwei weitere Chronogramme brachten Joseph I. mit Karl dem Großen in Verbindung und wiesen darauf hin, dass Josephs Krönungstag, der 26. Januar, zwei Tage vor Karls Todestag lag und sein Geburtstag einen Tag vor Karls Translationsfest am 27. Juli.167 In dieser Zeit war es üblich, zu bestimmten Anlässen Sinnsprüche an öffentlichen und privaten Gebäuden, Denkmälern wie auch auf Frontispizen von Büchern anzubringen. Da ein nicht geringer Anteil der Bürgerschaft eine gehobene Schulbildung genossen hatte und der alten Sprachen mächtig war, konnten la161 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 88–90. Vgl. Beckers, Parteien und Parteienkampf in der Reichsstadt Aachen; Brunert, Die Aachener ‚Neue Partei ދim Frühjahr 1787. 162 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S.142; Pohle, Johann Joseph Couven als Festarchitekt, S. 157. Für Aachen Krüssel, Chronogramme, S. 44–102. 163 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 156–160. 164 Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 433–460; Fähler, Feuerwerke des Barock, S. 69–72. 165 STA Aachen RK, Nr. I-1d; STA Aachen RK, Nr. I-1e; STA Aachen RR II AA, Nr. 530, 531, 534, 535, 536. 166 Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 361–371. 167 Krüssel, Chronogramme, S. 44f.
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teinische Inschriften dieser Art im öffentlichen Raum durchaus größere Beachtung finden.168 Im großen Stil richtete der Aachener Magistrat auch Freudenfeste nach militärischen Siegen des Reichsheeres aus.169 Die Huldigungsfeier für Karl VI. am 23. November 1717 nutzte er, um mit Chronogrammen am Rathaus ein Treuebekenntnis der christlichen Stadt an den Retter des Reiches vor den Türken auszusprechen und den Status Aachens als königlichem Sitz zu bekräftigen.170 Die Hochzeit Maria Theresias mit Franz Stephan von Lothringen im Februar 1736 nahm der Aachener Magistrat zum Anlass, um durch Grußbotschaften in Form von Chronogrammen und Adleremblemen am Rathaus die enge Bindung der Reichsstadt an das habsburgische Herrscherhaus und das Reich zu propagieren. In die Glückwünsche für eine gute Regierung des Römischen Reiches durch das Brautpaar brachte sich auch das Marienstift mit eigenen Chronogrammen und einer festlichen Schreinsöffnung ein.171 Die Planung und Durchführung der Festivitäten legte der Magistrat, offenbar wegen der besonderen Wichtigkeit, die ihnen zugemessen wurden, in die Hände des Stadtarchitekten. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war dies der Baumeister Johann Joseph Couven.172 1742, zur Krönung des Wittelsbachers Karl VII., umkränzte ein regelrechter Feuerberg die Statue Karls des Großen an der Spitze des Marktbrunnens. Die Wappen, Embleme und Allegorien auf der prächtig illuminierten Rathausfassade nahmen auf das neue Herrscherpaar Bezug und drückten Glück- und Segenswünsche aus. So stand an der großen Tür des Rathauses folgende lateinische Inschrift zu lesen: CAROLO SEPTIMO DIVINA GRATIA / REGNANTI SENATVS POPVLVSQVE / AQVISGRANENSIS („Karl VII., der dank göttlicher Gnade herrscht, gratulieren Rat und Volk von Aachen.“).173
Auf der Rathaustreppe hatte man, flankiert von zwei Statuen des Herkules und Saturn sowie umleuchteten Pyramiden mit den Reichskleinodien, einen großen Triumphbogen errichtet, der das Hauptportal überspannte und in der Bogenöffnung eine Karl VII. darstellende Figur mit Zepter und Reichsapfel auf einem Triumphwagen zeigte. Darüber schwebte ein Adler, im Begriff, ihm die Kaiserkrone aufzusetzen. Ein lateinisches Chronogramm mit dem Kaisertitel Karls VII. hatte man darüber auf einer runden Tafel angebracht. Prächtig dekoriert waren die Fenster des Rathauses. In einem Fenster zur Marktfassade war eine Pyramide zu sehen, die eine Statue Karls des Großen über den Wolken zeigte, von der ein 168 Ebd., S. 11. Vgl. zur Geschichte des Aachener Jesuitengymnasiums Fündling, Epochen der Aachener Schulbildung. 169 Huyskens, Aachener Leben im Zeitalter des Barock und Rokoko, S. 51f.; Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 58–65, 72ff. 170 Krüssel, Chronogramme, S. 55–58. 171 Ebd., S. 62–85. 172 Zu Johann Joseph Couven (1701–1763) zuletzt Pohle, Johann Joseph Couven und seine Zeit; Bauer, Johann Joseph Couven. 173 Text und Übersetzung nach Krüssel, Chronogramme, S. 86.
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Stammbaum herabhing, der auf einer Seite mit dem Wappen Österreichs, auf der anderen mit dem Bayerns endete. Herrscherporträts, Adler, Wappen, Chronogramme, Embleme, Inschriften und Illuminationen schmückten auch viele andere städtische Häuser.174 Vom nahen Lousberg her leuchtete in der Nacht weithin eine Pyramide mit brennenden Teerfässern, während die Stadtartillerie „ein Feuerwerk von ‚Rangetten ދund ‚Scherzgrananten“ދ175 abfeuerte. Anlässlich der Erhebung Franz’ I. 1745 ließ der Aachener Magistrat bei der Huldigungsfeier um den Marktbrunnen eine „sehr manificke Feur-Burg“176 mit einem über acht Ehrenpforten gewölbten Triumphbogen errichten, auf dessen Spitze der Name der kaiserlichen Majestät von einem „Lauffeuer“177 gebildet wurde, das ein vom Rathaus herab fliegender Adler entzündete. Das Rathaus, der Marktbrunnen und zahlreiche Bürgerhäuser der Stadt waren wieder mit lateinischen Chronogrammen ausstaffiert und mit Illuminationen erhellt worden, um eine allgemeine Freude über das Ereignis, Glückwünsche und Bekenntnisse zum neuen Herrscherpaar und zum Reich zum Ausdruck zu bringen.178 Die Absicht des Magistrats war es offensichtlich, mit derart pompösen Inszenierungen, der Ausschmückung der Stadt und Feuerwerken, die Krönungsfeiern in Frankfurt179 zu übertreffen und Aufmerksamkeit im fernen Wien zu wecken.180 Man wollte auf diese Weise offensichtlich demonstrieren, dass Aachen der bessere Krönungsort des Reiches sei und Prestige erwerben. Dass man auf die Volksbelustigungen und Feuerwerke den allergrößten Wert legte, belegen die gegenüber dem Mittelalter verschobenen Wertmaßstäbe. Allerdings führten die hohen Ausgaben der Feiern bei schlechter Haushaltslage dazu, dass der Aachener Magistrat 1742 beim Hof einen Antrag auf Kostenbefreiung stellen musste, was wohl kein Einzelfall geblieben sein dürfte.181 Mit dem öffentlichen Festakt bekundeten die städtische Obrigkeit und die führenden Aachener Bürgerfamilien ihre fortgesetzte Loyalität zu Kaiser und Reich, ihre Treue und Untertänigkeit und stellte dabei auch ihre eigene Vorrangstellung innerhalb der Stadt heraus. Von einem diesbezüglichen
174 Pohle, Johann Joseph Couven als Festarchitekt, S. 166–170. 175 Zit. Ebd., S. 165. 176 Zit. Notizen des Bürgermeistereidieners Johannes Janssen, abgedruckt bei Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener Patrizier-Familien 3, S. 68. 177 Zit. Ebd. 178 Pohle, Johann Joseph Couven als Festarchitekt, S. 170f.; Krüssel, Chronogramme, S. 88–101. 179 Wanger, Kaiserwahl und Krönung, S. 151–153. 180 Notizen des Bürgermeistereidieners Johannes Janssen bei Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener Patrizier-Familien 3, S. 34f. (zu 1711 und 1712); S. 53 (zu 1742): „Den 25 feb. wahr die fictoria und triumph alhier von Carl VII als Kayser gekröont in frankfurt, die Elumination und freuden zeichen wahren hier in aachen schöner als zu frankfurt alwo der Kayser selber wahr.“; S. 66, 68f. (zu 1745), S. 317 (zu 1764). Vgl. Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 72; Huyskens, Aachener Leben im Zeitalter des Barock und Rokoko, S. 51–65; Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 256; Vennen, Buchdruck in Aachen, S. 82ff. 181 Kraus, Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 265; Pohle, Johann Joseph Couven als Festarchitekt, S. 165.
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Konsens innerhalb der Bürgerschaft wird man wohl ausgehen können.182 Johann Joseph Couven bezeugt, wenngleich als Organisator der Feier, eine standesübergreifende Begeisterung in Aachen bei der Nachricht von der Frankfurter Wahl Franz’ I.: „Es ware Wunder anzusehen, die allgemeine Freude, so alle darüber verspüren ließen, auch mit was vor Begierde ein jeder sich beeifferte, solche seinen Nachbahren, Freunden, und Bekannten zu hinterbringen; man verspührte eine ungewöhnliche Bewegung in der ganzen Stadt, ein jeder suchte eine standesmässige Gesellschaft ums sein besonder Vergnügen hierüber zu erkennen zu geben: Man hörete bald darauff das Vivat-Ruffen, den späthen Abend, ja es hat diese Freuden-Bezeigung annoch viele andere darauff folgende Tage nicht allein gewehret.“183
Wahrscheinlich wollte die städtische Obrigkeit mit prächtigen Illuminationen und Feuerwerken auch das niedere Volk der Stadt aufmuntern, da sich vor der Jahrhundertmitte in Aachen durch Truppeneinquartierungen, strenge Winter, Hunger und Viehsterben eine äußerst schwierige Versorgungslage und gedrückte Stimmung eingestellt hatten. Ende April 1747 führte dies zu einem allgemeinen Verbot von Tanz und Lustbarkeiten, Maispielen, des Setzens von Maibäumen und Schützenveranstaltungen durch den Magistrat.184 Wie in anderen Reichsstädten gedachten in Aachen beim Ableben eines Königs, des Stadtherrn, die versammelten Vertreter des Rates und die städtischen Beamten des verstorbenen Herrschers. Dies geschah im schwarz verhangenen Reichssaal des Rathauses vor einem mit Altären, Emblemen und Inschriften aufwändig gestalteten Trauergerüst. Im Zentrum eines solchen Trauergerüsts repräsentierte ein Kenotaph den Körper der Majestät. Vom Magistrat autorisierte Chronogramme erwiesen 1765 dem verstorbenen Kaiser Franz I. und 1780 der toten Kaiserin Maria Theresia die Ehre, für die am 10. Januar 1781 zudem eine Trauerfeier im Aachener Rathaus stattfand.185 Das Stiftskapitel feierte dagegen eigene Exequien in der Marienkirche. Das auf Kosten des Rates zum Tode Karls VII. 1745 in der Marienkirche errichtete Castrum Doloris geht auf den seltenen Fall einer Kooperation zwischen Rat und Stift zurück. In der Regel blieben selbst die Aachener Trauerfeiern der gekrönten Häupter nicht von Streitigkeiten zwischen beiden konkurrierenden Parteien der Stadt verschont.186
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Pohle, Johann Joseph Couven als Festarchitekt, S. 157 und Anm. 2. Zit. nach Krüssel, Chronogramme, S. 86f. Über die Lage in Aachen in dieser Zeit Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 92–97. Krüssel, Chronogramme, S. 101f. Zu den Aachener Trauerfeierlichkeiten beim Ableben des Kaisers zwischen 1740–1792 STA Aachen, RA II AA, Nr. 554; Notizen des Bürgermeistereidieners Johannes Janssen nach der Ausgabe von Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener Patrizier-Familien 3, S. 29 (zu 1705), S. 34 (zu 1711), S. 52 (zu 1740), S. 59f. (zu 1745), S. 332–338 (zu 1766). Vgl. Pohle, Johann Joseph Couven als Festarchitekt, S. 159–162; Vennen, Buchdruck in Aachen, S. 91–96, Huyskens, Aachener Leben im Zeitalter des Barock und Rokoko, S. 51–65 und Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 78ff. Über die aus diesem Anlass erschienenen Aachener Druckschriften informiert Vennen, Buchdruck in Aachen, S. 5f.
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4.3.2.2 Münster und Rathaus nach dem Verlust der Krönungen Die lokalen Großbauten von Stadt und Stift, Rathaus und Marienkirche, wurden bereits im vorangegangenen Epochenkapitel als lokale Medien der Herrschaftskommunikation analysiert.187 Das Ende der Aachener Krönungstradition und der Niedergang des Wallfahrtswesens seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bildeten einen deutlichen Einschnitt in der Geschichte der Aachener Marienkirche. Der Niedergang wurde nur durch eine von der Türkengefahr ausgelöste „Nachblüte“188 vorübergehend unterbrochen. Der verheerende Stadtbrand von 1656, der das Münster stärker als das Rathaus in Mitleidenschaft zog, machte zunächst dringende Reparaturen erforderlich, die aufgrund unzureichender Finanzmittel erst Ende des 17. Jahrhunderts abgeschlossen werden konnten.189 Nachdem durch die wirtschaftliche Erholung der Stadt und Stiftungen die materiellen Möglichkeiten des Stiftes wieder erstarkt waren, entschied man sich für eine Neugestaltung der Kirche im barocken Stil, insbesondere für eine Stuckatur des Innenraumes, die zwischen 1719 und 1733 von italienischen Künstlern ausgeführt wurde.190 Das daraus resultierende ikonographische Programm wies eine Vielzahl christlicher Figuren und allegorischer Verzierungen auf.191 Der Schwerpunkt der Stuckfiguren lag auf Christus, Maria und den in Aachen lokal verehrten Heiligen, Johannes dem Evangelist, Johannes dem Täufer, Stephanus und Simeon. Auch Reliquien und Reliquiare des Münsterschatzes fanden sich auf den oberen Pfeilern des Oktogons in Medaillons abgebildet, darunter das sogenannte Jagdhorn Karls des Großen, der Einband des Reichsevangeliars und die Stephansburse, die beide zu den drei Aachener Reichskleinodien gehörten. Eine Gewölbemalerei mit der Steinigung des heiligen Stephanus wurde in der kunsthistorischen Forschung als Anspielung auf die Stephansburse gedeutet.192 Der Karlskult wurde ebenfalls sichtbar, auf die lokale Bedeutung verengt und im Zusammenhang mit einer Anspielung auf die Heiligtumsfahrt, in einem Gemälde im Gewölbe des Oktogons, das die legendäre Krönung Karls des Großen mit der Dornenkrone durch den Kaiser von Byzanz sowie die Übergabe von Reliquien zeigte. Damit wurde die Krönungstradition Aachens bestenfalls dezent in den Reichskleinodien aufgegriffen.193 Im Zentrum des östlichen Tambourfeldes, am Durchgang vom Oktogon zum Chorbereich, genau gegenüber der Loge mit dem Karlsthron, schwebte ein mit 187 188 189 190
Vgl. Kap. 3.3.1.4. Zit. Plötz, Aachenfahrt und Heiltumsweisung, S. 148. Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 261. Zur barocken Gestalt des Münsters STA Aachen RK, Nr. X-1; Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 262. 191 Folgende Beschreibung nach Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 266–276. Vgl. Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 50–52. 192 Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 275; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 332. 193 Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 276 und Abb. 26, 281f.
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dem Wappen der Habsburger und den Reichsinsignien versehener monumentaler Doppeladler, darunter Waffen und türkische Fahnen, die auf die Türkenkriege und den Sieg des christlichen Heeres vor Wien 1683 anspielten. Dieses Ensemble stellte eine dem Nachruhm der Dynastie dienende Schlachtenmemoria dar, wie sie in Kirchenräumen dieser Zeit durchaus üblich war, und drückte die Treue des Stiftskapitels zum Reich und zum Habsburgerhaus aus.194 Den umstrittenen Begriff des Reichs- oder Kaiserstils wird man zu seiner Interpretation nicht heranziehen müssen.195 Eine deutliche Zäsur in der baulichen Repräsentation des Aachener Karlskults brachte das Ende des 18. Jahrhunderts. 1788 wurden der Karlsschrein und der Marienschrein aus dem inzwischen verfallenen, schließlich 1782 komplett weiß gestrichenen Chor in die Sakristei gebracht. Das am rechten Eingang des Chores stehende Bogendenkmal für Karl den Großen, dessen Zentrum der ProserpinaSarkophag und eine Statue Karls des Großen mit Kreuz und Reichsapfel bildeten, ließ das Kapitel zur selben Zeit abtragen. Manche Durchreisenden hatten dieses seit 1517 belegte Denkmal irrtümlich für das Grab Karls des Großen gehalten, und das Marienstift hatte seinerseits die Karlsmemorie genutzt, um den Besuchern gegen Geld den in einem hölzernen Verschlag eingelassenen und als Berührungsreliquie dienenden Proserpina-Sarkophag als ursprünglichen Sarg Karls des Großen zu präsentieren.196 Vielleicht trug die Wirkung der kirchlichen Aufklärung auf die Mitglieder des Marienstifts zum Verzicht auf diese Einnahmequelle bei, was angesichts der erzkonservativen Haltung der überwiegenden Mehrheit des Aachener Klerus allerdings zweifelhaft erscheint.197 Vielleicht war es aber auch die neue Kunstästhetik, die klassizistische „Verachtung alles Mittelalterlichen“198, welche der aufhellenden Renovierung des düster erscheinenden mittelalterlichen Vorbildes das Wort redete. Während das Stiftskapitel langsam aber stetig die Deutungshoheit über die städtische Geschichte verlor, bemächtigte sich die Stadtgemeinde der Karlstradition ebenso wie der großen Vergangenheit Aachens. Die zentralen Gebäude und 194 Ebd., S. 275, 282f.; dies., Das Aachener Münster, S. 124; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 113f., 332; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 599f. Vgl. für die hier gebrauchten medialen Formen des Nachruhms, Erinnerungsfest und Denkmal, Graf, Nachruhm, S. 320f., 324–326. 195 Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 282f. Vgl. für den umstrittenen Begriff den kritischen Forschungsüberblick von Engelberg, Reichsstil und dessen Modifizierung der Thesen von Matsche, Die Kunst im Dienste der Staatsidee Kaiser Karls VI. 196 Quix, Historisch-topographische Beschreibung der Stadt Aachen, S. 25; Grimme, Karl der Große in seiner Stadt, S. 230; ders., Der Aachener Domschatz, Nr. 3, S. 8; Wynands, „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 146; ders., Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 216; Heuschkel, Überlegungen zum Grab Karls des Großen, S. 93f.; Schmidt, Proserpina-Sarkophag; Eilmann, Der Proserpina-Sarkophag, S. 74–79; Buchkremer, Eine Beschreibung des Aachener Münsters, S. 265. 197 Wynands, „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 146. Zur begrenzten Wirkung der Aufklärung in Aachen Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 21–25; Pohle, Dautzenbergs Bücher, S. 7–13. 198 Zit. Fleischmann, Das Aachener Münster, S. 128.
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Plätze spiegeln mit Inschriften und Symbolen diesen Aneignungsprozess wider. Reichsadler und Kaiserbilder versinnbildlichten die Bindung an König und Reich, was die vom König als Stadtherrn gewährte Reichsfreiheit Aachens einschloss.199 So wurde um die Mitte des 16. Jahrhunderts im Innern des Rathauses, links vom Haupteingang, eine lateinische Inschrift angebracht, die in goldenen Buchstaben den im mittelalterlichen Karlsprivileg formulierten Ehrenvorrang Aachens als Haupt Galliens und aller Städte nördlich der Alpen verkündete: KAROLUS INSIGNEM REDDENS HANC CONDIDIT URBEM / QUAM LIBERTAVIT POST ROMAM CONSTITUENDO / QUOD SIT TRANS ALPES HIC SEMPER REGIA SEDES / UT CAPUT URBS HANC QUEQUE COLAT HANC ET GALLIA TOTA. / GAUDET AQUISGRANUM PRAE CUNCTIS MUNERE CLARUM / QUAE PRIUS IMPERII REGES NUNC LAUREAT ALMI. („Karl gründete diese Stadt und zeichnete sie aus, indem er festlegte, dass der königliche Sitz jenseits der Alpen immer hier sei, so dass jede Stadt und ganz Gallien diese (Stadt) als Haupt verehre. Es freut sich Aachen, berühmt vor den anderen (Städten) durch diesen Gunsterweis; welche (Stadt) früher die Gesetze des Reiches, nun die des Heiligen ehrt.“) 200
Vor 1620 wurde über der Tür zum Kaisersaal eine weitere Inschrift angebracht, die gleichfalls dem gefälschten Privileg Karls des Großen entnommen war. Sie gab ebenfalls den Anspruch Aachens auf Vorrang als Sitz des Reiches diesseits der Alpen und Haupt aller Städte und Provinzen Galliens wieder: HIC SEDES REGNI TRANS ALPES HABEATUR CAPUT OMNIUM CIVITATUM ET PROVINCIARUM GALLIAE. („Dieser Sitz des Reiches diesseits der Alpen soll als Haupt aller Städte und Provinzen Galliens betrachtet werden“) 201
Im Jahre 1620 ließ der Magistrat vor dem Rathaus einen Marktbrunnen errichten, der von einer überlebensgroßen Bronzefigur Karls des Großen bekrönt war und die nach 1632 mehrmals vergoldet wurde. Der Kaiser mit Bügelkrone hielt in der rechten Hand das Zepter, in der Linken den Reichsapfel, an seiner Seite hing sein sagenhaftes Schwert La Joyeuse.202 Die Umschrift der Brunnenschale bezog sich auf die sagenhafte Gründung Aachens durch den römischen Fürsten Granus und formulierte den Vorrang Aachens als Haupt und Sitz des Reiches nach einem Auszug aus dem gefälschten Karlsprivileg. Die im 17. Jahrhundert wieder belebte Tradition Aachens als Badestadt bildete den engeren Kontext des Brunnenbaus, weshalb der Inschrift nicht nur ein politischer, sondern wohl auch ein wirtschaftlicher Bezug zuzuschreiben ist: 199 Roeck, Die ästhetische Inszenierung des Reiches, bes. S. 217f. 200 Lat. Text und Übers. zit. nach Giersiepen, Die Inschriften der Stadt Aachen, Nr. 68†, S. 41; vgl. Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 49. 201 Lat. Text und Übers. zit. nach Giersiepen, Die Inschriften der Stadt Aachen, Nr. 116†, S. 68f.. Vgl. Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 50. 202 Pabst, Karl der Große, S. 283–285. Vgl. Faymonville, Die profanen Denkmäler, S. 226–230; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 42; Ottomeyer/Götzmann/Reiss, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Kat.-Nr. II.9, S. 74. Das Schwert La Joyeuse fand, als Schwert Karls des Großen bezeichnet, Verwendung im französischen Krönungszeremoniell, vgl. Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 1, Nr. 4.1, S. 380 und 409 (mit Abb.).
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4 Verblassendes Charisma HIC AQUIS PER GRANUM PRINCIPEM QUENDAM ROMANUM NERONIS ET AGRIPPAE FRATREM CALIDORUM FONTIUM THERMAE PRINCIPIO CONSTRUCTAE; HIC SIT CAPUT ET REGNI SEDES TRANS ALPES, RENOVATAE SUNT: QUIBUS THERMIS HIC GELIDUS FONS INFLUXIT OLIM, QUEM NUNC DEMUM AENEO VASE ILLUSTRAVIT S[ENATUS] P[OPULUS] Q[UE] AQUISGRANI. ANNO DOMINI MDCXX. („Hier in Aachen sind durch einen gewissen Princeps Granus, einen Bruder Neros und der Agrippa, die Thermen der heißen Quellen von Grund auf erbaut worden. Später aber, nachdem durch den heiligen Kaiser Karl den Großen festgesetzt worden war, dass dieser Ort Haupt und Sitz des Reiches diesseits der Alpen sei, sind sie wiederhergestellt worden; in welche Thermen einst diese kalte Quelle hineingeflossen ist, die Senat und Volk nun gerade durch dieses eherne Gefäß dargestellt haben.“)203
1624 verarbeitete der Aachener Goldschmied Dietrich von Rath das Brunnenmotiv in Miniatur für einen Pokal aus vergoldetem Silber, der Eingang in das Ratssilber fand. Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert brachte der städtische Fontänenmeister Sebastian Fabri eine Nachbildung des Brunnens auf seinem Haus an.204 Aachener Bürger ließen den zum Wahrzeichen der Stadt gewordenen Brunnen auf Ofenplatten und Glasmalereien, Ölbildern und Goldschmiedearbeiten darstellen.205 Massenhafte Reproduktion und objektivierte Aneignung des Sujets bildeten den Stolz der Bürger Aachens auf ihre mit dem heiligen Patron und Gründer ihrer Stadt verbundene Geschichte wie auch das sich anbahnende Ende der kulturellen Vormundschaft des Marienstiftes ab. Anders als der Münsterbau griff die Rathausikonographie, insbesondere mit den Königsfiguren der repräsentativen Fassade auf der Marktseite, bis in die 20er Jahre des 18. Jahrhunderts die abgebrochene Aachener Krönungstradition und die Darstellung der Kaisergeschichte auf.206 Die Gestaltung eines reichsstädtischen Rathauses wie desjenigen in Aachen kann als „Kristallisationskern bürgerlicher Identität“207 angesehen werden. Das Skulpturenprogramm der Kaiserreihe thematisierte in Aachen wie in anderen Reichsstädten das Verhältnis der Stadt zu Kaiser und Reich.208 Damit wurden Ratsherren und Untertanen zur persönlichen Treue gegenüber dem Kaiser ermahnt.209 Diese war weitgehend gleichbedeutend mit dem „Bekenntnis zum Reich“210. Der städtische Republikanismus als „Gegenposi-
203 Lat. Text und Übers. zit. nach Giersiepen, Die Inschriften der Stadt Aachen, Nr. 118, S. 70f. Vgl. Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 50; Faymonville, Die profanen Denkmäler und die Sammlungen der Stadt Aachen, S. 229. 204 Giersiepen, Die Inschriften der Stadt Aachen, Nr. 132, S. 75f.; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9.24, S. 720f. (mit Abb.); Quadflieg, Die Herkunft des Marktbrunnenpokals. 205 Grimme, Karl der Große in seiner Stadt, S. 267f.; Brecher, Die kirchliche Reform in Stadt und Reich Aachen, S. 288f.; Noppius, Aacher Chronick, Kap. 26, S. 90–91. 206 Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 58–68. 207 Zit. Roeck, Reichsstädtische Rathäuser, S. 276. 208 Am Beispiel des Ulmer Rathauses Tipton, Tugendspiegel einer christlichen Obrigkeit, bes. S. 88–90; für Bremen Albrecht, Das Bremer Rathaus im Zeichen städtischer Selbstdarstellung, S. 41–51. 209 Albrecht, Das Bremer Rathaus im Zeichen städtischer Selbstdarstellung, S. 51. 210 Zit. Tipton, Tugendspiegel einer christlichen Obrigkeit, S. 90.
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tion zu den herrschenden fürstlich-monarchischen Prinzipien“211 fand in Aachen keinen eigenständigen bildlichen Ausdruck, da Karl der Große wie auch die Berufung auf die reichsstädtischen Privilegien zugleich für die städtische Autonomie standen. Die Ikonographie des Rathauses bildete die Idee der guten Herrschaft ab, die in der Bindung der Reichsstadt an die Monarchie und der Aufrechterhaltung von Obrigkeit und Ordnung bestand.212 Aachen führte wie andere Reichsstädte seine Privilegien und Freiheiten auf Karl den Großen und die ihm folgenden Könige zurück. Die Königsherrschaft war Garant des reichsstädtischen Wohlstands und Bedingung des darauf beruhenden stadtbürgerlichen Stolzes. „Das Gemeinwesen – in der frühen Neuzeit vielmehr noch seine Elite – präsentierte sich hier in seiner ökonomischen Kraft, seiner magnificentia und ganz allgemein in seiner Bedeutung.“213
Zu den vielfältigen Funktionen des Rathauses im öffentlichen Raum der Stadt gehörte die Repräsentation, der Empfang von Besuchern, Festbankette an Feiertagen und amtlichen Anlässe.214 Recht schnell nach dem Verlust des Krönungsortes wurde der nicht mehr für das festliche Krönungsmahl benötigte Saal vom städtischen Magistrat vernachlässigt, was umso bemerkenswerter ist als gerade die Kaiser- oder Reichssäle der Rathäuser Orte reichsstädtischer Identität waren.215 Über die bildliche Ausstattung des Festsaals im Obergeschoss des Aachener Rathauses ist kaum etwas bekannt. Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts brachte man im Saal, wahrscheinlich für die Armenfürsorge, einen Getreidespeicher unter.216 Nach dem großen Stadtbrand von 1656 wurde dort die städtische Waffenkammer eingerichtet, mehrfach aber noch Getreide aufgeschüttet.217 Wegen dieser wenig ansehnlichen Zustände wurde 1668 der Friede von Aachen nicht im Rathaus, sondern in einem Gasthof geschlossen.218 Offenbar versuchte der Magistrat, ähnlich wie beim Karlsfest auf den Stadtheiligen zuzugreifen, wie dies bei den Rathäusern anderer Reichsstädte dieser Zeit ebenfalls feststellbar ist.219 1669 weihte man die Pfortenglocken des Reichssaals
211 Zit. Albrecht, Gute Herrschaft – fürstengleich, S. 211. Vgl. dazu auch Rau/Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit, S. 44. 212 Dazu Albrecht, Gute Herrschaft – fürstengleich; Tipton, Tugendspiegel einer christlichen Obrigkeit; dies., Res publica bene ordinata. 213 Roeck, Reichsstädtische Rathäuser, S. 284. 214 Rau/Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit, S. 41f. 215 Matsche, Kaisersäle – Reichssäle; Erichsen, Kaisersäle. Skeptisch zur Annahme einer reichsstädtischen Ikonographie Albrecht, Gute Herrschaft – fürstengleich, S. 212. 216 Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 45. 217 Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 57. 218 Zum Aachener Kongress von 1668 STA Aachen RK, Nr. I-13a; Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 58. 219 Im Falle Aachens fehlen Quellen zur genauen Ausmalung und Bebilderung der Räume. Vgl. insgesamt für die relativ geringe Thematisierung lokaler Geschichte in den Rathäusern des Reiches Roeck, Rathaus und Reichsstadt, S. 108–110; Albrecht, Gute Herrschaft – fürstengleich, S. 208, 210.
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zu Ehren Karls des Großen.220 Für den Saal des ehemaligen Werkmeistergerichtes im Untergeschoss entstand 1730 ein Gemälde aus der Hand des Malers Johann Christoph Bollenrath, das Karl den Großen idealtypisch in Prunkrüstung und Hermelinmantel zeigt, wie er ein Modell des Münsters in der rechten Hand hält. Das 1387 erstmals erwähnte Werkmeistergericht hatte sich den Stifts- und Stadtgründer Karl den Großen zum Patron gegeben, was die kontinuierliche Pflege des Karlskultes durch die Zünfte belegt.221 Insofern sagt diese bildliche Repräsentation Karls des Großen etwas über die selbstbewusste politische und soziale Emanzipation der Zunftbürger innerhalb des Stadtbürgertums aus.222 Die Karlsfigur auf dem Marktbrunnen von 1620, die Stiftung eines Karlsleuchters für die Aachener Michaelskirche 1628223, das beschriebene Gemälde Karls des Großen für das Werkmeistergericht, das Karlsgemälde im Oktogongewölbe der barocken Marienkirche vom Beginn der 1730er Jahre wie auch die Anniversarfeier zum 900. Todestag Karls des Großen 1714 und die Heiligtumsdramen der Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert – all dies wird man mit Isa Fleischmann als „Zeichen [eines] wiederauflebenden Geschichtsbewusstseins“224 im barocken Aachen deuten dürfen.225 Eine Elegie des Jesuiten Johannes Kauth, die martialisch an die Befreiung Wiens von den Türken durch Herzog Karl von Lothringen, den späteren Kaiser Karl VI., 1711 erinnerte, dokumentiert die literarische Reflexion der Türkenkriege in Aachen226, während die Huldigungsfeier für Karl VI. 1717 das Thema im Medium des Festes aufgriff. Gerüchte über die Abhaltung eines europäischen Kongresses in Aachen veranlassten den Magistrat zum vollständigen Umbau des Rathauses in den Jahren zwischen 1727 und 1735, wobei man den gotischen Bilderschmuck der Fassade, Konsolen, Baldachine und Königsfiguren, komplett beseitigte. Die Fassade wurde nach dem Vorbild des fränkischen Barock gestaltet.227 Entsprechend der allgemeinen Entwicklung des Rathausbaus im 18. Jahrhundert wurde die äußere und innere Gestaltung des Aachener Rathauses dem Geschmack und den kommunalen Verwaltungsfunktionen angepasst.228 Wie in einem Schlussakkord des Sichabfindens mit dem Verlust der Krönungen tilgte der Magistrat die plastische Erinnerung an deren Geschichte. Für die eigennützige Vermittlung der Königsherrschaft im lokalen Raum hatten sich inzwischen noch andere Medien gefunden, wie im Folgenden dargelegt werden wird. 220 Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 58. 221 Faymonville, Die profanen Denkmäler und die Sammlungen der Stadt Aachen, S. 142 und Abb. S. 143; Grimme, Karl der Große in seiner Stadt, S. 271. 222 Zur Aussagekraft der Bilderwelt des frühneuzeitlichen Rathauses für die politische und soziale Stellung der patrizischen und zünftischen Eliten der Stadt Roeck, Reichsstädtische Rathäuser, S. 279. 223 Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 282. 224 Zit. Ebd., S. 283. 225 Fleischmann, Das Aachener Münster, S. 123. 226 Lat. Text und Übersetzung bei Krüssel, Chronogramme, S. 47–55. 227 Schoenen, Johann Joseph Couven, S. 75–77. 228 Roeck, Rathaus und Reichsstadt, S. 94; Albrecht, Gute Herrschaft – fürstengleich, S. 205.
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4.3.2.3 Stadtgeschichtsschreibung als Schlachtfeld In Städten wie Aachen agierten kulturelle Experten, zunächst gelehrte Kleriker, später Juristen, Archivare, Kartographen und Geschichtsschreiber, die das neue Massenmedium des Buchdrucks nutzten. Die Druckgraphik ermöglichte nun die weite Verbreitung bildlicher Darstellungen von Herrschaft.229 Experten im Dienste des Aachener Marienstiftes und des Magistrats stellten in ihren Stadtgeschichten die ruhmreichen Taten Karls des Großen und die prächtigen Aachener Krönungen in den Mittelpunkt und verteidigten lokalpatriotisch die Interessen der Stadt.230 Insbesondere die gelehrten Juristen erwarben in den Städten der Frühen Neuzeit durch ihren professionellen Sachverstand hohes Ansehen und gelangten in bedeutende Ämter231, was den Inhalt und die Ausrichtung der Stadtgeschichtsschreibung veränderte. So zeichnete sich die deutschsprachige Aacher Chronick des Juristen Johannes Noppius, die 1632 erschien und gleichermaßen dem Rat wie dem Marienstift gewidmet war, durch strenge Sachlichkeit, aber auch durch Lokalpatriotismus und katholisches Sendungsbewusstsein aus. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts kann eine vollständige Auflösung der Bindung der Aachener Geschichtsschreibung an den lokalen Klerus festgestellt werden, als der letzte bedeutende Vertreter der Aachener Lokalgeschichtsschreibung in reichsstädtischer Zeit, der Aachener Stadt-Rathsarchivarius Karl Franz Meyer der Ältere, 1781 mit seinen monumentalen Aachenschen Geschichten eine patriotische Darstellung „über den Königlichen Stuhl und des Heiligen Römischen Reichs freye Haupt-Kron-und CurStadt Aachen von ihrem Ursprung bis auf gegenwärtige Zeiten“232
herausbrachte. Es ging ihm, wie bereits der Titel des ersten Hauptstücks seines Werkes verriet, in erster Linie um die „Würde und [den] Ruhm der Stadt Aachen“233, um ein patriotisches Bekenntnis zu seiner Vaterstadt. Die natürlichen 229 Rudolph, Die visuelle Kultur des Reiches. 230 Über die Aachener Chronistik und Historiographie seit dem Spätmittelalter, insbesondere Petrus à Beeck (†1624), Johannes Noppius (†1642) und Heinrich Thenen (1607–1696), informiert ausführlich Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 380ff. Vgl. dazu auch Paul, Chronica manuscripta Aquensis; Kaentzeler, Peter à Beeck, Vorwort; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 299–301, 323–325; Vennen, Buchdruck in Aachen, S. 33–36; Breuer, Die Karlsbiographie des Aachener Jesuiten Heinrich Thenen; Thenen, Das Leben des Heiligen Caroli Magni, Nachwort, S. 359–387. Vgl. die Texte in Beeck, Aquisgranum; Noppius, Aacher Chronick; Thenen, Das Leben des Heiligen Caroli Magni; die Chronik des Heinrich von Thenen, STA Aachen, Hs. 16. 231 Reinhard, Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 184; Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 35. 232 Angaben nach dem Frontispiz des ersten Bandes von Meyer, Aachensche Geschichten. Die beiden Folgebände sind nicht mehr in Druck gekommen und liegen handschriftlich im Aachener Stadtarchiv vor. Über die Person Meyers informieren Mummenhoff, Der Geschichtsschreiber Karl Franz Meyer der Ältere, S. 316f.; Kaemmerer, Das Aachener Stadtarchiv, S. 30f.; Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 391f. 233 Zit. Meyer, Aachensche Geschichten, I. Hauptstück, S. 1.
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Ressourcen und die Geschichte begründeten für Meyer den Vorrang Aachens vor allen anderen Reichsstädten.234 Darin glich seine Darstellung noch dem Werk des Noppius. Im Gegensatz zur älteren Lokalgeschichtsschreibung stellte Meyer Aachen aber nicht mehr als „heilige Stadt“ (sacra civitas)235 sondern als zentralen Ort des deutschen Vaterlandes dar, worin sein Reichspatriotismus zum Ausdruck kam. Zu diesem Zweck spannte er einen weiten Bogen vom römischen über das fränkische zum „teutsche[n] Aachen“236. Seine Heimatstadt bezeichnete er voller Stolz „als die teutsche Haupt- und Krönungs-Stadt unter Karl dem Großen“.237 Karl der Große sei nicht nur in Aachen geboren worden.238 Er habe Aachen „zur Haupt-Stadt über Teutschland und Frankreich“239 erhoben und aus dieser „ein neues Rom“240 gemacht. Der Stadt habe er „die Würde eines ewigen KrönungsThrones“241 geschenkt. Karls Nachfolger hätten dann den auf dem Krönungsort gründenden Vorrang Aachens vor allen Städten des Reiches bestätigt und festgeschrieben, wobei sich Meyer auf das Barbarossaprivileg und dessen Bestätigung durch die nachfolgenden Kaiser stützen konnte: „Aachen ist unter allen andern Städten und Provinzen die Würdigste, Sie ist die Kron-Stadt der Römischen Könige, Sie ist der Sitz des ganzen Reiches, und die Haupt-Stadt diesseits der Alpen; ja noch bis auf den heutigen Tag heißt es in allen und jeden von Kaiserlicher Majestät, von Allerhöchst Dero Reichs-Hof-Rathe, und dem Kammer-Gerichte an die Stadt Aachen ausgefertigten allergnädigsten Befehlen, Rescripten, und anderen Verordnungen: Den Burgermeistern, Scheffen und Rath des Königlichen Stuhles zu Aachen.“ 242
Meyer verteidigte an anderer Stelle vehement die Echtheit des in die Barbarossaurkunde von 1166 inserierten Karlsprivilegs, das die Tradition Aachens als Haupt des Reiches begründet hatte.243 Er plädierte zudem für die Rechtmäßigkeit der
234 Ebd. 235 Zit. Ebd. Vgl. zur heiligen Stadt bereits den Wortlaut der Barbarossaurkunde, Meuthen, Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen, S. 64 mit Anm. 103 sowie Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 392. 236 Zit. Meyer, Aachensche Geschichten, I. Hauptstück, S. 1. 237 Ebd., XII. Hauptstück, S. 60ff. 238 Ebd., S. 63–65. 239 Zit. Meyer, Aachensche Geschichten, I. Hauptstück, S. 2. 240 Zit. Ebd. Die Vorstellung von Aachen als neuem Rom bezog Meyer aus dem kurz nach 800 entstandenen Karlsepos (Carmen de adventu Leonis ad Carolum Magnum), das er dem Wissensstand der Zeit entsprechend für ein Werk Alkuins hielt, vgl. Meyer, Aachensche Geschichten, I. Hauptstück, S. 3 und Anm. 1. Vgl. oben Kap. 2.3.1. 241 Zit. Meyer, Aachensche Geschichten, I. Hauptstück, S. 2. 242 Zit. Ebd., S. 2f. In dieser Zeit wurde wahrscheinlich im Aachener Marienstift eine Urkunde auf Karl IV. gefälscht, in der dieser das Stiftskapitel auffordert, das Karlsfest alljährlich wieder mit dem früher üblichen Glanz zu feiern. Diese Fälschung sollte offensichtlich die aufgekommenen Zweifel an der Echtheit des Karlsprivilegs beseitigen. Vgl. Machilek, Karl IV. und Karl der Große, S. 130; Meuthen, Karl der Grosse – Barbarossa – Aachen. 243 Meyer, Aachensche Geschichten, S. 777–791. Gegen Fälschungsvorwürfe hatte sich bereits der Jesuit Heinrich Thenen in seinem ‚Leben des Heiligen Caroli Magni, Ersten Teutschen Keysers ދvon 1658 gewendet. Vgl. Thenen, Das Leben des Heiligen Caroli Magni, Kap. 29, S. 182–192, Kap. 36, S. 33–242 und dazu das Nachwort S. 367f.
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Kanonisierung Karls des Großen244 und forderte die Herausgabe aller Nürnberger Stücke an die Stadt Aachen, da diese mittelalterlichen Quellen zufolge wie die drei Aachener Reichskleinodien aus dem Grab Karls des Großen stammen würden. Alle im Grab Karls des Großen aufgefundenen Reichskleinodien habe Richard von Cornwall der Stadt Aachen zu ewiger Verwahrung gegeben. Aachens angebliche fast zweihundert Jahre währende Rolle als Verwahrort der Reichskleinodien und als Ort der Krönungen waren für Meyer die ausschlaggebenden Argumente für Aachen und gegen Nürnberg.245 Die von Meyer repräsentierten politisch-administrativen Lokaleliten am Ende des 18. Jahrhunderts betrachteten Aachen wie selbstverständlich als „ReichsHaupt-Statt und eigentliche Kayserliche Residenz“246, als „Königlichen Stuhl“ und „Kaiserliche freye Reichs-Stadt“247. Meyers monumentale historiographische Vereinnahmung der Aachener Stadtgeschichte dokumentiert, dass es dem Stadtbürgertum gelungen war, dem Marienstift die kulturelle Deutungshoheit innerhalb der Stadt weitgehend zu entreißen. Dass sich Meyer dabei aus heutiger Sicht unkritisch eines Sammelsuriums aus Sagen, Legenden und historischen Anekdoten bediente, ist dabei von zweitrangiger Bedeutung. Eine solche von Erich Meuthen vertretene Sichtweise verkennt die rhetorische Funktion des historischen Exemplums bis in die Frühen Neuzeit hinein, die im Geschichtswerk Meyers mit Blick auf eine gebildete, vaterstädtisch und reichspatriotisch denkende bürgerliche Leserschaft eingesetzt wurde.248 Die weitgehende Preisgabe des Rathauses als bisheriges Hauptmedium der Aneignung der mittelalterlichen Vergangenheit und die Eroberung des historischen Denkens mit der Beherrschung der im 18. Jahrhundert zunehmend vom Buchmarkt bedienten Leseöffentlichkeit bedeuteten wichtige Akzentverschiebungen innerhalb der städtischen Herrschaftskommunikation, die man mit den Begriffen Emanzipation und Erweiterung des medialen Resonanzraumes bezeichnen kann.
244 Meyer, Aachensche Geschichten, XXVII. Hauptstück, S. 254–259. 245 Ebd., XXI. Hauptstück, S. 216f., 792–836. Vgl. bereits Beeck, Aquisgranum, Kap. 5, S. 77; Übersetzung bei Kaentzeler, Peter à Beeck, S. 119.; Noppius, Aacher Chronick, S. 10 und Buch 3, S. 231–366; Thenen, Das Leben des Heiligen Caroli Magni, Kap. 34, S. 218f. 246 Zit. Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 2. 247 Zit. nach den Buchtiteln von [N.N.], Des Königlichen Stuhls und der Kaiserlichen freyen Reichs-Stadt Aachen Raths- und Staats-Kalender. Vgl. Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 4. 248 Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 384f.; zum rhetorischen Gebrauch des historischen Exemplums im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Moos, Geschichte als Topik.
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4.3.2.4 Stadtgemeinde und Reichsöffentlichkeit Zur Vertretung der politischen Interessen der ganzen Stadt nutzte der Aachener Magistrat wie bereits im Spätmittelalter den Reichstag, das „zentrale politische Forum des Reiches“249, ferner die Kreistage des niederrheinisch-westfälischen Kreises250 und die Städtetage.251 Zwar gehörte der Abt des benachbarten Kornelimünster zu den im Reichstag vertretenen rheinischen Reichsprälaten, nicht jedoch der Propst des Marienstiftes.252 Das vom Reichstag gebotene Forum der Reichsöffentlichkeit konnten die Delegierten des Aachener Magistrats nutzen, um sich als Alleinvertreter der reichsstädtischen Interessen darzustellen und dadurch Aufmerksamkeit zu gewinnen.253 So bot die prestigeträchtige Sitzordnung im Reichstag den Aachenern die Möglichkeit, auf dem Wege des Konflikts mit anderen Städten Prestige im Namen der Stadt zu erwerben.254 Der Aachener Rat beanspruchte im reichsstädtischen Kollegium des Reichstages wie auch in den Kreisund Städtetagen weiterhin den Vorsitz vor Köln.255 Innerhalb der vordersten Gruppe der Städte im Reichstag, der rheinischen Bank, nahm Aachen gewöhnlich hinter Köln, aber vor Straßburg, Metz, Worms, Lübeck und Speyer den zweiten Platz ein.256 In Speyer (1501) besetzten die Aachener Vertreter einfach den ersten Platz auf der schwäbischen Städtebank.257 1521 gelang es ihnen auf dem Reichstag zu Worms durch eine List, ihre Stellungnahme zu Luther vor Köln abzugeben.258 Auf den folgenden Reichs- und Städtetagen brachen die Sessionsstrei249 Zit. Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 19. Vgl. zum Reichstag insgesamt Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 19–24; Lanzinner/Schormann, Konfessionelles Zeitalter 1555– 1618, S. 68–71; Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 34f., 39–43, 64–68, 70–77; Krieger, König, Reich und Reichsreform, S. 48, 112f.; Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495–1806, S. 31ff.; Aulinger, Das Bild des Reichstags im 16. Jahrhundert. 250 Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 25–28; Lanzinner/Schormann, Konfessionelles Zeitalter 1555–1618, S. 70, 72–74; Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 43–48, 91–95. 251 Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung; Lanzinner/Schormann, Konfessionelles Zeitalter 1555–1618, S. 140; Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 36. 252 Aulinger, Das Bild des Reichstags im 16. Jahrhundert, S. 362–365; ferner Neuhaus, Reichsstädtische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert, S. 530f.; Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 30f., 83. 253 Schilling, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, S. 48. Vgl. für die „Abgrenzungsdynamik und das zunehmend obrigkeitliche Selbstverständnis“ der städtischen Eliten insbesondere zwischen 1650 und 1800 François, Städtische Eliten in Deutschland, S. 72f.; dazu Hildebrandt, Rat contra Bürgerschaft und für das Beispiel Köln Looz-Corswarem, Die politische Elite Kölns, S. 430. 254 Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung, S. 75; Aulinger, Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert, S. 233–248. 255 Vgl. Kap. 3.3.1.5; dazu Dubois, Die Reichsstadt Aachen, S. 3; Bergerhausen, Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen, S. 51–56; Spiess, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, S. 50 und Anm. 54. Dazu aus zeitgenössischer Perspektive Meyer, Aachensche Geschichten, S. 839; Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 2. 256 Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung, S. 78. 257 Ebd., S. 88. 258 Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 71.
4.3 Repräsentation und Kommunikation frühneuzeitlicher Königsherrschaft
193
tigkeiten zwischen beiden Städten mehrfach wieder auf.259 Doch auf dem Frankfurter Städtetag 1539 und zwei Jahre später auf dem Regensburger Reichstag gelang es Köln wieder, den traditionellen Vorrang vor Aachen für alle Reichsversammlungen durchzusetzen.260 Unter den drei stimmberechtigten Reichsstädten des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises nahm Aachen hinter Köln und vor Dortmund den zweiten Platz ein, erhob aber auch hier, etwa auf dem Kreistag in Duisburg 1682, Anspruch auf den Vorsitz.261 Zu ständigen Vertretern der Reichsstädte im 1555 eingerichteten Ordentlichen Reichsdeputationstag zu Nürnberg wurden anfänglich nur Nürnberg und Köln gewählt. 1570 wurde dieser Kreis erweitert, als Konstanz und Braunschweig hinzukamen. Aachen nahm lediglich einmal, 1560, im Namen aller Reichsstädte an den Speyerer Außerordentlichen Reichsdeputationen teil. Erst im Jüngsten Reichsabschied von 1654 wurde die Stadt gemeinsam mit Straßburg, Überlingen und Regensburg in den Ordentlichen Reichsdeputationstag aufgenommen.262 Der Sessionsstreit mit Köln eskalierte in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts auch auf dem Prozesswege, vor dem Reichshofrat in Wien, wobei Aachen seine Erhebung zur „obristen und principal Hauptstadt“263 durch Karl den Großen geltend machte, Köln hingegen auf eine Privilegierung als mit dem römischen Bürgerrecht ausgestattete colonia durch die römischen Kaiser verwies und daraus ableitete, die erste Freie Reichsstadt gewesen zu sein. Als Belege wurden von den Juristen beider Seiten Gründungssagen, Chroniken, Münzen, Wappen, Siegel, Hymnen und kaiserliche Privilegien angeführt und die Belege der Gegenseite durch umständliche Beweisführungen in Zweifel gezogen. Der Prozess endete um 1580 vermutlich ohne Urteil, da beide Parteien aufgrund wichtigerer Sorgen, vor allem religiöser Unruhen im Innern, an einer Fortsetzung nicht mehr interessiert waren und die Reichsstände jegliche Mitarbeit an der vom Kaiser geplanten interkurialen Kommission zur Lösung solcher Klagen verweigerten.264 259 Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung, S. 88f.; Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren, S. 124. Vgl. zur Verrechtlichung von Rangstreitigkeiten bürgerlicher Eliten als spezifisches Phänomen der Frühen Neuzeit dies., Rang vor Gericht, bes. S. 417. 260 Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren, S. 124; Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung, S. 89; Bergerhausen, Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen, S. 52; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 265. 261 Dubois, Die Reichsstadt Aachen, S. 6 und Anm. 2. Vgl. allgemein zur Bedeutung der Reichskreise den Überblick von Hartmann, Rolle, Funktion und Bedeutung sowie Dotzauer, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung; Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383– 1806). Zum Niederrheinisch-Westfälischen Kreis vgl. ebd., S. 297–333, 477–480, 540–544; Neuhaus, Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis; Dotzauer, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung, S. 263–304; Schneider, Der Niederrheinisch-Westfälische Kreis im 16. Jahrhundert. 262 Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S. 35; ders., Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert, S. 455, Anm. 120; Bergerhausen, Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen, S. 53; Schnettger, Der Reichsdeputationstag 1655–1663, S. 8, 26. 263 Zit. nach Beemelmans, Der Sessionsstreit zwischen Köln und Aachen, S. 69. 264 Kayserliche Reichs-Stadt Aach contra Cölln, 1570, den Vorsitz betreffend, STA Aachen Hs. 32; Beemelmans, Der Sessionsstreit zwischen Köln und Aachen; Bergerhausen, Die Stadt
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4 Verblassendes Charisma
Aachens einziger Erfolg blieb bis ins 18. Jahrhundert der Vorsitz der Reichsstädte beim Krönungsmahl. Aufnahme fand der Anspruch Aachens als Haupt des Reiches in druckgraphischen Städteporträts der Frühen Neuzeit, die im ganzen Reich publiziert wurden. So nahm die Stadt in der 1572 erschienenen Erstausgabe des weit verbreiteten Städtebuches Civitates orbis terrarum des Georg Braun und Franz Hogenberg als urbs praeclarissima unter den quatvor imperii civitates den ersten Rang (primum locum) ein.265 Die hier erwähnten weithin berühmtesten und wichtigsten Städte des Reiches – Augsburg, Mainz, Aachen und Lübeck – entsprachen der Anordnung im Quaternionensystem, einer seit dem 15. Jahrhundert überlieferten bildlichen Deutung der Reichsordnung.266 In der 1647 erschienenen Topographia Westphaliae Merians wurde Aachen allerdings nur noch als perantiqua Imperii urbs bezeichnet, was den in der Zwischenzeit eingetretenen politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Bedeutungsverlust der ehemaligen Krönungsstadt anzeigen dürfte.267 Die vom Magistrat auf Reichsebene vertretene Darstellung Aachens als Haupt des Reiches wurde in der Staatsrechtslehre des 18. Jahrhunderts als ein im Laufe der Geschichte erworbener und rechtlich begründeter Rang anerkannt. Zu diesem Schluss kommt zumindest die 1740 erschienene Darstellung der reichsstädtischen Verfassung Aachens aus der Feder des bedeutenden württembergischen Staatsrechtlers Johann Jakob Moser. Nach Auffassung Mosers wirkten die historischen Argumente besonders schwer: Die von den Geschichtsschreibern des Mittelalters überlieferte Tradition der großen Vergangenheit Aachens als Haupt des Reiches und Krönungsort, die urkundliche Bestätigung des im Barbarossaprivileg von 1166 verbrieften Vorrangs Aachens durch die nachfolgenden Herrscher, die Aufbewahrung der Reichskleinodien, die besondere Funktion des Kaisers als Kanoniker des Marienstifts, die hervorgehobene Rolle Aachens unter den Reichsstädten, der Besitz von Privilegien und Rechten sowie die Aachener Fürstenversammlungen, Kirchensynoden und Friedensschlüsse.268 In der Praxis bedeutete dies jedoch wenig, nicht zuletzt weil dem Reich der Hauptstadtgedanke fremd blieb. Der dezentrale Charakter des Heiligen Römischen Reiches ließ dem historisch begründeten caput-Anspruch Aachens nur einen symbolischen Freiraum. Wegen der Verteilung der Hauptstadtfunktionen auf mehrere Städte wäre es wohl nicht weiter ins Gewicht gefallen, wenn auch Aachen an dieser Multifunktionalität zu partizipieren versucht hätte. Nur mit einem tradierten Ehrenvorrecht ausgestattet und ohne Sitz einer Institution des Reiches
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Köln und die Reichsversammlungen, S. 54f.; Kraus, Unbekannte Quellen zu den Krönungen, S. 193–196; ders., Die Aachener Deputierten auf dem Weg nach Frankfurt, S. 242. Zit. Schmitt, Vorbild, Abbild und Kopie, S. 335, Abb. 26. Darstellung in der 1493 von Hartmann Schedel in Nürnberg veröffentlichten Weltchronik bei Schedel, Weltchronik, Bl. CLXXXIIIIv–CLXXXVr. Zu den Quaternionen Schubert, Die Quaternionen, bes. S. 2, 40ff. Schmitt, Vorbild, Abbild und Kopie, S. 344–346 und Abb. 30, S. 344. Moser, Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, S. 2–4, 54ff.; dazu Meuthen, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 390; Kaemmerer, Aachener Quellentexte, S. 210ff.
4.4 Königsherrschaft als Kampffeld
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zu sein, hätte die Stadt keine Aussicht gehabt, ihren überkommenen Primatsanspruch realisieren zu können. 4.4 KÖNIGSHERRSCHAFT ALS KAMPFFELD UM VERBLIEBENES SYMBOLISCHES KAPITAL 4.4 Königsherrschaft als Kampffeld Die Aufgabe Aachens als Ort sakraler Herrschaftslegitimation durch die römischdeutschen Könige stellt ein Indiz für die Regulierung der charismatischen Legitimation von Königsherrschaft in der Frühen Neuzeit dar. Charisma blieb als exklusives symbolisches Kapital des Königs erhalten, wurde aber durch andere Kapitalsorten eingehegt, insbesondere durch das Recht. Die in der Goldenen Bulle geregelte Wahl des Königs durch die Kurfürsten blieb das unbestrittene Instrument der Herrschererhebung; die zwischen dem König und den Kurfürsten ausgehandelten Wahlkapitulation legten die Herrschaftsverteilung juristisch fest. Die Ständegesellschaft blieb in der Frühen Neuzeit erhalten und mit ihr der durch Geburt und Blut begründete und geheiligte Vorrang des Adels vor dem „(All)Gemeinen“269. Doch verschleierten nun zum einen die von der absolutistischen Staatsphilosophie und Rechtswissenschaft beigebrachten Rationalitäts- und Legalitätsargumente den Macht- und Gewaltaspekt der feudalen Ordnung. Zum anderen stellte das Königtum, wie das Territorialfürstentum, in der Rechtsprechung und der obrigkeitlichen Kontrolle seine Herrschaft zur Schau. Die Rationalität trat gleichsam an die Stelle des Charismas und entfaltete sich im Herrschaftsprozess als höchste Form der symbolischen Gewalt.270 Die Konfessionalisierung konnte den allmählichen Wertverfall des religiösen Kapitals auf dem Feld der Herrschaft nicht aufhalten. Die Zuspitzung auf das Konfessionelle verhinderte die Unterstützung des Königs durch die nun in zwei Lager gespaltenen Kurfürsten und Reichsstände keineswegs. Entscheidungen über Fragen des Reiches wurden häufig interkonfessionell und pragmatisch gelöst.271 Der Protestantismus stellte trotz der gewaltsamen Konflikte den nomos des Herrschaftsfeldes, den Bestand der katholischen Monarchie, nicht in Frage, sondern hielt den Glauben an eine gottgegebene Obrigkeit aufrecht. Der Treuediskurs des Marienstiftes gegenüber dem habsburgischen Kaiserhaus im 17. und 18. Jahrhundert zeigt, dass die konfessionelle Bindung als Kohäsionskraft sicherlich eine gewisse Bedeutung für das Verhältnis des lokalen Raums zum fernen Königtum besaß, doch verhinderte dies nicht die gleichzeitige Aufgabe der Krönungstradition im ikonographischen Programm der Kirche, die damit nur noch von der Stadtgemeinde in der Gestaltung der Rathausfassade und der städtischen Historiographie bewahrt wurde. Der Aachener Karlskult fand sich nach Maximilian I. von der traditionalen Legitimierung der frühneuzeitlichen Königsherrschaft nahezu voll269 Zit. Bourdieu, Der Staatsadel, S. 456. Vgl. ebd., S. 455–457. 270 Bourdieu, Meditationen, S. 106f., 119–121. 271 Kohler, Das Reich im Kampf um die Hegemonie in Europa, S. 25f., 33ff.; Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, bes. S. 2–4.
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4 Verblassendes Charisma
ständig abgekoppelt und beschränkte sich auf den lokalen Raum, wo er seit Mitte des 16. Jahrhundert in eine Krise geriet und sich Ende des 18. Jahrhunderts im Zustand des fortgeschrittenen Verfalls befand. Symbolisches Kapital war mit der Erinnerung an den heiligen Karl den Großen und der mittelalterlichen Krönungstradition auf dem Feld der Königsherrschaft nicht mehr zu gewinnen. Das Marienstift war der größte Verlierer dieser Entwicklung und wurde vom konkurrierenden Stadtbürgertum immer mehr auf das religiöse Feld im innerstädtischen Raum zurückgedrängt. Es erhielt im Zuge der Gegenreformation zusätzliche Konkurrenz durch Orden wie die Jesuiten, die sich ebenfalls des lokalkatholisch verengten Karlskultes bemächtigten. Das ökonomische Kapital hatte sich vom Königtum auf eine Vielzahl mächtiger Akteure verteilt. Der Wohlstand der Städte wurde im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder durch Konfessionskriege, Wirtschaftskrisen und Katastrophen beeinträchtigt. Auch Aachen war gegenüber der spätmittelalterlichen Blütezeit, insbesondere durch den Verlust des Krönungsortes, das Nachlassen der Wallfahrten und den großen Stadtbrand 1656 in einem langsamen Niedergang begriffen, der allerdings durch den Aufstieg zum Badeort abgefedert werden konnte. Trotz des Verlustes an ökonomischem Kapital gelang es vor allem dem Aachener Stadtbürgertum, neues kulturelles Kapital zu akkumulieren, dessen Hauptmasse aber nicht mehr auf dem Feld der Königsherrschaft, sondern auf dem innerstädtischen Herrschaftsfeld eingesetzt wurde, wie die Analyse der zentralen Aachener Bauten gezeigt hat. Der Aufwand an Kapital für das Königtum war auf die Krönungen in Frankfurt, die Inszenierung von Festen und Inschriften im öffentlichen Raum der Stadt fokussiert. Die vom König noch benötigten religiösen und kulturellen Kapitalien Aachens, der Krönungsordo und die drei Aachener Reichskleinodien, waren objekt- und traditionsgebunden, transferierbar und im schlimmsten Fall – der aber nicht eintrat – vielleicht sogar austauschbar. Als Ort der Krönungen und der Wahl entsprach Frankfurt allen Erfordernissen der frühneuzeitlichen Herrschaftslegitimation und stellte genügend religiöses und kulturelles Kapital für das Königtum bereit. In dem durch den Rückzug des Königtums entstandenen Freiraum Aachens, aber auch bei den Frankfurter Krönungen und auf den Reichstagen spielte sich der Kampf der lokalen Akteure, Stadtgemeinde und Marienstift, um das aus der Krönungstradition und dem tradierten Charisma Karls des Großen noch zu gewinnende symbolische Kapital ab. Den makro- und mikrohistorischen Hintergrund dieser Kämpfe bildeten die tiefgreifenden Umwälzungen der Frühen Neuzeit, die konfessionellen, verfassungspolitischen und sozialen Unruhen in Aachen und die spätestens für das 18. Jahrhundert zu konstatierende politische, soziale und kulturelle Spaltung der Stadt.272 Das 272 Zu den Problemen Aachens am Ende des 18. Jahrhunderts Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 5–34, 397–409; Müller, Die Reichsstadt Aachen im 18. Jahrhundert; Pohle, Dautzenbergs Bücher, S. 50–56; Hirschfelder, Alkoholkonsum am Beginn der Industriekultur 2; Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung; Teppe, Zur Charakterisierung der lokalen Unruhen in Aachen; Kisch, Das Erbe des Mittelalters. Vgl. auch das Beispiel der Reichsstadt Dortmund Schambach, Stadtbürgertum und industrieller Umbruch, S. 396.
4.4 Königsherrschaft als Kampffeld
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Stadtbürgertum besetzte mit der säkularen Feier des Karlsfestes als Jubiläum und der Vertretung der Stadt im Reichstag neue Teilöffentlichkeiten. Es nutzte das Medium des gedruckten Buches zur Eroberung der bislang dem Klerus vorbehaltenen Lokalgeschichte. In der Architektur eignete es sich die symbolischen Formen der Königsherrschaft an, um als Stadtadel mit dem Bürgertum anderer Städte und mit dem Marienstift in Konkurrenz zu treten. Die regierende städtische Oberschicht imitierte erfolgreich die Herrschaftsrepräsentation des Adels, bediente sich aber eigener Ausdrucksformen. Die Kämpfe der bürgerlichen Eliten Aachens mit denen anderer Städte und mit dem Marienstift erfahren einen Sinn, wenn man sie als Wettstreit um das symbolische Kapital von Ehre und Ansehen deutet. Ehre stellte, mehr noch als im Mittelalter, in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft einen zentralen Wert dar.273 Ehre ist zu verstehen als ein „verhaltensleitender Code“274, ein „komplexes, höchst wirkmächtiges kommunikatives Regelsystem.“275 Dazu gehörte, dass ein „Angriff und die Beschädigung der Ehre [...] unweigerlich Gegenherausforderungen“276 hervorrief. Das sich in der streitbaren Aufrechterhaltung des Ehrentitels Aachens als Haupt des Reiches und Haupt der Städte, den Ritterschlägen Aachener Bürger bei den Krönungen und den Rangstreitigkeiten mit anderen Städten und den Vertretern des Marienstifts ausdrückende Streben der reichsstädtischen Eliten Aachens nach symbolischem Kapital kann zum einen als Kompensation für die fehlenden Krönungen gedeutet werden, welche die „Zumessung einer erhöhten Standesdignität“277 auf einem anderen Feld verlangte, zum anderen als Medium des innerstädtischen Kampfes um symbolisches Kapital, um „den eigenen Zielen zusätzliche Erfolgschancen zu verschaffen“.278 Eines dieser Ziele war offenbar die Verbesserung der Position im unteren Teil des Herrschaftsfeldes, in der politischen Hierarchie der Reichsstädte. In Anlehnung an Martin Dinges kann man dieses Interpretationsangebot in einen seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts feststellbaren Prozess einordnen, in dem vor allem abstiegsbedrohte Stände und Gruppen
273 Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit 2, S. 175–219; Graf, Adelsehre; Fuchs, Beleidigung; Frevert, Duell; Weber, Ehre; Schreiner/Schwerhoff, Verletzte Ehre, S. 2, 5; Dülmen, Der ehrlose Mensch, S. 1–17; Luttenberger, Pracht und Ehre; Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren, S. 95ff.; Stollberg-Rilinger, Rang vor Gericht, S. 391, 416–418; Droste, Habitus und Sprache, S. 100ff.; Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 507ff. Zur Kategorie Ehre in der Frühen Neuzeit Backmann, Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit; Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre; Dinges, Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte; ders., Ehrenhändel als kommunikative Gattungen; ders., Die Ehre als Thema der Historischen Anthropologie; Rogge, Ehrverletzungen und Entehrungen; Burkhart, Eine Geschichte der Ehre, bes. S. 28–88. Vgl. für eine Übertragung von ursprünglich adeligritterlichen Standesehre auf die „Stadtbürger als Teilhaber an der Ehre der Stadt“ Dinges, Die Ehre als Thema der Historischen Anthropologie, S. 32; Minkmar, Ausgegossene Worte. 274 Zit. Schreiner/Schwerhoff, Verletzte Ehre, S. 9. 275 Zit. Ebd. 276 Zit. Ebd., S.12. 277 Zit. Ebd., S. 15. 278 Zit. Weber, Ehre, Sp. 79.
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4 Verblassendes Charisma „als kulturelle Antwort auf die sich verstärkende soziale Auf- und Abstiegsdynamik der frühmodernen Gesellschaft [durch eine] Verstärkung von Ehrsemantiken“279
ihren weiteren Niedergang zu verhindern suchten. Ehrverlust führt demnach zu einer Schärfung des Wertebewusstseins, zu gesteigerter Konfliktbereitschaft und Widerstand, was am Verhalten des Aachener Magistrats gegenüber konkurrierenden Reichsstädten ablesbar ist. Die Nutzung verschiedener Medien und Teilöffentlichkeiten entspricht dem in der jüngeren Forschung betonten „Öffentlichkeitscharakter der Ehre“280 in der agonalen Kultur der Frühen Neuzeit. Dieser Erklärungsansatz stellt eine Perspektiverweiterung für den Dauerkonflikt des Magistrats mit dem Marienstift um ökonomisches Kapital und die politische Vormacht in der Stadt dar. Die Infiltration der Stadtbürger in das vom Stift allein beanspruchte religiöse Feld und die Akkumulation des dortigen Kapitals, die zunehmende Kompetenz bei der Erlangung kulturellen Kapitals und die Ausbreitung auf dem Herrschaftsfeld bedeuteten immer auch den Gewinn symbolischen Kapitals. Die bürgerlichen Führungsschichten festigten mit jedem Geländegewinn ihren Status als alleinige Interessenvertreter Aachens und als Stadtadel. Das Patriziat, das durch enge Familienbeziehungen regelrechte Bürgermeisterdynastien hervorbrachte, musste sich allerdings seinerseits dem konkurrierenden Anspruch des aufstrebenden Zunftbürgertums nach Herrschaftsteilhabe erwehren.281 Doch wurde der Übergang der durch heftige Konflikte dieser Art bestimmten frühneuzeitlichen Ständegesellschaft in die bürgerliche Gesellschaft in Aachen wie andernorts Ende des 18. Jahrhunderts abrupt und von außen angestoßen.
279 Zit. Dinges, Die Ehre als Thema der Historischen Anthropologie, S. 36f. 280 Zit. Ebd., S. 50f.; Dülmen, Der ehrlose Mensch, S. 6f. 281 Carl, Die Aachener Mäkelei, S. 105f.; Wüller, Systemkrise und Handlungschance, S. 102; Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, S. 188–206.
5 TRADITIONSSCHÖPFUNG ALS KURZLEBIGE ERFOLGSSTRATEGIE: DER CÄSARISMUS NAPOLEON BONAPARTES UND DER AACHENER KARLSKULT (UM 1800–1814) 5.1 EINFÜHRUNG 5.1 Einführung „Am Anfang war Napoleon.“1 Mit dieser Personalisierung hat Thomas Nipperdey die Prägekraft jener charismatischen Heldenfigur für die deutsche und europäische Geschichte zum Ausdruck gebracht, die dem beginnenden 19. Jahrhundert durch seine Kriege und Eroberungen, aber auch durch umfassende Reformen in Staat und Gesellschaft seine Gestalt verlieh.2 Bereits die Französische Revolution hatte das Ende der vormodernen Epoche markiert, indem sie den „entscheidenden Schub für die Transformation des gesamten Ancien Régime in den modernen Staat“3
gab. Sie bildet den Scheitelpunkt der von Reinhart Koselleck als Sattelzeit bezeichneten Übergangsperiode von der alten zur modernen Welt.4 Die Eroberung und Besetzung weiter Teile des Alten Reiches durch die französischen Revolutionstruppen wurde von den meisten Deutschen sicherlich als schmerzhafte Zäsur empfunden. Dies galt umso mehr für die linksrheinischen Gebiete und das katholische Aachen. Einen gestaltenden Aufbruch in die Moderne bedeutete erst die Herrschaft Napoleons. Diese gab nicht nur den entscheidenden Anstoß für das Ende des Heiligen Römischen Reiches, der Spross und Überwinder der Revolution hinterließ mit seiner bewunderten und verhassten imperialen Herrschaft im kulturellen Gedächtnis der Deutschen tief greifende Spuren.5 Napoleon brachte den linksrheinischen Departements, die dem französischen Staat angegliedert worden waren, eine Phase der Herrschaftskonsolidierung, 1 2
3 4 5
Zit. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 11. Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft; Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, bes. S. 138–154; Winkler, Der lange Weg nach Westen 1, S. 40–78; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1, bes. S. 35ff.; Demel, Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 77– 79; Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, S. 1–4, 55f., 137–145; Wunder, Europäische Geschichte im Zeitalter der Französischen Revolution, S. 9f.; Kruse, Die Französische Revolution, S. 7f., 183–191; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe. Zit. Reinhard, Lebensformen Europas, S. 301. Vgl. ebd., S. 301–304; Anter, Von der politischen Gemeinschaft zum Anstaltsstaat. Koselleck, Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit; ders., Studien zum Beginn der modernen Welt; Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 500f.; Angermann, Das Auseinandertreten von ‚Staat ދund ‚Gesellschaftދ. Schulze, Napoleon; Besslich, Der deutsche Napoleon-Mythos.
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5 Traditionsschöpfung
janusköpfig begleitet von der Rücknahme revolutionärer Maßnahmen, von wirtschaftlichen und sozialen Reformen, aber auch wirtschaftlicher, militärischer und kultureller Ausbeutung.6 Der Reichsdeputationshauptschluss 1803 und das Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 markieren epochale Einschnitte und den Übergang zum modernen National- und Verfassungsstaat französischer Prägung. Säkularisation, Mediatisierung und Reichsauflösung brachten das alte System der deutschen Territorialstaaten zum Einsturz. Mit dem Reich gingen das Kaisertum und alle Institutionen des Alten Reiches unter, es erloschen die Reichsstände, darunter alle Reichsstädte wie Aachen. Das Ende der Reichsunmittelbarkeit betraf den verfassungsrechtlichen Status der Stadtgemeinden ebenso wie der geistlichen Territorien, Institute, Kirchen und Klöster. Kirchlicher Grundbesitz wurde verkauft, die Vermögen enteignet.7 Die Entfeudalisierung des alten Adels bildete den Auftakt für den Aufstieg des Bürgertums zur herrschenden Klasse. Obwohl der Adel zu den großen Verlierern des Umbruchs um 1800 gehörte, sollte er aber im 19. Jahrhundert beim Kampf um seine Selbstbehauptung allen gegenläufigen Entwicklungen zum Trotz erfolgreich sein, indem er sich von innen heraus erneuerte und den veränderten Gegebenheiten anpasste.8 Diese epochale Zäsur um 1800 gilt es zu bedenken, wenn im Folgenden zunächst in Kap. 5.2 die napoleonische Herrschaft und ihre Legitimation näher untersucht werden. Mit dem Staatsstreich Napoleons vom November 1799 wurde die Republik von einer spezifischen Form monarchischer Herrschaft abgelöst: dem konstitutionellen Cäsarismus. Bonaparte kam als charismatischer Führer und Usurpator zur Herrschaft. Sein Charisma beruhte auf den militärischen Erfolgen 6
7
8
Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, S. 213–227; Dufraisse, Napoleon, S. 127–131; Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus; Ruppert, Bürgertum und staatliche Macht in Deutschland, S. 9–21; Burg, Unter französischem Zepter. Die Janusköpfigkeit napoleonischer Herrschaft in Europa betont Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 19–33, 92–94. Bußmann, Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, S. 12–15, 407–416; Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, S. 1, 71–81; Demel, Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 322–353; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 88–92. Zum Untergang des Reiches 1806 Schindling, War das Scheitern des Alten Reiches unausweichlich; Ottomeyer/Götzmann/Reiss, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, S. 400–478; Burgdorf, Wendepunkt deutscher Geschichte; Mazohl-Wallnig, Zeitenwende 1806, S. 217–263; Herbers/Neuhaus, Das Heilige Römische Reich, S. 280–287; Neuhaus, Das Ende des Alten Reiches; Ottomeyer/Götzmann/Reiss, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, S. 399ff.; Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, S. 152–164; Hufeld, Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803; Schmid/Unger, 1803. Wende in Europas Mitte; Ottomeyer/Götzmann/Reiss, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, S. 439ff., 472ff. Zur Situation im Rheinland Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen Barock und Aufklärung, S. 493ff. Endres, Adel in der Frühen Neuzeit; Asch, Der europäische Adel im Ancien Régime; Burg, Unter französischem Zepter, S. 177–184; Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, S. 36f.; Mayer, Adelsmacht und Bürgertum; Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert; ders., Adel und Bürgertum in Deutschland 1–2; Conze/Wienfort, Adel und Moderne; Wienfort, Der Adel in der Moderne; Asch/Schlögl, Adel in der Neuzeit.
5.1 Einführung
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als genialer Feldherr, die ihn für mehr als ein Jahrzehnt zum Herrscher über ganz Europa werden ließen, der skrupellosen Entmachtung des Direktoriums, der Instrumentalisierung des Volkswillens mithilfe eines umfassenden Propagandaapparates und der Sakralisierung seines Kaisertums durch Krönung und päpstliche Salbung. Napoleons Herrschaftsverständnis war weitgehend charismatischer Natur, eigentümlich ergänzt durch ein der Revolution geschuldetes säkulares politisches Handeln, ließ er doch seine Maßnahmen durch republikanische Verfassungsorgane bestätigen und von einem bürokratischen Verwaltungsapparat umsetzen. Das Ende des Alten Reiches und die Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. bedeutete zugleich das Ende für die Frankfurter Wahlen und Krönungen als Legitimationsquellen monarchischer Herrschaft in Deutschland. 1792, zwei Jahre vor der Ankunft der Franzosen, waren zum letzten Mal Krongesandte von Aachen in die Mainmetropole gereist; dann kamen stürmische Jahre. Mit dem napoleonischen Karlskult erlangte Aachen mit einem Schlag wieder Bedeutung für die monarchische Legitimation und Repräsentation. Wie in Kap. 5.3 gezeigt werden soll, dienten die Rückgabe reichsstädtischer Symbole, die Wiederbelebung des lokalen Karlskults, die staatlichen Feste und die beiden Besuche Napoleons von 1804 und 1811 der Aufwertung Aachens im Dienste des neuen Kaisertums. Zum Ausdruck des Herrschafts- und Systemwechsels verschmolzen die lokalen Symbolwelten mit denen des neuen Napoleonkults. Die Herrschaftskommunikation bediente sich einer Vielzahl von Medien, die nun in den Dienst der staatlichen Propaganda traten: des Heiligenfestes, des Theaters, der Zeitungspresse, der Gelegenheitsdichtung, der Kaiserstatuen und -bilder und der Parolen an öffentlichen Gebäuden. Da das untergegangene Alte Reich während der napoleonischen Herrschaft keine von den Behörden gewünschte und von den lokalen Eliten zurückgesehnte historische Bezugsgröße mehr war oder sein durfte, blieb der Verlust der bei den Krönungen im Alten Reich benutzten drei Aachener Reichskleinodien zunächst eine Angelegenheit des Domkapitels. Die eingesetzten Medien der Herrschaftskommunikation waren jedoch nicht imstande, die Anerkennung der „fremden Universalmonarchie“9 nachhaltig zu fördern. Der Cäsarismus Napoleons bildet das Feld der Königsherrschaft, aus dem sich ein autonomes politisches Feld auszudifferenzieren begann, was abschließend in Kap. 5.4 analysiert werden soll. Das Bemühen Napoleons, seine charismatische Herrschaft durch die öffentlich propagierte Herleitung von Karl dem Großen traditional zu verstetigen, verlieh dem von den lokalen Akteuren eingebrachten kulturellen Kapital seine Wertigkeit als politisches Kapital und als symbolisches Kapital auf dem Herrschaftsfeld. Die direkte oder medial vermittelte Präsenz des Kaisers, die Beziehung der Helfer zu seiner charismatischen Person und der unmittelbare Nutzwert des kulturellen Kapitals für die Herrscherpropaganda waren unabdingbar für die Akkumulation politischen und symbolischen Kapitals. Der Beitrag zur Charismatisierung des Kaisers und damit zum Erhalt seiner Herrschaft wurde mit kaiserlichen Dotationen, Zugehörigkeit zur Führungsschicht der Nota9
Zit. Winkler, Der lange Weg nach Westen 1, S. 53.
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beln und Prestigegaben belohnt. Der Einsatz kulturellen Kapitals als politisches Kapital entsprach dem rationalen, leistungs- und profitbezogenen Herrschaftssystem des Kaiserreiches. Mit der durch das neue politische System ermöglichten politischen und sozialen Mobilität wurde die alte oligarchische Führungselite und mit ihr das kulturelle Kapital des untergegangenen Alten Reiches zurückgedrängt. Signifikanterweise besaßen im napoleonischen Kaiserreich die Reichskleinodien als kulturelles und politisches Kapital keine Bedeutung mehr. Der kulturelle Code des Karls- und Napoleonkultes kam selbst kaum über eine Propagandaformel, die dem Herrschercharisma zu dienen hatte, hinaus. Die verfehlte Anbindung des neuen Symbolsystems kaiserlicher Herrschaft an das der Beherrschten verhinderte die dauerhafte Integration der Aachener in den französischen Staat. 5.2 WIE EIN ZWEITER CHARLEMAGNE? NAPOLEON BONAPARTE ALS CÄSARISTISCHER HERRSCHER 5.2 Wie ein zweiter Charlemagne Der schwierige Versuch, die Herrschaftsform Napoleons zu definieren, kann, wie es Hans-Ulrich Thamer getan hat, bei der Herrschaftstypologie Max Webers ansetzen. Weber erkannte „Napoleon als Muster einer plebiszitären charismatischen Herrschaft“10, deren Legitimität auf „dem emotionalen Charakter der Hingabe und des Vertrauens zum Führer“11 beruht. Napoleon stellte sich geschickt als „Retter der revolutionären Nation“12, Kriegsheld und „neue[r] Cäsar“13 dar. Der Staatsstreich vom 18. und 19. Brumaire (9.–10. November 1799) brachte eine spezifische bonapartistische Herrschaft mit cäsaristischen, konstitutionellen und plebiszitären Elementen hervor.14 Napoleons Cäsarismus wandte sich scharf „gegen den Traditionsmonarchen“15, unterlag aber in Regierungsstil und Repräsentation seit
10 Zit. Thamer, Napoleon, S. 122, nach Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 157. 11 Zit. Ebd. Vgl. Telesko, Napoleon Bonaparte, S. 225; Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 210–218, bes. S. 215. 12 Zit. Thamer, Napoleon, S. 122. 13 Zit. Ebd., S. 123. Vgl. ders., Buonaparte – Bonaparte – Napoleon, S. 2–4; ders., Napoléon. La construction symbolique de la légitimité, S. 15f.; Tulard, Napoleon oder der Mythos des Retters, bes. S. 176ff. ; Schmidt, Napoleon I. 14 Lentz, Le Grand Consulat, S. 61–84; Thamer, Napoleon, S. 127–129; Wüstemeyer, Jakobinertum und Bonapartismus, S. 122–131; Dufraisse, Napoleon, S. 41–48; Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 159–163; Thamer, Buonaparte – Bonaparte – Napoleon, S. 7–11; Willms, Napoleon. Eine Biographie, S. 185ff.; Schmidt, Napoleon I., S. 327f.; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 34–36. Über die Ursprünge des Bonapartismus, Namenskult, Instrumentalisierung von Presse, Kunst und Religion, ‚schwarze Legendeދ, Staatsstreich, Plebiszit u.a. vgl. Tulard, Aux Origines du Bonapartisme. Zur Wortgeschichte Groh, Cäsarismus, Napoleonismus, Bonapartismus. 15 Zit. Stürmer, Krise, Konflikt, Entscheidung, S. 104.
5.2 Wie ein zweiter Charlemagne
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der Ernennung zum Konsul auf Lebenszeit im Sommer 1802 selbst der Monarchisierung und Charismatisierung.16 An der epochalen „Schnittstelle zwischen Tradition und Revolution, zwischen überkommenen religiös-sakralen Weltordnungsentwürfen des Mittelalters und vertraglich-rational gedachter, säkularisierter Staatsordnung der Moderne“17
gelegen, bedeutete die monarchische Herrschaft Napoleons, etwas anders als Michael Stürmer behauptet hat, nur in ihren konstitutionellen und verwaltungstechnischen Elementen „politische Säkularisierung“18 und eine „neue Stufe, ja einen Bruch in dem die Neuzeit durchziehenden Prozess, der die Macht ihrer Magie entkleidet“.19
Konstitutionell an dieser Herrschaftsform war die vom Senat beschlossene Verfassung des Jahres XII vom 18. Mai 1804, in der das erbliche Kaisertum Napoleons festgeschrieben und auf dem Wege der Proklamation in die revolutionärrepublikanische Tradition eingefügt wurde.20 Damit, so Martin Kirsch, „vermischte sich die charismatische Herrschaft [...] mit dem rationalen Prinzip“.21 Dieses steuerte den Ausbau des kontrollierenden, jegliche Opposition repressiv disziplinierenden bürokratisch-obrigkeitlichen Staates. Michael Hecker hat die napoleonische Monarchie prägnant als „Verfassungscäsarismus“22 bezeichnet. Der mit den Mitteln der politischen Propaganda23 geförderte Personen- und Staatskult24 und die Schaffung einer neuen, reichlich mit Dotationen, d. h. Geldgeschenke, Güterübertragungen, Verleihungen von Titeln und Ämtern, ausgestatteten Notabelnschicht aus Großgrundbesitzern, Armeeoffizieren, Unternehmern, Industrieführern und hohen Beamten waren sämtlich auf die Veralltäglichung von 16 Hicks, Napoleon und sein Hof, S. 27–31; Grab, Thamer, Napoleon, S. 127–129; Wüstemeyer, Jakobinertum und Bonapartismus, S. 122–131; Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 256–258; Lentz, Le Grand Consulat, S. 331–354. 17 Zit. Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus, S. 71. 18 Zit. Stürmer, Krise, Konflikt, Entscheidung, S. 104. 19 Zit. Ebd., S. 105. Vgl. Wüstemeyer, Jakobinertum und Bonapartismus, S. 127f.; Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus, S. 70–81; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 46–51; Holtman, Napoleonic Propaganda, S. 37–43. 20 Lentz, Le Grand Consulat, S. 566–583; Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 218–224. 21 Zit. Kirsch, Um 1804, S. 358. Vgl. Schmidt, Napoleon I., S. 340; Willms, Napoleon. Eine Biographie, S. 371f.; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 39. 22 Zit. Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus, S. 80. Vgl. zum Bonapartismus als Form des monarchischen Konstitutionalismus Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 204–298. 23 Hanley, The Genesis of Napoleonic Propaganda; Holtman, Napeolonic Propaganda; Daniel/Siemann, Historische Dimensionen der Propaganda; Piereth, Propaganda im 19. Jahrhundert, S. 22f.; Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 255f.; Owzar, Zwischen Gottesgnadentum und Verfassungspatriotismus; die Beiträge in Veltzke, Napoleon, S. 373– 428. 24 Buchholz, Französischer Staatskult; Knauer, Politik mit und gegen die Tradition; Telesko, Napoleon Bonaparte.
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Napoleons Charisma und damit auf Machterhalt ausgerichtet. Gerade die Etablierung eines neuen Leistungsadels, der sich anders als der Geburtsadel des Ancien Régime über den Dienst am Staat, die Anhäufung von Reichtum wie auch das Sammeln von Titeln und Orden definierte, stellte einen Bruch mit den Idealen der Französischen Revolution dar. Im Rheinland gehörten, getragen von den verschiedensten Motiven zwischen Idealismus und Opportunismus, sowohl Mitglieder des alten Adels als auch bürgerliche Aufsteiger der neuen Klasse an.25 Die Institutionalisierung des als Heerführer erworbenen, als Erster Konsul und Kaiser amtlich gewordenen Charismas war das vordringliche Ziel Napoleons. Dieses Interesse zwang ihn zum einen zu permanenten militärischen Erfolgen zum Beweis seines militärisch erzeugten Charismas.26 Zum anderen führte der Druck der Herrschaftslegitimation den Usurpator zur symbolischen Konstruktion und massenmedialen Verbreitung seines Bildes als Genie, Retter und erster Repräsentant der Nation.27 Um sein durch Usurpation erlangtes Kaisertum und die nachfolgende Expansionspolitik auch traditional zu legitimieren, griff Napoleon auf Vorbilder einer mythischen Vorzeit zurück, mit denen er sich von den gestürzten Bourbonen abzuheben hoffte: zunächst auf die griechischen und römischen Gottheiten, Helden und Kaiser28, später auch auf Chlodwig und Karl den Großen.29 Die Rückkehr zur Monarchie und die Wiederbelebung des Karlskultes schlugen eine Brücke zu den traditionellen Eliten in Frankreich und Deutschland in Adel, Bürgertum und Klerus. Der Griff nach der historischen Deutungsmacht über die mythische Figur des Frankenkaisers diente der Aneignung von dessen Charisma und der Begründung einer neuen Herrschaftstradition. Napoleon war nun beileibe nicht der erste französische König, der den Kult Karls den Großen in den Dienst seiner Herrschaftslegitimation und der Erlangung politischer Ziele stellte. Karl V., Ludwig XI. und selbst noch Ludwig XIV. hatten sich des Karolingers bemächtigt. Mit der literarischen Wiederentdeckung des Mittelalters im einflussreichen Werk Chateaubriands wird das neu geweckte Interesse der Epoche an Karl dem Großen fassbar.30 Napoleon musste den Karlskult quasi
25 Thamer, Napoleon, S. 129–133; Wüstemeyer, Jakobinertum und Bonapartismus, S. 126f.; Lentz, Le Grand Consulat, S. 381–399; Berding, Les dotations impériales; ders., Privatkapital, Staatsfinanzen und Reformpolitik; ders., Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik; ders., Der Gesellschaftsgedanke Napoleons; Giesselmann, Die brumairianische Elite; Zieseniss, Noblesse d’Empire; Tulard, Napoleon oder der Mythos des Retters, S. 267–272, 364–372; ders., Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 230–235; Chevallier, Napoleon, S. 12; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 41–43, 93f. 26 Thamer, Napoléon. La construction symbolique de la légitimité, S. 18f. 27 Ebd., S. 19, 22ff. 28 Telesko, Napoleon Bonaparte, S. 37–173. 29 Ebd., S. 70, 80, 119 (Chlodwig), 48, 50, 58–60, 63, 67, 69–72, 80–82 (Karl der Große). Zur Chlodwiglegende in Frankreich Kramp, Zülpich – Reims – Paris; ders., Weltgeschichte vor den Toren Kölns; für das 19. Jahrhundert Ludwig, Von Chlodwig zu Napoleon. 30 Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 141f.; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 189.
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neu erfinden31, ein bloßer Rückgriff hätte seinem Selbstverständnis ebenso widersprochen wie dem revolutionären Bruch mit der alten Monarchie. In strikter Abgrenzung von den Erbmonarchen der vorrevolutionären Epoche versuchte Napoleon, sich mit dem Karlskult eine individuell ausgerichtete traditionale Herrschaftslegitimation zu verschaffen. Der Karlskult diente drei wesentlichen politischen Zielen: der zusätzlichen Legitimation zur Bewahrung der als gefährdet empfundenen, auf dem Wege des Staatsstreichs erlangten charismatischen Herrschaft, der Integration der in den französischen Staat aufgenommenen linksrheinischen Gebiete und als „Instrument der Verklammerung der Staaten des ‚Dritten Deutschland ދmit dem Empire.“32 Nach dem römisch-deutschen Kaisertum und seiner Krone hat Napoleon hingegen nie wirklich gestrebt, sondern die Verstärkung entsprechender österreichischer Befürchtungen nur als taktisches und vorübergehendes Drohmittel eingesetzt.33 Nach der Eroberung weiter Teile Deutschlands und Europas, eines vom Rhein bis nach Norditalien reichenden Herrschaftsgebietes, das er als Fortsetzung des Karolingerreiches ansah, fühlte er sich faktisch als ein von der Vorsehung begünstigter zweiter Charlemagne, als legitimer Erbe der fränkischen Großreiches.34 Bereits im April 1803 beauftragte Napoleon seinen Innenminister, einen passenden Standort für eine zu errichtende Säule mit der Statue Karls des Großen zu suchen. Mit der Statue war die 1794 aus Aachen nach Paris gebrachte Marktbrunnenfigur gemeint. Im Oktober entschied sich Napoleon für die Place Vendôme als künftigen Standort des Heldendenkmals.35 Die Aufwertung Charlemagnes in der französischen Politik belegt auch der Antrag auf das Erbkaisertum für die Familie Bonaparte, den ein Mitglied des Tribunats, François Curée, im April 1804 im
31 Von Erfindung einer neuen Tradition spricht auch Thamer, Napoléon. La construction symbolique de la légitimité, S. 45. 32 Zit. Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 139. Vgl. Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 113ff.; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 219. 33 Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 142, 145; Telesko, Napoleon Bonaparte, S. 93–96. Vgl. zur unbelegten und widersprüchlichen Kernthese von Rössler, Napoleons Griff nach der Karlskrone, bereits die kritischen Bemerkungen von Raumer/Botzenhart, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, S. 164–166; Raumer, Préfecture Française, S. 637–639; Botzenhart, Metternichs Pariser Botschafterzeit, S. 27–72, 101– 109, bes. S. 36 und Anm. 41; Weis, Napoleon und der Rheinbund, S. 71 und Anm. 37. „Napoleons Aachener Krönungsabsicht“ mit der Wiener Reichskrone behauptet dagegen immer noch Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 184. 34 Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 700ff.; ders., Napoleon, der zweite Karl der Große, S. 371ff.; ders., Auf dem Weg in die Moderne, S. 138; Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 143–146; Tanz, Aspekte der Karlsrezeption, S. 56–61. 35 Willms, Napoleon. Eine Biographie, S. 382; Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 327; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 182; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, S. 719f., Nr.9.27, S. 722, Nr. 9.29, S. 723, Nr. 9.31, S. 723f.
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Staatsrat einbrachte.36 In einem propagandistischen Artikel des Journal de Paris vom 21. Mai 1804 hieß es: „Es gibt in Europa nur eine Hand, die fähig ist, den Säbel Karls des Großen zu tragen, die Hand Bonapartes des Großen.“37
Deutlicher konnte die historische Überlegenheit des französischen Kaisers gegenüber allen Traditionsmonarchen kaum gemacht werden. Und zusammen mit dem Säbel Karls des Großen billigte ihm die Propaganda jenen auf militärischen Eroberungen beruhenden charismatischen Titel weltgeschichtlicher Größe zu, den vor ihm nur Karl und andere Heldenkönige der Vorzeit tragen durften. Die päpstliche Salbung und Selbstkrönung in Notre Dame de Paris am 2. Dezember 180438 inszenierte Napoleon unter Anknüpfung an Elemente der Krönungstradition des Ancien Régime, mit dem Ziel, „seine Monarchie auch durch das göttliche Recht zu legitimieren“39 und damit die Akzeptanz des konservativen Bürgertums und des Klerus zu erwerben. Napoleon, der sich seit seiner Jugend intensiv mit Geschichte beschäftigt hatte, soll aus der Lektüre Einharts die Taten Karls des Großen gut gekannt haben. Der dortigen Darstellung der Kaiserkrönung soll er entnommen haben, dass Karl von Leo III. düpiert worden war. Aus diesem Grund habe er zwar den Ritus der Kaiserkrönung des Jahres 800 zum Vorbild seiner eigenen gewählt40, doch die Erteilung der päpstlichen Gnade auf die Salbung beschränkt, welche ihm das notwendige Herrschercharisma verlieh. Ob nun spontan oder nach Absprache: Als Napoleon sich selbst und dann Josephine die Krone aufs Haupt setzte, hatte sich der zum politischen Lakaien degradierte Pius VII. beim kaiserlichen Eidesschwur diskret in einen Nebenraum zurückgezogen.41 Zum Gelingen des „imperialen Spektakel[s]“42 trug die diplomatisch erzwungene Einbindung des Papstes in die Weihehandlung entscheidend bei. Napoleon hatte sein wichtigstes Ziel erreicht und die verhassten Bourbonen vor aller Welt überflügelt.43 36 Schmidt, Napoleon I., S. 340; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 182. 37 Übersetzung zit. nach Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 138. Vgl. Rader, Grab und Herrschaft, S. 189; Kubin, Die Reichskleinodien, S. 131; Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 146. 38 Boudon, Napoléon et les cultes, S. 125–129; Kleßmann, Napoleon, S. 32–34; Dufraisse, Napoleon, S. 90–92; Tulard, Napoleon oder der Mythos des Retters, S. 192f.; ders., Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 208; Willms, Napoleon. Eine Biographie, S. 382–399; Oesterle, Die Kaiserkrönung Napoleons; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, S. 727f.; Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen Barock und Aufklärung, S. 515; Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 148– 150; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 185; ders., Die politische Instrumentalisierung Karls des Großen, S. 237f. 39 Zit. Dufraisse, Napoleon, S. 92. 40 Kramp, Der Kaiser kommt, S. 26. 41 Rössler, Napoleons Griff nach der Karlskrone, S. 18f.; Lührs, Napoleons Stellung zu Religion und Kirche, S. 49; Schmidt, Napoleon I., S. 340. 42 Zit. Kleßmann, Napoleon, S. 33. 43 Dufraisse, Napoleon, S. 92.
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Nicht nur mit dem beschriebenen Krönungsakt, sondern auch in seiner Herrschaftssymbolik knüpfte der Kaiser an die Traditionen der französischen Monarchie an, freilich in Überhöhung ihrer fränkischen und Ausblendung der kapetingischen, bourbonischen und aller anderen verachteten Wurzeln des Ancien Régime. So bestimmte er als Motiv für sein Wappen einen sich in die Lüfte erhebenden Adler. Doch ist es unwahrscheinlich, dass er dabei das angebliche Wappentier Karls des Großen und das Symbol des Alten Reiches zum Vorbild nahm. Vielmehr schuf er in Anlehnung an den friderizianischen Adler eine eigene Innovation.44 Bei seiner Pariser Krönung verwendete er Insignien, die man seitdem als Honneurs de Charlemagne bezeichnet. Darunter befanden sich neben der Hand der Justiz auch das Schwert und das Zepter Karls V., auf dessen Spitze ein Globus und auf diesem thronend Karl der Große dargestellt waren, sowie eine eigens 1804 angefertigte Krone Karls des Großen, welche die 1793 eingeschmolzene mittelalterliche Krone gleichen Namens ersetzte.45 Am Eingangsportal der Kathedrale ließ Napoleon Statuen Chlodwigs und Karls des Großen aufstellen, um sinnfällig zu machen, dass er sein Kaisertum von einer mythischen Vorzeit ableitete, die mit den vertriebenen Adelsdynastien nichts mehr gemein haben sollte.46 Nochmals brachte Napoleon sein Selbstverständnis als zweiter Charlemagne bei der Krönung zum König von Italien in Monza 1805 zum Ausdruck.47 In einem Schreiben an Pius VII. vom Frühjahr 1806 bekräftigte er durch historische Parallelen sein diesbezügliches Selbstbewusstsein: „Ich bin von nun an Karl der Große. Denn ich besitze die Krone Frankreichs samt jener der Lombarden, und mein Reich grenzt an den Orient.“48
Bereits in einem Brief vom 7. Januar 1806 schrieb Napoleon an den französischen Vertreter bei der Kurie, Kardinal Fesch: „Pour le Pape, je suis Charlemagne, parce que comme Charlemagne, je réunis la couronne de France à celle des Lombards, et que mon empire confine avec l’Orient.“49
Am 13. Februar 1806 befahl er ihm: „Sagen Sie ihnen, den Kardinälen, daß ich die Augen offen halte und mich nur so weit betören lasse, als es mir gefällt; sagen Sie, daß ich Karl der Große bin, das Schwert der Kirche, ihr Kaiser, und daß ich als solcher behandelt sein will. [...] Ich teile dem Papst meine Absichten in wenigen Worten mit. Wenn er sich dem nicht anpasst, werde ich ihn wieder zu dem machen, was er vor Karl dem Großen gewesen ist.“50
44 Willms, Napoleon. Eine Biographie, S. 382; Grewenig, Napoleon. Feldherr, Kaiser, Mensch, S. 134f. 45 Gaborit-Chopin, Regalia, S. 104–115; Thamer, Napoléon. La construction symbolique de la légitimité, S. 44f.; Kubin, Die Reichskleinodien, S. 126f. 46 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 241; Telesko, Napoleon Bonaparte, S. 70. 47 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 247f.; Lührs, Napoleons Stellung zu Religion und Kirche, S. 49. 48 Zit. nach Rössler, Napoleons Griff nach der Karlskrone, S. 19. 49 Zit. nach Raumer, Préfecture Française, S. 637, Anm. 10. 50 Zit. nach Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 43.
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Diese auch in den Pariser Zeitungen gezogenen Vergleiche zwischen dem Retter Frankreichs und Karl dem Großen sollten die europäische und weltgeschichtliche Dimension des Empire deutlich machen.51 Zur selben Zeit versprachen sich in Deutschland auch die profranzösischen Reichspatrioten mit ihrem prominentesten Vertreter, dem letzten Erzkanzler des Reiches, Karl Theodor von Dalberg, vom Nachfolger Karls des Großen die Durchsetzung der von ihnen seit langem angestrebten Reichsreform. Den damals geschaffenen Rheinbund betrachteten sie als Kern eines künftigen deutschen Bundesstaates im Herzen des Empire. Die jüngeren Intellektuellen und Anhänger der französischen Revolution, die in Napoleon den Überwinder der territorialen Zersplitterung des Reiches erblickten, hofften dagegen auf die Schaffung eines national geeinten Vaterlandes.52 Die Teilnahme Dalbergs und anderer rheinischer Adliger an der Krönungszeremonie in Paris zeigt, dass der napoleonische Karlskult gerade auch in Deutschland seine Wirkung nicht verfehlte und ihm dort Unterstützer seiner Herrschaft beibrachte.53 Die Bezugnahme auf Karl den Großen und damit die Selbstkonstruktion als Heldenkaiser verliehen der bis dahin vorwiegend auf militärische Erfolge gegründeten charismatischen Usurpatorenherrschaft des korsischen Generals die dringend benötigte historische Veredlung und half ihm, das Gespenst der Illegitimität vorübergehend zu vertreiben. Nicht zuletzt schufen sie eine wichtige Voraussetzung zur Bindung von Teilen des alten Reichsadels und zur Gründung des Rheinbundes – eine kurzlebige Bindung, wie sich bald herausstellen sollte. Der in der Forschung als karolingische Phase des napoleonischen Kaisertums bezeichnete Zeitabschnitt endete 1808 und wurde durch die Phase des Grand Empire abgelöst.54 Mit den wirtschaftlichen Rückschlägen seit 1808 wuchs die Erkenntnis, dass der Bonapartismus vorrangig einer schmalen Elite zugute kam. Konskriptionen, Spitzelwesen, Verschärfung der Zensur und militärische Niederlagen führten zu Stimmungswandel und sozialem Protest in der rheinischen Bevölkerung.55 Napoleon nahm nun immer mehr die Züge eines Despoten an56, der mit seiner Regierungspraxis außerstande war, das maßgeblich auf militärischen Erfolgen gegründete Herrschercharisma und die Anerkennung der Beherrschten auf Dauer zu bewahren.
51 Rössler, Napoleons Griff nach der Karlskrone, S. 19; Weis, Napoleon und der Rheinbund, S. 66 und Anm. 25; Botzenhart, Metternichs Pariser Botschafterzeit, S. 5; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 138; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 91; Kerner, Die politische Instrumentalisierung Karls des Großen, S. 232–234. 52 Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 150–161. Zu Dalberg und der Rheinbundpublizistik außerdem Raumer/Botzenhart, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, S. 339; Buchholz, Französischer Staatskult, S. 232f. 53 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 240f. 54 Schmidt, Napoleon I., S. 341 nach der Periodisierung von Jean Tulard. 55 Am Beispiel des Großherzogtums Berg Kandil, Sozialer Protest. 56 Thamer, Napoleon, S. 133–135; Dufraisse, Napoleon, S. 119–127; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 39; Tulard, Napoleon oder der Mythos des Retters, S. 342–363; ders., Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 250–258; Buchholz, Französischer Staatskult, S. 237; Wüstemeyer, Jakobinertum und Bonapartismus, S. 128f.
5.3 Kaiserbesuche und lokale Festkultur
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5.3 KAISERBESUCHE UND LOKALE FESTKULTUR ALS HELDENKULT 5.3 Kaiserbesuche und lokale Festkultur Wie wirkten sich die Zäsur der militärischen Eroberung und die Ersetzung der überkommenen Kaiser- und Königsherrschaft des Alten Reiches durch den napoleonischen Cäsarismus im lokalen Raum Aachens aus? Wie wurde die neue Herrschaft kulturell realisiert? Welche Formen der symbolischen Kommunikation hat man zu diesem Zweck benutzt? Und wie reagierten die lokalen Eliten auf den Herrschaftswechsel? Um diese Fragen zu beantworten, sollen einleitend die Grundzüge der Entwicklung Aachens in französischer Zeit dargelegt werden. Danach wird der Umsturz der traditionellen Aachener Symbolwelten näher beschrieben, daran anschließend die politische Indienstnahme des lokalen Karlskultes. Abschließend werden anhand der beiden Kaiserbesuche von 1804 und 1811 und der wesentlichen Staatsfeiern die kulturellen Vergemeinschaftungsformen napoleonischer Herrschaft in Aachen in chronologischer Abfolge untersucht. 5.3.1 Die Aufwertung Aachens und ihre Folgen Die dauerhafte Eroberung der linksrheinischen Gebiete durch das französische Revolutionsheer im September 1794 und die Eingliederung in den französischen Staat sieben Jahre später hatten Aachen das Ende der reichsstädtischen Epoche und den Übergang vom dezentral strukturierten Alten Reich zu einem zentralistischen Staatswesen moderner Prägung gebracht.57 Die französische Herrschaft liquidierte die zwar wirtschaftlich dynamische, finanziell und innenpolitisch aber in der letzten Phase des Alten Reiches bis an den Rand der Agonie getriebene Reichsstadt.58 Im katholischen Aachen, wo sich die Mehrheit der kommunalen Eliten wie in anderen Reichsstädten durch konservatives Beharren auszeichnete59,
57 Aretin, Deutschland und die Französische Revolution; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1, S. 347–505. Zu den linksrheinischen Gebieten Blanning, The French Revolution in Germany; Graumann, Französische Verwaltung am Niederrhein; Demel, Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 316–322; Becker/Tekath, Franzosen am unteren Niederrhein; Dühr/Lehnert-Leuven, Unter der Trikolore 1–2. Zu Aachen, das 1792 ein erstes Mal von den Franzosen, dann aber wieder verloren wurde, vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 29–63, 64ff.; Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, S. 206– 225; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 110f. 58 Müller, Studien zum Übergang vom Ancien Régime zur Revolution im Rheinland; Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, S. 183–206; Hirschfelder, Alkoholkonsum am Beginn der Industriekultur, S. 15; Hildebrandt, Der Haushalt der Reichsstadt Aachen, S. 249; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 10f., 235–249; Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung, S. 30. Zur Krise der Reichsstädte im späten 18. Jahrhundert allgemein Demel, Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 207f. 59 Carl, Die Aachener Mäkelei, S. 181–183. Über die Haltung der katholischen Kirche und der Priester des Maasraumes und in Aachen zur Französischen Revolution Minke, Hommes de Dieu et Révolution; ders., Zwischen Konkordat und Waterloo; ders., Zwischen Lüttich und Aachen. Symptomatisch für die Ablehnung weiter Teile des Klerus ist die Haltung des Pfar-
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hatte der mit Übergriffen und kirchenfeindlichen Maßnahmen verbundene Übergang erhebliche Widerstände ausgelöst. Vielen Menschen blieben die revolutionären Ideen und Neuerungen der Besatzungsmacht fremd.60 Die reichsstädtischen Herrschaftszeichen wurden beseitigt. An ihre Stelle traten die Symbole der Revolution wie z.B. der bald verhasste Freiheitsbaum als Mittelpunkt der Freiheitsfeiern. Das der Volkserziehung dienende republikanische Theater fand in Aachen keinerlei Anklang und wurde geradezu boykottiert.61 Im Frühjahr 1798 unterschrieben lediglich 250 Aachener Bürger (d.h. 1,1% der Bevölkerung) die Reunionsadresse der französischen Verwaltung, eine Art Volksbegehren über die angestrebte Annexion der linksrheinischen Gebiete.62 Nicht von ungefähr entstand in dieser Zeit eine abschätzige Parodie auf die Marseillaise im Aachener Dialekt.63 Aufschlussreich sind auch die Jugenderinnerungen des Gelehrten Alfred von Reumont: „Die Bürger hatten sich untereinander gezankt, geschmäht und geprügelt und es teuer bezahlt: gut kaiserlich und antifranzösisch waren alle. Es war aber kein Nationalhass. Aachen, an der Grenze der deutschredenden Provinzen gelegen, zu allen Zeiten an den Besuch von Fremden aus allen Nationen gewöhnt, von den französischen Königen bei manchen Gelegenheiten ausgezeichnet und begünstigt und zu Frankreich in steten Beziehungen war weit davon entfernt, dem französischen Volk abhold zu sein. Aber die Revolution war den Reichsstädtern ein Greuel, und all ihre Wünsche begleiteten die deutschen Heere. Die einrückenden Franzosen, ihrer revolutionären Praxis treu, taten denn auch das Mögliche, die Abneigung zu steigern.“64
Den negativen Reaktionen der rheinischen Bevölkerung auf die Übergriffe und Belastungen in den ersten Jahren der revolutionären Besatzung folgte wie im übrigen Rheinland eine Phase der Neuorientierung und des Arrangements mit der napoleonischen Herrschaft, wozu insbesondere die verwaltungstechnische Aufwertung der Stadt, die florierende Wirtschaft und die veränderte Religionspolitik entscheidende Beiträge leisteten.65 Aachen wurde im Januar 1798 Hauptort des neu geschaffenen Departements de la Roer mit Sitz einer Zentralverwaltung66, 1800 Sitz eines Präfekten und des departementalen Generalrats.67 Durch die neuen Verwaltungsfunktionen erhielt
60 61 62 63 64 65 66 67
rers J. H. Beys von Haaren, vgl. Schnock, Aufzeichnungen eines Haarener Kirchenbuches. Am Beispiel Speyers Müller, Städtische Führungsschichten im Wandel. Kraus, Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, S. 269–273; ders., Auf dem Weg in die Moderne, S. 61f., 83ff., 101, 125; Minke, Zwischen Lüttich und Aachen, bes. S. 294–297, 310ff.; Torsy, Geschichte des Bistums Aachen, S. 311. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 86, 123, 322f. sowie die Nachricht der anonymen Aachener Annalen zum 19. Februar 1799 und zum 18. März 1800 bei Huyskens, Die Aachener Annalen, S. 57f., 66. Smets, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, S. 108. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 63. Zit. Reumont, Jugenderinnerungen, S. 37. Wilhelm, Das Rheinland und seine napoleonischen Mythen; Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 225. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 117ff. Ebd., S. 133, 173ff.
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Aachen den Charakter einer Beamtenstadt.68 Französisch wurde im März 1798 zur Amts- und Gerichtssprache bestimmt.69 Den alten Bürgermeister und Rat ersetzten die Franzosen durch eine Munizipalität, zehn Beigeordnete, die aus ihrer Mitte einen Maire wählten.70 Die neue Zeit machte sich im Stadtbild Aachens ebenso schnell wie nachhaltig bemerkbar. Die Franzosen befahlen die Niederlegung der mittelalterlichen Stadtmauern, der Symbole reichsstädtischer Wehrhaftigkeit und Autonomie. Man begradigte und verbreiterte Straßen, stattete diese mit Beleuchtungskörpern aus und stellte Beschilderungen auf. Die Häuser erhielten eine fortlaufende Nummerierung, was den Wunsch einer rational agierenden, bürokratisch gestützten Staatsgewalt nach Erfassung der Bevölkerung zur Sicherung der Ordnung deutlicht macht.71 Als Ergebnis des Friedens von Lunéville vom 9. Februar 1801 wurde das Departement de la Roer wie die anderen drei Departements Rhein-Mosel, Saar und Donnersberg dem französischen Staat eingegliedert.72 Der Aachener Präfekt hatte im Namen der Bevölkerung den Treueid auf die Republik zu leisten.73 Das Konkordat Napoleons mit Papst Pius VII. vom Sommer 1801 gab der katholischen Kirche das Recht zur freien Ausübung der Religion innerhalb staatsrechtlicher Bahnen.74 Im April 1802 folgte die Erhebung Aachens zum selbstständigen Bistum und die Ernennung des Elsässers Marc Antoine Berdolet zum ersten Bischof.75 Diese Maßnahme fügte sich in das Konzept der napoleonischen Religionspolitik in den angegliederten Gebieten Deutschlands ein. Auch in Trier und Mainz wurden damals Franzosen als neue Erzbischöfe eingesetzt.76 Im August 1802 wurde in Übereinstimmung mit dem Konkordat und ohne weiteres Aufsehen 68 Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 183. 69 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 128f.; Dauber/Winands, Napoleonische Architektur und Stadtplanung. 70 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 88, 91, 172. 71 Tantner, Die Hausnummer. Zu Aachen Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 90f., 270, Kat.-Nr. J 1–28, S. 586–613; Wynands, Kleine Geschichte Aachens, S. 47; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 296. 72 Herbers/Neuhaus, Das Heilige Römische Reich, S. 283. 73 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 135. 74 Boudon, Napoléon et les cultes, S. 55–70; Lentz, Le Grand Consulat, S. 301–330; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 136; ders., Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, S. 274–276; Lührs, Napoleons Stellung, S. 42f., 53ff.; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 43–46. 75 Kraus, Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, S. 276–280; Gatz, Das napoleonische Bistum Aachen; Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen Barock und Aufklärung, S. 514–537; Wynands, Kleine Geschichte Aachens, S. 47; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 136, 289ff.; Wynands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 27–29, 45; Torsy, Geschichte des Bistums Aachen. Über Berdolet, Aachener Bischof von 1802 bis 1809, Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 293–296, Kat.-Nr. L 3–9, 18–20, S. 621–628, 639–641; Friedrich, Marc Antoine Berdolet; Minke, Vom Schismatiker zum ersten Bischof von Aachen; Brecher, Bischof des ersten Bistums Aachen; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 114, Torsy, Geschichte des Bistums Aachen, S. 41ff. 76 Boudon, Napoléon et les cultes, S. 223–233; Kraus, Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, S. 276.
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die Säkularisation der Aachener Klöster und die Neuordnung der Pfarreien verfügt.77 Damit ging die Säkularisation in den linksrheinischen Gebieten der Säkularisation der geistlichen Herrschaften, Kirchen und Klöster im Reich durch den Regensburger Reichsdeputationshauptschluss vom Frühjahr 1803 um wenige Monate voraus.78 Als Berdolet im November 1802 anstelle des alten Stiftskapitels acht Domkanoniker, darunter zwei Franzosen und drei ehemalige Aachener Stiftskanoniker, ernannte und sie nach kaiserlicher Bestätigung im Juni 1803 feierlich vereidigte, erfolgte im Geiste der Versöhnung gegenüber der reichsstädtischen Zeit nur teilweise eine personelle Wachablösung, während die verfassungspolitische Zäsur durch die Schaffung einer konstitutionellen Domkirche mehr als deutlich wurde.79 In Aachen, wie andernorts im Rheinland, gehörten mit Beginn der Franzosenzeit reformorientierte oder anpassungsfähige Vertreter der alten reichsstädtischen Oberschicht der neuen Stadtregierung, dem Klerus und der Verwaltung an.80 Hingegen verloren die in der Alten Partei organisierten konservativen Kräfte der reichsstädtischen Zeit mit dem revolutionären Ende der reichsstädtischen Verfassung ihre oligarchische Machtstellung, da sie nicht in der Lage waren, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.81 Durch das Ende der konfessions- und religionspolitischen Diskriminierungen änderte sich die Zusammensetzung der städtischen Bürgerschaft. Infolge der 1798 verordneten Auflösung der Zünfte und der neuen Gewerbefreiheit eröffnete sich bislang an den Rand gedrängten Schichten der Bevölkerung, Juden und Protestanten, der Zugang zum städtischen Handel und Gewerbe. Die protestantischen Unternehmer begannen schon bald das Wirt77 Schieder, Säkularisation und Mediatisierung; Mölich/Oepen/Rosen, Klosterkultur und Säkularisation, bes. S. 68; Schreiner, Vorbereitung der Säkularisation; Kraus, Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, S. 282f.; ders., Auf dem Weg in die Moderne, S. 291–293; Schmiedl, Marianische Religiosität in Aachen, S. 32f.; Cortjaens, Kirchenschatz St. Peter zu Aachen, S. 97–99. 78 Herbers/Neuhaus, Das Heilige Römische Reich, S. 284; Kraus, Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, S. 277. 79 Kraus, Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, S. 280; ders., Auf dem Weg in die Moderne, S. 296f., Kat.-Nr. L 12, S. 632f. Die Mitglieder des alten Stiftskapitels waren der Dekan Konrad Hermann Cardoll und die beiden Kanoniker Peter Timmermans und Johann Franz Smets. 80 Über den während der ersten Besetzung Aachens 1793 von den Aachener Volksrepräsentanten zum Maire gewählten Nadelfabrikanten Stephan Beissel (1751–1819) Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 52–54, Kat.-Nr. B 15, S. 425. Vgl. auch den im Oktober 1794 ernannten „agent de police“ der neuen Aachener Munzipalität und späteren ‚Commissaire de police de commune d’Aix-la-Chapelle ދGerhart Dautzenberg, Sohn eines Aachener Goldschmieds, der wie seine Brüder Franz und Johann den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution nahe stand, von November 1794 bis Februar 1796 der Aachener Munzipalität angehörte und 1798 zu den Gründungsmitgliedern des Aachener Reunionszirkels zählte, Minke, Zwischen Lüttich und Aachen, bes. S. 311; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. E 23, S. 509f. Weitere Aachener im Dienste der französischen Verwaltung bei Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. C 2, S. 430, Kat.-Nr. C 23, S. 453, Kat.-Nr. E 8, S. 496; Kat.-Nr. H 3, S. 570f. 81 Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, S. 209.
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schaftsleben in der katholischen Stadt zu dominieren. Beiwohner erhielten durch die Abschaffung der alten Verfassung erstmals politisches Mitspracherecht. Ein recht deutlicher Elitenwechsel erfolgte einmal durch die Installation der von der französischen Regierung ernannten Berufsbeamten, häufig Franzosen oder Auswärtige. Auch bereits in der Reichsstadt ansässige, aber auch zugewanderte Tuchund Nadelfabrikanten, die es verstanden, die veränderten Gegebenheiten zu nutzen, waren ausgesprochen erfolgreich. Manche erwarben riesige Vermögen, gelangten in führende Positionen der neuen Munizipalverwaltung und gehörten bald zu dem von Napoleon geschaffenen Staatsadel der Notabeln.82 Napoleon besaß ein hohes politisches Interesse an der Förderung Aachens „als bevölkerungsreichem Ort an der Straße von Paris über Lüttich an den Rhein, als Verwaltungsmittelpunkt des Roerdepartements, als traditionell bedeutendem Wirtschafts- und Gewerbestandort und als Kur- und Badeort.“83
Das Ende der glaubensfeindlichen Maßnahmen der revolutionären Besatzung, die Wiederherstellung von Recht und Ordnung, die Aufwertung der Stadt und die wirtschaftliche Erholung führten zu einem gewissen Vertrauensgewinn der Aachener Bevölkerung.84 Trotzdem nahmen im Juni 1802 zur Enttäuschung der französischen Verwaltung lediglich 921 Bürger Aachens am Plebiszit teil, mit dem Napoleon seine Ernennung zum Konsul auf Lebenszeit bestätigen ließ.85 Man kann daraus den Schluss ziehen, dass sich die napoleonische Herrschaft in Aachen recht schnell auf staatstreue lokale Eliten stützen konnte und die Überbrückung der kulturellen Distanz sowie die aus deren Überwindung resultierende Erlangung der Akzeptanz und Zustimmung der Beherrschten die eigentliche Herausforderung blieben, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. 5.3.2 Die Revolution der Aachener Symbolwelten Die Eroberer aus dem Westen hatten es zunächst als eine ihrer zentralen Aufgaben angesehen, im Geist der Revolution und vom ersten Tag an rigoros gegen alle Erscheinungsformen und Symbole des Ancien Régime vorzugehen und durch eine damnatio memoriae der alten Monarchie und die Einführung neuer Kulte und
82 Ebd., S. 216–225; Sobania, Stadtbürgertum und Stadtrat in Aachen 1800–1870, S. 74–76; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. G 10–28, S. 542–569; Lenger, Bürgertum und Stadtverwaltung in rheinischen Großstädten, S. 103–105. Vgl. allgemein Gall, Vom alten zum neuen Bürgertum sowie zu Speyer Müller, Städtische Führungsschichten im Wandel, S. 88ff. und über Trier, wo kein vollständiger Elitenaustausch stattfand, Clemens, Die Notabeln der Franzosenzeit. 83 Zit. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 137. 84 Ebd., S. 136f., 220ff. Vgl. zum Modernisierungsprozess in den Rheinbundstaaten Duchhardt, Altes Reich und europäische Staatenwelt, S. 97–99; Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, S. 143–145. 85 STA Aachen RR II AA, Nr. 654. Vgl. Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 61.
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Symbole ein revolutionäres Bewusstsein zu erzeugen.86 Die revolutionäre Besatzung verbot sämtliche an die Feudalherrschaft, an Königtum, Reichsstadt und Religion erinnernden Herrschaftszeichen und Symbole.87 Die katholischen Festtage und Prozessionen schränkte sie stark ein und führte stattdessen einige republikanische Feiern und ab 1797 den kompletten Staatskult ein, was auf die freiwillige Mitwirkung nicht weniger Bürger, aber auch auf passiven Widerstand stieß.88 Das traditionelle Karlsfest entfiel für ein ganzes Jahrzehnt. Der Karlsfigur auf dem Marktbrunnen stülpten die französischen Revolutionäre eine rote Jakobinermütze über den Kopf, als wollten sie damit das Ende aller Monarchien verdeutlichen.89 In einem symbolischen Akt, der die Beseitigung der alten Ordnung und den Einzug der neuen Zeit demonstrieren sollte, wurde am 17. Dezember 1793 der kaiserliche Adler vom Rathaus abgenommen und auf dem Podest der Freitreppe ein Freiheitsbaum mit einer Jakobinermütze auf der Spitze errichtet. Den Abbruch der 1616 errichteten Kalckberner Schandsäule, die an die Vertreibung der Protestanten durch die Katholiken erinnerte, und deren Ersetzung durch einen Freiheitsbaum empfanden viele Aachener als tiefe Verletzung ihrer patriotischen und religiösen Gefühle. Zu den Maßnahmen der Verwaltung gehörte auch die Entfernung der kaiserlichen Adler auf den Pelzmützen der Stadtsoldaten wie auch der Adler und Lilien an und in der Marienkirche sowie den geistlichen und öffentlichen Gebäuden. An ihre Stelle traten die Farben und Symbole der Revolution. Der Munizipalverwaltung wurde die öffentliche Beseitigung der Symbole des Alten Reiches, Kreuze, Wappen, Adler, Marienstatuen und Heiligenfiguren, auferlegt. Von einigen Emblemen, so von einem goldenen Adler in der ehemaligen Ratskammer, wollte man sich offensichtlich nur zögerlich oder überhaupt nicht trennen.90 An die Stelle des alten reichsstädtischen Adlers trat erst 1811 ein neues Symbol der 86 Leniaud, Der zweite Tod der französischen Könige; Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen Barock und Aufklärung, S. 475–545; Engelbrecht, Bevor Napoleon kam. 87 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 23–26; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 36– 38, 42f., 62; Minke, Die Kirchengesetzgebung während der Französischen Revolution. 88 STA Aachen RR II AA, Nr. 566; STA Aachen RR II AA, Nr. 1230. Vgl. Buchholz, Französischer Staatskult, S. 19–64, 136–151; Minke, Die Kirchengesetzgebung während der Französischen Revolution, S. 63f.; Wüstemeyer, Jakobinertum und Bonapartismus. Vgl. zu den Freiheitsbäumen in Aachen Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 38, 86, 123. Am Beispiel Triers Gerteis, Die Installierung der ‚Neuen Zeitދ, S. 269–271. Zu den Revolutionsfesten Ozouf, La fête révolutionnaire 1789–1799. 89 Brüning, Handschriftliche Chronik, 1770–1796, S. 53; Hansen, Quellen zur Geschichte des Rheinlandes 2, S. 714; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 44, 53, 58f.; Wynands, „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 148; ders., Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 217. 90 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 38, 61f., 77ff., 91, 286ff., Kat.-Nr. A 2, S. 397f.; Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 23; Wynands, Die Aachenfahrt während der französischen Herrschaft, S. 132f.; Teppe, Charakterisierung, S. 61; Buchholz, Französischer Staatskult, S. 29; Pick, Die Vernichtung; Brüning, Handschriftliche Chronik, 1770–1796, S. 48. Vgl. allgemein zur Stimmung im linksrheinischen Gebiet Smets, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; Smets, Les pays rhénans; Dufraisse, De la révolution á la patrie, bes. S. 49f. Über Aachen Dufraisse, Temoignages sur le cult de Napoléon, bes. S. 385–387: Ode eines Stolberger Bürgers auf Bonaparte von 1802.
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französischen Stadt. Mit der Verleihung eines neuen, mit Bienen und Adlern versehenen Wappens brachte der Kaiser nicht nur seine besondere Wertschätzung für die Stadt Karls des Großen zum Ausdruck. Offenbar sollte durch die neue Symbolik zugleich eine neue städtische Identität sichtbar gemacht werden.91 Schon bald nach der Eroberung war es im ganzen Rheinland zur behördlichen Konfiskation von Kunst- und Kirchengut gekommen.92 Mit dem Abtransport der Kirchenschätze und Kulturgüter nach Paris gingen der Aachener Kirche und Stadtgemeinde bedeutende Objekte, die mit dem Karlskult in Verbindung standen, verloren. Dies betraf in erster Linie das Marienstift, die Franziskaner- und die Kapuzinerkirche sowie das Rathaus.93 Im Herbst 1794 wurde das barocke Bleidach des Münsters abgedeckt, um die Platten für den Bau von Artilleriegeschossen zu verwenden.94 Man demontierte den kupfernen Stadtadler des Rathauses und transportierte die Karlsfigur vom Marktbrunnen, die kuriose Riesenpuppe und den Proserpina-Sarkophag Karls des Großen nach Paris.95 Aus dem Eingangsbereich der Marienkirche entfernte man die Wolfsfigur und den Pinienzapfen, „die gegen ihn stehende artischok“96, wie ihn ein zeitgenössischer Chronist plastisch beschrieb. Zwischen 38 und 41 Granit-, Porphyr- und Marmorsäulen – die genaue Zahl ist umstritten – brach man aus dem Umgang des karolingischen Oktogons. Anfang August 1795 gingen die letzten Säulen in die französische Hauptstadt97 Das Aachener Kunstgut sollte dort im noch zu errichtenden französischen Nationalmuseum ausgestellt werden.98 Der großräumige Ausbau der Säulen verursachte im Innern der Marienkirche „ruinenhafte Zustände“99, zumal weitere Bestände des alten Interieurs wie Messingstücke und -türen entfernt und zum Teil lediglich durch Provisorien ersetzt wurden. Das Münster sah einer zeitgenössischen Beschreibung zufolge nach der Demontage wie eine
91 Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9.22, S. 718f.; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 149; Oidtman: Das der Stadt Aachen von Napoleon verliehene Wappen. 92 Savoy, Patrimoine annexé 1, S. 11–54; Buchholz, Französischer Staatskult, S. 363–369; Braubach, Verschleppung und Rückführung rheinischer Kunst- und Kulturdenkmale; Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 11–49. 93 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 365; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 264f.; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 76; Pick, Die Einbuße des Aachener Domschatzes; Rieske-Braun, Die ‚Segnungen der Revolutionދ, S. 102; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 335f.; Rader, Grab und Herrschaft, S. 189. 94 Brüning, Handschriftliche Chronik, 1770–1796, S. 59; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 77; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 218. 95 Brüning, Handschriftliche Chronik, 1770–1796, S. 60; Grimme, Der Aachener Domschatz, S. 8; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 76f., 91; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 218; Eilmann, Der Proserpina-Sarkophag, S. 79. 96 Zit. Brüning, Handschriftliche Chronik, 1770–1796, S. 60. 97 Unterschiedliche Angaben bei Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 77, Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 218, Brüning, Handschriftliche Chronik, 1770–1796, S. 64 und Buchkremer, Dom zu Aachen. 98 Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 601. 99 Zit. Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 14.
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„arme Dorfkirche“100 aus. Von Ende Oktober 1794 bis Anfang Januar 1795 ließ der Pariser Volksrepräsentant Frécine Grabungen im Münster vornehmen. Ihr Zweck war die Auffindung des in der Mitte des Oktogons vermuteten Grabes Karls des Großen, in dem man offensichtlich Schätze zu finden hoffte. Die Aktion erbrachte jedoch kein Ergebnis.101 Zu den aus finanziellen Gründen in napoleonischer Zeit eingeschmolzenen sakralen Objekten gehörte auch der „für die Karlsverehrung symbolträchtige Dreikönigenleuchter“102 in der Marienkirche, der an seiner Spitze eine kupferne Karlsfigur trug. 1811 schließlich wurde auf Befehl des Präfekten Ladoucette103 das gotische Doppelportal am Westeingang der Marienkirche abgerissen. Während der zehnjährigen französischen Besatzung führte man dagegen nur wenige restaurierende Baumaßnahmen durch.104 Bereits einige Monate vor dem Einmarsch der Franzosen, Ende Juli 1794, hatte das Stiftskapitel den Münsterschatz vorsichtshalber nach Paderborn transportieren lassen, wo man ihn im Kapuzinerkloster unterbrachte. Ohne Geldmittel, schriftliche Bestätigung und Instruktionen des Kapitels blieb dort der Stiftskanoniker Anton Joseph Blees als Hüter des Schatzes zurück.105 Diese Nachlässigkeit und Begehrlichkeiten von unerwarteter Seite sollten zum dauerhaften Verlust der drei Aachener Reichskleinodien führen. Am Wiener Kaiserhof war man nämlich inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass die drei Aachener Stücke nicht Eigen100 Zit. nach Löhr/Wynands, Vom ersten zum zweiten Bistum Aachen, S. 8. 101 Tagebucheintrag des Eschweiler Handwerkers Michel Dominikus Kropp, nach Pick, Ein Tagebuch aus der Zeit der Fremdherrschaft, S. 134 zum 6. Januar 1795. Einen Grabungsbeginn im Oktober 1794 könnte der Kirchenbucheintrag des Pfarrers J. H. Beys von Haaren nahe legen, der aber Ungenauigkeiten enthält, vgl. Schnock, Aufzeichnungen eines Haarener Kirchenbuches, S. 44, 112. Ferner Brüning, Handschriftliche Chronik, 1770–1796, S. 60; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 214, 234, 395; Hansen, Quellen zur Geschichte des Rheinlandes 3, S. 744; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 115; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 218. Auch der Aachener Maler Ferdinand Jansen erinnerte sich 1833 daran, dass „das Grab des H. Carls des Grossen mitten in der Kirche erbrochen und durchwühlt“ worden sei, vgl. Bischöfliches Diözesanarchiv Aachen Ala Aachen, Dom 21, zit. nach Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 30, Anm. 39. Nach den Tagebuchaufzeichnungen des Hamburger Rechtsanwalts Ferdinand Beneke (1774–1848) vom 17. August 1801 waren die Spuren der Grabungen noch Jahre später deutlich zu sehen, vgl. AN Nr. 5 vom 6.1.1995. Vgl. auch Heuschkel, Das Herrschergrab Karls des Großen, S. 80f. 102 Zit. Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 221. 103 Über Jean Charles François de Ladoucette (1772–1848), Präfekt des Roerdepartements von März 1809 bis Januar 1814 Ladoucette, Reise im Jahre 1813 und 1814, Anhang, S. 396–401; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. E 7, S. 495. 104 Winands, Zerstörung, Restaurierung und Neubauplanung am Aachener Münster; Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 283f.; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 601. 105 HAE Köln BA, Nr. 78–81. Entsprechende Bestände des Domarchivs Aachen sind hingegen seit einigen Jahrzehnten verschollen. Vgl. aber noch Kaufmann, Vom Talisman Karls des Großen. S. 5–99; ferner Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 217; ders., „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 148f.; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 77; Wynands, Die Aachenfahrt während der französischen Herrschaft, S. 131–135; Kubin, Die Reichskleinodien, S. 116f.; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 67f.
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tum des Marienstiftes waren, sondern diesem von Kaiser und Reich lediglich zur Verwahrung übergeben worden seien. Der Kaiser nahm nun die „provisorische Vorsorge“106 zu deren Erhaltung und Sicherung selbst in die Hand. Die Reichskleinodien sollten auf keinen Fall den vorrückenden Franzosen in die Hände fallen.107 Kanonikus Blees widersetzte sich zwar allen Aufforderungen, die Kleinodien auszuliefern.108 Mitte Oktober 1798 gelang es jedoch einem gewissen Wichmann, Paderborner Generalmandatar des kaiserlichen Gesandten beim Niederrheinisch-Westfälischen Kreis Graf Westphalen zu Fürstenberg, in Abwesenheit von Blees heimlich die im Paderborner Kloster gelagerten Kisten des Aachener Münsterschatzes aufbrechen zu lassen und die Reichskleinodien ad depositum zu beschlagnahmen.109 Die gewaltsame Entnahme der Aachener Stücke fasste man als einen politischen Akt ohne geklärte Rechtslage auf.110 Im Juli 1801 ließ der Graf von Westphalen die Aachener Reichskleinodien dem kaiserlichen Hof in Wien übergeben, wo bereits im Oktober 1800 der kaiserliche Konkommissär beim Regensburger Reichstag, Johann Aloys Joseph Freiherr von Hügel, die Nürnberger Stücke abgeliefert hatte. So vereint gelangten die Aachener und Nürnberger Reichskleinodien in die kaiserliche Schatzkammer.111 Im April 1804 machte der Nürnberger Magistrat eine erste Reklamation zur Rückgabe der Kleinodien in Wien geltend und versuchte dabei, auch in den Besitz der drei Aachener Stücke zu kommen.112 Dreimal, 1805, 1809 und 1813, die Einnahme Wiens durch die Franzosen bevorstand, ließ Franz II. die Reichskleinodien donauabwärts bringen.113 Das am 6. August 1806 mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. praktisch vollzogene Ende des Heiligen Römischen Reiches löste in Aachen eine eher zurückhaltende Resonanz aus. Für ein „großes Beben und in seiner Folge größte Bestürzung“114, wie vielerorts in Deutschland und Österreich, fehlen eindeutige Hinweise, was angesichts der mit Argusaugen wachenden französischen Verwaltung nicht sonderlich überrascht. Bedauert wurde das Ende des Reiches offenbar in den verbliebenen reichstreuen Teilen des Klerus, zumal diese zu den
106 Schreiben des Reichshofvizekanzlers Fürst zu Colloredo Mannsfeld an Graf Westphalen zu Fürstenberg vom 14.10.1797, zit. bei Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 69. 107 Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 82. Vgl. über die Flüchtung der Nürnberger Reichskleinodien 1796 Kubin, Die Reichskleinodien, S. 101– 119. 108 Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 72–78. 109 Ebd., S. 78, 83f. 110 Ebd., S. 84f. 111 Ebd., S. 86f.; Kubin, Die Reichskleinodien, S. 118f. 112 Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 93; Kubin, Die Reichskleinodien, S. 114f., 119. 113 Kraus, Napoleon, der zweite Karl der Große, S. 372; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 138; Kubin, Die Reichskleinodien, S. 129f., 141–147, 149–152; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 90–92, bes. S. 91. 114 Zit. Burgdorf, Wendepunkt deutscher Geschichte, S. 29.
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Verlierern des Reichsdeputationshauptschlusses gehört hatten.115 In Wien hatte man entschieden, alle Fragen über den weiteren Verbleib der Nürnberger und Aachener Reichskleinodien „mit Stillschweigen zu übergehen“116. Der Aachener Stadtarchivar Karl Franz Meyer der Jüngere117 nutzte das historische Ereignis im Dezember 1806 zu einer Eingabe beim französischen Innenminister, die auch an Napoleon gelangte und in der er die Rückgabe aller in Wien aufbewahrten Reichskleinodien, also auch der Nürnberger Stücke, forderte. Gestützt auf die alten Argumente seines verstorbenen Vaters, des gleichnamigen Autors der Aachenschen Geschichten118, behauptete der jüngere Meyer, Richard von Cornwall habe 1262 die Reichsinsignien dem Aachener Marienstift und der Stadtgemeinde anvertraut119, woraus sich die Rechte Aachens ableiteten. Die Eingabe blieb folgenlos120, vielleicht auch weil sich Meyer als Vertreter der Stadtgemeinde in Verkennung der legitimatorischen Grundlagen des napoleonischen Kaisertums den Reichskleinodien als Herrschaftssymbolen des Alten Reiches eine staatstragende Bedeutung zumaß, die sie nicht mehr besaßen. Im Mai 1809 wartete eine erneute Reklamation des Aachener Maire von Guaita121 zur Rückgabe der Aachener Reichskleinodien aus Wien, diesmal beim französischen Polizeiministerium, ebenfalls vergeblich auf eine Reaktion.122 Eine direkte Rückgabeforderung an Wien zu richten, war weder den Vertretern des Domkapitels noch der Stadtgemeinde während der Herrschaft Napoleons möglich. Die dafür zuständigen Pariser Behörden konnten daran keinerlei Interesse haben, weil Napoleon das Kaisertum des Alten Reiches weder 1804 noch 1806 oder 1809 anstrebte.
115 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 155f.; Schindling, War das Scheitern des Alten Reiches unausweichlich, S. 315. 116 Zit. Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 94. Vgl. Kubin, Die Reichskleinodien, S. 134–139. 117 Über den Stadtarchivar Karl Franz Meyer d. J. (1765–1821), den Sohn des Notars und Stadtarchivar Karl Franz Meyer d. Ä. († 1795) Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. M 1, S. 650; Lepper, Das Stadtarchiv und seine Archivare, S. 579 und Anm. 1. 1804 erschien zur Heiligtumsfahrt Meyers Schrift ‚Historische Abhandlung über die großen Reliquien in der ehemaligen Kron-Stifts, nun hohen Dom-Kirche zu Aachenދ. Vgl. Meyer, Historische Abhandlung über die großen Reliquien. 118 Siehe oben Kap. 4.3.2.3. 119 Siehe oben Kap. 3.3.1.3. 120 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 156. 121 Über den Aachener Nadelfabrikanten Cornelius Maria Paulus von Guaita (1766–1821), Maire von März 1808 bis Januar 1814, seit 1805 Richter am Aachener Handelsgericht, während seiner Amtszeit als Maire zugleich Präsident der Aachener Gewerbekammer (Handelskammer), 1809 bis 1814 Präsident des Departementswahlkollegiums Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. E 15, S. 502f.; Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, S. 219. 122 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 157.
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5.3.3 Anfänge des politischen Karlskults Hatte sich die kirchliche Verehrung des heiligen Karl in Aachen im 18. Jahrhundert nur „in einem Zustand mäßigen Gedeihens“123 befunden, so erfuhr sie durch den imperialen Napoleonkult eine erstaunliche Wiederbelebung. Entsprechend den neuen Machtverhältnissen im eroberten linksrheinischen Staatsgebiet ging die Initiative von der im Namen der Pariser Zentralregierung tätigen Spitze des französischen Verwaltungsapparates aus. Auf Anordnung des Präfekten Méchin124, im August 1802, sollte die Ernennung Napoleons zum Ersten Konsul auf Lebenszeit jeweils am Geburtstag des Kaisers, dem 15. August, durch Glockengeläut und ein Tedeum im Dom gefeiert werden. Bischof Berdolet ordnete entsprechend ein jährliches Dankfest am 15. August in allen Kirchen der Diözese Aachen an. Durch ein kaiserliches Dekret vom 19. Februar 1806 wurde es durch das Fest des heiligen Napoleon, eines angeblichen römischen Märtyrers, ersetzt.125 Das Karlsfest wurde nun gemeinsam mit Mariä Himmelfahrt am 15. August gefeiert. Dabei wurde ein Gottesdienst abgehalten und in einer Prozession das Bild der Gottesmutter mitgeführt. An Gottesdienst und Prozession hatten die Militär-, Zivil- und Justizbehörden teilzunehmen.126 Offensichtlich wollte man mit dieser terminlichen Verschiebung das säkulare Fest religiös aufladen und die katholische Bevölkerung auf diese Weise für den Napoleonkult gewinnen. Berdolet verklärte entsprechend die Geburt des Kaisers als den Neubeginn göttlichen Heilswirkens.127 Das Fest des heiligen Napoleon blieb trotz aller Bemühungen, es durch Tanzveranstaltungen und andere Volksbelustigungen attraktiver zu machen, in seiner Wirkung hinter dem in der Aachener Bevölkerung beliebteren Karlsfest zurück. Es blieb ein Fest der Repräsentanten des Staates.128 Bereits im Mai 1804 hatten die Aachener Verwaltungsbeamten in einer Dankadresse an das Pariser Innenministerium den nach dem Tode Karls des Großen einsetzenden Verfallsprozess des französischen Königtums mit seinem Tiefpunkt unter den Bourbonen beklagt und dem kaiserlichen Selbstverständnis damit nach dem Mund geredet. Im Juni 1804 glorifizierte Präfekt Méchin in einer Rede 123 Zit. Wynands, „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 148. 124 Zu Alexandre Edmonde Méchin (1772–1849), Präfekt des Roerdepartements vom Juli 1802 bis zum September 1804 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 174f., Kat.-Nr. E 5, S. 492f. 125 STA Aachen RR II AA, Nr. 547. 126 Zum Geburtstagsfest Napoleons im Rheinland Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 29–34. 127 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 280ff.; Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 33; Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 76; Wynands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 45. Vgl. zur Feier des Napoleonfestes in Koblenz mit Glockengeläut, Hochamt, Illumination der Häuser und Feuerwerk Kramp, Der Kaiser kommt, S. 26. Die Einführung des Festes des heiligen Napoleon 1806 wurde von der Aachener Bevölkerung nur schwach angenommen, vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 139; Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 147. 128 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 139; Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 31–34.
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zur Vereidigung der Beamten Napoleons Kaisertum nicht mehr nur im Rückgriff auf Gottheiten, Helden und Herrscher der griechischen und römischen Antike, wie es während des Konsulats üblich gewesen war, sondern nunmehr verstärkt auf die ersten fränkischen Herrscher, darunter als Glanzpunkte Chlodwig und Karl den Großen. Den Bourbonen und anderen Herrscherhäusern sprach er hingegen jegliche dynastische Verbindung zu den Karolingern ab und versuchte diesen damit einen wesentlichen Bestandteil ihrer traditionalen Herrschaftslegitimation zu nehmen.129 Bischof Berdolet führte im selben Jahr das Karlsfest wieder ein und bestimmte den 28. Januar und den 27. Juli als Festtermine. Jeweils am 28. Januar, als duplex 1 classis, verbunden mit einer Oktav, aber nunmehr ohne Arbeitsruhe, fand fortan der Pontifikalgottesdienst statt, während am 27. Juli, begangen als duplex maius, die Karlsreliquien in einer fortan institutionalisierten Prozession gezeigt wurden.130 Als profanes Element gehörte die Prämierung von Industrieerzeugnissen mit Medaillen zum Ablauf des Karlsfestes, das damit nebenbei auch der Leistungsschau napoleonischer Herrscherkunst dienen sollte.131 Schon früh die Zeichen der Zeit erkennend wollte der napoleontreue Berdolet den Karlskult zu einer Brücke zwischen den Aachenern und ihrem ersten Konsul machen. Dazu sollte die 1802 angeordnete und am 26. Juni 1803 durchgeführte Aufstellung einer weißen Marmorbüste Napoleons vor dem Hauptportal der Münsterkirche beitragen. Sie trug die Inschrift HEROI BONAPARTE PRIMO REI PVBLICAE GALLICAE CONSVLI / EPISCOPVS AQVISGRANVS CLERVSQVE POSVERVNT („Dem Helden Bonaparte, dem Ersten Konsul der französischen Republik, stellten der Bischof und der Klerus von Aachen [diese Büste] auf.“)132
Die Napoleonbüsten, die, massenhaft produziert, in den besetzten Gebieten aufgestellt wurden, versinnbildlichten die lokale Omnipräsenz des politischen Genies und die cäsaristische Überhöhung seiner Person.133 Bereits in seinem ersten Hirtenbrief für die Fastenzeit vom 9. Januar 1803 verglich Berdolet den charismatischen Heerführer und Staatsmann Napoleon mit Karl dem Großen: „Eben so groß, aber glücklicher als Karl der Große sichert dieser Held die Dauer desselben [sc. neuen Jahrhunderts], das er durch das Schwerdt angefangen hatte, dadurch, indem er es auf Gelehrtheit, auf Künste, auf Wissenschaften und auf Religion gründete.“134
129 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 228–230. 130 Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 221; ders., „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 151; Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702; Arens, Zur Geschichte der Eigenfeiern des Bistums Aachen, S. 430f. 131 Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 221. 132 Zit. nach Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 329f.; Krüssel, Chronogramme, S. 104. Vgl. Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702; ders., Napoleon, der zweite Karl der Große, S. 372; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 183. 133 Dazu Grewenig, Napoleon und die Pfalz, S. 57; ders., Napoleon. Feldherr, Kaiser, Mensch, S. 100f., 104f.; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9.17, S. 717.
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In seinem Hirtenbrief von 1805 bezeichnete der Aachener Bischof den nunmehrigen Kaiser als den „Vater des Vaterlandes“135 und als „des Staates und Europas Retter“136. Den Gehorsam der Untertanen gegenüber dem Kaiser forderte er mit Berufung auf die für die Legitimation von Herrschaft einschlägigen Textstellen des Neuen Testaments: „Wer der Macht widerspricht, widerspricht selbst der Anordnung Gottes“ (Röm. 13,2), und: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matth. 22,15).137 Die überkommene, christliche Legitimation monarchischer Herrschaft galt seit dem Konkordat auch für Napoleon. Zusammen mit dem Präfekten ließ Berdolet am 11. Oktober 1803 im Dom das mittelalterliche Grabmonument Ottos III. abbrechen, um freie Sicht auf den Hochaltar zu schaffen. Die Deckplatte schaffte man aus der Chorhalle an jene Stelle des Oktogons, an der das Grab Karls des Großen vermutet wurde. Auf dieser wurde dann die Aufschrift Carolo Magno angebracht. Im Januar 1804 ließ Berdolet den Sarkophag Ottos III. ausgraben und öffnen. Die Gebeine verteilte man angeblich an die Anwesenden.138 Das Grab wurde nach der Schließung mit einer erhabenen Grabplatte aus schwarzblauem Marmor bedeckt.139 Ähnlich wie die am Ende der reichsstädtischen Zeit abgebrochene Karlsmemorie sollte die künstlich geschaffene Grabplatte wohl in erster Linie ein Ort der politischen und religiösen Andacht für Karl den Großen in der Marienkirche sein. Dass die liturgische Verehrung Karls des Großen als Heiligen wohl auf Kosten des Napoleonkults vernachlässigt wurde140, dürfte einleuchten, da die wiederbelebte Heiligenverehrung Karls des Großen nur ein brauchbares Vehikel zur Gewinnung der Aachener für den napoleonischen Staatskult darstellte und sich der napoleonbegeisterte Berdolet mehr als treuer Staatsdiener, denn als katholischer Bischof verstand. Am 15. Februar 1810 hielt der Präfekt Ladoucette eine Rede vor dem Generalrat in Aachen, in der er die Strategie ausgab, „man müsse den Anschein erwecken, als ob die Lande zwischen Maas und Rhein seit Karl dem Großen nie ihren Regenten gewechselt hätten.“141
134 Öffentliche Bibliothek der Stadt Aachen Scho Sbd 8, zit. nach Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 33. Vgl. Karll, Napoleonische Studien, S. 65f. 135 Zit. nach Karll, Napoleonische Studien, S. 66. 136 Zit. Ebd. 137 Zit. nach Ebd., S. 67. 138 Winands, Zerstörung, Restaurierung und Neubauplanung am Aachener Münster, S. 345. 139 Quix, Historische Beschreibung der Münsterkirche, S. 20; Quix, Biographie des Ritters Gerard Chorus, S. 66f.; Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener PatrizierFamilien 3, S. 522; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 214f.; Grimme, Karl der Große in seiner Stadt, S. 271; Winands, Zerstörung, Restaurierung und Neubauplanung am Aachener Münster, S. 345; Wynands, Die Aachenfahrt während der französischen Herrschaft, S. 139; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 303; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 183; ders., Die politische Instrumentalisierung Karls des Großen, S. 235f.; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 219. 140 Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 219. 141 Zit. Hashagen, Das Rheinland unter französischer Herrschaft, S. 193.
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Der positiv besetzte Herkunftsmythos Karls des Großen wurde hier einmal mehr von der lokalen Verwaltungsspitze zur traditionalen Herrschaftslegitimation eingesetzt, um die Bevölkerung für die französische Herrschaft zu gewinnen. An den Aachener Bädern brachte man propagandistische Inschriften an, 1810 und 1811 sollten diese restauriert und ein neues großes Thermalgebäude errichtet werden. Damit wurde eine positiv besetzte, eng mit Karl dem Großen verbundene lokale Institution, die Badekultur, zum Medium der napoleonischen Herrschaftskommunikation im öffentlichen Raum der Stadt gemacht.142 Die französischen Präfekturbeamten beschäftigten sich intensiv mit historischen Studien und lasen sogar Einharts Lebensbeschreibung Karls des Großen, um die Mentalität der Beherrschten zu begreifen.143 Nicht nur die französischen Beamten, sondern auch die napoleonbegeisterten deutschen Eliten in Munizipalität und Beamtenschaft unterstützten den französischen Staatskult nach Kräften.144 Dies belegen exemplarisch mehrere Lobgedichte aus der Feder des aus Stolberg bei Aachen stammenden Registrators bei der Aachener Präfektur Johann Gerhard Joseph von Asten.145 In dem anlässlich der Ernennung Napoleons zum Konsul auf Lebenszeit 1802 verfassten Lobgedicht Napoleoni Bonaparte Primo Reipublicae Gallicae Consuli spannte von Asten den Bogen von Karl dem Großen, dem Gründer Aachens als Sitz des Reiches, hin zum großen Wohltäter Napoleon: „Von Karl dem Großen wurde die Stadt erbaut, / der Sitz des Reiches, leitet vom Bischof her / und vom Präfekten seinen großen / Einfluss sowie seinen Doppelnamen. // Die Stadt und auch ihr Dom, der bedeutend ist, erwecken mehr als würdig die Gunst von dir, / hier finden die Franzosen ihrer / Vorfahren wertvolle Monumente.“146
Schon im folgenden Jahr entstand ein farbiges Aquarell, das Aachen mit einer Allegorie des Apollo verherrlichte und auf die Gewerbeförderung unter Napoleon abzielte. Unterlegt war es mit einem längeren Lobgedicht von Astens.147 Bereits 142 Vgl. die Nennung einer entsprechenden Inschrift über die Aachener Bäder bei Ladoucette, Reise im Jahre 1813 und 1814, S. 34 sowie zu Bäderrestaurierung und -neubau ebd., S. 47f. 143 Ladoucette, Reise im Jahre 1813 und 1814, S. 13, 49. Vgl. Hashagen, Das Rheinland unter französischer Herrschaft, S. 193, Anm. 5. 144 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 52. Vgl. die Rede von Bürgermeister Kolb bei der Ankunft der Kaiserin Josephine am 27. Juli 1804, zit. bei Karll, Napoleonische Studien, S. 85. Dazu Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702 und Kerner, Die politische Instrumentalisierung Karls des Großen, S. 236 sowie Kraus, Napoleon, der zweite Karl der Große, S. 372. 145 Zur Biographie Johann von Astens (1765–1831) Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 48–68. Drei Gedichte von Astens auf Napoleon aus der Zeit von 1802 bis 1804 sind abgedruckt ebd. S. 307–348, 397–420. Sie widmen sich der Ernennung Napoleons zum Konsul auf Lebenszeit (1802), dem Besuch in Aachen (1804) und der Kaiserkrönung am 2. Dezember 1804. Zu den beiden Söhnen von Astens, die im 19. Jahrhundert zu Kaufleuten und Fabrikanten aufstiegen Arens/Janssen, Geschichte des Club Aachener Casino, Nr. 310, S. 148 (Heinrich von Asten, 1801–1876) und Nr. 466, S. 168 (Carl August von Asten, 1811–1877). 146 Übersetzung zit. nach Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 324f. 147 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. G 9, S. 540f.; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Kat.-Nr. 9.16a, S. 716.
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1803 plante der Erste Konsul einen Besuch der Stadt, was den Anlass zum folgenden Chronogramm bildete: INTER CONTINVOS EXVLTANTIS / POPVLI PLAVSVS / AQVISGRANVM INGREDIENTI („Er betritt Aachen unter dem anhaltenden Beifall des frohlockenden Volkes“).148
Der Priester und Lateinlehrer Jakob Lambert Cuvelier verfasste aus demselben Anlass ein längeres Gedicht, in dem er ebenfalls vom Einzug Napoleons in Aachen „unter dem Jubel OVANTIBVS).149
der
Geistlichkeit
und
des
Volkes“
(CLERO
POPVLOQVE
spricht. Eine Versdichtung von Astens, die anlässlich der Pariser Kaiserkrönung Napoleons am 2. Dezember 1804 entstand, wurde wiederum mit einem Aquarell unterlegt. Das Bild zeigt Karl den Großen im Hermelinmantel inmitten einer Wolke, wie er mit dem Zepter in der linken Hand auf den von Lorbeer umkränzten Namen Napoleon weist und ihm mit der Rechten vom Himmel herab die Krone zu überreichen scheint. Der lateinische Text lautet in Übersetzung: „Napoleon, dem erhabenen Kaiser der Franzosen, welcher an den 5. Iden des November gekrönt wurde, gratuliert die pflichtgetreue und gehorsame Stadt Aachen.“150
Die Lobdichtungen von Astens auf den Kaiser lassen sich in die Napoleonverehrung rheinischer Eliten einordnen.151 Als leitender Beamter der französischen Verwaltung wollte von Asten dazu beitragen, den Karlskult staatstragend umzudeuten und an den Napoleonkult anzuschließen.152 5.3.4 Napoleon und Josephine in Aachen Nach der Ausschaltung seiner politischen Gegner und der Proklamation des erblichen Kaisertums am 18. Mai 1804 ordnete Napoleon in ganz Frankreich Feierlichkeiten und Huldigungen an. Soldaten, Beamte und Richter hatten einen Treueid auf den Kaiser abzulegen.153 Wie im französischen Kernland wurde auch in den linksrheinischen Gebieten der neue Kaiserkult in Szene gesetzt.154 Im Frühsommer 1804 begann die wichtige Phase der Legitimierung und Stabilisierung der neuen Kaiserherrschaft. Dies geschah, wie bereits erwähnt, in Rückgriff auf die 148 Zit. nach Krüssel, Chronogramme, S. 103. 149 Zit. nach Ebd., S. 104. Vgl. Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 732–742. 150 Abb. und Erläuterungen bei Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. 2, S. 705, Nr. 9.16b, S. 716f. Vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. D 11, S. 471; ders., Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702; Krüssel, Chronogramme, S. 110. 151 Dazu die Dichtung des Kölners Franz Ferdinand Wallraff von 1804, abgedruckt bei Krüssel, Chronogramme, S. 105. 152 Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 40f. 153 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 137. 154 Am Beispiel Kölns Hashagen, Das Rheinland unter französischer Herrschaft, S. 192f.
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monarchischen Traditionen des Ancien Régime, so dass Aachen als wichtigster Ort der Karlsverehrung in den Blickpunkt des staatspolitischen Interesses rückte.155 Der Besuch Napoleons und seiner Gemahlin Josephine in der Stadt Karls des Großen, die neben Köln, Koblenz, Mainz und Trier zu den Stationen der Rhein- und Moselreise des Kaiserpaares gehörte, sollte zum Triumphzug des neuen Charlemagne werden. Nach der mit der Kaiserproklamation erfolgten Aufwertung seiner Herrschaft besaß sie den Charakter einer Huldigungsreise, die Personenkult und bürokratische Erfordernisse miteinander verband.156 Korrespondenzen zwischen dem Präfekten und dem Aachener Maire belegen, dass der Eifer der Bevölkerung, für einen umjubelten Empfang zu sorgen, bereits bei den ersten Reiseplanungen im Frühjahr 1803 mit Nachdruck angestachelt wurde.157 Nunmehr hielt ein „Verordnungs- und Zwangscharakter“158 von bislang unbekannter Qualität in die öffentliche Festkultur Einzug. Es wäre allerdings überzogen, mit Ute Schneider den Akteuren jegliche Spontaneität und Freiwilligkeit ihrer Loyalitätsbekundungen abzusprechen und die Bevölkerung als „instrumentalisierte und disziplinierte Besucher“159 zu qualifizieren. Ein solches Urteil würde den diversen Integrationsstrategien der französischen Verwaltung, wie sie sich gerade in der Festkultur äußerten, ebenso wenig gerecht, wie der Stimmung der Beherrschten in dieser Zeit. Geschickt bereitete man den Kaiserbesuch durch symbolische Akte vor. Aachen wurde am 22. Juni 1804 gemeinsam mit Köln und Mainz zur bonne ville de l’empire, gewissermaßen zur kaisertreuen Stadt erster Ordnung, erhoben.160 Die Verletzung der religiösen Gefühle des Klerus und der Bevölkerung durch die Revolutionstruppen und Besatzungsbehörden nach der Eroberung Aachens 1794 sollte jetzt endgültig kompensiert werden. Nach einer Einigung Napoleons mit dem preußischen König wurden am 22. Juni 1804 der Münsterschatz und mit ihm die Karlsbüste und die anderen Karlsreliquiare aus Paderborn nach Aachen zurückgeführt und am folgenden Tag feierlich wieder eröffnet. Gleichzeitig erschien eine Bischof Berdolet gewidmete Schrift des Aachener Stadtarchivars Karl Franz Meyer über den Aachener Reliquienschatz.161 Bei dieser Gelegenheit feierte ein 155 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 213f.; Kramp, Der Kaiser kommt, S. 22f. 156 STA Aachen RR II AA, Nr. 548; STA Aachen RR II AA, Nr. 549. Zur Rhein- und Moselreise Napoleons im Jahre 1804 vgl. Kramp, Der Kaiser kommt, bes. S. 21–23, Zit. S. 21; Ruiz, Napoleons Rhein- und Moselreise; ders., Napoleon im Rheinland; Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein. Zum Einzug Napoleons in Köln Deeters, Die französischen Jahre, S. 48, 50f.; Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 67ff. Über das Reisekönigtum im Königreich Westphalen vgl. Knauer, Politik mit und gegen die Tradition, S. 347– 349. 157 Karll, Napoleonische Studien, S. 43ff.; Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 47. 158 Zit. Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 41. 159 Zit. Ebd. 160 Kramp, Der Kaiser kommt, bes. S. 20; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, zu D 22/23, S. 484; Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 73f. 161 HAE Köln, BA Nr. 80; Meyer, Historische Abhandlung über die großen Reliquien. Vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 136; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 92.
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Gesang zu Ehren des Aachener Heiligthums Napoleon wegen der von ihm bewerkstelligten Rückgabe der einst von Karl dem Großen Aachen zum Eigentum überlassenen Schätze: „Doch dem Kaiser, der die Franken / Itzt regiert, soll man danken, / Daß sein eingelegtes Wort / Wiederbracht an diesem Ort, / Was einst Karl der Große brachte / Dieser Stadt und ihr vermachte / Als ihr stetes Eigentum, / Als ihr größtes Glück und Ruhm.“162
Vom 10. bis 24. Juli fand dann zum ersten Mal nach 14 Jahren wieder eine Heiligtumsfahrt statt, bei der die großen Heiligtümer den Gläubigen gezeigt werden konnten.163 Josephine war nur wenige Tage später, am Nachmittag des 27. Juli 1804, ohne ihren Gemahl in der Stadt eingetroffen. Zu ihrer Begrüßung waren Triumphbögen aufgestellt worden. Eine jubelnde Menschenmenge bildete Spalier. Freilich musste die Begrüßungsansprache des Maire Jakob Friedrich Kolb164 entfallen, da der Wagen des hohen Besuchs einen falschen Weg genommen hatte. Möglicherweise geschah dies absichtlich wegen der Ermüdung der Kaiserin von ihren Reisestrapazen oder weil ihr der Sinn mehr nach der bevorstehenden Badekur, als nach dem immer gleichen Empfangsprotokoll stand. Die Rede des Maire konnte deshalb zunächst nur in einem Schriftsatz übergeben werden, wurde aber am 29. Juli nachgeholt. In seinen exaltierten Ausführungen feierte Kolb die Kaiserin als „die Gemahlin des Helden, der das Reich des Abendlandes wieder hergestellt habe“165. Sie möge, so bat er, der ehemaligen Hauptstadt des alten Kaisertums ihren Schutz gewähren. Angesichts der traditionellen Loyalität der Bürger Aachens gegenüber den Kaisern versicherte Kolb, „daß der Große Napoleon schwer in seinem weiten Reich Untertanen finden wird, die ihm ergebener sind, die eifriger auf den Ruhm seiner Regierung bedacht sind, wie in Aachen.“166
162 Zit. nach Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 219. Vgl. auch den Abdruck eines Auszuges in ‚Das hundertjährige Jubiläum der Rückkehr der Aachener Heiligthümer am 22. Juni 1804ދ, EdG vom 10.6.1904. 163 Wynands, „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 150; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 136; Wynands, Die Aachenfahrt während der französischen Herrschaft, S. 134–138; ders., Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 83; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 92; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 115; Plötz, Aachenfahrt und Heiltumsweisung, S. 149. 164 Über den aus Göppingen stammenden und in Aachen aufgewachsenen, wohlhabenden Tuchfabrikanten und Tuchhändler Jakob Friedrich Kolb (1748–1813) Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 181f.; Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, S. 218f. Kolb besaß als sogenannter Beiwohner kein politisches Mitspracherecht im reichsstädtischen Aachen. Zudem war er Protestant. Als Mitglied der Aachener Freimaurerloge und überzeugter Republikaner wurde er von September 1794 bis März 1797 Mitglied der Munzipalität. Von Dezember 1800 bis September 1804 bekleidete er das Amt des Aachener Maire und war gleichzeitig erster Präsident der Aachener Gewerbe- bzw. Handelskammer, bevor er zum Präfekturrat ernannt wurde. Insgesamt wird man Kolb zur Gruppe der Aufsteiger rechnen können. 165 Zit. nach Karll, Napoleonische Studien, S. 6. 166 Zit. nach Ebd.; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 140.
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Die Anwesenheit Josephines in der Stadt bildete den willkommenen Anlass, weitere historische Parallelen zwischen dem Frankenkaiser und dem Kaiser der Franzosen zu ziehen. Bischof Berdolet hatte das noch traditionell am 27. Juli, dem Tag der Translation der Gebeine in den Karlsschrein, begangene Karlsfest167 auf den 12. August verschoben, um der Kaiserin die Teilnahme zu ermöglichen. In Begleitung einer Kavallerieeskorte begab sie sich durch die prächtig geschmückten Straßen an den erneut Spalier bildenden Bürgern und der Stadtgarde vorbei zum Dom. In seiner Festpredigt vor dem Karlsthron auf der Empore des Oktogons bezeichnete einer der beiden Franzosen im neuen Aachener Domkapitel, der Kanoniker Pierre de Gauzargues, Napoleon als den „gottgegebenen Nachfolger“168 Karls des Großen. Als Berdolet der Kaiserin bei deren Besuch der Schatzkammer des Domes am 1. August 1804 unter größter Geheimhaltung einige auf Karl den Großen verweisende Stücke des Domschatzes – den Talisman Karls des Großen, das staufische Armreliquiar sowie vier Textilstücke von den großen Heiligtümern – schenkte, sollte dies offensichtlich auf eine persönliche und dynastische Beziehung zwischen den Napoleoniden und Karl dem Großen verweisen.169 Anstelle des im Armreliquiar ursprünglich enthaltenen rechten Oberarmknochens wurde Kaiserin Josephine nur ein kleines Stück von diesem in einer Kassette übergeben, wie ein erhaltenes Schriftstück Berdolets vermerkt.170 Für den Dom bedeutete die Schen167 Die endgültige Festlegung auf den 15. August erfolgte erst 1806. 168 Zit. Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702. Vgl. Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 219; Karll, Napoleonische Studien, S. 23. Gauzargues war neben Joseph Mirepoint der zweite Franzose im Domkapitel. Er war zuvor Kanoniker in La Rochelle. Dazu Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 296, Kat.-Nr. L 12, S. 632. Vgl. auch die im Druck erschienene Rede Gauzargues’ ‚Discours en mémoire de l’Empereur Charlemagne, prononcé dans l’Eglise cathédrale d’Aix-la-Chapelle, en présence de Sa Majesté l’Imperatrice des Français, le 12 août 1804 [Thermidor XII], Aix-la-Chapelle 1804; dazu Koss, Quellen zur Geschichte des alten Bistums Aachen, Nr. 42, S. 16. 169 Zum sog. Talisman Karls des Großen Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 1, Nr. 2.16, S. 237f. (mit Abb.) und zur Schenkung Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702; ders., Napoleon, der zweite Karl der Große, S. 373; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9.35, S. 726; Wynands, Die Aachenfahrt während der französischen Herrschaft, S. 141f.; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 141f.; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 56, 336; Grimme, Der Aachener Domschatz, S. 14f., 64–66; Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 93 und Anm. 11; Torsy, Geschichte des Bistums Aachen, S. 293; Kaufmann, Vom Talisman Karls des Großen, bes. S. 32; Lohmann, Die Lösung der Frage über die Verluste des Aachener Domschatzes; Karll, Napoleonische Studien, S. 24f. 170 Zum Armreliquiar oben Kap. 3.3.1.4. Vgl. Lohmann, Die Lösung der Frage über die Verluste des Aachener Domschatzes, S. 289 (un morceau de l’os du bras droit de Charlemagne). Dieses Gebeinfragment wurde zusammen mit drei Textilpartikeln der Aachener Heiligtümer vor einigen Jahren vom Verf. im Talisman-Reliquiar des Reimser Kathedralschatzes ‚wiederentdecktދ. Dazu Annette Fusenig, ‚Karls Arm per Zufall in Reims wiederentdecktދ, AN vom 10.10.2001. Richtige Beobachtungen bereits: ‚Das hundertjährige Jubiläum der Rückkehr der Aachener Heiligthümer am 22. Juni 1804ދ, EdG vom 10.6.1904; Disselnkötter, Die mittelalterlichen Zeugnisse über die großen Heiligtümer, S. 54f. und vor allem Crumbach/Lentz, Das Kästchen ‚Rühr mich nicht an!ދ, S. 26–29.
5.3 Kaiserbesuche und lokale Festkultur
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kung Berdolets zwar den Verlust wertvoller religiöser Güter. Sie kann aber als Versuch betrachtet werden, durch eine Gabe die Gegengabe kaiserlichen Wohlwollens für das Domkapitel und die Person des Bischofs zu erlangen. Unter diesem Aspekt sind auch die außerordentliche Öffnung des Marienschreins und die Zeigung der großen Reliquien für die Kaiserin am 21. August zu bewerten.171 Am 15. August war zuvor der Geburtstag Napoleons mit „Glockenläuten, Kanonendonner, Freivorstellungen im deutschen und im französischen Theater, Feuerwerk, Illumination [und] Ball“172
gefeiert worden. Im Dom sangen die Anwesenden ein Tedeum, und die Kaiserin nahm die Verteilung der Kreuze der Ehrenlegion vor, welche die Träger als Mitglieder des von Napoleon geschaffenen neuen Staatsadels auswiesen. Allerdings war die Aufnahme in den Orden eine in dieser Zeit inflationär verteilte Anerkennung für staatspolitische Willfährigkeit, da zwischen 1802 bis 1814 etwa 48.000 Legionäre ernannt wurden.173 Napoleon traf „wegen der sommerlichen Hitze und terminlichen Gründen“174 erst am 2. September in Aachen ein.175 Präfekt Méchin empfing den Kaiser an der äußeren Stadtgrenze – ein Ehrerweis, den einst schon die Magistrate der Reichsstadt beim Adventus des zu krönenden Königs geleistet hatten. Seine Begrüßungsrede war mit entsprechenden Lobeshymnen und historischen Vergleichen gespickt: „Die erste Stadt, welche Ihnen ihre Pforten öffnet, ist die alte Residenz der occidentalischen Kaiser. Sie hat keine Paläste, keine Marmorsteine, keinen Glanz und keine Meisterstücke der Kunst zu ihrer Zierde; allein sie glänzte 10 Jahrhunderte vom Ruhme ihres Stifters, und 10 neue Jahrhunderte des Glanzes werden ihr von dem Tage an erneuert, wo Ihre Kaiserl(iche) Maj(estät) sie mit ihrer Gegenwart beehrt haben. Die Aschen Karls werden wieder aufkeimen, und seine große Seele in Napoleon leben“.176
171 HAE Köln BA 80; ‚Das hundertjährige Jubiläum der Rückkehr der Aachener Heiligthümer am 22. Juni 1804ދ, EdG vom 10.6.1904. 172 Zit. Karll, Napoleonische Studien, S. 24. 173 Giesselmann, Die brumairianische Elite, S. 458f.; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 42; Lentz, Le Grand Consulat, S. 394–399. Über die Ehrenlegionäre im Rheinland vgl. Graumann, Honneur et Patrie; Buchholz, Französischer Staatskult, S. 242–244. 174 Zit. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 140. 175 Zum Besuch Napoleons vom 2. bis 11. September 1804 Karll, Napoleonische Studien, S. 46– 99; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 116; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 142– 152; Buchholz, Französischer Staatskult, S. 216, 220f.; Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 700–704; Kramp, Der Kaiser kommt, S. 23. 176 Zit. nach Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 143; ders., Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702. Vgl. Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 220; Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 148; Rader, Grab und Herrschaft, S. 189; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 184; Wynands, Die Aachenfahrt während der französischen Herrschaft, S. 141f.; Karll, Napoleonische Studien, S. 48f.
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Napoleons Einzug in die Stadt folgte dem Zeremonialdekret vom Juli 1804, das sich eng an antike und mittelalterliche Vorbilder anlehnte.177 Der Empfang des Kaisers durch die lokalen Amtsträger gab den neuen städtischen Eliten Aachens eine Bühne der Herrschaftsrepräsentation. 500 Schritte vor den Toren überreichte Maire Kolb dem Kaiser auf einer goldenen Schüssel symbolisch die Schlüssel der Stadt. Napoleon gab sie mit der Bekundung seines Vertrauens in die Bürger sofort wieder zurück. Währenddessen ertönte Geschützdonner, die Kirchenglocken der Stadt läuteten. Bewaffnete Bürger und Militärs bildeten Spalier. Mit dem Einzug der Mameluckengarde des Kaisers gelangte ein ägyptisches Moment in das ohnehin farbenprächtige Geschehen. Auf dem am alten Maastrichtertor, dem heutigen Ponttor, errichteten Triumphbogen war ein die Stadt Aachen personifizierender Genius abgebildet, der den Namen Napoleons neben den Karls des Großen schrieb. Auf der Spitze ruhte eine Büste Napoleons, darunter die Inschrift Vainqueur et Pacificateur (Sieger und Friedensstifter).178 Ihre Straßen und Häuser hatten die Aachener Bürger prächtig geschmückt. Vor dem Rathaus hingen an Pappeln allegorische Bilder mit den wichtigsten Lebensstationen des Kaisers. An Tüchern, die an der Fassade des Gebäudes herunterhingen, waren Proben industrieller Erzeugnisse aus den Fabriken des Departements angebracht. Die Symbolik verband miteinander „die Bezugnahme auf die Antike und Karl den Großen, die Huldigung an Napoleon als dem Sieger und Friedensstifter, die Glorifizierung seiner sanktionierten Legende, aber auch die Demonstration eines aufblühenden Manufakturwesens.“179
An der Fassade des Rathauses waren von Fackeln illuminierte Sinnsprüche befestigt, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung setzten, darunter: „Pippins großer Sohn war Gründer der Stadt. – Der noch größere Napoleon beschützt, verschönert, liebt sie.“180
Zwei Chronogramme verwiesen auf die charismatischen Herrscherqualitäten des Heldenkaisers: BONAPARTE BELLATOR / PATRIAE DEFENSOR / PACIFICATOR / ET IMPERATOR („Bonaparte, der Kriegsheld, Verteidiger des Vaterlandes, Friedensstifter und Kaiser!“)181
sowie 177 Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 42f. 178 Buchholz, Französischer Staatskult, S. 220; Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 143; Karll, Napoleonische Studien, S. 51; Hashagen, Das Rheinland unter französischer Herrschaft, S. 192. 179 Zit. Buchholz, Französischer Staatskult, S. 220. Vgl. für diese Verbindung auch die 1807 erschienene Schrift des Aachener Stadtarchivars Karl Franz Meyer über die Geschichte der Aachener Wirtschaft, in der Karl der Große zum Ahnherrn der Aachener Tuchfabrikation und des Handwerks gemacht wird, Meyer, Meine historische Gedanken über die Stadt Aachenschen Fabriken, S. 5, 22–24. 180 Zit. nach Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 143; Karll, Napoleonische Studien, S. 52. 181 Zit. nach Krüssel, Chronogramme, S. 104.
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NAPOLEON CAROLI MAGNI SECTATOR ADESTO / ET NOSTRAE PATRIAE SIS, BONAPARTE, PATER! („Stehe, Napoleon, Nachfolger Karls des Großen, uns bei und sei bitte, Bonaparte, Vater von unserem Land!“).182
Texte dieser Art stammten häufig von Aachener Lehrern, Beamten und Gelegenheitsdichtern und wurden auf Anweisung des Maire entweder als Transparent an den städtischen Gebäuden aufgehängt oder in Druckschriften oder Zeitungen veröffentlicht.183 Vor der Präfektur, wo Napoleon Quartier nahm, begrüßten die geistlichen und weltlichen Behörden der Stadt den Kaiser.184 Abends waren die Stadthäuser und das Rathaus mit Fackeln und Teerkränzen illuminiert. Der gesamte öffentliche Raum der Stadt geriet zur Bühne des präzis inszenierten Kaiserkultes. Napoleon verstand auch das Theater, zu Beginn des 19. Jahrhunderts eines der wichtigsten Primärmedien und Forum bürgerlicher Öffentlichkeit, geschickt für seine Zwecke einzusetzen.185 Da Aachen seit Mitte des 18. Jahrhunderts über ein von Johann Joseph Couven erbautes städtisches Schauspielhaus verfügte, stand der auf Befehl Napoleons eigens für den Besuch nach Aachen beorderten Truppe der Pariser Comédie-Française eine geeignete Bühne zur Verfügung.186 Bei den abendlichen Theateraufführungen zu Ehren des Kaiserpaares fehlte es nicht an Anspielungen auf Karl den Großen. In einem Couplet hieß es: „Es geschieht wie zu Zeiten unserer Väter. Diese Mauern waren die edle Heimstatt Karls des Großen. Durch ihn wurde Aachen die Stadt der Herrscher. Viel größerer Ruhm kehrt nun in den Mauern Aachens ein. Es ist keine Einbildung! Es bringt uns die glücklichen Tage zurück, wie sie einst unsere Väter gesehen haben.“187
In einer anderen Aufführung wurde ein noch höheres Loblied auf den Kaiser angestimmt: „Ja, es ist keine Täuschung, Aachen sieht seinen Schutzpatron wieder. Ja, er ist es, der unter anderem Namen uns glückliche Tage beschwert, wie unsere Väter sie geschaut haben.“188
Mit einer zeitgleich veranstalteten Industrieausstellung, die der Kaiser ebenso wie einige Fabriken besuchte, sollte der Bevölkerung der technische und wirtschaftliche Fortschritt im Departement vor Augen geführt werden. Man wird sie als eine Leistungsschau zu bewerten haben, die dem dominanten Vergangenheitsbezug eine positive Zukunftsperspektive verleihen sollte.189 182 Zit. nach Ebd. 183 Zur Form der Veröffentlichung Krüssel, Chronogramme, S. 103–112; Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 327ff., 732–751. Zur Aachener Zeitungslandschaft und Zensur in französischer Zeit Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 329–333. 184 Karll, Napoleonische Studien, S. 51. 185 Ebd., S. 78. Zur Bedeutung des Theaters Faulstich, Mediengeschichte von 1700 bis ins 3. Jahrtausend, S. 13, 29. 186 Fritz, Theater und Musik in Aachen zur Zeit der französischen Herrschaft, S. 36f., 125–136, bes. S. 131. 187 Zit. nach Ruiz, Napoleons Rhein- und Moselreise, S. 653. 188 Zit. Ebd., S. 655. 189 Karll, Napoleonische Studien, S. 68–73.
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Eher im Hintergrund verlief die Audienz, die Napoleon während seines Aufenthalts in der alten „Krönungs- und Gerichtsstadt der Kaiser, den ständigen Herrschersitz Karls des Großen“190, wie Talleyrand es damals ausdrückte, am 4. September dem österreichischen Gesandten Graf Cobenzl gewährte. Der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Franz II., hatte am 11. August 1804 als Franz I. von Österreich den Titel eines Kaisers von Österreich angenommen.191 Napoleon verlangte vor der Anerkennung von dessen Kaisertum zunächst die seines eigenen durch den Habsburger.192 Der Kaiser der Franzosen besuchte am 7. September die Marienkirche, in der ihm die Heiligtümer präsentiert wurden. Hierbei huldigte ihm der versammelte Klerus als „Befreier des Vaterlandes“ und „Wiederhersteller des abendländischen Kaisertums“193. Das Tedeum verfolgte er von einem Thron, der unter einem kostbaren Traghimmel an der rechten Seite des Chors aufgestellt worden war. Auf dem Altar befanden sich die Reliquiare Karls des Großen aus dem Schatz des Domstiftes.194 Bischof Berdolet betonte in seiner Ansprache die Karls-Nachfolge Napoleons und seine Seelenverwandtschaft mit Karl dem Großen: „Sire! À votre entrée dans ce temple auguste, les ceindres de Charles se raniment, la grande ombre sourit à Napoleon, et les ames des deux héros se confondent.“195
Ein zeitgenössischer Kommentator der Szenerie bezeichnete Napoleon als „auguste continuateur“196 des Erbauers der Kirche, Karls des Großen. Während Napoleon andächtig und mit entblößtem Haupt vor dem Thron Karls des Großen auf der Empore des karolingischen Oktogons gestanden haben soll, habe Josephine, unbeeindruckt vom Atem der Geschichte, auf diesem Platz genommen, was wiederum, so der betreffende Eintrag im Protokollbuch des Domkapitels, den Unmut des Kaisers erregt habe.197 Die charismatische Persönlichkeit des Kaisers und seine die Herzen der Menschen gewinnende Gemahlin198 sorgten in Aachen für eine Begeisterung, die kaum als bloßes Phantasieprodukt der lokalen Propagandapresse abgetan werden kann. Nachdem mehr als 250 Jahre kein Kaiser mehr der Stadt einen offiziellen Besuch abgestattet hatte199, sonnten sich die neuen städtischen Eliten im Glanze 190 191 192 193 194 195 196 197
198 199
Zit. nach Raumer/Botzenhart, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, S. 163. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 143f. Ruiz, Napoleons Rhein- und Moselreise, S. 654. Zit. nach Wynands, Die Aachenfahrt während der französischen Herrschaft, S. 142. Ruiz, Napoleons Rhein- und Moselreise, S. 653. Zit. Ungezeichneter Bericht über den Besuch Napoleons im Dom am 20. fructidor (7. September) 1804, HAE Köln BA, Nr. 80. Zit. nach Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 147. Wynands, Die Aachenfahrt während der französischen Herrschaft, S. 142; ders., Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 220; Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 702; ders., Auf dem Weg in die Moderne, S. 147. Skeptisch Karll, Napoleonische Studien, S. 26. Berühmt ist der Ausspruch Napoleons: „Ich gewinne Schlachten, Josephine gewinnt Herzen.“, zit. nach Kramp, Der Kaiser kommt, S. 22. Zum Kuraufenthalt Josephs II. 1781 oben Kap. 4.3.1.
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des Besuchs und hegten große Erwartungen. In einer Bittschrift, die er der Kaiserin zur Aushändigung an Napoleon übergeben hatte, stellte Maire Kolb im Namen der Stadt Aachen das Gesuch, anstelle der vor Jahrhunderten zerstörten Pfalz Karls des Großen einen neuen kaiserlichen Palast in Aachen zu errichten und die Stiftung einer Napoleon-Statue für den Marktbrunnen zu genehmigen, die die 1794 nach Paris gebrachte Karlsstatue ersetzen sollte. Aachen, „die alte Hauptstadt des Occidents, die in der erhabenen Person des Kaisers Karl des Großen ihren Gründer verehrt, wagt ihr Wiederaufblühen und die Wiederherstellung ihres alten Ruhms unter der Herrschaft des großen Erneuerers des Kaiserreichs zu erhoffen.“200
Kolb versicherte mit Hinweis auf die ruhmreiche Geschichte der „Hauptstadt Karls des Großen“201 dem Kaiser „ewige Dankbarkeit und Ergebenheit“202. Beide Vorschläge des Maire wurden, nachdem Napoleon die Eingabe erhalten hatte, nicht mehr aufgegriffen und vielleicht sogar absichtlich totgeschwiegen. Napoleon stiftete der Domkirche allerdings zum Ausgleich ein Standbild Karls des Großen, dessen feierliche Enthüllung am 23. Mai 1805 stattfand.203 Am selben Tag wurde auch die Anfang Mai auf Befehl Napoleons von Paris nach Aachen zurückgebrachte Karlsfigur vom Marktbrunnen wieder aufgestellt, nachdem die Pläne, sie in der französischen Hauptstadt auf der Place Vendôme zu installieren, aufgegeben worden waren.204 Einmal mehr erwiesen sich die lokalen Beamten als willige Transporteure des Napoleonkultes und verlässliche Diener der Staatsgewalt: Der auf Kolb folgende, im weiteren Sinne noch zur reichsstädtischen Elite Aachens zählende Maire von Lommessem205 bezeichnete den französischen Kaiser in seiner Rede bei der Wiederaufstellung der Statue als den „erhabenen Nachfolger Karls des Großen“206. Sendungsbewusst führte er aus: „Napoleon der Große gründet das neue abendländische Kaiserthum; als Beherrscher aller Gallien [sic!] und der Langobarden erscheint er in dieser uralten Hauptstadt des fränkischen 200 201 202 203
Zit. nach Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 140. Zit. Ebd., S. 141; Karll, Napoleonische Studien, S. 86. Zit. Karll, Napoleonische Studien, S. 86. Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 704; ders., Napoleon, der zweite Karl der Große, S. 375. 204 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 116; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. 2, S. 719f.; Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 700; ders., Auf dem Weg in die Moderne, S. 152, Kat.-Nr. D 7, S. 468, D 13, S. 473; Buchholz, Französischer Staatskult, S. 231. 205 Über Johann Wilhelm Gottfried Franz Maria von Lommessem (1743–1810), Maire von September 1804 bis März 1808 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. E 14, S. 500f.; Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, S. 219. Von Lommessem war demzufolge u.a. 1763 Mitglied des Aachener Königlichen Schöffenstuhls, 1764/65 und 1767/69 Mitglied des Großen Rates und 1770 bis 1789 Mitglied des Kleinen Rates der Reichsstadt Aachen gewesen, bevor er 1798/99 wieder als Aachener Schöffe tätig wurde. Während seiner Amtszeit als Maire war er zugleich zweiter Präsident der Aachener Gewerbe- bzw. Handelskammer und verstand es, in der französischen Zeit ein erhebliches Vermögen zu erwerben. 206 Zit. nach Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 704; ders., Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. D 13, S. 473.
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5 Traditionsschöpfung Reiches, und vernimmt auf dem Grabe Karls des Großen die Segenswünsche eines neu beglückten Volks.“207
Nicht zuletzt durch Gesten, Stiftungen, Geldgeschenke, Wohltätigkeiten für Arme und Kranke und Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung blieb der Besuch des Kaiserpaares in Aachen den Zeitgenossen in positiver Erinnerung. In Privataudienzen empfing Napoleon die führenden Persönlichkeiten der Stadt: den Präfekten Méchin, Maire Kolb und Bischof Berdolet. Während Méchin wegen Nachlässigkeiten in seiner Amtsführung gerügt und schließlich zum Präfekten eines anderen Departements ernannt wurde, profitierten Kolb und der Bischof nicht unwesentlich von ihrer eifrigen Loyalität.208 Napoleon bewilligte Berdolet 6.000 Francs für die Restaurierung des Domes und 8.000 Francs zur Entschädigung der Kosten seines Besuches. Aachen erhielt 150.000 Francs zur Sanierung der öffentlichen Bauten, der Thermen und Badeanlagen. Der Kaiser überließ der Stadt außerdem den Grundbesitz an den Festungswerken zur Schaffung öffentlicher Promenaden.209 Das von der Kaiserin gestiftete Arbeitshaus erhielt am 16. August 1804 den Namen Josephinisches Institut. Gebäude der aufgelösten Klöster wurden der Stadtgemeinde überlassen, um die Anstalt zu vergrößern.210 Chronogramme transportierten eine allgemeine Begeisterung der Aachener Bevölkerung für den Heros und Heilsbringer Napoleon und eine Verehrung für die Landesmutter Josephine in die lokale Öffentlichkeit, die an den christlichen Erlösungsgedanken erinnerte. So hieß es zum Abschied des Kaiserpaares: ECCE CARA, I, MATER / IOSEPHINA, REDI! („Siehe, liebe Mutter Josephine, geh und kehre zurück!“)211 DEI ANGELO PROTEGENTE / IMPERATOR/ BONAPARTE NAPOLEON / PROFICISCERE! („Unter dem Schutz von Gottes Engel brich, Kaiser Napoleon Bonaparte auf!“)212 I, I, REVERTERE, REVERTERE! / SPES NOSTRA EST IN TE“ („Geh, geh, komm zurück, komm zurück! Unsere Hoffnung ruht auf dir!“)213
Ein vertrauliches Schreiben Méchins an Kolb vom 5. September 1804 belegt, dass in Aachen sogar daran gedacht wurde, aus den Trümmern der abgerissenen Stadtmauern einen Napoleon gewidmeten Triumphbogen zu errichten, auf dem eine Marmortafel mit goldenen Buchstaben an den Besuch der Majestäten erinnern sollte. Eine Rede Méchins zur Abfahrt des Kaisers, in der er um die diesbe207 Zit. nach Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 704; ders., Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. D 13, S. 473. 208 Karll, Napoleonische Studien, S. 62–68. 209 Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 34. Vgl. auch Karll, Napoleonische Studien, S. 20–23, 96f. 210 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. H 7–9, S. 573–575; Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 38; Karll, Napoleonische Studien, S. 97f. 211 Zit. und Übers. Krüssel, Chronogramme, S. 106. 212 Zit. und Übers. Ebd. 213 Zit. und Übers. Ebd. Vgl. Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 37f.
5.3 Kaiserbesuche und lokale Festkultur
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zügliche Zustimmung der Majestät nachsuchte, wurde wohl aus Zeitgründen nicht mehr gehalten.214 Warum der Plan zum Bau des Triumphbogens nicht ausgeführt wurde, ist unbekannt. Vielleicht war man auf Seiten der Stadt letztlich doch enttäuscht über die dezidierte Ablehnung des nicht eben bescheidenen Versuchs, die Gunst der Stunde zu nutzen und Aachen zur heimlichen Hauptstadt des Empire zu machen, oder der Kaiser entledigte sich auch dieses Projekts wie des vorherigen Gesuchs mit stillschweigender Verachtung. Die neue Provinzstadt Aachen mochte als Zentrum des Karlskultes für den Kaiser einigen propagandistischen und legitimatorischen Nutzwert besitzen – das „Herz des neuen Weltreiches“215 aber sollte Paris sein! 5.3.5 Das Fest der Kaiserkrönung und ihres Jubiläums Kurz nach dem Kaiserbesuch mussten die Aachener Träumereien ein neuerliches Erwachen in der Realität hinnehmen. Im Frühsommer 1804 waren Hoffnungen in der lokalen Presse und im rheinischen Adel aufgekeimt, Aachen könne zum Ort der Kaiserkrönung bestimmt werden. Offensichtlich war dies bis in den Juni hinein sogar tatsächlich in Paris erwogen worden. Doch die großen Erwartungen der Aachener Eliten sollten sich abermals nicht erfüllen, da sich der Kaiser letztendlich mit „Rücksicht auf das geistige Erbe der Revolution“216 gegen Reims und Aachen und für Paris als Krönungsort entschied.217 Wie einst die Frankfurter Königskrönungen im Alten Reich wurde die Pariser Krönung Napoleons in Aachen aufwändig mit Illuminationen von Rathausturm und Münsterkuppel, Glockengeläut und Böllerschüssen gefeiert.218 Wegen der vorausgegangenen Erhebung Aachens in den Kreis der bonnes villes durfte neben Bischof Berdolet der Aachener Maire von Lommessem an der Kaiserkrönung Napoleons am 2. Dezember 1804 in Paris teilnehmen.219 Von Lommessem bemühte sich beim Kaiser vergeblich darum, dass zumindest ein Teil der bei der Krönung verwendeten Insignien künftig in Aachen aufbewahrt werden sollte – offenkundig ein Versuch, Aachen nach dem Verlust der drei Aachener Reichskleinodien und dem Ausbleiben der Leichentücher der französischen Könige220 neue monarchische Symbole zu verschaffen. 214 Karll, Napoleonische Studien, S. 95f., 99. 215 Zit. Ebd., S. 94. Vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 140f.; Karll, Napoleonische Studien, S. 85f., 92–94; Corbin, Paris – Provinz; Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen, S. 223–228. 216 Zit. Pape, Der Karlskult an den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, S. 149. 217 Über einen diesbezüglichen Artikel im Aachener Merkur vom 21.5.1804 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 139. Vgl. auch ders., Napoleon, der zweite Karl der Große, S. 372; Tulard, Napoleon oder der Mythos des Retters, S. 192; Kramp, Der Kaiser kommt, S. 23. 218 Fürth, Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener Patrizier-Familien 3, S. 520. Vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 154; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 116. 219 STA Aachen RR II AA, Nr. 546. 220 Zu dem im 18. Jahrhundert von den Bourbonen praktizierten Brauch, deren Leichentücher dem Aachener Marienstift zu schenken, wo man im Gegenzug Funeralfeiern für das Seelen-
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Allerdings ernannte Napoleon den „digne maire de la ville de Charlemagne“221 noch im selben Jahr zum Mitglied der Ehrenlegion.222 Ähnliches wiederholte sich beim Krönungsjubiläum am 6. Dezember 1807, als zudem zwei Porträts Napoleons und Josephines im Rathaus eingeweiht wurden223, was die ebenfalls bei den Büsten, Medaillen und Münzen feststellbare massenhaft reproduzierbare Verdinglichung des kaiserlichen Selbstbildes als erster Repräsentant des Staates deutlich macht.224 In einer bei dieser Gelegenheit gehaltenen Rede forderte Maire von Lommessem die Festgäste auf, näher zu treten und auf dem Bild den Nachfolger Karls des Großen zu betrachten, der als Kaiser des Okzidents und Eroberer des Weltfriedens in ihrer Mitte erschienen sei. Das mit den berühmtesten Städten Frankreichs verbundene alte Aachen sei die Wiege des Ruhmes Karls des Großen gewesen, die Hauptstadt aller Städte und Provinzen Galliens und die Hauptstadt des Reiches225, so von Lommessem unter Bezugnahme auf das seit dem Mittelalter gepflegte Selbstbild Aachens, das – was Gallien betrifft, endlich einmal passend – vom Alten Reich auf das französische Kaiserreich übertragen wurde. 5.3.6 Die Geburts- und Tauffeiern des Kronprinzen Auf ausdrücklichen Befehl des Kaisers fanden am 20. März 1811 im Roerdepartement wie in ganz Frankreich anlässlich der Geburt seines Sohnes NapoléonFrançois-Charles-Joseph, des König von Rom genannten Kronprinzen, Dankgottesdienste statt. Die pompöse Inszenierung dieses Ereignisses war von großer Bedeutung für die Legitimation der vom Kaiser proklamierten Erbdynastie.226 An der ganz nach dem Vorbild des Ancien Régime inszenierten Taufe des Kindes in der Kathedrale Notre-Dame in Paris am 2. Juni 1811227 nahm unter ausgewählten Maires rheinischer Städte der auf von Lommenssem gefolgte Aachener Maire von Guaita teil. Von Guaita erhielt eine persönliche Audienz bei Napoleon, bei der er
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heil des Verstorbenen abhielt, Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9.1 und 9.2, S. 710. Zit. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 153. Ebd., S. 153f., Kat.-Nr. E 14, S. 500. Ebd., S. 148–153, Kat.-Nr. D 14–16, S. 473–477; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9,33, S. 725; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 148; Fritz, Geschichtliche Mitteilungen zu den Bildern Napoleons und seiner Gemahlin Josephine. Thamer, Napoléon. La construction symbolique de la légitimité, S. 38–46; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, S. 717–736. LA NRW, Düsseldorf, Roerdepartement, D 9, S. 13f., zit. nach Buchholz, Französischer Staatskult, S. 50f. Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 34–37. Über den Sohn Napoleon Bonapartes mit Marie-Louise, Napoleon François Joseph Charles, genannt König von Rom, Napoleon II. oder Aiglon (1811–1832), und die Tauffeiern vgl. Perot, La pourpre et l’exil, S. 34–51; Grewenig, Napoleon. Feldherr, Kaiser, Mensch, S. 156– 161. Die Taufe fand nach dem Vorbild der Taufe des Dauphins Louis 1781 statt. Ebd., S. 45.
5.3 Kaiserbesuche und lokale Festkultur
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dem Kaiser eine Glückwunschadresse überreichte und bei dieser Gelegenheit auf die historische Bedeutung Aachens als Stadt Karls des Großen und Ort der Königskrönungen hinwies. Vom Kaiser erbat er die weitere Förderung der wirtschaftlich bedeutenden Stadt. Zur Belohnung für seine Treue wurde er, wie sein Vorgänger von Lommessem, zum Mitglied der Ehrenlegion ernannt. Damit nicht genug, stellte er für sich und seinen Sohn einen Antrag auf Ernennung zum baron de l’ Empire, versuchte also, in den von Napoleon nach 1808 geschaffenen kaiserlichen Erbadel aufzusteigen.228 Das Gesagte dokumentiert von Guaitas ausgeprägtes Interesse am Erwerb von politischem Einfluss und Prestige, einschließlich der damit geschaffenen Möglichkeit, sich auch finanziell zu bereichern.229 In Aachen feierte man wie in den anderen rheinischen Städten die Taufe des Aiglon wenige Tage später, am 9. Juni.230 Am Rathaus war ein Transparent mit der Aufschrift zu lesen: NAPOLEONIS PVERI ACIES FIRMA / STAT CONTRA SOLIS RADIOS („Fest blickt das Auge von Napoleons Sohn in die Strahlen der Sonne“).231
Ein anderes Transparent lautete: ECCE HEREDEM HVIVS CORONAE („Seht den Erben dieser Krone!“).232 In dem von den Behörden angeordneten Festzug der Aachener Bürger wurde die aus reichsstädtischer Zeit bekannte, zwischenzeitlich nach Paris gebrachte kuriose Riesenpuppe Karls des Großen mitgeführt. Sie trug auf dem Zepter die vom Präfekten Ladoucette in deutscher und französischer Sprache verfasste Aufschrift „Je ne suis surpassé que par Napoléon“ (“Nur Napoleon ist größer als ich.“)233 und warf Bonbons unters Volk. Offenbar verzichtete man auf die im Ancien Régime übliche feierliche Begleitung der Puppe durch Bürgerwehr und Herolde. An deren Stelle begleiteten neben den Studenten des Collège, der 1804 gegründeten und 1809 in die kaiserliche Akademie aufgenommenen Sekundärschule, und der städtischen Nachtwache zahlreiche Arme und Waisenkinder die Prozession, was den Erfolg der napoleonischen Bildungs- und Sozialpolitik in Aachen anzeigen sollte.234 Diese Form der Napoleonpropaganda, die sich des populären Karlskultes bedienen wollte, stieß wohl aufgrund der als religiösen und sozialen Tabubruch empfundenen Vereinnahmung des Lokalheiligen in konservativen Teilen des Aachener Diözesanklerus auf empörte Ablehnung, die sich im Boykott der Prozession durch Kathedralkapitel und Stadtklerus 228 Giesselmann, Die brumairianische Elite, S. 461; Grab, Napoleon and the Transformation of Europe, S. 42f.; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. E 15, S. 502. 229 Für diesen Zusammenhang Giesselmann, Die brumairianische Elite, S. 463–469. 230 STA Aachen RR II AA, Nr. 550. Vgl. Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 37–39; Buchholz, Französischer Staatskult, S. 253–255; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 157f., Kat.-Nr. D 20–21, S. 481f.; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S.186f.; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 221–223. 231 Zit. nach Krüssel, Chronogramme, S. 111. 232 Zit. nach Ebd. 233 Zit. nach Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 222. 234 Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 223. Zum staatlichen Aachener Collège, das sich seit 1811 eines großen Zulaufs erfreute, Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 282–284.
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5 Traditionsschöpfung
äußerte.235 Inzwischen hatte sich die Stimmung im Aachener Klerus grundlegend gewandelt. Nicht zuletzt dürfte sich der Tod des napoleontreuen Berdolet im August 1809 negativ auf die politische Disziplin des Klerus ausgewirkt haben.236 Manches bei der Aachener Tauffeier erinnerte neuere Kommentatoren zwar eher an einen „Karnevalszug“237 oder ein „Straßenfest und Besäufnis“238, doch wird man zum Verständnis des Vorgangs das Bemühen der französischen Verwaltung, breitere Bevölkerungsschichten politisch zu integrieren, berücksichtigen müssen.239 Zur offenen Sichtbarmachung von Opposition führender, zuvor scheinbar staatstreuer oder abwartend gebliebener Kreise genügte zu diesem Zeitpunkt der relativ geringfügige Anlass einer misslungenen politischen Inszenierung, da sich die herrschaftsbezogene Funktion der Riesenpuppe als Opium für das Volk nicht grundsätzlich von der in früheren Jahrhunderten unterschied. Aufgeklärten Geistern entlockte sie ohnehin nur noch spöttische Kommentare als eine der „lächerlichsten Kuriositäten“240 der Stadt, während der wehmütige Kommentar des Dichters Adalbert von Chamisso über den Aachener Riesen-Karl vom Februar 1810 der romantischen Mittelalternostalgie zuzuordnen ist: „Der „Schutzheilige des Reiches, der große Karl, ging ehemals an seinem Namenstag in einem religiösen Aufzug kolossalisch einher durch die Straßen. Seine Perücke war mit sechs Pfund Puder frisiert, er konnte nicht durch die Tore des Domes, so groß war er [...] wenn er vorbeiging regnete es Zuckereien und süße Gaben auf die Kinder, die alle Fenster anfüllten und seiner harrten und der Geschenke des großen Karls sich freuten. Ich erinnere mich noch dessen wohl aus früheren Jahren und erkundigte mich fleißig nach dem schönen Bilde. Das hat nun alles während der Revolutionszeit wegbleiben müssen, und nun ist es vergessen, und kein Hahn kräht darnach – es wird ihn kein Kind mehr sehen, den stattlichen Recken, so schön gepudert, so bunt angetan, so milde Gaben austeilend, mit seinen großen rollenden Augen, wie ich ihn noch gesehen [...].“241
Die Volksbelustigungen anlässlich der Tauffeiern – in anderen rheinischen Städten fanden auch Konzert- und Sportveranstaltungen oder Wettrennen statt – ver-
235 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 158; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 222f. 236 Kraus, Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, S. 284–287. 237 Zit. Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 223. Vgl. auch ders., „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 152–155. 238 Zit. Kraus, Napoleon, der zweite Karl der Große, S. 376; ders., Napoleon – Aachen – Karl der Große, S. 704f. Vgl. auch Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 186f.; ders., Die politische Instrumentalisierung Karls des Großen, S. 239 bezeichnet die Feier als „Tiefpunkt der Aachener Karlsverehrung“. 239 Zu diesem Konzept der Verwaltung bei der Tauffeier in Köln Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 78. 240 Zit. Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 222. 241 Zit. nach Wynands, „aus einem Charlemagne ist ein Charlatan geworden“, S. 153. Vgl. Grimme, Karl der Große in seiner Stadt, S. 272; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 222; Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 186. Zur Funktion der Puppe bei den mittelalterlichen Krönungszügen und den religiösen Festen in Aachen oben Kap. 3.3.1.3, Kap. 3.3.2 und Kap. 4.3.2.1.
5.3 Kaiserbesuche und lokale Festkultur
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mochten nur noch wenig die allgemeine Stimmung zu heben und die Bevölkerung zu mobilisieren.242 5.3.7 Napoleon und Marie-Luise in Aachen Seine zweite Rheinreise unternahm Napoleon im Herbst 1811. Sie führte ihn von Holland über Düsseldorf, Jülich, Aachen, Köln und Bonn nach Lüttich, Namur und St. Cloud. Nach der Hochzeit mit seiner zweiten Gemahlin Marie-Louise von Österreich und der Geburt des Thronfolgers besaß sie den Charakter einer Huldigungsreise nach der durch die Heirat mit der Habsburgerin nochmaligen Aufwertung der Herrscherstellung des Franzosen.243 Der Kurzbesuch des Kaisers und Marie-Louises in Aachen am 7. November 1811 erwies das trotz mancher Rückschläge fortgesetzte Bestreben des Kaisers, Aachen in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zu fördern und die eigenen Modernisierungsleistungen hervorzuheben, wie dies zuvor bereits bei seinem Aufenthalt in Düsseldorf geschehen war.244 Dieser zweite Kaiserbesuch in Aachen glich in seinem äußeren Gepränge dem vorangegangenen: Einzug unter Glockengeläut und Salutschüssen in die festlich ausgeschmückte Stadt, das Rathaus „mit Laubwerk, Girlanden, Emblemen und Huldigungsinschriften dekoriert“.245 Doch machten sich bereits ernsthafte Signale der Krise bemerkbar, die sich auf den Reisestationen in Wesel, Krefeld und Köln darin äußerten, dass die städtischen Verwaltungen nur mit Mühe eine Ehrengarde zusammenstellen konnten und Napoleon selbst angesichts der geringen Begeisterung der Bevölkerung seine Enttäuschung zum Ausdruck brachte.246 Die auf Befehl des Bürgermeisters von Guaita im Aachener Stadtbild angebrachten Chronogramme beschworen unverzagt die emotionale Eintracht zwischen Kaiser und Beherrschten. Eines lautete vielsagend: ACCEPTA COR SVBDITORVM („Nimm die Herzen der Untertanen an!“).247 Der Bericht des von der Präfektur kontrollierten Journal de la Roer über den Besuch des Kaiserpaares in Aachen stellte einen enthusiastischen Empfang durch die Bevölkerung dar, was nicht zu Unrecht in Zweifel gezogen worden ist.248 Wie die Haltung der Weseler Bürger beim Besuch des Kaisers in ihrer Stadt erkennen lässt, waren angepasstes Verhalten gegenüber der neuen Ordnung, Napoleonbegeisterung und deutsch242 Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 38f. 243 Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 41f.; Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 78–82. 244 Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 45ff. 245 Zit. Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 149. Vgl. Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 92. 246 Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 47; Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 81f. 247 Krüssel, Chronogramme, S. 111. 248 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 159. Differenzierter am Beispiel der wie Aachen besonders privilegierten Stadt Düsseldorf Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 47f.; Looz-Corswarem, Der Besuch Napoleons in Düsseldorf.
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patriotische Gefühle, wenn auch keineswegs widerspruchsfrei, miteinander vereinbar.249 Insgesamt wird man dem Urteil von Veit Veltzke folgen können, wonach es sich bei den „Akklamationen der Bevölkerung“250 nur teilweise um echte, sondern vielfach um „verordnete Begeisterung“251 gehandelt hat, die wenig über die tatsächliche Akzeptanz der Bevölkerung in dieser Phase der französischen Herrschaft aussagt. Noch am 5. und 6. August 1813 sollen die Aachener der Kaiserin MarieLouise bei ihrer Ankunft und beim Besuch des Rathauses am folgenden Tag mit Illuminationen und großem Jubel einen herzlichen Empfang bereitet haben.252 Wenn es sich hierbei nicht um ein von der französischen Propaganda erzeugtes Konstrukt handelt, kann dieser Jubel nur mit der habsburgischen Abstammung der Kaiserin und den reichspatriotischen Gefühlen der Aachener erklärt werden. Um eine Ehrengarde zusammenstellen zu können, hatte es nämlich am Vortag beim Besuch der Kaiserin in Köln bereits der Drohungen des Maire bedurft, Fernbleibende würden zur Armee eingezogen. Noch dazu überreichten ihr Kölner Bürger einen Prolog, in dem unmissverständlich die Friedenssehnsucht der von Rekrutierungen geplagten Bevölkerung zum Ausdruck gebracht wurde. Die nervöse Kölner Polizei rechnete sogar mit Übergriffen und entfernte präventiv Zuschauergruppen an unübersichtlichen Stellen des Besuchsweges.253 Die politische Indifferenz und offene Ablehnung weiter Kreise der Bevölkerung stellte sich gegen Ende der französischen Zeit als ein gravierendes Problem für die napoleonische Herrschaft im Rheinland heraus. Die Loyalität der Beherrschten war weitgehend an ihr materielles Wohlergehen gebunden, da in den zurückliegenden Jahren keine tiefere kulturelle Bindung entstanden war. Die Aachener Unternehmen hatten lange Jahre von der englischen Kontinentalsperre und der Kriegskonjunktur profitieren können, indem es ihnen gelungen war, Marktlücken zu besetzen. Das allmähliche Ende des Wirtschaftsbooms und die allgemeine Wende auf dem europäischen Kriegsschauplatz 1813 versetzten dann dem Aufschwung Aachens empfindliche Rückschläge, was sich äußerst negativ auf die Loyalität der Aachener Bevölkerung zum französischen Staat auswirkte. Ende 1813 brach die Wirtschaft in den linksrheinischen Gebieten vollends zusammen, und die prekäre Lage des in den Manufakturen tätigen Proletariats wurde „zur politischen Bedrohung“254. Nun zeigten auch die bürgerlichen und kirchlichen Eliten wieder eine ablehnende Haltung gegenüber dem Regime. Erwartungen auf dessen nahes Ende führten dazu, dass eine kurz nach der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 249 250 251 252
Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 53f. Zit. Veltzke, Napoleons Reisen zum Rhein, S. 54. Zit. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 62. Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 92f.; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 149. 253 Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 88. 254 Zit. Thomes, 1804–2004. 200 Jahre mitten in Europa, S. 31. Vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 222f., 226f.; Pauls, Eine Auseinandersetzung zwischen Napoleon I. und dem Präfekten Ladoucette.
5.4 Kapitaltausch
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formulierte Ergebenheitsadresse der Aachener Munizipalität an die Kaiserin Marie-Louise nicht mehr übergeben werden konnte, da sich schlicht kein Überbringer fand. Die schließlich durch Maire von Guaita ernannte Delegation zögerte ihre Reise bis zur Einnahme Aachens durch die Alliierten heraus.255 Etwa zu dieser Zeit am Rathaus angebrachte Chronogramme lesen sich als Durchhalteparolen und niedere Zeugnisse persönlichen Prestigestrebens der napoleontreuen Amtsträger: MAJOR DE GVAITA IN OFFICIO / SATISFECIT CAESARI („Bürgermeister von Guaita stellte mit seiner Amtsführung den Kaiser zufrieden“), ADJVNCTIS SOLDERS ET / KELLETER IPSAE LAVDES („Den Beigeordneten Solders und Kelleter gebührt ebenfalls Lob“), VNDE CONCESSA FVIT / CONFIRMATIO („Daher ist eine Belobigung gewährt worden“), HAC DE CIVITATE CERTE / MERENTIBVS („Denen, die sich um diese Stadt sehr verdient gemacht haben“), VERA MERCES FIDVCIA / CAESARIS („Der wahre Lohn ist das Vertrauen des Kaisers“).256
Zu diesem Zeitpunkt hatte das Ansehen des diktatorisch regierenden Kaisers mit den schweren militärischen Niederlagen bereits derart abgenommen, dass ihm schließlich sogar die französischen Notabeln, die von ihm selbst installierte neue Führungsschicht also, Loyalität und Gefolgschaft verweigerten.257 5.4 KAPITALTAUSCH IN EINEM REVOLUTIONIERTEN HERRSCHAFTSFELD 5.4 Kapitaltausch Das Feld der Königsherrschaft im lokalen Raum um 1800 zeichnet sich durch die verstärkte Ausbildung von autonomen, dem Herrschaftsfeld homologen Teilfeldern und das Auftreten neuer Akteure nach dem revolutionären Einschnitt aus. Als wichtigstes neues Feld bildete sich ein autonomes politisches Feld heraus, auf dem rationales Handeln gefragt war und das ganz auf die Popularisierung des Kaisers durch die zur Verfügung stehenden modernen Medien, die Durchsetzung politischer Maßnahmen und die Stabilisierung der auf dem Wege der Usurpation errungenen Herrschaft zugeschnitten war. Die Ausbildung des politischen Feldes korrespondierte mit der Entstehung des journalistischen Feldes, das der politischen Kommunikation napoleonischer Herrschaft eine enorme Reichweite verlieh und mit deren Hilfe Napoleons Selbststilisierung als neuer Charlemagne verbreitet wurde. Auf dem Herrschaftsfeld entfaltete sich unter Napoleon im lokalen 255 Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. D 24, S. 488. 256 Zit. und Übers. Krüssel, Chronogramme, S. 112. 257 Thamer, Buonaparte – Bonaparte – Napoleon, S. 12–15.
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Raum die Ordnungskraft moderner Staatsgewalt, was sich exemplarisch an der Vergabe von Hausnummern aufzeigen lässt. Der Herrschaftswechsel brachte neue Akteure mit unterschiedlichen Interessen auf die verschiedenen Spielfelder, vom französischen Kaiser und seinen Beamten, über den Verwaltungsbeamten und Gelegenheitsdichter von Asten bis hin zum protestantischen Maire Kolb. Herrschaftshandeln wurde in der Vielfalt politischen Handelns eingehegt. Die wesentliche Regel des Spiels der Akteure, das deren Interesse begründete, bestand in der rationalen Logik eines auf den Kaiser zugeschnittenen Profitsystems, das die Mobilität der Spieler auf dem Feld der neuen Königsherrschaft gegenüber dem alten ständischen Feudalsystem deutlich erhöhte. Das leitende Prinzip dieses Profitsystems napoleonischer Königsherrschaft kann anhand der Reliquienschenkung Bischof Berdolets an die Kaiserin Josephine und anderer Leistungen der lokalen Akteure zugunsten des politischen Karlskultes demonstriert werden, aus denen diese konkrete politische und ökonomische Erwartungen ableiteten. Umgekehrt diente die Aufwertung Aachens durch Napoleon mit gezielten politischen Maßnahmen dem Erwerb politischen und symbolischen Kapitals im Sinne wechselseitigen Profits. Das Karlsfest und die mit Karl dem Großen verbundenen Objekte im Besitz des Domstiftes und der Stadtgemeinde erhielten unter den Bedingungen der napoleonischen Integrationspolitik und des politisches Karlskultes einen erhöhten Spielwert als politisches Kapital zugemessen. Die alten Herrschaftseliten büßten weite Teile ihres angestammten religiösen, kulturellen und symbolischen Kapitals ein, wie der Abtransport Aachener Kunstschätze nach Paris, vor allem aber der Verlust der drei Aachener Reichskleinodien, aufzeigt. Der charismatische und plebiszitäre Wesenszug des napoleonischen Cäsarismus machte die öffentliche Inszenierung des Heldenkaisers zu einer notwendigen Bedingung des Herrschaftserhalts. Selbstdarstellung und staatliche Propaganda, Heldenkult und die vom rationalen Profitsystem bezweckte Loyalität des neuen Leistungsadels der Notabeln bildeten das Rückrat der Herrschaft des neuen Charlemagne. Das von den lokalen Akteuren akkumulierte kulturelle Kapital musste den politischen Interessen des Kaisers nutzbar gemacht werden, um in politisches und symbolisches Kapital verwandelt zu werden. Zum richtigen Zeitpunkt ausgebrachte öffentlichkeitswirksame Loyalitätsbekundungen und effiziente legitimatorische Unterstützungsleistungen waren im fragilen cäsaristischen Herrschaftssystem Napoleons am meisten gefragt. Wer in den öffentlichen Initiations- und Bekenntnisriten des neuen Staatsadels das auf den Napoleonkult bezogene kulturelle Kapital einbrachte und dafür vom Herrscher mit Dotationen materiell und symbolisch belohnt wurde, besaß eine berechtigte Chance, durch den erlangten Distinktionsgewinn seine Position auf dem Feld der Herrschaft oder dem politischen Feld zu verbessern. Die geschichtspolitische Analogie zwischen Charlemagne und Napoleon kann als illusio, als eine erfundene Tradition des politischen Feldes, aufgefasst werden, aus der sich symbolisches Kapital ableitete, das auf dem Herrschaftsfeld zur Geltung kam. Napoleons Strategie bezweckte, diese diskursive Analogie in dringend benötigtes politisches und symbolisches Kapital zu transformieren und sein Cha-
5.4 Kapitaltausch
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risma durch Traditionalisierung zu verstetigen. Die Vertreter der neuen französischen Funktionselite der Stadt wie auch die in die Verwaltung an führender Position eingebundenen Aachener versuchten als Vermittler napoleonischer Herrschaft vor Ort, das kulturelle Kapital der städtischen Geschichte diesem obersten Zweck dienstbar zu machen und mit eigenen Absichten zu verbinden. Das Credo der lokalen Helfereliten war das öffentliche Bekenntnis zur Person des Kaisers als Heilsbringer und neuer Charlemagne. Ihr Bemühen war darauf gerichtet, als loyale Unterstützer das Kaisertum vor Ort zu festigen und selbst davon zu profitieren. Die bei feierlichen Anlässen wie den Aachener Kaiserbesuchen, der Pariser Kaiserkrönung oder der Taufe des designierten Thronfolgers in Paris, privaten Audienzen beim Kaiser, durch öffentliche Reden und Ergebenheitsadressen ermöglichten Loyalitätsbekundungen der lokalen Eliten brachten diesen prestigeträchtige Orden, Titel und Ämter und damit politisches und symbolisches Kapital ein, so die Aufnahme in die von Napoleon geschaffene Ehrenlegion, den Notabelnstand, später in den neuen kaiserlichen Erbadel. Die Aachener Maires von Lommessem und von Guaita erwarben dieses politische und symbolische Kapital, das sie als Mitglieder der neuen Führungsschicht auswies. Die Teilnahme der Aachener Maires an den staatlichen Feierlichkeiten unterscheidet sich von den Krongesandtschaften nach Frankfurt im Alten Reich dadurch, dass die persönlichen Profitmöglichkeiten nun deutlich erhöht waren. Der Erwerb politischer Ämter und ökonomischen Kapitals kann nicht getrennt voneinander behandelt werden. Dem Nadelfabrikanten von Guaita gelang es während der wirtschaftlichen Prosperitätsphase des Empire und seiner Tätigkeit als Maire und Präsident der Aachener Industrie- und Handelskammer offenbar, sein Vermögen zu vermehren, was sicherlich zu seiner späteren Aufnahme in den elitären Club Aachener Casino beitrug. Maire Kolb und Bischof Berdolet erhielten bei ihren Audienzen vom Kaiser die Zusage bedeutenden ökonomischen Kapitals in Form von Stiftungen, Finanzzuschüssen und Baumaßnahmen für Stadt und Bistum. Vorrangig um Sozialprestige, vielleicht auch um die Förderung seiner beruflichen Karriere, ging es offenbar dem anpassungsfähigen Verwaltungsbeamten von Asten, der den Karls- und Napoleonkult in seinen Gelegenheitsdichtungen öffentlich propagierte. Von Asten steht für den raschen Bedeutungsgewinn kultureller Experten aus dem Bildungsbürgertum und den Aufstieg der napoleonbegeisterten Beamtenschaft in französischer Zeit. Der gescheiterte Versuch des Stadtarchivars Meyer, die Unterstützung der Behörden für die Rückgabe der Reichskleinodien gegenüber Nürnberg zu erlangen, belegt, dass mit dem kulturellen Kapital der Herrschaftssymbole des Alten Reiches auf dem politischen Feld des neuen Cäsarismus kein politisches und symbolisches Kapital mehr zu gewinnen war. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches und der Abdankung Franz’ II. 1806 besaß dieses keine Bedeutung mehr, da Napoleon keineswegs, wie früher behauptet, das Kaisertum des Alten Reiches anstrebte. Sein noch in reichsstädtischen Denkschemata verhafteter, gewissermaßen den neuen Verhältnissen hinterherhinkender Habitus führte Meyer zu einem nicht mehr adäquaten Verhalten auf dem radikal veränderten Feld, ein Phänomen, das Pierre Bourdieu als
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Hysteresis-Effekt bezeichnet hat.258 Die Neustiftung kultureller Artefakte, wie die Verleihung des mit Bienen und Adlern versehenen kaiserlichen Wappens an die bonne ville Aachen 1811, mit welcher der Kaiser seine besondere Wertschätzung für die Stadt Karls des Großen zum Ausdruck bringen wollte, kam zu spät und musste angesichts der bereits im Sinken begriffenen Akzeptanz napoleonischer Herrschaft in Aachen bedeutungslos bleiben. Umgekehrt führte die Verweigerungshaltung der konservativen Mitglieder des Aachener Klerus und der reichsstädtischen Oberschicht zu empfindlichen Kapitalund Machtverlusten. Einer der Hauptverlierer in den ersten Jahren der französischen Besatzung war das reichsstädtische Marienstift. Es hatte durch die kirchenfeindlichen Maßnahmen der Revolutionäre und die nachfolgenden kirchenpolitischen Veränderungen, insbesondere die Säkularisierung und die Schaffung des Bistums Aachen, in hohem Maße Kapital verloren. Mit der Schaffung des Bistums Aachen gelangte ein sich als französischer Staatsbeamter verstehender napoleontreuer Bischof an die Spitze der lokalen Kirchenhierarchie. An die Stelle des alten Stiftskapitels trat ein vom Bischof abhängiges Domkapitel, dessen Mitglieder zur lokalen Funktionselite gehörten. Doch der französische Bischof verstand es, mit Hilfe des Karlskultes neues politisches und symbolisches Kapital für sich selbst wie für sein Bistum zu gewinnen, während es nur in sehr begrenztem Umfang dem Dom zu Gute kam. Dass die Akzeptanz napoleonischer Herrschaft im lokalen Klerus stark an die Person Berdolets gebunden war und nachfolgend oppositionelle Kräfte an Einfluss gewannen, zeigt der Boykott der Feierlichkeiten zur Taufe des Kaisersohnes durch das Domkapitel im Juni 1811. Der Karlskult hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine nicht zuletzt durch die Priesterschaft ermöglichte Konsekrationswirkung für den Napoleonkult verloren. Die geschilderten politischen Konstellationen und das auf Herrschaftserhalt und Dynastiebildung gerichtete Interesse des Kaisers boten den Aachener Akteuren vielfältige Möglichkeiten, ihr kulturelles Kapital einzusetzen und in andere Kapitalsorten zu überführen. Doch blieben ihre unrealistischen Maximalhoffnungen wie die Bestimmung Aachens zum kaiserlichen Residenz- und Krönungsort wegen der ganz auf Paris zugeschnittenen Gravitationskraft des Empire unerfüllt. Durch die Propaganda des Napoleon- und Karlskultes und den Transfer ökonomischen Kapitals zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Stadt gelang die Bindung der Aachener Eliten und der Bevölkerung in einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß bis in die makrohistorischen Wendejahre nach 1808 hinein, als sich zeigte, dass der Zenit des Kaisers überschritten war und ernsthafte militärische, politische und wirtschaftliche Rückschläge eintraten. Nachdem sich die gegenseitigen Profitmöglichkeiten erschöpft hatten, brach die Akzeptanz des zunehmend nur noch durch Repressionen und Drohungen zusammengehaltenen napoleonischen Herrschaftssystems auch in Aachen schrittweise zusammen. Mit der massiven Unterstützungsverweigerung der lokalen Eliten für Napoleon gegen Ende seiner Herrschaft wurde die doxa, das Grundgesetz des Feldes, quasi außer Kraft gesetzt. Die illusio hatte ihre Wirkung verloren. Die 258 Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 122f., 133.
5.4 Kapitaltausch
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Aufrechterhaltung des Charismas misslang Napoleon auch deshalb, weil es stark an die wirtschaftlichen und militärischen Rahmenbedingungen sowie an die persönlichen Profitinteressen der Führungsschicht aus Klerus, Notabeln und Angehörigen der Verwaltung gebunden war. Und nicht zuletzt fanden die kulturellen Symbolsysteme der neuen Staatsmacht und des lokalen Raumes nicht wirklich zueinander. Allein mit der propagandistischen Konstruktion ihrer Analogie war innerhalb des kurzen Zeitraums der französischen Herrschaft keine kulturelle Bindung zwischen Herrschern und Beherrschten zu erzeugen.
6 INKOMPATIBLE TRADITIONEN: PREUSSISCHES KÖNIGTUM IM KATHOLISCHEN AACHEN (1815–UM 1890) 6.1 EINFÜHRUNG 6.1 Einführung Drei harte Zäsuren innerhalb von zwei Jahrzehnten – 1794 der Übergang zur französischen Herrschaft, 1806 das Ende des Alten Reiches und 1815 die Angliederung des Rheinlandes an Preußen – warfen für die Beziehung zwischen dem preußischen König als neuem Landesherren und den Aachener Untertanen im lokalen Raum zumindest drei gravierende, herrschaftsbezogene Probleme auf, welche den Untersuchungszeitraum der Epoche von 1815 bis 1890 prägten: der Übergang von der Erinnerung an das Alte Reich und den Erfahrungen der napoleonischen Herrschaft zum Einheitsgedanken der deutschen Nation1, die schwierige Integration der Katholiken in den preußischen Staat2 und die im Streben nach dem Verfassungsstaat zum Ausdruck kommende politische und kulturelle Emanzipation des städtischen Bürgertums, die in Auseinandersetzung mit Fürstenherrschaft, Ständestaat und Religion erfolgte.3 Mit der sozialen Frage als Folge der Industrialisierung trat ein vierter, ungelöst bleibender Konflikt hinzu.4 Der Motor der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der Epoche war das Bürgertum, während der monarchische Staat zunehmend unter Druck geriet. Die Entfaltung des Nationalgedankens und das Streben nach Freiheit lösten in Europa und Deutschland Veränderungen der Königsherrschaft aus, wie es sie in den Jahrhunderten zuvor nicht gegeben hatte: das Zugeständnis von Verfassungen und die damit verbundene Herrschaftsbeteiligung des Bürgertums. Das Bürgertum eroberte die kulturelle Hegemonie. Die bürgerliche Erfindung der Nation als Ge1 2 3
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Angermeier, Nationales Denken und Reichstradition; Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, S. 80–97; Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, S. 37–44; Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat, bes. S. 88–103, 173–258. Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter; Becker, Konfessionelle Nationsbilder im Deutschen Kaiserreich. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 106–195; Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert 1–3; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866; ders., Deutsche Geschichte 1866– 1918 1–2; ders., Wie das Bürgertum die Moderne fand; Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, S. 98–138; Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft; ders., Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890; Ruppert, Bürgertum und staatliche Macht in Deutschland; Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums. Lenger, Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung, S. 31–123; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 2, S. 25–296; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 66–85, 140–166; Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland; Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, S. 44–61, 69–80; Langewische, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815– 1849, S. 138–153; Gall, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890, S. 6–8, 111–120; ders., Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, S. 41–45.
6.1 Einführung
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meinschaft mit eigener konstruierter Tradition5 brachte das Königtum zu einer Neubestimmung seiner eigenen Herrschaftslegitimation. Es löste diese Aufgabe, indem es seine Tradition gewissermaßen neu erfand, mit der Nation verschmolz, sich an die Spitze der Nation stellte und schließlich seinerseits die Nation monarchisieren wollte.6 Der beschwerliche Weg des preußisch-deutschen Königtums im 19. Jahrhundert von der Territorialherrschaft altständischer Prägung zur Reichsmonarchie und schließlich zum nationalen Kaisertum soll in Kap. 6.2 dargestellt werden. Die Beziehung zwischen dem sich verändernden Königtum und dem ökonomisch und kulturell expandierenden Aachener Bürgertum lässt sich anhand der kulturellen Artefakte und Vergemeinschaftungsformen im lokalen Raum Aachens nachvollziehen, was in Kap. 6.3 ausführlich geschehen soll. Kap. 6.3.1 behandelt den Zeitraum von der Einbeziehung Aachens in den preußischen Staat 1815 bis zum makrogeschichtlichen Umschlagpunkt auf dem Weg zur nationalstaatlichen Einigung um 1858/62.7 Er ist gekennzeichnet durch die ausgesprochen schwierige politische und kulturelle Integration der katholischen Rheinländer in die protestantisch geprägte Hohenzollernmonarchie. Kap. 6.3.2 stellt die auch von der Reichsgründung noch nicht eingelöste Bindung der katholischen Aachener an die nationale Monarchie bis 1890 dar. Die mittelalterliche Geschichte Aachens wurde bereits vor dem genannten Umschlagpunkt wiederentdeckt, zunächst von den lokalen Eliten, nach der Rheinkrise 1840 auch von Friedrich Wilhelm IV. Die Restaurierung von Rathaus und Münster hätte eine geschichtspolitische Brücke zwischen dem Aachener Bürgertum und der preußischen Monarchie bilden können, doch wurde die lokale Tradition keineswegs gradlinig auf die Nation und die preußisch-deutsche Monarchie hin umgedeutet. Die Revolution von 1848/49 und der Kulturkampf ließen die städtischen Akteure zwischen Staatstreue und konfessioneller bzw. politischer Widerständigkeit oszillieren. Gegenläufige Diskurse erweisen ihr Autonomiestreben, etwa die Weigerung, die Ikonographie der zentralen Aachener Bauwerke und die katholische Identifikationsfigur Karls des Großen in den Dienst der traditionalen Legitimation des preußisch-deutschen Königtums zu stellen. In Kap. 6.4 soll abschließend analysiert werden, wie die miteinander konkurrierenden Akteure durch den massiven Einsatz kulturellen Kapitals ihr jeweiliges Verständnis von Königsherrschaft in den lokalen Raum einbrachten und warum die unterschiedlichen symbolischen Systeme nicht zueinander fanden. Das katho5 6 7
Anderson, Die Erfindung der Nation; Langewiesche, Was heißt ‚Erfindung der Nation;ދ Hobsbawm/Ranger, The Invention of Tradition; Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen. Dazu Hanisch, Nationalisierung der Dynastien. Zu dieser Untergliederung der Epoche Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung, S. 1–70; Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem, S. 8–51; Lenger, Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung, S. 257–381; Müller, Der Deutsche Bund. Abweichender Zeitraum 1791 bis 1848 wegen anderer verfassungsgeschichtlicher Fragestellung Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 1–18; Gall, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890, S. 39–99.
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6 Inkompatible Traditionen
lische Bürgertum wollte einerseits als loyaler Unterstützer der nationalen Monarchie auftreten, andererseits sein überkommenes Symbolsystem und die damit verbundenen Ordnungsentwürfe bewahren. Der lokale, ultramontan geprägte Klerus konnte im Gefolge der Re-Konfessionalisierung im 19. Jahrhundert sein religiöses und kulturelles Kapital wieder vermehren. Zwar stand er der Monarchie grundsätzlich loyal gegenüber, geriet aber in einen schweren kulturellen und konfessionellen Konflikt mit dem preußischen Staat, insbesondere mit der konfrontativen Innenpolitik Bismarcks. Die sich im 19. Jahrhundert vollziehende Trennung der Felder der Religion, der Politik und der Kultur vom Feld der Königsherrschaft wird an diesem Punkt offensichtlich. Auf dem kulturellen Feld nahm der König durch den Einsatz ökonomischen Kapitals, durch Planungskontrolle, Finanzhoheit und staatliche Bürokratie, eine mächtige Position ein, die ihn in die Lage versetzte, die Vermehrung kulturellen Kapitals durch die Aachener, die diese mit der Restauration des Münsters betrieben, zu überwachen, zuzulassen und zu fördern. Für die Legitimation der Königsherrschaft im lokalen Raum hatte das kulturelle Kapital Aachens in dieser Zeit keine größere Bedeutung, da der König vorrangig durch seine Stellung als Landesherr, seit 1850/71 als von der Verfassung legitimiertes Staatsoberhaupt hinreichend Anerkennung fand und sich in der nationalen Frage das reichsstädtisch geprägte lokale und das preußisch-kleindeutsche Konzept diametral gegenüberstanden. Das preußische Königtum besaß sein eigenes symbolisches Bezugssystem und benötigte Aachen nicht zwingend als Legitimationsquelle für seine charismatische und traditionale Legitimation. Der König ließ die christlich-katholisch geprägte Symbolik des lokalen Raums und das sich darin artikulierende religiöse und kulturelle Autonomiestreben zu und bestand nicht auf der Vermehrung seines symbolischen Kapitals. Deshalb konnten auch die lokalen Akteure das in großem Ausmaß akkumulierte kulturelle Kapital Aachens kaum in politisches und symbolisches Kapital verwandeln. Zudem war der Karlskult als politisches Kapital wegen der Vereinnahmung durch Napoleon noch verbraucht und auf seinen lokalen, religiösen Bezug reduziert. 6.2 ZWISCHEN GOTTESGNADENTUM UND NATION: DIE LEGITIMATION PREUßISCH-DEUTSCHEN KÖNIGTUMS IM 19. JAHRHUNDERT 6.2 Gottesgnadentum und Nation Eine Wiedererrichtung des Alten Reiches kam für die große Mehrheit der auf dem Wiener Kongress versammelten europäischen und deutschen Fürsten nicht in Frage, da diese ihre partikularstaatlichen Interessen und territorialen Zugewinne nicht gefährden wollten. An die Stelle des Reiches trat ein föderaler Zusammenschluss von Fürstentümern und freien Städten: der Deutsche Bund.8 Als romantischer Traum und politische Utopie lebte das untergegangene Reich bei den Reichspatri8
Roellecke, Das Ende des römisch-deutschen Kaisertums, S. 93f.; Müller, Der Deutsche Bund; Angelow, Der Deutsche Bund; Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit, S. 72–81; Ruppert, Bürgertum und staatliche Macht in Deutschland, S. 23–28.
6.2 Gottesgnadentum und Nation
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oten, den ehemaligen Reichsständen und in der deutschen Nationalbewegung fort. Viele Reichsstädte, vor allem in Süddeutschland, bewahrten ihr „reichsstädtisches Selbst- und Sonderbewusstsein“9 in den neuen Territorialstaaten, in denen sie sich nach 1815 wieder fanden.10 Die Könige des 19. Jahrhunderts konnten sich angesichts der politischen Herausforderungen des aufgeklärten Bürgertums nicht mehr wie im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit allein mit der überkommenen monarchischen Tradition oder der Behauptung ihrer Sakralität legitimieren. Sie waren nach den Erfahrungen von 1789 und der „napoleonischen Revolution“11 gezwungen, neue Wege zu gehen. Eine Antwort auf die bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts war die „defensive Modernisierung von oben“12. Wie überall in Europa wurden im Deutschen Bund zunächst die alten monarchischen Herrschaftsformen restauriert, meistens jedoch zugleich aktualisiert und den Erfordernissen der Zeit angepasst. Früher oder später gaben die Fürsten ihren Ländern Reformen und Verfassungen und regierten als konstitutionelle Monarchen.13 Preußen blieb wie Österreich zunächst verfassungslos und wurde zum Vorreiter der Restauration und der autokratischen Unterdrückung bürgerlich-liberaler Emanzipationsbestrebungen. Besonders hier feierten die Prinzipien der Erbfolge und dynastischen Herrschaft eine Renaissance. Statt eines Parlaments berief der preußische König weiterhin seine Provinzialstände ein, deren Delegierte ihm bei seinem Amtsantritt den Huldigungseid zu leisten hatten.14 Der aktuelle Forschungsstand zur Entwicklung des deutschen Königtums im 19. Jahrhundert zeigt eine Spaltung in zwei Lager. Für die einen Historiker bestand die der Vormoderne entstammende rechtliche Bindung der Untertanen an den Monarchen in Form öffentlicher Huldigungszeremonien bis weit ins 19. Jahrhundert ungebrochen fort und mit ihr der vormoderne Untertanengeist.15 Für die anderen wurden die überkommenen Huldigungen aufgrund der „Verrechtlichung und Bürokratisierung monarchischer Herrschaftssysteme im ausgehenden 18.
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Zit. Puschner, Reichsromantik, S. 322. Ebd., S. 319ff. Vgl. Thamer, Das Heilige Römische Reich als politisches Argument. Zit. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 2, S. 297. Zit. Ebd. Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand, S. 224f.; Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, bes. S. 305ff.; Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit, S. 81–88; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 406–440. 14 Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 314; Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit, S. 115f.; Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 25. 15 Büschel, Untertanenliebe, S. 11–93. Vgl. dazu die Rezensionen von Jan Andres URL: http://www.sehepunkte.de/2006/10/10050.html (eingesehen am 10.3.2010) und Monika Wienfort, URL: http://hsozukult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-204 (eingesehen am 10.3.2010). Zur These der Verbürgerlichung des Monarchen im frühen 19. Jahrhundert v.a. Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 13; Kocka/Vogel, Bürgertum und Monarchie im 19. Jahrhundert, S. 787f. Dazu kritisch wiederum Büschel, Untertanenliebe, S. 21–24, 64–79.
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6 Inkompatible Traditionen
Jahrhundert rechtlich obsolet“.16 Die kultische Verehrung des Monarchen durch die Bürger, wie sie sich in Bekenntnisakten vermeintlicher „Untertanenliebe“17, überschwänglichem Jubel, Ergebenheitsadressen oder Geschenken, äußerte, könnte als Folge der inszenierten Verbürgerlichung des Monarchen zum väterlich regierenden, ersten Staatsbürger betrachtet werden. In diesem Prozess hätte sich das „bürgerliche Familienbild und das protestantische Pflichtethos [...] zu ideologischen Stützpfeilern der preußisch-deutschen Monarchie“18 entwickelt. Dagegen könnte man die Veranstaltung bürgerlicher Feste zu Ehren des Monarchen auch als „Bühne der Bürger“19 zur Geltendmachung ihrer Herrschaftsansprüche, als Forum zur Durchsetzung eigener Interessen verstehen.20 Tatsächlich dienten Huldigungen, dynastische und nationale Feiertage sowohl der monarchischen als auch der bürgerlichen Selbstdarstellung. Wenngleich häufig genug noch das herrschaftliche Schaugepränge des angereisten Adels im Vordergrund stand, spielten die selbstbewussten Vertreter der bürgerlichen Eliten bei diesen Repräsentationsakten mit der Verlesung von Huldigungsurkunden, Treuebekundungen und Lobreden nun eine aktive, hervorgehobene Rolle. Der Wandel von der repräsentativen zur bürgerlichen Öffentlichkeit begleitete die politische und kulturelle Herrschaftspartizipation des Bürgertums.21 Durch das revolutionäre Aufbegehren des Bürgertums in seinem Kampf um Freiheit und Herrschaftsbeteiligung geriet die Monarchie im 19. Jahrhundert zunehmend unter Druck und wurde zur Reform des Systems und zur Schaffung neuer Instrumente der Herrschaftssicherung gezwungen. Die Gewinnung der öffentlichen Meinung strebte der Monarch durch Maßnahmen wie die großzügige Förderung von Kunst und Architektur und die Gründung von Vereinen, Gesellschaften und Universitäten unter seinem Patronat an. Königliches Mäzenatentum hatte es bereits im Ancien Régime gegeben, doch stand nun nicht mehr der monumentale Repräsentationsbau an sich, sondern die zeitgemäße Propagierung des damit verbundenen fürsorglichen Herrscherbildes in der Öffentlichkeit im Vordergrund.22 Ein König wie Friedrich Wilhelm IV. nahm als Künstler wie die bildungsbürgerlichen Eliten Anteil an den Entwicklungen in Architektur, bildender Kunst und Literatur. Über Königsliteratur, Hofberichterstattung und oppositionelle Karikaturen drang der Monarch in die bürgerlichen Medienwelten ein.23 16 Zit. Büschel, Untertanenliebe, S. 99. Vgl. Schwengelbeck, Die Politik des Zeremoniells; Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 486–494. 17 Zit. nach dem Titel von Büschel, Untertanenliebe. 18 Zit. Kocka/Vogel, Bürgertum und Monarchie im 19. Jahrhundert, S. 788. 19 Zit. Büschel, Untertanenliebe, S. 295. 20 Ebd., S. 295–306. Zum Fest als politische Handlungsform des Bürgertums im 19. Jahrhundert Schneider, Feste, Empfänge, Versammlungen; Hettling/Nolte, Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert. 21 Lieven, Abschied von Macht und Würden; Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, S. 81–83. 22 Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 30. 23 Ebd., S. 35; Lammelt, Majestätsbeleidigung, S. 16f.; Hardtwig, Vormärz, S. 115–119; Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 184. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 2, S. 520–540.
6.2 Gottesgnadentum und Nation
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Die Neuformierung monarchischer Herrschaftspraktiken betraf auch die rituelle und zeremonielle Repräsentation, vertrat der Monarch doch nach wie vor den Anspruch, das „aktive und lebendige Zentrum“24 der Gesellschaft zu sein. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer „Spätblüte der höfischen Kultur“25. An die Stelle sakraler Rituale, wie sie die vormodernen Krönungen ausgezeichnet hatten, traten Erbhuldigung und Staatsreise, nationale und monarchischdynastische Feiern, ein überbordender Denkmalskult, die Verleihung von Orden und Ehrentiteln und die Propagierung nationaler Symbole, Lieder und Fahnen.26 Hatten die vormodernen Herrscher mit Reisen symbolisch oder tatsächlich ihr Territorium in Besitz genommen, dienten offizielle Besuche des Landesherrn in seinen Städten und Landesteilen zum einen pragmatischen Zwecken wie „Kontrollen, Inspektionen oder traditionellen Verpflichtungen gegenüber einflussreichen Elitegruppen.“27 Zum anderen brachten Herrscherbesuche, Huldigungen und Feiertage „die Gelegenheit, das Ansehen des dynastischen Amtsinhabers im Volk zu steigern, die Bande des Herrschers mit den einfachen Untertanen persönlicher zu gestalten, die Aristokratie in den Provinzen stärker an das Königshaus zu binden und die charismatische Ausstrahlung der Monarchie über die engen Grenzen von Hof und Hauptstadt hinaus auszudehnen.“28
Im Zeitalter des Nationalismus dienten die bei den Reisen, Denkmalsenthüllungen und Festen praktizierten, zunehmend militärischen Charakter annehmenden Zeremonien dazu, den König als „Nationalsymbol zu präsentieren“29. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stützten sich die deutschen Fürsten bei ihrer Machtausübung auf das Konzept des monarchischen Prinzips, das sie als Verkörperung der Staatsgewalt auswies.30 Die traditionale und charismatische Legitimierung der Monarchenperson trat im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts „aufgrund der sich verstärkenden Verrechtlichung der politischen Handlungsbedingungen immer mehr zugunsten einer rationalen Begründung zurück.“31
Mit der Einführung geschriebener Verfassungen sei es, so Martin Kirsch, zu einer „Funktionalisierung des Königtums [gekommen], indem die Konstitution das traditionelle dynastische Königtum unter rationalem Aspekt zu einem schlichten Verfassungsorgan verrechtlichte, welches auf Dauer nicht an eine spezielle Dynastie gebunden war und somit beliebig besetzbar wurde.“32
24 25 26 27 28 29
Zit. Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 31. Zit. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 35–40. Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich, S. 30f.; Sieg, Wilhelm II., S. 98f. Zit. Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 32. Zit. Ebd., S. 33. Zit. Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 34. Vgl. Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 12, 175–182. 30 Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 326–328; Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 28f.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 2, S. 299f., 343; Hardtwig, Vormärz, S. 55f. 31 Zit. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 47. 32 Zit. Ebd., S. 390.
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Johannes Paulmann spricht von der „staatlichen Integration des Monarchen“33, dessen Person nun nicht mehr hauptverantwortlich für den Zusammenhalt eines Territoriums war. Diese Einschätzung entspricht dem auf staatliche Konstitutionen und Bürokratien zielenden Bild eines fortschreitenden Rationalisierungsprozesses von der charismatischen und traditionalen zur rational-legalen Herrschaft im Sinne Max Webers.34 Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung zeigt aber auch gegenläufige Aspekte. Der öffentliche Kult der Nation ermöglichte den Aufstieg charismatischer Persönlichkeiten. Das politische Phänomen Bismarck machte das Berliner Reichskanzleramt zeitweise zum eigentlichen Machtzentrum der preußischen und deutschen Monarchie.35 Von Wilhelm I. als Barbablanca und vom persönlichen Regiment des Medienkaisers Wilhelm II. wird noch die Rede sein.36 Auch wurde die Tradition als Legitimationsgrund weder im politischen Denken der Königs noch in der Praxis obsolet. Die Frage des Umgangs mit den Traditionen monarchischer Herrschaft blieb, wie im folgenden Argumentationsgang auszuführen sein wird, für das Herrschaftsverständnis Friedrich Wilhelms IV. ebenso bestimmend wie für die Diskussionen am Hof Wilhelms I. nach der Reichsgründung 1871.37 Die mehr oder weniger ausgeprägten traditionalen Bezüge königlicher Herrschaft können am Regierungsstil und am Herrschaftsverständnis der preußischen Könige des 19. Jahrhunderts abgelesen werden. Die Königsherrschaft Friedrich Wilhelms III. von Preußen war wie die anderer Herrscher der Epoche an der Oberfläche von bürgerlichen Kulturformen geprägt: der Trennung von Privatleben und öffentlichem Amt, Pünktlichkeit, Zurückgezogenheit und Einfachheit. Dabei war der preußische König nach eigenem Selbstverständnis kein wirklicher Repräsentant bürgerlichen Bewusstseins oder gar ein Bürgerkönig, wie er liberalen Vorstellungen entsprach.38 Bereits von den Zeitgenossen wurde die Regierung Friedrich Wilhelms III. als eine Phase der politischen Stagnation, der Unterdrückung bürgerlicher Opposition und der Verhinderung von Verfassung und deutscher Einigung angesehen.39 Auch die romantische Mittelalterbegeisterung ging am preußischen König vorbei. Gegenüber der seit etwa 1780 in Preußen aufkommenden Neugotik40 blieb der König wohlwollend gleichgültig. Als er im Frühjahr 1793 die 33 Zit. Paulmann, Pomp und Politik, S. 78. 34 Siehe oben Kap. 1.2.2. Vgl. Raphael, Recht und Ordnung. 35 Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 296; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 355–376; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 66–68; Machtan, Bismarck. Vgl. auch Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 215, 390. 36 Siehe unten Kap. 7.2. 37 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918 2, S. 75–84. 38 Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 194–196. 39 Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 22f., 40–49; Stamm-Kuhlmann, Bürgerkönig; StammKuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 561–581; ders., Die Rolle von Staat und Monarchie, S. 270–278; ders., Der Hof Friedrich Wilhelms III. von Preußen. Vgl. die Beurteilungen der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms III. von Kroll, Stufen und Wandlungen, S. 20; ders., Friedrich Wilhelm III. 40 Maeyer/Verpoest, Gothic Revival.
6.2 Gottesgnadentum und Nation
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alte karolingische Pfalz Ingelheim besuchte, bemerkte er in einem Brief an die damalige Kronprinzessin Luise nur lapidar, hier habe „ein gewisser Karl der Große einige rumpelige Gemäuer hinterlassen“.41 Anders als sein Vater war Friedrich Wilhelm IV. „in einem beispiellosen Maß ein ‚öffentlicher ދKönig“42, der sich, mit bemerkenswerten rhetorischen Fähigkeiten und einer „Aura des Humanen, Volksnahen“43 ausgestattet, moderner Kommunikationsmittel bediente und die geistigen Strömungen der Zeit in sich aufsog.44 Dazu gehörte die Begeisterung für die Ästhetik mittelalterlicher Bauformen, insbesondere für die Kathedralen, die ihn zum bedeutenden Förderer der Neogotik werden ließ.45 Die Rücknahme der unter seinem Vorgänger erlassenen Repressionsmaßnahmen weckte zunächst Hoffnungen auf eine von ihm ausgehende Liberalisierung in Preußen.46 In seinen politischen Überzeugungen hing der König allerdings einem rückwärtsgewandten, von der politischen Romantik geprägten Mittelalterbild und dem Idealmodell des organischen christlichen Ständestaates an. Für das vom Gottesgnadentum geprägte Herrschaftsverständnis Friedrich Wilhelms IV. waren bereits die Huldigungszeremonien in Königsberg am 10. September und in Berlin am 15. Oktober 1840 programmatisch.47 Seine Vorliebe für den byzantinischen Baustil, die sich darin artikulierende „mystischsakrale Auffassung vom Herrscheramt“48 und die Ablehnung jedweder Verfassung zugunsten unmittelbarer Beziehungen zwischen König und Volk gehören in diesen Zusammenhang.49 Die preußischen Tausendjahrfeiern des Vertrages von Verdun am 6. August 1843 ließ er als Reichsgründungsfeier inszenieren. Darüber hinaus stiftete er einen Verdun-Preis für die beste historische Abhandlung über die deutsche Geschichte.50 Die ideologische Rückwendung des Königs zum Mittelalter war begleitet von seinem Versuch, Anschluss an die von der deutschfranzösischen Rheinkrise entflammte nationalpatriotische Begeisterung zu finden.51 Doch in hilfloser Antwort auf die Deutschland-Pläne der Frankfurter Nati-
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Zit. Stamm-Kuhlmann, Das geistige Preußen, S. 129. Zit. Barclay, Hof und Hofgesellschaft, S. 359. Zit. Kroll, Das geistige Preußen, S. 56. Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 94, 172–182. Kroll, Das geistige Preußen, S. 130–135. Winkler, Der lange Weg nach Westen 1, S. 89f.; Baumgart, Friedrich Wilhelm IV., S. 225; Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 85. Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 50–94; Kroll, Friedrich Wilhelm IV., S. 29–61; Winkler, Der lange Weg nach Westen 1, S. 89f.; Rothkirch, Der Romantiker auf dem Preußenthron, S. 100–104; Bußmann, Zwischen Preußen und Deutschland, S. 112–118; Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 80–87. Zit. Kroll, Das geistige Preußen, S. 60. Vgl. zum Byzantinismus Friedrich-Wilhelms IV. Kroll, Das geistige Preußen, S. 134f. Kroll, Friedrich Wilhelm IV., S. 82–93; ders., Das geistige Preußen, S. 60–64, 135f.; Blasius, Friedrich Wilhelm IV., S. 105–112; Baumgart, Friedrich Wilhelm IV., S. 225f. Brühl, Deutschland – Frankreich, S. 7f.; Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 94–98; Schnelling-Reinicke, Aachen – die Stadt des Königs, S. 744; Veit-Brause, Die deutsch-französische Krise von 1840; Kroll, Das geistige Preußen, S. 132f.
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6 Inkompatible Traditionen
onalversammlung träumte er von einem preußisch-großdeutschen Kaisertum nach mittelalterlichem Vorbild, das „eine gesamteuropäische, alle Völker und Nationen zusammenbindende Ordnungs- und Friedensmacht darstellen“52
sollte.53 Geleitet von seiner Auffassung eines königlichen Gottesgnadentums lehnte er die von den Vertretern des Frankfurter Parlaments im April 1849 offerierte Kaiserkrone mit aller Entschiedenheit und Verachtung ab.54 Der aus taktischen Gründen von ihm selbst und seinen Ministern betriebenen Oktroyierung der preußischen Verfassung 1848/50 stimmte er schließlich nur widerwillig zu, obwohl in dieser das königliche Amt als ein von Gott abgeleitetes bezeichnet wurde. Mehrere verfassungsändernde Gesetze stärkten in der Folgezeit die königlichen Machtbefugnisse wieder.55 Der überragenden Stellung des preußischen Königs stand ein schwaches, nach dem Dreiklassenwahlrecht gewähltes Parlament gegenüber.56 Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 begann im Spannungsfeld von konservativem Beharren und Reform von oben eine Zeit des Scheinkonstitutionalismus und der zweiten Restauration.57 Erst die Furcht vor den revolutionären Massen, später dann die Gewährung politischer Partizipation und ökonomischer Freiheit brachten das liberale Bürgertum dazu, sich mit der autoritär regierenden, aber an konstitutionelle Regeln gebundenen Monarchie zu arrangieren und im Rahmen parlamentarischer Vertretung selbst Herrschaftsträger zu werden. Das konservative Bürgertum vollzog diesen Kompromiss mit. Es bejahte die Monarchie bedingungslos, auch um den Preis der reaktionären Schwächung des Parlaments58. Anders als Friedrich Wilhelm IV. erkannte Kronprinz Wilhelm, der seinem Bruder als preußischer König nachfolgte, trotz seiner grundkonservativen Haltung früh die Zeichen der Zeit und vertrat einen gemäßigt-liberalen Konstitutionalismus.59 Während der charismatischen Kanzlerherrschaft Bismarcks trat er jedoch zunehmend in den Hintergrund.60 Wilhelm I., war wie sein Bruder vom monarchischen Gottesgnadentum überzeugt, was er symbolträchtig mit seiner Selbstkrö52 Zit. Kroll, Das geistige Preußen, S. 137. 53 Ebd., S. 56f., 136–138. Vgl. Kroll, Friedrich Wilhelm IV., S. 126–136; ders., Politische Romantik; Bußmann, Preußen und Deutschland, S. 117f.; Zucholt, Friedrich Wilhelm IV.; Barclay, König, S. 12–17; Baumgart, Friedrich Wilhelm IV., S. 222f., 230f.; Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 272–280. 54 Kroll, Das geistige Preußen, S. 63f.; Lammelt, Majestätsbeleidigung, S. 7; Bußmann, Preußen und Deutschland, S. 284–290; Baumgart, Friedrich Wilhelm IV., S. 229, 232f. 55 Baumgart, Friedrich Wilhelm IV., S. 228, 233. 56 Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 42, 44, 314–318; Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit, S. 88–124; Hahn, Neue Staatenwelt und Altes Reich. 57 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 2, S. 297; ebd. 3, S. 197–221; Kroll, Stufen und Wandlungen, S. 20f. 58 Kocka/Vogel, Bürgertum und Monarchie im 19. Jahrhundert. 59 Angelow, Wilhelm I., S. 252. Trotz kritischerer Bewertung auch Börner, Wilhelm I., S. 101– 109. 60 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 356, 363–376.
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nung in Königsberg 1861 demonstrierte. Wenngleich er mit dem Verzicht auf die traditionellen Huldigungszeremonien gleichzeitig dem Anachronismus der ständischen Vergangenheit eine Absage erteilte, befremdete die Krönung die Liberalen in Preußen und Deutschland.61 Durch die mit militärischem Gepränge und starker Präsenz der protestantischen Geistlichkeit veranstaltete Krönung und seinen Sieg im preußischen Verfassungskonflikt 1866 erhielt der König im konservativen Lager „einen beträchtlichen Reputationszuwachs“.62 Das Kaiserreich von 1871 erhielt eine Verfassung, die die Bundesfürsten faktisch zu „Mitinhabern des deutschen Kaiserthrones“63 machte und dem Kaiser im Exekutivbereich erhebliche Machtkompetenzen zusprach, während „in der Legislative ein dualistisches Zusammenspiel von Parlament und monarchischer Regierung notwendig war“.64
Als Inhaber monopolisierter Staatshoheitsrechte repräsentierte der Kaiser faktisch die Staatsgewalt. Die Reichsverfassung schuf ein kompliziertes politisches Gefüge aus hohenzollernschem Erbkaisertum, monarchisch-autoritärer Herrschaft und preußischer Suprematie, verbunden mit „föderalistischen, parlamentarischen und parteienstaatlichen Elementen“65, in der ein „Grundsatzkonflikt zwischen konservativer Monarchie und alten Machteliten einerseits, liberalem Parlamentarismus und demokratischen Kräften andererseits [bestand].“66
Nach der Reichsgründung wurde trotz gegenläufiger Tendenzen am preußischen Hof jeglicher Rückgriff auf die symbolischen Formen des Alten Reiches wie Krone und Krönung vermieden, um dem neuen kleindeutschen Kaisertum preußischer Prägung Raum zu geben. Nur in der antipäpstlichen Politik der Staufer vermochte man sich nach der Gründung des Kaiserreiches in nationalliberalen und konservativen Kreisen wieder zu erkennen, denn die vermeintliche Orientierung auf Italien und Rom war ja der Sündenfall des Alten Reiches und eine der Ursachen seines Scheiterns gewesen.67 Wilhelms Bezug zum Mittelalter blieb im Gegensatz zu seinem Vorgänger auf das Feld der Ästhetik beschränkt und ohne politische Konsequenzen, da er einem „borussisch-friderizianisch akzentuierte[n]
61 Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 403f.; Angelow, Wilhelm I., S. 254f.; Bußmann, Die Krönung Wilhelms I. am 18. Oktober 1861. 62 Zit. Kroll, Stufen und Wandlungen, S. 24; Richter, Kaiser Wilhelm I., S. 41f. Vgl. auch Gundermann, Via Regia, S. 95ff. 63 Zit. Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand, S. 223. 64 Zit. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 329. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918 2, S. 85–109; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 2–9, 65f.; Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit, S. 137–163; Althammer, Das Bismarckreich, S. 39-44. 65 Zit. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 356. 66 Zit. Ebd. Vgl. Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 290–298; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 355–376. 67 Ebd., S. 138f.; Bringmann, Das neue Deutsche Reich; Falk, Kaiserpfalz und Krönungsstadt, S. 51.
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6 Inkompatible Traditionen
Geschichtsbild“68 anhing, das einer Tradition des Nationalstaats im religiös fundierten mittelalterlichen Reich entgegen stand. Bemühungen um eine traditionale Legitimierung des Nationalstaates durch den Anschluss an das mittelalterliche Reich und seine Symbole gingen am preußischen Hof zunächst von Kronprinz Friedrich Wilhelm, dem späteren Friedrich III., aus. Es gelang ihm aber nicht, seinen Vater und Bismarck von seiner „Reichsnostalgie“69, die Bismarck abfällig als „Kaiserwahnsinn“70 bezeichnete, zu überzeugen. So musste die Verwendung des Goslarer Kaiserstuhls als Thron Wilhelms I. bei der Eröffnung des ersten deutschen Reichstages am 21. März 1871 ebenso eine Episode bleiben wie das erfolglose Eintreten des Kronprinzen für eine Kaiserkrönung seines Vaters in Frankfurt, Aachen oder Köln und die für diesen Zweck angestrebte Übergabe der in Wien aufbewahrten Reichskleinodien.71 Ganz im Gegensatz zur internen Diskussion am Hof erfüllte sich dagegen in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit mit der Reichsgründung die Prophezeiung der Kyffhäusersage. Der Mythos des Reiches war zu neuem Leben erwacht.72 Unter der Direktion Bismarcks und angetrieben von der allgemeinen Begeisterung über die Einigung der Nation stieg Wilhelm I. „zu einem Reichsmonarchen von hoher Autorität und Integrationskraft“73 auf. Mit der Proklamation des Kaiserreiches erwarb die preußische Monarchie einen weit über die Oberschicht hinaustretenden, bislang ungekannten Grad an Beliebtheit in einer vom Taumel des nationalen Pathos und vom Fortschrittsglauben getragenen Öffentlichkeit. Die doppelte Gleichung von der Nation als Träger des Fortschritts und der Monarchie als Träger der Nation wurde zum Vehikel der freiwilligen Zustimmung des zunehmend national gesinnten Bürgertums zur Königsherrschaft. Das bekannte Gemälde Anton von Werners, das die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles darstellt, symbolisiert den Ruhm des Kaisers als Einiger der deutschen Nation.74 Es versinnbildlicht zugleich, dass die Vollendung der Reichseinigung das Projekt des deutschen Hochadels geworden und der preußische König allein unter dieser Bedingung an die Spitze der Nation getreten war.75 Abseits inszenierter Politik konnte in Deutschland von einer tatsächlichen „Natio-
68 69 70 71 72 73 74 75
Zit. Kroll, Das geistige Preußen, S. 139. Zit. Bringmann, Das neue Deutsche Reich, S. 799. Zit. Ebd. Vgl. Kroll, Das geistige Preußen, S. 139–141. Kroll, Das geistige Preußen, S. 139–141; Kraus, Friedrich III., S. 268, 279; Bringmann, Das neue Deutsche Reich, S. 799. Weigand u.a., Keine Ruhe im Kyffhäuser; Büttner, Geschichte für die Gegenwart, S. 112; Schreiner, Friedrich Barbarossa, S. 536–563; Bringmann, Das neue Deutsche Reich, S. 796, 800–805. Zit. Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich, S. 30. Vgl. Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand, S. 228. Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 404; Angelow, Wilhelm I., S. 260. Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 181; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 440–449; Clark, Preußen, S. 625–634.
6.3 Ein schwieriger Dialog
255
nalisierung der monarchischen Idee“76 oder einer „integrale[n] Nationalmonarchie“77 wie in Italien keine Rede sein. 6.3 EIN SCHWIERIGER DIALOG. DIE REPRÄSENTATION UND KOMMUNIKATION DES PREUßISCHEN KÖNIGS IM KATHOLISCHEN AACHEN 6.3 Ein schwieriger Dialog Wie stellt sich nun der beschriebene Entwicklungsprozess vom preußischen zum nationalen Königtum im lokalen Raum Aachens dar? Im Folgenden soll diese Frage anhand der kommunikativen Praxis der Königsherrschaft analysiert werden, wie sie vorrangig bei den Monarchenbesuchen in Aachen und der Architektur von Münster und Rathaus erkennbar wird. Um die schwierige Annäherung zwischen dem preußischen Königtum und dem katholischen Aachener Bürgertum aufzuzeigen, sollen exemplarisch zwei bedeutende Repräsentationsakte aus der Anfangszeit der preußischen Herrschaft analysiert werden: ausführlicher die Aachener Huldigungsfeier bei der Eingliederung der Rheinlande in den preußischen Staat 1815 und in relevanten Punkten der Monarchenkongress von 1818. Danach soll gefragt werden, inwiefern die um 1840 einsetzende Restaurierung von Rathaus und Münster als Brücke zwischen den städtischen Eliten und der preußischen Monarchie gedeutet werden kann. Das Kapitel wird mit einer Darstellung der Vereinnahmung Karls des Großen in der Revolution von 1848/49 abgeschlossen, die aufzeigt, dass die geschichtspolitischen Bezugspunkte der Aachener Katholiken und der preußischen Monarchie nach wie vor weit auseinander lagen. 6.3.1 Die preußischen Könige als fremde Herrscher (1815–1858/62) 6.3.1.1 Die ständische Huldigungsfeier 1815 Nach dem überstürzten Rückzug der Franzosen und der Einnahme Aachens durch die Armeen der Verbündeten am 17. Januar 1814 wurde die Stadt zunächst wie die anderen eroberten Gebiete des Rheinlandes unter alliierte Zentralverwaltung gestellt.78 Am 14. Februar erfolgte die provisorische Errichtung des Generalgouvernements vom Niederrhein mit Sitz in Aachen.79 Nach der vorläufigen Verteilung der linksrheinischen Gebiete an die Besatzungsmächte schufen die Preußen 76 Zit. Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand, S. 231. 77 Ebd. 78 StAZ 18.1., 20.–24.1., 7.2., 11.2., 13.2., 15.2.1814; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9.59, S. 736f. Vgl. Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 94; Schütz, Preußen und das französisch-napoleonische ‚Erbeދ, S. 497; ders., Preußen und die Rheinlande, S. 19ff. 79 Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 15–67; Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 163–165, 681; Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 95; Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz, S. 69–85.
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6 Inkompatible Traditionen
Mitte Juni durch die Zusammenlegung von Gebieten das Generalgouvernement des Nieder- und Mittelrheins.80 Die fremde Besatzungsmacht sah die Überwindung der Relikte der französischen Herrschaft und die Annäherung an die rheinische Bevölkerung als ihre vordringlichen Aufgaben an. Bereits am 19. Januar verbot die Zentralverwaltung alle öffentlichen Gebete für Napoleon.81 Aufgrund der stürmischen Übergangszeit von der französischen zur preußischen Herrschaft wurde die Anniversarfeier zum tausendsten Todestag Karls des Großen am 28. Januar 1814 nicht begangen.82 Der am 10. März 1814 ernannte preußische Generalgouverneur Johann August von Sack83 und die beiden Aachener Kapitularvikare Fonck und Klinkenberg84 forderten zu Gebeten für die gefallenen Soldaten, Fürbitten für die alliierten Armeen und Danksagungen für deren militärische Siege auf. Zum Einzug der Alliierten in Paris am 31. März hielt man feierliche Gottesdienste ab.85 Am 18. Oktober 1814 feierte man den ersten Jahrestag der siegreichen Völkerschlacht bei Leipzig als nationalen Festtag mit einem Tedeum im Dom, einer Festpredigt in der evangelischen Kirche, einem ausgiebigen Festmahl sowie Freudenfeuern in der ganzen Stadt.86 Anfang 1815 machte der patriotische Dichter Ernst Moritz Arndt87 den Vorschlag, in Aachen einen vaterländischen Verein zu gründen zur „Verbannung und Vertilgung der französischen Art und Sprache, Belebung deutscher Art und Sinnes, Erweckung deutscher Kraft und Zucht und Erneuung der alten und jungen Erinnerungen, die unsere Geschichte verherrlichen“88.
Nach dem Bericht des Aachener Intelligenz-Blattes konstituierte sich die Versammlung am 17. Januar 1815, dem Jahrestag des Einzugs der Alliierten „in die
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Schütz, Preußen und die Rheinlande, S. 22. Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 45. Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 224. Über den Geheimen Staatsrat Johann August Sack (1764–1831) Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Beamten der Rheinprovinz, S. 707f.; Steffens, Johann August Sack; Schütz, Preußen und das französisch-napoleonische ‚Erbeދ, S. 497f.; ders., Preußen und die Rheinlande, S. 20 und Anm. 14; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 120. Auf den Aachener Bischof Jean Dénis François Camus (1752–1814), der nach dem Tode Berdolets im August 1809 das Aachener Bistum vom Oktober 1810 bis zu seiner Flucht am 16. Januar 1814 geleitet hatte, waren die Generalvikare Martin Wilhelm Fonck (1752–1830) und Michael Klinkenberg (1752–1822) gefolgt. Vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 304–306, Kat.-Nr. L 10–11, S. 630f.; Pauls, Bischof Le Camus und sein Gegensatz zum Generalvikar Fonck; Haas, Martin Wilhelm Fonck. HAE Köln BA, Nr. 46. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 122. Vgl. Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 52–65. Ernst Moritz Arndt (1769–1860) nahm an der Huldigungsfeier der Rheinlande am 15. Mai 1815 in Aachen teil und verfasste darüber eine patriotische Schrift mit dem Titel Ueber die Huldigung in Aachen. Weitere Besuche Arndts in der Stadt sind für 1799 und 1818 bezeugt. Vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 124. Zit. nach AIB Nr. 2 vom 26.1.1815, S. 7.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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Stadt Karls des Großen“.89 Die mit Preußenlob und nationaler Aufbruchsstimmung gepaarte Franzosenfeindschaft der Aachener Vaterlandsfreunde entsprach ganz dem Geist der Befreiungskriege. Als Pendant zu einem Männerbund, der „Deutschheit im ganzen Sinne des Worts fühlen und vaterländische Bildung, Wissenschaften und Kunstfleiß“ befördern sollte, gründeten Aachener Bürgerfrauen am 1. Mai 1815 einen Wohltätigkeitsverein zugunsten von freiwilligen „Vaterlands-Verteidigern“90. Die Aachener Zeitung rief zu einem affektiven Treuebekenntnis der Aachener Bürger auf: „Laßt uns immer daran denken, daß wir Deutsche sind, und uns stets des großen Wahlspruchs erinnern: ‚Mit Gott für König und Vaterland!“ދ91
Initiativen wie diese erfolgten nicht ohne Grund. Die Stimmung der Rheinländer in der Anfangsphase der preußischen Verwaltung war von Hoffnungen auf Reformen und Misstrauen gegenüber den neuen Landesherren gekennzeichnet. Die Mehrheit der Bevölkerung dachte deutsch, ohne sonderlich patriotisch zu sein. Zwar wünschte man allgemein den Anschluss an einen großen deutschen Staat, wie ihn Preußen verkörperte, doch viele Rheinländer verhielten sich unpolitisch und gleichgültig. Zahlreiche Klagen kamen von den Unternehmern und aus der Beamtenschaft, deren angebliche oder tatsächliche Frankophilie für die preußischen Behörden Anlass zu Besorgnissen gab, wie ein früher Stimmungsbericht des Generalgouverneurs vom September 1814 dokumentiert.92 Im benachbarten Köln mangelte es nach der Rückkehr Napoleons aus Elba Anfang März 1815 nicht an offenen Sympathiebekundungen von Napoleonanhängern und Franzosenfreunden, darunter lokale Amtsträger, die in ihren Ämtern verblieben waren, was nicht nur die preußischen Polizeibehörden nervös machte, sondern für Zwietracht innerhalb der über diese Frage offenkundig gespaltenen Bevölkerung sorgte.93 Der Gelehrte und Diplomat Alfred von Reumont beschrieb in seinen mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen verfassten Erinnerungen die Stimmung in Aachen folgendermaßen: „Die Zahl der Aachener, welche die Franzosen mit Leidwesen scheiden sahen, war nicht gross. Die Gewaltsamkeit des ganzen Systems war inmitten der entsetzlichen Menschenopfer der letzten Zeiten zum Unerträglichen gesteigert worden.“94
Im Gefolge des auf dem Wiener Kongress mühsam gefundenen Kompromisses über die territoriale Neuordnung der europäischen Landkarte annektierte Friedrich Wilhelm III. am 5. April 1815 jene rechts- und linksrheinischen Gebiete, welche das von der alliierten Zentralverwaltung geschaffene Generalgouvernement des Nieder- und Mittelrheins umfassten, und schloss sie im Großherzogtum Nieder89 Zit. nach Ebd. 90 Zit. AIB Nr. 27 vom 18.5.1815. 91 Zit. AZ Nr. 61 vom 18.5.1815. Vgl. zu der im Januar 1814 als Fortsetzung des Journal de la Roer gegründeten Aachener Zeitung Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 119. 92 Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 412, 442–461. 93 Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 99–103. 94 Zit. Reumont, Jugenderinnerungen, S. 49.
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6 Inkompatible Traditionen
rhein zusammen. Von einer Liebesheirat konnte keine Rede sein, vielmehr stellten die neuen rheinischen Territorien eine Kompensation für die von Preußen begehrten südlichen Gebiete Sachsens dar, die an Österreich gefallen waren.95 Zehn Tage später bestimmte eine Bekanntmachung Gneisenaus96 und Sacks, dass an den rheinischen Rats- und Gemeindehäusern der preußische Adler als Zeichen der neuen Landeshoheit angebracht werden sollte.97 Am 20. April verlas der im Amt verbliebene Aachener Oberbürgermeister von Guaita98 im Kaisersaal des Aachener Rathauses in Anwesenheit des Generalgouverneurs sowie „aller Civil- und Militair-Behörden“99 die feierliche Proklamation der Vereinigung der Rheinlande mit Preußen. Das Aachener Intelligenz-Blatt hob bei dieser Gelegenheit die historische Bedeutung des Saales hervor, „in welchem, nach der in der Kathedral-Kirche vollzogenen Krönungs-Ceremonie so vieler römischer Kaiser, die wichtigsten Reichsbeschlüsse erlassen wurden, die das Schicksal der verflossenen Jahrhunderte bestimmten.“100
Gleichzeitig verwies die Zeitung auf den bevorstehenden Endkampf mit Napoleon. Im Bewusstsein, am Anfang einer neuen Epoche mit der preußischen Monarchie zu stehen, rief sie die Aachener Bevölkerung dazu auf, an der Ausführung des großen, für das künftige Schicksal Europas entscheidenden Unternehmens mitzuwirken und das Vaterland endgültig vom fremden Joch zu befreien. Eine als Chronica bezeichnete lateinische Inschrift, die man eigens für die Zeremonie im Kaisersaal des Rathauses anbrachte, versicherte den im Kampf gegen Napoleon vereinten europäischen Fürsten, dem neuen Landesherrn Friedrich Wilhelm III., den im Feld stehenden Generälen und dem Generalgouverneur die einträchtige Verbundenheit der Stadt Aachen:
95 Schütz, Preußen und das französisch-napoleonische ‚Erbe, S. 499; ders., Preußen und die Rheinlande, S. 22f.; Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 85f.; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 123; Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz, S. 86– 98. Allgemein zur territorialen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress Langewische, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, S. 6–8; Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, S. 127–196; Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz, S. 28–56; Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, S. 126–135; Müller, Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, bes. zum polnisch-sächsischen Konflikt S. 10–15, 201–297. 96 Zum damaligen Generalleutnant und späteren Generalfeldmarschall August Wilhelm Anton Graf Neidhardt von Gneisenau (1760–1831) Teske, Gneisenau. 97 Poll, Preußen und die Rheinlande, S. 14; ders., Geschichte Aachens in Daten, S. 123. 98 Vgl. zu diesem oben Kap. 5.3.2. Guaita war seit 1808 Maire der Stadt und blieb nach dem Ende der französischen Herrschaft bis 1820 als Oberbürgermeister Stadtoberhaupt. Der Versuch der Preußen, ihn aus dem Amt zu entfernen, scheiterte 1818 an einer Bürgerinitiative. Vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, Kat.-Nr. E 15, S. 502; Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Beamten der Rheinprovinz, S. 485f.; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 120, 134. 99 Zit. AIB Nr. 18 vom 22.4.1815. Vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 124; Gielen, Aachen im Vormärz, S. 10–12. 100 AIB Nr. 18 vom 22.4.1815.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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UNITATI ET CONCORDIAE PRINCIPUM. / SCEPTRO FRIDERICI WILHELMI. / CIVITAS AQUENSIS CONCORDITER DEDITA. / GENERALISSIMO, PRINCIPI DE BLUCHER, AQUENSES. / MAGNO HEROI AC PRINCIPI DE WELLINGTON, AQUISGRANENSES. / BELLATORI STRENUO, GENERALI COMITI DE KLEIST, AQUENSES. / COLBERGAE HEROI, GENERALI COMITI DE GNEISENAU, AQUENSES. / CLARISSIMO GUBERNATORI GENERALI DE SACK, AQUISGRANENSES.101
Die zentrale Huldigungsfeier, mit der preußischer Tradition gemäß die Einverleibung des Rheinlandes in den preußischen Staat bekräftigt wurde, fand am 15. Mai 1815 in Aachen statt.102 Sack hatte den Termin bestimmt, da auf diesen das unter französischer Herrschaft als Feiertag abgeschaffte Pfingstfest fiel, nach dessen Wiedereinführung die katholische Bevölkerung nun auch für das staatliche Fest eingenommen werden sollte.103 Ansonsten war man an der Einbeziehung der Bevölkerung nur wenig interessiert. Es handelte sich um eine streng reglementierte Veranstaltung der Vertreter des preußischen Staates mit denen der soeben erworbenen Gebiete. Von Sack berief die Repräsentanten, „die Bürgermeister der Kantonsorte, je einen Vertreter aus jedem Kanton, Vertreter der Handelskammern, der Kirchen, der Justiz und der Erziehungs- und Bildungsanstalten“.104
Bis auf Geistliche und Militärs hatten alle Delegierten „in schwarzer Kleidung mit Degen und dreieckigem, mit der preußischen National-Kokarde verzierten, Hute“105
zu erscheinen. Die preußische Regierung hatte mit Bedacht Aachen, den Verwaltungssitz des Generalgouvernements, als Ort einer Huldigungsfeier gewählt, die man in die Krönungstradition des Alten Reiches zu stellen bemüht war: „Allein die Stadt Aachen vereinigt mit Alter, Grösse und schicklichem Local auch noch die ehrwürdige Eigenschaft einer Krönungsstadt der erhabensten Deutschen Regenten, indem nach Kaiser Karl dem Grossen allein 35 Deutsche Kaiser darin gekrönet worden, und sie verdient es also, nachdem seit 1717 keine Huldigung mehr daselbst stattgefunden, dass in ihren Mauern ein biederes Deutsches Volk dem biedersten der Könige den Eid der Treue schwöre.“106 101 AIB Nr. 18 vom 22.4.1815. 102 Schütz, Preußen und das französisch-napoleonische ‚Erbeދ, S. 500; ders., Preußen und die Rheinlande, S. 23; Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 44–49; Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 33f.; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9.60, S. 737f.; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 124; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 156–158 (mit Abb.); Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, S. 103f; Gielen, Aachen im Vormärz, S. 12–21; Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz, S. 98–103. 103 Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 44f. 104 Zit. Schütz, Preußen und die Rheinlande, S. 23. Vgl. Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 104, Anm. 270; Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz, S. 99f. 105 Außerordentliche Beilage zum JNM, Bd. 5, Nr. 56 vom 11.5.1815. 106 Bekanntmachung von Generalleutnant Graf von Gneisenau und Geh. Staatsrat Sack, Aachen, den 22.4.1815, abgedruckt in: Außerordentliche Beilage zum JNM, Bd. 5, Nr. 54 vom 24.4.1815, S. 399. Vgl. Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz, S. 98f., 101.
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6 Inkompatible Traditionen
Aachen und Karl der Große waren wegen des karolingisch verbrämten Napoleonkultes nicht unproblematisch, und so galt es, dieses Kapitel der Stadtgeschichte aus der Erinnerung zu tilgen. Insofern stellte die preußische Huldigungsfeier einen Kontrapunkt zur Vereinnahmung Aachens durch Napoleon dar. Bereits am Vortag der Huldigungsfeier hielt die Bürgermiliz im Dom die Weihe ihrer neuen, mit dem preußischen Adler verzierten Fahnen ab. Von Sack hatte darauf gedrungen, dass für die Rekrutierung der Miliz nur „die angesessenen und gewerbetreibenden, mit dem Staate also durch Vermögen und Gewerbe verknüpften Bewohner“107,
keinesfalls aber Angehörige der Unterschichten zugelassen werden sollten. Die nach diesen Kriterien ausgewählten Aachener Stadtsoldaten wurden mit einem eigenen Ritual dem König und dem preußischen Staat verpflichtet: Zunächst wurden im Dom ihre Fahnen, die mit entsprechenden Symbolen und Treuesprüche versehen waren, „nach alt-christlichem Gebrauch geweiht“.108 Nach dieser symbolischen Heiligung der Treuepflicht veranschaulichte von Sack der Bürgerwehr ihre vordringlichste Aufgaben: die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Innern und die Bekämpfung der Feinde des Vaterlandes.109 Im Bedarfsfall sollten die Milizionäre Unruhen niederhalten, was den Rückfall in das obrigkeitliche Denken der vornapoleonischen Zeit nachhaltig aufzeigt. Danach leisteten sie entsprechend der Verordnung vom 24. April einen Eid auf den preußischen König und riefen ein Lebehoch auf ihn aus. Um die nationalen Gefühle der neuen Untertanen zu vertiefen, spielte man abends auf der Schaubühne August Klingemanns patriotisches Drama Deutsche Treue110, dessen Titel wie die gesamte Zeremonie die Einmündung des vormodernen, rechtlich geprägten Treuediskurses in die moderne Treue-Ideologie anzeigt.111 Kanonendonner und Glockengeläut spendeten der Inszenierung ihren Segen. Den schon geleisteten Bekundungen nicht genug, brachten alle Anwesenden ein allgemeines Vivat Friedrich Wilhelm! aus.112 Am folgenden Tag begann der eigentliche Festakt um sieben Uhr morgens mit zwölf Kanonenschüssen vom nahe gelegenen Lousberg. In allen Aachener Kirchen sollten Predigten gehalten und ein Tedeum gesungen werden.113 Der Ablauf des Festes folgte dem von der Regierung erlassenen allgemeinen Programm für 107 Zit. Albert Huyskens, Wie die Rheinlande vor hundert Jahren zu Aachen dem Könige von Preußen huldigten, EdG vom 14.5.1915. Vgl. Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 34. 108 Zit. ‚Die Huldigungs-Feier in Aachen am 15. Mai 1815ދ, AZ Nr. 63 vom 23.5.1815. 109 AIB Nr. 28 vom 20.5.1815. 110 Zum Theaterleiter und Dramaturgen Ernst August Friedrich Klingemann (1777–1831) Kürschner, Klingemann. Die Aufführung ist Fritz, Theater und Musik in Aachen seit dem Beginn der preußischen Herrschaft 2, S. 260 unbekannt. 111 Buschmann/Murr, ‚Treue ދals Forschungskonzept, S. 29; Buschmann, Die Erfindung der Deutschen Treue. 112 Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13. Vgl. auch JNM, Bd. 5, Nr. 59 vom 18.5.1815, S. 486–489. 113 HAE Köln BA, Nr. 46.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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die erworbenen rheinischen Gebiete.114 Unter Glockengeläut marschierten um neun Uhr auf dem Markt, umgeben von einer großen Volksmenge, zwei Bataillone der Bürgermiliz auf. Eine Stunde später erschienen die königlichen Kommissare und die Deputierten der rheinischen Stände. Als Vertreter des abwesenden Königs, der sich noch beim Kongress in Wien aufhielt115, fungierten Generalgouverneur von Sack und in Vertretung des auf dem Feldzug gegen Napoleon in Belgien befindlichen Gneisenaus Generalmajor von Dobschütz, der inzwischen zum Militärgouverneur ernannt worden war.116 Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus war eine 100 Fuß lange und in der Mitte sechsundfünfzig Fuß breite Huldigungstribüne aus Holz aufgebaut worden. Auf der Tribüne hatte man in fensterartigen Öffnungen acht allegorische Figuren und Inschriften angebracht: Minerva als Ausdruck der Selbständigkeit, die Personifikationen von Recht und Religion, eine Muse als Sinnbild der Kunst, Allegorien des Handels und des Ackerbaus. Mars symbolisierte Rüstung und Krieg, während eine Inschrift unter einem Vorbehalt auf den Frieden verwies: „Friede dem friedlichen Nachbar!“117 In der Mitte dieses „Amphitheaters“118 – im Hintergrund ein am Rathaus angebrachter großer preußischer Adler – wölbte sich, getragen von zwei weißen korinthischen Säulen, die von zwei weiteren Preußenadlern gekrönt waren, ein Baldachin aus rotem Damast. Unter diesem Baldachin hatte man einen fünfstufigen Thron, gefertigt aus weißem, mit Gold durchwirktem Stoff, aufgestellt. Auf dem leeren Thronsitz stand ein Porträtgemälde, das dort als installiertes Staatsporträt die leibhaftige Person des Königs vertrat und dem im Huldigungszeremoniell die Veneration der Untertanen zuzukommen hatte. Diese Praxis der Stellvertretung (repraesentatio), der Anwesenheit des Fürsten in effigie, war seit der Frühen Neuzeit bei Festtagen in Reichsstädten durchaus üblich.119 Die bei der Huldigungszeremonie anwesenden Offiziellen, die Vertreter des preußischen Staates und der Monarchie, behandelten das Abbild wie die leibhaftige Majestät. Die Präsenz des Fürsten war bei dieser Huldigungsfeier neueren Typs nicht mehr 114 ‚Programm für die Huldigungs-Feierlichkeit des Großherzogthums Nieder-Rhein, so wie der Herzogthümer Kleve, Berg, Geldern, des Fürstenthums Mörs und der Grafschaften Essen und Werden, vom 15ten May 1815ދ, AIB, Nr. 26 vom 13. May 1815, S. 77f. 115 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 124; Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 403f., 413. 116 Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 104; Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz, S. 98; Poll, Preußen und die Rheinlande, S. 14; Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 43. 117 Zit. AZ Nr. 65 vom 27.5.1815. 118 Zit. ‚Programm für die Huldigungs-Feierlichkeit des Großherzogthums Nieder-Rhein, so wie der Herzogthümer Kleve, Berg, Geldern, des Fürstenthums Mörs und der Grafschaften Essen und Werden, vom 15ten May 1815ދ, AIB, Nr. 26 vom 13. May 1815, S. 77f., dort §11. 119 JNM, Bd. 5, Nr. 60 vom 20.5.1815, S. 493; AZ Nr. 65 vom 27.5.1815. Das Porträt war von dem Berliner Historienmaler Karl Wilhelm Kolbe (1781–1853) angefertigt worden. Über diesen vgl. Donop, Kolbe; Büttner, Geschichte für die Gegenwart, S. 104. Vgl. zum Staatsporträt Berns, „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“; Polleroß, Des abwesenden Prinzen Porträt, S. 394–407; Winkler, Bildnis und Gebrauch, S. 117–155; Reinle, Das stellvertretende Bildnis; Lemberg, Huldigung und Jubel.
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6 Inkompatible Traditionen
notwendig. Wie die Forschungen André Holensteins und Matthias Schwengelbecks ergeben haben, verloren in dieser Zeit die Huldigungen ihre frühere, den Rechtsakt auszeichnende reziproke Struktur. Jetzt waren sie nur noch einseitige, die Herrschaft des Monarchen legitimierende Akte, ausgeführt von den jeweiligen Repräsentanten des Herrschers und seiner Untertanen, die dem entpersonalisierten, säkularisierten Staats- und Herrschaftsverständnis der Moderne entsprachen.120 In Kenntnis der öffentlichkeitsscheuen Persönlichkeit Friedrich Wilhelms III. ist man zwar versucht, an einen Ausspruch Gneisenaus über den König zu denken, der nie wirklich auf seinem Thron gesessen habe.121 Tatsächlich wurde der entrückte König in Aachen als nationale, emotional angenäherte Symbolfigur inszeniert, wobei sich die Nation vorrangig „auf Preußen, zunehmend aber auch auf Deutschland“ bezog.122 In einem Halbkreis, dem Thron zugewandt, hatten die Geistlichkeit und die politischen Repräsentanten Aufstellung genommen. Der Blick auf die Majestätsikone sollte für die Zuschauer frei bleiben. Den reichsstädtischen Marktbrunnen mit der bronzenen Karlsfigur hatte man bereits symbolisch in die neue Herrschaft eingefügt, da er nun von zwei Postamenten flankiert war, an deren Spitze jeweils ein preußischer Adler seine ausgebreiteten Flügel schwang.123 Zu Beginn der Zeremonie entblößten die Versammelten ihr Haupt. In einer Festansprache pries Generalgouverneur von Sack die Vorteile der territorialen Eingliederung, verwies auf die gemeinsamen deutschen Wurzeln von Rheinländern und Preußen und versuchte, so etwas wie Aufbruchstimmung zu erzeugen. Die Beziehung zwischen Monarchie und Volk schilderte er als innige Verbrüderung zum gegenseitigen Vorteil. Der landesväterliche König gewähre seinen neuen Untertanen nicht allein seinen Schutz. Er biete ihnen darüber hinaus Bildung und die „heiligsten Güter des Lebens, Religion, Freiheit, Sicherheit der Person und des Eigenthums“.124 Aufklärung und Wissenschaft, so versprach von Sack, würden in Zukunft das rheinische Gewerbe und den Verkehr beleben. Der preußische Staat lasse über seine neuen Untertanen Gerechtigkeit walten, so dass ein Bund in wechselseitigem Vertrauen entstehe. Das Volk möge im Gegenzug öffentlich und „aus dem Innern seines Herzens und Gefühls, vor dem Angesicht des Allerhöchsten“125 der Majestät Treue und Gehorsam schwören. Eingehend wandte sich von Sack der 120 Holenstein, Die Huldigung der Untertanen, S. 479–503. 121 Brief Gneisenaus an den Freiherrn vom Stein vom 26. Juni 1811, zit. nach Stamm-Kuhlmann, Die Rolle von Staat und Monarchie, S. 273 und Anm. 50: „Der König steht immer neben dem Throne, worauf er nie gesessen.“ Auch die Parallele zum leeren Thron Karls des Großen auf der Empore der nahen Domkirche scheint den Zeitgenossen unbewusst gewesen zu sein. Entsprechende Assoziationen von Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 34f. sind deshalb wohl unzutreffend. 122 Zit. Gerd Fesser, Rezension zu Matthias Schwengelbeck, Die Politik des Zeremoniells [2007], in: ZfG 57 (2009), S. 168. 123 Temperagemälde des Huldigungsaktes von Friedrich Schirmer, abgedruckt bei Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 158. 124 Zit. AIB Nr. 29 vom 25.5.1815. 125 Zit. Ebd.
6.3 Ein schwieriger Dialog
263
historischen Bedeutung Aachens zu und spannte einen weiten Bogen vom christlichen Reich Karls des Großen und der Krönungsgeschichte des Alten Reiches zu Friedrich Wilhelm III. Unter den Auspizien des heiligen Karl wurde unter Zuhilfenahme einer politisch-religiösen Ästhetik die neue Verbindung zwischen dem Landesherrn und seinen Untertanen als ein heiliger Bund überhöht.126 Nach der programmatischen Rede von Sacks folgten als weitere feierliche Akte die Antwort des rheinischen Tribunal-Deputierten Fischenich127, die Verlesung der königlichen Vollmacht, der Substitutionsurkunde, der königlichen Proklamation und zuletzt der Patente über die Besitznahme des Rheinlandes durch Preußen. Schließlich leisteten alle anwesenden Deputierten einen Eid auf die preußische Monarchie.128 Ein mittelalterlich gekleideter Herold, „im deutschritterlichen Gewande, den Adler Preußens auf Brust und Rücken“129, verkündete dem Volk die vollzogene Huldigung. Darauf wurde ein Vivat! auf den neuen Landesvater ausgebracht. Das amtliche Journal des Nieder- und Mittel-Rheins zeichnet das von der neuen Obrigkeit gewünschte Bild einer geschlossenen Anteilnahme der Aachener Bürgerschaft, in die in gefälliger Geschichtsmetaphysik auch der Stadtpatron Karl der Große eingebunden wurde: „Die Bürger und Volksgruppen stimmten ein; aus allen Fenstern weheten weisse Tücher, das Zeichen der Theilnahme, herab, Trompeten schmetterten, Pauken wirbelten, und das Standbild Karl des Grossen über dem Springbrunnen schien wohlgefällig hinüberzuschauen nach seines edeln Nachkommen bildlichen Thron, den die Ersten und Besten des deutschen Volks am Rheine, ihre Huldigungen bringend und süsse Hoffnungen nährend, umstanden.“130
Danach bewegte sich ein Festzug – die beiden königlichen Gouverneure, der Herold, danach zwei Marschälle in schwarzen Kleidern, mit Degen und adlerverzierten Marschallstäben, die Geistlichkeit und die Deputierten, begleitet von zwei Husarenregimentern und der Gouverneurmiliz – zum Münster. Auf dem letzten Teil des Weges bildete ein Bataillon Gouvernementsoldaten Spalier. Am Eingang der Kirche wurden von Sack und von Dobschütz vom gesamten Domkapitel, angeführt von Generalvikar Fonck, empfangen. Die Deputierten nahmen im Oktogon Platz, wo Fonck eine Rede hielt. Eindringlich erinnerte er an die Geschichte des mehr als tausend Jahre zuvor von Karl dem Großen gegründeten Gotteshauses,
126 Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13; JNM, Bd. 5, Nr. 60 vom 20.5.1815, S. 493 und AIB Nr. 29 vom 25.5.1815. 127 Zu Bartholomäus Fischenich (1768–1831), ehemaliger Präsident des Aachener Tribunals (ernannt 1811), seit Ende Dezember 1814 Leiter des Assisenhofes des Gouvernements Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 122. 128 Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13. Die Stadt-Aachener Zeitung enthielt sich an dieser Stelle ihres Berichts nicht eines franzosenfeindlichen Kommentars und grenzte die deutschen Männer „mit reinem Gemüt“ von den „stets eidfertigen Galliern“ ab. Zit. AZ Nr. 67 vom 1.6.1815. 129 Zit. AZ Nr. 67 vom 1.6.1815. 130 Zit. JNM, Bd. 5, Nr. 61 vom 23.5.1815, S. 505 Vgl. AZ Nr. 67 vom 1.6.1815.
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6 Inkompatible Traditionen „in welchem sechs und dreißig Kaiser gekrönt sind und worin alle künftigen Kaiser, in Folge der durch die goldene Bulle bestätigten Privilegien, sollten gekrönt werden.“131
In diesem „gottgeweihten Tempel“ ruhten, so Fonck, „die Gebeine seines kaiserlichen Stifters [...], die wir noch täglich mit Ehrfurcht verehren“.132 Stolz verwies er darauf, dass die Marienkirche nicht allein die „Zerstörungs-Zeit“133 überstanden habe, sondern „durch eine besondere Schickung Gottes zur Cathedrale erhoben“134 sei. Damit benutzte er geschickt den Verweis auf die Bistumsgründung in napoleonischer Zeit als Argument zur weiteren Förderung der Aachener Kirche unter preußischer Herrschaft. Auch unter dem neuen König sollte nach bewährtem Prinzip die traditionale Legitimierung und Segnung monarchischer Herrschaft im Austausch für kirchenpolitische Zuwendungen erfolgen. In diesem Sinne brachte Fonck die „heißeste[n] Wünsche“135 auf das Wohl der königlichen Majestät aus und erneuerte die dem König entgegengebrachte „Herzens-Huldigung“136 mit besonderem Verweis auf den „heiligen Ort“137, der Grabstätte Karls des Großen. Den neuen Landesherrn bat er um die Befestigung und den Schutz der christlichen Religion.138 Nach Beendigung der Ansprache bewegte sich der Zug durch ein Militärspalier in den Chor, wo der Gottesdienst abgehalten wurde.139 Danach wurden die königlichen Kommissare vom Stiftskapitel zum Haupttor der Kirche zurückgeleitet und von dem dort wartenden Wappenherold empfangen.140 Schließlich kehrte der Festzug ins Rathaus zurück, wo die Huldigungsurkunde unterzeichnet und die Reverse ausgehändigt wurden. Die Gouverneure fuhren danach noch zur Anstalt des Theresianerstiftes, wo zwei Mädchen eine „artige Rede“141 hielten und die Armen gespeist wurden, wie dies an Festtagen in Preußen üblich war. Danach erfolgte eine Krankenspeisung im Militärspital. Ein protestantischer Brigadeprediger namens Mann hielt dort in einem aus Trommeln gebildeten Predigtstuhl eine Ansprache vor den Soldaten des preußischen 29. Regiments und den Kranken des Spitals.142 In Anspielung auf die mit Aachen verbundene imperiale Herrschaft verwies er auf die
131 Zit. Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13. Vgl. JNM, Bd. 5, Nr. 62 vom 25.5.1815, S. 515; AIB Nr. 31 vom 1. Juny 1815, S. 88. 132 Zit. Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13. 133 Zit. Ebd. 134 Zit. Ebd. 135 Zit. Ebd. 136 Zit. Ebd. 137 Zit. Ebd. 138 Ebd. Vgl. JNM, Bd. 5, Nr. 62 vom 25.5.1815, S. 515; Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 44. 139 AZ Nr. 67 vom 1.6.1815. 140 Ebd. 141 Zit. AZ Nr. 68 vom 3.6.1815. 142 Ebd.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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„alte deutsche Stadt, vor einem Jahrtausend noch der Stuhl und Thron des größten christlichen Fürsten, die Lust und Wonne Kaiser Karls des Großen, vor dessen Scepter hier sich das ferne Morgenland beugte.“143
Der „alte heilige Dom“144 mit dem Grab Karls des Großen ließ er als Ausgangspunkt des christlichen Glaubens, Aachen als Ursprungsort der deutschen Nationalgeschichte erscheinen.145 Mit der französischen Herrschaft verband er dagegen eine Zeit des Niedergangs und fremdländischer Tyrannei.146 Der deutsche Mut der preußischen Helden und Krieger habe das Rheinland wiedergewonnen und – wie er in Anspielung auf die Ehe als Zentralbestand des bürgerlichen Wertehimmels feststellte147 – mit dem Vaterland in Liebe und Treue vermählt. Damit sei auch Aachen wieder erhöht und der neuen Schutzgemeinschaft zugefügt worden.148 Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den „Feind der Freiheit“149 – gemeint war natürlich Napoleon – müsse ein heiliger deutscher Bund zwischen dem Volk, den Rheinländern, und dem preußischen „Heldenkönige“150 geschlossen werden. Am späten Nachmittag fanden sich im Rathaus annähernd 400 geladene Gäste zum festlichen Empfang ein, vornehmlich die angereisten rheinischen Delegierten und die Vertreter der lokalen Eliten aus Stadtgemeinde, Klerus und preußischer Verwaltung. Die Wände des Kaisersaales waren mit den Gemälden der Gesandten des Aachener Friedenskongresses von 1748151 geschmückt. Festliche Musik erklang. Zwei Tafeln, die über die gesamte Länge des Saales verliefen, waren aufgebaut worden. Am unteren Ende saßen die beiden königlichen Gouverneure. Als Tafelschmuck und Trinkgefäß fand mit dem barocken Marktbrunnenpokal ein wichtiges Symbol der ehemaligen Reichsstadt Verwendung.152 Die Versammlung brachte ein Vivat und Hochrufe auf den König, den Kronprinzen und die übrigen Prinzen und Prinzessinnen aus. Auf die Rheinprovinz und ihre Bewohner wurde 143 Zit. Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13. Vgl. JNM, Bd. 5, Nr. 63 vom 27.5.1815, S. 525 und AIB Nr. 32 vom 3.6.1815. 144 Zit. Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13. 145 Ebd.; JNM, Bd. 5, Nr. 63 vom 27.5.1815, S. 525; AIB Nr. 32 vom 3.6.1815. 146 Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13; JNM, Bd. 5, Nr. 63 vom 27.5.1815, S. 525; AIB Nr. 32 vom 3.6.1815. 147 Frevert/Schreiterer, Treue. 148 Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13; JNM, Bd. 5, Nr. 63 vom 27.5.1815, S. 525 und AIB Nr. 32 vom 3.6.1815. 149 Zit. AIB Nr. 32 vom 3.6.1815. 150 Zit. Ebd. 151 Kraus, Europa sieht den Tag leuchten. 152 Quadflieg, Die Herkunft des Marktbrunnenpokals, S. 54; Vgl. zu diesem Tafelaufsatz des Aachener Goldschmieds Dietrich von Rath von 1624, eine freie Nachbildung des Aachener Marktbrunnens mit der Figur Karls des Großen und der eingravierten mittelalterlichen Hymne ‚Urbs Aquensisދ, Grimme, Das Suermondt-Museum, S. 344f.
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6 Inkompatible Traditionen
ebenfalls ein Toast ausgesprochen. Zum Zeichen martialer Bekräftigung ertönten 24 Kanonenschüsse.153 Am Abend wurde im Schauspielhaus Kleists historisches Ritterdrama Käthchen von Heilbronn aufgeführt.154 In der Neuen Redoute war zum Ball geladen. Nach dem Vorbild der Huldigungsfeiern der reichsstädtischen Zeit wurden vor dem Adalberttor zum Staunen des einfachen Volkes Feuerwerkskörper abgefeuert. Derweil war das Rathaus hell erleuchtet. Der Schein der Lichter fiel auf das zurückgelassene Bild des Königs auf dem Thron der Holztribüne.155 Deutlicher hätte die Distanz des preußischen Monarchen zu seinen feiernden neuen Untertanen kaum symbolisiert sein können. Mit der Illumination und Ausschmückung der Aachener Häuser sollte die geschlossene und freiwillige Begeisterung der Bevölkerung manifestiert werden. An nahezu allen privaten und öffentlichen Gebäuden waren Leuchtkörper befestigt, besonders prächtige an den Häusern des Generalgouverneurs von Sack und des Militärgouverneurs von Dobschütz, wo noch dazu ein zur Sonne fliegender Adler angebracht war. Er trug die Umschrift: Non soli cedit (Er weicht der Sonne nicht).156 An der alten Redoute war hoch in der Mitte das von Friedrich Wilhelm III. gestiftete Eiserne Kreuz mit der Inschrift angebracht: „Mit Gott für König und Vaterland. 1813.“157 Unter dem Kreuz standen die Worte: „Wollt Ihr wieder im Zeichen des Kreuzes besiegen den Wüthrich, Schwebe vor Augen Euch stets das eiserne Kreuz.“158
Preußische Fahnen waren von den Aachener Bürgern offenbar nicht aufgehängt worden. In den Fenstern der Bürgerhäuser konnten die Passanten allerdings Lobsprüche auf den preußischen Monarchen, Porträts und Büsten des Königs mit schwebendem Adler und Lorbeerkranz, Allegorien mit eisernem Kreuz und Huldigungssprüche betrachten. Auch beleuchtete Gemälde mit Allegorien auf das große Ereignis mit der Ansicht der Stadt Aachen im Hintergrund fehlten nicht.159 Selbst die Ärmsten hätten, so die Aachener Zeitung, in den Fenstern ihrer Häuser beleuchtete Transparente und Kerzen aufgestellt. Viele Häuser seien beleuchtet worden, „die bei angeordneten Erleuchtungen unter der französischen Regierung dunkel geblieben waren.“160 Dass nur ein einziges Haus in der Großkölnstraße unbeleuchtet geblieben war, konnte sich der Berichterstatter des Journals des Nieder- und Mittel-Rheins nur mit der gänzlichen Armut oder der Abwesenheit des Besitzers erklären.161 Auch die jüdische Gemeinde feierte die Huldigung in ihrer Synagoge. Aus Krefeld und Bonn angereiste Oberrabbiner hielten Festan153 AZ Nr. 70 vom 8.6.1815. 154 Fritz, Theater und Musik in Aachen seit dem Beginn der preußischen Herrschaft 1, S. 167– 177, 260 behandelt auch diese Aufführung nicht. 155 JNM, Bd. 5, Nr. 64 vom 30.5.1815, S. 540–542. 156 AZ Nr. 72 vom 13.6.1815, Beilage. 157 Zit. nach AZ Nr. 6 vom 18.5.1815; AZ Nr. 72 vom 13.6.1815, Beilage. 158 Zit. nach Ebd. 159 AZ Nr. 6 vom 18.5.1815; AZ Nr. 72 vom 13.6.1815, Beilage. 160 Zit. AZ Nr. 72 vom 13.6.1815. 161 JNM, Bd. 5, Nr. 64 vom 30.5.1815, S. 541f. Vgl. AZ Nr. 72 vom 13.6.1815.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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sprachen, was anzeigt, dass die Vertreter der jüdischen Gemeinde in die Staatsfeiern einbezogen sein wollten.162 Die Kriegszeiten und der Herrschaftswechsel gaben allen Anlass, allgemeine Geschlossenheit zu demonstrieren. Solange die Bindung zum preußischen Monarchen noch innerlich fragil war, musste das gemeinsame Feindbild beschworen werden: Anlässlich der Staatsfeier wurde die am 2. April aus Freude über den Sturz Napoleons umgeworfene Pyramide zum Zeichen der „Deutschen WiederGeburt“163 wieder aufgerichtet, wobei man eine neue Inschrift anbrachte: „Gallischem Uebermuthe einst geweiht, / mit dem Tyrannen zugleich gestürzt, / am 11. April MDCCCXIV; / Wieder errichtet der Wissenschaft / Und deutscher Kraft, / am Tage der feierlichen Huldigung / der preußischen Rheinländer, / am XV. Mai MDCCCXV.“164
Offenkundig sollte auch in der Denkmalssymbolik ein Schlussstrich unter die französische Vergangenheit gezogen werden. Begleitet wurde die Huldigungsfeier von einer wahren Flut von Propagandaartikeln in der örtlichen Presse und Publizistik. Ernst Moritz Arndt sprach im Journal des Nieder- und Mittel-Rheins als Augenzeuge der Huldigungsfeier in völkisch-nationalem Pathos von einer heiligen „Verlobung und Vermählung“165 von Rheinländern und Preußen, geschlossen am heiligen Ursprungsort germanischer Zukunft und auf den Ruinen einer fremdländischen Tyrannei.166 Ein anonymer Dichter stellte Friedrich Wilhelm als Erben des Nachruhms Karls des Großen und Friedrichs des Großen dar. Am „Lieblingsort[e]“ Karls des Großen, dem „Kaisersitz“ Aachen, habe das deutsche Volk der Rheinländer, die im Kriege gegen „Frankreichs Auswurf“ geeint und zum „Vaterstamm zurück gekehrt“167 seien, dem guten und heldenhaften König Friedrich Wilhelm die Treue geschworen. Ausgerechnet der Gelegenheitsdichter Johann Gerhard Joseph von Asten, der in den Jahren zuvor mehrere lateinische Gedichte auf Napoleon verfasst hatte168, schrieb zur Huldigungsfeier von 1815 ein achtstrophiges Lobgedicht, in dem er den preußischen König der Aachener Bürgerschaft und insbesondere den Armen als gütigen und mildtätigen Landesvater anpries.169 Der in napoleonischer Zeit bezüglich der Aachener Reichskleinodien hervorgetretene städtische Archivar Karl Franz Meyer der Jüngere verfasste einen erhebenden Bericht der Feierlich-
162 AZ Nr. 64 vom 25.5.1815. 163 Zit. Druckschrift ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15ten Mai 1815ދ, Aachen o.J., GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 13. 164 Zit. Ebd. Vgl. JNM, Bd. 5, Nr. 64 vom 30.5.1815, S. 542. Vgl. auch die Interpretation von Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 35. 165 Zit. E.M.A. [Ernst Moritz Arndt], ‚Die Huldigung in Aachenދ, in: JNM, Bd. 5, Nr. 62 vom 14.5.1815, S. 476. 166 Ebd., S. 476–478. 167 Alle Zit. Anonymus, Elisium, JNM, Bd. 5, Nr. 58 vom 16.5.1815, S. 482f. 168 Siehe oben Kap. 5.3.3. 169 Text bei Krüssel, Horatius Aquisgranensis, S. 44. Über spätere Chronogramme von Astens auf Friedrich Wilhelm III. Krüssel, Chronogramme, S. 113f.
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6 Inkompatible Traditionen
keiten.170 Offensichtlich hatten die Mitglieder der Aachener Verwaltungselite die Zeichen der Zeit erkannt. Die preußischen Behörden waren mit dem Ablauf des Huldigungsfestes, der Beteiligung der Bevölkerung und der durch die Bürgermiliz gewährten Ordnung insgesamt zufrieden.171 Bereits am 25. Mai 1815 wurde im Kaisersaal des Rathauses zum Andenken an die Huldigungsfeier ein ausgiebiges Mittagsmahl gefeiert, bei dem die höchsten Behörden und angesehene Zivil- und Militärpersonen anwesend waren. Dabei brachten die Anwesenden zur Bekundung der Dankbarkeit ein Lebehoch auf den König, den „geliebten Vater“172, aus. Kritik gegen den Ablauf der Huldigungsfeier kam hingegen aus den Reihen der national und liberal denkenden Intellektuellen.173 Der bergische Liberale Johann Friedrich Benzenberg174 bezeichnete sie als „französisches Fest“175, auf dem sich die allein durch Beamte vertretene preußische Regierung selbst gehuldigt hätte. In der Tat war das Rahmenprogramm der Volksbelustigung derart dürftig geblieben, dass die Bevölkerung, wie gegen Ende der Franzosenzeit, kaum mobilisiert werden konnte.176 Und auch Joseph Görres monierte das Fehlen gewählter Deputierter und ließ die Feiern im Rheinischen Merkur nur als „formale Ceremonie“ gelten, bei der „eigentlich gewählte ständische Stellvertreter“177 gefehlt hätten. Treffender können die Mängel der ganz auf die Verpflichtung der rheinischen Untertanen auf die neue Obrigkeit abzielenden Huldigungsfeier von 1815 kaum gekennzeichnet werden. Es handelte sich um eine verordnete, streng reglementierte und sterile Feier. Dem abwesenden König wurde als neuem Landesherrn pflichtgemäß die Huldigung zuteil. Über die innere Zuneigung der neuen Untertanen gibt sie keinerlei Aufschluss. Mit der Feier werden manche Hoffnungen und freudige Erwartungen der Bevölkerung verbunden gewesen sein. Manche von der Presse hervorgehobene Loyalitätsbekundung dürfte dem Konformitätsdruck und opportunistischen Gründen nach dem Herrschaftswechsel entspringen. Die lokalen Eliten versuchten, die Huldigungsfeier als Bühne zur Kommunikation ihres überkommenen, auf Karl den Großen und die Krönungsgeschichte Aachens zugeschnittenen Symbolsystems zu nutzen und dieses rasch den veränderten Herrschaftsverhältnissen anzupassen. In dieses Bild passt auch die Mission einer aus vier Ratsherren bestehenden Aachener Gesandtschaft, die dem preußi170 STA Aachen RK I-1. Vgl. über Karl Franz Meyer den Jüngeren oben Kap. 5.3.2. 171 Mitteilung des Generalgouverneurs von Sack an den Aachener Oberbürgermeister Cornelius von Guiata, veröffentlicht in der AZ Nr. 62 vom 20.5.1815. 172 Zit. AZ Nr. 65 vom 27.5.1815. 173 Vgl. die Reaktionen in LHA Koblenz 355, Nr. 3. 174 Über den Physiker und Publizisten Johann Friedrich Benzenberg (1777–1846) Gollwitzer, Benzenberg und die bei Schütz, Preußen und die Rheinlande, S. 23f., Anm. 44 zit. Literaturtitel. 175 Zit. nach Poll, Preußen und die Rheinlande, S. 14. 176 Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 48. 177 Rheinischer Merkur vom 5.5.1815, zit. nach Poll, Preußen und die Rheinlande, S. 14f. Vgl. zur Bedeutung des Rheinischen Merkur für die Meinungsbildung bis zum Verbot im Rheinland durch die preußischen Zensurbehörden Anfang 1816 Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 419–430.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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schen König am 12. Juni 1815 in Wilhelmsbad bei Hanau eine Huldigungsadresse der Stadt Aachen überreichten. Diese griff wie selbstverständlich den alten Rang Aachens als „alte deutsche Reichs- und deutsche Kaiser-Krönungsstadt“178 wieder auf und erinnerte an die zurückliegende Huldigungsfeier als Ausdruck des „deutschen Patriotismus“179. Von ihrer Zukunft unter preußischer Herrschaft erwarteten die selbstbewussten Aachener die Fortsetzung ihrer Aufwertung unter napoleonischer Herrschaft: „Aachen wird eine der Hauptstädte des preußischen Reichs sein; unsere vortrefflichen Fabriken und Manufakturen werden geschützt, belebt und blühend sein; unsere Bäder werden im Genusse des dauerhaftesten Friedens besucht werden; so wird Aachens alter Wohlstand wiederhergestellt und uns kein anderer Wunsch übrig bleiben als: Gott erhalte den König!“180
Die Delegierten baten den König konkret, die Stellung Aachens als Gouvernementssitz zu erhalten, freie Einfuhr Aachener Tuche nach Russland sowie den Bau eines neuen Stadttheaters beim ehemaligen Kapuzinerkloster181 zu gewähren. Als Führer der Delegation wurde der Advokat Josef Geuljans vom König persönlich ausgezeichnet.182 Doch sollte den Aachenern die Erfüllung ihrer kühnen Wunschträume, die so gar nicht der abwartenden Haltung der Bevölkerung entsprachen, versagt bleiben. Friedrich Wilhelm III. war kein Monarch, der sich durch die Schmeicheleien von Untertanen soeben annektierter Gebiete beeindrucken ließ. 6.3.1.2 Gescheiterte Repräsentation: der preußische König auf dem Aachener Monarchenkongress Die Integration der katholischen rheinischen Stadt in den protestantisch geprägten preußischen Staat schuf in der Folgezeit erhebliche Probleme. Die erste Anfangseuphorie über die Befreiung war rasch verflogen. Von nicht wenigen Aachenern wurde schon bald die preußische Herrschaft „wie eine Art Fremdherrschaft empfunden.“183 Die Leserzuschrift eines Aachener Bürgers, die im Oktober 1815 in den Rheinischen Blättern erschien, gab offen die Gründe dafür an: „Hier ist alles unzufrieden, und das aus einer ganz natürlichen Ursache. 1) Den hiesigen Manufacturerzeugnissen ist der große Markt in Frankreich verschlossen, den sie früher hatten; 2) 178 179 180 181 182
Zit. JNM vom 4.7.1815, zit. nach Gielen, Aachen im Vormärz, S. 18. Zit. Ebd. Ebd. Dazu Fritz, Zur Baugeschichte des Aachener Stadttheaters, S. 20ff. Albert Huyskens, Wie die Rheinlande vor hundert Jahren zu Aachen dem Könige von Preußen huldigten, EdG vom 14.5.1915; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 124; Gielen, Aachen im Vormärz, S. 17f. Ein anderes Mitglied der Delegation, der Kaufmann Peter von Fisenne (1771–1855), hatte als Mitglied des Munizipalrats im Februar 1813 eine Ergebenheitsadresse an Napoleon und im November 1813 eine besondere Ergebenheitsadresse an Josephine unterschrieben. Vgl. Arens/Janssen, Geschichte des Club Aachener Casino, Nr. 110, S. 121. 183 Zit. Reumont, Jugenderinnerungen, S. 51.
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6 Inkompatible Traditionen die vielen französischen Beamten wurden nicht alle wieder eingestellt; 3) ist freilich das preußische Exemtions- und Regierungswesen ein kollegialisches Hin- und Hergeschiebe zwischen Central- und Circumferenz Punkten, woraus nicht selten ein leeres Strohgedresche entsteht.“184
Nachteilig wirkte sich neben der politischen Teilung des zuvor einheitlichen Wirtschaftsraumes im Westen die Krise der Eisen schaffenden und verarbeitenden Industrie aus.185 Weitere Ursachen bestanden im teilweise noch nachwirkenden Reichsbewusstsein der konservativen lokalen Eliten, in politisch-kulturellen Einflüssen der französischen Herrschaft auf die fortschrittlich-liberalen Kräfte und in den Sympathien vieler katholischer Aachener für Österreich und das Haus Habsburg, insbesondere für Kaiser Franz I., der von weiten Kreisen in der ehemaligen Reichsstadt als der „eigentliche Repräsentant Deutschlands“186 angesehen wurde. Die von der lokalen Bürokratie umgesetzte reaktionäre Politik der preußischen Regierung wurde auf politischem, wirtschaftlichem und konfessionellen Gebiet als repressiv empfunden.187 Vor allem Unternehmer und Verwaltungsbeamte hatten von der Liberalisierung unter französischer Herrschaft profitiert. Für manch einen war der Übergang zu Preußen mit dem Verlust der sozialen Stellung und beruflichen Existenz verbunden. Die offenkundigen Schwierigkeiten der neuen Landesherren in der Anfangsphase ihrer Herrschaft im Rheinland, mit ihren politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen die Bevölkerung für sich zu gewinnen, mündete in eine weitere Verschlechterung der Stimmungslage ein, als die Behörden in der Hungerkrise 1816/17 versagten.188 Zudem führten die anlässlich der Feier des Reformationsjubiläums 1817 zu Tage getretenen konfessionellen Unterschiede zu Konflikten zwischen preußischer Regierung und rheinischer Bevölkerung.189 Um dem entgegen zu wirken, richteten sich die preußischen Integrationsbemühungen zunächst auf das Schulwesen. In den Aachener Schulen sollte nach einem Erlass vom Dezember 1815 an deutschen und vaterländischen Festtagen unterrichtsfrei sein. Dies galt für den 28. Januar, den Festtag Karls des Großen, den 15. Mai, den Huldigungstag der Provinzen, den 3. August, den Geburtstag des Königs und den 18. Oktober, den Feiertag des Sieges bei Leipzig. An diesen Tagen sollten Lehrer und Schüler die Ereignisse mit nationalen Reden verherrlichen. 184 Rheinische Blätter vom 10.10.1816, zit. nach Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 432. Vgl. Kraus, Auf dem Weg in die Moderne, S. 164f.; Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 87; Poll, Preußen und die Rheinlande; Poll, Das Hineinwachsen der Rheinländer in den preußischen Staatsverband; Faber, Die kommunale Selbstverwaltung in der Rheinprovinz; Vierhaus, Preußen und die Rheinlande; Hauser, Die Eingliederung der Rheinlande in Preußen; Schütz, Die Aachener Oberbürgermeister der Bismarckära; Schnelling-Reinicke, Aachen – die Stadt des Königs, S. 740–742. 185 Thomes, 1804–2004. 200 Jahre mitten in Europa, S. 36–39; Schainberg, Frühindustrialisierung im Aachener Raum, S. 39f., 44f. 186 Zit. Reumont, Jugenderinnerungen, S. 51–59, Zit. S. 59. 187 Poll, Das Hineinwachsen der Rheinländer in den preußischen Staatsverband, S. 16f. 188 Koltes, Das Rheinland zwischen Frankreich und Preußen, S. 466–473; Büschel, Untertanenliebe, S. 20f. und Anm. 40; Gielen, Aachen im Vormärz, S. 25–30. 189 Brecher, Oberpfarrer L. A. Nellessen, S. 90–96.
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Die nähere Gestaltung der Feiern blieb den Direktoren überlassen.190 Als Aachen am 22. April 1816 dauerhafter Sitz eines preußischen Regierungspräsidenten wurde, bewahrte die Stadt damit ihre in französischer Zeit erworbene Bedeutung als Verwaltungsstadt.191 Allerdings stieg das zentraler gelegene Koblenz zum Sitz des weisungsbefugten preußischen Oberpräsidenten auf, so dass der Aufwertung Aachens Grenzen gesetzt wurden.192 Der Verlauf des Monarchenkongresses im Herbst 1818193 spiegelt die geschilderten Schwierigkeiten der Regierung bei der Integration des Rheinlandes und Aachens in den neuen Staat nur allzu deutlich wider. Hierzu nur einige markante Beobachtungen. Bereits zu Beginn des Kongresses wurde Friedrich Wilhelm III. trotz großem Gefolge von der Aachener Bevölkerung ein eher höflicher Empfang bereitet, während sie Kaiser Franz I. von Österreich stürmisch umjubelte und Zar Alexander I. freundlich aufnahm.194 Der Zar soll angesichts des Jubels um den österreichischen Kaiser verwundert ausgerufen haben: „Hier ist jeder Stein auf der Straße ja österreichisch!“195 Nicht nur war das äußere Erscheinungsbild Friedrich Wilhelms III. wenig einnehmend, auch sein Auftreten in der Öffentlichkeit war missmutig und glanzlos, was es ihm erschwerte, die Herzen seiner Untertanen zu gewinnen. Der Monarchenkongress bot den Aachenern die Möglichkeit, auf die Vorzüge Aachens als Kur- und Badestadt, der Metternich übrigens nur wenige „Ressourcen“196 zubilligte, hinzuweisen und die historische Tradition der Stadt zu rühmen. Der Aachener Stadtarchivar Karl Franz Meyer der Jüngere beschrieb dies als Augenzeuge folgendermaßen: „Die Stadt Aachen dachte sich jenen alten Glanz wieder zurück, welcher zur Zeit ihres verewigten Stifters, Karl des Großen, nach allen Richtungen der Erde aus ihrer hohen Pfalz hin190 JNM Nr. 153 vom 23.12.1815, S. 1181. Vgl. Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 52–76; Schroeder, Funktion und Gestalt des patriotischen Schulfestspiels, S. 11-13. 191 Schütz, Preußen und das französisch-napoleonische ‚Erbeދ, S. 501; ders., Preußen und die Rheinlande, S. 26; Gerschler, Aachen als Sitz staatlicher Verwaltungsbehörden; Fehrmann, Von der Gründung der Regierung zu Aachen, S. 433–436. Über den ersten Regierungspräsidenten August von Reiman (1771–1847, amt. 1816–1834) Poll, Regierungspräsident August von Reiman. 192 Poll, Preußen und die Rheinlande, S. 15; Schütz, Preußen und die Rheinlande, S. 26. 193 Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 428f.; Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, S. 11; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 130– 133; Schaeder, Autokratie und Heilige Allianz, S. 90f.; Gielen, Aachen im Vormärz, S. 31– 42; Quellenabdruck der Beschlüsse bei Näf, Europapolitik, S. 34–42. In Aachener Perspektive: STA Aachen, RK, I-13d, Vol. 1–3, Der Congreß in Aachen; Meyer, AZ vom 19.3.1818, S. 103–115; AZ vom 8.9., 29.9.–1.12.1818; Meyer, Der Monarchenkongreß; ‚Zur Feier am 18.10.1818 am Adalbertsteinweg ދsowie folgende Darstellungen: Fritz, Theater und Musik in Aachen seit dem Beginn der preußischen Herrschaft 1, S. 180; Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 195–206; Poll, Aachen als europäische Kongressstadt; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 159f. 194 Taack, „Die Affären gehen gut“, S. 18f., 203, 235; Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 203.; Meyer, Der Monarchenkongreß, S. 12–23. 195 Zit. nach ‚Zur Kaiserfrageދ, AA vom 25.1.1849. 196 Zit. Taack, „Die Affären gehen gut“, S. 202.
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6 Inkompatible Traditionen strahlte, und sich in den Tagen von 36 daselbst gefeierten Krönungen (1) und 27 ReichsVersammlungen (2) stattlich erhalten.“197
Meyer veröffentlichte am 19. März 1818 einen vorausschauenden Bericht in der Aachener Zeitung und im folgenden Jahr eine umfangreichere Darstellung über den Kongress, die er dem preußischen König widmete. Signifikanterweise begann Meyer beide Publikationen mit einem mittelalterlichen Städtelob Aachens als Haupt aller Provinzen und Städte nach Rom: „Aquisgranum, ubi primo Romanrum Reges initiantur et coronantur, omnes provincias post Romam et civitates dignitatis et honoris prerogativa precellit“198
Damit begründete er die politische Entscheidung der Fürsten, den Kongress in Aachen und nicht, wie ursprünglich erwogen, in Prag, Frankfurt, Düsseldorf oder Wien stattfinden zu lassen.199 Nicht nur Meyer griff auf die Aachener Geschichte zurück. Auch der Aufstieg eines Ballons der deutschen Luftschifferin Wilhelmine Reichardt bot während des Kongresses dafür Gelegenheit, als diese Blumen zu Ehren des preußischen Königs und einen Zettel mit einem Hymnus auf die „drei hohe[n] Herrscher“200 und auf Aachen als Stadt der Krönungen und Karls des Großen herabwarf.201 Neben den Paraden, Feiern und Bällen der Majestäten ragten einige symbolbeladene Ereignisse des Kongresses heraus. Den fünften Jahrestag der siegreichen Völkerschlacht bei Leipzig beging man am 18. Oktober 1818 als „Befreiungstag Europas“202 mit einer Militärparade, einem Gottesdienst und feierlichem Gelübde auf den Fortbestand der Heiligen Allianz.203 Für Stadtarchivar Meyer verkörperte dieser patriotische Feiertag den Sturz der Weltherrschaft Napoleons und die Wiedergewinnung der „National-Ehre“ des „so lange in den Staub getretenen Vaterlande“[s]204. Der preußische König stiftete aus diesem Anlass dem städtischen Armenhaus einen Geldbetrag von 100 Dukaten und erwies sich damit als mildtätiger Landesfürst.205 Pikanterweise sollten nach den Karlsbader Beschlüssen 1819 wegen der inzwischen damit verbundenen oppositionellen Aktivitäten alle öffentlichen Festlichkeiten an diesem Gedenktag verboten werden.206 Während des Kongresses, am 30. September, besuchten Zar Alexander I. und Kaiser Franz I. den von Napoleon 1807 auf dem nahe gelegenen Lousberg errich197 Meyer, Der Monarchenkongreß, S. VI. Vgl. Taack, „Die Affären gehen gut“, S. 10. 198 Zit. bei Meyer, Der Monarchenkongreß, S. X. Vgl. Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 198. Zu diesem aus dem Privileg Friedrichs II. für Aachen vom 29. Juli 1215 stammenden und in spätere Kaiserprivilegien aufgenommenen Text vgl. oben Kap. 3.3.1.3. 199 Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 198. 200 Zit. ‚Du alte Stadt, begründet seit Aeonenދ, abgedruckt in StAZ vom 13.10.1818. 201 Meyer, Der Monarchenkongreß, S. 9ff., 38f.; Taack, „Die Affären gehen gut“, S. 13f., 68–73; Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 203; Gielen, Aachen im Vormärz, S. 38f.; Haude, Grenzflüge, S. 9–11, bes. S. 11. 202 Zit. Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 206–210. 203 Paulmann, Pomp und Politik, S. 108–130. 204 Zit. Meyer, Der Monarchenkongreß, S. 44. 205 Ebd.; Taack, „Die Affären gehen gut“, S. 77–80. 206 Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 63f., 76.
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teten Obelisken, der zunächst von der Bevölkerung 1814 umgestürzt, danach wieder aufgerichtet und mit einer neuen Inschrift versehen worden war. Ein zeitgenössischer Beobachter kommentierte die Szene am „Fuße dieses Denkmals des gestürzten Weltbeherrschers“207 als symbolhaft für die nun angebrochene Zeit der Fürstenfreundschaft und des „Nationenglück[s]“208. Am Nachmittag desselben Tages besichtigte der österreichische Kaiser, begleitet von Fürst Metternich, den Dom, wo er sich die großen Reliquien zeigen ließ. In der Kirche erwarteten ihn der preußische König und dessen Sohn, Prinz Karl. Während sich die Geistlichkeit um den Kaiser scharte, der „bei dem Grabmahl Karls des Großen“209 als Katholik die Reliquien und das ottonische Evangelienbuch küssen durfte, blieb Friedrich Wilhelm III. als Protestant teilnahmslos und unbeachtet daneben stehen, was ihm selbst wohl eher recht gewesen sein mochte210, Metternich jedoch mit solcher Genugtuung erfüllte, dass er einen süffisanten Bericht über den Vorgang in der Wiener Zeitung veröffentlichte.211 Anders stellte der Aachener Stadtarchivar Karl Franz Meyer das Treffen der beiden Monarchen am Grabmahl Karls des Großen dar: „Diese Begebenheit erfüllte die Anwesenden mit einem unnennbaren Hochgefühl, und es schien, als würde in dem Moment der Genius des großen Ahnherrn aus der Gruft heraufsteigen, um beide Monarchen innigst zu vereinigen. Die Wahl des Königs, seinen gekrönten Freund [Franz I., W.T.] just auf diesem Standpunkt zu erwarten, konnte nicht glücklicher getroffen werden. Sie bewies eben soviel Zartheit des Gefühls, als Hochsinn unsers allgeliebten Monarchen.“212
Anschließend stiegen die Fürsten zum Thron Karls des Großen auf der Empore des Oktogons hinauf, zum Thron jenes Herrschers also, in dessen Nachfolge Friedrich Wilhelm bei der Huldigungsfeier im Mai 1815 mehr rhetorisch als programmatisch gesetzt worden war und dem er in jeder Beziehung fern stand. Vor dem Thron spielte sich eine rührende Szene ab, als der greise Dechant der Stiftskirche und verbliebenes Mitglied des ehemaligen Krönungsstiftes, Konrad Hermann Cardoll213, sich dem österreichischen Kaiser zu Füßen warf und dessen Knie umfasste, um ihn mit Tränen in den Augen zu fragen, ob er sich noch der Krönung im Jahre 1792 erinnere, als er die Aachener Krönungsinsignien nach Frankfurt gebracht und ihm den kaiserlichen Kanonikereid vorgelesen habe. Zum Zeichen des Wiedererkennens habe, wie Meyer berichtet, der Kaiser dem alten Mann
207 Zit. Ausspruch Theodors von Haupt, zit. nach Taack, „Die Affären gehen gut“, S. 53. 208 Zit. Ebd. Vgl. auch Meyer, Der Monarchenkongreß, S. 24f. 209 Zit. Meyer, Der Monarchenkongreß, S. 25. Es wird die von Berdolet angelegte Grabplatte gemeint sein. Die Karlsmemorie war Ende des 18. Jahrhunderts abgetragen worden. Vgl. oben Kap. 4.3.2.2 und Kap. 5.3.3. 210 Zu diesem Charakterzug Friedrich Wilhelms III., der die Öffentlichkeit mied, nicht im Mittelpunkt stehen und am liebsten unerkannt bleiben wollte, Stamm-Kuhlmann, Friedrich Wilhelm III., S. 200f. 211 Taack, „Die Affären gehen gut“, S. 53f. 212 Zit. Meyer, Der Monarchenkongreß, S. 25. 213 Zu Cardoll oben Kap. 5.3.1.
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huldvoll die Hände gedrückt.214 Franz I. konnte eine emotionale Beziehung zum Ort des Dombesuchs und zu den monarchietreuen Unterstützern im Domkapitel herstellen und in die Öffentlichkeit transportieren. Der preußische König blieb hingegen bei dieser Gelegenheit im Hintergrund, und auch der Kronprinz Wilhelm konnte bei seinem Besuch im Dom am 10. November, als ihm von Generalvikar Fonck die Reliquien und die Kirchenschätze Karls des Großen gezeigt wurden, wohl kaum mehr als ein wohlmeinendes Interesse zur Schau stellen.215 Ein allzu deutlicher symbolpolitischer Rückgriff auf Karl den Großen wäre allerdings für jeden der anwesenden Fürsten problematisch gewesen, weil die vorausgegangene Aneignung des Karolingers durch den verhassten Napoleon wie ein langer Schatten über allem lag. Das nüchterne Interesse des Hohenzollern galt ohnehin mehr dem gegenwärtigen Stand der Wirtschaft, was in mehreren Besuchen Aachener Fabriken während des Kongresses zum Ausdruck kam.216 Oberbürgermeister von Guaita erhielt zum Abschluss des Kongresses zur Anerkennung vom preußischen König den Roten-Adler-Orden dritter Klasse.217Außerdem wurden zwei Aachener Straßen und ein zentraler Platz bald darauf nach den drei Monarchen Preußens, Österreichs und Russlands benannt.218 Zur Erinnerung an den Kongress als Bündnis gegen die Fremdherrschaft und für den Völkerfrieden stifteten die Aachener ein Denkmal, das am 15. Oktober 1844, dem Geburtstag Friedrich Wilhelms IV. eingeweiht wurde.219 6.3.1.3 Die Restaurierung von Münster und Rathaus als Brücke zur Monarchie? Die Analyse der Huldigungsfeier von 1815 und des Monarchenkongresses drei Jahre später dürfte deutlich gemacht haben, dass von Seiten Friedrich Wilhelms III. nicht an eine Aufwertung Aachens als traditionaler Legitimationsort der preußischen Monarchie gedacht wurde. Der preußische König bezog seine Legitimation in hergebrachter Weise aus dem Gottesgnadentum und der Tradition der Hohenzollerndynastie. Stattdessen ging es bei der Ansetzung beider Repräsentationsakte zum einen um die symbolträchtige Tilgung der Vereinnahmung Aachens durch Napoleon, zum anderen um die Wahl eines geeigneten, regionalpolitisch bedeutsamen Ortes zur Sichtbarmachung der neuen territorialen Verhältnisse. Diese Selbstbegrenzung der preußischen Politik lieferte keine Impulse zu einer nachhaltigen herrschaftspolitischen Aufwertung Aachens. Deshalb 214 215 216 217 218 219
Meyer, Der Monarchenkongreß, S. 25f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 74, 80. Taack, „Die Affären gehen gut“, S. 241. Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 210–227. Predigt des Stiftspropsts Johann Matthias Claessen (1784–1839) zur Grundsteinlegung im Oktober 1836, zit. nach Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 219. Vgl. StAZ 30.9., 3.10., 5.10., 6.10.1836; Huyskens, Der Aachener Kongreß, S. 226; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 154; Löhr/Wynands, Vom ersten zum zweiten Bistum Aachen, S. 20; Brecher, Der erste Propst des erneuerten Aachener Münstertstifts Matthias Claessen.
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sollen im Folgenden die Entwicklungen im lokalen Raum behandelt werden, die eine kulturelle Annäherung der Aachener Eliten an die preußische Monarchie hätten begünstigen können. Den vielversprechenden Einstieg bildeten zwei ambitionierte Bauprojekte: die Restaurierung des Aachener Münsters und des städtischen Rathauses. Der Aachener Klerus und vor allem das Domstift hatten während der französischen Herrschaft schwere Einbußen an religiösen und kulturellen Gütern hinnehmen müssen. Der Dom war in seiner Bausubstanz schwer geschädigt worden.220 Nach dem Sieg über Napoleon 1815 forderte die preußische Regierung alle als wertvolles Nationaleigentum betrachteten Kulturgüter im Namen der Westprovinzen von Frankreich zurück. Im Zuge der Rückholung wurden noch im Herbst und Winter desselben Jahres 28 Säulen, die Wölfin, der Pinienzapfen und der Proserpina-Sarkophag Karls des Großen aus dem Besitz des Domes nach Aachen zurückgebracht.221 Doch blieben wichtige Karlsreliquien, der sogenannte Talisman Karls des Großen, das staufische Armreliquiar Karls des Großen als Geschenke an die Kaiserin Josephine222 und die nach Wien überführten drei Aachener Reichskleinodien trotz Bemühungen des Stiftskapitels in Berlin und Wien in den Jahren 1816, 1834 und 1856 verloren.223 Da das Aachener Bistum nach der Flucht von Bischof Camus im Januar 1814 zunächst unbesetzt geblieben war, entstand ein Schwebezustand über die kirchenrechtlichen Kompetenzen in Aachen. Durch die päpstliche Bulle De salute animarum vom 16. Juli 1821 wurde das Bistum vollständig aufgelöst und dessen Gebiet der neu errichteten Erzdiözese Köln unterstellt. Diese Maßnahme konnte aber erst im März 1825 umgesetzt werden. Das Domstift wandelte man im folgenden Jahr in ein von einem Propst geführtes Kollegiatstift um – das einzige in Preußen. Die Säkularisation der französischen Zeit wurde damit nicht rückgängig gemacht. Das Stift verblieb in der Abhängigkeit des preußischen Staates. Der Propst sowie ein Teil der Kanoniker wurde auf Vorschlag des preußischen Königs vom Papst besetzt, die übrigen Stellen durch den Erzbischof von Köln.224 Geldmangel und ungeklärte rechtliche Fragen des Eigentums und der Kompetenzen verzögerten zunächst den Einbau der Säulen und die Restaurierung der 220 Schild, Die Brüder Cremer, S. 127. 221 LA NRW, Düsseldorf, RAA Nr. 15. Vgl. Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 602; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 338; Schild, Die Brüder Cremer, S. 127; Braubach, Verschleppung und Rückführung rheinischer Kunst- und Kulturdenkmale; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 265; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 124f.; Savoy, Patrimoine annexé 1, S. 149–195; Stamm-Kuhlmann, Die preußische Besitzergreifung im Rheinland. 222 ‚Der Talisman Kaiser Karls des Großenދ, EdG Nr. 10 (1849); ‚Der Talisman Karls des Großenދ, EdG Nr. 12 (1870); ‚Der sogen. Talisman Karls des Großen in Parisދ, EdG Nr. 19 (1870); Kaufmann, Vom Talisman Karls des Großen. 223 Ramjoué, Die Eigentumsverhältnisse an den drei Aachener Reichskleinodien, S. 102–130; ‚Die drei Krönungsinsignienދ, EdG Nr. 100 (1861). 224 Löhr/Wynands, Vom ersten zum zweiten Bistum Aachen, S. 15f., 20; Cortjaens, Kirchenschatz St. Peter zu Aachen, S. 108; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 135, 140; Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 17.
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6 Inkompatible Traditionen
Kirche. Um die schlimmsten Beschädigungen des Domes zu beseitigen, hatte man bereits 1824/25 mit der Wiederherstellung der Innenraumdekoration begonnen. Das Innere der Kirche wurde erneut mit Motiven der Karlsikonographie versehen. An den beiden westlichen Oktogonpfeilern brachte man Figuren Karls des Großen und Leos III. an. Das Tonnengewölbe versah der Aachener Maler Ferdinand Jansen 1825 mit einem Gemälde der legendären Weihe der karolingischen Marienkirche durch Leo III. von 804.225 1832 scheiterte eine Initiative des Stiftskapitels beim preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm zum Wiedereinbau der Säulen an der Kostenfrage, obwohl sich Karl Friedrich Schinkel als preußischer Oberbaudirektor226 beim preußischen Ministerium für geistliche Angelegenheiten für das Projekt eingesetzt hatte.227 Die Säulen sah er als „Reliquien einer denkwürdigen Zeit“228 an, als nationale „Denkmäler der Befreiungskriege“229. Auch die Bemühungen der Aachener Regierung in Sommer 1834 brachten kein Ergebnis. Diesmal wurde die Reinstallation der Säulen mit dem gewagten Argument begründet, dass im Münster die „Gebeine des Urahnen [des] Königlichen Hauses“230 ruhten, erweitert um die folgende Prognose: „ihr geschichtlicher Werth wird sich dadurch ungemein erhöhen, wenn sie als eben so viele Denkmale des Sieges gegen Frankreichs Uebermuth in ihrer früheren Stelle [...] wieder aufgerichtet würden.“231
Analog führten die Stiftsbrüder die Tilgung der nationalen Schmach des Raubes von 1794 und den erhöhten Wert der Säulen als „Denkmäler des Sieges gegen Frankreichs Uebermuth“ als zentrales Motiv an.232 225 Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 284; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 602. 226 Zum preußischen Architekten, Stadtplaner und Maler Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) Dorgerloh/Niedermeier/Bredekamp, Klassizismus – Gotik; Haus, Schinkel. 227 Entwurf aus den Anmerkungen auf einer Dienstreise des Herrn Oberbaudirektors Schinkel durch Hessen, Westfalen und die Rheinprovinz vom 8.9.1833, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1; Brief Regierungspräsident Kühlwetter, Aachen, an Oberpräsident Schede, Koblenz, vom 10.8.1857, LHA Koblenz 403, Nr. 10778. Vgl. Schild, Die Brüder Cremer, S. 128. 228 Zit. nach Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 265. 229 Zit. Ebd. 230 Zit. Schreiben der Regierung Aachen an das Ministerium der Geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 18.8.1834 betr. die Verfügung vom 10.6.1834, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1. 231 Brief der Regierung Aachen an das Ministerium der Geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Berlin vom 22.4.1834 zur Verfügung vom 11. Dezember 1833 (No. 22822) betr. die Aufstellung und Restauration der Säulen der Münsterkirche, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1. 232 Zit. Stiftspropst Anton Gottfried Claessen, Brief vom 19. Januar 1834, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1. Der Vorsitzende des Karlsvereins, Franz Jungbluth, bezeichnete noch 1862 den Abtransport des Dom-Interieurs 1794 als „Vandalismus“. Die Rückgabe der Säulen nach dem „Sieg der deutschen Waffen“ resultierte aus der Beseitigung vom „fremde[n] Joch“. Vgl. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 6.
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Der Regierungswechsel von Friedrich Wilhelm III. zu Friedrich Wilhelm IV. schien zunächst keine Veränderung der distanzierten Haltung am Berliner Hof zu bringen. Der Wunsch des Aachener Bürgermeisters, dass am 15. Oktober 1840 die Huldigungsfeier der Rheinprovinz und Westfalens in Aachen, „alte Krönungsstadt, die Wiege und der Lieblingsaufenthalt des großen Carl“233, stattfinden möge, fand keine Berücksichtigung, da der neue König die zentrale Huldigung aller zu Preußen gehörigen Provinzen in Berlin bevorzugte. In der Tradition der reichsstädtischen Feiern für das regierende Kaiserhaus fand zeitgleich in Aachen eine prächtige Feier mit Predigten und Tedeum im Münster, Militärparade, Festessen, Ballabend, Armenspeisung, Feuerwerk und Illuminationen statt.234 Der nationalen Empörung in der Rheinkrise, die einen Krieg mit Frankreich heraufbeschwor, konnte sich Friedrich Wilhelm IV. nicht verschließen. Er stellte sich an die Spitze der Bewegung und kam den Rheinländern demonstrativ zu Hilfe. Dem preußischen König ging es dabei in erster Linie um die Beilegung der im Kölner Ereignis 1837/38235 eskalierten konfessionellen Konflikte zwischen den rheinischen Katholiken und dem preußischen Staat. Das Kölner Dombaufest 1842 wurde zum gemeinsamen Akt der emotionalen Besinnung auf die vaterländische Geschichte.236 Inmitten dieser Stimmung kam nun endlich die Restaurierung des Aachener Münsters auf die Tagesordnung. Nach neuerlichen Gutachten und einer Kabinettsorder vom 25. Mai 1842237 erfolgte bis 1847 unter der Leitung von Baurat Johann Peter Cremer238 der Einbau der Säulen. Der preußische König unterstützte
233 Zit. Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen an die Königliche Regierung, Abteilung des Innern vom 10.7.1840, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 3. 234 Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen an die Königliche Regierung, Abteilung des Innern vom 10.7.1840; Brief des Ministeriums des Inneren, erste Abteilung, gez. von Meding, an die Königliche Regierung zu Aachen vom 30. Juli 1840, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 3. Zur Berliner Huldigungsfeier siehe oben Kap. 6.2. sowie zu den Aachener Feiern Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 161. 235 Keinemann, Das Kölner Ereignis 1–2; Löhr/Wynands, Vom ersten zum zweiten Bistum Aachen, S. 21; Brecher, Oberpfarrer L. A. Nellessen, S. 111ff.; Hegel, Die katholische Kirche in den Rheinlanden, S. 347ff.; Lepper, Zwischen der ‚Geheimen Berliner Konvention( ދ1834) und den ‚Kölner Wirren( ދ1837/38). Nach Schiffers, Das katholische Aachen im Wandel der Jahrhunderte, S. 88 war die Empörung im streng katholischen Aachen besonders groß. 236 Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 95; Pilger, Der Kölner ZentralDombauverein im 19. Jahrhundert; Trippen, Das Kölner Dombaufest; Haupts, Die Kölner Dombaufeste 1842–1880; Herres, Dombaubewegung, Vereinsgedanke und Katholizismus; Stamm-Kuhlmann, Die preußische Besitzergreifung im Rheinland, S. 202f.; Gussone, Das Kölner Dombaufest von 1842; Rode, Sulpiz Boisserée und der König von Preußen; ders., König Friedrich Wilhelm IV. und der Kölner Dom; ders., Ernst Friedrich Zwirners Planentwicklung; Rathke, Die Rolle Friedrich Wilhelms IV. bei der Vollendung des Kölner Doms. 237 Kabinetts-Ordre Friedrich Wilhelms IV. vom 25. Mai 1842 zur Wiederaufstellung von 32 Säulen in den acht Arkaden der Münsterkirche in Aachen, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1. 238 Zu Johann Peter Cremer (1785–1863) Schild, Die Brüder Cremer, S. 17–32.
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das Projekt mit erheblichen finanziellen Mitteln.239 Das Aachener Münster erschien fortan als bedeutendes Nationaldenkmal, dem man sich am preußischen Hof annehmen musste. Angeregt durch eine 1837 veröffentlichte Untersuchung des Privatgelehrten und Altertumskundlers Cornelius Peter Bock240 befahl Friedrich Wilhelm IV. im Oktober 1843 Ausgrabungen in der Mitte des Oktogons, mit dem wesentlichen Ziel, die Grabkrypta Karls des Großen zu finden, die man unter der von Berdolet angelegten Platte vermutete.241 Diese führten allerdings nicht zur Auffindung des Grabes Karls des Großen, sondern zweier Bleisärge der heiligen Corona und Leopardus aus der Zeit Ottos III.242 Bei dieser Gelegenheit untersuchte man erstmals wissenschaftlich die Gebeine des Karlsschreins.243 1847/49 wurde der Karlsverein zur Restauration des Aachener Münsters gegründet. Die förmliche Restituierung des Vereins fand am Geburtstag König Friedrich Wilhelms IV. am 15. Oktober 1849 statt, des großzügigen Förderers des Unternehmens. Erster Vorsitzender wurde der Rechtsanwalt Franz Jungbluth244, 239 Akten dazu in GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23232. Vgl. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 6–12. Überblicke bei Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 602–605; Schild, Die Brüder Cremer, S. 130–154; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 265f.; Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 17f.; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 402f. Zum damaligen Stiftspropst Anton Gottfried Claessen (1788– 1847), Nachfolger seines Bruders Johann Matthias Claessen (1784–1839), vgl. Löhr/Wynands, Vom ersten zum zweiten Bistum Aachen, S. 20. 240 Zu Cornelius Peter Bock (1804–1870), seit 1831 außerordentlicher Professor für Altertumskunde in Marburg, in den 1840er Jahren Privatgelehrter in Brüssel, nach 1854 ordentlicher Professor in Freiburg, Heuschkel, Ein ‚Volksheiligtum ދim 19. Jahrhundert, S. 614; Reumont, Cornel Peter Bock; Kraus, Bock; Schild, Die Brüder Cremer, S. 130 und Anm. 145. 241 Brief des Aachener Stiftspropst Claessen an König Friedrich Wilhelm IV. vom 29. Dezember 1843, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1. Vgl. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 52f.; Reumont, Cornel Peter Bock, S. 166f.; Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 96; Heuschkel, Ein ‚Volksheiligtum ދim 19. Jahrhundert, S. 614; Heuschkel, Das Herrschergrab Karls des Großen, S. 94–99. 242 Protokoll Claessens über die Nachgrabungen im Münster vom 20.10.1843 über dieselben vom 9.10.1843, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1; Protokoll über die Ausgrabungen vom 10.10.1843, datiert vom 20.10.1843 (von Claessen), GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1; Protokoll Claessens über die Nachgrabungen vom 11.10.1843, datiert vom 20.10.1843 sowie weitere Protokolle der Grabungen vom 12.10.1843, 17.10.1843, 18.10.1843, 19.10.1843, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1; Ausgrabungsprotokolle auch in GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23232; Briefwechsel und Berichte in GStA PK Berlin, HA I Rep. 137 I, Nr. 32, Bd. 1; Beilage Nr. 217 der Aachener Zeitung vom 5.8.1847; Floss, Geschichtliche Nachrichten über die Aachener Heiligtumsfahrt, S. 376f. 243 Bericht von Stiftspropst Anton Gottfried Claessen in AA vom 5.2.1851. 244 STA Aachen, Depositum Karlsverein, Nr. 1, 2, 7, 8, 10, 12, 28, 33; [N.N.], Statut des KarlsVereins zur Restauration des Aachener Münsters; Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 12–16; Lepper, „Rettet das ‚deutsche Volksheiligthum ;“ދWehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 53f.; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 605. Franz Constantin Hubert Jungbluth (1809–1872) gehörte zu einer angesehenen Aachener Familie. Sein Vater war Königlicher Justizrat, Syndikus des Aachener Münsters, Stadtverordneter und Präsident des vornehmen Aachener Klubs Casino. Er machte Karriere als Advokat-Anwalt und Justizrat, war Mitglied des Aachener Stadtrats, 1848 Abgeordneter
6.3 Ein schwieriger Dialog
279
der in Karl dem Großen den „unvergleichliche[n] Begründer deutscher Macht“245 erblickte. Der Karlsverein nahm sich voller Begeisterung der Pflege des Karlskultes und der Wiederherstellung des Münsters an, in seinem Verständnis das „deutscheste Volksheiligtum“246, „Denkmal der vaterländischen Baukunst“247, das wichtigste „Monument aus der Zeit mächtiger Entfaltung Deutscher Größe unter dem Einflusse des Christentums“248. Er verstand sich als Vertreter „von Aachens biederer Bürgerschaft“249, der „geborenen Hüterin der uralten Reichskleinode“250, der Krönungskirche des mittelalterlichen Reiches. Die Mitglieder sammelten Spenden und nahmen dem Stiftskapitel planerische und organisatorische Aufgaben bei der Restaurierung des Bauwerks ab. Das preußische Königshaus und die Regierung, das Kölner Erzbistum, das Kollegiatstift, die Aachener Bürgermeister, Fabrikanten und Privatleute sowie die dem Karlsverein assoziierten und verbundenen Vereine waren die wichtigsten Förderer der Restaurierung.251 Historische Abhandlungen einzelner Bürger über das Münster warben für das Projekt in der Stadt und brachten Gelder für die Restaurierung ein.252 Die Münsterrestaurierung und die mit ihr verbundene Hebung des schleichend niedergehenden Karlsfestes253 wurden auf diese Weise zu zentralen Projekten des vaterstädtisch und natio-
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der Stadt Aachen im Frankfurter Paulskirchen-Parlament und in der preußischen Nationalversammlung. Als Syndikus des Münsters gründete er den Karlsverein, den er als Vorsitzender annähernd 25 Jahre führte. Vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 213; Arens/Janssen, Geschichte Club Aachener Casino, Nr. 380, S. 157; Lepper, „Rettet das ‚deutsche Volksheiligthum“ދ, S. 120. Zit. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 3. Zit. Ebd., S. 5. Zit. Ebd., S. 13. Zit. nach dem Aufruf Aachener Bürger vom 1.8.1847 zur Restaurierung des Aachener Münsters, GStA PK Berlin HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 1; Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 13f. Vgl. ‚Das Fest des Beginnes der Restauration des Aachener Münsters am 15. Oktober 1850ދ, AA vom 25.10.1850; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 605. Zit. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 13. Zit. Ebd. [N.N.], Statut des Karls-Vereins; Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters; Faymonville, Das Münster zu Aachen, S. 69–71; [N.N.], Dank- und Jubelfeier für 25jährige Bemühungen zur Restauration des Aachener Münsters, S. 20–28; Bock, Das fünfzigjährige Jubelfest des Karlsvereins I–II; Buchkremer, Karlsverein, S. 5–26; [N.N.], Dank- und Jubelfeier; Lepper, Rettet das ‚deutsche Volksheiligthumދ. Debey, Die Münsterkirche zu Aachen; Schervier, Die Münsterkirche zu Aachen; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 405–407, bes. S. 406f. mit Abbildung und Beschreibung des Aquarells des Aachener Malers Caspar Scheuren. Über den Arzt Debey (1817–1884) Fey, Zur Geschichte Aachener Maler, S. 89f. Karl Schervier († 1861) war Schulinspektor in Aachen, vgl. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 33. Zu Scheuren (1810–1887) Puhvogel, Caspar Scheuren; Fey, Zur Geschichte Aachener Maler, S. 63–65. Einladungsschreiben des Propstes des Kollegiatstiftes Claessen an Oberbürgermeister Emundts vom 26.1.1843 zum Hochamt in der Marienkirche aus Anlass des Karlsfestes am Sonntag, den 29.1.1843; Rundschreiben von Oberbürgermeister Emundts vom 26.1.1843, STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 3, Vol. 2; ‚Das Karlsfestދ, AA vom 20.1.1849. Dazu Wy-
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nal gesinnten Aachener Bürgertums.254 Mit dem Beginn der Restaurierungsarbeiten am 15. Oktober 1850, an seinem Geburtstag also, sicherte Friedrich Wilhelm IV. dem Verein sein Protektorat zu.255 Wie die Wiederherstellung des Münsters kann auch die Restaurierung des städtischen Rathauses als ein die Annäherung zwischen dem Aachener Bürgertum und der preußischen Monarchie förderndes Kulturprojekt betrachtet werden. Zu Beginn der preußischen Zeit befand sich das Aachener Rathaus in einem wenig repräsentativen Zustand.256 Ende der 1830er Jahre besann sich dann die Aachener Bürgerschaft wieder auf das Rathaus, das die einstige Größe der Stadt verkörperte. Den Anstoß dazu gaben offenbar drei Gründe: wie im Fall der Münsterrestaurierung die nationale Wiederentdeckung der „alten Wurzeln deutscher Kunst und Kultur“257, der angesichts des raschen Bevölkerungswachstums der Stadt dringlicher werdende „Wunsch nach einem neuen Festsaal im Rathaus“258 und die Hoffnung, mit der Verschönerung einer zentralen Sehenswürdigkeit zusätzliche Badegäste nach Aachen zu locken.259 Die ersten unter der Federführung von Stadtbaumeister Friedrich Ark260 angestellten Planungen liefen auf die den mittelalterlichen Zustand wiederherstellende Vergrößerung des Kaisersaales, die Zumauerung der Fenster auf dessen Südseite und die Anlage eines zum Saal führenden Treppenhauses hinaus.261 Nach einer Ausschreibung des Düsseldorfer Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen262 erhielt der junge Künstler Alfred Rethel263 unangefochten den Zuschlag für die Ausmalung des Saales mit Historiengemälden zum Leben Karls des Großen.264 Während weitgehende Einigkeit darüber herrschte, die nicht mehr dem
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nands, Geschichte der Wallfahrten im Bistum Aachen, S. 57f.; ders., Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 224–226. ‚Das Fest des Beginnes der Restauration des Aachener Münsters am 15. Oktober 1850ދ, AA vom 25.10.1850. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 20f.; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 403–405; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 338; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 604f. Dünnwald, Aachener Architektur im 19. Jahrhundert, S. 26. Zit. Ebd., S. 27. Zit. Ebd., S. 28. Ebd., S. 30; Fritz, Nachrichten über die Benutzung des Rathauses, S. 216. Zu Friedrich Ark (1807–1878), Aachener Stadtbaumeister von 1839 bis 1876, Dünnwald, Aachener Architektur im 19. Jahrhundert, S. 9–23. Akten dazu in GStA PK Berlin HA I, Rep. 93 B Nr. 2419; LA NRW, Düsseldorf, RAA Nr. 5779–5780; LHA Koblenz, Bestand 403, Nr. 523. Vgl. Dünnwald, Aachener Architektur im 19. Jahrhundert, S. 27–50; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 72–75; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 184f. Büttner, Geschichte für die Gegenwart, S. 104f. Neuerer Abriss zu Leben und Werk Alfred Rethels (1816–1859) Fusenig, Rethel. Überblicke bei Fusenig, „Denn diese Malerei bedarf des geweihten Auges...“; dies., Karl der Große zwischen ‚Historie ދund ‚Nationalmythos ;ދdies., Der verschleierte Karl zwischen Mythos und deutscher Revolution; Büttner, Karl der Große in der Kunst des 19. Jahrhunderts; ders., Geschichte für die Gegenwart; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 160–183; Kerner, Die politische Instrumentalisierung Karls des Großen, S. 242–260; ders.,
6.3 Ein schwieriger Dialog
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Zeitgeschmack entsprechende Rokoko-Ausstattung zu beseitigen und das Rathaus als nationales Monument aufzuwerten, entbrannte über die Frage seiner mittelalterlichen Wiederherstellung oder modernen Gestaltung ein heftiger und langwieriger Streit in der Bürgerschaft, der mit Immediateingaben an den preußischen König, Denkschriften und Leserbriefen in den lokalen Zeitungen ausgetragen wurde.265 Rethel verband mit der Wahl der Freskenmotive, die Absicht, Karl den Großen exemplarisch als christlichen und ritterlichen Helden und mittelalterlichen Idealkaiser darzustellen. Dies entsprach dem historistischen Geschichtsverständnis seiner Zeit, vor allem aber dem überkommenen lokalen Symbolsystem.266 Seiner Vorstellung nach war das Mittelalter geprägt von der „Durchdringung des Staates mit christlichen Prinzipien, Ausrottung und Umgestaltung der heidnischen Natur und Verhältnisse, bewerkstelligt durch Einführung des Christentums, als dessen Haupt der Papst gedacht wurde.“267
Nach Einschätzung von Frank Büttner ging es Rethel dabei weniger um eine historisch akkurate Wiedergabe der Taten Karls, sondern um die „‚symbolische[...]ދ Darstellung der überzeitlichen Idee des Kaisertums“268. Die historistische Malerei sei vor dem Hintergrund der im Vormärz verbreiteten politischen Hoffnungen auf eine Erneuerung des 1806 untergegangenen Reiches zu verstehen und weise damit einen Gegenwartsbezug auf, der wohl am stärksten in der ursprünglichen Rethelschen Skizzierung und Ausführung des Monumentalgemäldes Schlacht bei Cordova von 1849/50 zum Ausdruck kam. Dieses Fresko zeigte Karl den Großen als gegen die Sarazenen kämpfenden Helden und im Hintergrund eine schwarz-rotgoldene Fahne, das Zeichen der Revolution von 1848. Diese Unterstützung der
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Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 191–211; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 49–71; Dünnwald, Aachener Architektur im 19. Jahrhundert, S. 27f.; Hoffmann, Die Karlsfresken Alfred Rethels. Bock, Das Rathhaus zu Aachen; Oebecke, Ueber die Wiederherstellung des Kaiser-Saales. Frühe Beschreibungen der Fresken nach ihrer Fertigstellung und weitere Hintergründe finden sich in: ‚Die Freskogemälde im sogenannten Krönungssaale in Aachenދ, EdG vom 8.12.1855; ‚Zwei Aquarelle von J. Kehrenދ, EdG vom 10.11.1863; ‚Die Entwürfe J. Kehrens zu den Gemälden für das Treppenhaus des Aachener Kaiserkrönungssaalesދ, EdG vom 13.11.1863; offener Brief von Joseph Kehren, EdG vom 18.11.1863; ‚Zur Restauration des Aachener Rathhausesދ, EdG vom 20.10.1864; Hermans, Erinnerung an die Stadt Aachen, S. 102–106; Rovenhagen, Das Rathhaus zu Aachen; ‚Die Freskogemälde im Kaisersaal des Aachener Rathhausesދ, EdG vom 1.2.1870. Bericht des Malers Alfred Rethel über die eingereichten Kompositionen zur Ausschmückung des Kaisersaales in Aachen, Abschrift vom 31.8.1840, abgedruckt bei Ponten, Alfred Rethel. Des Meisters Werke, S. 184–187, hier S. 186. Vgl. zu Geschichte, Kunst und Literatur im frühen 19. Jahrhundert Fastert, Die Entdeckung des Mittelalters; Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman; Wagner, Allegorie und Geschichte. Zit. Bericht des Malers Alfred Rethel über die eingereichten Kompositionen zur Ausschmückung des Kaisersaales in Aachen, Abschrift vom 31.8.1840, abgedruckt bei Ponten, Alfred Rethel. Des Meisters Werke, S. 184–187, hier S. 185. Vgl. Büttner, Geschichte für die Gegenwart, S. 108. Zit. Büttner, Geschichte für die Gegenwart, S. 112.
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6 Inkompatible Traditionen
Nationsvorstellungen der Frankfurter Nationalversammlung konnte in dieser Zeit als Kontrapunkt zur preußischen Staatssymbolik gedeutet werden. Nachdem die schwarz-rot-goldene Fahne in Preußen verboten worden war, wurde konsequenterweise auch deren Farbgebung auf dem Gemälde irgendwann nach 1850 geändert und die ursprüngliche durch eine schwarz-weiß-rote Fahne ersetzt.269 Als Sprecher der Aachener Opposition gegen die in den Fresken zum Ausdruck kommende Geschichtsauffassung Rethels hielt Cornelius Peter Bock das Heilige Römische Reich Deutscher Nation für „unwiederbringlich verloren“270. Die Erneuerung des Kaiserreiches unter preußischer Führung, welche, wie Bock nicht ohne jede Berechtigung unterstellte, aus dem Rethelschen Freskenzyklus hätte gedeutet werden können, stieß während des Vormärz und der Revolution im katholischen Aachen mit seiner habsburgischen Tradition auf eine weit verbreitete Ablehnung, wie noch darzustellen ist. Dagegen setzten Bock und manche Aachener Mitstreiter ihre politischen Hoffnungen auf eine Erneuerung der mittelalterlichen deutschen Städteverfassung mit der darin zum Ausdruck kommenden Gleichberechtigung von Monarch und städtischem Bürgertum und das Aufgehen des Königs im Volk und in der Nation der Deutschen.271 Entsprechend formulierte eine Aachener Streitschrift: „Dies ist nicht der Saal e ine s Fürsten, nicht e iner Dynastie: dieser Saal ist das gemeinsame Erbgut aller Kaiser-Geschlechter und des gesammten deutschen Volkes. An keine Persönlichkeit ist er gebunden: ihn trug und er trug das Leben der Nation.“272
In diesem Sinne spricht Oebecke vom Aachener Münster als „Pantheon der deutschen Nation, eine ächte deutscher Kaiser-Walhalla. In demselben wird – wir dürfen es mit Zuversicht hoffen – als eine volksthümliche, würdige Zugabe zu jenem Feste auch dies kostbare Denkmal alter deutschen Ehren aus seiner Verstümmelung schöner wieder erstehen unter der erweckenden Hand Friedrich Wilhelms des Deutschen.“273
Währenddessen blieb Friedrich Wilhelm IV. ein konstanter Förderer der Aachener Umgestaltungspläne. Er verfolgte von Berlin aus und bei seinen Besuchen in Aachen 1842 und 1845274 die Planungen und den weiteren Fortgang der Rathausrestaurierung. Die Fresken wollte er als „politische Demonstration des hegemonialen Führungsanspruches Preußens“275 verstanden wissen. Zudem sollten sie der seiner Herrschaftsauffassung zugrunde liegenden Idee des Bundes zwischen Thron und Altar entsprechen und alle Motive ausblenden,
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Fusenig, „Denn diese Malerei bedarf des geweihten Auges...“, S. 756f. sowie S. 755 (Abb. 3). Zit. Büttner, Geschichte für die Gegenwart, S. 119. Ebd., S. 120f. Oebecke, Ueber die Wiederherstellung des Kaiser-Saales, S. 11 Ebd., S. 22f. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 164, 168. Vgl. dazu StAZ vom 19.1., 20.–21.1., 4.2., 8.–9.2., 11.2., 14.2.1842; StAZ vom 1.9., 7.–10.9.1842; StAZ vom 11.8.–13.8.1845. 275 Zit. Fusenig, „Denn diese Malerei bedarf des geweihten Auges...“, S. 753.
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„die zu Spekulationen über ein schwieriges Verhältnis von kirchlicher und weltlicher Macht Anlaß geben könnten“.276
Der preußische König erteilte im September und Dezember 1843 nicht nur zwei Immediateingaben der Aachener Opposition eine mehr oder weniger deutliche Absage277, im Februar 1846 empfing er Rethel sogar in einer Privataudienz und drängte danach die Aachener, den Beginn der Arbeiten zu beschleunigen.278 Und nicht zuletzt bewilligte er zur Finanzierung des gesamten Projektes einen staatlichen Anteil in Höhe von 25 Prozent aus den Erlösen der Aachener Spielbank.279 6.3.1.4 Ein politisches Missverständnis: Karl der Große, das Reich und die Revolution von 1848 Der Vormärz280 und die Revolution von 1848/49 brachten gesellschaftliche und politische Konflikte hervor, welche die beschriebene Annäherung zwischen dem liberalen und katholischen Aachener Bürgertum und der preußischen Monarchie unterbrachen.281 Im März 1848 wurde nach der Gründung einer revolutionären Bürgerversammlung in erster Euphorie eine schwarz-rot-goldene Fahne auf dem Münster gehisst. Doch wich diese Aufbruchstimmung schnell der Furcht vor einer sozialen Revolution.282 Wie andernorts wandten sich auch die Aachener Eliten entschieden gegen jede revolutionäre Veränderung der bestehenden politischen und sozialen Ordnung. Ohne größere Mühe gelang es in der Revolution von 1848 der Staatsgewalt und den gemäßigten Kräften im Aachener Bürgertum, die
276 Zit. Büttner, Geschichte für die Gegenwart, S. 114. Vgl. die Korrespondenz zwischen den Aachener Behörden und den zuständigen Berliner Ministerien in GStA PK Berlin, HA I, Rep. 93 B, Nr. 2419. Überblick bei Büttner, Geschichte für die Gegenwart, S. 112–116. 277 Dünnwald, Aachener Architektur im 19. Jahrhundert, S. 43f. 278 Ebd., S. 50f.; Fusenig, „Denn diese Malerei bedarf des geweihten Auges...“, S. 753. 279 Dünnwald, Aachener Architektur im 19. Jahrhundert, S. 36–38, 59. 280 Volkmann, Wirtschaftlicher Strukturwandel. Vgl. Huyskens, Aachener Heimatgeschichte, S. 219–228; Wynands, Kleine Geschichte Aachens, S. 55f.; Althammer, Herrschaft, Fürsorge, Protest, S. 177–202, 242–255; dies., Teuerung, Not und Cholera, S. 317–324; dies., Die Angst vor der sozialen Revolte, S. 106–113; Herres, Die geringen Klassen und der Mittelstand; Lepper, Sozialer Katholizismus in Aachen, S. 4ff.*; [N.N.], Aachen im 19. Jahrhundert, S. 45; Sobania, Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, S. 226f.; [N.N.], Aachen im 19. Jahrhundert, S. 11, 39, 42; Löhr/Wynands, Vom ersten zum zweiten Bistum Aachen, S. 25ff.; Laufens, Der Pauperismus in Aachen; Janssen, Zur Wohnsituation Aachener Textilarbeiter. 281 Zur Revolution im Rheinland Herres, Das preußische Rheinland in der Revolution von 1848/49; zu Aachen Althammer, Herrschaft, Fürsorge, Protest, S. 314–324, 423–438; dies., Die Angst vor der sozialen Revolte; Herres, Parteipolitik und Religion 1848/49, S. 141ff.; Lepper, Sozialer Katholizismus in Aachen, S. 30ff.*; Wynands, Kleine Geschichte Aachens, S. 56ff. Zur Haltung des rheinischen Bürgertums Mergel, Zwischen Klasse und Konfession, S. 132–144. 282 Frühwald, Anfänge der katholischen Bewegung, S. 240–245; Herres, Parteipolitik und Religion 1848/49, S. 145f.
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6 Inkompatible Traditionen
schwachen radikalen Revolutionäre, die ohnehin keinen Rückhalt in der weitgehend unpolitischen Arbeiterschaft hatten, in den Griff zu bekommen.283 Symptomatisch für die herrschende Stimmung erscheint eine Rede zur Gedächtnisfeier für die am 18. und 19. März in Berlin kämpfend gefallenen Bürger und Krieger, die der Kanoniker, Theologe und Dichter Wilhelm Smets284 am 27. März 1848 in der Münsterkirche hielt. Die im katholischen Bürgertum herrschende Furcht vor Anarchie und Chaos ausdrückend, sprach er sich für die Treue zum König, die Wahrung von Recht und Ordnung und die Einheit von Staat und Untertanenverband aus. Karl der Große erschien ihm gleichsam als antirevolutionärer Schutzpatron der öffentlichen Ordnung.285 Das katholische Bürgertum Aachens, das versuchte, innerhalb des ultramontanen Milieus286 bürgerliche Ideen zu verwirklichen, verstand sich nun selbst als Teil der herrschenden Klasse und war in der Lage, diese Haltung kulturell und historisch zu begründen.287 Mit der Wiederentdeckung und Aktualisierung der mittelalterlichen Geschichte, war in Aachen um die Jahreswende 1848/49 die Erwartung der Wiedererrichtung eines deutschen Kaiserreiches verbunden.288 Die im Piusverein versammelten Vertreter des politischen Katholizismus befürworteten während der Revolution aufgrund ihrer Sympathien für die Habsburgermonarchie eine großdeutsche Lösung der nationalen Frage und ein Kaisertum unter österreichischer Führung. Das Echo der Gegenwart schrieb am 16.1.1849: „Würde man [...] das alte Kaiserhaus Habsburg, das in der Person Franz Josephs wie ein Adler sich verjüngt zu haben scheint, an die Spitze Deutschlands stellen, was nur eine Wieder-
283 Lepper, Sozialer Katholizismus in Aachen, S. 30ff.*; Wynands, Kleine Geschichte Aachens, S. 56ff.; Herres, Parteipolitik und Religion 1848/49, S. 169–180 mit Hinweis auf die im Liberalen Bürger-Verein versammelten jüngeren Intellektuellen. Die wichtigsten Vertreter der demokratischen Bewegung in Aachen waren der Justizreferendar Ignaz Beißel und der Arzt Heinrich Velten. 284 Über Wilhelm Smets (1796–1848) Brecher, Dr. Wilhelm Smets; Best/Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, S. 322. 285 Kaatzers Album Jg. IV.4 (1848), Literarische Beilage nach S. 177. Vgl. zu dieser Rede Brecher, Dr. Wilhelm Smets, bes. S. 213f. 286 Weber, Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus; Klöcker, Das katholische Milieu; Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, bes. S. 51ff.; Loth, Katholiken im Kaiserreich; Loth, Integration und Erosion; ders., Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs. Zu Aachen: Herres, Städtische Gesellschaft, S. 6–8; Mergel, Zwischen Klasse und Konfession, bes. S. 94–112, 162–194; Sobania, Stadtbürgertum und Stadtrat in Aachen 1800–1870, S. 91f.; Heinen, Anfänge des politischen Katholizismus in Aachen; ders., Katholizismus und Gesellschaft; Schmiedl, Marianische Religiosität in Aachen; Lepper, Sozialer Katholizismus in Aachen; Brecher, Oberpfarrer L. A. Nellessen. 287 Mergel, Zwischen Klasse und Konfession, S. 16f., 132–144, 208–210; ders., Grenzgänger; Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte, Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert, S. 381. 288 ‚Das Karlsfestދ, AA vom 20.1.1849; ‚Zur Kaiserfrageދ, AA vom 25.1.1849. Zum historischen Kontext Lill, Großdeutsch und Kleindeutsch im Spannungsfeld der Konfessionen; ders., Katholizismus und Nation bis zur Reichsgründung.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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herstellung der im tieffsten Innern des Volksbewußtseins schlummernden alten rechtmäßigen Ordnung wäre – gewiß [...], die Einheit Deutschlands wäre hergestellt.“289
Der Aachener Lokalheilige wurde dabei zur Symbolfigur der großdeutschen Nationsvorstellungen der Katholiken290, was ihn als Bindeglied zur preußischen Monarchie ungeeignet machte. Das Geschichtsbild der rheinischen Piusvereine war „antireformatorisch und antiaufklärerisch zugleich, getragen von einem traditionellen Reichspatriotismus, ohne nationalistisch zu sein, leicht verklärend hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Kirche.“291
Großdeutsche Ideen artikulierten sich insbesondere bei den Aachener Huldigungsfeiern für Erzherzog Johann am 6. August 1848, die man als Fest der nationalen Verbrüderung beging. Die Vorstellung, der preußische König könne in Aachen zum deutschen Kaiser gekrönt werden, stieß im Aachener Piusverein auf breiteste Ablehnung. Trotzdem beschlossen die Vereinsmitglieder am 29. Januar 1849, bezüglich der ins Auge gefassten Kaiserwahl eine Adresse an die Nationalversammlung zu richten, in der auf das Recht des Rheinlandes hingewiesen wurde, an der Neugestaltung Deutschlands mitzuwirken, da sich von hier aus das Christentum über ganz Deutschland verbreitet habe.292 Preußen sollte in einem einigen heiligen Deutschen Reich aufgehen, das keinesfalls eine Wiedererrichtung des als marode empfundenen, 1806 untergegangenen Alten Reiches sein durfte. Man hoffte auf eine Schiedsrichterrolle Preußens zwischen den Nationen in Europa, mit dem Ziel, dass die „lang verlorene[n] Brüder der Heimat“, die Schweiz, das Elsass, Belgien, Holland und die baltischen Provinzen, sich diesem Reich anschließen und Dänemark, Schweden und Norwegen sich in die Rolle von Schutzverwandten begeben würden.293 Die Rückkehr zu alter Kaiserherrlichkeit unter Führung Österreichs und die Aufrichtung des Reiches würden, so hoffte man, neuen Glanz für Aachen bedeuten. All diese Hoffnungen wurden in Aachen mit der Sage vom erwachenden Kaiser im Kyffhäuser verbunden und damit mythisch überhöht.294 Mitte des 19. Jahrhunderts lag demnach den katholischen Aachenern – und diese bildeten weiterhin die überwiegende Mehrheit – kaum etwas ferner als der Gedanke, die Stadt könnte zum traditionalen Legitimationsort der preußischen 289 Zit. nach Schiffers, Peter Kaatzer, S. 87. Vgl. auch EdG vom 25.1.und 1.2.1849; das Lobgedicht von Wilhelm Smets auf den Erzherzog Johann von Österreich in Kaatzers Album Jg. VI.1 (1848), S. 215 sowie Schiffers, Peter Kaatzer, S. 88–92; Herres, Parteipolitik und Religion 1848/49, S. 164f. 290 Schiffers, Peter Kaatzer, S. 80; Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert; Schmitz, Literatur im Historismus; Büttner, Karl der Große in der Kunst des 19. Jahrhunderts. 291 Zit. Schloßmacher, Die Piusvereine in der preußischen Rheinprovinz 1848/49, S. 163. 292 Herres, Dokumente zu den Wahl-, Petitions- und Vereinsbewegungen, S. 208. Im Echo der Gegenwart wurde die Wahl des preußischen Königs ohne jeglichen Kommentar berichtet, vgl. EdG vom 30.3.1849 bei Schiffers, Peter Kaatzer, S. 90. 293 Schiffers, Peter Kaatzer, S. 81–83. 294 ‚Zur Kaiserfrageދ, AA vom 25.1.1849; ‚Zur Kaiserfrageދ, AA vom 1.2.1849; ‚Meldung aus Frankfurt 26. Januarދ, EdG vom 3.2.1849. Vgl. Schiffers, Peter Kaatzer, S. 81–85.
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6 Inkompatible Traditionen
Monarchie oder einer von Preußen geführten kleindeutschen Nation werden. Stattdessen schwangen in ihren großdeutschen Vorstellungen noch immer die Erinnerungen an die Reichsstadt und das vom Habsburgerhaus geführte Alte Reich mit. Der nach der Revolution einsetzende autoritäre Kurs in Preußen führte zu einer neuerlichen Entfremdung zwischen dem Königtum und den Akteuren im lokalen Raum. Symptomatisch für die nachrevolutionäre Stimmung in Aachen ist, dass der Königsgeburtstag am Aachener Gymnasium nicht mehr als Veranstaltung mit Festvorträgen von Lehrern und Schülern, Rezitation von Gedichten und Gesang gefeiert und mit der preußischen Hymne Heil Dir im Siegerkranz abgeschlossen wurde295, sondern nur noch im Rahmen eines Gottesdienstes mit Tedeum und Chorgesang in der Gymnasialkirche.296 6.3.2 Die ungenutzten Bindekräfte der nationalen Monarchie (1858/62–1890) Das vom Ausgang der Revolution von 1848/49 enttäuschte liberale Bürgertum des Rheinlandes297 musste sich mit einer erneuten Restauration abfinden. Abgemildert wurde dies durch den Übergang Preußens zum Verfassungsstaat 1850. Über das Dreiklassenwahlrecht und die von der Rheinischen Städteordnung von 1856 gestärkte kommunale Selbstverwaltung erhielten Liberale und Katholiken einen stärkeren politischen Einfluss.298 Vor allem die wirtschaftliche Entwicklung trug zur Integration des rheinischen Bürgertums in den preußischen Staat bei.299 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war das katholische Aachen eine blühende Industriestadt inmitten einer aufstrebenden rheinischen Region geworden, ein Zentrum der Frühindustrialisierung, die sich durch den Einsatz von Dampf- und Spinnmaschinen in den traditionellen Gewerben Tuchproduktion und Metallverarbeitung revolutionär auswirkte.300 Die Bevölkerung stieg von 33.626 um 1819 über 52.687 um 1852 auf 74.146 Einwohner 1871 an. Aachen fiel damit zwar hinter die Wachstumsdynamik anderer deutscher Städte im gleichen Zeitraum zurück, doch blieb es eine Mittelstadt von Rang. Im Rheinland war Aachen bis 1871 hinter
295 Menge, Rede am Vorabend des Geburtstages des Königs im Jahre 1843. Dazu Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 144–148; Jeck, Heil dir im Siegerkranz. 296 Fritz, Nachrichten über die Benutzung des Rathauses, S. 215. 297 Gielen, Aachen im Vormärz, S. 183–197. 298 Poll, Das Hineinwachsen der Rheinländer in den preußischen Staatsverband, S. 22f.; Grzywatz, Stadt, Bürgertum und Staat im 19. Jahrhundert; Faber, Die kommunale Selbstverwaltung in der Rheinprovinz; Roy, Die Kommunalverwaltung im Regierungsbezirk Aachen; Schütz, Die Aachener Oberbürgermeister der Bismarckära. 299 Thomes, 1804–2004. 200 Jahre mitten in Europa, S. 51–106; Poll, Zur neueren Wirtschaftsgeschichte des Aachener Landes, S. 70ff.; Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung der nördlichen Rheinlande, bes. S. 67ff.; Milkereit, Wirtschafts- und Sozialentwicklung der südlichen Rheinlande. 300 Schainberg, Frühindustrialisierung im Aachener Raum, S. 49ff.; Herres, Die geringen Klassen und der Mittelstand, S. 382–385; [N.N.], Aachen im 19. Jahrhundert, S. 12–24.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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Köln die zweitgrößte Stadt.301 Der Zuzug von preußischen Beamten, Militär und seit 1870 auch von Professoren und Studenten führte zwar zu einer leichten Vergrößerung des Anteils der Protestanten an der Bevölkerung, doch war die Stadt zu etwa 95% katholisch.302 Im Aachener Unternehmertum herrschte Aufbruchstimmung, während sich die soziale Lage der frühindustriellen Arbeiterschaft der Stadt durch das Überangebot an Arbeitskräften, wiederholte Wirtschaftskrisen, Missernten, Teuerungen und Epidemien dramatisch verschlechterte.303 Aufgrund der politischen und sozialen Misere entwickelte sich eine demokratische Bewegung, die zunächst mehrere Arbeitervereine und 1874 einen Aachener Ortsverein der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hervorbrachte.304 Im vorliegenden Kapitel der Untersuchung soll nun der Frage nachgegangen werden, wie sich die schwierige Beziehung zwischen dem preußischen Königtum und den Aachenern in der Regierungszeit Wilhelms I. auf der kulturellen Ebene weiterentwickelte. Die Untersuchung beginnt zu diesem Zweck mit der Aachener Jubel-Huldigungsfeier im Mai 1865. Danach soll die weitere Restaurierung von Münster und Rathaus analysiert werden. Den Abschluss bildet ein Blick auf die bürgerliche Geschichtskultur Aachens. 6.3.2.1 Die inszenierte Jubel-Huldigungsfeier der Reichsmonarchie 1865 Der Thronwechsel von Friedrich Wilhelm IV. zu Wilhelm I. war auch in Aachen von Hoffnungen auf eine neue Politik begleitet. Beim Fest anlässlich der Königsberger Krönung Wilhelms I. 1861 brachte man am Aachener Gymnasium durch das Singen vaterländischer Lieder wieder die Treue zum König und zu Preußen zum Ausdruck.305 Symptomatisch für die veränderte Stimmungslage war ebenfalls, dass auf dem Aachener Katholikentag im September 1862 im Aachener Rathaus neben der Rednertribüne die Büsten Papst Pius’ IX. und des preußischen Königspaares, „fahnenumschattet zwischen Lorbeerbäumen“306 aufgestellt worden waren.307 301 Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, S. 77, Tab. 8; Althammer, Teuerung, Not und Cholera, S. 300f.; Kaemmerer, Geschichtliches Aachen, S. 77; Sobania, Stadtbürgertum und Stadtrat in Aachen 1800–1870, S. 79; Erdmann, Aachen im Jahre 1812, S. 147–150. 302 Herres, Städtische Gesellschaft, S. 46 mit den Angaben zum Jahre 1849; Kocka, Das lange 19. Jahrhundert, S. 77. 303 Althammer, Teuerung, Not und Cholera; Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung der nördlichen Rheinlande, bes. 19ff., 65ff.; Löhr/Wynands, Vom ersten zum zweiten Bistum Aachen, S. 19. 304 Herres, Parteipolitik und Religion 1848/49, S. 17, 18–29, 169ff.; Lepper, Sozialer Katholizismus in Aachen, S. 83*; Unterverband Aachen, Aachen 1863–1963. 305 Schön, Programm des Königlichen Gymnasiums zu Aachen im Herbste 1861, S. 43. Vgl. zur Feier der Königsberger Krönung Wilhelms I. in der Rheinprovinz Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 157–161. 306 Zit. Pick/Laurent, Das Rathaus zu Aachen, S. 120. 307 Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 196. Zum Aachener Katholikentag von 1862 Widera, Katholikentage in Aachen, S. 9–27.
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6 Inkompatible Traditionen
In der preußischen Innenpolitik hatte sich im selben Jahr 1862 der Streit um die Heeresreform zum Verfassungskonflikt und der „Machtkampf zwischen Krone und Parlament“308 zugespitzt. Mit der Berufung Bismarcks zum Reichskanzler war es zum offenen Machtkampf zwischen Liberalen und Konservativen gekommen.309 Bei der 50jährigen Jubelfeier der Vereinigung der Rheinprovinz mit Preußen am 15. Mai 1865 war von den gravierenden innenpolitischen Problemen insofern etwas zu spüren, als die liberale Opposition fehlte. Die rheinischen Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses hatten erst gar keine Einladung erhalten.310 Überlagert wurden die Spannungen vom Stimmungswechsel in der Öffentlichkeit nach dem Sieg über Dänemark im Frühjahr 1864, der mit der Abtretung der Herzogtümer Schleswig und Holstein an Preußen und Österreich der nationalstaatlichen Einigung Vorschub leistete.311 Die Aachener Jubel-Huldigungsfeier sollte als Triumph der preußischen Monarchie inszeniert werden. In die Feier eingebunden waren neben dem Gefolge des Königs und den staatlichen Behörden die Vertreter der beiden christlichen Kirchen und des gehobenen Bürgertums der Stadt.312 Der Ablauf war minutiös geplant, der Aufwand enorm. Die Auslagen der Stadt waren angesichts der hohen Gesamtkosten allerdings vergleichsweise gering. Die Kostenaufstellung der Huldigungsfeier beziffert die Gesamtsumme mit 21.233,25 Mark. Davon trug Aachen 1931,10 Mark, 12.000 Mark sollten aus der Provinzial-Hülfs-Kasse an die StadtRenten-Kasse überwiesen werden.313 Die seit dem 5. Mai stattfindenden Vorfeiern bezogen die Kriegsveteranen der Befreiungskriege dezidiert ein. Bereits am Vortag der Hauptfeier, dem 14. Mai 1865, traf das preußische Königspaar, begleitet von den beiden Kronprinzen Karl und Albrecht, Ministern und Regierungspräsident Kühlwetter314, der das Königspaar schon an der Grenze des Regierungsbezirks begrüßt hatte, am Marschiertorbahnhof ein. Dort fand der Empfang durch die Spitzen der lokalen Behörden statt, allen voran Oberregierungsrat von Solemacher, Polizeipräsident Hirsch und Bür308 Zit. Gall, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890, S. 53. 309 Ebd., S. 53–56. 310 Hansen, Preußen und das Rheinland von 1815–1915, S. 173f.; Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 35f. 311 Gall, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890, S. 56f.; Winkler, Der lange Weg nach Westen 1, S. 161–167. 312 Ausführlich über die Feierlichkeiten STA Aachen C 2120 (Zeitungsausschnitte 1865–1883); C 2750 (Zeitungsausschnitte 1865); GStA PK Berlin Rep. 77, tit. 98, Nr. 89, Bd. 1–6; Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 171–178; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 196–200 (mit Abb.); Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 35f.; Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens; Haagen, Geschichte Achens 2, S. 557f. 313 Schreiben des Festkomitees Aachen an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, von PommerEsche, vom 21.7.1865, LHA Koblenz 403, Nr. 9527. 314 Zu Friedrich Christian Hubert von Kühlwetter (1809–1882), Regierungspräsident in Aachen 1848 bis 1866, vgl. Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Beamten der Rheinprovinz, S. 589f.; Bergmann, Die Regierungspräsidenten des Regierungsbezirkes Aachen, S. 312–318.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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germeister Contzen315, gefolgt von den Stadtverordneten, den königlichen Behörden, dem Kölner Erzbistumsverweser Baudri und Weihbischof Boskamp, den Mitgliedern des Domkapitels, Stadtdechant Dilschneider, den Oberpfarrern und Pfarrern der Stadt, der evangelischen Geistlichkeit Aachens und Burtscheids und dem Vorsteher der israelitischen Gemeinde.316 Waisenjungen der Aachener Franziskanerbrüder schwenkten weiße Taschentücher. Aus der Stadt und der Umgebung war die Bevölkerung zusammengekommen, „um den geliebten König zu sehen“317. Die Bürger bildeten Spalier und brachten Hochrufe aus. Die Majestäten bedankten sich, indem sie sich in ihrem Kutschwagen erhoben und der Menge zuwinkten. Unter Glockengeläut und Geschützdonner fand der festliche Einzug in die prächtig illuminierte und ausgeschmückte Stadt statt. Die Straßen waren mit Menschen überfüllt. Schaulustige hatten auf den Dächern der Häuser Platz genommen.318 Der Weg führte das Königspaar zum Regierungspräsidium, wo es übernachten sollte. Am späten Abend brachten die Sänger des Concordia-Vereins dem König eine Serenade dar. Dieser bedankte sich mit einer Audienz und zum weiteren Ansporn der Sänger mit der Übernahme des Protektorats über den Verein.319 Am folgenden Morgen ertönte das Glockengeläut aller Kirchen der Stadt. Der König nahm zunächst eine Militärparade ab.320 Danach fanden im Münster und in der evangelischen Kirche Gottesdienste statt. Die königliche Familie nahm am evangelischen Gottesdienst teil.321 Gegen Mittag begann der feierliche Huldigungsakt vor dem Rathaus, an dessen Giebel man mit dem illuminierten Stadtwappen, der Umschrift der Karlshymne und einem heraldisch verzierten Adler Erinnerungsobjekte der reichsstädtischen Epoche angebracht hatte.322 Zwischen zwei auf dem Markt errichteten Ehrenpforten hatten sich in halbrundem Kreis dem Rathaus gegenüber die Ehrenwache, das Offizierskorps der Feuerwehr, die Karlsschützen, die Turnvereine und ein berittenes Musikkorps aufgestellt, daneben eine unübersehbare Menschenmenge. Vor dem Rathaus war in der gesamten Länge der Vorderfront und unmittelbar über der Freitreppe eine mächtige Tribüne, geschmückt mit farbigen Draperien, Laubwerk und Fahnenstangen, er315 Zu Bürgermeister Johann Contzen (1809–1875, amt. 1851–1875), 1848 Mitglied der preußischen Nationalversammlung Schütz, Die Aachener Oberbürgermeister der Bismarckära, bes. S. 448, 453–472; Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Beamten der Rheinprovinz, S. 398f.; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 177, 182. 316 ‚Der Einzug des Königsދ, EdG vom 15.5.1865. 317 Zit. ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865. 318 ‚Der Einzug des Königsދ, EdG vom 15.5.1865. 319 ‚Programm der Festlichkeiten, welche aus Anlaß der fünfzigjährigen Vereinigung der Rheinprovinz mit der Krone Preußen zu Aachen stattfinden werdenދ, EdG vom 7.5.1865; Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 10– 19; ‚Allerhöchste Kabinetts-Ordre ދWilhelms I. zur Übernahme des Protektorats über den Männergesangsverein Concordia, abgedruckt in Beilage zum EdG vom 21.5.1865. 320 ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865. 321 Ebd. 322 Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 11f.
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6 Inkompatible Traditionen
richtet worden. Im Hintergrund der Tribüne stand ein erhöhter Thron unter einem von einer goldenen Krone gehaltenen Baldachin aus rotem Samt. In nächster Nähe zum Thron hatten die höchsten Staatsbeamten und Hofchargen Aufstellung genommen. Rechts und links vom Thron standen die königlichen Behörden und städtischen Korporationen. Vor dem Thron hatten sich die Landtags- und Kreisdeputierten, der Aachener Stadtrat und die übrigen Teilnehmer platziert. Den Vereinen mit ihren Bannern waren feste Plätze zugewiesen worden. Die Gesangsvereine und das städtische Musikkorps standen auf eigens errichteten Tribünen.323 Beim Nahen des königlichen Wagens ertönte die Fanfare des Kavalleriemusikkorps. Das 2. Rheinische Infanterie-Regiment Nr. 28 spielte einen Krönungsmarsch. Gleichzeitig ertönte Glockengeläut und Kanonendonner. Auf der Kaisertreppe an der Seite des Rathauses wurden der König und die Königin vom Oberpräsidenten der Rheinprovinz, dem Marschall des letzten ProvinzialLandtages und dem Bürgermeister der Stadt Aachen empfangen. Beim Erscheinen der Majestäten vor dem Thron stimmten die Männergesangsvereine und das städtische Orchester eine Kantate an. An der Rathaustreppe bildeten die Karlsschützen Spalier.324 Der Landtagsmarschall Freiherr von Waldbott-Bassenheim hielt vor dem Thron eine Rede über die Bedeutung des Festtages und die Entwicklung der Rheinprovinz seit 1815, wobei er die Verbesserung der sozialen Verhältnisse, den Aufschwung von Kunst und Wissenschaft, Handel und Industrie eindringlich hervorhob. Im Namen der Provinz bedankte er sich für diese „Segnungen des Königshauses“325. Nach der Würdigung der ruhmreichen Heldentaten des Krieges gegen Dänemark beschloss er die Rede mit einem Hoch auf den König. Dieser dankte mit Blick auf die Entwicklung der Rheinprovinz im letzten halben Jahrhundert „für eine glückliche Vergangenheit“326, seinen königlichen Vorgängern und den Verantwortlichen der rheinischen Provinz für die Ausrichtung des Festes und hob die Vorteile der Vereinigung für alle Beteiligten hervor. Danach wurde die den Huldigungsakt bezeugende Urkunde vom Aachener Stadtverordneten und Vorsitzenden des Karlsvereins Justizrat Jungbluth öffentlich verlesen und anschließend im Ratssaal des Rathauses in dreifacher Ausführung unterschrieben. Die prestigeträchtige Rolle Jungbluths kann als symbolische Geste an das durch ihn vertretene katholische Bürgertum der Stadt verstanden werden und sollte die Bindung der Aachener Eliten an den preußischen König in Szene setzen. Dazu wurden die zurückliegenden Spannungen ausgeblendet und die Treue der Bürger zum fürsorglichen Königshaus in den Vordergrund gerückt.327 Der König betrat anschließend nochmals die Tribüne, um seinen Blick auf der
323 Königlich Preußischer Staatsanzeiger Nr. 115 vom 17.5.1865, S. 1530; Programm der Huldigungsfeier am 15. Mai 1865, GStA Rep. 77, tit. 98, Nr. 89, Bd. 2. 324 ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865. 325 Zit. Königlich Preußischer Staatsanzeiger Nr. 115 vom 17.5.1865, S. 1530; ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865. 326 Zit. ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865. 327 Ansprache des Stadtverordneten Jungbluth, in: ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865.
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festlichen Marktszenerie ruhen zu lassen, während abermals Kanonendonner ertönte. Schließlich geleitete man die Majestäten zu ihren Wagen zurück.328 Beim Besuch des Münsters wurde der König zunächst vor der Kirche vom Präsidenten des Karlsvereins begrüßt, der zuvor die Huldigungsurkunde verlesen hatte. An dieser Stelle hatte man eine Ehrenpforte mit der Inschrift Salve Protector! aufgestellt, die auf die königliche Unterstützung der Restaurierung des Bauwerkes anspielte. Am Hauptportal, über dem das Chronodistichon HIC CoeLI BeneDICtIo sVper regeM BorVssIae („Dieser Segen des Himmels über den König von Preußen“) zu lesen war, empfing dann der Erzbistumsverweser, der Kölner Weihbischof Baudri, namens des Episkopats, des Aachener Kollegiatstiftskapitels und der gesamten katholischen Geistlichkeit das Königspaar. In der Kirche stimmte man ein feierliches Tedeum an.329 In seiner Ansprache in der Mitte des Oktogons erinnerte Baudri an die Befreiungskriege, den Sieg über die Fremdherrschaft und die fünfzig Jahre zurückliegende Huldigungsfeier: die Beschwörung des gemeinsamen Feindes Frankreich, die offenbar dazu dienen sollte, die Probleme der nach wie vor schwierigen Beziehung der rheinischen Katholiken zum preußischen Staat zu überspielen und Gemeinschaft zu erzeugen. Namens der Geistlichkeit gab er stellvertretend für alle gläubigen Untertanen dem König in Form von Herrscherfürbitten ein inniges Treueversprechen: „Am heutigen Morgen haben wir am Altare unsere Wünsche und Gebete für Ew. Königl. Majestät und des Vaterlandes Glück dargebracht. Geruhen Allerhöchst Dieselben den Ausdruck des tiefgefühlten Dankes und der treuesten Hingebung, den ich Namens der Geistlichkeit der Erzbischöfe auszusprechen die Ehre habe, sowie die Herzenswünsche und Gebete zu genehmigen, welche eingedenk des Spruches: „Fürchtet Gott, ehret den König!“ heute aus der Brust treu ergebener Unterthanen zum Himmel emporsteigen! Möge Gott der Herr Ew. Königl. Majestät uns noch lange in frischer Kraft und Gesundheit erhalten! Möge der Allerhöchste Ew. Königl. Königin und Landesmutter, und das ganze Königl. Haus mit Seinen besten Gütern segnen und dem theuern Vaterlande unter Ihrem milden Scepter Friede und Wohlfahrt auch fortan noch lange hin verleihen! So wünschen, so beten wir!“330
Vor dem Hauptaltar in der Chorhalle, unter dem erneuten Gesang des Tedeums, nahm das Königspaar einander gegenüber auf bereitgestellten Sesseln Platz, während die anwesenden Ordensgeistlichen das Chorgestühl besetzten. Dort betrachteten Sie die von Friedrich Wilhelm IV. gestifteten Chorfenster und verließen nach kurzem Aufenthalt die Marienkirche wieder über das Hauptportal.331 Danach fand in Anwesenheit des Königspaares, des Regierungspräsidenten Kühlwetter, des Oberpräsidenten der Rheinprovinz, des Landtagsmarschalls, des Aachener Bürgermeisters, den Mitgliedern des Kuratoriums, den ausführenden Baumeistern und einer großen Menschenmenge die Einweihungsfeier der Poly328 Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 30; ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865; Programm der Huldigungsfeier am 15. Mai 1865, GStA Rep. 77, tit. 98, Nr. 89, Bd. 2. 329 Programm der Huldigungsfeier am 15. Mai 1865, GStA Rep. 77, tit. 98, Nr. 89, Bd. 2; ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865. 330 Ansprache Weihbischofs Baudri, zit. nach ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 18.5.1865. 331 ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 18.5.1865.
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technischen Schule statt.332 Zur Begrüßung des Königs hatte man am Bauplatz eine Ehrenpforte errichtet. Bis zum Königszelt bildeten die Aachener Karlsschützen und die Turngemeinde Spalier. Nach der im Programm vorgesehenen Ordnung hatten sich die Vertreter der Behörden und Verbände aufgestellt. Das Königspaar nahm unter den Klängen eines Trompetentuschs auf dem königlichen Thron Platz, den man auf einer dekorierten Estrade errichtet hatte. Die Festtribüne trug 1.500 nummerierte Plätze. Eine weitere Tribüne war den Sängern und Musikern vorbehalten, die die von einem Aachener Gymnasiallehrer komponierte Festhymne spielten. Dann folgte eine längere Rede des Regierungspräsidenten Kühlwetter über die Geschichte und Bildung der Rheinprovinz, insbesondere die Förderung der Industrie. In dieser führte er das starke Nationalgefühl der Aachener auf Karl den Großen und auf die Förderung durch die preußische Monarchie zurück. Unter Rückgriff auf den Kyffhäusermythos beschwor er den Patriotismus der Befreiungskriege gegen Napoleon als gemeinsames Band der Preußen und der urdeutschen Rheinländer. Doch artikulierte er zumindest indirekt auch das alte Misstrauen der preußischen Verwaltungsbeamten gegenüber den Beherrschten: „Der Patriotismus der Rheinländer ist nicht von altem Datum, aber er wurzelt in den Regententugenden der Hohenzollern und ist stark geworden in der persönlichen Liebe zum König und zu dem Königlichen Hause.“333
Nach der Vorlegung der Gründungsurkunde erfolgte unter den Klängen des Händelschen Krönungsmarsches die Grundsteinlegung der neuen Hochschule durch den König, die als Ergebnis und Ausdruck des fünfzig Jahre zuvor geschlossenen Bundes zwischen Preußen und der Rheinprovinz als lebendes „Denkmal des Dankes und der Liebe des Volkes“334 dargestellt wurde.335 Am Nachmittag stand im Kaisersaal des Rathauses ein offizielles Festessen auf dem Programm. Nach mittelalterlichem Vorbild betraten die Majestäten das Obergeschoss des Rathauses über die alte Kaisertreppe im westlichen Rathausturm.336 Die Wände des festlich dekorierten Kaisersaales waren mit den Fresken von Alfred Rethel und Josef Kehren, die an die Taten Karls des Großen erinnerten, ausgemalt.337 Das Bankett fand an Tischen statt, die mit goldenen und silbernen Geschirren und Tafelaufsätzen bedeckt waren. Die Königstafel zierte eine von einem Konditor hergestellte Germania, welche die Fahne Preußens in ihrer Rechten hielt, zu Füßen die allegorischen Figuren des langbärtigen Vaters Rhein und einer weiblichen Figur der Mosel. Dazu eine Siegespyramide, auf de332 Düwell, Gründung und Entwicklung der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen; ders., Die Gründung der Königlichen Polytechnischen Hochschule in Aachen; Kerner/Ricking, Aachen und das Polytechnikum, bes. S. 551–569. 333 Ansprache des Regierungspräsidenten von Kühlwetter, zit. nach Schüren, Die JubelHuldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 36–38. Vgl. auch EdG vom 21.5.1865. 334 Zit. ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 18.5.1865. 335 Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 32–50. 336 Ebd., S. 5. 337 Siehe oben Kap. 6.3.1.3.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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ren Flächen in goldener Schrift die jüngsten siegreichen Schlachten Preußens gegen Dänemark genannt waren. Die Königstafel stand halbkreisförmig auf einer Estrade, gegenüber in der Breite des Saales zwei Tischreihen für die insgesamt 600 Gäste, dem Range nach. Rechts von der Königstafel waren weitere fünf, links sechs Tische der Saallänge nach aufgestellt. Die Speisen wurden aus Küchen im Souterrain des Rathauses, die einst für die mittelalterlichen Krönungsmähler angelegt und nun wieder instand gesetzt worden waren, von eigens dazu ausgebildeten Soldaten bis vor den Saal gebracht, wo sie den Kellnern übergeben wurden. Mundschenke reichten die Weine. Die Imitation des mittelalterlichen Krönungsmahles brachte den Inszenierungscharakter der Feier zum Ausdruck. In der gewählten Form der symbolischen Kommunikation wurde der Wunsch der Akteure deutlich, jene Bindungen zwischen Königtum und Stadt, welche die mittelalterliche Ordnung ausgezeichnet hatten, neu zu beleben. Gleichzeitig vermittelte die Exklusivität des Mahles die soziale Distinktion der anwesenden städtischen Eliten von den übrigen Bewohnern der Stadt. Aachens Bürgermeister Contzen wies in seinem Festtoast auf die dem Kaisersaal innewohnenden „großartigen Erinnerungen“338 hin, „in welchem 36 deutsche Kaiser getagt hätten“339 und wo heute „nach einer trüben Zeit der Dank für eine neue, glorreiche Aera gefeiert werde“.340 Die preußischen Könige hätten in den zurückliegenden fünfzig Jahren immer ihr Wort gehalten, wenn sie Schutzversprechen abgegeben und sich um die Wohlfahrt des Landes und seiner Bewohner kümmern wollten, während umgekehrt die Nation das Treue- und Gehorsamsversprechen der Väter eingelöst habe. Mit dem klassischen Zitat aus Matth. 22,15, Gott zu geben, was Gottes ist und dem König, was des Königs ist, leistete der Redner stellvertretend für die ganze gegenwärtige Generation ein religiös überhöhtes Versprechen einer vorrangig auf das Königsamt bezogenen, entpersonalisierten Untertanenloyalität. Der Toast endete mit einem dreifachen Hoch auf den König, das in den Jubel der Festgäste überging.341 Der König schlug in seiner kurzen Dankesrede eine Brücke von der „in diesem alten Kaisersaale, in dem so viele Deutsche Kaiser gethront haben“342, verkörperten Vergangenheit in die Zukunft: „Möge diese Feier diese Gesinnung immer mehr befestigen […]!“343 Danach brachte er einen Trinkspruch „auf das Wohl der Stadt Aachen, der Rheinprovinz und des ganzen Deutschen Vaterlandes“344 aus, der Vizemarschall des Provinziallandtages, Freiherr Raitz von Frentz, anschließend einen Toast auf die Königin und das hohenzollernsche Haus. Mit der Bekräftigung universaler Treue, Liebe und Verehrung gegenüber dem Landes-
338 339 340 341 342 343 344
Zit. nach ‚Das Festmahlދ, EdG vom 19.5.1865. Zit. nach Ebd. Zit. nach Ebd. Vgl. Königlich Preußischer Staatsanzeiger Nr. 116 vom 18.5.1865, S. 1547. ‚Das Festmahlދ, EdG vom 19.5.1865. Zit. Rede Wilhelms I. zit. nach ‚Das Festmahlދ, EdG vom 19.5.1865. Zit. Ebd. Zit. Ebd.
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6 Inkompatible Traditionen
herrn stimmte die Festgemeinschaft ein weiteres Hoch an. Den Abschiedstoast zur Bekundung des Dankes und der Freude brachte schließlich der König aus.345 Ein Aachener Bürger hatte, wie bereits bei der Huldigungsfeier von 1815 geschehen, den im Besitz der Familie befindlichen Marktbrunnenpokal als Tafelschmuck für das Mahl im Rathaus ausgeliehen. Nachdem mit diesem Pokal damals auf das Wohl Friedrich Wilhelms III. getrunken wurde, erhob ihn jetzt Wilhelm I. zum Festtrunk. Zum Zeichen der königlichen Herablassung und Huld machte der Pokal dann nach „altdeutscher Sitte“346 die Runde bei den Gästen an der königlichen Tafel. Vom nahe gelegenen Lousberg wurden zeitgleich 101 Kanonenschüsse abgefeuert. Dort fanden Volksbelustigungen mit Luftballons für die Jugend, Fanfarenmusik und Spiele statt. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde ein Feuerwerk abgebrannt.347 Offenbar gab es keine Zwischenfälle. Die Aachener Polizei lobte die von der Bevölkerung auch bei den Volksbelustigungen eingehaltene „musterhafte Ordnung“348. Nach dem Bankett besuchte die Königin als „Beschützerin der Armen und Nothleidenden“349 die städtischen Klöster der armen Franziskanerinnen, der barmherzigen Schwestern zum Kinde Jesu und der guten Hirten, was das Bild des gütigen Landesmutter und des Monarchen als guter, fürsorgender Hirte seiner Untertanen evozierte.350 Abends fand in Anwesenheit der Majestäten ein Festball im „feenhaft“351 ausgeschmückten Aachener Kurhaus statt. Erneut war die ganze Stadt, insbesondere Regierungspräsidialgebäude, Münster, Rathaus und Elisenbrunnen, feierlich illuminiert. Dabei wurde zu Ehren der Majestäten ein „Adler in Brillantfeuer“352 angezündet. Die Straßen waren bunt beflaggt und reich geschmückt.353 Die tatkräftige Beteiligung der Bürger an der Ausschmückung der Stadt sollte als Beweis für deren patriotischen Gemeinsinn gelten. Besonders hatten sich die Vereine, Verbände und Schulklassen hervorgetan. Die wochenlange Arbeit erschien als Gemeinschaftserlebnis. Ein Uhrmacher brachte an seinem Geschäft ein Transparent mit folgendem Text an: „Wie heut’ die Millionen Flammen / Die Nacht verwandelten in Licht, / So jubeln Alle wir zusammen: / Des Rheinlands Treu’ wankt ewig nicht!“354
345 Programm der Huldigungsfeier am 15. Mai 1865, GStA Rep. 77, tit. 98, Nr. 89, Bd. 2. 346 Zit. Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 57f. Vgl. Quadflieg, Die Herkunft des Marktbrunnenpokals, S. 54; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 9.24, S. 720f. 347 ‚Die Volksbelustigungenދ, EdG vom 17.5.1865; Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 60. 348 Zit. ‚Die Abreise des Königspaaresދ, EdG vom 20.5.1865. 349 Zit. ‚Das Festmahlދ, EdG vom 19.5.1865. 350 Ebd. Dazu Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik, S. 29–165. 351 Zit. ‚Das Festmahlދ, EdG vom 19.5.1865. 352 Zit. ‚Die Volksbelustigungenދ, EdG vom 17.5.1865. 353 Programm der Huldigungsfeier am 15. Mai 1865, GStA Rep. 77, tit. 98, Nr. 89, Bd. 2. 354 Zit. nach Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 12.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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In anderen Fenstern waren Kränze mit den Initialen des Königs- und Kronprinzenpaares zu sehen. Ein Haus trug ein Transparent mit der Inschrift: „Vivat, / Floreat, / Crescat, / Borussia!”355 Offenkundig fand zwischen den Bürgern ein regelrechter Wettkampf um möglichst patriotische Treuebekundungen und prächtige Ausschmückungen mit Fahnen, Ballons und Lichtern statt, die Königsbüsten, Fürstenwappen, Adler, Schwerter und andere monarchische Symbole umgaben.356 Selbst in den entfernten Stadtvierteln der Industriearbeiter sei kaum ein Haus zum Empfang des Königs ungeschmückt geblieben, das Bild einer traditionsbewussten Stadt, die, wie das katholische Echo der Gegenwart357 meinte, ihren „ruhmreichen Traditionen auch jetzt wiederum würdig zu bleiben mit glänzendstem Erfolge bestrebt gewesen ist“.358 Das Rahmenprogramm besaß geradezu volkspädagogischen Charakter. So wurden Vorträge über den Zustand der Provinz unter der Fremdherrschaft, über die Begeisterung des Volkes 1815, den Aufschwung der Provinz unter Preußen, die Treue Aachens und die „väterliche Fürsorge für die Jugend“359 gehalten. Die Schwestern der Genossenschaft vom armen Kinde Jesu schenkten der Königin eine Seiden- und Goldstickerei als Tafeldecke. Sie sollte ein Symbol der neuen Verbundenheit der Aachener mit dem preußischen Herrscherhaus sein. Verziert war es mit dem Hoheitswappen der Königin, umgeben von der großen Kette des Schwarzen Adlerordens. In der Abschlussborte fand sich die Karlshymne in verzierter gotischer Minuskel- und Majuskelschrift eingestickt.360 Der König bekam als Geschenk der Stadt einen prachtvollen Teppich überreicht.361 Umgekehrt erhielten mehrere Aachener Bürger aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft anlässlich des Besuches prestigeträchtige Orden. Bürgermeister Contzen wurde zum Oberbürgermeister ernannt.362 Am folgenden Tag besuchte die Königin das Theresianum, das Kloster zur Pflege altersschwacher Armer und zur Erziehung der Waisenkinder. Dazu hieß es im Echo der Gegenwart: 355 Zit. nach Ebd., S. 14. 356 Ebd., S. 12f. 357 Zu dieser 1848 als „Sprachrohr der Großdeutschen und der kath. Partei“ vom Buchhändler und Verleger Peter Kaatzer (1808–1870) gegründeten Zeitung Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 142, 174, Herres, Parteipolitik und Religion 1848/49, S. 142ff.; Schiffers, Der Kulturkampf in Stadt und Regierungsbezirk Aachen, S. 176–180; ders., Peter Kaatzer. 358 Zit. ‚Zur Jubelfeier. Vom 15. Mai 1815 bis 15. Mai 1865ދ, EdG vom 15.5.1865. Vgl. Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 4, 15. 359 Zit. ‚Die Abreise des Königspaaresދ, EdG vom 20.5.1865. Vgl. Schüren, Die JubelHuldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 126–135. 360 ‚Das Festgeschenk der Stadt Aachen an Ihre Majestät die Königin Augustaދ, EdG vom 15.5.1865. 361 ‚Zur Jubelfeierދ, EdG vom 17.5.1865. 362 Vorschlagsliste für Ordens- und Titelverleihungen in LHA Koblenz 403, Nr. 9527; Liste der Orden- und Titelverleihungen, GStA Rep. 77, tit. 98, Nr. 89, Bd. 1; EdG vom 17.5.1865; Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 116–120.
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6 Inkompatible Traditionen „Beim Abschiede hierselbst hatten sich die kleinen Waisenknaben im Hofe aufgestellt, ausgerüstet mit ihren zum Spiele und zur Körperübung dienenden hölzernen Waffen und präsentirten vor Ihrer Majestät das Gewehr.“363
Währenddessen erhielt der Kronprinz, begleitet von Prinz Karl, von Stiftskanonikus Franz Bock364 eine Führung durch die Marienkirche mit einer Zeigung der Domschätze.365 Danach reiste das Königspaar mit der Eisenbahn nach Köln weiter, wo die Grundsteinlegung eines Denkmals für seinen Vater Friedrich Wilhelm III. erfolgen sollte, die auf wenig Gegenliebe in der Bevölkerung stieß und in liberalen Zeitungen sogar reserviert wahrgenommen wurde.366 Die Aachener Presse feierte dagegen überschwänglich das lokale Großereignis. Sie hatte bereits Anfang April mit ausführlichen, im patriotischen Ton gehaltenen Berichten über den Anlass und den Ablauf des Festes begonnen. Der gesamte Hergang und die Reden der Huldigungsfeier fünfzig Jahre zuvor wurden ausführlich ins Gedächtnis gerufen und aus zeitgenössischer Perspektive umgedeutet: der damalige Jubel der Rheinländer über die Befreiung Deutschlands und Europas, das „Vorhandensein einer deutsch-nationalen Bewegung“367, der Kampf „um Freiheit und nationale Wiedergeburt“368 und nicht zuletzt die Beteiligung der Aachener Bevölkerung, welche die Huldigungsfeier „zu einem ‚VolksSchauspiele“ދ369 gemacht habe. Die Presseberichterstattung war bestrebt, beide Huldigungsfeiern, 1815 und 1865, als Volksfeste und Ausdruck der „Blutsverwandtschaft zwischen Fürst und Volk“370 erscheinen zu lassen. Das Echo der Gegenwart forderte seine Leser zu einem klaren Bekenntnis zu Preußen auf.371 Das patriotische Gedicht Zum 15. Mai 1865 von Nicolaus Schüren beschwor die ewige Treue der Aachener zu König und Preußen. Der vom Autor beteuerte kollektive Treueschwur wurde mit der Nennung der mythischen Orte Aachener Identität, des Kaisersaals im Rathaus und des Münsters mit „Kaiser Karols Heldengruft“372, mit
363 Zit. ‚Die Abreise des Königspaaresދ, EdG vom 20.5.1865. Vgl. Schüren, Die JubelHuldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 66. 364 Zu Franz Bock (1823–1899), Ehrenstiftsherr des Aachener Marienstifts und kunsthistorisch gebildeter Autodidakt, Verfasser des 1864 erschienenen Prachtwerks ‚Die Kleinodien des heiligen römischen Reiches deutscher Nationދ, Cortjaens, Kanonikus Franz Bock; Borkopp, Franz Bock. 365 ‚Die Abreise des Königspaaresދ, EdG vom 20.5.1865. 366 Königlich Preußischer Staatsanzeiger Nr. 116 vom 18.5.1865, S. 1547; LHA Koblenz 403, Nr. 9527. Vgl. Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 176. 367 Zit. ‚Zur Jubelfeier der Rheinprovinzދ, EdG vom 4.4.1865. 368 Zit. Ebd. 369 Zit. ‚Zur Jubelfeier der Rheinprovinzދ, EdG vom 12.4.1865. Vgl. ‚Zur Jubelfeier der Rheinprovinzދ, EdG vom 8.4.1865; ‚Zur Jubelfeier der Rheinprovinzދ, EdG vom 9.4.1865; ‚Zur Jubelfeier der Rheinprovinzދ, EdG vom 10.4.1865; ‚Zur Jubelfeier der Rheinprovinzދ, EdG vom 11.4.1865; ‚Zur Jubelfeier der Rheinprovinzދ, EdG vom 12.4.1865; ‚Programm zu den Festlichkeitenދ, EdG vom 7.5.1865; ‚Unser König zieht bei uns einދ, EdG vom 14.5.1865. 370 Zit. ‚Unser König zieht bei uns einދ, EdG vom 14.5.1865. 371 ‚Unser König zieht bei uns einދ, EdG vom 14.5.1865. 372 Zit. Nicolaus Schüren, Zum 15. Mai 1865, EdG vom 15.5.1865.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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dem „deutschen Rhein“373 und der Verbindung von „Zollerns Aar“ und „Preußens Aar“374 symbolisch aufgeladen.375 Ein sich als „Rheinpreuße“376 bezeichnender anonymer Autor feierte in seiner anlässlich der Feierlichkeiten erschienenen Druckschrift die „Schaffung eines wirklichen deutschen Königtums und gestaateten Volkstums“377 durch die preußische Monarchie. Diese habe die Kleinstaaten des Heiligen Römischen Reiches, „des in Blödsinn, Verrücktheit und Feigheit verkommenen Pfaffenreiches, welches das heilige römische Reich hieß“ 378
und das durch „das überwuchernde Römerthum, Oesterreicherthum und Privatfürstenthum“379 zerfressen gewesen sei, abgelöst und stehe jetzt den Franzosen, den Nachfahren Napoleons gegenüber. Im neuen preußischen Reich hätten die Rheinländer ihre geistige und nationale Heimat gefunden. Es gebe nun keine andere Heimat mehr, auch nicht das abstrakte Deutschtum oder die „Provinzialthümlichkeit“380. Passend dazu druckte das Echo der Gegenwart die prophetischen Mahnworte Ernst Moritz Arndts von 1815 wieder ab, mit denen offenbar der Geist der Befreiungskriege, Wehrhaftigkeit, Patriotismus und Gemeinschaftsdenken, belebt werden sollte.381 Selbst Friedrich Wilhelm III. wurde als „Der Gerechte“382, als Kriegsheld gegen Napoleon, „Wegweiser des preußischen Heldenvolk[es]“383, wegen seiner „Großthaten der Versöhnung“384 und seiner Unterstützung der Dombauten in Aachen und Köln gefeiert. Auf den „gottvertrauenden Wegen des Vaters“385 wandele nun auch Wilhelm I., der Held des Krieges gegen Dänemark, der die Rheinlande unter seinen Schutz und Schirm genommen habe. Zur Erinnerung an den Festtag ließ das Festkomitee eine Medaille prägen, welche die Porträts Friedrich Wilhelms III., Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I. und ein Bild des Aachener Rathauses zusammen mit einer Umschrift, die auf die Huldigungsfeier am 15. Mai 1865 verwies, zeigte.386 Eine umfangreiche Fest373 Zit. Ebd. 374 Zit. Ebd. 375 ‚Zur fünfzigjährigen Jubelfeier ދvon Math. Dunkel, EdG vom 14.5.1865; ‚Festgedicht ދvon A.-J. Flecken, EdG vom 14.5.1865; ‚Jubelgruß ދvon A.-J. Flecken in EdG vom 23.5.1865. 376 Zit. [N.N.], Zur fünfzigjährigen Jubelfeier der Einverleibung der Rheinprovinz in Preussen, S. 4. 377 Zit. Ebd. 378 Zit. Ebd. 379 Zit. Ebd. 380 Zit. Ebd., S. 25. 381 ‚Zur Jubelfeier. Vom 15. Mai 1815 bis 15. Mai 1865ދ, EdG vom 15.5.1865. Vgl. Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, S. 2. 382 Zit. ‚Zur Jubelfeier. Vom 15. Mai 1815 bis 15. Mai 1865ދ, EdG vom 15.5.1865. 383 Zit. Ebd. 384 Zit. Ebd. 385 Zit. Ebd. 386 ‚Jubelfeier-Medailleދ, EdG vom 18.5.1865. Vgl. Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 200 (mit Abb.).
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6 Inkompatible Traditionen
schrift fasste die Ereignisse des Besuches zusammen und führte namentlich die Mitglieder des städtischen Festkomitees, die am Festzug teilnehmenden Korporationen und Vereine, die Gäste beim Festbankett im Krönungssaal, die vom König mit Orden, Ehrenzeichen und Titeln ausgezeichneten Aachener sowie die Stifter von Pretiosen für die Marienkirche auf.387 All dies zeigte die intensiven Bemühungen aller Beteiligten, die Jubel-Huldigungsfeier als nationales Verbrüderungsfest unter den Auspizien des Reichsmonarchen zu inszenieren. Doch war bei näherem Hinsehen die Inkompatibilität der beiden aufeinander treffenden Symbolsysteme unübersehbar. Wilhelm I. brachte die von den lokalen Akteuren gebotene kulturelle Tradition Aachens, materialisiert in den auf den Karlskult und die Krönungstradition bezogenen Objekten, nicht mit seinem Königtum in Verbindung. Der König blieb, ganz in der Tradition seiner Vorgänger, inmitten des um ihn herum in Aachen inszenierten Spektakels ein blasser Landesherr. 6.3.2.2 Enttäuschte Hoffnungen: Reichsgründung und Kulturkampf Den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870/71 nahm man in Aachen vom ersten Tag an als nationalen Einigungskrieg wahr: „Deutschland ist einig!“388, jubelte das Echo der Gegenwart zwei Tage nach der französischen Kriegserklärung, am 21. Juli 1870. Diese Haltung war durchaus repräsentativ für die nationale Begeisterung der Bevölkerung und Presse im Rheinland. Die Resignation nach dem Ausbruch des Bruderkrieges gegen Österreich 1866, dem im katholischen Aachen traditionell große Sympathien entgegen gebracht wurden, war bereits nach der maßgeblich von rheinischen und westfälischen Regimentern siegreich gestalteten Schlacht von Königgrätz einem merklichen Stimmungswandel gewichen. Der Krieg gegen Frankreich konnte deshalb mit einer breiten Unterstützung der Rheinländer geführt werden.389 Als Ende 1870 in Aachen die Hoffnung aufkeimte, dass die Stadt zum Ort der Kaiserkrönung bestimmt würde, glaubte man schon, die frühere Bedeutung Aachens als Krönungsstadt des Reiches wiederherstellen zu können.390 Die Prokla-
387 Schüren, Die Jubel-Huldigungsfeier der Vereinigung der Rheinlande mit der Krone Preußens, bes. die Beilagen S. 69–125. 388 Zit. nach Schiffers, Peter Kaatzer, S. 101. 389 Poll, Das Hineinwachsen der Rheinländer in den preußischen Staatsverband, S. 24f.; Lepper, Die Aachener Regierung und das politische Leben zur Zeit der Reichsgründung, S. 103; Schiffers, Der Kulturkampf in Stadt und Regierungsbezirk Aachen, S. 26–31, 40–42. Über die Haltung der Katholiken zur Reichsgründung allgemein Becker, Konfessionelle Nationsbilder im Deutschen Kaiserreich, S. 392–407; Deuerlein, Die Bekehrung des Zentrums zur nationalen Idee, S. 436; Hehl, Katholizismus und die Einheit der Nation, S. 95–98; Lill, Die deutschen Katholiken und Bismarcks Reichsgründung; ders., Großdeutsch und Kleindeutsch im Spannungsfeld der Konfessionen; ders., Katholizismus und Nation bis zur Reichsgründung; Loth, Integration und Erosion; ders., Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs; Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat, S. 158f. 390 Oppenhoff, Kaiserkrönung 1871, bes. Zit. S. 169.
6.3 Ein schwieriger Dialog
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mation des deutschen Kaiserreiches in Versailles am 18. Januar 1871391 wurde in der Aachener Presse mit Freude aufgenommen und gegen österreichische Einwände verteidigt. Gleichzeitig war man optimistisch, dass Österreich sich der nationalen Einheit anschließen würde.392 Am 24. Januar nahm die Stadtverordnetenversammlung einen Antrag mit der entsprechenden Bitte der Stadt an den preußischen König einstimmig an, und zwar mit der Begründung, Aachen habe die nunmehr in Wien befindlichen drei Reichskleinodien in seinem Besitz gehabt, und „das Recht, sie zu verwahren, sei [...] nicht verloren gegangen“.393 Ende Januar beriet die Stadtverordnetenversammlung über die Restaurierung der auf der mittelalterlichen Karlsbüste des Stiftschatzes befindlichen Krone, die bei der erhofften Kaiserkrönung in Aachen Verwendung finden sollte. In der Sitzung vom 21. März wurde eine auf neun Monate veranschlagte Restaurierung der Krone beschlossen. Die aufwändigen Restaurierungsarbeiten sollte der Goldschmied August Witte durchführen, der seine Arbeiten allerdings erst am 11. Januar 1872 abschließen konnte.394 Bereits Mitte Februar 1871 war jedoch klar, dass der Wunsch Aachens nicht in Erfüllung gehen würde und die Berliner Regierung keine Kaiserkrönung beabsichtigte.395 Der im Dezember 1871 entflammte Kulturkampf belastete das Verhältnis der rheinischen Katholiken zum preußischen Staat erneut schwer und führte bei diesen zu einem „Gefühl der Reichsfremdheit“396. Die katholische Bevölkerung und der Klerus beantworteten die kirchenfeindlichen Maßnahmen der Behörden mit passivem Widerstand. Die Aachener Heiligtumsfahrten von 1874 und 1881 wie auch der Katholikentag von 1879 wurden zu Massendemonstrationen der Kirchentreue.397 Die aggressive Politik Bismarcks, die konservativen Kräfte mit der Bekämpfung sogenannter Reichsfeinde an den monarchischen Obrigkeitsstaat zu
391 Halder, Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914, S. 1–3; Gall, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890, S. 62f. 392 ‚Proklamierung des deutschen Kaiserreichesދ, EdG vom 19.1.1871; Kaiser und Reich, EdG vom 1.2.1871. Dazu Schiffers, Der Kulturkampf in Stadt und Regierungsbezirk Aachen, S. 42f. 393 Zit. Oppenhoff, Kaiserkrönung 1871, S. 169. 394 Mit allen Details Ebd., S. 172f. Vgl. zur Goldschmiedewerkstatt August Witte GmbH maßgeblich Cortjaens, Rheinische Altarbauten des Historismus, S. 128–134. 395 Oppenhoff, Kaiserkrönung 1871, S. 175f. Vgl. auch Wynands, Kleine Geschichte Aachens, S. 61. 396 Zit. Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat, S. 162. Den Kulturkampf im Rheinland und in Aachen beleuchten Lill, Der Kulturkampf; Mergel, Zwischen Klasse und Konfession, S. 253–282; Gielen, Aachen und Eupen unter dem Eisernen Kanzler, S. 74ff.; Hegel, Die katholische Kirche in den Rheinlanden, S. 382ff.; Lepper, Die Aachener Regierung und das politische Leben zur Zeit der Reichsgründung; ders., Die kirchenpolitische Gesetzgebung der Jahre 1872–1875; ders., Die Generalversammlung der Katholiken Deutschlands vom 8. bis 11. September 1879 in Aachen; Schiffers, Der Kulturkampf in Stadt und Regierungsbezirk Aachen; ders., Das katholische Aachen im Wandel der Jahrhunderte, S. 92– 94. Vgl. aus der Fülle der Literatur zum Kulturkampf Heinen, Umstrittene Moderne; Halder, Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914, S. 38–49. 397 Widera, Katholikentage in Aachen, S. 28–77.
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binden398, verschärfte die Krise. Gerade in Aachen, einer Hochburg des Ultramontanismus, mussten die Katholiken einen ständigen Spagat zwischen ihrer Staatsund Kirchentreue anstellen. Die Protesthaltung der Katholiken im Kulturkampf richtete sich allerdings nicht gegen den Monarchen oder das Reich, sondern gegen Bismarck und die liberalen und konservativen Kulturkämpfer. Seit 1878 wurde die Durchführung der meisten Kulturkampfgesetze schrittweise zurückgenommen, wodurch sich das Verhältnis zwischen katholischer Bevölkerung und preußischer Regierung allmählich entspannte. Für den Monarchen wurden nach dem überstandenen Attentat im Mai 1878 selbst von renitenten Aachener Geistlichen Dankgottesdienste abgehalten.399 Letztlich überlagerten das durch die Reichsgründung ausgelöste Nationalgefühl der Rheinländer und die wirtschaftliche Gesamtentwicklung400 die konfessionellen Spannungen. Die nun fortschreitende Integration in den preußisch-deutschen Nationalstaat belasteten sie immer weniger.401 6.3.2.3 Umstrittene Symbolpolitik: die Restaurierung von Münster und Rathaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Vor dem geschilderten politischen Hintergrund soll im Folgenden die ikonographische Gestaltung des Aachener Münsters und Rathauses in der zweiten Jahrhunderthälfte dargestellt werden. Die Debatten darüber machen deutlich, dass hierbei ein Konflikt um die kulturelle Deutungshoheit zwischen den nationalliberalen und katholischen Fraktionen innerhalb der Stadt ausgetragen wurde, in den auch die preußische Regierung involviert war. Zwischen beiden Lagern gab es Gruppierungen wie den Aachener Karlsverein. Der Vorstand des Vereins appellierte an die Treue der Mitglieder zur Monarchie und bewies bei festlichen Anlässen seine staatstragende Haltung, wobei sicherlich auch das Interesse einer Fortsetzung der finanziellen Förderung der Münsterrestaurierung durch die Berliner Regierung zu beachten ist.402 Entsprechend seiner christlich-katholischen Fundierung403 betonte der Verein nicht weniger die enge Beziehung zum Papst und zum 398 Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 279. 399 Schiffers, Der Kulturkampf in Stadt und Regierungsbezirk Aachen, S. 193–207, bes. S. 200f.; Löhr, Caroli treue Söhne sind wir ja, S. 192. 400 Zur Wirtschaftsentwicklung der Rheinlande nach 1870 Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung der nördlichen Rheinlande, S. 71–112; Milkereit, Wirtschafts- und Sozialentwicklung der südlichen Rheinlande, S. 247ff. 401 Poll, Das Hineinwachsen der Rheinländer in den preußischen Staatsverband, S. 26f. 402 Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 16, 58, die erwähnte Rede Jungbluths beim Besuch Wilhelms I. in Aachen anlässlich der Jubelhuldigungsfeier im Mai 1865 sowie die Hochrufe auf das Kaiserpaar bei der Dank- und Jubelfeier des Karlsvereins im Oktober 1872, vgl. [N.N.], Dank- und Jubelfeier für 25jährige Bemühungen zur Restauration des Aachener Münsters, S. 4f., 20–23. 403 Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters; [N.N.], Dank- und Jubelfeier für 25jährige Bemühungen zur Restauration des Aachener Münsters, S. 10, 31; Faymonville, Das Münster zu Aachen, S. 13; Lepper, „Rettet das ‚deutsche Volksheiligthum“ދ, S. 119ff.
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Kölner Erzbischof. So wurde beim Festessen der Vereinsmitglieder anlässlich der Dank- und Jubelfeier am 20. Oktober 1872 die Büste Pius’ IX. neben derjenigen Wilhelms I. aufgestellt, was die doppelte Loyalitätsbindung der Vereinsmitglieder symbolhaft ausdrückte.404 Obwohl alle Beteiligten am Projekt der Münsterrestaurierung nach der Beseitigung der verachteten barocken Stuckatur des Innenraums 1869/70405 die Wiederherstellung eines als original angenommenen mittelalterlichen Zustandes anstrebten, entbrannten über die Form der Neugestaltung heftige und langjährige Kontroversen. Insgesamt setzte sich eine christlich-katholisch ausgerichtete Ikonologie durch, deren stärkste Zeugnisse der 1868 vollendete Marienzyklus der großen Glasfenster des Chores und die dortige Bemalung der Statuen Mariens, des Stadtpatrons Karl und der zwölf Apostel sowie des Doppelbildnisses der Madonna darstellen. Drei der Chorfenster wurden von Friedrich Wilhelm IV. gefördert.406 Neben der Darstellung der Unbefleckten Empfängnis nach dem Dogma von 1854, Bildern aus dem Leben und der Himmelfahrt Mariens sowie des Stifters Karls des Großen, der Maria kniend ein Modell des Münsters überreicht, war im unteren Teil des ersten großen Chorfensters der Nordseite eine Gruppe von zwölf deutschen Kaisern und Königen von Ludwig dem Frommen bis Friedrich II. abgebildet.407 Weitergehende Überlegungen einer Gruppe um den Aachener Arzt Debey, das Münster in eine „Reichs- und Krönungskirche“408 und damit in ein politisches Nationalheiligtum kleindeutscher Provenienz umzudeuten, wurden von der kirchennahen Opposition vereitelt. Auch der vom leitenden Regierungs- und Baurat Theodor August Stein409 und später vom Kölner Dombaumeister Friedrich Zwirner410 beabsichtigte Neubau einer den Nationalgedanken treffenden künstlichen Kaisergruft im Oktogon des Domes scheiterte am Widerstand des Stiftskapitels, das im Juli 1859 das Kölner
404 [N.N.], Dank- und Jubelfeier für 25jährige Bemühungen zur Restauration des Aachener Münsters, S. 5–8, 23–25. 405 Fleischmann, Die barocke Ausstattung des Aachener Münsters, S. 284–287; Fleischmann, Das Aachener Münster, S. 137; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 335, 339; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 267. 406 Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 32; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 408; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 344; Schild, Theodor August Stein. 407 Das neue Königsfenster im Aachener Münster, Karlsverein vom 3.7.1860, GStA PK Berlin HA I, Rep. 137, Nr. 32; Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 22–33; [N.N.], Dank- und Jubelfeier für 25jährige Bemühungen zur Restauration des Aachener Münsters, S. 14, 17f.; Faymonville, Das Münster zu Aachen, S. 69; Oellers, Zur Frage der älteren Verglasung des Aachener Domes; Hunecke, Glasmalereien der Chorhalle des Aachener Domes, S. 284–290; Müllejans, Das grosse Glasgemälde von 1853 des Peter von Cornelius; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 270f.; Lepper, „Rettet das ‚deutsche Volksheiligthum“ދ, S. 164ff.; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 343f. 408 Zit. Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 606. 409 Schild, Theodor August Stein. 410 Weyres, Ernst Friedrich Zwirner.
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erzbischöfliche Generalvikariat zu einer ablehnenden Entscheidung veranlasste.411 Die Restaurierung der Oktogonkuppel führte zu jahrzehntelangen Diskussionen immer neuer Entwürfe und Einwände.412 So fand im Juli 1859 der detailliert ausgearbeitete Vorschlag des Düsseldorfer Professors Ernst Deger413, das karolingische Oktogon mit Porträts europäischer Fürsten, darunter auch heiliger Könige, auszustatten und damit der Idee des königlichen Gottesgnadentums Ausdruck zu verleihen, durch Erlass des erzbischöflichen Generalvikariats in Köln ein jähes Ende. Deger hatte unter anderem geplant, in der Kuppel des Oktogons Karl den Großen mit allen Reichsinsignien, sitzend auf einem Krönungsstuhl, darunter die in Aachen gekrönten Herrscher von Ludwig dem Frommen bis Ferdinand I. darzustellen.414 Die Planungen Steins, Zwirners und Degers wurden auch im Karlsverein kontrovers diskutiert. Die Vorstandsmitglieder sprachen sich mit Mehrheit für beide Vorschläge aus, was zeigt, dass die vom Vorsitzenden Jungbluth geführte nationale Fraktion im Verein die Oberhand hatte. Die Ablehnung von Degers Entwurf wurde deshalb im Karlsverein mit einiger Verstimmung aufgenommen.415 1861 wurden erneut Grabungen im Atrium, in der karolingischen Apsis und im Oktogon vorgenommen, doch förderten sie keine neuen Ergebnisse zu Tage. In Anlehnung an das romantische Kyffhäusermotiv erzählten die Aachener den Besuchern des Münsters vom jahrhundertelang in seiner Gruft auf seinem Thron schlummernden Kaiser Karl, dem Helden und unüberwindlichen Kriegsherrn, dem gerechten, milden und väterlichen Herrscher, dem Heiligen, der von allen Völkern bestaunten unsterblichen Majestät.416 Von der frühmittelalterlichen Kryp411 Akten über diesen Vorgang finden sich in GStA PK Berlin, HA I, Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 2; Protokolle der Sitzung des Karlsvereins vom 1.4. und 8.4.1859, LHA Koblenz, Bestand 403, Nr. 10778; STA Aachen Depositum Karlsverein Nr. 184. Vgl. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 50–52; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 408f.; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 271; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 606f.; Heuschkel, Ein ‚Volksheiligtum ދim 19. Jahrhundert; Heuschkel, Das Herrschergrab Karls des Großen, S. 118–134. 412 Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 55–70. 413 Zum Historienmaler Ernst Deger (1809–1885), einem Hauptvertreter der Nazarener-Schule und Weggefährte Rethels, Daelen, Deger; Fusenig, Karl der Große zwischen ‚Historie ދund ‚Nationalmythosދ, S. 46; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 606. 414 Briefwechsel über die Entwürfe von Professor Deger vom Oktober 1854, GStA PK Berlin, HA I Rep. 137 I, Nr. 32; Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 38–50; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 416; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 267f.; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 606f. 415 Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 47f.; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 269f.; Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 58–62; Pohle/Konnegen, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 179f. 416 Ladoucette, Reise im Jahre 1813 und 1814, S. 22; Brief Ernst von Schillers an seine Mutter vom 28.7.1819 über seinen Besuch im Aachener Dom, in dem von einer Sitzbestattung Karls des Großen auf seinem Thron die Rede ist (Wacker, Schillers Sohn Ernst über Aachen, S. 78). Die Erwähnung in dem 1824 erschienen Fremdenführer von Schreiber, Geschichte und Beschreibung von Aachen mit Burtscheid, Spaa, S. 15; das 1825 veröffentlichte Geschichtswerk von Quix, Historische Beschreibung der Münsterkirche, S. 6–8. Den Bericht des 1832 durch-
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ta, über die historische Berichte und lokale Legenden berichtet hatten, fand sich allerdings keine Spur. Die Krypta war, wie man nun glaubte, bei der Erhebung der Gebeine Karls des Großen durch Friedrich Barbarossa 1165 zerstört worden.417 1880/81 wurde schließlich das neue Kuppelmosaik des Oktogons nach Entwürfen von Jean Baptiste Bethune durch die venezianische Mosaikwerkstatt Antonio Salviatis vollendet, nachdem es über die Wahl der Ausschmückungsform, des Motivs und schließlich der Entwürfe verschiedener Künstler zu heftigen Kontroversen gekommen war.418 Realisiert wurde schließlich eine Darstellung der Majestas Domini und der 24 Ältesten. Das Motiv rekonstruierte man nach Quellen des 17. Jahrhunderts419, obwohl bautechnische Untersuchungen Zweifel daran hatten aufkommen lassen, ob der Innenraum des karolingischen Oktogons jemals mit Mosaiken verkleidet gewesen war.420 Das Resultat entsprach einem historistischen Bild der karolingischen Kunst, wie es sich Bethune nach Studien spätantiker und frühmittelalterlicher Mosaiken in Rom, Ravenna und Konstantinopel gemacht hatte. Es stand den vom Konservator der preußischen Regierung Ferdinand
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reisenden Schriftstellers James Fenimore Cooper (Gleanings in Europe. The Rhine), abgedruckt bei Fleischmann, Das Aachener Münster, S. 135: A chair that was found in Charlemagne’s tomb, stands in this gallery, and was long used as a throne for the Emperors. Über die Reisenotizen ‚Aachen ދder Cecilia Böhl de Faber von 1836, vgl. Breidenbach, ‚Aachen– ދ Vergessene Reisenotizen einer deutsch-spanischen Schriftstellerin, S. 206; der 1860 erschienene Fremdenführer von Benrath, Aachen, Burtscheid und ihre Umgebung, S. 11. sowie zur Aachener Legende auch Rheinische Flora, 2. Jg., 1. Quart., Nr. 16, am Karlstag (28.1.) 1826, S. 61f. Vgl. auch den Abdruck bei Freimuth, Aachen’s Dichter 3, S. 59–61. Franz Oebecke veröffentlichte im AA vom 1.9.1850 ein Gedicht ‚Die drei Gräber im Aachener Münsterދ. Akten in GStA PK Berlin, HA I Rep. 93 B, Nr. 2593 sowie in GStA PK Berlin, HA I Rep. 137 I, Nr. 32. Vgl. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 53f.; Reumont, Cornel Peter Bock, S. 166f.; ‚Versöhnlicher Gedanke über die Beisetzung Karls des Großenދ, EdG vom 13.3.1866; Pick, Rotsandstein-Sarkophag; Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 96; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 345; Heuschkel, Das Herrschergrab Karls des Großen, S. 99f. Akten dazu GStA PK Berlin HA I, Rep. 76, Ve, Sek. 16, Lit. A, Nr. 15, Vol. 4–5; GStA PK Berlin HA I, Rep. 93 B, Nr. 2593; LHA Koblenz, Bestand 403, Nr. 7493. Vgl. Jungbluth, Die Restauration des Aachener Münsters, S. 48f.; [N.N.], Dank- und Jubelfeier für 25jährige Bemühungen zur Restauration des Aachener Münsters, S. 18f.; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 416–421; ders., Das Münster zu Aachen, S. 69; Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 60– 63; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 271–273; Baumunk/Brunn, Hauptstadt. Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, Kat.-Nr. 2/12, S. 57f.; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 338–341; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 607f.; Heckes, Die Mosaiken Hermann Schapers; Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 70ff.; Pohle/Konnegen, Die Mosaiken im Aachener Münster. Vgl. zu Jean de Bethune (1821–1894) Devliegher, Jean de Bethune; ders., Jean Bethune und das Kuppelmosaik im Dom zu Aachen. Beeck, Aquisgranum, S. 50f.; Noppius, Aacher Chronick, S. 21; Ciampini, Vetera Monimenta 2, S. 129–138. Pohle/Konnegen, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 190.
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von Quast421 vertretenen denkmalpflegerischen Prinzipien entgegen, folgte aber den im Aachener Karlsverein dominierenden idealtypischen Vorstellungen.422 Obwohl der kleindeutsche Reichsgedanke auch nach der Reichsgründung nicht in die Ikonographie des Münsters Aufnahme fand, gelang es, die Finanzzuschüsse aus Berlin für die Münsterrestaurierung weiter zu sichern. Wilhelm I. übernahm 1872 die Kosten für die Erneuerung der Pala d’oro, woran eine in den Altaraufsatz eingelassene Umschrift erinnerte. Mit erheblichen Beihilfen beteiligte sich der deutsche Kaiser ebenfalls an der Ausführung des Kuppelmosaiks Bethunes.423 Bei der Vollendung der Innenraumgestaltung mit weiteren Mosaiken und Marmorauskleidung in der Regierungszeit Wilhelms II. sollte das Spannungsverhältnis zwischen christlich-katholischer und nationaler Indienstnahme des Bauwerks bestehen bleiben.424 Ähnliche Debatten wie beim Münster entbrannten über die bauliche Gestaltung des Aachener Rathauses. Gemäß einer Kabinettsorder vom 16. Mai 1848 hatten an den Pfeilern des Kaisersaales 37 Kaiserstatuen auf Konsolen aufstellt werden sollen, was aber erst Mitte der siebziger Jahre probeweise mit Gipsmodellen geschah. Letztendlich verzichtete man jedoch nach längerem Tauziehen auf deren dauerhafte Installation.425 Nach Vollendung der Bodenplatten aus gebranntem Ton, die in jeder der zehn Abteilungen das Wappen des deutschen Königs umgeben von denen der am Krönungsmahl beteiligten Kurfürsten und Reichsstädte zeigten, konnte der restaurierte Kaisersaal des Rathauses schließlich 1871 seiner Bestimmung übergeben werden.426 Zusammen mit den Wandmalereien Rethels und Kehrens ergab sich eine Gemengelage aus christlich-katholischer und nationaler Ikonologie, die jeder der beiden widerstreitenden Fraktionen Deutungsspielräume für ihre jeweilige geschichtspolitische Lesart einräumte. Bereits 1844 waren erste Überlegungen zu einer neugotischen Restaurierung der auf den Marktplatz gerichteten Nordfassade angestellt worden. Seit 1852, als die Umgestaltung der Saalfenster anstand, entbrannte ein lang anhaltender Streit unter Fachleuten und Bürgern über konkurrierende Entwürfe, aus dem schließlich derjenige des Aachener Stadtbaumeisters Ark als Sieger hervorging. Wie schon 421 Über Leben und Werk Ferdinands von Quast Herrmann, Ermländische Ansichten. 422 Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 271–273. Ausführlich Pohle/Konnegen, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 177–190. 423 Akten dazu in GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23232. Vgl. Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 414; Konnegen, Der Aachener Dom im 18. und 19. Jahrhundert, S. 605–608; Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 31–33; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 344f. Über die Aachener Pala d’oro informiert Geis, Die Aachener Pala d’oro. 424 Siehe unten Kap. 7.3.2. 425 Dazu die Akten in GStA PK Berlin, HA I, Rep. 93 B Nr. 2420; STA Aachen, OB, Caps. 78, Nr. 17, Vol. 3, fol. 297; Dünnwald, Aachener Architektur im 19. Jahrhundert, S. 67, 81–84, 87f.; Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 83, 104, 122f., 130–138; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 164. 426 Weinstock, Die Regotisierung des Aachener Rathauses, S. 776; Dünnwald, Aachener Architektur im 19. Jahrhundert, S. 70–74; Faymonville u.a., Die profanen Denkmäler und die Sammlungen der Stadt Aachen, S. 124, 140; Kerz, Zum Aufbau des Reichssaales im Rathaus, S. 126; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 164–166.
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im Fall des Kaisersaals spielte das Argument historischer Authentizität eine zentrale Rolle. Man stellte eigens Forschungen über das Aussehen der im 18. Jahrhundert beseitigten gotischen Fassade an.427 Wegen Geldmangels aufgrund der Schließung der Aachener Spielbank 1854 schritten die Arbeiten an der Fassade nur langsam und mit zahlreichen Unterbrechungen voran.428 Der Stadtarchivar Joseph Laurent429 brachte endlich 1864 einen Entwurf für ein Figurenprogramm ein, der die Fassadenpläne Arks zur Grundlage hatte und diese konkretisierte. Wiederum entbrannte ein in der Lokalpresse ausgetragener Streit zwischen Laurent und einzelnen Privatgelehrten und Bürgern über die Historizität der gewählten Motive. Relative Einigkeit bestand über die Würdigung Karls des Großen, die Darstellung Aachens als Krönungsstadt und freie Reichsstadt. Differenzen ergaben sich über die Einbeziehung der Zünfte, der christlichen Religion und der symbolpolitischen Bezüge zum preußische Herrscherhaus, etwa über die Frage, welche Könige als Figuren abgebildet werden sollten und die Darstellung des preußischen Adlers neben dem Doppeladler des Alten Reiches. Zur Hervorhebung der städtischen Autonomie sollten nicht weniger als 30 Statuen die Aachener Bürgermeister abbilden. In einem Zusatz zum Entwurf schlug Laurent vier Reliefs mit volkstümlichen Szenen aus den Krönungsfeiern vor. Nach zähen innerstädtischen Debatten musste 1865 eine Abstimmung über diese Einzelpunkte in der Stadtverordnetenversammlung vertagt werden.430 Neue Auseinandersetzungen entbrannten 1871/72 über einen Entwurf des Stadtbaumeisters Ark431 und 1873 über den Entwurf einer von der Regierung gebildeten Sachverständigenkommission, der im März 1875 nach Beratungen im lokalen Bau-Komitee und in der Stadtverordnetenversammlung abgelehnt wurde. Dies war umso bemerkenswerter, als dieser Entwurf der zwei Jahre zurückliegenden Wiedererrichtung des deutschen Kaiserreiches und der Person Wilhelms I. monumentalen Ausdruck verleihen sollte. Mitten im Kulturkampf war man sich in Aachen einmal einig: Als es darum ging, gegen den gemeinsamen Gegner, die preußische Regierung, ein Zeichen zu setzen.432 1879 entstand das christlich-katholische Figurenrelief Gottfried Göttings, Anbetung der Könige, über der sogenannten Dreikönigstür, die
427 Akten dazu in LA NRW, Düsseldorf, RAA 15, Nr. 7581. Maßgebliche Darstellung der Auseinandersetzung bei Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 69–149. Vgl. Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 188–195. 428 Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 77. Zur Schließung der Spielbank Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 177f., 187. 429 Über Joseph Gerhard Laurent (1808–1867) Lepper, Das Stadtarchiv und seine Archivare, S. 591–596. 430 ‚Entwurf über die an der Fronte des Aachener Rathhauses anzubringenden Statuen, auf Veranlassung der Stadtverwaltung vorgeschlagen vom Stadt-Archivar J. Laurentދ, EdG vom 19.2.1865. Vgl. Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 79–112. 431 Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 112– 124. 432 Ebd., S. 124–131.
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zur mittelalterlichen Kaisertreppe führte, und Madonna mit dem Jesuskind über dem seitlichen Hauptportal, beide am großen Marktturm des Rathauses.433 Nach erneuter langer Verzögerung einigte man sich im Bau-Komitee nach mehrfachen Änderungen auf eine Liste der an der Fassade darzustellenden Figuren. Die Stadtverordnetenversammlung beschloss am 15. November 1881 die Anbringung des gewählten Figurenzyklus von vierundfünfzig Figuren fränkischer und deutscher Könige und Kaiser von Ludwig dem Frommen bis zu Leopold II. Von figürlichen Darstellungen des letzten Kaisers des Heiligen Römischen Reiches, Franz II., und der preußischen Könige wurde abgesehen. Damit war die ikonographische Ausrichtung des Rathauses auf das wilhelminische Königshaus gescheitert. Ungeklärt blieben vorerst die Frage der Portalgestaltung und die Anbringung von Wappen und Reliefs. Trotzdem begann man nun rasch mit der Herstellung von zunächst 14 Königsfiguren.434 Der Rathausbrand vom 29. Juni 1883 zerstörte die beiden barocken Türme, ließ die Fassade und das Innere des Gebäudes aber unversehrt. Er verzögerte zwar die weitere Ausführung des Figurenprogramms bis 1900, ermöglichte aber, die neuen Turmhauben im neogotischen Stil zu restaurieren. Die dafür nötigen Finanzmittel erhielt die Stadt aus einer für ganz Preußen gültigen staatlichen Lotterie.435 Ihren endgültigen Abschluss sollten die Außenarbeiten am Rathaus 1902 finden.436 6.3.2.4 Die Aachener Geschichtskultur zwischen Heimatliebe und Vaterlandstreue Mit der mittelalterlichen Vergangenheit der Stadt und Karl dem Großen beschäftigten sich in Aachen vorrangig interessierte Laien, Privatgelehrte und Lehrer.437 Die öffentliche Pflege der Lokalgeschichte lag seit dem frühen 19. Jahrhundert in der Hand des städtischen Archivars. Sein Hauptarbeitsfeld war allerdings die Sammlung und Registratur der städtischen Verwaltungsakten.438 Der an den Aachener Elementarschulen erteilte Geschichtskundeunterricht stellte vornehmlich 433 Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 194 (mit Abb.). 434 Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 138– 143, 151–155, Übersicht S. 157f., Abbildungen und Einzelbeschreibung S. 160–207; dies., Die Regotisierung des Aachener Rathauses, S. 779; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 193; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 75–77 (mit Abb.). 435 Faymonville u.a., Die profanen Denkmäler und die Sammlungen der Stadt Aachen, S. 124; Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 143, 155f.; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 202–209 (mit Abb.). 436 Siehe unten Kap. 7.3.3. 437 Schmalhausen, Chronique de la ville d’Aix-la-Chapelle; Nolten, Archäologische Beschreibung der Münster- oder Krönungskirche; Quix, Historische Beschreibung der Münsterkirche; ders., Münsterkirche; ders., Historisch-topographische Beschreibung der Stadt Aachen; ders., Geschichte der Stadt Aachen 1–2; ders., Beiträge zur Geschichte der Stadt und des Reichs von Aachen; ders., Biographie des Ritters Gerard Chorus. Über Christian Quix (1773–1844) vgl. Lepper, Das Stadtarchiv und seine Archivare, S. 585–589. 438 Lepper, Das Stadtarchiv Aachen und seine Archivare, S. 579–609.
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Bezüge zur Heimatstadt her und war vaterländisch-national ausgerichtet.439 In literarischen Zeitschriften wie der Rheinischen Flora trauerte man mit Karl dem Großen zugleich dem verlorenen Kaisertum und der reichsstädtischen Zeit nach.440 Das städtische Theater nahm sich in der Biedermeierzeit verstärkt historischer Stoffe an. 1816 brachte man dort das Schauspiel Eginhard und Emma des romantischen Dichters Friedrich de la Motte-Fouqué auf die Bühne.441 Zum Karlsfest 1853 spielte es mit einigem Erfolg das musikalisch begleitete Historienspiel Carl der Grosse in lebenden Bildern in vier Akten nach den Rathausfresken Alfred Rethels.442 Das offenbar als satirische Parodie geschriebene Stück Karl der Große von Franz Theodor Biergans, der nach dem Zeugnis Alfreds von Reumont als Anhänger der französischen Revolution von allen „anständigen Menschen“ in Aachen gemieden wurde, kam hingegen in Aachen niemals zur Aufführung.443 Zur wichtigsten Bastion bürgerlicher Heimattreue und Vaterlandliebe wurde der 1879 gegründete Aachener Geschichtsverein.444 Der im hohen Alter in seine Heimatstadt Aachen zurückgekehrte preußische Diplomat Alfred von Reumont445 wurde erster Vorsitzender des Vereins. Erstmals entstand mit der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins ein zentrales lokales Organ zur Publikation lokalgeschichtlicher Beiträge. Die vorrangigen Vereinsziele bestanden darin, „durch die Erforschung und die Kenntnis der Geschichte der engeren Heimat mit größeren Erfolgen als bisher der Wissenschaft und der Vaterstadt und damit auch den hohen Interessen des Vaterlandes zu dienen.“446
Die Gründungsmitglieder des Vereins standen noch im Bann der Reichsgründung und des dadurch gestärkten nationalen Selbstbewusstseins. Ausdrücklich erinner439 Reumont, Jugenderinnerungen, S. 79f. Vgl. Wynands, Elementarbildung während der Industrialisierung, S. 104. 440 Franz Oebecke, Karls d. Gr. Bild zu Aachen; Rheinische Flora, 1. Jg., 1. Quart., Nr. 16 vom 27.1.1825, S. 61; Romanze Roland’s Fall in 1. Jg., 2. Quart., Nr. 57 vom 10.4.1825, S. 225. In ähnlichem Ton war das Gedicht Vor Karl’s Bilde zu Aachen von H. Hamacher gehalten, eine persönliche Hommage an den Frankenkaiser. Vgl. Rheinische Flora, 1. Jg., 2. Quart., Nr. 95 vom 18.6.1825, S. 379; Reumont, Die Rheinische Flora, S. 189ff., 215–218, ders., Jugenderinnerungen, S. 91f., 102f. 441 Fritz, Zur Baugeschichte des Aachener Stadttheaters; Fritz, Theater und Musik in Aachen seit dem Beginn der preußischen Herrschaft 1; Fritz, Theater und Musik in Aachen seit dem Beginn der preußischen Herrschaft 2, bes. S. 263. 442 Besprechung des Stücks von P. F. Trautmann in EdG vom 4.2.1853. 443 Reumont, Jugenderinnerungen, S. 89 mit Zit. Das 1818 in Köln unter dem Titel Minnegedichte veröffentlichte dramatische Sittengemälde bezeichnete Reumont als „Versündigung am Namen Carls des Großen durch einen Einwohner Aachens“. Zit. Reumont, Die Rheinische Flora, S. 184. Zu Franz Theodor Biergans (1768–1842) Gotzen, Der erste Kölner Musenalmanach von 1795; Graumann, Eine Staatshymne für die ‚Cisrhenanische Republikދ. Das Stück über Karl den Großen basierte auf der Fabel von Eginhard und Emma. 444 Die Initiative kam vom Aachener Professor Joseph Savelsberg (1814–1879), Oberlehrer am Kaiser-Karls-Gymnasium, vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 224. 445 Zu Leben und Werk Alfred von Reumonts (1808–1887) Lepper, Reumont. 446 Zit. Savelsberg, 50 Jahre Aachener Geschichtsverein, S. XVI. Vgl. zu Gründung, Vereinszielen, Statuten und Mitgliedern den Vorbericht in ZAGV 1 (1879), S. 1–29.
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ten sie an die einstige Bedeutung Aachens als „Mittelpunkt des Frankenreichs“447, als „Krönungsstadt der deutschen Herrscher“448 und als „mächtige Reichsstadt“449. Die Bewahrung dieser im Volks- und Heimatbewusstsein gründenden Erinnerungen war ihnen „Gegenbild und zugleich [...] Voraussetzung der Gegenwart“.450 Die unbedingte Treue der Vereinsmitglieder zu Kaiser und Reich dokumentierten die Stellungnahmen zum Tode Wilhelms I. und Friedrichs III. 1888, wobei stolz daran erinnert wurde, dass der deutsche Kaiser als Protektor des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine zugleich das Protektorat über den Aachener Geschichtsverein innehatte.451 Bereits im ersten Jahr schlossen sich 764 Mitglieder dem Verein an. Die Funktionsträger und Mitglieder repräsentierten einen Querschnitt durch das gehobene und mittlere katholische Aachener Bürgertum: Stadtverordnete, städtische Verwaltungsbedienstete, Lehrer, Pfarrer, Juristen, Buchhändler, Architekten, Ärzte, Apotheker, selbst ein Hauptmann im Ruhestand. Liberale Unternehmer, Professoren und Studenten der Technischen Hochschule waren dagegen kaum vertreten.452 Die Abspaltung des Vereins für Kunde der Aachener Vorzeit, der bald 480 Mitglieder umfasste und eine eigene Zeitschrift herausgab, drückte den Wunsch nach einer stärkeren „Popularisierung der Ortsgeschichte“453 aus. Aachen verfügte damit über eine nicht unbedeutende Gemeinde streitbarer geschichtsbegeisterter Bürger.454 Die wichtigsten lokalhistorischen Debatten wurden zudem in der katholischen und liberalen Tagespresse sowie in Streitschriften ausgetragen.455 Die Benennung von Gebäuden und Straßen mit dem Namen Karls des Großen sollte die Identifikation der Aachener Bürger mit der Geschichte ihrer ehemaligen Reichsstadt dokumentieren.456 Signifikanterweise trug die Aachener Altstadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Namen „Karlstadt“457. Der Karlsdiskurs war keineswegs ein Treuebekenntnis gegenüber der preußischen Monarchie, denn Karl der Große stand nach wie vor für die großdeutsche Nationalidee und als heiliger 447 448 449 450 451 452 453 454
455 456 457
Zit. Vorbericht in ZAGV 1 (1879), S. 3. Zit. Ebd. Zit. Ebd. Zit. Ebd., S. 10. Ansprach des Vorsitzenden Loersch bei der Generalversammlung am 11. Oktober 1888, Chronik des Aachener Geschichtsvereins 1887/88, in: ZAGV 10 (1888), S. 278f. Namentliches Verzeichnis mit Berufen im Vorbericht in ZAGV 1 (1879), S. 17–29. Zit. Schué, Zur Erinnerung an Richard Pick, S. 110. Die Abspaltung vereinigte sich 1907 wieder mit dem Mutterverein, der 1913 die stolze Zahl von 1081 Mitgliedern erreichte. Vgl. Savelsberg, 50 Jahre Aachener Geschichtsverein, S. XXX–XXXVI. Schué, Zur Erinnerung an Richard Pick, S. 114f. Vgl. die Rezensionen von Wilhelm Wattenbach in: Deutsche Literaturzeitung 1893, Sp. 75f.; Joseph Hansen, in: Correspondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift für Geschichte und Kunst 11, 1892, Nr. 18, Sp. 227f.; EdG Nr. 179 vom 5.8.1893. Dazu die Darstellung von Lepper, Das Stadtarchiv Aachen und seine Archivare, S. 630–635. Wissowa, Bibliographische Übersicht; Faymonville u.a., Die profanen Denkmäler und die Sammlungen der Stadt Aachen, S. 17–38, 107f. Aachen, Katasteramt, Handakten Karlsgraben, Karolingerallee, Karlstraße, Turpinstraße. Zit. Meyer, Aachen und seine Umgebungen, S. 6.
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Stadtpatron für die Autonomie der katholischen Stadt. Deutlich kann dies an der ikonographischen Gestaltung des 1871 eingeweihten Karlshauses abgelesen werden, dessen Baustil dem 13. Jahrhundert nachempfunden wurde und das der Bürgerschaft als Versammlungsgebäude diente. Die Wände des Hauptsaales wurden 1880 aufwändig mit Darstellungen der in der Gaffelverfassung des 15. Jahrhunderts vertretenen Hauptzünfte Aachens vertäfelt. An der Hauptwand des Saales thronte Karl der Große im Krönungsornat umgeben von Allegorien der Kardinaltugenden „Starkmuth – Gerechtigkeit – Klugheit – Mäßigkeit“.458 1886 benannte sich das städtische Gymnasium in Kaiser-Karls-Gymnasium um, nachdem mit dem neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gymnasium eine Schule mit nationaler Ausrichtung gegründet worden war, an die die meisten protestantischen und viele jüdische Schüler abwanderten. Karl der Große erscheint bei dieser Benennung als Identifikationsfigur für ein christlich-humanistisches Bildungsideal katholischer Prägung, da er für die Katholiken nach wie vor ein Volkskaiser war.459 6.3.2.5 Ein trauriger Epilog Beim Besuch des populären Kronprinzen Friedrich Wilhelm, des späteren Kaisers Friedrich III., am 4. und 5. Juli 1885 demonstrierten die Bürger Aachens ihre Hoffnungen auf einen Politikwechsel.460 Friedrich Wilhelm galt als Held der Einigungskriege und Gegenspieler des bei den Katholiken verhassten Bismarck.461 Die Stadt war mit Triumphbögen und einem Flaggenwald geschmückt. Tausende von Aachenern machten ihre Sympathien symbolisch durch das Tragen der blauen Kornblume, der Lieblingsblume des Kronprinzen, auf ihrer Kleidung deutlich. Oberbürgermeister Pelzer462 beschwor in seiner Rede beim Empfang im Kurhaus mit Verweis auf die „Auferstehung des deutschen Reiches“ die Treue der Aachener zu Kaiser und Reich:
458 Das Karlshaus und dessen Bilderschmuck, EdG vom 29.8.1880. Zur Eröffnungsfeier des Karlshauses beim Aachener Stadttheater am 16. Oktober 1871 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 211. Der Dachstuhl und die obere Etage des Hauses wurden am 22. Mai 1901 durch einen Großbrand zerstört, vgl. Ebd., S. 263. 459 Fündling, Epochen der Aachener Schulbildung, S. 47–49. Zu Karl dem Großen als Volkskaiser den 1867 veröffentlichten Vortrag des katholischen Kirchenhistorikers Johannes Janssen, hier Janssen, Karl der Große, S. 29. 460 Spezialbericht des AA über die Anwesenheit Sr. Kaiserl. Königl. Hoheit des Kronprinzen des Deutschen Reiches und Preussen in Aachen, bei Gelegenheit der 25jährigen Stiftungs-Feier des 5. Westfälischen Infanterie-Regiments Nr. 53 am 4. und 5. Juli 1885, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 2; ‚Kaiser Friedrich in Aachenދ, EdG vom 17.10.1911; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 235. 461 Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat, S. 164–166. Zum Friedrich-Kult Kraus, Friedrich III., S. 287f.; Fesser, Kaiser Wilhelm II. und der Wilhelminismus, S. 119. 462 Zu Ludwig Pelzer (1835–1915), Oberbürgermeister von Aachen 1884 bis 1896 Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Beamten der Rheinprovinz, S. 664f.; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 233.
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6 Inkompatible Traditionen „Wenn irgendwo auf deutschem Boden, so schlagen Ew. Kaiserl. und Königl. Hoheit in der alten Krönungsstadt der deutschen Kaiser die Herzen entgegen. Diese Stadt, die in ihrem Dome 36 Kaiser krönen sah, und die jetzt der Auferstehung des deutschen Reiches um so freudiger zujubelt und um so fester zu Kaiser und Reich steht, je treuer sie die Traditionen der Vergangenheit gepflegt hat, sie schätzt sich besonders glücklich, heute den Erben des Kaiserthrones in ihren Mauern begrüßen zu dürfen und in seiner erhabenen Person zugleich den königlichen Prinzen, der mit mächtiger Hand diesen Thron wieder errichten half, in dem er die deutschen Heere zu ihren Siegeszügen führte.“463
Umgekehrt traf der Kronprinz die Gefühle der Aachener mit seiner Rede beim Festessen im Exerzierhaus, als er über das in Aachen stationierte 53. Infanterieregiment ausführte: „Eins aber lassen Sie mich hervorheben, dass es für das ganze Regiment jetzt berufen ist, an der Stätte seine Garnison erhalten zu haben, an welcher die Gebeine Karls des Großen ruhen, dessen Krone nunmehr Meinem Hause angehört.“464
Sollten jene Worte des designierten Thronfolgers in Aachen Hoffnungen auf eine Rückgewinnung der Rolle Aachens als traditionaler Legitimationsort der nationalen Monarchie geweckt haben, so wurden diese durch den frühen Tod Friedrichs III. vorerst jäh zerstört. 6.4 KONVERTIERUNGSPROBLEME: DAS KULTURELLE KAPITAL AACHENS UND DAS SYMBOLISCHE KAPITAL DER NATION 6.4 Konvertierungsprobleme Im 19. Jahrhundert bildeten sich autonome Felder unterhalb des Herrschaftsfeldes heraus: die Felder der Politik, Kultur bzw. Kunst und Geschichte. Diese konnten, auf das Herrschaftsfeld zurückwirken und zu dessen Stabilität oder Instabilität beitragen. Das politische Feld, auf dem Kämpfe über spezifische Themen wie Verfassungs-, Konfessions- oder Territorialpolitik ausgetragen wurden, reichte von allen autonomen Feldern am stärksten in das Herrschaftsfeld hinein. Regierungen, Parlamente, politische Gremien und Öffentlichkeiten markieren die Existenz dieses Feldes mit eigener Logik. Auf dem politischen Feld fanden mit dem Kulturkampf oder dem preußischen Verfassungskonflikt schwere Auseinandersetzungen statt. Auf dem kulturellen Feld bzw. auf dem Feld der Kunst agierten Künstler wie Alfred Rethel oder Joseph Kehren und jene Akteure, die mit unterschiedlichen ikonographischen Konzepten über die Restaurierung von Münster und Rathaus stritten. Auf dem Feld der Geschichte bewegten sich historische Experten wie die Mitglieder des Aachener Geschichtsvereins oder Privatgelehrte wie Peter Cornelius Bock und Alfred von Reumont. Immer bedeutsamer wurde das journalistische Feld, auf dem etwa die Lokalzeitungen die Ereignisse der Zeit 463 Zit. nach Spezialbericht des AA über die Anwesenheit Sr. Kaiserl. Königl. Hoheit des Kronprinzen des Deutschen Reiches und Preussen in Aachen, bei Gelegenheit der 25jährigen Stiftungs-Feier des 5. Westfälischen Infanterie-Regiments Nr. 53 am 4. und 5. Juli 1885, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 2a. 464 Zit. Ebd.
6.4 Konvertierungsprobleme
311
kommentierten und wie im Fall der Jubel-Huldigungsfeier von 1865 mitinszenierten und die öffentliche Meinung beeinflussten. Die Realisierung von Königsherrschaft drückte sich nicht mehr wie in der Vormoderne in allumfassenden, personalisierten Beziehungen zwischen Monarch und Untertanen aus. Das Autonomiedefizit, welches die Königsherrschaft im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ausgezeichnet hatte, die Legitimierung der Königsherrschaft durch Verteilung ökonomischer Ressourcen, Religion, Recht oder traditionsbegründende Geschichtsvorstellungen, war in der verstaatlichten Monarchie des 19. Jahrhunderts weitgehend überwunden.465 Der konstitutionelle monarchische Staat garantierte dem König als Verfassungsorgan per se ein hohes Maß an Ressourcen und legaler Legitimation. Das Feld der Königsherrschaft erlangte aber nur eine relative Autonomie, da die neuen autonomen Felder partiell auf dieses zurückwirkten. Deutlich wird dies etwa daran, dass die bürgerliche Idee der Nation auf das Königtum Zugriff nahm. Der König fand sich nun zwischen zwei überpersonalen Entitäten, Nation und Staat, eingehegt.466 Gleichzeitig wurde er selbst zum Akteur auf den entstandenen autonomen Feldern, wie etwa die Aktivitäten Friedrich Wilhelms IV. als kunst- und architekturbegeisterter König aufzeigen. Vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung autonomer Felder wird verständlich, warum es im 19. Jahrhundert den lokalen Eliten gelang, kulturelles, religiöses und symbolisches Kapital anzueignen, das aber für die Legitimation der Königsherrschaft zunächst nicht benötigt wurde. Der legal legitimierte König des 19. Jahrhunderts benötigte weniger symbolisches Kapital in Form von Charisma und Tradition als die Könige der Vormoderne. Geradezu eine Symbolfigur für die Entcharismatisierung des Monarchen stellt Friedrich-Wilhelm III. dar. Johannes Paulmann sprach in seiner Analyse der neuzeitlichen Monarchie treffend von der „symbolischen Entlastung der Monarchen“467: Die Ehre der Nation trat vor die persönliche Ehre des Königs.468 Mit diesem Vorgang bildete sich eine neue illusio des Herrschaftsfeldes aus. Das katholische Kollegiatstift und der lokale Klerus profitierten von der Restituierung und Aufstockung ihres in der französischen Zeit verlorenen objektivierten religiös-kulturellen Kapitals. Die Konfessionalisierung des 19. Jahrhunderts stärkte seine Stellung auf dem Feld der Religion. In der Restaurationsära und in der Revolution von 1848/49 trat der Klerus auf dem Feld der Politik mit dem Bündnis von Thron und Altar als bedeutender Akteur in Erscheinung und führte dem Königtum auf dem Herrschaftsfeld weiterhin symbolisches Kapital, die Anerkennung seiner legitimen, gottgewollten Herrschaft, zu. Die göttliche Heiligung der monarchischen Herrschaft war auch im 19. Jahrhundert für die Inszenierung und Legitimation von Königsherrschaft unverzichtbar. Der Klerus stand dem König angesichts der Revolutionsfurcht besonders loyal gegenüber. Gleichzeitig ge465 466 467 468
Paulmann, Pomp und Politik, S. 33, 86–94. Ebd., S. 94–104. Zit. Ebd., S. 105. Ebd., S. 102–108.
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6 Inkompatible Traditionen
riet der ultramontane Klerus auf dem politischen Feld mit den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen 1837/38 und im Kulturkampf in einen schweren Konflikt mit dem preußischen Staat, der sich bei aller Konzentration auf das Feindbild Bismarck indirekt auch auf den König auswirkte, wie anhand der lokalen Festkultur Aachens aufgezeigt wurde. Bei den inszenierten Treue- und Versöhnungsritualen zwischen preußischer Monarchie und katholischem Bürgertum anlässlich der Herrscherbesuche brachte der Stiftsklerus weiterhin sein kulturelles und religiöses Kapital ein. Die Aachener Stiftsherren waren nach wie vor in den Ablauf der staatlichen Feiern eingebunden. Stellt man die schweren konfessionspolitischen Konflikte und den starken Einfluss des lokalen Klerus auf das katholische Milieu Aachens in Rechnung, wurde die an den Klerus gestellte Minimalanforderung erfüllt: die Unterstützung der Bindung der Untertanen an den König. Die stadtbürgerlichen Eliten Aachens erwarben im 19. Jahrhundert große Mengen objektivierten, inkorporierten und institutionalisierten kulturellen Kapitals auf dem neu entstanden kulturellen Feld. Auf dem politischen Feld unterstützten sie Königtum und Staat im Kampf gegen die auf politische Partizipation drängenden Unterschichten, stellten aber die alten Regeln des Feldes mit dem Wunsch nach Herrschaftsbeteiligung in Frage. Sie bezweifelten nicht einmal auf dem Höhepunkt der Revolution von 1848/49 die doxa des Feldes, den Fortbestand des Königtums, trugen aber dem preußischen König kraft eigener Legitimation die Kaiserkrone an. Das Wirtschaftsbürgertum hatte den Adel auf dem ökonomischen Feld überflügelt und brachte sich immer stärker als Unterstützer des monarchischen Systems ein. Das Aachener Bürgertum spaltete sich in seinen Positionen auf den ökonomischen, politischen und kulturellen Feldern und auf dem Feld der Königsherrschaft in mehrere Fraktionen auf: Liberale, Nationalkonservative und Katholiken, die wiederum in mehrere Richtungen zerfielen und miteinander konkurrierten. Die bildungsbürgerlichen Experten dominierten die neu entstehenden Felder der Architektur, Kunst, Literatur und Geschichte und schufen hier große Mengen kulturellen Kapitals. Von der Einbindung in die staatlichen Feste profitierten sie durch den Erwerb symbolischen Kapitals, die Verleihung von Titeln und Orden durch den König. Das von den Aachener Akteuren bereitgestellte kulturelle Kapital, die mit Karl dem Großen, dem Reich und den mittelalterlichen Krönungen verbundene Tradition, musste im 19. Jahrhundert vom Königtum über die Nation wiederentdeckt werden. Dies kann bei Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. aus konfessions- und territorialpolitischen Gründen festgestellt werden. Die Rückgabe der von den Franzosen geraubten Kunstschätze restituierte nicht allein das arg dezimierte religiöse und kulturelle Kapital von Stadtgemeinde und Marienstift, auch zentrale Symbole städtischer Identität nahmen wieder ihren alten Platz ein. Dem Aachener Stiftskapitel gelangen durch königliche Förderung wie auch durch die Initiative einer zunehmend geschichtsbewussten, überwiegend katholischen Bürgerschaft die prächtige Restaurierung des Münsters und die Vermehrung des Kirchenschatzes – die Stadtgemeinde trieb die Wiederherstellung des Rathauses voran. Mit der Vermehrung des religiösen und kulturellen Kapitals wurde das lokale, katholisch geprägte Symbolsystem massiv gestärkt.
6.4 Konvertierungsprobleme
313
Das überwiegend katholische Bürgertum Aachens eroberte im 19. Jahrhundert die Deutungshoheit über das in seinem Wert auf den politischen und kulturellen Feldern deutlich erhöhte kulturelle Kapital der lokalen und nationalen Geschichte und brachte sich bei der Restaurierung von Münster und Rathaus als treibende und gestaltende Kraft ein. Über den ikonologischen Bezug zur preußischen Monarchie war man innerhalb des Aachener Bürgertums in mindestens zwei Lager gespalten, die scharfe Deutungskämpfe miteinander ausfochten, hinter denen sich wiederum politische Positionskämpfe verbargen. Die Karlsfresken Alfred Rethels etwa bezogen sich auf die christlichen und machtstaatlichen Grundlagen der deutschen Nation und ließen einen Interpretationsspielraum für eine groß- oder kleindeutsche Akzentuierung bestehen. Insgesamt überwog der christlich-katholische, auf die städtische Autonomie bezogene Deutungszusammenhang, da jene Akteure, die das kulturelle Kapital der Stadt symbolisch auf den König, Preußen und die kleindeutsche Nation bezogen, in der Minderheit waren und sich nicht durchsetzen konnten. Karl der Große war vor 1890 eine denkbar ungeeignete politische Symbolfigur, um sie in den Dienst des preußischen Königtums zu stellen. Der Frankenkaiser verkörperte als mythischer Gründer des Alten Reiches nach der Gründung des neuen deutschen Kaiserreiches eine unerwünschte Tradition. Wilhelm I. bevorzugte den Barbarossamythos als Ursprungsmythos des Reiches und der Hohenzollerndynastie. Die politische und konfessionelle Desintegration der Katholiken in den politischen Staat und ihre verzögerte Ankunft in der 1871 realisierten Nation bildete sich in diesem kulturellen und symbolpolitischen Missverständnis ab. Die konfessionellen Auseinandersetzungen wurden im 19. Jahrhundert durch das Vordringen der nationalen Idee überspielt. Das Aachener Münster war nicht mehr allein ein katholisches Gotteshaus, es wurde zum Nationalheiligtum stilisiert – das Heiligtum einer Nation, unter der die Akteure höchst unterschiedliches verstanden. Das Münster bildete als Grabesstätte Karls des Großen für die Aachener Katholiken weiterhin den Fixpunkt der kollektiven Erinnerung an die einstige Größe der Stadt und die Brücke zur mythischen Vergangenheit des verlorenen Alten Reiches. Zur kleindeutschen Reichsidee und zur dynastischen Legitimation der preußischen Könige vermochten der Aachener Karlskult und die Krönungstradition wenig beizutragen. Die Transformation des kulturellen Kapitals Aachens in politisches und symbolisches Kapital musste über den Umweg der Nation erfolgen, deren schillernder symbolischer Gehalt den Akteuren die Vereinbarung ihrer divergierenden Deutungen ermöglichte. Nur als Kulturgut einer geeinten Nation und eines dafür traditionsoffenen Königtums konnte das kulturelle Kapital Aachens wieder auf dem Herrschaftsfeld ins Spiel gebracht werden und symbolisches Kapital einbringen.
7 DIE MEDIALE CHARISMATISIERUNG LEGALER KÖNIGSHERRSCHAFT: WILHELM II., KARL DER GROSSE UND AACHEN (UM 1890 – 1918) 7.1 EINFÜHRUNG 7.1 Einführung Die Jahrzehnte zwischen 1850 und 1890 lassen sich mit Wolfgang J. Mommsen als ein „Ringen um den nationalen Staat“1 begreifen, das sich im lokalen Raum in Konflikten konkurrierender Symbolsysteme abbildete. Die Politik Bismarcks hatte zu einer „Dichotomisierung der politischen Bewegungen in ‚Reichsfeinde ދund ‚Reichsfreunde“ދ2 geführt, die den Katholiken die Integration in das Deutsche Kaiserreich erschwerte. Die konfessionellen und sozialen Bindungen der partikularen Kräfte waren gestärkt worden und hatten die von der Nation bereitgestellten überlagert. Die innere Reichsgründung nach 1871 hatte das in der Revolution von 1848/49 vom deutschen Bürgertum projektierte freiheitlich-parlamentarische System nicht hervorgebracht. Das wilhelminische Kaiserreich war als autoritärer Nationalstaat mit konstitutionellen Elementen errichtet worden – ein „dilatorischer Herrschaftskompromiß“3, mit dem sich das Bürgertum nach schweren Konflikten letztlich abfand.4 Der Sturz Bismarcks im März 1890 und der nachfolgende Kurswechsel in der Innen- und Außenpolitik markieren den Übergang zur folgenden Epoche lediglich ereignisgeschichtlich.5 Die maßgeblichen Faktoren des Wandels sind strukturgeschichtlicher Natur. Der Charakter der Epoche zwischen der Jahrhundertwende und dem Untergang des Kaiserreiches 1918 lässt sich mit den Schlagworten „Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft“6, Beginn des technisch-industriellen Zeitalters7, demographisches Wachstum und Urbanisierung8, „Übergang zum 1 2 3 4 5
6 7 8
Zit. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat. Zit. Kühne, Jahrhundertwende, S. 90. Zit. Mommsen, Der autoritäre Nationalstaat, S. 39. Ebd.; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 1ff.; Berghahn, Das Kaiserreich 1871– 1914; Frie, Das Deutsche Kaiserreich, S. 31–43. Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 282f., 389f.; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 33–35; Hildebrand, Deutsche Aussenpolitik, S. 27–32; Gall, Otto von Bismarck und Wilhelm II.; Halder, Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914, S. 75–78; Winkler, Der lange Weg nach Westen 1, S. 257–261; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 993– 1000. Zit. Kühne, Jahrhundertwende, S. 86f. Vgl. Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 25–33, 80–98. Nolte, 1900, S. 281f.; Tenfelde, 1890–1914: Durchbruch der Moderne, S. 127ff.; Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 11–86. Nolte, 1900, S. 288f.
7.1 Einführung
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‚Organisierten Kapitalismus“ދ9, Aufstieg der Konsumgesellschaft10, „neue Dimension von Mobilität und Verkehr“11 und Medienrevolution12 beschreiben. August Nitschke, Gerhard A. Ritter, Thomas Nipperdey, Rüdiger vom Bruch und andere haben ihr das Epitheton ‚Durchbruch zur Moderne ދzugesprochen.13 Thomas Nipperdey bescheinigte der angeblichen Untertanengesellschaft des Kaiserreiches gar einen entwickelten Pluralismus.14 Die tief greifenden Wandlungen der Jahrhundertwende hatten zur Folge, dass der Obrigkeitsstaat alter Prägung von oben wie von unten erodierte und schon vor dem Ausbruch des Weltkrieges in eine latente Krise geriet.15 Ausgehend von diesen Überlegungen zur Einheit der Epoche sollen in Kap. 7.2 die Grundzüge der preußisch-deutschen Monarchie unter Wilhelm II. beschrieben werden. Der Abschied Bismarcks ermöglichte eine neue Ausrichtung der „politischen Bewegungen am national verfassten Obrigkeitsstaat“.16 Das Persönliche Regiment Wilhelms II. machte die Integrationspolitik zur Angelegenheit königlicher Herrschaft. Ein weitsichtig angewandtes Herrschaftsinstrument zur Bewältigung der Krise des Kaiserreiches war sie nicht17, stärkte aber die Rolle des Kaisers als politische Leitfigur. Eine Vielzahl widersprüchlich erscheinender Züge – Rückwendung zum Mittelalter, Ausrichtung auf den technischen Fortschritt, öffentliche Selbstinszenierung und Stärkung der bürokratischen Kontrolle – zeichnete die Herrschaft Wilhelms II. aus. Der Kaiser entwickelte mit Hilfe der Massenmedien ein Charisma moderner Qualität und wurde zum kultisch verehrten Sinnbild der Nation.18 In Kap. 7.3 soll anhand der kulturellen Artefakte und Vergemeinschaftungsformen die Repräsentation und Kommunikation der Königsherrschaft Wilhelms II. im lokalen Raum Aachens analysiert werden, die sich wesentlich von der seiner Vorgänger unterschied und eine Brücke zu den Akteuren im lokalen Raum schlug. Als Beispiele für Vergemeinschaftungsformen werden drei Besuche Wilhelms II. in Aachen behandelt. Analysiert wird zudem die den Kaiserkult integrierende Nationalisierung der lokalen Feste. Es soll gezeigt werden, dass die bürgerlichen Eliten Aachens das Integrationsangebot des Kaisers produktiv aufnahmen und der öffentlichen Vermittlung des Hohenzollernkultes in Aachen Vorschub leisteten. Dies geschah durch die Veranstaltung aufwändiger Kaiserbesuche 1902 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Zit. Ebd., S. 289. Ebd., S. 295f. Zit. Ebd., S. 297. Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 45–53; Schulz, Der Aufstieg der ‚vierten Gewaltދ. Nitschke u.a., Jahrhundertwende; Nipperdey, War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanengesellschaft, S. 216; Nolte, 1900, S. 283f. Nipperdey, War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft. Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 80–83, 92–98; Wehler, Krisenherde des Kaiserreiches; Mommsen, Der autoritäre Nationalstaat, S. 287–315; Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Zit. Kühne, Jahrhundertwende, S. 90. Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 93f. Ebd., S. 82; Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 298.
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7 Mediale Charismatisierung
und 1911, die symbolpolitische Umwidmung von Münster und Rathaus und die Errichtung von Denkmälern für Wilhelm I., Friedrich III. und Bismarck. Wegen des Kriegsausbruchs konnte die für 1915 geplante Aachener Krönungsausstellung nicht mehr ausgeführt werden. Der Karlskult wurde im Kaiserreich national umgedeutet und dem Kult der Nation untergeordnet. Der nationalen und monarchischen Deutung der zentralen Erinnerungsorte der Stadt, Münster und Rathaus, brauchten keine partikularen Deutungen mehr entgegen gesetzt zu werden, denn konfessionelle, regionale oder lokale Identitäten bildeten nach 1890, anders als im Bismarckreich, keinen Widerspruch mehr zu Reich, Nation und preußischdeutscher Monarchie. Sie verstärkten sich sogar gegenseitig.19 Der Aufstieg des katholischen Bürgertums zur staatstragenden Gesellschaftsschicht wurde durch den integralen Nationalismus ermöglicht.20 Mit der symbolischen Bereitstellung Karls des Großen als Hohenzollernahn und nationale Ikone leisteten nun auch die Eliten des katholischen Bürgertums und schließlich sogar der ultramontane Klerus einen Beitrag zur Herrschaftslegitimation des Kaisers in diesem lokalen Raum und insgesamt zur politischen und kulturellen Integration der Katholiken in das wilhelminische Kaiserreich. Aus den ehemaligen Reichsfeinden waren auf diese Weise überzeugte Träger der Königsherrschaft geworden. In der Endphase des Ersten Weltkriegs, unter der Kanzlerschaft Hertlings, gelang den Katholiken die Partizipation an der Herrschaft innerhalb der konstitutionellen Monarchie, und für Aachen eröffnete sich für kurze Zeit die ungeahnte Möglichkeit zur Aufwertung der Stadt als kulturelles und geistiges Zentrum des Kaiserreiches. In Kap. 7.4 soll das Spiel der Akteure auf dem Feld der wilhelminischen Königsherrschaft strukturell analysiert werden. Neben dem Herrschaftsfeld entstanden weiterhin neben den vorhandenen neue autonome Felder wie das der Wissenschaft21, die auf jenes legitimierend zurückwirkten. Der Schlüssel zur erfolgreichen Integration der katholischen Eliten Aachens in das Wilhelminische Kaiserreich bildete die Bereitstellung von kulturellem Kapital zur charismatischen und traditionalen Legitimation der legal legitimierten nationalen Monarchie und damit die Wiederentdeckung ihrer Unterstützerfunktion königlicher Herrschaft. Dies war möglich geworden, da sich die Hohenzollernmonarchie unter Wilhelm II. für die Tradition des mittelalterlichen Reiches öffnete und die im 19. Jahrhundert divergierenden Symbolsysteme im Zeichen der Nation kompatibel wurden. Das bereits unter Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. durch großzügige Finanzierung und Stiftungen aufgebaute objektivierte kulturelle Kapital Aachens konnte deshalb in politisches und symbolisches Kapital transformiert werden. Die kirchlichen und bürgerlichen Eliten der Stadt wandten sich nun im Gegensatz zur Epoche vor 1890 mit aller Kraft dem Hohenzollernkult zu. Reservierte Loyalität wandelte sich in kürzester Zeit zur begeisterten Anerkennung königlicher Herrschaft. 19 Green, ‚Fatherlands ;ދWeichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa; ders., Nation und Region; Klein, Zwischen Reich und Region. 20 Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 162–168; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 32. 21 Krebs, „Leben heißt ein Kämpfer sein“; ders., Technikwissenschaft als soziale Praxis.
7.2 Königsmechanismus und Medienkaisertum
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7.2 KÖNIGSMECHANISMUS UND MEDIENKAISERTUM: DIE HERRSCHAFT WILHELMS II. 7.2 Königsmechanismus und Medienkaisertum Wilhelm II. stand, wie Theodor Fontane als kritischer Zeitgenosse konstatierte, für den radikalen „Bruch mit dem Alten“22 und das „im Widerspruch dazu stehende Wiederherstellenwollen des Uralten“.23 Diese Äußerungen Fontanes wie auch sein Verdikt „Er glaubt, das Neue mit ganz Altem besorgen zu können, er will Modernes aufrichten mit Rumpelkammerwaffen“24
richten den Fokus auf die Janusköpfigkeit wilhelminischer Herrschaft zwischen Tradition und Moderne. Vor allem in den ersten Jahren seiner Regierung strebte Wilhelm ein persönliches Regiment an, dessen faktische Umsetzung aber in der Forschung umstritten ist. John C. G. Röhl vertrat die Auffassung, das politische System des Kaiserreiches sei monarchozentrisch ausgerichtet und maßgeblich vom Kaiser gesteuert gewesen. Der Kaiser habe die antagonistischen Akteure des Herrschaftssystems zu seinen Gunsten gegeneinander ausspielen können. Die zentrale Balance- und Steuerungsfunktion des Kaisers für das vom Spiel zahlreicher Akteure und sozialer Kräfte in Bewegung gehaltene politische System des Reiches bezeichnete Röhl nach einem von Norbert Elias geprägten Begriff als „Königsmechanismus“25. Für Hans-Ulrich Wehler, Wilhelm Mommsen, Hans-Peter Ullmann und andere setzten dagegen die polykratischen Strukturen in Regierungsapparat und Militär dem Führungsanspruch wie der Schiedsrichterrolle des Kaisers enge Grenzen. Das Kaiserreich habe mehrere rivalisierende Machtzentren besessen, und der Kaiser sei dabei stark von diesen beeinflusst worden, gar nur ein Akteur unter vielen gewesen.26 Den Kaiser hätte lediglich ein „Schein der Macht“27 umgeben, selbst eine charismatische Qualität wurde ihm vereinzelt abgesprochen.28 Seine Mitver22 23 24 25 26
Zit. nach König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 11. Zit. nach Ebd. Zit. nach Ebd. Zit. nach Frie, Das Deutsche Kaiserreich, S. 75. Zur Forschungsdebatte Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 80–82; Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 297f.; Halder, Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914, S. 79–82; Frie, Das Deutsche Kaiserreich, S. 69–81; Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 69; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 1000–1168; Mommsen, War der Kaiser an allem schuld; ders., Der Erste Weltkrieg, S. 61–78; Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 25f.; Sieg, Wilhelm II., S. 85–87; Röhl, Kaiser, Hof und Staat, bes. S. 116–140; ders., Wilhelm II. 2, S. 16–18, 31–37, 145–159, 935–945; Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 173–197, 291–301; Röhl, Kaiser, Hof und Staat, S. 125–140; Hull, ‚Persönliches Regiment;ދ Fesser, Kaiser Wilhelm II. und der Wilhelminismus, S. 144f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918 2, S. 476–485. 27 Zit. Kroll, Wilhelm II., S. 298. 28 Wolfram Pyta etwa hält Hindenburg für das charismatische Bindeglied zwischen Bismarck und Hitler, während Wilhelm II. zur symbolischen Herrschaftsrepräsentation weitgehend ungeeignet gewesen sei, vgl. Pyta, Hindenburg, S. 69–89, 289f.
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7 Mediale Charismatisierung
antwortung für die „Urkatastrophe“29 des Ersten Weltkrieges wird von dieser Forschungsrichtung nicht geleugnet, aber im Gesamtkomplex der Handlungen der deutschen Reichsleitung bewertet.30 Im Schattenregiment des Erstens Weltkrieges und in der Militärdiktatur Ludendorffs und Hindenburgs seien schließlich der Verfall der Monarchie und die politische Zurückdrängung des Kaisers offensichtlich geworden.31 Alexander Königs Untersuchung zum Machtpotential Wilhelms II. kommt neuerdings für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zu differenzierteren Ergebnissen. Demnach verzichtete der Kaiser in der Öffentlichkeit zwar weitestgehend auf die Betonung seines Persönlichen Regiments, behielt aber gleichwohl „alle ihm zustehenden Machtgrundlagen“32 in der Innen-, Außen- und Militärpolitik einschließlich des Genehmigungsvorbehalts bei allen Gesetzen der Reichsregierung, so wie dies in den Anfangsjahren seiner Herrschaft der Fall gewesen war. Von einem polykratischen Chaos im Sinne Wehlers konnte demnach keineswegs die Rede sein, wohl aber von kaiserlicher Kommandogewalt über die verschiedenen Machtzentren der deutschen Politik. Bei anstehenden Entscheidungen kam es allerdings mitunter dazu, dass der Königsmechanismus nicht funktionierte: Der Monarch erwies sich dann als Machthaber und Koordinator überfordert und beschränkte sich darauf zu reagieren, was bei Zeitgenossen und späteren Historikern zum besagten polykratischen Eindruck führte. Letztlich behielt der Kaiser bis 1914 die wichtigsten Fäden in der Hand.33 War dies aber für die innenpolitische Stabilität der Königsherrschaft in Deutschland entscheidend? Eine plausible Interpretation stellt die von Nicolaus Sombart und Ulrich Sieg geltend gemachte symbolische Integrationsfunktion der von Wilhelm II. verkörperten, modern anmutenden Repräsentationskultur dar, eine 30 Jahre währende Show, mit der er die vielfach fragmentierte wilhelminische Gesellschaft in seinen Bann zog.34 Des Kaisers wort- und gestenreiche Zurschaustellung uneingeschränkten Selbstherrschertums wurde für die politische Kultur des Reiches und den „Habitus zahlreicher seiner Untertanen“35, nicht allein was Barttracht und
29 Zit. und dessen Herkunft bei Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 14. 30 König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 7; Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 14–34; ders., War der Kaiser an allem schuld, S. 188–221; ders., Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 450–563; ders., Der Erste Weltkrieg, bes. S. 15–36; Mai, Das Ende des Kaiserreichs. 31 Machtan, Die Abdankung, S. 23–130; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 45–48, 99–107; Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 45; Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 77f.; ders., War der Kaiser an allem schuld, S. 222–256 Über die Rolle Hindenburgs als „politischer Herrscher“ neuerdings Pyta, Hindenburg, S. 244–283; Zur Behauptung einer Führungsstellung des Kaisers bis in den Sommer 1918 dagegen Gutsche, Ein Kaiser im Exil, S. 12. 32 Zit. König, Wie mächtig war der Kaiser?, S. 269, dazu S. 65–82. 33 Ebd., S. 270–275. 34 Sombart, Wilhelm II.; Sieg, Wilhelm II. Vgl. Frie, Das Deutsche Kaiserreich, S. 77f. 35 Zit. Kroll, Wilhelm II., S. 299.
7.2 Königsmechanismus und Medienkaisertum
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militaristisches Gebaren betrifft, stilbildend.36 Als Symbolfigur des noch jungen deutschen Nationalstaates profitierte der Kaiser von der kollektiven Verinnerlichung der Ideologien des Nationalismus und Imperialismus, die seit der Reichsgründung das liberale und katholische Bürgertum, aber auch Teile der Arbeiterschaft erfasst hatte. Dies zeigt vor allem die von Kaiser, Parteienmehrheit und Volk geteilte Begeisterung für Marine und Flottenbau.37 Der Kaiser verkörperte nun eine „neue Art national-imperialer Monarchie“38 – Ergebnis des im 19. Jahrhundert vollzogenen „Strukturwandel[s] monarchischen Selbst- und Fremdverständnisses“39. Die Konstitutionalisierung und nachfolgende Nationalisierung der Monarchie, verstanden als Anpassungs- und Modernisierungsprozess einer Elite, begründete die neue charismatische Qualität der Herrschaft Wilhelms II., wirkmächtig gefördert von seiner massenmedialen Präsenz. In den äußeren Repräsentationsformen der kaiserlichen Herrschaft, in der Prunk- und Verschwendungssucht der Berliner Hofgesellschaft, dem Hang zu Monumentalbauten, dem Gefallen an militaristischem Schaugepränge, in seinem theatralischen Imponiergehabe und seiner unermüdlichen Beredsamkeit sahen bereits kritische Zeitgenossen wie der Historiker Ludwig Quidde oder einzelne Vertreter der SPD das Wesen eines Cäsarismus oder Byzantinismus verkörpert. Weite Kreise des Bürgertums erlagen diesem Herrschaftsstil.40 Bei aller zeitgenössischen und späteren Kritik genoss der Kaiser bei der überwältigenden Mehrheit seiner Untertanen bis weit in die sozialdemokratische Arbeiterschaft hinein ein hohes Maß an Popularität.41 Insofern blieb die ganz auf seine Person zugeschnittene nationale Sammlungspolitik nicht ohne Erfolg.42 Sie betraf in unterschiedlichem Maße die bisherigen Reichsfeinde, Sozialdemokratie und politischen Katholizismus, für die aber nach wie vor auch „repressive und exkludierende Politikmuster“43 des Bismarckschen Obrigkeitsstaates wirkmächtig blieben. Vorran36 Ebd., S. 298f., 303; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 3, S. 849–857, 1000–1004, 1016–1020; Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 11, 23, 113–120, 156–160; Vogel, Nationen im Gleichschritt. 37 König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 19–51; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 35f.; Mommsen, War der Kaiser an allem schuld, S. 125–155; Ingenlath, ‚Mentale Aufrüstung ;ދPeters, Ansichten eines Kaisers, S. 169–176; Epkenhans, Die Wilhelminische Flottenrüstung; Berghahn, Der Tirpitz-Plan; Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 63. 38 Zit. Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 405. 39 Zit. Kroll, Zwischen europäischem Bewußtsein und nationaler Identität, S. 355. 40 Quidde, Caligula, bes. S. 8ff. Über Autor, Werk und Wirkung Holl/Kloft/Fesser, Caligula. Zur Einordnung Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 39f., 118–154; Jefferies, Wilhelminischer Monumentalismus; Ders., Imperial Culture, S. 42–88, 183–228; Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 45–50, 65–75; Barclay, Anarchie und guter Wille, S. 405; Lammelt, Majestätsbeleidigung, S. 62; Röhl, Kaiser, Hof und Staat, S. 20, 78– 115. 41 Kroll, Wilhelm II., S. 303f.; Sieg, Wilhelm II., S. 100–102; Cattaruzza, Das Kaiserbild in der Arbeiterschaft. 42 Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 62f.; Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 142–153. 43 Zit. Kühne, Jahrhundertwende, S. 91.
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7 Mediale Charismatisierung
gig diente sie der Zurückdrängung der an Einfluss gewinnenden Sozialdemokratie.44 Die Zentrumspartei, deren aristokratischem Flügel ohnehin „jede radikale Oppositionspolitik zuwider war“45 und der grundsätzlich „ein enges Zusammengehen von Thron und Altar anstrebte“46, verlor nach der Reichstagswahl von 1903 zugunsten des mittelständischen Parteiflügels an Einfluss, der für „nationale Parolen“47 und „wortreiche Plädoyers für eine konfessionelle Verständigung“48, wie sie von der Reichsregierung kamen, ausgesprochen empfänglich war.49 Wilhelm II. verfolgte in der Anfangsphase seiner Regierung Ideen zu einem „sozialen Kaisertum“50, mit denen er die Arbeiterschaft in das politische System des Kaiserreiches integrieren wollte. Die Ernsthaftigkeit einer vom Kaiser angestrebten nationalen Aussöhnung steht zwar angesichts der „paternalistischen Rhetorik“ des „Volkskaiser[s]“51 und seiner späteren Angriffe auf die Arbeiterbewegung in Frage, doch wird man die politische Wirkung dieser Rhetorik keinesfalls unterschätzen dürfen.52 Dem gegenüber wollte die Sozialdemokratie den bestehenden, von der Dominanz des Herrschers geprägten monarchischen Konstitutionalismus durch eine parlamentarische Monarchie ersetzt wissen. Die Abschaffung der Monarchie als solche stand für sie nicht auf der Tagesordnung. Man dachte evolutionär. In der Außenpolitik näherte sich die SPD zwar seit 1908 der Reichsleitung und dem Kaiser an53, doch standen die parlamentarischen Forderungen der linken und liberalen Opposition den von konservativen Kreisen in Militär, Parteien und Regierung angestrengten „Versuche[n] einer autoritär-plebiszitären Verankerung des Herrschaftssystems“54 immer noch deutlich entgegen. Dem Anspruch nach bildete die autokratische Ausrichtung des wilhelminischen Scheinkonstitutionalismus ein Gegenmodell zur parlamentarischen Demokratie. Faktisch aber war der Monarch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von seinem überkommenen absolutistischen Anspruch weit entfernt und glich zuweilen einem
44 Halder, Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914, S. 113–115; Haupts, Wilhelm II., die deutschen Katholiken und die Anfänge der Wilhelminischen Sozialpolitik; Haupt, Gewalt als Praxis und Herrschaftsmittel. 45 Zit. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 221. 46 Zit. Ebd. 47 Zit. Ebd. 48 Zit. Ebd. 49 Zum Wandel des Zentrums von der Oppositions- zur staatstragenden Partei Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 36–39; Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 182f.; Deuerlein, Die Bekehrung des Zentrums zur nationalen Idee. 50 Zit. Sieg, Wilhelm II., S. 91. 51 Zit. Ebd., S. 92. 52 Ebd., S. 88–92, 106; Kroll, Wilhelm II., S. 295f. Vgl. zum Volkskaiser auch Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 62f. 53 Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 5–44, 103–109, 196–230; Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 222–226. 54 Zit. Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 45.
7.2 Königsmechanismus und Medienkaisertum
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„Staatsschauspieler“.55 Entsprechend dem überkommenen Herrschaftsverständnis des preußischen Königshauses und seiner lutherischen Religiosität war Wilhelm II. von der Idee des monarchischen Gottesgnadentums und seiner ebenso unbeschränkten wie unfehlbaren Herrscherautorität zutiefst überzeugt. Die dominante Stellung des Monarchen in der Reichsverfassung mochte sein Selbstbild noch einigermaßen bestätigen, doch zeigte sie auch die von Föderalismus und Konstitutionalismus gesetzten Grenzen monarchischer Gewalt auf.56 Nach Auffassung von Jürgen Strötz unterschied sich die Herrschaft Wilhelms II. vom altpreußischen Partikularismus Wilhelms I. und seiner Vorgänger dadurch, dass sie einen auf ganz Deutschland bezogenen, universalen Anspruch verfolgte und „ihren historischen Anknüpfungspunkt in den (katholischen) Kaisern des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation suchte“.57
Frank-Lothar Kroll erschien insbesondere das Gottesgnadentum des Kaisers angesichts des fortgeschrittenen gesellschaftlichen Pluralismus in der wilhelminischen Epoche als „Illusion“58 und „seltsamer Anachronismus“59. Daraus resultierte sein Anspruch, der „Herr der Mitte“60 zu sein, ein Versöhner der auseinanderstrebenden Konfessionen, Klassen und politischen Interessen im Reich, dessen Gesellschaft auch nach Bismarck „konfessionell, sozial und nicht zuletzt regional segmentiert blieb“.61 Wie Lothar Gall bemerkt hat, „repräsentierte Wilhelm II. schließlich, wenn man so will, das Schlimmste und Gefährlichste, was einem Land passieren kann: das nicht vollzogene Ende einer längst an ihr Ende gekommenen Epoche.“62
Lothar Machtan zufolge wurde die Monarchie gleichwohl kaum radikal infrage gestellt, vor allem weil sie von der phantasievollen Sehnsucht der Beherrschten „nach dem Numinosen in Menschengestalt“63 getragen wurde, ein kulturell geprägtes Bedürfnis nach Führung, das durch das glanzvolle Erscheinungsbild des Kaisers und seiner hochadligen Standesgenossen offenbar befriedigt werden 55 Machtan, Die Abdankung, S. 58–75, Zit. S. 71. Zum Gottesgnadentum und zum Herrschaftsanspruch des Kaisers Röhl, Wilhelm II. 1, S. 289–293; Kroll, Wilhelm II., S. 290; König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 234f.; Peters, Ansichten eines Kaisers., S. 122–125; Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 171; Sombart, Wilhelm II., S. 94–98; Krüger, Wilhelms II. Sakralitätsverständnis im Spiegel seiner Kirchenbauten. Zur Religiosität des Kaisers Sieg, Wilhelm II., S. 97; Rall, Zur persönlichen Religiösität Kaiser Wilhelms II. 56 Siehe oben Kap. 6.2 sowie König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 234f.; Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 121. 57 Zit. Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 171. Vgl. Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens; Mommsen, Preußisches Staatsbewusstsein und deutsche Reichsidee. 58 Zit. Kroll, Wilhelm II., S. 290. 59 Zit. Ebd., S. 301. 60 Zit. nach Sombart, Wilhelm II., S. 95. 61 Zit. Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 77. Vgl. Berghahn, Das Kaiserreich 1871– 1914, S. 91–204; Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 171f. 62 Zit. Gall, Otto von Bismarck und Wilhelm II., S. 12. 63 Zit. Machtan, Die Abdankung, S. 72f.
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7 Mediale Charismatisierung
konnte. Die Stabilität der Königsherrschaft in Deutschland beruhte auf einer wirkungsvollen „Illusions- und Emotionspolitik“64, die die Untertanen in ihren regionalen und partikularen Identitäten beließ, ja sogar noch bestärkte. Keine politische Bewegung oder Partei besass die Kraft und den Willen, das bestehende Monarchie-Modell durch eine andere Herrschaftsform zu ersetzen.65 Inspiriert von seinem früh verstorbenen Vater Friedrich III. und den Hochschullehrern seiner Bonner Studienzeit66 verstand Wilhelm II. sich und die Hohenzollerndynastie als historische Nachfolger der deutschen Kaiser- und Königsdynastien des Mittelalters. Gleichzeitig intensivierte er die Verehrung der Ahnen des Hauses Hohenzollern an Geburts- und Todestagen, die nun als nationale Feiertage begangen wurden. An den Kaisertagen gedachten die Untertanen seinem Großvater Wilhelm I., dem Vater Friedrich III. und ihm selbst. Unter Rückbezug auf den Barbarossamythos ließ er einen Kult um den Reichsgründer Wilhelm den Großen betreiben, in dem der Staufer und der Hohenzoller in der Figur des Barbablanca miteinander verschmolzen. Der 100. Geburtstag Wilhelms I. am 22. März 1897 wurde im ganzen Reich entsprechend pompös begangen.67 Die monumentalen Historiengemälde und die Reiterstandbilder Friedrich Barbarossas und Wilhelms I. in der Goslarer Kaiserpfalz bildeten den Hohenzollernmythos ebenso wie das monumentale Kyffhäuser-Denkmal architektonisch ab.68 Großzügig förderte der Kaiser zahlreiche Bau- und Restaurierungsprojekte von Burgen, Schlössern, Kirchen, Prachtstraßen, Denkmäler, Museen und Repräsentationsbauten wie den Berliner Reichstag, die er als architekturbegeisterter Künstler konzeptionell beeinflusste. Schöpferische Denkmalpflege nach Vorgaben des Kaisers restaurierten staufischen Hohkönigsburg im Elsass, gehörte zu den Techniken wilhelminischer Erinnerungskultur.69 In herausragenden historischen Persönlichkeiten wie „Moses, Abraham, Homer, Karl der Große, Luther, Shakespeare, Goethe, Kant, Kaiser Wilhelm de[m] Große[n]“70
64 65 66 67
Zit. Ebd., S. 74. Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand, S. 239. Röhl, Wilhelm II. 1, S. 295f.; Fesser, Kaiser Wilhelm II. und der Wilhelminismus, S. 120. Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 196–216; Angelow, Wilhelm I., S. 264; Bringmann, Das neue Deutsche Reich, S. 804f.; Röhl, Wilhelm II. 2, S. 953–960; Kroll, Das geistige Preußen, S. 141–144; König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 255–263. Vgl. zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Aachen unten Kap. 7.3.4. 68 Krüger, Wilhelms II. Sakralitätsverständnis im Spiegel seiner Kirchenbauten, S. 237f.; Arndt, Die Goslarer Kaiserpfalz als Nationaldenkmal; Arndt, Der Weißbart auf des Rotbarts Throne; dies., Das Kyffhäuser-Denkmal; Mai, Das Kyffhäuser-Denkmal; Büttner, Karl der Große in der Kunst des 19. Jahrhunderts, S. 363f. 69 König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 137–155, 255f.; Bringmann, Gedanken zur Wiederaufnahme staufischer Bauformen im späten 19. Jahrhundert; Gause/Holdorf, Burgenromantik und Burgenrestaurierung um 1900; Stather, Die Kunstpolitik Wilhelms II.; Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 85–94, 165–169. 70 Brief Wilhelms II. an Admiral von Hollmann vom 15. Februar 1903, zit. nach Samerski, Papst und Kaiser, S. 202.
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sah Wilhelm II. unbefangen die Offenbarung Gottes zur Lenkung der gesamten Menschheit am Werk. Wilhelms politisch-ästhetische Vorstellungen von Mittelalter, Herrscherrepräsentation und Architektur drifteten häufig ins MystischUndefinierbare ab und begriffen die Hohenzollerndynastie als Vollendung der deutschen Geschichte.71 Das Mittelalter lieferte ihm das Ideal einer universalen monarchischen Herrschaftsordnung, was auch seine Sympathie für die katholische Kirche, ihre Traditionen, Riten und strenge, auf dem Autoritätsglauben basierende Hierarchie erklärt.72 Vielleicht war die Rückwendung zum universalistischen Kaisertum Ausdruck der imperialen Großmachtphantasien Wilhelms II., der sich zeitweise in der Rolle des „Weltfriedenskaisers“73 gefiel, wenngleich manche rednerischen Ausfälle diesen Anspruch immer wieder ad absurdum führten.74 Die Annäherung des Kaisers an den Katholizismus fand einen bemerkenswerten Ausdruck in der geschichtspolitischen Analogie mit Karl dem Großen. Bei seinem Besuch im Vatikan am 3. Mai 1903 wurde der Kaiser „im Stil mittelalterlicher Kaiserkrönungen mit dem Ruf ‚Heil Karl dem Großen! ދempfangen.“75
Papst Leo XIII. ließ es sich nicht nehmen, die Herrschaft Wilhelms II. direkt mit der Karls des Großen zu vergleichen, „dem die Mission dazu vom damaligen Papst Leo III. erteilt worden sei.“76 Nach 1890 konkurrierte die vom Königshaus geförderte Verehrung Wilhelms des Großen mit dem von Konservativen und Nationalliberalen betriebenen Kult um den anderen Reichsgründer, Bismarck, der den „Glauben an den starken Führer“77 verkörperte. Aus der Ablehnung des von Caprivi eingeschlagenen Neuen Kurses geboren, richtete sich der Bismarckkult gegen die geschichtspolitische Stilisierung Wilhelms I. zum Heldenkaiser und indirekt gegen das Persönliche Regiment Wilhelms II. Nach Bismarcks Tod 1898 gelang es dann dem Kaiser, den Kult um die bürgerliche Nationalfigur schrittweise zu vereinnahmen.78 Denn schließlich sollte nur er allein als das Oberhaupt der vor Selbstbewusstsein strotzenden Nation gesehen werden. Seit der Jahrhundertwende beteiligten sich auch die in der Zentrumspartei vereinten Katholiken am staatlichen Bismarckkult, da dieser
71 Zum Mittelalterbezug: Kroll, Das geistige Preußen, S. 142–144. Eine Interpretation des Herrschaftsstils Wilhelms II. als sakrales Königtum vertritt Sombart, Wilhelm II., S. 97f. Vgl. Sieg, Wilhelm II., S. 86. 72 Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 172f. 73 Zit. Kroll, Das geistige Preußen, S. 142. 74 Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 107–113. 75 Zit. Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 179. Vgl. zu diesem dritten Papstbesuch Ebd., S. 179f. 76 Zit. Samerski, Kaiser und Papst, S. 205 mit weiteren zeitgenössischen Zitaten historischer Vergleiche zwischen Wilhelm II. und Karl dem Großen bzw. Otto III. S. 204f. 77 Zit. Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, S. 9. 78 Kocka/Vogel, Bürgertum und Monarchie im 19. Jahrhundert, S. 790f.; Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, S. 21–42; Machtan, Bismarck-Kult und deutscher National-Mythos.
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7 Mediale Charismatisierung „das Wertsystem und die politischen Ziele des national gesinnten deutschen Bürgertums verkörperte“79
und deshalb gerade aus Sicht der Katholiken „das manifeste Bedürfnis nach nationaler Integration“80 erfüllte. Mit ihrem im Bismarckkult ausgedrückten Bekenntnis zu Monarchie, Staat und Nation setzten sich die Katholiken scharf von den verbliebenen Reichsfeinden, den Sozialdemokraten, ab, die ihre weitgehende Ablehnung Bismarcks auch nach dessen Tod aufrechterhielten, wobei vor und nach 1914 mehrfach vereinzelte positive Einschätzungen seiner historischen Bedeutung vernehmbar waren.81 Gegen die Opposition wurde nun der Bismarckmythos als „Vehikel eines integralen (und zugleich exklusiven) Nationalismus“82 ins Feld geführt.83 Parallel zur Traditionssuche war Wilhelm II. bestrebt, die bürgerliche Technikbegeisterung und den zum Kult werdenden Fortschrittsglauben zu vereinnahmen. Tatsächlich stellte der Kaiser in der Öffentlichkeit den „modernen, dem Bürgertum und seinen Anliegen gegenüber aufgeschlossenen Monarchen“ dar.84 Er förderte massiv die Technischen Hochschulen des Reiches und zahlreiche Projekte wie die Berliner U-Bahn, den Kanal- und Talsperrenbau, die militärische Nutzung des Rundfunks, die Flugtechnik und die moderne Kriegs- und Handelsflotte. Die Modernisierung hielt über die Elektrifizierung der kaiserlichen Schlösser ebenso Eingang in die persönliche Lebenswelt des Kaisers. Die Nutzung von schnellen Autos, Zügen und Yachten drückte die Dynamik der zeitlichen Beschleunigung und räumlichen Ausdehnung aus und stand für die Bemächtigung der Zukunft.85 Der Kaiser war das getreue Abbild des von ihm regierten ruhelosen Reiches auf einem ruhelosen Kontinent.86 Bei Wilhelm II. lässt sich paradigmatisch die im Typus des „Übergangsmenschen“87 zum Ausdruck kommende „Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne, Konvention und Sezession“88 fassen, die „Diskrepanz zwischen einer traditionell ausgerichteten monarchischen Weltanschauung und einer neuen, industriellen Massengesellschaft“.89
79 80 81 82 83 84 85 86
87 88 89
Zit. Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, S. 17. Zit. Ebd., S. 18. Müller-Koppe, Die deutsche Sozialdemokratie und der Bismarck-Mythos. Zit. Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, S. 33. Ebd., S. 31–33. Zit. Kocka/Vogel, Bürgertum und Monarchie im 19. Jahrhundert, S. 792. Zur Technikemphase und Wissenschaftsförderung Wilhelms II. König, Wilhelm II. und die Moderne; Sieg, Wilhelm II., S. 92–96; Kroll, Wilhelm II., S. 302f. Blom, Der taumelnde Kontinent; Stürmer, Das ruhelose Reich; Fesser, Kaiser Wilhelm II. und der Wilhelminismus, S. 143; Ullrich, Die nervöse Großmacht; Radkau, Die Wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter; ders., Das Zeitalter der Nervosität; Poidevin, Die unruhige Großmacht. Zit. nach dem Titel des Buches von Doerry, Übergangsmenschen 1–2. Zit. Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 177. Zit. Ebd.
7.2 Königsmechanismus und Medienkaisertum
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Der Eintritt der Monarchie in die Moderne stellte neue Anforderungen an die Legitimation der Königsherrschaft. Als Erstes ist die Veränderung des Charismas zu konstatieren, wie sie anhand der von Stefan Breuer fortgeschriebenen Herrschaftssoziologie Max Webers nachvollziehbar ist.90 Breuer beschrieb diese Veränderung als die teilweise Überführung des magisch-religiösen Herrschercharismas in die politische Religion des Nationalismus. Der Kaiser wurde in sakraler Inszenierung zur Verkörperung des Charismas der Nation.91 Die zweite Veränderung betrifft die massive Ausweitung des herrscherlichen Verwaltungsstabes durch die Ausweitung der Bürokratie und die Kreation staatstragender Eliten, darunter nun auch vermehrt politischer, religiöser und kultureller Experten.92 Eine dritte Entwicklungsrichtung wird man als Ausweitung der „Herrschaftsstabilisierung durch Traditionsschöpfung“93 bezeichnen können. Die von Robert Gerwarth für die Zwanziger Jahre konstatierte Neigung zur Kreation und Akzeptanz geschichtspolitischer Mythen und der „Bürgerkrieg der Erinnerungen und historischen Symbole“94 zwischen politischen Bewegungen, Parteien und Ideologien war vor 1914 noch ein ungleicher Wettkampf zwischen einer sich neu erfindenden autokratischen Monarchie, einem nach nationaler Entfaltung und Mitherrschaft strebenden Bürgertum und einer sich noch positionierenden sozialdemokratischen Opposition. Es bleibt, auf einen letzten zentralen Aspekt wilhelminischer Herrschaft hinzuweisen: die Nutzung der Massenmedien und die durch sie ermöglichte Verwandlung eines in vielfacher Hinsicht defizitären Kaisers zum Medienstar und charismatischen Führer, die im wilhelminischen Cäsarismus ihre Ausdrucksform fand.95 Wilhelm II. verstand es als „Medienkaiser“96 und „Redekaiser“97 exzellent, sich der modernen Kommunikationsmittel seiner Zeit zu bedienen. Dies geschah einerseits durch staatliche Presselenkung und Propaganda, andererseits im Gefolge des allgemeinen Interesses an der „öffentlichen Monarchie“98. Nur zu bereitwillig ließ er sich fotographieren und filmen.99 Die Zahl der Kaiserreden ist kaum abzuschätzen. Einerseits trugen sie mit ihrer massenhaften Verbreitung zur kultischen Verehrung des Kaisers durch seine Untertanen bei, andererseits verstörten Pannen wie die Daily-Telegraph-Affäre 1908 die Öffentlichkeit und untergruben das Ansehen der Monarchie. Doch gelang es Wilhelm II. nach dem Tiefpunkt von 90 Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 33–67; ders., Max Webers tragische Soziologie, S. 121f. 91 Breuer, Bürokratie und Charisma, S. 110–143; Vom Bruch, Kaiser und Bürger, S. 131. 143. 92 Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 23–25, 201f., 210–230. 93 Zit. Kroll, Das geistige Preußen, S. 142. 94 Zit. Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, S. 14. 95 Zum Charisma des Führers bei Intellektuellen der Kaiserzeit, u.a. bei Max Weber und Stefan George: Breuer, Bürokratie und Charisma, S. 144–175, 202–208. Vgl. zur Charismatisierung der Monarchie unter Wilhelm II. Clark, Preußen, S. 672ff. 96 Zit. Sieg, Wilhelm II., S. 85. 97 Zit. Ebd. 98 Zit. Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 82, vgl. auch ebd., S. 73–83. 99 Pohl, Der Kaiser im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
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7 Mediale Charismatisierung
1908 durch weitgehende Zurückhaltung sein Image wieder zu verbessern.100 Die Nutzung der modernen Massenmedien stärkte seine eigencharismatische Herrscherqualität, die vor allem im Erspüren der Volksstimmung und in der Fähigkeit zur Selbstinszenierung bestand.101 Mit seinem theatralischen Auftreten sprach er die Phantasien weiter Kreise des gehobenen Bürgertums an.102 In den Zusammenhang öffentlichkeitswirksamer Selbstdarstellung als volksnaher Monarch gehört auch die rege Reisetätigkeit, mit der Wilhelm II. den Nerv seiner Zeit, Mobilität und Tempo, traf, die aber auch Anlass zur Beunruhigung und Spott gab.103 Walter Rathenau bezeichnete diese sich der Mittel der Moderne bedienende Herrschaftsform griffig als „elektrisch-journalistische(n) Caesaropapismus“104. Der Historiker Karl Lamprecht sah darin die Fortsetzung der mittelalterlichen Tradition des Reisekönigtums, mehr als ein halbes Jahrhundert später erblickte Fritz Fischer im permanenten Reisen Wilhelms II. den „modernen Regierungsstil“105 des „modernen Staatsmann[es]“106. Die eindrucksvollen und pompös inszenierten Besuche anlässlich von „Denkmalsenthüllungen, Brückeneinweihungen und kulturellen Anlässen“107 brachten ihn nicht nur in direkten Kontakt mit seinen Untertanen, sondern steigerten die Popularität der monarchischen Herrschaftsform.108 Klirrende Militärparaden erweckten den Eindruck persönlichen Glanzes und nationaler Stärke. Das in der wilhelminischen Ära inflationär anwachsende Ordenswesen sollte die Loyalität der nach nationalen Ehrenzeichen gierenden bürgerlichen Eliten sichern und wurde zum Markenzeichen der Untertanenmentalität.109 Die mediale Allpräsenz und der häufig inadäquate Einsatz der verschiedenen Herrschaftsinstrumente trug in sich die Gefahr, dass sich das Charisma Wilhelms II. auf Dauer verbrauchte.110
100 König, Wie mächtig war der Kaiser, S. 28–63, 267; Sieg, Wilhelm II., S. 100; Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 45–83; Reinhardt, S. 29–111. 101 Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 62f. 102 Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 67-120, 179f. 103 König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 195–233, bes. S. 197f; Marschall, Reisen und Regieren; Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 94–106. 104 Rathenau, Der Kaiser, S. 30, zit. nach König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 11. 105 Zit. nach König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 197. 106 Zit. nach Ebd., S. 198. 107 Zit. Sieg, Wilhelm II., S. 92. 108 Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 27f.; Fesser, Kaiser Wilhelm II. und der Wilhelminismus, S. 124; Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 165–169. 109 Peters, Ansichten eines Kaisers, S. 156–164. 110 Sieg, Wilhelm II., S. 107; Sösemann, Der Verfall des Kaisergedankens.
7.3 Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation
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7.3 DIE NEUFORMIERUNG DER REPRÄSENTATION UND KOMMUNIKATION WILHELMINISCHER HERRSCHAFT IN AACHEN 7.3 Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation Das wilhelminische Königtum soll im Folgenden anhand seiner Kommunikation und Repräsentation im lokalen Raum Aachens analysiert werden. Am Anfang steht eine kurze Einführung über den Entwicklungsstand Aachens um die Jahrhundertwende. Darauf folgt die Fortsetzung der Analyse der Ikonographie von Münster, Rathaus und Denkmäler als zentrale Medien kultureller Herrschaftsvermittlung in Aachen. Danach werden der Aachener Kaiserbesuch von 1902 und kursorisch derjenige von 1911 behandelt. Im Anschluss daran wird anhand der Feier zum 1100. Todestag Karls des Großen 1914 und ihrer Vorgeschichte die Nationalisierung des lokalen Karlskultes dargestellt. Die geschichtspolitische Funktion von Ausstellungen als Medien der Herrschaftsvermittlung zeigt das Projekt der für 1915 geplanten Aachener Krönungsausstellung. Abgeschlossen wird das Kapitel mit dem kurzen Aachenbesuch Wilhelms II. im Mai 1918, mit dem Planungen für eine Aufwertung der Stadt in der Zeit nach dem Krieg verbunden waren, die nicht mehr zur Ausführung kamen. Die Leitthese der folgenden Untersuchung ist, dass sich anhand der kulturellen Artefakte und Vergemeinschaftungsformen aufzeigen lässt, wie das zuvor divergierende Symbolsystem des katholischen Aachen zum wechselseitigen Profit der Hauptakteure dem Symbolsystem des preußisch-deutschen Königtums angenähert und mit diesem kompatibel gemacht wurde. 7.3.1 Das katholische Aachen im Kaiserreich Die katholischen Rheinländer und mit ihnen die Aachener wurden nach 1890 „loyale Staatsbürger Preußens und überzeugte Anhänger des Kaiserreiches“.111 Daran hatte die Entlassung Bismarcks durch Wilhelm II. im März 1890 einen nicht zu unterschätzenden Anteil.112 Das Zentrum fügte sich schnell und bereitwillig in die vom Kaiser initiierte innenpolitische Sammlungsbewegung ein.113 Die Annäherung der katholischen Rheinländer an Preußen war keine Herzensangelegenheit, sondern mehr die Folge der Integration der Katholiken in den von Preu-
111 Zit. Poll, Preußen und die Rheinlande, S. 42. Vgl. Vierhaus, Preußen und die Rheinlande, S. 174f.; Hehl, Katholizismus und die Einheit der Nation, S. 98; Gründer, Nation und Katholizismus im Kaiserreich; Mergel, Gute Katholiken und gute Preußen; Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat. 112 Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat, S. 164–167. 113 Becker, Die Minderheit als Mitte.
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7 Mediale Charismatisierung
ßen geprägten deutschen Nationalstaat.114 Diese wurde nicht zuletzt möglich durch die Verständigung der Liberalen und Katholiken auf ein „gemeinsames Symbolsystem, das sie als verbindlich, für Deutschland stehendes akzeptieren konnten, wenn es auch jeweils unterschiedlich besetzt war.“115
Dazu gehört das Feindbild Frankreich ebenso wie der Schillerkult und das Gedenken für die Gefallenen der Befreiungs- und Einigungskriege.116 Der nach der Reichsgründung einsetzende Gründerboom hatte das katholische Aachen zu einem wohlhabenden Zentrum der Industrialisierung im Westen des wirtschaftlich und technologisch rasant prosperierenden Deutschen Reiches gemacht. Die Aachener Technische Hochschule, die einzige in der Rheinprovinz, hatte sich zum Hort der frühen Ingenieurselite und Ausgangspunkt technologischer Innovationen entwickelt.117 Dagegen stagnierten seit längerem der traditionelle Badebetrieb und der Fremdenverkehr, die von den Stadtvätern den Industrieinteressen untergeordnet wurden.118 Der Fortschrittsoptimismus hatte gleichwohl weite Kreise des Aachener Bürgertums bis in den politischen Katholizismus hinein ergriffen.119 Mit der industriellen Entwicklung und dem rasanten Bevölkerungswachstum waren die sozialen Unterschiede gewachsen. 1900 lebten in Aachen bei einer Einwohnerzahl von 135.200 Einwohnern immerhin 92 Millionäre, was im rheinischen Vergleich einen Spitzenplatz bedeutete, wobei allerdings die Industriestandorte Düsseldorf, Essen, Duisburg, Elberfeld und Barmen Aachen beim ökonomischen und demographischen Wachstum überflügelten.120 In wirtschaftlichen Krisenjahren kam es zu Massenentlassungen in der Aachener Industrie, was die Zahl der Arbeitslosen stark ansteigen ließ.121 Die sozialen Spannungen machten sich auch in Aachen
114 Deuerlein, Die Bekehrung des Zentrums zur nationalen Idee, S. 434f.; Morsey, Die Rheinlande, Preußen und das Reich, S. 182. 115 Zit. Heinen, Umstrittene Moderne, S. 155. Vgl. zur symbolischen Konstruktion des nationalen Einigungsprozesses auch Smith, German Nationalism and Religious Conflict. 116 Heinen, Umstrittene Moderne, S. 155. 117 Zur wirtschaftlichen Entwicklung des Kaiserreiches Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914, S. 41–91. Zu Aachen Thomes, 1804–2004. 200 Jahre mitten in Europa, S. 110–149; Haude, Grenzflüge, S. 56–71. 118 Haude, Grenzflüge, S. 70f. 119 Dazu die mit lebhaftem Beifall bedachten Ausführungen des Kölner Zentrumsabgeordneten Trimborn auf einer Festversammlung der rheinischen Zentrumsabgeordneten im Juli 1902 über Aachen als Ort der Vergangenheit und des Fortschritts. ‚Heiligthumsfahrt 1902. Die Festversammlungދ, EdG vom 17.7.1902. Vgl. ‚Zum Kaiserfesteދ, Festblatt zum EdG vom 19.6.1902; dazu Tschacher, HerrschaftsTechnik. 120 Die Bevölkerung stieg auch infolge von Eingemeindungen von ca. 103.000 1890 auf ca. 161.000 1914 an. Vgl. dazu die Angaben zur Einwohnerentwicklung bei Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 243, 253, 261, 289; Haude, Grenzflüge, S. 69. Zur Zahl der Vermögenden Kaemmerer, Geschichtliches Aachen, S. 77; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 252, 254. 121 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 263, 265 meldet für 1901 1650 Unterstützung empfangende Arbeitslose, für 1902 bereits 2000.
7.3 Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation
329
durch wachsenden Antisemitismus bemerkbar.122 Seit 1900 häuften sich die Streiks123, 1908 erlitt die lokale Wirtschaft einen konjunkturellen Rückschlag.124 Bereits 1891, ein Jahr nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes, gab es in Aachen 25 sozialdemokratische Vereine und Gewerkschaften mit über 1.000 Mitgliedern.125 Die SPD wurde ein ernst zu nehmender Gegenspieler des Zentrums, indem sie Teile der katholischen Arbeiterschaft für sich gewann. Seit 1890 lag sie bei den Reichstagswahlen weit nach dem Zentrum, aber stets vor der liberalen Partei auf dem zweiten Platz.126 Die alten bürgerlichen Eliten dominierten das politische Leben in Aachen. Zwischen 1903 und 1912 erreichte die Zentrumspartei mit durchschnittlich 86 Prozent aller Stimmen der katholischen Bevölkerung in Aachen den höchsten Anteil aller Städte im Rheinland und in Westfalen.127 Nach der Jahrhundertwende waren die im Kulturkampf eskalierten Konflikte zwischen preußischer Regierung und katholischen Rheinländern weitgehend beigelegt, wozu die Konfessionspolitik Wilhelms II. maßgeblich beitrug. Viele Katholiken teilten mittlerweile den „Kaiserenthusiasmus“128. Die Aachener Heiligtumsfahrt vom Juli 1902 führte klar vor Augen, dass Romtreue und Kaisertreue für die Katholiken keinen Widerspruch mehr darstellten.129 7.3.2 Die wilhelminische Restaurierung des Münsters Bei der Restaurierung des Aachener Münsters zwischen 1850 und 1890 hatten das Stiftskapitel und das Kölner Generalvikariat alle ikonographischen Bezüge zur Hohenzollernmonarchie zugunsten christlicher Motive zurückgedrängt, da sie das Gotteshaus über das Nationaldenkmal gestellt wissen wollten. Die Baumaßnahmen nach 1890 entsprachen dagegen durchaus dem Herrschaftsverständnis Wilhelms II., weshalb von einer wilhelminischen Restaurierung des Münsters gesprochen werden kann. Nach dem Ausbau des Westturms und dem Verzicht auf die
122 Im Mai 1894 fand in Aachen eine „äußerst zahlreich“ besuchte Versammlung der Antisemitischen Bewegung statt, die in der katholischen Lokalpresse Beachtung fand, vgl. EdG vom 10.5.1894. 123 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 259 (Februar 1902, Streik von ca. 1000 Arbeitern im Wurmrevier), S. 273 (August 1906, Streik in den Stahl- und Walzwerken Rothe Erde), S. 275 (Sommer 1907, 17wöchiger Streik im Baugewerbe), S. 284 (April/Mai 1912, Streik der Eisenformer). 124 Dux, Das war das 20. Jahrhundert in Aachen, S. 12; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 277. 125 Lepper, Kaplan Franz Eduard Cronenberg, S. 148; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 245. 126 Stiewe, Die ‚Rheinische Bewegungދ, S. 523. Vgl. die Ergebnisse der Aachener SPD bei den Reichstagswahlen seit 1890 bei Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 242, 262, 267, 273 u.ö. 127 Stiewe, Die ‚Rheinische Bewegungދ, S. 522, Anm. 2. 128 Zit. Lepper, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu Aachen, S. 295. 129 Dazu die Berichterstattung über die Eröffnungsfeier der ‚Aachener Heiligthumsfahrt von 1902ދ, Aachener Volksblatt vom 8.7.1902; ‚Heiligthumsfahrt 1902ދ, EdG vom 10.7.1902; ferner ebd. 11.-25.7.1902; dazu Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 265.
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7 Mediale Charismatisierung
Neuanlage eines Atriums130 stand die Fortsetzung der Ausgestaltung des karolingischen Oktogons an. Bei der Mosaikausstattung der Kuppel des karolingischen Oktogons durch Bethune hatte das Innere der Kirche ravennatische und byzantinische Stilelemente erhalten, so wie man sich diese Ende des 19. Jahrhunderts vorstellte, eine bauliche Vorentscheidung, an welche die weiteren Restaurierungen anknüpfen mussten. Die Mosaizierung des Tambours und die Marmoreinkleidung der Wände und Pfeiler des Oktogons sollten mit der Kuppelgestaltung vereinbar sein. Ausgehend von diesem Gedanken schrieb man einen Wettbewerb aus, den der Hannoveraner Architekt Hermann Schaper131 1889 gewann.132 Der ursprüngliche Entwurf wurde von Schaper nach dem Vorbild altrussischer Ikonostasen um zahlreiche Figuren zu einer großen Deesis mit einer Darstellung des thronenden Christus, umgeben von Maria, Johannes dem Täufer, den Erzengeln Michael und Gabriel und den zwölf Aposteln, erweitert.133 Den endgültigen Ausschlag zur Anbringung der aufwändigen Mosaiken gaben 1896 eine kaiserliche Kabinettsorder und im folgenden Jahr ein Gutachten des Berliner Regierungskonservators Reinhold Persius134, dem der zeitbezogene Hintergrund für die Wahl des Motivs zu entnehmen ist. Persius vertrat die Ansicht, ein schlichter Kirchenraum, wie er von Karl dem Großen beabsichtigt gewesen sei, wäre der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln.135 Mit Sicherheit entsprach ein solcher Purismus nicht dem Kunstempfinden des Kaisers, der, wie bereits Walter Rathenau feststellte, nur dasjenige förderte, was seinen Glanz vermehrte.136 Der in Aachen gewählte Baustil kam damit der Herrschaftsauffassung Wilhelms II. sehr nahe. Die Architektur wurde, Kunsttheorien der Jahrhundertwende entsprechend, offen in den Dienst des Kaisertums und des Staates gestellt. Das kaiserliche Mäzenatentum im Profan- und Sakralbau verlieh dieser Verschränkung zwischen Kunst und Politik seinen materiellen Ausdruck.137 Parallel zu den Expertendiskussionen kann ein Einstellungswandel der an der Restaurierung beteiligten lokalen Akteure beobachtet werden. Bei der 50-jährigen Jubelfeier des Karlsvereins am 21. November 1897 wurde der Restaurierungsgedanke offen in den Dienst des Kaisertums gestellt.138 Voraussetzung dafür war 130 Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 421–425; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 349f.; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 278–282. 131 Zu Hermann Schapers (1853–1911) Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 256, 261; Heckes, Studien zu den Kirchendekorationen Hermann Schapers. 132 Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 86–89. 133 Übersicht Ebd., S. 89–99. 134 Zum kaiserlichen Hofarchitekten und Konservator der preußischen Kunstdenkmäler Reinhold Persius (1835–1912) Börsch-Supan, Persius. 135 Pohle/Konnegen, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 193, 195f.; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 341f.; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 273–278; Baumunk/Brunn, Hauptstadt. Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, Kat.-Nr. 2/13 und 2/14, S. 58. 136 Rathenau, Der Kaiser, S. 31; Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 112. 137 Cortjaens, Rheinische Altarbauten des Historismus, S. 273ff. 138 STA Aachen, Depositum Karlsverein, Nr. 27; ‚Die 50jährige Jubelfeier des Karlsvereins zur Restauration des Aachener Münsters am 21. November 1897ދ, AP vom 23. November 1897.
7.3 Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation
331
neben der kontinuierlichen, großzügigen Förderung der Baumaßnahmen durch das Hohenzollernhaus sicherlich die veränderte Religionspolitik Wilhelms II. und dessen Annäherung an Papst Leo XIII. Zwischen 1900 und 1904 wurden die Ausführung der Mosaiken und die Marmorierung des oberen Oktogons und der Unterkirche vorgenommen. Die Vollendung des Gesamtwerks zog sich danach noch bis 1913 hin. Die Terminierung der wichtigsten Arbeiten stand zunächst ganz im Zeichen des Aachener Kaiserbesuches im Juni 1902, doch konnte erst Ende September 1902 die Vollendung der Kuppelmosaiken und der Marmorbeplattung der Innenseite des Oktogons gemeldet werden.139 Eine Lotterie trug zur Finanzierung der zunächst veranschlagten Kosten von 76.600 Reichsmark bei. Eine zweite Lotterie 1910, deren Kapital bereits auf 470.000 Reichsmark angewachsen war, diente ebenfalls der Deckung der enormen Kosten.140 Über den Fortgang der Arbeiten ließ sich Wilhelm II. als Protektor des Aachener Münsters und seiner Restaurierung detailliert informieren.141 Schaper erläuterte dem Kaiser am 4. April 1900 persönlich seine Entwürfe anhand von Kartons und eines im Maßstab 1:20 hergestellten Oktogon-Modells. Der Kaiser war darüber, wie es hieß, „sehr befriedigt“142. In einem im Berliner Lokalanzeiger veröffentlichten Telegramm beglückwünschte er den Vorstand des Karlsvereins, dass die Baupläne Schapers „wahrlich im Geiste Karls des Großen aufgefasst“143 seien. In Wirklichkeit entsprachen sie eher seinen eigenen Vorstellungen von repräsentativer Herrschaftsarchitektur: „Professor Schaper hat Mir sein Modell und die Kartons gezeigt, welche für die Ausschmückung der alten Krönungskirche Karls bestimmt sind. Selbst ein unermüdlicher Forscher auf dem Gebiete der romanischen und byzantinischen Mosaikkunst, bin Ich auf das Freudigste überrascht gewesen von der grossartigen und stilgerechten Auffassung, sowie von der Korrektheit der Linienführung und harmonischen Gesammtwirkung, welche das Modell so trefflich veranschaulicht. Die Wiederherstellung nach dem vorgelegten Entwurfe ist wahrlich im
139 Bericht über eine Besichtigung der Bauarbeiten durch den Konservator der Kunstdenkmäler und des Kommissars des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten an den Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten vom 28.9.1902, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 93 B, Nr. 2594. 140 Vgl. die Akten in GStA PK Berlin, HA I, Rep. 93, Nr. 2594; LHA Koblenz, Bestand 403, Nr. 13637; LHA Koblenz, Bestand 403, Nr. 16014; dazu Heckes, Die Mosaiken Hermann Schapers; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 278; Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 75–79; Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters, S. 289–293. 141 GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233; ‚Zur Restauration des Aachener Domesދ, EdG vom 5.6.1904. Vgl. Konnegen, Aachener Dom, S. 608. 142 Zit. Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten, Berlin an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Koblenz vom 10.5.1900, LHA Bestand Koblenz 403, Nr. 7495. 143 Zit. Telegramm des Kaisers an den Vorstand des Karlsvereins, LHA Koblenz Bestand 403, Nr. 7495. Vgl. den Berliner Lokalanzeiger vom 6.4.1900; GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23232; Schreiben des Ministers der geistlichen usw. Angelegenheiten an den Minister der öffentlichen Arbeiten vom 10.5.1900, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 93, Nr. 2594. Dazu Pohle/Konnegen, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 199.
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7 Mediale Charismatisierung Geiste Karls des Grossen aufgefasst und seiner würdig. Ich beglückwünsche den Karls=Verein dazu. Gez. Wilhelm.“144
Wie Bethune vermutete auch Schaper ravennatische Vorbilder des karolingischen Baus, fügte dem aber ein „wilhelminische[s] Pathos“145 hinzu. So entsprach das Aussehen des mosaizierten Stifterbildes Karls des Großen frappant den Gesichtszügen Bismarcks146, dessen Kult inzwischen vom Kaiserhaus adaptiert worden war.147 Schapers schöpferische Restaurierung des Aachener Münsters „im Spannungsfeld zwischen liturgischer Bewegung, Modernismusdiskussion und archäologischer Forschung“148
führte zu einem heftigen Streit unter Fachgelehrten und Denkmalpflegern.149 Der österreichische Bauhistoriker Strzygowski lehnte wie andere Gelehrte die Marmorverkleidung als ahistorische Entstellung ab. Paradoxerweise forderte er aber eine noch weitergehende Restaurierung im byzantinischen Stil150, da er statt der von Schaper konstatierten römisch-ravennatischen hellenistisch-orientalische Vorbilder des karolingischen Kirchenbaus annahm. Schaper unternahm daraufhin zusammen mit dem Aachener Architekturprofessor Georg Frentzen151 eine Orientreise, um Strzygowskis Forderung nach Berücksichtung weiterer baulicher Vorbilder Genüge zu tun.152 Als weiterer Experte vertrat der Aachener Dombaumeister Joseph Buchkremer153 die Auffassung, das Münster sei bereits in 144 Zit. Telegramm des Kaisers an den Vorstand des Karlsvereins, LHA Koblenz Bestand 403, Nr. 7495. 145 Zit. Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 342. 146 Ebd., S. 340 (Abb.), 342; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 275. 147 Siehe oben Kap. 7.2. 148 Zit. Heckes, Die Mosaiken Hermann Schapers, S. 219. 149 Strzygowski, Der Dom zu Aachen und seine Entstellung; Buchkremer, Zur Wiederherstellung des Aachener Münsters; Faymonville, Zur Kritik der Restaurierung des Aachener Münsters; Viehoff, Wiederherstellung des Aachener Münsters; Sauer, Die Entstellung des Aachener Doms, Kölnische Zeitung vom 13.1.1904; Frentzen, Urteile über die Strzygowskische Schrift; Faymonville, Der Dom zu Aachen, S. 426–437. Vgl. die Übersicht bei Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 99–101. 150 Zum byzantinischen Kunststil im 19. Jahrhundert Stephan-Kaissis, Bayern und Byzanz; Bullen, Byzantinism and Modernism; ders., Byzantium rediscovered sowie mit Bezug auf den von Wilhelm II. geprägten Herrschaftsstil Pezold, Cäsaromanie und Byzantinismus bei Wilhelm II. 151 Zum Geheimen Baurat Georg Frentzen (1854–1923), 1887 Professor für Architekur an der TH Aachen, Glander, Georg Frentzen. 152 Ausführliche Darstellung des Streites bei Pohle/Konnegen, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 190–206; Belting, Das Aachener Münster im 19. Jahrhundert, S. 278. Vgl. dazu auch die Akten in LHA Koblenz, Bestand 403, Nr. 13637; GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233. 153 Zum Dombaumeister Josef Buchkremer (1864–1949), außerordentlicher Professor für Architektur an der TH Aachen seit 1902 HoA Aachen 1699 (Personalakte); Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 219, 228, 233, 254, 257, 259, 293, 310, 397; Buchkremer, Meine Tätigkeit als Aachener Dombaumeister; Huyskens, Unserem Ehrenmitglied Dombaumeister Prof. Dr.Ing. h.c. Joseph Buchkremer († 11.1.1949) zum Gedächtnis.
7.3 Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation
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karolingischer Zeit mit Marmorplatten ausgekleidet gewesen.154 Im Rückblick gab er zu, dass vor allem die Favorisierung der Entwürfe Schapers durch Wilhelm II. den Ausschlag für seine Meinung gegeben hätten, so dass „alle Bedenken beiseite geschoben und mit großer Hast“155 zur Ausführung geschritten wurde. Zwischen 1900 und 1902 wurde im Innern des Oktogons die Widmungsinschrift erneuert, die an den Karolus princeps als Gründer der Kirche, erinnerte.156 Zudem fanden Untersuchungen und Instandsetzungsarbeiten am Königsstuhl auf der Empore des Oktogons statt. Auch die Säulenstellung in der oberen Vorhalle hinter dem Thron wurde korrigiert. Der Fortgang der Arbeiten an der hinter dem Thron befindlichen Kaiserloge stand ganz im Zeichen des zweiten Kaiserbesuches von 1911. Doch dauerte die endgültige Fertigstellung ihrer inneren Mosaizierung, die Marmorierung der Wände und Fußböden, die Anbringung seitlicher Türöffnungen und die Installation von Beleuchtungskörpern noch bis Oktober 1913.157 1906 finanzierte der Kaiser die mehrmonatige Restaurierung der die Gebeine Karls des Großen umhüllenden Textilien des Karlsschreins. Über den Fortgang der Arbeiten, die in einer Berliner Werkstatt vorgenommen wurden, ließ er sich detailliert unterrichten. Bei der Dankesfeier des Aachener Stiftskapitels am 19. November 1906 erinnerte Propst Bellesheim an die gegenüber dem Kölner Weihbischof Fischer geäußerten Worte Leos XIII. über den Kaiser, dieser habe „etwas von Karl dem Großen in sich“.158 Auch an den Ausgrabungen der Jahre 1910 bis 1914, bei denen sich im vermuteten Grab Ottos III. ein roter Sandsteinsarkophag mit „fast gänzlich vermoderten Gebeine[n], die bei geringster Berührung zu Staub zerfielen“159, fand, zeigte der Kaiser „lebhaftes Interesse“160 und beteiligte sich mit einer erheblichen Summe an den anfallenden Kosten. 1911 stiftete er dem Münsterschatz ein kostbares neoromanisches Kuppelreliquiar für die Gebeine der heiligen Corona und Leopardus und gewährte aus diesem Anlass Ende Dezember 154 Buchkremer, Zur Wiederherstellung des Aachener Münsters, bes. S. 33f. Vgl. Viehoff, Zur Wiederherstellung des Aachener Münsters. 155 Zit. Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 77. 156 Giersiepen, Die Inschriften des Aachener Domes, Nr. 6, S. 6; Springsfeld, Die drei bekanntesten Inschriften des Aachener Liebfrauenmünsters, S. 365. 157 Berichte des Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten an Kaiser Wilhelm II. vom 7.4. und 6.10.1911, 5.1.1912 und 10.10.1912, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233; Schreiben Wilhelms II. an den Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten vom 14.2.1914, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23234; Buchkremer, Zur Wiederherstellung des Aachener Münsters, S. 22–26; ders., Dom zu Aachen, S. 63–69; Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 105. 158 Zit. ‚Die Wiedereinschließung der Gewebestoffe des Karlsschreinsދ, EdG vom 20.11.1906. 159 Zit. Bericht des Oberpräsidenten der Rheinprovinz an Kaiser Wilhelm II. vom 16.10.1910, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233. Die Gebeine wurden nach Erstellung eines ärztlichen Gutachtens am 13.10.1910 in feierlicher Zeremonie wieder im Sarg versiegelt. Vgl. GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233. 160 Zit. ‚Die Ausgrabungen im Münsterދ, EdG vom 15.2.1913. Vgl. Pick, Ist der im Chor des Aachener Münsters 1910 ausgegrabene Rotsandstein-Sarkophag der Sarg Karls des Großen. Zu den Ausgrabungen Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 97; Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters, S. 293–299.
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7 Mediale Charismatisierung
1912 dem neuen Aachener Stiftspropst Franz Kaufmann161 die Ehre einer persönlichen Audienz in Potsdam.162 Nach dem Tod Schapers wurde 1913 auch der Boden des Münsters mit Marmor verkleidet, womit die Mosaizierung endgültig abgeschlossen war. Bereits 1911 hatte Wilhelm II. dem Münster eine Marmorkanzel gestiftet, die mit Löwensockeln, Kaiseradler und einer vom Aachener Gymnasialdirektor Martin Scheins163 verfassten Inschrift ausgestattet war und in der Nord-Süd-Achse des Oktogons aufgestellt werden sollte. Der Text der Inschrift lautete MAGNANIMUS MAGNI CAROLI WILHELMUS / AMATOR / FULGENTE FIERI ME IUSSIT / MARMORE CAESAR („Der edelmütige Kaiser Wilhelm, Verehrer des großen Karl, befahl, mich aus leuchtendem Marmor zu schaffen.“).164
Der Wilhelm II. zugeschriebene Edelmut (magnanimitas) stellte im Verständnis humanistisch Gebildeter eine der hervorragendsten Herrschereigenschaften überhaupt dar. Einhart verwendete den Begriff in seiner Vita Karoli mehrfach zur Beschreibung Karls des Großen.165 Leicht ließ sich die Großherzigkeit des Kaisers mit seiner Aachen erwiesenen Freigiebigkeit verbinden, denn die aus der kaiserlichen Schatulle finanzierten Gesamtkosten der Kanzel betrugen immerhin 23.000 Reichsmark. Ihre Aufstellung als „sichtbares Unterpfand kaiserlicher Huld“166 im Sommer desselben Jahres fügte sich stimmig in das „Stilkonglomerat des ‚wilhelminischen ދDomes“167 ein. Marginale Veränderungen am Bauwerk erbrachten später nur noch die Arbeiten in der gotischen Chorhalle, wo man im Sommer 1916 schon länger bekannte Wandmalereien des 15. und 16. Jahrhunderts freileg161 Zu Franz Kaufmann (1862–1920), Propst des Aachener Kollegiatstifts 1912–1920, 1908– 1918 Abgeordneter des preußischen Landtages, STA Aachen, Nachlass Franz Kaufmann; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 285; Brecher, Seelsorger – Stiftspropst – Landespolitiker. Dr. jur. Franz Kaufmann; Lepper, Rheinische Katholiken zwischen kirchlichem Gehorsam und politischer Selbstverantwortung; ders., Franz Kaufmann; ders., Ein Bonner in Rom. 162 Schnütgen, Aus der jüngeren Vergangenheit des Historischen Vereins für den Niederrhein, S. 36f.; Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 346–349; Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters, S. 295–299. 163 Über den Direktor des Kaiser-Karls-Gymnasiums Dr. Martin Scheins (1847–1918) vgl. Savelsberg, 50 Jahre Aachener Geschichtsverein, S. XIXf. Scheins war in dieser Zeit Gründungsmitglied und als Schriftführer Vorstandsmitglied des Aachener Geschichtsvereins, vgl. Chronik des Aachener Geschichtsvereins 1899/1900, ZAGV 22 (1900), S. 368; Verzeichnis der Mitglieder, ZAGV 25 (1903), S. 410, 424. 164 Zit. Inschrift nach Bericht von Stiftspropst Kaufmann an Kaiser Wilhelm II. vom 22.7.1913, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233. Übersetzung W. T. 165 Einhard, Vita Karoli Magni (ed. Firschow), Kap. 7, S. 18, Kap. 19, S. 40, Kap. 28, S. 52. 166 Zit. Bericht von Stiftspropst Kaufmann an Kaiser Wilhelm II. vom 22.7.1913, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233. Vgl. Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters, S. 292. 167 Zit. Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 345. Zur Schenkung Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 79; Schreiben des Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten an Kaiser Wilhelm II. vom 30.3.1913, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233; Bericht von Stiftspropst Kaufmann an Kaiser Wilhelm II. vom 22.7.1913, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23233; LHA Koblenz, Bestand 403, Nr. 16014.
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te, darunter eine Darstellung des heiligen Kirchengründers Karls des Großen. Die Fresken wurden restauriert, fanden als Relikte der spätmittelalterlichen Krönungskirche aber nur beiläufige Beachtung168, was aufzeigt, wie sehr mittlerweile der Charakter des Münsters als Denkmal wilhelminischer Herrschaftsauffassung dominierte.169 7.3.3 Die Aktualisierung der mittelalterlichen Vergangenheit: das neogotische Rathaus Bei der neogotischen Restaurierung des Rathauses stellten sich ähnliche Probleme wie bei der wilhelminischen Restaurierung des Münsters, da man nun ikonographische Bezüge zur Aachener Krönungsgeschichte mit aktualisierenden symbolischen Aussagen zusammenfügen wollte. Dabei musste man behutsam vorgehen, da die im Kulturkampf aufgetretenen Konflikte mit dem preußischen Staat noch in frischer Erinnerung waren. Der 1881 von der Stadtverordnetenversammlung beschlossene, in Ausschreibung gegebene und 1902 abgeschlossene Zyklus von 54 Königsstatuen in den oberen Fenstern der Schauseite des Aachener Rathauses verzichtete darauf, die Reihe der fränkischen und deutschen Könige und Kaiser des Alten Reiches bis zu den Hohenzollern fortzusetzen. An der Fassade des Untergeschosses wurde die darüber liegende Königsreihe auf Vorschlag von Stadtarchivar Richard Pick170 durch 20 Wappen der sieben Kurfürsten und der mächtigen Reichsfürsten im Westen des Alten Reiches ergänzt: der Herzöge von Brabant, Jülich, Geldern, Burgund, der Grafen von Berg, des Bischofs von Lüttich, des Propstes des Aachener Marienstifts und des Abtes der Reichsabtei Kornelimünster sowie der vier mit Aachen verbundenen Reichsstädte Frankfurt, Nürnberg, Worms und Köln. Hinzu kamen insgesamt 28 Reliefs: Auf die Aachener Zünfte, die sogenannten Gaffeln, und die mittelalterlichen und neuzeitlichen Wissenschaften verwiesen paarweise Allegorien über den Fenstern. Dabei handelte es sich um die Astronomie und Arithmetik, Geometrie und Musik, Dialektik und Rhetorik, Grammatik und Sternzunft, Werkmeisterzunft und Bäckerzunft, Fleischhauerzunft und Löderzunft, Schmiedezunft und Kupfermeisterzunft, Schneiderzunft und Pelzerzunft, Brauerzunft und Schusterzunft, Bockzunft und Theologie, Philosophie und Jurisprudenz, Medizin und Baukunst, Maschinenbau und Chemie, die beide zum Fächerkanon der Aachener Technischen Hochschule gehörten.171 Die Neugestaltung der Fassade des Rathauses verband damit die Erinnerung an das im damaligen Geschichtsbild von Karl dem Großen gegründete 168 ‚Die Wandmalereien im Münsterchorދ, EdG vom 27.7.1916; Buchkremer, Dom zu Aachen, S. 80f.; ‚Abenteuerlicher Weg zu neuer Farbeދ, AZ vom 7.11.2000. 169 Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster, S. 112f. 170 Zum Juristen und Rechtshistoriker Richard Pick (1840–1923) Lepper, Das Stadtarchiv Aachen und seine Archivare, S. 609–649. 171 Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 144f., 194–202; Weinstock, Die Regotisierung des Aachener Rathauses, S. 780; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 195; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 80f. (mit Abb.).
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mittelalterliche Reich der Deutschen und die Zeit der Aachener Krönungen als die glanzvollste Epoche der Stadtgeschichte mit dem neuen, dem technischen Fortschritt zugewandten Reich Wilhelms II.172 Ein direkter Verweis auf die Hohenzollermonarchie kam an der Fassade nur in einem einzigen, allerdings sinnfälligen Detail zustande: 1886 hatte die Aachener Stadtverordnetenversammlung entschieden, dass über dem Hauptportal des Rathauses ein großes Tympanon angebracht werden sollte und den Entwurf zunächst an den an der Technischen Hochschule lehrenden Architekturprofessor Karl Henrici173, später an seinen Kollegen Frentzen vergeben. Das schließlich beschlossene Relief sollte zentral den thronenden, ein Modell des Aachener Münsters haltenden Weltenherrscher Christus abbilden sowie rechts und links neben ihm, unter neogotischen Turmspitzen, die knienden Figuren Papst Leos III. und Karls des Großen. In der Ausführung von 1900/1901 erhielt dieser Karl nicht nur eine Bügelkrone, sondern vor allem Gesichtszüge, die eine auffällige Ähnlichkeit mit denen Wilhelms II. aufwiesen. Im März 1901 brachte man als letzte Ergänzung ein Spruchband nach der Inschrift der Reichskrone Per me reges regnant („Durch mich herrschen die Könige“, Sprüche 8,15) an, der sich auf den auferstandenen Pantokrator Christus bezog.174 Die Analogie zwischen Karl dem Großen und Wilhelm II. war damit zum Gegenstand der Interpretation gemacht worden. Als ikonologischer Kompromiss beließ sie den national-katholischen Befürwortern und den ultramontanen Gegnern der Hohenzollern in der Stadt ihren jeweiligen Deutungsspielraum. Die nach einem Entwurf Frentzens von der Aachener Goldschmiedewerkstatt Witte angefertigte eichene Tür des Hauptportals trug auf Vorschlag von Stadtarchivar Pick zwei Reliefs und eine Madonnenstatue. Das eine Relief zeigte das Krönungsmahl Rudolfs von Habsburg 1273, das andere den 1429 auf die Stephansburse geleisteten Eidschwur aufständischer Zunftbürger gegenüber dem Aachener Erbrat.175 Unter beiden Reliefs verlief ein Spruchband mit dem Beginn der Karlshymne Urbs Aquensis, urbs regalis. Die geschichtspolitische Aussage der beiden miteinander kombinierten Motive verband die Treue zur städtischen Obrigkeit mit derjenigen zum Reich. Der hier zum Ausdruck kommende Treuediskurs stellte die Verbindung zwischen der lokalen und der nationalen Identität der Aachener her und konnte aktualisierend als Mahnung und Frontstellung des staatstragenden lokalen Großbürgertums gegenüber der sozialdemokratischen 172 Weinstock, Regotisierung des Aachener Rathauses; Grimme, Rathaus zu Aachen, S. 75–83; Dünnwald, Friedrich Ark, S. 60–66, 68–70, 74–81; Faymonville, Die profanen Denkmäler, S. 124–126, 130–132. 173 Zu Karl Henrici (1842–1927), Professor für Architektur an der TH Aachen 1877–1921 Gast, Die Technische Hochschule zu Aachen, S. 198–202. 174 Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 143; dies., Die Regotisierung des Aachener Rathauses, S. 780f. (mit Abb.); Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 193 (mit Abb.); Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 77f. (mit Abb.). 175 Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 216f. (mit Abb.). Vgl. zu den historischen Vorgängen in Aachen 1273 und 1429 Poll, Geschichte Aachens, S. 46, 62.
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Opposition interpretiert werden. Der durch die Madonna gegebene konfessionelle Bezug stellte einen diesbezüglichen Appell an alle Katholiken der Stadt dar. Auf der Südseite des Rathauses, zu Münster und Katschhof hin, wurden an den Laubengängen der Fassade Figuren von Gelehrten und Kirchenmännern aus der Karolingerzeit angebracht: Alkuin, Einhart, Benedikt von Aniane und Wibald von Stablo, ferner an den Ecken des Arkschen Treppenhauses die beiden legendären Aachener Bürgermeister Chorus und Punt, unter denen das spätgotische Rathaus erbaut worden war. Dagegen war der von Frentzen im Oktober 1900 gemachte Vorschlag, auf der Rückseite des Rathauses vier Figuren preußischer Könige – Friedrich Wilhelm III., Friedrich Wilhelm IV., Wilhelm I. und Friedrich III. – anzubringen, abgelehnt worden.176 Rechtzeitig zum Kaiserbesuch im Juni 1902 waren die letzten Arbeiten am Fassadenschmuck abgeschlossen, so dass Wilhelm II. das neue prächtige Aachener Rathaus bei seinem Besuch in Aachen persönlich einweihen konnte.177 Auch an der Innengestaltung des Rathauses wurde in der Regierungszeit Wilhelms II. weiter gearbeitet. Dazu gehörte der Einbau einer elektrischen Beleuchtung und Zentralheizung178 ebenso wie die Ausmalung der Räume und die Restaurierung der Karlsfresken Rethels und Kehrens im Kaisersaal. Unter der Leitung Hermann Schapers wurde der Kaisersaal zwischen 1900 und 1902 mit neuen dekorativen Decken- und Wandornamenten bemalt.179 An der Rückfront der Eingangshalle, vor dem Treppenhaus, entstanden zwei Wappenbilder, der doppelköpfige Adler des Heiligen Römischen Reiches und das Aachener Stadtwappen. Sie waren mit Sprüchen unterlegt, die das mittelalterliche Ehrenvorrecht Aachens als Haupt des Reiches und der Städte wieder aufgriffen: AICHEN IST EIN HAUPT ALLER STEDEN IN GALLIA UND ALEMANNIEN und daneben AQUIS SEDES PRIMA FRANCIAE180. Der von den Aachener Stadtvätern gewünschte ikonographische Bezug zur mittelalterlichen Reichs- und Krönungsstadt und die Ablehnung allzu deutlicher Bezüge zur Hohenzollernmonarchie zeigen an, dass die symbolische Positionierung der Stadt gegenüber dem wilhelminischen Kaisertum auf der Grundlage selbstbewusster städtischer Autonomie erfolgen sollte, wie sie einst die reichsstädtischen Privilegien garantiert hatten. Im Ratssitzungssaal wurden 1890 ein von Anton von Werner gemaltes, lebensgroßes Porträt Wilhelms I. sowie ein Bildnis Kaiser Friedrichs III. aufge176 Weinstock, Der plastische Bilderschmuck an der Fassade des Aachener Rathauses, S. 143f.; dies., Die Regotisierung des Aachener Rathauses, S. 780. 177 Siehe unten. 178 Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 210. 179 Akten dazu in LA NRW, Düsseldorf, RAA 15, Nr. 7582. ‚Die herrlichen Freskogemälde des Rathausesދ, EdG vom 23.1.1894; ‚Zur Geschichte der Rethelfresken im Aachener Rathhauseދ, EdG vom 26.10.1898; ‚Lokalnachrichten. Mit der Wiederherstellung der Rethelfreskenދ, EdG vom 9.7.1899; ‚Der Kaisersaal des Rathhausesދ, EdG vom 22.9.1901; Paul Gerhardt, Die Wiederherstellung der Rethelschen Fresken im Krönungssaale des Rathauses zu Aachen, EdG vom 24.5.1910; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 164; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 75. 180 Zit. Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 212f. (mit Abb.).
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hängt. Das eine erinnerte an die Aachener Jubel-Huldigungsfeier von 1865 und trug zum Kult um den hohenzollernschen Reichsgründer bei, das andere verwies auf den populären Volkskaiser und Helden der Einigungskriege. Die Gegenwart der Gemälde sollte die Treue der Stadtverordneten zum Hohenzollernhaus in ihrer Eigenschaft als politische Funktionsträger der Monarchie dokumentieren. Gleiches gilt für die in einer Fensternische desselben Ratssitzungssaals stehende Büste Wilhelms II.181 Das Treppenhaus erhielt zwischen 1898 und 1900 eine Reihe von Wappen angesehener Aachener Patrizierfamilien, Bürgermeister und Schöffen, die Wappen von Stadt und Marienstift sowie zwei monumentale Historiengemälde Albert Baurs182, Die Entdeckung der Aachener heißen Quellen durch den römischen Legaten Granus Serenus und Aachener Bürger schwören vor Kaiser Barbarossa.183 Letzteres kann im Rahmen des Treuediskurses der bürgerlichen Eliten Aachens gegenüber der den Barbarossakult pflegenden Hohenzollernmonarchie interpretiert werden. Die beschriebenen ikonographischen Bezüge am Aachener Rathaus der wilhelminischen Epoche können nicht damit erklärt werden, dass der mittelalterliche Charakter des Bauwerks ungestört bleiben sollte. Die vielfältigen aktualisierenden Eingriffe waren unübersehbar. Aufdringliche geschichtspolitische Bezugnahmen auf die Hohenzollernmonarchie wurden vermieden und stattdessen Interpretationsspielräume für divergierende Deutungen belassen und indirekte Bezüge hergestellt. Am deutlichsten trat die Treue Aachens zum Reich als Vergangenheit und Gegenwart verbindendes Motiv in Erscheinung. 7.3.4 Die Kaiserdenkmäler als Symbole des neuen Reiches Noch mehr als an den beiden zentralen mittelalterlichen Bauten Aachens lässt sich die Hinwendung der katholischen Eliten zu Kaiserreich und Hohenzollernmonarchie an der Denkmalkultur ablesen. Am 18. Oktober 1901 wurde vor dem Aachener Stadttheater in Anwesenheit des preußischen Kronprinzen Wilhelm das wiederum von Hermann Schaper entworfene monumentale Reiterstandbild Wilhelms I. enthüllt. Das Datum der Feier verwies auf den Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig und die Krönung Wilhelms I. in Königsberg 1861.184 Das Bronzedenkmal 181 Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 200f. (mit Abb.), 210f. (mit Abb.). Gefertigt war sie vom Aachener Künstler Karl Krauß. Zu Professor Karl Krauß (†1906) Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 251, 264. Daneben hing ein um 1600 in der Reichsabtei Werden entstandenes Gemälde Karls des Großen. Vgl. zum ‚Werdener Karl ދHelg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 358. 182 Über den Düsseldorfer Maler Albert Baur (1835–1906) Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 256. 183 Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 186f. (mit Abb.), 212; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 74f. (mit Abb.). 184 ‚Die Enthüllung des Kaiser-Karls-Denkmals in Aachenދ, Beilage zum Aachener Anzeiger, Politischen Tageblatt zum 18. Oktober 1901. Vgl. zu den auf das Jahr 1895 zurückgehenden Planungen bis zur festlichen Enthüllung des Denkmals sowie zu deren Ablauf die Akten STA
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zeigte Wilhelm I. in Siegerpose mit Pickelhaube, Generalsuniform und Mantel zu Pferde.185 Dem Reiter zur Rechten befand sich eine Figurengruppe – ein nach Heilung suchender und Quellwasser trinkender Kranker mit einer die Stadt Aachen personifizierenden Frauengestalt in langem Gewand. Als Hüterin der Reichsinsignien verwies sie auf die Krönungsgeschichte Aachens. Die weibliche Figur trug zum Zeichen der Wehrfähigkeit eine Mauerkrone auf dem Haupt, in der linken Hand den die Heilkraft der Aachener Thermen andeutenden Aeskulapstab. Mit der Rechten reichte sie einen Lorbeerkranz zum siegreichen Kaiser hinauf. Zwischen den beiden Figuren dieser Gruppe befand sich über der Quelle ein romanisches Postament mit dem Aachener Stadtwappen, einem auffliegenden Adler und den erwähnten Reichskleinodien, Krönungsornat, Krone und Schwert, auf einem Kissen. An der Seite der weiblichen Figur ruhte ein mächtiger Folioband, der die bedeutende Stadtgeschichte symbolisieren sollte. Zur Linken der Kaiserfigur befand sich eine ebenfalls aus Bronze gefertigte allegorische Darstellung des durch Wehrhaftigkeit geschützten Friedens, ein Krieger mit Adlerhelm, sein Schild über einen lorbeerbekränzten Jüngling haltend, der einen Palmzweig trug. Zur Seite des Kriegers lag ein erschlagener Drache, der „die besiegte Zwietracht versinnbildlichte“.186 Diese Figurengruppe verwies auf den Einigungskrieg gegen Frankreich und stand für die Wehrhaftigkeit des geeinten Reiches. Das Denkmal trug die Inschrift „Dem großen Kaiser und Neubegründer des deutschen Reiches die dankbaren Bürger der Stadt Aachen“.187 Das beschriebene Reiterstandbild fügte sich nahtlos in den politischen Kult um Wilhelm den Großen ein, dem zu Ehren im Reich an die 400 Denkmäler errichtet wurden, davon bis 1902 allein 45 in den Städten der Rheinprovinz.188 In seiner Rede bei der patriotischen Einweihungsfeier rechtfertigte Oberbürgermeister Veltman189 voller Pathos die gewaltsame Einigung des Reiches im Krieg gegen Frankreich, erläuterte einzelne ikonographische Elemente des Denkmals und bekräftigte die Treue Aachens zur preußischen Monarchie wie zum Reich: „Als dann Frankreich, neidisch auf Preußens Ruhm und übermütig durch kriegerische Erfolge, Preußen den Fehdehandschuh hinwarf, da nahm ihn der greise König auf, voll Vertrauen auf sein Heer und Volk und vor allem auf Gott. [...] Drum zieret mit Recht die eine Seite unseres Denkmals des Kaisers die mächtige Gestalt des Krieges den lieblichen Frieden beschützend. Und wenn wir auf der anderen Seite die urbs Aquensis erblicken werden, als Hüterin der alten Reichs-Kleinodien dem siegreichen Kaiser den Lorbeer reichend, so hat der Künstler hierdurch treffend dargestellt, was heute die gesamte Bevölkerung Aachens mächtig und
185 186 187 188 189
Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5a, Vol. 1–3; STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 6, Vol. 1–3; STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 8. Dazu Lepper, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu Aachen (mit Abb.). Folgende Beschreibung nach ‚Die Enthüllung des Kaiser-Denkmales in Aachenދ, PT vom 18.10.1901; Lepper, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu Aachen, S. 321f. (mit Abb.). Zit. Lepper, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu Aachen, S. 321. Zit. Brief Ministerium des Inneren, Berlin vom 26.8.1899 an OB Veltman, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5a, Vol. 1. Lepper, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu Aachen, S. 295. Zu Philipp Veltman (1859–1916), Bürgermeister von Aachen 1891–1916, seit 1896 Oberbürgermeister, Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Beamten der Rheinprovinz, S. 790; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 244, 251, 293.
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7 Mediale Charismatisierung einmütig bewegt. Welche Stadt im Reich kann mit größerer patriotischer Begeisterung und mit größerer historischer Berechtigung dem großen Kaiser Wilhelm, dem Begründer des neuen deutschen Reiches zujubeln, als die Stadt Karls des Großen, die erste Hauptstadt des alten deutschen Kaiserreiches? [...] Angesichts des ehernen Denkmals, das hoheitsvoll auf uns herabschaut, gelobt Aachens Bürgerschaft aufs Neue Treue Kaiser und Reich.“190
In der Gestaltung des Denkmals verschmolz für die Aachener Lokalpresse der dem Begründer des neuen deutschen Reiches gewidmete Heroenkult mit der vaterstädtischen Überhöhung Aachens. Die Stadtgeschichte wurde damit gleichsam zum Spiegelbild der Nationalgeschichte.191 Es ist bezeichnend für die noch nicht abgeschlossene nationale Wendung der Aachener Katholiken, dass sich an den Denkmalspenden keine Vertreter der großen katholischen Vereine und nur wenige katholische Pfarrer beteiligten, dafür aber bereits die führenden Geistlichen, darunter Stiftspropst Johann Joseph Buschmann mit den Stiftsherren Bellesheim, Viehoff und Goebbels.192 Die Herstellungskosten des Aachener Kaiser-WilhelmDenkmals von 250.000 Reichsmark wurden in Rheinland und Westfalen nur von Köln übertroffen.193 Die Enthüllung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals 1901 bildete den Auftakt für die Planung weiterer Denkmäler im öffentlichen Raum der Stadt. Die vom Kaiserhaus instrumentalisierte Bismarckverehrung fand in Aachen ihren Ausdruck in der Errichtung eines monumentalen Bismarckturms, der 1907 enthüllt wurde.194 Diese beiden Denkmäler und das 1911 eingeweihte, 185.000 Reichsmark teure Reiterstandbild Kaiser Friedrichs III.195 belegen, dass das katholische Bürgertum Aachens nunmehr bereit war, zugunsten des Hohenzollernkultes große finanzielle Anstrengungen auf sich zu nehmen. Offenbar empfand es einen erheblichen Nachholbedarf bei der verspäteten Integration in den wilhelminischen Nationalstaat. Der Hohenzollernkult dominierte zunehmend den auf die politische und konfessionelle Autonomie der Stadt verweisenden Karlskult. Dies kann sehr gut am gescheiterten Projekt eines Denkmals für Karl den Großen festgemacht werden. 190 Zit. nach ‚Die Enthüllung des Kaiser-Denkmales in Aachenދ, PT vom 18.10.1901; Lepper, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu Aachen, S. 324f. 191 ‚Die Enthüllung des Denkmals des großen Kaisers Wilhelmދ, Der Volksfreund vom 18. Oktober 1901; ‚Die Enthüllung des Kaiser-Denkmales in Aachenދ, PT vom 18.10.1901. 192 Lepper, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu Aachen, S. 305. 193 Ebd., S. 322. 194 Kloss/Seele, Bismarck-Türme und Bismarck-Säulen, S. 36; Dauber, Das Bismarck-Denkmal in Aachen. Zur Einweihung des Bismarckturms im Aachener Stadtwald am 22. Juni 1907 vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 274; Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, S. 34. Die Bismarckverehrung hatte ihren ersten Ausdruck in Aachen in der großen Trauerfeier 1898 gefunden. Zur Feier im großen Saal des Kurhauses am 9. August 1898 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 255. Am 1. April 1915 fand wie in anderen Städten des Reiches eine große vaterländische Feier zum hundertsten Geburtstag des Reichsgründers statt. Vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 291. Auch der Aachener Geschichtsverein gedachte des Reichsgründers auf der Hauptversammlung am 27. Oktober 1915. Vgl. Jahresbericht, ZAGV 37 (1915), S. 415. 195 Umfassend Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen.
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Bereits 1853 war der Pariser Bildhauer Louis Rochet mit dem Angebot an die Aachener Bürgerschaft herangetreten, der Stadt unentgeltlich das Modell für ein sechs Meter hohes Reiterstandbild Karls des Großen zu überlassen. Für die Schaffung des Bronzegusses veranschlagte er die relativ geringe Summe von 55.000 bis 60.000 Francs. Zunächst wegen des Krimkrieges, später aus finanziellen Gründen, sah sich die Stadtverordnetenversammlung außerstande, das großzügige Angebot Rochets anzunehmen.196 Ein neuer Anlauf zur Errichtung eines Aachener Denkmals für Karl den Großen wurde erst wieder Ende des 19. Jahrhunderts unternommen. Anfang Februar 1898 verband ein anonymer Leserbriefschreiber im Politischen Tageblatt die bereits laufenden Planungen für das Kaiser-WilhelmDenkmal mit dem abermaligen Projekt eines Denkmals für Karl den Großen, da das „Gemeinsame des großen Karolingers und des großen Hohenzollern [...] in der außerordentlichen Bedeutung Beider für Deutschlands Entwicklung und Machtstellung“197
bestünde. Das Echo der Gegenwart forderte im Juni 1907 mit der Errichtung eines Karlsdenkmals „endlich eine Ehrenschuld abzutragen, die der Stadt Aachen ihrem kaiserlichen Gründer gegenüber obliegt“.198
Auch der Aachener Geschichtsverein unterstützte das Projekt.199 Noch auf dem Aachener Katholikentag 1912 warb ein Redner um Unterstützung der Bestrebung der Aachener Bürgerschaft, „dem großen Kaiser ein Nationaldenkmal“200 zu widmen und dafür im Reich Spenden zu sammeln. Doch verschob die Stadtverordnetenversammlung in ihrer Sitzung vom 14. Januar 1913 nach einstimmigem Beschluss die geplante Errichtung eines Denkmals für Karl den Großen „mit Rücksicht auf die gegenwärtigen ungünstigen Zeitverhältnisse“201 auf unbestimmte Zeit. Der Plan wurde nie wieder aufgegriffen. Damit sollte ausgerechnet Aachen im Unterschied zu 20 deutschen Städten sowie Lüttich und Paris ein Denk196 Nach einem wohl sehr ähnlichen Modell Rochets errichtete dann 1882 die Stadt Paris das Reiterstandbild Karls des Großen auf dem Platz vor der Kathedrale Notre-Dame. Vgl. Wenkel, Un Charlemagne pour la République; Pick, Der Schöpfer des Pariser Kaiser-KarlsDenkmals. 197 Zit. ‚Das Aachener Kaiser-Denkmalދ, PT vom 6.2.1898. 198 EdG vom 14.6.1907, zit. nach Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 320. 199 Savelsberg, 50 Jahre Aachener Geschichtsverein, S. XXXVIII. 200 Zit. Lokalkomitee, 59. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands in Aachen, S. 202. 201 Zit. Protokoll der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 14.1.1913, STA Aachen, PRZ, AR I, Nr. 144, S. 7. Die Anregung zu diesem Karlsdenkmal hatte der Aachener Gymnasialdirektor Martin Scheins in seiner Rede bei der Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals am 18. Oktober 1901 gegeben. Vgl. Scheins, Zur Feier der Denkmals-Enthüllung. 1909 setzte der Aachener Geschichtsverein einen Ausschuss zur Errichtung eines solchen Denkmals ein; Bericht über das Vereinsjahr 1909/10, in: ZAGV 32 (1910), S. 413; Jahresbericht zur Hauptversammlung des Aachener Geschichtsvereins am 3.11.1911, ZAGV 33 (1911), S. 319f.; Jahresbericht zur Hauptversammlung des Aachener Geschichtsvereins am 30.10.1912, ZAGV 34 (1912), S. 385f.
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mal für Karl den Großen verwehrt bleiben.202 Die katholische Stadt hatte sich in ihrem geschichtspolitischen Bemühen um die Hohenzollernmonarchie finanziell übernommen und dafür ihren Stadtpatron geopfert. 7.3.5 Wilhelm II. als neuer Karl der Große: Kaiserbesuch 1902 Der erste Besuch Wilhelms II. in Aachen am 19. Juni 1902203 beleuchtet in weiteren Aspekten die wechselseitigen Mechanismen der symbolpolitischen Annäherung zwischen dem preußisch-deutschen Kaisertum und den katholischen Eliten Aachens. Er stand ganz im Zeichen der gewünschten geschichtspolitischen Analogie zwischen dem Hohenzollernkaiser und Karl dem Großen und der auf die nationale Integration der Katholiken zielenden wilhelminischen Konfessionspolitik. Im Fokus der folgenden Analyse des Kaiserbesuchs stehen vor allem die historische Untermauerung des Aachener Treuediskurses, die Flottenbegeisterung als Brücke zwischen katholischem Bürgertum und Nation, die scharfe hierarchische Distinktion der an der Feier des Kaiserbesuchs beteiligten sozialen Gruppen und das erstmalige Auftreten einer Fundamentalopposition in den Kommentaren der sozialistischen Presse. Die gewünschte Parallele zwischen Wilhelm II. und Karl dem Großen wurde durch den Einzug des Kaisers in Aachen vorbereitet, der nach dem Vorbild des mittelalterlichen Herrscheradventus zu Pferde erfolgte. Der Direktor des Aachener Kaiser-Karls-Gymnasiums stellte bereits einige Wochen zuvor in einer öffentlichen Rede den geplanten Einritt als Geste an den lokalen Bürgerstolz und bewusste Reminiszenz an die Krönungsgeschichte dar.204 Auch die Ausschmückung der Innenstadt mit Triumphbögen, Kronen und Adlern erinnerte an die glänzende Epoche der Aachener Krönungen. Die Kaiserfamilie wurde von einem hochrangigen Gefolge begleitet.205 Nach kurzer Begrüßung durch Reichskanzler von Bülow, Graf Waldersee und Oberbürgermeister Veltman am Aachener Marschiertorbahnhof ritt Wilhelm II., gekleidet in Paradeuniform und zu Pferde, 202 Kerner, Karl der Grosse. Entschleierung eines Mythos, S. 209. 203 Zu Vorgeschichte und Ablauf des Besuchs vgl. die offizielle Einladung des Aachener Oberbürgermeisters Veltman an Kaiser Wilhelm II. vom 6.4.1901, StA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1; Briefe des Oberhof- und Hausmarschalls Kaiser Wilhelms II., Graf Eulenburg an Oberbürgermeister Veltman vom 15.4.1901 und vom 12.4.1902, Programm des Besuches des Kaisers nach Nürnberg, Bonn, Aachen, Hügel, Moers, Krefeld, Düsseldorf, Ruhrort und Wesel (Geheim!), übersendet mit Brief von Eulenburg an Oberbürgermeister Veltman vom 13. Juni 1902, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1; ‚Zum Kaiserbesucheދ, EdG vom 26.3.1902. Zur zwischenzeitlichen Absage des Kaisers vgl. AP vom 13.8. und 15.8.1901; Echo des Siebengebirges vom 10.8.1901. 204 Rede von Gymnasialdirektor Martin Scheins, Volksfreund vom 23.5.1902; AAZ vom 23.5.1902; EdG vom 23.5.1902. 205 ‚Zum Kaiserfestދ, EdG vom 19.6.1902; ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902: Prinz Albrecht, Großherzog von Baden, Generalfeldmarschall Graf Waldersee, Reichskanzler Graf Bülow, Kultusminister Studt, Minister des Innern von Hammerstein, Graf Wedel, Divisionskommandeur Eulenburg-Ploetzen, Graf Eulenburg, Graf von Mirbach.
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mit seinem ebenfalls berittenen fürstlichen Gefolge in die von Menschen überfüllte Stadt ein, während die Kaiserin in einer vierspännigen Kutsche folgte. Das 40. Hohenzollernsche Füsilier-Regiment bildete Spalier.206 Der Einzug wurde begleitet von Militärmusik, Böllerschüssen und dem Jubel der begeisterten Zuschauer. Zur Begutachtung des im Vorjahr eingeweihten Kaiser-Wilhelm-Denkmals traf der Kaiser vor dem Stadttheater ein, wo eine Ehrenpforte errichtet worden war.207 Der Kaiser band in signifikanter Weise die dynastische und nationale Denkmalsymbolik in sein Aachener Besuchsprogramm ein und förderte damit persönlich den von ihm ins Leben gerufenen Kult um Wilhelm den Großen. Danach besichtigten Kaiser und Kaiserin, begleitet von Innenminister von Hammerstein und Kultusminister Studt sowie weiteren Behördenvertretern, etwa 30 Minuten lang das Aachener Münster, um die dortigen Restaurierungsarbeiten zu begutachten.208 Der Kanonikus-Senior Prälat Alfons Bellesheim209 stellte in seiner Begrüßungsrede Wilhelm II. wegen dessen Förderung von Wissenschaft und Kunst in eine Reihe mit Karl dem Großen, der als „ueberzeugungstreuer Christ, tapferer und erfolgreicher Krieger, weiser Gesetzgeber, Vater der Armen“ den „Bund der Kirche mit Wissenschaft und Kunst besiegelt“210
habe. Damit zog Bellesheim zwar eine Kontinuitätslinie zwischen dem großen Karolinger und dem Hohenzollernkaiser, vermied aber, beide direkt miteinander zu vergleichen. Der Prälat blendete dagegen die Heiligkeit Karls des Großen aus, das zentrale Merkmal Karls als katholischer Stadtpatron211, so dass die geschichtspolitische Parallelisierung beider Herrscher möglich wurde. Die fortlaufenden Gebete und den göttlichen Segen „für Kaiser und Reich“212 stellte er als Ausdruck der Dankbarkeit des Kapitels dar. Bellesheim begegnete als maßgeblicher Vertreter des Ultramontanismus in Aachen dem Hohenzollernkaiser mit der schuldigen Ehrerbietung eines patriotischen Geistlichen: Am Vorabend des Kaiserbesuchs hatte er den Roten Adler-Orden IV. Klasse erhalten.213
206 ‚Zum Kaiserfestދ, EdG vom 19.6.1902; ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 207 ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 208 Programm für den Besuch Seiner Majestät des Kaisers und Königs und Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin im Münster zu Aachen am 19. Juni 1902, LHA Koblenz 403, Nr. 9108; ‚Der Besuch des Kaiserpaares im Münsterދ, EdG vom 21.5.1902; ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 209 Zu Alfons Bellesheim (1839–1912), Kanoniker, seit Dezember 1902 Propst des Aachener Kollegiatstiftes Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 264f., 284; Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters; Reudenbach, Stiftspropst Alfons Bellesheim. 210 Zit. ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. Vgl. Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters, S. 301. 211 Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 227. 212 Zit. Begrüßungsrede des Stiftspropsts Bellesheim, ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 213 Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters, bes. S. 227–237, 299f.
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Wilhelm II. leitete in seiner kurzen Antwort mit einem Lob auf seinen Vorredner sofort auf die konfessionelle Frage über: „Wenn alle Geistlichen Ihrer Konfession so denken wie Sie, dann ist es um die Zukunft unseres Vaterlandes wohl bestellt.“214
Seine Unterstützung der Münsterrestaurierung bezeichnete er in rhetorischer Bescheidenheit als bloße Fortsetzung der Förderung durch seine Vorgänger Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I., um dieses hohenzollernsche Fördererkollektiv sogleich in die charismatische Tradition Karls des Großen zu stellen: „Wir führen ein Werk fort, das der große Karl angefangen hat und das beweist, wie durch alle die Jahrhunderte hindurch der Ausdruck der Empfindung der Schönheit, die Gott allen Geschöpfen ins Herz gepflanzt hat, ein echt germanisches Erbtheil ist. Für die Förderung weiterer Ausschmückung dieser Kirche zu wirken, wird Mir eine schöne Pflicht sein, und Ich werde froh sein, wenn Ich am Abend meines Lebens die Vollendung dieser Kirche erlebe.“215
Das preußisch-deutsche Kaisertum machte die Förderung sakraler Kunst und die Pflege der Tradition des Aachener Stadtheiligen Karl zu seiner offiziellen Aufgabe. Die Einladung Wilhelms II. an die Katholiken, sich im Gegenzug nun auch kulturell in die preußisch-deutsche Nation zu integrieren, war unüberhörbar. Dann folgte eine Führung des Kaiserpaares durch das restaurierte Oktogon. Symbolpolitische Bedeutung hatte vor allem der Besuch der neuen Kaiserloge hinter dem Thron Karls des Großen.216 In der großen Chorhalle hatte man den Domschatz aufgestellt, darunter in Erinnerung an den Stifter Wilhelm I. den Altaraufsatz der Pala d’oro.217 Daneben standen das spätmittelalterliche Büstenreliquiar Karls des Großen und eine 1874 geschaffene Büste Papst Leos III.218 sowie in der Mitte des Chores das Lotharkreuz219 und die Elfenbeinsitula Ottos III.220 Marienschrein und Karlsschrein hatte man an die Längsseiten des Raumes gestellt. Auf zwei kleinen Marmortischen befanden sich die kleineren Karlsreliquiare aus der Schatzkammer, drei Marienbilder im byzantinischen Stil hatte man ins Chorgestühl gestellt.221 Beim Verlassen der Kirche wurde das Kaiserpaar von mehreren hundert Kindern empfangen, welche die Majestäten mit „laut anhaltendem Hurrah“222 begrüß214 Begrüßungsrede des Stiftspropsts Bellesheim, ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. Vgl. Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters, S. 301. 215 Zit. Antwort des Kaisers auf die Rede von Prälat Bellesheim im Aachener Dom, ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 216 ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 217 Zu dieser Stiftung siehe oben Kap. 6.3.2.3. 218 Grimme, Der Dom zu Aachen, S. 345f. 219 Zur Funktion des Lotharkreuzes beim Einzug des Königs in die Krönungsstadt Aachen oben Kap. 3.3.2. 220 ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. Vgl. Schulz-Rehberg, Die Aachener Elfenbeinsitula. 221 ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902; Brecher, Ein Leben im Dienst der Wissenschaft und des Aachener Münsters, S. 301. 222 Zit. ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902.
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ten. Zu Fuß ging es vom Münster aus zu Rathaus und Markt, auf dem sich tausende von Menschen versammelt hatten. Hier konnte sich Wilhelm als volksnaher Kaiser präsentieren. Böllerschüsse und das Läuten der Kirchenglocken verkündeten die Ankunft des Kaiserpaares, das eingerahmt von Oberbürgermeister und Prälat und begleitet vom fürstlichen Gefolge, den Markt spektakulär durch einen Torbogen betrat.223 Von der Rathaustreppe am Hauptportal aus nahm das Kaiserpaar die, wie es hieß, „herzlichen Huldigungen der Aachener Bürgerschaft“224 entgegen. Die Tochter Oberbürgermeister Veltmans trug als Blumenmädchen225 ein Gedicht vor, das den Kaiser „im prächtigen Königspalast / Des größten der Karolinger“226 willkommen hieß und dem „Triumphator“227 Wilhelm II. die „deutsche Treue“228 der Aachener Bürgerschaft gelobte. Die alte, „oft bewährte Kaisertreue der Aachener“, so Oberbürgermeister Veltman in seiner Rede beim Empfang im Rathaussaal, würde sich auch unter den Hohenzollern fortsetzen. Aachen sei unter der Regierung Wilhelms II. „zu neuem, regem Leben erstarkt“229 und habe „seine Stelle unter den mächtig aufstrebenden Rheinischen und Deutschen Städten“230 eingenommen. In der Liebe zum Kaiser werde Aachen von keiner anderen Stadt übertroffen.231 Zur Bekundung dieser Treue wurde dem Kaiser vor der Rathaustreppe ein Gesangsvortrag entboten, bei dem es sich um das Hohenzollerlied von Heinrich Zöllner handelte, dessen Text am Tag zuvor in der Aachener Presse zum Mitsingen abgedruckt worden war: „Hohenzollern, die ein Hort seid / Ihr dem Freund, dem Feind ein Graus, / Blüh’ in Ewigkeit Du starkes, / Blüh’ Du deutsches Herrscherhaus!“232
Der offizielle Empfang mit etwa 1.500 Personen, der danach im Kaisersaal des Aachener Rathauses stattfand, erinnerte an die mittelalterlichen Krönungsmähler.233 In einer Nische des Saales war als Hinweis auf den Wohlstand der Stadt das Ratssilber234 aufgebaut worden, das man kurz zuvor um eine silberne Prunkschüssel vermehrt hatte, die in der Mitte das alte Siegel der Reichsstadt Aachen und die Weihe des Münsters durch Karl den Großen sowie am Rand die Wappen von 223 Ebd. 224 Zit. Ebd. Vgl. auch ‚Zum Besuch des Kaisersދ, EdG vom 11.5.1902; STA Aachen, Fotosammlung XXV, Nr. 3, unbezeichnetes Foto. 225 Ausnahmslos Schülerinnen der höheren Mädchenschulen und Töchter der führenden Bürgerfamilien der Stadt, vgl. STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, S. 177v–178r. 226 Zit. nach ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 227 Zit. nach Ebd. 228 Zit. nach Ebd. 229 Zit. Ebd. 230 Zit. Ebd. 231 Ebd. 232 Text, zit. nach Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 223. Zum Leipziger Komponisten und Dirigenten Heinrich Zöllner (1854–1941) DBE 10 (2001). 233 Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 23.5.1902, LHA Koblenz 403, Nr. 9108. Vgl. zu den geladenen Gästen die Namensliste der Einladungen in STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1, S. 130r–131r, 142r–145v. 234 Dazu Lepper, Das Aachener Ratssilber.
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Köln, Frankfurt, Mainz, Speyer, Nürnberg, Straßburg und Dortmund zeigte.235 Daneben, ebenfalls an der Nordseite des Saales, hatte man für das Kaiserpaar unter einem mit dem Preußenadler bekrönten Baldachin zwei Thronsessel aus rotem Plüsch aufgestellt236, neben denen auf beiden Seiten das Gefolge und rechts die Vertreter von Militär und Zivilregierung Aufstellung genommen hatten. Der Majestät gegenüber standen die Stadtverordneten und die Mitglieder der städtischen Ausschüsse, separiert von diesen die Damen.237 In seiner Begrüßungsrede hob Oberbürgermeister Veltman die Bedeutung „dieser weihevollen Stunde“238 für die Stadt hervor, da „zum ersten Male ein Kaiser des neuen deutschen Reiches in ihren Mauern weilt[e].“239 Die drei Stationen des Besuchs – das neue Kaiser-Wilhelm-Denkmal, das „altehrwürdige Münster“240 und das historische Rathaus – deutete Veltman als Symbole für die Verbindung zwischen dem alten „Römische[n] Kaiserreich deutscher Nation“241 und dem „neue[n] Deutsche[n] Reich“242. Stolz und ehrfürchtig bewahre Aachen, so Veltman weiter, „den Kaiserpalast und die Pfalzkapelle Karls des Großen“ als „lebende Zeugen der alten herrlichen Zeit, in der man von Aachen sang: ‚Urbs aquensis, urbs regalis, regni sedes principalis, prima regum curia“ދ.243
Zwar sei die alte Pracht der Stadt geschwunden, geblieben sei aber die alte Liebe der Einwohner zu Kaiser und Reich: „Heute wie einst ist Aachens Bürgerschaft bereit, treue Wacht zu halten an des Reiches Grenze, auf daß der Deutsche Aar gen Westen schaut, wie ihn Kaiser Karl aufgerichtet und Kaiser Otto mit starker Hand geschützt hat.“244
Damit war die Funktion Aachens als Bollwerk der Reichsnation gegen Frankreich unmissverständlich formuliert. In seiner Dankesrede betonte der Kaiser, er sei auf dem historischen Boden Aachens vollständig „von dem Rauschen der Vergangenheit und der Gegenwart“245 erfasst worden. In Aachen, der „Wiege des deutschen Kaiserthums“246, wo der „große Karl seinen Stuhl aufgerichtet“247 und von dessen Glanz die Stadt 235 Plan des Rathauses zu Aachen, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1, S. 259; ‚Das Rathssilber der Stadt Aachenދ, EdG vom 26.3.1902. 236 ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902; STA Aachen, Fotosammlung XXV, Nr. 3, Foto 96. 237 ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. Vgl. den Plan, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1, S. 259. 238 Zit. nach ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 239 Zit. nach Ebd. 240 Zit. Ebd. 241 Zit. Ebd. 242 Zit. Ebd. 243 Zit. Ebd. Vgl. zur mittelalterlichen Karlshymne oben Kap. 3.3.1.3. 244 Zit. Ebd. 245 Zit. Stenographische Mitschrift des Aachener Stadtsekretärs Ringen, undatiert, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1. 246 Zit. Ebd. 247 Zit. Ebd.
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„Wiederschein genossen“248 habe, könne man die „Geschichte der Jahrhunderte“249 überblicken. „So bedeutungsvoll und so groß war die Figur dieses gewaltigen germanischen Fürsten, daß es sich von selbst verstand, daß die Blicke Roms sich auf ihn lenkten.“250
Der Kaiser spannte einen weiten Bogen von den „siegesfrohen Germanen“251, die das Erbe der römischen Cäsaren antraten, über das Mittelalter zur eigenen Gegenwart. Das „römische Kaisertum Deutscher Nation“252 sei unter späteren Kaisergeschlechtern, welche mit ihrer „Sorge über das Weltimperium [die] Sorge für das germanische Volk aus dem Auge“253 verloren hätten, wie eine verdorrende Pflanze zugrunde gegangen. An dessen Stelle sei ein neues deutsches Kaisertum getreten, das „mit dem Schwerte in der Faust, auf dem Schlachtfeld“254 errichtet worden sei. Die Kontinuität zwischen dem von Karl dem Großen begründeten ersten und dem zweiten deutschen Kaiserreich ruhte für Wilhelm II. auf zwei Pfeilern: der christlichen Religion und dem Germanentum. Gleichwohl betonte der Kaiser die politische Differenz zwischen beiden Reichen und griff die bekannte Sichtweise des Alten Reiches in der borussianischen Geschichtsschreibung255 auf. Und auch die Modernität des neuen Kaiserreiches sollte bei aller Beschwörung historischer Kontinuität nicht in Vergessenheit geraten.256 Dazu profilierte er sich als universaler Friedenskaiser, indem er auf die friedliche Entwicklung des Reiches und den weltweiten Ruf der Flotte, der deutschen Wissenschaft und Forschung verwies: „Das ist das Weltimperium unserer germanischen Zukunft“257, rief er aus. Die Pflege der Religion sei eine gemeinsame Aufgabe, „um den germanischen Stamm gesund und kräftig zu erhalten.“258
248 Zit. Ebd. 249 Zit. Ebd. 250 Zit. Ebd.; ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902; ‚Nachklänge zur Kaiserfeierދ, EdG vom 21.6.1902. 251 Zit. Stenographische Mitschrift des Aachener Stadtsekretärs Ringen, undatiert, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1. 252 Zit. Ebd. 253 Zit. Ebd. 254 Zit. Ebd. Vgl. in dieser Passage verkürzt ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902; ‚Nachklänge zur Kaiserfeierދ, EdG vom 21.6.1902. 255 Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt; Lill, Großdeutsch und Kleindeutsch im Spannungsfeld der Konfessionen; Gräf, Reich, Nation und Kirche in der groß- und kleindeutschen Historiographie. 256 Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 102f. 257 Zit. Stenographische Mitschrift des Aachener Stadtsekretärs Ringen, undatiert, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1. In der veröffentlichen Version der Rede heißt es an dieser Stelle hingegen: „Das ist die Welteroberung, die uns Germanen zukommt.“ Vgl. ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902; ‚Nachklänge zur Kaiserfeierދ, EdG vom 21.6.1902. 258 Stenographische Mitschrift des Aachener Stadtsekretärs Ringen, undatiert, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1. Vgl. ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902; ‚Nachklänge zur Kaiserfeierދ, EdG vom 21.6.1902.
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Diese Ausführungen fügten sich in die auf nationale Sammlung gerichtete Religionspolitik Wilhelms II. ein.259 Begeisterung rief der Kaiser hervor, als er seinen katholischen Zuhörern exklusiv vom Inhalt eines Gespräches des anwesenden Gesandten Generaloberst von Loë260 bei Leo XIII. berichtete, in dem der Papst geäußert habe: „Das Land in Europa, wo noch Zucht und Ordnung und Disciplin herrsche, wo Respekt vor der Obrigkeit, wo Achtung vor der Kirche bestehe und wo jeder Katholik ungestört frei nach seinem Glauben und seinen religiösen Vorschriften leben könne, das sei allein das Deutsche Reich und das danke es dem Deutschen Kaiser. Das berechtigt auch zu dem Ausspruch, daß wir beide Konfessionen das eine große Ziel im Auge halten müssen, die Gottesfurcht, die Ehrfurcht vor der Religion zu erhalten und zu stärken […]. Wer sein Leben nicht auf die Seite der Religion stellt, ist verloren. Und darum will auch ich, an solchem Tage und an solchem Orte geloben, daß ich das ganze Reich, das ganze Volk und mein Heer, das ich durch diesen Kommandostab vertrete und selbst mein Haus unter den Schutz dessen stelle, von dem der große Apostel Petrus gesagt hat: Es ist in keinem anderen Heil und es ist auch kein anderer Name dem Menschen gegeben worden, darin sie sollen selig werden.“261
Dieser Passage der Rede folgten lautstarke Bravorufe der Zuhörer im Saal.262 Mit seinem für ihn typischen Sprachgestus hatte der Kaiser offenbar den Nerv seiner Zuhörer getroffen. Seine Worte zur Stellung von Religion und Konfession wurden als Aufruf zur Versöhnung und nationalen Integration verstanden. Die katholische Presse Aachens stellte denn auch diese Passage der Kaiserrede besonders heraus.263 Speziell verband sie damit die Hoffnung auf eine endgültige Beendigung des Kulturkampfes durch die Aufhebung des Jesuitengesetzes.264 Darüber hinaus hob sie die Bedeutung hervor, die die überregionale und internationale Presse der Aachener Kaiserrede zumaß.265 Besondere Erwähnung fand in den Lokalzeitungen zudem die angekündigte Fortsetzung des kaiserlichen Stiftungsenga259 Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus. 260 Zu Generaloberst (seit 1905 Generalfeldmarschall) Walter Freiherr von Loë (1828–1908), dem aus einer katholischen Adelsfamilie stammenden Generaladjutanten des Kaisers und seine Rolle bei der Eindämmung der letzten Ausuferungen des Kulturkampfes Stumpf, Loë; bes. zu seiner Gesandtschaftstätigkeit beim Papst Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 178f. 261 Zit. Stenographische Mitschrift des Aachener Stadtsekretärs Ringen, undatiert, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1. Vgl. ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. Zu den politischen Beziehungen und persönlichen Zusammenkünften zwischen Wilhelm II. und Papst Leo XIII. Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 176–180; Samerski, Papst und Kaiser. 262 Stenographische Mitschrift des Aachener Stadtsekretärs Ringen, undatiert, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1; ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 263 ‚Nachklänge zur Kaiserfeierދ, EdG vom 21.6.1902; ‚Die Aachener Kaiserredeދ, EdG vom 22.6.1902; ‚Die Aachener Kaiserredeދ, EdG vom 24.6.1902; ‚Generaloberst von Loë über seine Unterredung mit dem hl. Vaterދ, EdG vom 1.7.1902 und 2.7.1902. Vgl. Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 189. Die Rede fand Aufnahme in die maßgebliche Ausgabe der Kaiserreden, vgl. Penzler/Krieger, Die Reden Kaiser Wilhelms II. 3, S. 96–102. 264 ‚Die Aachener Kaiserredeދ, EdG vom 22.6.1902. 265 ‚Die Aachener Kaiserredeދ, EdG vom 24.6.1902; ‚Generaloberst von Loë über seine Unterredung mit dem hl. Vaterދ, EdG vom 1.7.1902 und 2.7.1902.
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gements für die Restaurierung des Aachener Münsters. Die kaiserliche Förderung von Kirchenbauten und sakraler Kunst, wie sie auch die Dombauten in Metz, Münster und Frauenberg betraf, war Ausdruck des Sakralitätsverständnisses Wilhelms II., nicht zuletzt aber fester Bestandteil seiner öffentlichkeitswirksamen Selbstinszenierung als gottesfürchtiger, universaler Friedenskaiser.266 Auch die Aachener Bürgerschaft hatte alles für einen Erfolg des Besuches getan. Das bevorstehende Großereignis sorgte für allgemeine Euphorie. In den Vereinen der Stadt meldeten sich in kurzer Zeit über siebentausend freiwillige Mitglieder zur Spalierbildung.267 Nach Zeitungsaufrufen bildeten sich Bürgerkomitees zur Ausschmückung der Stadtviertel, zur Beflaggung, zum Bau der Tribünen, Triumphbögen und Ehrenpforten.268 Nicht nur die Häuser im historischen Zentrum der Stadt sollten mit Flaggen, Teppichen, Girlanden und Blumen geschmückt werden,269 sondern auch die vom Kaiser bei seiner Anreise von der Eisenbahn aus einsehbaren Viertel der Industriearbeiter. Offenbar geschah dies entlang der Gleise in den östlichen Arbeitervierteln nicht in gewünschter Weise, so dass die Presse noch am Vorabend des Besuchstages zu weiteren Bemühungen aufrufen musste.270 Die bürgerlichen Eliten Aachens beantworteten die Avancen des Kaisers mit der Verstärkung ihrer Treuebekundungen. Ein Gelegenheitsdichter beschwor die seit je her bewahrte Treue der „urdeutschen Stadt“271 Aachen zu Kaiser und Reich und formulierte eine ultimative Systemgarantie: „Nimm Kaiser das Wort: Bis zum Tode wir stehen, zu schützen das Reich, den Altar und den Thron!“272
Um den historischen Vorrang Aachens zu begründen, verwies derselbe Autor auf die von Karl dem Großen begründete Kaiser- und Krönungstradition.273 Der Vortrag eines Begrüßungsliedes des Schülerchores der Höheren Lehranstalten, in dem Kaiser und Reich unverbrüchliche Liebe und Treue versprochen wurde, hatte aus
266 ‚Nachklänge zur Kaiserfeierދ, EdG vom 21.6.1902. Vgl. Krüger, Wilhelms II. Sakralitätsverständnis im Spiegel seiner Kirchenbauten; Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 188f.; Sieg, Wilhelm II., S. 99f.; Röhl, Wilhelm II. 2, S. 985–1028. 267 AP vom 8.6.1902; STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 2, S. 89–94: Verzeichnis der Vereine, die an der Spalierbildung teilnahmen, insgesamt 125, davon 13 Bürgervereine, 20 Gesangsvereine, 7 Innungen, 14 Kriegervereine, 17 Radfahrvereine, 11 Schützengesellschaften, 5 Stenographenvereine, 13 Turnervereine, 25 sonstige Vereine. 268 ‚Zum Besuch des Kaisersދ, EdG vom 11.5.1902; ‚Die Marktanwohnerދ, EdG vom 4.6.1902. 269 ‚Die Marktanwohnerދ, EdG vom 4.6.1902. 270 ‚Zum Kaiserfestދ, EdG vom 19.6.1902 (Vorabend-Ausgabe). 271 Zit. Gedicht ‚Willkommen ދvon P. Blasius, Festnummer des Volksfreunds und ‚Aachener Generalanzeigers für Stadt und Land ދzu Ehren Sr. Majestät des Kaisers Wilhelm II. und Ihrer Majestät der Kaiserin Auguste Viktoria vom 19.6.1902. 272 Zit. Festnummer des Volksfreunds und ‚Aachener Generalanzeigers für Stadt und Land ދzu Ehren Sr. Majestät des Kaisers Wilhelm II. und Ihrer Majestät der Kaiserin Auguste Viktoria vom 19.6.1902. 273 Ebd..
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Zeitgründen entfallen müssen, wurde aber in der Lokalpresse abgedruckt.274 Beim Kaiserbesuch im Münster sang der Domchor das Gebet Domine salvum fac Imperatorem et exaudi nos in die, qua invocaverimus Te („Herr, mache selig den Kaiser und erhöre uns am Tage, an welchem wir dich anrufen“).275 Die Bekundungen zur Nation fanden ihr Kernthema im Flottenbau. Ein regelrechter Wettbewerb entbrannte um die Komposition patriotischer Lieder, deren Texte in Buch- und Musikalienläden verkauft wurden. Zum offiziellen Festmarsch wurde Die Anker hoch! des Komponisten Wilhelm Speiser bestimmt, das die grassierende Flottenbegeisterung aufgriff.276 Die beiden Rathaustürme mit ihrem girlandenartigen Flaggenschmuck, „wie bei einem über die Toppen geflaggten Kriegsschiff“277, sollten offenbar wie die Aufstellung der ganz in Weiß gekleideten Mitglieder des Aachener Marinevereins vor der großen Tribüne auf das laufende Flottenbauprogramm anspielen. Diesem verdankte Aachen die Benennung des Linienschiffes S. M. S. Kaiser Karl der Große, das im Oktober 1899 in Hamburg vom Stapel gelaufen war.278 Wenige Wochen vor dem Aachener Kaiserbesuch hatte die Stadt Aachen dem Reichsmarineamt zur Innendekoration des Schiffes Farbabbildungen der Karlsfresken Rethels und Kehrens zur Verfügung gestellt.279 Gleichzeitig evozierte die Schiffsmetaphorik symbolpolitisch das vom Kaiser gelenkte Staatsschiff der Monarchie280, schwebte doch über dem Eingang des als Schiff dekorierten Rathauses ein Baldachin mit einer gigantischen Krone an der Spitze. Nach dem offiziellen Empfang im Rathaus durchschritt der Kaiser die auf dem Markt wartende Menge und winkte mit dem Ausruf „Guten Tag, Marine!“281 der Gruppe des Aachener Marinevereins zu. Dann bestieg er sein Pferd. Wie das Echo der Gegenwart schrieb, ragte aus „der freudig herandrängenden Menge die ritterliche Gestalt des Kaisers hoch zu Roß empor“.282
Treffender als mit diesem Bild konnte die Idee des von seinem Volk getragenen nationalen Führerkaisers kaum beschrieben werden. Das Pendant zur Feier der bürgerlichen Eliten im Rathaus bildete denn auch eine Volksfeier im Zoologischen Garten für die breiteren Schichten und die Mitglieder der Vereine, die Spaliere gebildet oder in Formationen am Fest teilgenommen hatten. Nach zünftiger Musik einer Militärkapelle und Illuminationen endete sie mit einem „Brillantfeu274 ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 275 ‚Der Besuch des Kaiserpaares im Münsterދ, EdG vom 21.5.1902; ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902 (Übersetzung W.T.). 276 Zum Kaiserfestދ, EdG vom 19.6.1902. 277 Zit. ‚Zum Besuch des Kaisersދ, EdG vom 11.5.1902. 278 Wilhelm II. war beim Stapellauf am 18. Oktober 1899 in Hamburg anwesend. Vgl. Penzler/Krieger, Die Reden Kaiser Wilhelms II. 2, S. 175; Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II., S. 62. 279 Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 226f.; Tschacher, HerrschaftsTechnik im lokalen Raum. 280 Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik, S. 700–870. 281 Zit. ‚Das Kaiserpaar in Aachenދ, EdG vom 20.6.1902. 282 Zit. Ebd.; ‚Das Hohenzollerlied von Heinrich Zöllnerދ, EdG vom 19.6.1902.
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erwerk“283, darunter ein auf dem Wasser des Zooteiches abgebranntes Schlusstableau „Die deutsche Kaiserkrone W II“284. Außerdem war an dem auf den Kaiserbesuch folgenden Wochenende der noch ausgeschmückte Kaisersaal des Rathauses gegen ein Eintrittsgeld zur allgemeinen Besichtigung freigegeben.285 Neben der inszenierten Volksnähe zeichnete sich der Aachener Kaiserbesuch durch ein hohes Maß an polizeilich überwachter Ordnung, gesellschaftlichem Gruppendruck, Selbstdisziplinierung und sozialer Distinktion aus.286 Die Legitimationsgrundlage für den die Feier kennzeichnenden „Loyalitätsprimat“ gegenüber der charismatischen Kaisergestalt bildete das „gesellschaftlich hinreichend generalisierte[s] gemeinsame[s] Wertesystem“287 der sich als nationale Gemeinschaft begreifenden Beherrschten. Inmitten dieser mehr freiwilligen als verordneten Begeisterung artikulierte sich erstmals eine Fundamentalopposition gegen die dominierenden Politik. Das sozialdemokratische Aachener Volksblatt hatte sofort nach Bekanntmachung der kaiserlichen Zusage den Eifer der „Hurrapatrioten“288 und „Geschäftpatrioten“289 kritisiert, die um Profite und Ordensverleihungen willen den städtischen Haushalt belasteten und die Not und Elend der „Proletarier“290 ignorierten. Für das Blatt stellte der Kaiserbesuch „Hoch zu Ross“291 einen Anachronismus dar: In dem Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität nehmen sich diese romantischen Schauspiele jedenfalls sehr wunderlich aus; wir bezweifeln, daß sie in der Bevölkerung das gewünschte Verständniß finden.292
Die im Aachener Volksblatt geäußerte Kritik gab nur eine Minderheitenmeinung wieder. Die das Kaisertum tragende nationale Euphorie der Jahrhundertwende 283 284 285 286 287 288
289 290
291 292
Zit. ‚Die große Kaiserfeier im Zoologischen Gartenދ, EdG vom 19.6.1902. Zit. Ebd.; ‚Nachklänge zur Kaiserfeierދ, EdG vom 21.6.1902. ‚Der Krönungssaal im Festschmuckދ, EdG vom 19.6.1902. ‚Die Polizeimannschaftenދ, EdG vom 19.6.1902; ‚Nachklänge zur Kaiserfeierދ, EdG vom 21.6.1902. Zit. Wiedenmann, Treue und Loyalität, S. 66 in Anlehnung an Talcott Parsons. Zit. Aachener Volksblatt vom 27.3.1902. Das sozialdemokratische Aachener Volksblatt hat in der Aachener Zeitungsgeschichte bislang keinen angemessenen Platz, vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, Register S. 540f., s.u. Zeitungen, Zeitschriften. Es ist offenbar nur in Form von Zeitungsausschnitten in städtischen Akten überliefert, vgl. STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 4, S. 53 und 78; Lepper, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu Aachen, S. 304f. In leichter Korrektur zu Haude, Grenzflüge, S. 50. Zit. Aachener Volksblatt vom 27.3.1902. Zit. Ebd. Vgl. dazu die erheblichen Kosten für den Kaiserbesuch in Höhe von 57.692,53 RM Ausgabenverzeichnis, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 5, S. 53–58 sowie zur verbliebenen Deckungslücke von 2599,56 RM die Mitteilung des Vorsitzenden des städtischen Finanzausschusses in der Sitzung vom 24.9.1902, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 5, Vol. 4, S. 63. Zit. Aachener Volksblatt vom 17.5.1902 mit kritischem Blick auf die Berichterstattung der Aachener Post. Vgl. zu der seit 1890 erscheinenden unabhängig-liberalen Aachener Post Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 243. Zit. Aachener Volksblatt vom 17.5.1902.
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reichte von den herrschenden großbürgerlichen Eliten bis weit in das Kleinbürgertum hinein. 7.3.6 Wilhelm II. als moderner Imperator: Kaiserbesuch 1911 Bereits wenige Jahre nach dem ersten Kaiserbesuch bekamen die Aachener Bürger erneut die Gelegenheit, ihre Treue zu Kaiser und Reich unter Beweis zu stellen. Den Anlass für die zweite Reise Wilhelms II. nach Aachen bildete die feierliche Enthüllung des Denkmals für Kaiser Friedrich III. am 18. Oktober 1911.293 In Organisation und äußerem Ablauf glich der zweite Kaiserbesuch dem ersten: Ankunft des Kaisers und seines Gefolges am neuen Hauptbahnhof, Einzug durch die Straßen der Stadt, Besuch des Münsters, Empfang vor der auf dem Rathausplatz versammelten Menschenmenge, Festessen im Kaisersaal des Rathauses, Huldigung vor dem Rathaus, Abfahrt. Die Stimmung in der wiederum prächtig ausgeschmückten Stadt war euphorisch. Die Beteiligung an den Vorbereitungen und eine möglichst prächtige Ausschmückung betrachteten viele Bürger als eine Ehrenpflicht.294 Allein an der Spalierbildung der Schulen, Innungen und Vereine beteiligten sich „über 30.000 Menschen“295, viermal so viele wie 1902. Die Hauptmasse der Aktiven bildeten die Mitglieder der Krieger- und Turnervereine, die Schüler des gesamten Landkreises, Arbeiter und Angestellte.296 Der Treuediskurs lief ähnlich wie beim ersten Kaiserbesuch ab und erbrachte materielle und symbolische Gegengaben des Kaisers. Die erheblichen Kosten für das neue Kaiserdenkmal, das Festmahl im Rathaus und die Ausschmückung der Straßen, Plätze und Gebäude waren, wie es in der Lokalpresse hieß, zum „Beweis für den patriotischen Geist“297 und die „unbedingte monarchische Gesinnung“298 durch städti293 Zur Vorgeschichte Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 307–334; ‚Das Kaiser-Friedrich-Denkmalދ, EdG vom 20.9.1911; [N.N.], Die Errichtung des Denkmals Kaiser Friedrichs III. in Aachen; ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911. Vgl. auch Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 224f. (mit Abb.); Haude, ‚Kaiserideeދ oder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 36–39. 294 ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 19.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 20.9.1911; ‚Bekanntmachung. Kaiserbesuch 1911ދ, EdG vom 22.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 22.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachen 1911ދ, EdG vom 25.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachen 1911ދ, EdG vom 26.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 28.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachen 1911ދ, EdG vom 30.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 5.10.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 10.10.1911; ‚Ordnung für die Spalierbildung der Schulen, Innungen, Vereine pp. gelegentlich der Anwesenheit Seiner Majestät des Kaisers und Königs am 18. Oktober 1911ދ, EdG vom 16.10.1911. Zu den organisatorischen Vorbereitungen insgesamt Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 334–337. 295 Zit. ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 19.10.1911. 296 ‚Zum Kaiserbesuch 1911ދ, EdG vom 27.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 7.10.1911; ‚Ordnung für die Spalierbildung der Schulen, Innungen, Vereine pp. gelegentlich der Anwesenheit Seiner Majestät des Kaisers und Königs am 18. Oktober 1911ދ, EdG vom 16.10.1911. 297 Zit. AAZ vom 18.10.1911.
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sche Haushaltsmittel und Spenden aufgebracht worden. Angesichts der veranschlagten Ausgaben von 50.000 Reichsmark musste ein Kredit aufgenommen werden.299 Anlässlich seines Besuches verlieh der Kaiser zahlreiche Orden und Ehrentitel an führende Aachener Bürger aus Verwaltung, Wirtschaft und Klerus, deren Namen in der Presse veröffentlicht wurden.300 Im Folgenden sollen drei wichtige Unterschiede zum Besuch von 1902 herausgestellt werden: die Selbstdarstellung Wilhelms II. als moderner, technikbegeisterter Kaiser, die Anknüpfung an die mittelalterliche Kaisergeschichte und die Militarisierung der öffentlichen Rhetorik und Symbolsprache. Wie bei seinem ersten Besuch ritt der Kaiser nach dem Vorbild des mittelalterlichen Herrscheradventus auf seinem Pferd in die Stadt ein. Alle Stationen des Besuches wurden in Fotographien festgehalten, von denen einige in Illustrierten veröffentlicht wurden.301 In Gardeuniform mit Mantel und schwarzem Küraß, darüber das gelbe Band des Schwarzen Adlerordens, trug der Kaiser den Marschallsstab, „der adlergeschmückte Helm [war] tief auf die Stirn gedrückt.“302 Während der Kaiser das Kaiser-Friedrich-Denkmal enthüllte, zog „hoch im Blauen [...] in großem Bogen ein Eindecker seine Bahn. Der Flugsport bereitet da oben dem Kaiser seine Huldigung“303,
kommentierte der Düsseldorfer General-Anzeiger. Anders als 1902 verließ er Aachen „in flotter Fahrt“304 mit dem Automobil, um seine Reise über das nahe gelegene Kornelimünster und das Eifelstädtchen Monschau nach Bonn fortzusetzen. Erst jetzt, verspätet, während der Abfahrt des Kaisers, tauchte das ZeppelinLuftschiff Schwaben am Himmel über Aachen auf. Die gewünschte Inszenierung dieses Symbols moderner deutscher Technik einer sich der Zukunft bemächtigenden Nation gelang nur noch teilweise: Der Düsseldorfer General-Anzeiger kommentierte: „So wild sind die Tausende heute noch nicht gewesen.“305 Die Anknüpfung an die mittelalterliche Kaisergeschichte fiel 1911 noch deutlicher aus als beim ersten Kaiserbesuch. So zeigte das Aachener Stadtarchiv zur 298 Zit. Ebd. 299 Zu Kosten und Finanzierung Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 335f. Vgl. ‚Aufforderung zur Spendung von Beiträgen zur Errichtung eines Kaiser Friedrich Denkmals in Aachenދ, EdG vom 21.6.1902; ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911. 300 ‚Heil dem Kaiser!ދ, AAZ vom 17.10.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 17.10.1911. Vgl. Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 344. 301 STA Aachen, Fotosammlung XXV, Nr. 4: Kaiserbesuch 1911. Vgl. etwa Die Wochenschau vom 28.10.1911, S. 1–2. 302 Zit. Düsseldorfer General-Anzeiger vom 19.10.1911. 303 Zit. Düsseldorfer General-Anzeiger vom 19.10.1911. 304 Zit. ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachen 1911ދ, EdG vom 11.10.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 12.10.1911. Vgl. Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 343f. 305 Zit. Ebd. Vgl. ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911; ‚Die Schwabenދ, EdG vom 19.10.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 19.10.1911; dazu Haude, Grenzflüge, S. 362–365; ders., Mein lieber, böser Zeppelin; Tschacher, HerrschaftsTechnik im lokalen Raum.
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Dokumentation der großen Vergangenheit und Gegenwart der Stadt eine Ausstellung von Kaiserurkunden vom Mittelalter bis zu Wilhelm II.306 Damit konstruierte die Ausstellung eine Kontinuität zwischen dem ersten und dem zweiten deutschen Kaiserreich und verlieh dieser in der Öffentlichkeit eine historischwissenschaftliche Legitimation.307 Auch beim Besuch des Kaisers im Aachener Münster wurde ein geschichtspolitischer Bezug zwischen Wilhelm II. und Otto III. hergestellt. In der Chorhalle des Münsters nahmen die Versammelten am Grab des Ottonen Aufstellung. In seiner Begrüßungsrede spannte Stiftspropst Bellesheim einen weiten Bogen vom jung verstorbenen „idealen Kaiser“308, dem „Wunder der Welt“309, zu dem vor ihm stehenden Monarchen, „in dessen Adern das Blut der Hohenzollern mit dem der Sachsen sich bedeutungsvoll vermischt“310
habe. Im Münsterchor hatte man die bei den Ausgrabungen gefunden Bleisärge der Heiligen Corona und Leopardus auf Teppichen platziert. Auf Tischen standen einzelne Stücke des Münsterschatzes.311 Eine Aachener Zeitung kommentierte die dazu inszenierte Pose des Kaisers: „Wie aus Erz gegossen steht Kaiser Wilhelm II. vor dem Grabe Ottos III. In der Rechten hält er den Marschallstab und den Adlerhelm, die Linke ruht auf dem Griffe seines Reitersäbels.“312
Einen Höhepunkt des Besuches stellte die Rede des Kaisers beim Empfang im Kaisersaal des Aachener Rathauses dar. In ungewöhnlichen persönlichen Reminiszenzen würdigte er seinen verstorbenen Vater, „den Liebling des deutschen Volkes“313. Durch ihn habe er seine Begeisterung für die Welt des Mittelalters und der deutschen Kaisergeschichte erworben: „Von meiner Kindheit an habe Ich beobachten können, mit welchem Interesse er sich dem Studium der deutschen Kaiser und ihrer Traditionen hingab, und wie er von der Macht ihrer Stellung und von dem Glanz der alten deutschen Kaiserkrone erfüllt war. Wenn ich als Knabe in seinem Zimmer weilte, und Mein Wohlverhalten einen Lohn verdient hatte, ließ er Mich in einem Prachtwerke blättern, in welchem die Kleinodien, Insignien, Gewänder und Waffen der Kaiser und schließlich die Krone selbst in bunten Farben dargestellt waren. Wie leuchteten ihm die Augen, wenn er dabei von den Krönungsfeiern in Aachen mit ihren Zeremonien und Mählern erzählte, von Karl dem Großen, von Kaiser Barbarossa und ihrer Herrlichkeit. [...] Vom Vater für Meinen einstigen Beruf erzogen wuchs Ich heran in Bewunderung und Ehr-
306 ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 30.9.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 7.10.1911. 307 Dazu Schöttler, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. 308 Zit. ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911. 309 Zit. Ebd. 310 Zit. Ebd. Vgl. [N.N.], Die Errichtung des Denkmals Kaiser Friedrichs III. in Aachen, S. 10f. 311 ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911; ‚Zum Kaiserbesuch in Aachenދ, EdG vom 22.9.1911; ‚Der Aachener Kaiserbesuchދ, Berliner Abendpost vom 20.10.1911. Vgl. Giersiepen, Zwei Reliquiensärge aus Blei im Aachener Dom. 312 Zit. AAZ vom 18.10.1911. 313 Zit. ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911.
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furcht vor der Kaiserkrone, die Ich dann mit ihrer Last und mit ihrer Verantwortung von Ihm überkommen habe.“ 314
Friedrich III. habe stets bekräftigt: „Das alles muß wiederkommen; die Macht des Reiches muß wieder erstehen, und der Glanz der Kaiserkrone muß wieder aufleuchten. Barbarossa muß aus dem Kyffhäuser erlöst werden!“315
Passend zu diesen romantischen Phantasien imaginierte ein Aachener Gelegenheitsdichter eine Begegnung Wilhelms II. mit Karl dem Großen und Friedrich Barbarossa in den mit den Rethelschen Historiengemälden bekleideten „Ruhmeshallen“316 des Rathauses. Dabei spannte er einen weiten Bogen vom ersten Gründer des deutschen Reiches über den im Kyffhäuser schlafenden Staufer zum späteren „Zollernsohn“317. Das dritte auffällige Merkmal des Kaiserbesuches von 1911 war die rhetorische und symbolpolitische Aufrüstung des öffentlichen Raumes. Die erhitzte Stimmung spiegelte die wachsenden Konflikte zwischen den europäischen Großmächten nach der zweiten Marokkokrise im Sommer 1911 wider.318 Auf dem Bahnhofsvorplatz mit dem dortigen Kriegerdenkmal hatte man für den Empfang des Kaisers über einem Springbrunnen zwei mächtige Postamente in Form eines Panzerschiffes mit der Aufschrift S. M. S. Aachen und riesigen Adlerskulpturen aufgebaut. In den Masten saßen in pyramidaler Aufstellung die Mitglieder des Aachener Marinevereins. Besonders groß war das Wappen mit dem reichsstädtischen „Alt-Aachener Adler“319 geraten. Der Düsseldorfer General-Anzeiger übte harsche Kritik an diesem seltsamen Objekt: „Der Schrei nach der Flotte! Aus einem kleinen Panzerturm lugen sogar ein paar Pappgeschütze. Man hat mit ihnen nicht den Vogel abgeschossen.“320
314 Zit. Rede Wilhelms II. zit. nach ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911. Bei dem erwähnten Prachtwerk handelte es sich um die 1864 erschienene Monumentaldarstellung Die Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation des Aachener Stiftskanonikers Franz Bock. Vgl. ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 20.10.1911; dazu Cortjaens, Kanonikus Franz Bock. 315 Zit. [N.N.], Die Errichtung des Denkmals Kaiser Friedrichs III. in Aachen, S. 19f.; ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911. 316 Zit. Leo Meyer, Unser Kaiser im Krönungssaale, ‚Vom Kaiserbesuch in Aachenދ, unbekannte Aachener Zeitung in: STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 7b, Vol. 7, S. 59. 317 Zit. Ebd. 318 Schöllgen, Das Zeitalter des Imperialismus, S. 79f.; Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 22–27; Berghahn, Germany and the Approach of War in 1914. 319 Zit. ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911. 320 Zit. Düsseldorfer General-Anzeiger vom 19.10.1911.
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Der feierliche Enthüllungsakt und die Ikonographie des von Hugo Lederer321 geschaffenen Denkmals für Kaiser Friedrich III. trägt durchaus martialische Züge. Wilhelm II. ließ unter dem Wirbel der Militärmusik und den Klängen der Nationalhymne, die von „der ganzen Versammlung mitgesungen wurde“322, die Enthüllung des monumentalen, bronzenen Reiterdenkmals vornehmen, das Friedrich als lorbeerbekränzten Idealkaiser und mächtigen Feldherrn zu Pferde abbildete. Seitlich begrenzt wurde das Denkmal durch zwei, auf Bänken ruhende Löwen. An der Frontseite des Sockels war die Inschrift FRIEDRICH III. / DEUTSCHER KAISER KÖNIG VON PREUSSEN angebracht, auf der einen Längsseite der Sinnspruch aus Horaz (lib. 1, Carmen XXIV,9) MULTIS ILLE BONIS FLEBILIS OCCIDIT („Vielen Redlichen, ach!, sank er beweint dahin“), auf deren anderen DEM VIEL-GELIEBTEN / KAISER . DIE BÜRGER . DER STADT AACHEN.323 Der Aachener Stadtarchivar Herbert Lepper hat die Aussage des Denkmals folgendermaßen zusammengefasst: „Die heroische Gestalt Friedrichs III. verwies auf die Verteidigungs- und Kriegsbereitschaft des Sohnes, die schlafenden Löwen auf der Denkmalanlage symbolisierten die Macht und Kraft des ‚Deutschen Reiches“ދ.324
Die lokale Presse griff in ihrer Berichterstattung die aggressiven Töne der Feierlichkeiten auf. So betonte das Politische Tageblatt den Kontrast zwischen dem Alten Reich, dem „Aschenbrödel unter Europas Völkern“325 und dem neuen deutschen Kaiserreich, das sich endlich „einen Platz an der Sonne“326 gesichert habe. Wilhelm II. erschien dem Blatt als „Schöpfer [der] Flotte“327, und „Kriegsheld“328, der „auf die Treue seines Volkes bis in den Tod“329 rechnen könne. Der katholische Aachener Volksfreund wetterte gegen äußere Feinde und Nörgler und Unzufriedene im Innern und sah die treuen Aachener bereits in Wehrstellung an der Seite der Hohenzollern:
321 Zu Hugo Lederer (1871–1940), der mit seinen Porträt- und Kriegerdenkmälern dem wilhelminischen Nationalismus künstlerisch und ideologisch verhaftet war, Schubert, Lederer; Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 314–317 (mit Abb. 12); Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 283. Lederer entwarf auch das 1906 eingeweihte, nach dem Vorbild der Rolandfigur gefertigte Hamburger Bismarckdenkmal, vgl. Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, S. 34. 322 Zit. ‚Kaiser Wilhelm II. in Aachenދ, EdG vom 18.10.1911. 323 Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 334, 339f. 324 Zit. Ebd., S. 340f. 325 Zit. PT, Sonderausgabe ohne Datum, nach Lepper, Das Kaiser-Friedrich-Denkmal in Aachen, S. 337. 326 Zit. Ebd. 327 Zit. Ebd. 328 Zit. Ebd. 329 Zit. Ebd. Vgl. undatiertes Sonderblatt ‚Zum Besuch Sr. Majestät Kaiser Wilhelms II. am 18. Oktober 1911 aus Anlaß der Enthüllung des Kaiser Friedrich-Denkmalsދ, STA Aachen, OB, Caps. 1, zu Nr. 7b. Zum 1871 gegründeten Aachener Anzeiger. Politisches Tageblatt, einem Generalanzeiger des Aachener Verlagshauses La Ruelle, vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 210.
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„Die Kaiserstadt Aachen steht in heiteren wie in trüben Tagen zu Kaiser und Reich für und für! Laßt rasten Schwert und Hand, ihr Karolinger, Werkleute des Reiches! Ruht aus, ihr Hohenstaufen und Franken! Schlummere im Schoße des Kyffhäuser, Friedrich Rotbart! Hohenzollernkraft, Hohenzollernmut und Hohenzollerngeist wacht über eurem Erbe. Es wacht mit ihm das deutsche Volk mit seiner blanken Wehr. Den Treueschwur im Herzen – unwandelbar zu Kaiser und Reich, zum Hohenzollernhause und zum deutschen Vaterlande – so grüßt Dich die deutsche Kaiserstadt: Gottes Segen über Dir und Deinem Hause! Des Volkes Treue mit Dir und Deinem Lande! Heil Dir, deutscher Kaiser!“330
Warnend erinnerte ein Gelegenheitsdichter an die Vergangenheit Aachens unter der Herrschaft Napoleons, aus der die jetzige Rolle der Stadt als kaisertreues Bollwerk im Westen des Reiches erwachsen sei.331 Einem anderen entlockte der Festtag und der Gedanke an „des Reiches Herrlichkeit“ und „Kaiser Wilhelms herrliche Macht“332 den martialischen Aufruf: „Germanenvolk! Soldatenvolk!“333 Wieder ein anderer ließ Wilhelm „furchtlos […] die Kriegstrompete blasen“334. Und die liberale Aachener Allgemeine Zeitung spannte in Drohgebärde einen weiten Bogen von der Kriegslust der Karolinger zur Gegenwart: „Und was einst Traum und Kampfesziel der Karolinger, die aus dem alten fränkischen Boden entsprossen, war und auch zur Wirklichkeit und zum Besitz wurde hier in Aachen, das ist, neugeboren, aus anderem Grund, zum zweiten Male erstiegen aus der Wiege des Preußentums. Dem Anfang einer mehr als tausendjährigen Geschichte und Kultur schließt heute in noch nicht letzter Vollendung ein neues Glied an: der preußische König mit seiner auch im Frieden gepanzerten Faust als deutscher Kaiser.“335
Die Analyse der beiden Kaiserbesuche von 1902 und 1911 hat gezeigt, dass die Kommunikation monarchischer Herrschaft in der wilhelminischen Ära vornehmlich eine Angelegenheit staatstreuer, patriotischer Bürger war. Diese standen der preußisch-deutschen Monarchie loyal gegenüber und hatte die Ideologien des Nationalismus und Imperialismus verinnerlicht. Die von diesem Bewusstsein geprägten bürgerlich-katholischen Eliten Aachens waren nach Kräften bemüht, sich habituell und symbolpolitisch in den deutschen Nationalstaat zu integrieren.
330 ‚Dem Kaiser zum Gruß!ދ, Der Volksfreund vom 17.10.1911. Vgl. Lepper, Das KaiserFriedrich-Denkmal in Aachen, S. 337. Zum 1894 gegründeten Volksfreund Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 248. 331 Leo Meyer, Unser Kaiser im Krönungssaale, Aachener Post, undatiert, in: STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 7b, Vol. 7, S. 59. 332 Zit. ‚Der 18. Oktober 1911ދ, EdG vom 19.10.1911. 333 Zit. Ebd. 334 Zit. Großfeld, Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II., EdG vom 17.10.1911. 335 Zit. ‚Heil dem Kaiser!ދ, AAZ vom 17.10.1911.
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7.3.7 Die Nationalisierung und Militarisierung des Kaiserkults im Spiegel der Aachener Feste Die gewandelte Haltung der Aachener Eliten fand ihren exemplarischen Ausdruck im Karlsfest am 28. Januar 1912, das gemeinsam mit dem am Tag zuvor festlich begangenen Kaisergeburtstag Wilhelms II. gefeiert wurde. Das katholische Sonntagsblatt Pius stellte dazu fest, dass Kaisertreue und Karlskult durchaus miteinander vereinbare Ausdruckformen desselben Patriotismus seien.336 Karl der Große erscheint hier wie auf dem Aachener Katholikentag im August desselben Jahres als geschichtspolitisch umgedeutete Symbolfigur des wilhelminischen Bündnisses zwischen Thron und Altar. Den Delegierten des Katholikentages galt der Frankenkaiser aufgrund seiner historischen „Gemeinschaft mit dem Papst“337 als Schöpfer der christlichen Weltordnung und „Träger der christlichen Kultur“338. Ein Aachener Kaufmann forderte aufgrund der eifrigen Förderung der Sachsenmission durch Karl den Großen gar, die Missionsversammlung des Katholikentages unter das „unsichtbare Protektorat Karl des Großen“ zu stellen.339 Anhand der Kaisergeburtstage und Jubiläen lassen sich die kultische Verehrung Wilhelms II. als religiös aufgeladenes Nationalsymbol und die fortschreitende Militarisierung der lokalen Feiertagskultur nachweisen. Bei diesen Feiern waren „patriotisch gesinnte[n] Kreise“340 der Stadt federführend, während die Mittelschichten und die Arbeiterschaft auf eine Zuschauerrolle beschränkt blieben.341 Bei der alljährlich am 27. Januar stattfindenden Kaisergeburtstagsfeier der Spitzen der Zivil- und Militärbehörden wurde gewöhnlich eine patriotische Rede mit Treuegelöbnis und abschließendem Kaisertoast gehalten.342 Eigene Feiern des Kaisergeburtstages fanden an der Technischen Hochschule, der Hochburg der Nationalliberalen und Nationalkonservativen, statt. In der Aula hielt meist der Rektor oder ein Vertreter der Professorenschaft einen wissenschaftlichen Festvortrag vor Behördenvertretern, Lehrkörper, Studenten und Unternehmern, den
336 Pius. Sonntagsblatt für das katholische Volk, 6. Jg. Nr. 5 vom 4.2.1912, S. 52. 337 Zit. Lokalkomitee, 59. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands in Aachen, S. 202. 338 Zit. Ebd. 339 Zit. Ebd., S. 466. 340 Zit. Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 220. 341 Ebd., S. 220f.; Wienfort, Kaisergeburtstagsfeiern am 27. Januar 1907, S. 158. 342 ‚Kaiser Geburtstagsfeierދ, EdG vom 28.1.1890; ‚Die Kaisergeburtstagsfeierދ, EdG vom 28.1.1892; ‚Kaisergeburtstagދ, EdG vom 28.1.1900; ‚Kaisergeburtstagދ, EdG vom 30.1.1900; Kaisers Geburtstagދ, EdG vom 27.1.1904; ‚Kaisergeburtstagދ, EdG vom 28.1.1904; ‚Kaisergeburtstagދ, EdG vom 27.1.1910; ‚Kaisergeburtstagދ, EdG vom 27.1.1914. Zu den Aachener Kaisergeburtstagen auch STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 6, Vol. 1; die Festlieder zum Allerhöchsten Geburtstage Sr. Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II., gefeiert im Kaisersaale des Rathauses zu Aachen am 27. Januar 1908, STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 6a, Vol. 3, S. 33. Zum Ablauf der Feiern generell Bösch, Das Zeremoniell der Kaisergeburtstage, und in der Rheinprovinz Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 216ff.
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„Freunde[n] und Gönner[n]“343 der Hochschule. Dozenten, studentische Korporationen, Vereine und Verbände der Hochschule hielten Kaiserkommerse ab.344 Bei der Gedenkfeier der Aachener Veteranenverbände zum 25-jährigen Jubiläum der Reichsgründung am 18. Januar 1896 wurden scharfe Töne gegen „welsche Kriegs- und Eroberungsgelüste“345 laut. Die nationalistische Stimmung in Aachen verschärfte sich in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Am 16. Juni 1913 richtete die Stadt Aachen ein Glückwunschtelegramm an Wilhelm II. zu dessen 25-jährigen Regierungsjubiläum.346 Wie andernorts wurden Fackelzüge und Illuminationen veranstaltet, manche Fabrikbesitzer ließen die Arbeit ruhen, um den Belegschaften die Teilnahme zu ermöglichen. Dazu wurde ein umfangreiches Rahmenprogramm an Volksbelustigungen angeboten. Angesichts der Spannungen der Großmächte war die Presseberichterstattung von einer Kriegs- und Opfersemantik durchzogen. Die Verleihung von Orden und Ehrenzeichen war in jenem Jahr besonders großzügig.347 Ihre kaisertreue Gesinnung erwiesen die Professoren der Technischen Hochschule, indem sie Wilhelm II. anlässlich des Regierungsjubiläums die Ehrendoktorwürde verliehen und sich damit anderen Hochschulen des Reiches anschlossen.348 Die Aachener Hundertjahrfeier zur Erinnerung an die Erhebung gegen die Fremdherrschaft am 10. März 1913 wirkte mit dem großen Militärzug durch die Stadt ebenso wie die Gedächtnisfeiern zur Völkerschlacht bei Leipzig am 16. und 18. Oktober 1913 bereits wie eine vorgezogene Mobilmachung.349 Zum Kaisergeburtstag am 27. Januar 1914 beschwor das Echo der Gegenwart in einem großen Leitartikel die Eintracht der politischen Parteien, die Aufrechterhaltung der monarchischen Staatsordnung und die Wehrhaftigkeit des deutschen
343 Zit. ‚Kaiser Geburtstagsfeierދ, EdG vom 28.1.1890. Vgl. ‚Die Kaisergeburtstagsfeierދ, EdG vom 28.1.1892. Zuweilen mischten sich in die Reden neben die üblichen nationalen Formeln auch negative politische Aussagen zur Sozialdemokratie. Vgl. die Wiedergabe der Rede von Professor Herrmann bei der Vorfeier der Hochschule zum Kaisergeburtstag am 18. Januar 1896, ‚Die Feier des 18. Januar in Aachenދ, EdG vom 19.1.1896. 344 ‚Der Kaiserkommers der vereinigten Korporationen der Kgl. Technischen Hochschuleދ, EdG vom 28.1.1904. Vgl. Löhr, Caroli treue Söhne sind wir ja. 345 Rede des Professors van der Borght von der Technischen Hochschule Aachen, zit. nach ‚Die Feier des 18. Januar in Aachenދ, EdG vom 21.1.1896. Zu Richard van der Borght (geb. 1861), etatsmäßiger Professor für Nationalökonomie und Jurisprudenz an der TH Aachen 1892– 1900, AMA Sonderband 1870–1995, S. 80. Vgl. auch ‚Die Feier des 18. Januar in Aachenދ, EdG vom 19.1.1896; ‚Die Feier des 18. Januar in Aachenދ, EdG vom 21.1.1896; ‚Zum silbernen Jubiläum des deutschen Reichesދ, EdG vom 18.1.1896. 346 STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 6, Vol. 4, S. 81f. 347 Zur Feier des Jubiläums im Rheinland Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 326–332. 348 Ehrendoktorwürde für Wilhelm II. laut Beschluss aller Fachabteilungen vom 15.6.1913, Verzeichnis der Ehrensenatoren, Ehrenbürger und Ehrendoktoren der RWTH Aachen, HoA Aachen, Nr. 12162. Vgl. König, Wilhelm II. und die Moderne, S. 273. 349 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 286f.; Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 332–336.
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Volkes.350 Das wegen des 1100. Todestages Karls des Großen aufwändig begangene Karlsfest am 28. Januar 1914 geriet „zum nationalen Gedenktag an den großen deutschen Helden, der zum ersten Mal die römische Kaiserwürde mit dem deutschen Königtum verband.“351
Nach der traditionellen Messe im Münster erwarteten zahlreiche Schaulustige den Festzug auf dem überfüllten Markt vor dem Rathaus. Dort huldigte die Menge dem Gründer der Stadt, dessen „schwertgegürtete“352 Figur auf dem „hohen Sockel“353 des Marktbrunnens sich, wie es dem Echo der Gegenwart vorkam, „aus dem Menschengewimmel [...] größer und stärker [...] emporzurecken“354 schien, „eine Herrschergestalt voll gebietender Hoheit“355. Gemeinsam intonierte man eine martialische Hymne auf den Kriegshelden Karl aus der Feder des Aachener Heimatdichters Wilhelm Hermanns356 und die mittelalterliche Karlshymne.357 Stadtarchivar Albert Huyskens358 hatte rechtzeitig eine Festschrift Karl der Große und seine Lieblingspfalz Aachen veröffentlicht, in der er den Frankenkaiser, dem völkisch-nationalen Geschichtsbild entsprechend, als Deutschen und ersten Einiger des deutschen Volkes darstellte.359 Dem Erbfeind im Westen durfte der Gründer des Reiches auf keinen Fall überlassen werden. In seiner Festrede im Kaisersaal des Rathauses bezeichnete Huyskens den Frankenkaiser als Nachfolger und Erbe der römischen Kaiser, Einiger der Germanenstämme, Kriegshelden und „Mehrer des Reiches“360. In Anspielung auf die imperiale Politik des Kaiserreiches bemerkte er, Karl der Große sei „der erste deutsche Fürst gewesen, bei dem eine Weltpolitik großen Stils in die Erscheinung tritt“.361
350 351 352 353 354 355 356 357 358
359 360 361
‚Zum Geburtstage des Kaisersދ, EdG vom 26.1.1914. Zit. ‚Die Karlsfeier 1914ދ, EdG vom 2.2.1914. Zit. Ebd. Zit. Ebd. Zit. Ebd. Zit. Ebd. Ebd. Zum Aachener Journalisten, Zeitungswissenschaftler und Heimatdichter Wilhelm Hermanns (1885–1958) Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 435; LA NRW, Düsseldorf NW 1079, Nr. 935 (Entnazifizierungsakte Wilhelm Hermanns). ‚Die Karlsfeier 1914ދ, EdG vom 2.2.1914. Zu Albert Huyskens (1879–1956), seit 1911 Direktor des Aachener Stadtarchivs und erster fachlich ausgebildeter Archivar und Historiker STA Aachen, Nachlass Albert Huyskens; HoA Aachen, PA 2028 (Personalakte Albert Huyskens); Lepper, Das Stadtarchiv Aachen und seine Archivare, S. 649–666; ders., Der ‚Aachener Geschichtsverein ދ1933–1944; mit Korrekturen zu Lepper jetzt Krebs/Tschacher, Im Sinne der rassischen Erneuerung unseres Volkes. Jahresbericht auf der Hauptversammlung des Aachener Geschichtsvereins am 29.10.1914, ZAGV 36 (1914), S. 261. Vgl. Huyskens, Karl der Große und seine Lieblingspfalz in Aachen, bes. S. 9. Zit. ‚Die Karlsfeier 1914ދ, EdG vom 2.2.1914. Zit. Ebd.
7.3 Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation
361
Nun trage ein Kriegsschiff seinen Namen über die Weltmeere.362 Jener Karl, der die Germanen „von Sieg zu Sieg“363 geführt habe, sei „der Wegbereiter der Nation“364. Mit dem Festakt im Rathaus war der Höhepunkt des Karlstages erreicht. Das Rahmenprogramm richtete sich vorrangig an das Aachener Bildungsbürgertum, sollte offenbar aber auch weitere Schichten der Bevölkerung für Karl den Großen begeistern. Ein opernhaft inszeniertes Volksschauspiel über Karl den Großen mit 500 Laienschauspielern auf einer Freilichtbühne, das seit 1911 geplant wurde, war nicht zustande gekommen.365 Stattdessen zeigte man im großen Saal des Kurhauses Lebende Bilder, in denen bis zu 40 Darsteller sechs Szenen aus dem Leben Karls des Großen vorführten, zu denen die von Wilhelm Hermanns verfassten Balladendichtungen rezitiert wurden. Die Kulissen hatte der Aachener Historienmaler Hermann Krahforst entworfen. Das städtische Orchester trug die musikalischen Einlagen zu den Szenen vor. Das Schauspiel begann, dem imperialen Eroberungsdrang entsprechend, mit Karls Unterwerfung der Langobarden und endete mit seiner Leichenfeier.366 Kritische Stellungnahmen zum herrschenden Zeitgeist kamen nur noch vereinzelt aus der sozialistischen Presse, doch rührte sich ausgerechnet in Aachen offenbar keine Opposition. Eine vernichtende Kritik am Aachener Karlsfest übte die in Köln erscheinende Rheinische Zeitung.367 Danach habe sich dieses ganz auf die „Kreise[ ] aus Besitz und Bildung“368 beschränkt, während der größere Teil der Bürgerschaft, der unter Lebensmittelteuerung und Massenarbeitslosigkeit leide, abseits geblieben sei. Die Festrede von Albert Huyskens wurde als „langes Loblied auf Karl, den ‚frommen ދund mächtigen Kaiser, gewürzt mit Dichterworten [gescholten]: im ganzen ein fades und süßliches Gerede“369. Bissig karikierte die Zeitung die „Phrasendrescherei“ der Aachener Verehrung Karls des Großen: 362 363 364 365 366
Dazu Wynands, Die Neubelebung des Karlskultes im 19. Jahrhundert, S. 227. Zit. ‚Die Karlsfeier 1914ދ, EdG vom 2.2.1914. Zit. Ebd. ‚Ein Kaiser-Karl-Spiel für Aachen?ދ. Der Volksfreund vom 13.9.1913. Rappmann, Im Jahre 1914: Lebende Bilder zu Ehren Karls des Großen; Krahforst, Gedenkfeier zum 1100jährigen Todestag Karls des Großen; Hermanns, Karl der Große. Ein Balladenkranz zu lebenden Bildern; ‚Karlsfeier 1914ދ, EdG vom 24.1.1914; ‚Die Karlsfeier 1914ދ, EdG vom 2.2.1914; Brief des Schriftführers des Festausschusses für die Karlsfeier, Geller an Dr. Wilhelm Hermanns (Bonn) vom 16.11.1913 mit ‚Programm der lebenden Bilderދ, STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 14a; Programm. Sechs Bilder aus dem Leben Karls des Großen, entworfen und gestellt von Kunstmaler H. Krahforst mit Vorsprüchen von Dr. W. Hermanns, gesprochen von Fräulein Thea v. Harbou, Musik, a capella-Chöre und Orgelvorträge unter Leitung der Herren Städt. Musikdirektor Fritz Busch und Eduard Stahlhuth, STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 14a. Vgl. die Stimmungsbilder zu diesen beiden Szenen bei der Aufführung in ‚Karlsfeier 1914. Rückblicke und Stimmungsbilderދ, EdG vom 14.2.1914. Zu dieser Schauspielgattung allgemein Jooss, Lebende Bilder; Folie, Tableaux vivants; Frey, Tugendspiele. 367 Zu der seit 1842 in Köln erscheinenden demokratischen Rheinischen Zeitung Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 164. 368 Zit. ‚Die Karlsfeierދ, Rheinische Zeitung vom 28.1.1914. Vgl. Rheinische Zeitung vom 7.2.1914. 369 Zit. Rheinische Zeitung vom 7.2.1914.
362
7 Mediale Charismatisierung „Wenn man ihn in Aachen als ‚Heiligen ދverehrt, so vergißt man, daß ihn ein Gegenpapst, den der Hohenstaufe Friedrich Barbarossa dem rechtmäßigen, mit ihm verfeindeten Papst zum Trotz aufgestellt hatte, ‚heilig ދgesprochen hat.“370
Der Franke erschien hier als fanatischer Heidenmissionar, Sachsenschlächter und Baumeister des Bündnisses zwischen Thron und Altar: „Karl der Große war ein Fanatiker, der mit Feuer und Schwert die Lehre des Nazareners verbreitete und der für alles, was er der Kirche zu Gefallen tat, eine Belohnung erhofft und erhielt. Unter seiner Regierung sehen wir in der Geschichte zum erstenmal ein festes Bündnis zwischen Staat und Kirche, vorteilhaft für beide Teile. Der Weg, den die ‚Kulturentwicklungދ unter Karl nahm ist gezeichnet durch Ströme von Blut. Schuldig bleibt er der Weltgeschichte das grausige Blutbad zu Verden, wo er Tausende von Sachsen hinrichten ließ, weil sich das heidnisch-deutsche Volk gegen den christlich-fränkischen Herrscher ‚empört ދhatte.“371
Mit dem Sachsenschlächtermotiv lehnte sich die sozialistische Zeitung an die zeitgenössische völkische Ächtung Karls des Großen als ungermanischen, landfremden Tyrannen an, wie sie Felix Dahn und Hermann Löns formuliert hatten.372 Der nationalistischen Vereinnahmung Karls des Großen in der Aachener Presse stellte die Rheinische Zeitung eine provokante geschichtspolitische Deutung im sozialistischen Sinne gegenüber: „Karls des Großen Reich war international. Frankreich, das jetzige Belgien und Holland, Teile Italiens und Spaniens waren mit dem westlichen Teile Deutschlands zusammengewürfelt. In dieser Beziehung kann Kaiser Karl nur mit Napoleon dem Ersten verglichen werden.“373
Die ruhmreiche Stadtgeschichte samt Karlskult hätte den wirtschaftlichen Niedergang Aachens nicht verhindern können und stattdessen den Bürgern den Blick auf die Zukunftsprobleme verstellt, so der hellsichtige Kommentar der Zeitung: „Aachens ruhmreiche Zeit gehört der Vergangenheit an, die Gegenwart verlangt Taten, keine Worte. Soll die Zukunft das bringen, was in früheren Zeiten der Fall war, dann muß die ganze Bürgerschaft mit Hand anlegen, dann muß auch die Stadtverwaltung und die Gemeindevertretung von den Wegen phantastischer Zukunftsträume auf die nüchternen Pfade der Wirklichkeit abschwenken.“374
Im Sommer 1914 nahm das Unheil der europäischen Krise seinen bekannten Lauf. Nach vaterländischen Kundgebungen am 30. Juli rief auch der Rektor der Technischen Hochschule am Tag des Kriegsausbruchs, dem 1. August, die Studenten auf, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden und stieß damit auf eine überwältigende Resonanz.375 Oberbürgermeister Veltman beschwor vor der Stadtverordnetenversammlung in patriotischer Begeisterung die unverbrüchliche Treue der Bevölkerung zum Kaiser und rief zur Mobilisierung auf: 370 371 372 373 374 375
‚Die Karlsfeierދ, Rheinische Zeitung vom 28.1.1914. Ebd. Schmitz, Litertur im Historismus, S. 552–554. ‚Die Karlsfeierދ, Rheinische Zeitung vom 28.1.1914. Ebd. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 289. Text des Aufrufs von Rektor Wallichs bei Gielen, Es stand im ‚Echoދ, S. 12. Dem Aufruf folgten etwa 300 Studenten und zwei Professoren, vgl. Zigan, Der erste Weltkrieg als Katalysator, S. 62.
7.3 Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation
363
„Wir Aachener halten treu zum Deutschen Kaiser, und zwar in trüben Tagen genau so, wie wir es bei heiterem Sonnenschein getan haben. Wir folgen ihm gerne, da er ruft in Not und Tod.“376
Wie überall im Reich herrschte jetzt bei den allermeisten Aachenern überschwängliche Kriegsbegeisterung, die alle Parteien- und Klassenschranken überwand.377 „Die Freundlichsten, die Gutmütigsten“, so schrieb Stefan Zweig im Rückblick über jene Tage, „waren von dem Blutdurst wie betrunken.“378 7.3.8 Geschichtspolitik im Dienst der Monarchie: das gescheiterte Projekt der Aachener Krönungsausstellung Im Wilhelminischen Kaiserreich kam historisch-kulturellen Ausstellungen und Heimatmuseen eine bislang ungekannte geschichtspolitische Bedeutung zur Legitimation des monarchischen Systems und der Nation zu. Heimatbewusstsein und Vaterlandsliebe fanden hier einen gemeinsamen Ort.379 Das wichtigste Aachener Ausstellungsprojekt der Kaiserzeit, die für die Hundertjahrfeier der Besitznahme des Rheinlandes durch Preußen am 15. Mai 1915 geplante Aachener Krönungsausstellung, spiegelt diese doppelte Ausrichtung paradigmatisch wider.380 Als Ausgangspunkt der Aachener Krönungsgeschichte nahm Karl der Große in den seit 1911 laufenden Planungen eine Schlüsselrolle ein. Die mythische Figur des Stadtpatrons, Heiligen und Reichsgründers ließ sich für das Kaisertum, die deutsche Nation, den katholischen Glauben, Vaterstadt und Region gleichermaßen vereinnahmen. Im Zeichen nationalistischer Begeisterung wurde Karl der Große als imperialer deutscher Heldenkaiser einmal mehr in Analogie zu Wilhelm II. gesetzt.381 Die Planer verstanden das Ausstellungsprojekt als eine Huldigung an die Hohenzollerndynastie und ihren regierenden Vertreter.382 Es sollte zudem der 376 Zit. STA Aachen, 13. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung 1914, zit. nach Possehl, Der Regierungsbezirk Aachen vom Kriegsende bis zum Dawes-Abkommen, S. 13, Anm. 3. Vgl. auch Gielen, Es stand im ‚Echoދ, S. 11f. 377 Verhey, Der ‚Geist von 1914ދ. Vgl. zu Aachen Gielen, Es stand im ‚Echoދ, S. 7–16. 378 Zit. Zweig, Die Welt von Gestern, S. 269. 379 Seit 1910 verfügte Aachen über ein historisches Museum, in dem die Antikensammlung und die Hauptmasse der stadtgeschichtlichen Exponate den Besuchern präsentiert wurden. Vgl. Schweitzer, Aachens städtische Museen, S. 80f.; Grimme, Das Suermondt-Museum, S. 10. Vgl. dazu Cilleßen, Heimatliebe & Vaterlandstreue; Thamer, Vom Heimatmuseum zur Geschichtsschau. 380 Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 36–109. Vgl. Falk, Kaiserpfalz und Krönungsstadt, S. 51f.; Haude, Das Rheinland als „Krongeschmeide auf dem mütterlichen Haupte Germaniens“; Haude, „Es ist ja hier das reine Hindernisrennen“; Grimme, Das Rathaus zu Aachen, S. 89–96; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 224–237; Kramp, Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2, Nr. 10.34–10.36a.b, S. 864f. 381 Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 39–46, 98–107. 382 Plan der Aachener Krönungsausstellung 1915. 15. Mai–15. Oktober, verfasst von Dr. Schweitzer als Direktor der städtischen Museen, Aachen vom 2.2.1914, GStA PK Berlin,
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7 Mediale Charismatisierung
Propagierung des monarchischen Gedankens dienen, eine öffentlichkeitswirksame Heiligung der monarchischen Institution als solcher. Dazu bediente man sich jener Kontinuitätsfiktion zwischen dem Alten Reich und dem neuen Kaiserreich, die unter Wilhelm II. zur Ideologie erhoben worden war. Schon bei den beiden Kaiserbesuchen in Aachen hatte man den Kyffhäusermythos auf Karl den Großen bezogen und dem Hohenzollernkult ideologisch angepasst. Der Kaiser selbst wurde quasi zum Carolus magnus redivivus stilisiert. Doch verlief dieser lokale Diskurs keineswegs ungebrochen. Der katholische Volksfreund forderte noch im Oktober 1913 im alten großdeutschen Sinne, dass die Ausstellung nicht allein dem Hause Hohenzollern oder den Habsburgern gewidmet sein, sondern als „deutschnationale Ausstellung“383 betrachtet werden solle. Die mit der Polarität Monarchie-Nation verbundene Problematik, dass die durch beide Pole erzeugten Identitäten unterschiedlichen Logiken folgten, wurde offenbar in Aachen bewusst oder unbewusst nicht zu Ende gedacht.384 Neben dem geschichtspolitischen Zweck sollte die Ausstellung dem wirtschaftlichen Interesse der mit den rheinischen Metropolen Düsseldorf und Köln konkurrierenden Stadt Aachen dienen und zahlreiche Besucher anziehen. Im Dienste der Monarchie und des Fremdenverkehrs versuchte man natürlich mit dem Pfund Karls des Großen zu wuchern.385 Die sich als positivistische Historiker bzw. Kunsthistoriker verstehenden Ausstellungsmacher versprachen sich von der Krönungsausstellung einen wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs.386 Mit der Bildung von Ausschüssen gelang es ihnen, finanzkräftige Förderer, politisch einflussreiche Fürsten und Politiker sowie kompetente Experten in die Projektvorbereitung einzubinden.387 Die Stadtverordnetenversammlung kalkulierte 1914 mit Gesamtkosten in Höhe von 633.000 Reichsmark. Da der städtische Haushalt maximal 65.000 Reichsmark bewältigen sollte, wurden die Provinzialverwaltung und der Kaiser um Zuschüsse gebeten.388 Um für die Ausstellung zu werben, wurde ein Plakatwettbewerb ausgeschrieben und auf dem Bahnhofsvorplatz um das dortige Kriegerdenkmal herum, ein Monumentalbau errichtet, der eine überdimensionierte Nachbildung der Reichskrone trug, die mit Glühlampen beleuchtet werden
383 384 385 386
387 388
Rep. 77, tit. 98, Nr. 89, Bd. 6; Schreiben von Oberbürgermeister Veltman an Professor Schroers vom 30.5.1914, STA Aachen, Abstellnr. 4915. Zit. ‚Die Krönungsausstellung 1915 gesichert. Der Kaiser in Aachenދ, Der Volksfreund vom 9.10.1913. Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 93–98, 107–109. Ebd., S. 91–93. Schreiben Paul Clemen (Bonn) an den Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten, Staatsminister von Trott zu Solz (Berlin) vom 4.3.1912, STA Aachen, OB, Caps. 7, Nr. 37, Vol. 1; Bericht von Oberbürgermeister Veltman vom 17.1.1912, GStA PK Berlin, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 89, Bd. 6. Zur Verquickung von Wissenschaft und Propaganda Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 89–91. Zu Zusammensetzung und Funktion von Haupt-, Finanz-, Fürsten-, Ehren- und Gelehrtenausschuss Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 46–51; ders., Das Rheinland als „Krongeschmeide auf dem mütterlichen Haupte Germaniens“, S. 810f. Zur Finanzierung ders., ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 51–55.
7.3 Neuformierung der Repräsentation und Kommunikation
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konnte.389 Zudem erstellte man eine aufwändige Werbebroschüre und schaltete Zeitungsannoncen in der lokalen, nationalen und internationalen Presse.390 Außerdem war ein Film mit dem Titel Karl der Grosse. Historisch legendäres Filmspiel in einer Vorgeschichte und 5 Teilen geplant. Als „neuartige Form des Volksfestspiels“391 und Attraktion zur Förderung des Fremdenverkehrs sollte er unter freiem Himmel gezeigt werden.392 Den in Wien befindlichen Reichskleinodien maßen die Aachener Planer eine zentrale Rolle für die Ausstellung zu. Insbesondere die Reichskrone wurde zu einem die nationale Ehre verkörpernden Symbol aufgeladen.393 Trotz der im Februar 1913 erfolgten Absage aus Wien, die Reichskleinodien zu entleihen394, hielten die Aachener daran fest, die Ausstellung durchzuführen.395 Dazu fasste man den Plan, Nachbildungen der Wiener Reichskleinodien zu beschaffen, da die Kaiserkrone, das „eminente Symbol der kaiserlichen Alleinherrschaft“396, das zentrale Exponat der Ausstellung sein sollte. Zwischen 1914 und 1920 wurden für die Stadt Aachen insgesamt elf Kopien der Wiener Reichskleinodien von den Goldschmieden Bernhard Witte in Aachen und Paul Beumers in Düsseldorf angefertigt: Reichskrone, Reichsschwert, Mauritiusschwert, Reichsapfel, Säbel, Zepter, Aspergill, Reichsevangeliar, Reichskreuz, Heilige Lanze und Stephansburse.397 Die Gesamtkosten der Reichskleinodienkopien betrugen 168.721,05 Reichsmark, wovon die Stadt Aachen weit mehr als die Hälfte zu bewältigen hatte.398 Nicht zuletzt deswegen nahm der geplante Umfang der Krönungsausstellung immer größere Dimensionen an. Die Kosten waren bereits explodiert, als der Ausbruch des Weltkrieges allen weiteren Planungen ein Ende machte.399 Die ausbleibenden Einnahmen des gescheiterten Projekts hinterließen nach einer Finanzaufstellung
389 Ebd., S. 62–64, der von einer „Kriegsertüchtigungs-Funktion“ des Baus spricht. 390 Über die Reklame Ebd., S. 55–64. 391 Zit. Oberbürgermeister Veltman an Prof. Liese vom 28.6.1914. Vgl. Prof. Liese und Adam Kuckhoff an Oberbürgermeister Veltman vom 3.7.1914, STA Aachen, OB, Caps. 7, Nr. 37, Vol. 1. 392 Dazu Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 61f. 393 Ebd., S. 38–43. 394 Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten von Trott zu Solz an den Regierungspräsidenten von Aachen vom 26.2.1913, STA Aachen, OB, Caps. 7, Nr. 34, Bd. 1. Vgl. Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 40. 395 Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 7. März 1913, undatierte interne Mitteilung, STA Aachen, OB, Caps. 7, Nr. 34, Bd. 1. Vgl. Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 40f. 396 Zit. Haude, Das Rheinland als „Krongeschmeide auf dem mütterlichen Haupte Germaniens“, S. 811. 397 Die Kopie der Stephansburse wurde erstmals auf der Hauptversammlung des Aachener Geschichtsvereins im Großen Saal des Karlshauses am 27. Oktober 1915 in einer Glasvitrine gezeigt. Vgl. Die Hauptversammlung, ZAGV 37 (1915), S. 407, 425f. 398 Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 70–80; ders., „Es ist ja hier das reine Hindernisrennen“; Tschacher/Tölke, Denkmäler der Geschichte, S. 39–67. 399 Zum langsamen Scheitern der Ausstellung zwischen August 1914 und Mai 1915 Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 82–84.
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von 1920 ein Defizit von 163.635,82 Reichsmark, dessen städtischer Anteil allerdings noch relativ glimpflich ausfiel.400 7.3.9 Annexionshoffnungen und Schlachtenträume: die Hundertjahrfeier der Zugehörigkeit der Rheinprovinz zu Preußen im Mai 1915 Die Aachener Hundertjahrfeier der Besitzergreifung des Rheinlandes durch Preußen am 15. Mai 1915 konnte nach dem Ausfall der Krönungsausstellung nur in kleinem Rahmen begangen werden.401 Im Zeichen der ersten Kriegsmonate wurde sie zur Bühne patriotischer Bekenntnisse und Treueschwüre. Im Kaisersaal des Rathauses versammelte sich die Festgesellschaft: Beigeordnete, Stadtverordnete, die Spitzen der lokalen Verwaltung und Wirtschaft, die Vertreter der Kirchen, der Technischen Hochschule und des Militärs. Zwischen Grün und Fahnenschmuck war die Kaiserbüste Wilhelms II. aus dem Ratssitzungssaal aufgestellt. Oberbürgermeister Veltman erinnerte in seiner von Stadtarchivar Huyskens vorformulierten Festrede402 an die glanzvollen Huldigungsfeiern von 1815 und 1865, vor allem aber lobte er die Entwicklung der Stadt unter preußischer Herrschaft: die Gründung der Technischen Hochschule, den Aufschwung der Aachener Industrie, des Kur- und Badebetriebes, des Unterrichtswesens, des Städtebaus und des Musiklebens, selbst das mäßige Bevölkerungswachstum der inzwischen 164.000 Einwohner zählenden Stadt. Aufgrund der Grenzlage und der Trennung vom alten Hinterland sei Aachen trotz allem innerhalb Preußen-Deutschlands in seinem Rang zurückgefallen. Umso höher richteten sich die Erwartungen Veltmans auf einen siegreichen Kriegsverlauf und Annexionen im Westen, von denen Aachen besonders profitieren würde: „Hoffen wir, dass ein glücklicher Friede uns die natürlichen Verbindungen zur Maas und darüber hinaus wieder verschaffen wird, zu unserm und des ganzen Vaterlandes Segen und Schutz.“403
Die Festgemeinschaft versprach dem Kaiser in einem später veröffentlichten Huldigungstext, sogar im Namen der Nachkommen der Bürger Aachens, unverbrüchliche Treue angesichts der vergangenen Segnungen der Stadt unter dem Zepter der 400 Ebd., S. 41f. 401 STA Aachen, OB, Cap. 2, Nr. 11; Schneider, Politische Festkultur im 19. Jahrhundert, S. 337–339; Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 85–88; ‚Die Huldigungsfeier in Aachen am 15.5.1815ދ, AAZ 11.5., 12.5., 14.5., 15.5.1915; AP vom 12.5., 15.5., 18.5.1915; AR vom 14.5.1915; ‚100-Jahrfeier von 1815ދ, AR vom 15.5.1915. 402 Brief Albert Huyskens an OB Veltman vom 8.5.1915 in STA Aachen, OB, Cap. 2, Nr. 11. Vgl. auch Albert Huyskens, Wie die Rheinlande vor hundert Jahren zu Aachen dem Könige von Preußen huldigten, EdG vom 14.5.1915, ferner das 12 Seiten umfassende Manuskript in STA Aachen, OB, Cap. 2, Nr. 11. Ein weiteres Manuskript von Huyskens trug den Titel ‚Die Proklamation der preussischen Besitzergreifung in den Rheinlandenދ, vgl. STA Aachen, OB, Cap. 2, Nr. 11. 403 Zit. Entwurf der Rede des Oberbürgermeisters in der feierlichen Sitzung der städtischen Versammlung am 15. Mai 1915, STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 11, S. 6f.
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Hohenzollern.404 Der Oberbürgermeister richtete ein Huldigungstelegramm an den Kaiser, das in der Presse veröffentlicht wurde.405 Der Kaiser antwortete umgehend in einem Telegramm, in dem er den Ausfall der Krönungsausstellung bedauerte. Mit Verweis auf „neid und scheelsucht“406 der Kriegsgegner, die zum „aufgezwungenen kriege“407 geführt hätten, rief er zu entschlossener Kriegsführung mit „gepanzerter Faust“408 auf. Stiftpropst Kaufmann erinnerte in einer Predigt im Dom an den Verfall des Münsters als Sinnbild für den Untergang des Alten Reiches mehr als 100 Jahre zuvor: „Der alte Kaiserstuhl des Aachener Münsters ist keine bloße Erinnerung mehr, er ist das ernste Sinnbild auch des neuen Deutschen Reiches Herrlichkeit geworden.“409
Angesichts des von allen bestaunten und bewunderten Schauspiels des Weltkrieges gelte es jetzt, so Kaufmann, das Treueversprechen gegen Kaiser und Reich bis in den Tod zu erneuern.410 7.3.10 Der umjubelte Kurzauftritt Wilhelms II. im kaisertreuen Aachen 1918 Der dritte und letzte Besuch des Kaisers in Aachen geriet zum Schlussakkord monarchischer Herrschaft in Aachen. Angesichts massenhafter Verelendung, Hunger und Leid an der Heimatfront411 und Millionen toter Soldaten hatte der Kaiser im Krieg seine Rolle als charismatischer Führer und „integratives Reichssymbol“412 weitgehend eingebüßt.413 1917 versuchte Wilhelm II. den schleichenden Ablösungsprozess der deutschen Katholiken durch die Aufhebung des Jesuitengesetzes als letzten Restbestand des Kulturkampfes und die Berufung des katholischen bayerischen Ministerpräsidenten von Hertling zum Reichskanzler zu verhindern.414 Der „Prozess fortschreitenden Realitätsverlustes“415 war im Frühjahr 1918
404 Text der Huldigung der Stadtverordnetenversammlung in der Broschüre ‚Aachen 1815/1915ދ, STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 11. 405 Entwurf der Rede des Oberbürgermeisters in der feierlichen Sitzung der städtischen Versammlung am 15.5.1915, STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 11. 406 Zit. Telegramm Kaiser Wilhelms II. (Schloß Pleß) an Oberbürgermeister Veltman vom 15.5.1915, STA Aachen, OB, Caps. 2, Nr. 11. 407 Zit. Ebd. 408 Zit. Ebd. 409 Zit. ‚Die Aachener Hundertjahrfeier. Eine feierliche Stadtverordnetenversammlungދ, PT vom 16.5.1915. 410 Ebd. 411 Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 78–134; Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 48f. 412 Zit. Pyta, Paul von Hindenburg, S. 121. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 4, S. 174–197, 554. 413 Clark, Preußen, S. 696–703; Ullrich, Als der Thron ins Wanken kam. 414 Strötz, Wilhelm II. und der Katholizismus, S. 196. 415 Zit. Mommsen, War der Kaiser an allem schuld, S. 250.
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beim Kaiser unverkennbar, was allerdings nicht weniger für Heeresleitung, Regierung und Parteien galt.416 Wie war die Stimmung in Aachen? Wurde der erste Kaisergeburtstag nach Ausbruch des Krieges, am 28. Januar 1915, noch mit enthusiastischer Verehrung und patriotischer Kriegsbegeisterung gefeiert417, war beim letzten Kaisertag 1918 von einem „ungebrochene[n] Siegeswillen“418 die Rede. Zwar waren auch die Aachener, wie die gesamte Heimatfront, durch Krieg, Hunger und Elend erschöpft. Anders als in vergleichbaren Industriestädten kam es in Aachen aber nicht zu Streiks der Arbeiter. Von der Konjunktur der Kriegswirtschaft konnten weite Teile der Aachener Wirtschaft profitieren, andere Zweige wie der Wollhandel oder die Nadelindustrie gerieten unter Druck. Lokale Administration und Wirtschaft waren permanent zur Improvisation gezwungen.419 Bereits Anfang 1915 musste die Aachener Stadtverordnetenversammlung zur Unterstützung Hilfsbedürftiger Kredite aufnehmen. Im Stadtgebiet hatte man auf brachliegenden Grundstücken Kartoffeln angebaut. Ende 1915 wurden sogenannte fettlose Tage festgelegt und Metallsammlungen vorgenommen, im Mai 1916 Zuckermarken ausgegeben und die Sommerzeit eingeführt, im Juli 1916 kamen Fleischkarten hinzu, im August 1916 Kleiderkarten und Seifenkarten. Zwischen Juli 1916 und November 1918 führten Kriegsküchen an zeitweise mehr als 30 Ausgabestellen Massenspeisungen durch. Im Januar 1917 musste wegen Kohlenmangels eine Polizeistunde eingeführt werden.420 Die steigende Verbitterung in den mittleren und unteren Klassen über die soziale Degradierung und die Kriegsbelastung wurde unterdrückt und zurückgehalten. Der Kaiser erschien nicht in erster Linie als Verantwortlicher für die Lage.421 Der Krieg hatte Aachen keineswegs nur Schlechtes gebracht. Der zuvor als Religionslehrer an der Aachener Hindenburgschule tätige katholische Feldgeistliche im Großen Hauptquartier, Ludwig Berg, hielt in seinem Kriegstagebuch über ein Gespräch mit Hindenburg fest, dass Aachen als zentrales Aufmarschgebiet und Lazarettstadt durch den Krieg im Reich durchaus bekannter geworden sei. Aachen habe jetzt ein neues Kurhaus bekommen, für das Rheumabad Aachen würde mehr als zuvor „Reklame“422 gemacht. Trotz skeptischer Einschätzungen in
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Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 143–145. ‚Unserem geliebten Kaiser Wilhelm II.ދ, EdG vom 26.1.1915. Zit. ‚Kaisers Geburtstagދ, EdG vom 26.1.1918. Thomes, 1804–2004. 200 Jahre mitten in Europa, S. 149–156. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 291–297; Gielen, Es stand im ‚Echoދ, S. 26–52; Lebenserinnerungen des Prof. Dr. Ing. e. h. August Hermann Adalbert Hertwig, STA Aachen Hs. 1280, S. 131–139. 421 Zu den sozialen und psychologischen Kriegsfolgen im Reich Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 97–112. 422 Wiedergabe der Worte Hindenburgs nach Tagebucheintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Ludwig Berg, vom 11. Mai 1917, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 444.
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der Fachwelt, sah man sich in der Aachener Öffentlichkeit auf diesem Gebiet im Aufschwung.423 Vor diesem Hintergrund erschien der Kaiser am frühen Abend des 3. Mai 1918, vom Großen Hauptquartier in Spa kommend, in Aachen. Dieser „streng geheimzuhaltende[ ]“424, kurzfristig im Großen Hauptquartier geplante Besuch425 war zuvor dem Aachener Oberbürgermeister vertraulich bekannt gegeben worden. Offenbar hatte man zunächst kaum mehr als einen privaten Ausflug des Kaisers mit kleinem Gefolge in die benachbarte Stadt, mit der dieser beste Erinnerungen verband, geplant. Im Münster wurde der Kaiser von Oberbürgermeister Farwick426 und Prälat Fels in Vertretung des abwesenden Stiftspropsts Kaufmann empfangen. In der Kirche zeigte man ihm die mit Ausnahme des Reichskreuzes fertig gestellten Kopien der Reichskleinodien. Danach begutachtete der Kaiser die provisorische Trennung von Chor und Oktogon, die man durch den Einbau einer Holzwand mit Altar vorgenommen hatte427, sowie den Thron, den Karlsschrein und die von ihm 1913 gestiftete Marmorkanzel. Überraschend erschien der Kaiser danach in Begleitung des Oberbürgermeisters in der Sitzung der Stadtverordneten im Aachener Rathaus.428 Vor den versammelten Stadtverordneten hielt er eine kurze, flammende Ansprache, in der er triumphierend die jüngsten militärischen Erfolge an der Westfront und im Osten schilderte und einen mittelfristigen Sieg prophezeite. Auch eine Verbesserung der Versorgungslage an der Heimatfront kündigte er an.429 Diese Erwartungen waren begründet durch den Friedensschluss mit Russland in Brest-Litowsk im Dezember 1917 und die im März 1918 angelaufene Offensive im Westen, deren Scheitern aber spätestens mit der französischen Großoffensive vom Juli offensichtlich werden sollte. Noch im selben Monat musste in Aachen dreimal Fliegeralarm gege423 Zur Verschönerung der Aachener Kuranlagen Stöhr, Die neuen Kuranlagen des Bades Aachen. 424 Zit. Begleitbrief zum Bericht Ludwig Bergs an den Generaladjutanten des Kaisers und 1. Kommandanten des Großen Hauptquartiers, von Plessen, vom 4.5.1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 591. 425 Nachtrag zum Tagebucheintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Berg, vom 3. Mai 1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 583. 426 Zu Wilhelm Farwick (1863–1941), Bürgermeister von Aachen 1916–1928, Oberbürgermeister seit 1917 Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Beamten der Rheinprovinz, S. 441; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 295 u.ö.; Schiffers, Wilhelm Farwick †. 427 Zit. Tagebucheintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Berg, vom 3. Mai 1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 578. 428 Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 296; Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 109f.; Helg/Linden, Vom Kaiserglanz zur Bürgerfreiheit, S. 227 (mit Abb.). Vgl. die Berichterstattung in PT vom 14.5.1918; AAZ vom 14.5. und 15.5.1918; AP vom 14.5.1918; Volksfreund vom 14.5.1918; ‚Ein Besuch des Kaisers in Aachenދ, EdG vom 14.5.1918. Wichtige Primärquellen: Protokoll der 4. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 3.5.1918, STA Aachen, PRZ , AR I, Nr. 149, S. 21; Tagebucheinträge des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Ludwig Berg, vom 3. Mai 1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 577–591. 429 Mitschrift der Rede Kaiser Wilhelms II., undatiert, ohne Autorenangabe (maschinenschriftlich mit hs. Korrekturen), STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 2, Vol. 5, S. 189–191.
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ben werden.430 In Unkenntnis der baldigen Kriegsentwicklung kehrte der Kaiser gegenüber den zivilen Abgeordneten der Stadt den Frontkämpfer heraus.431 Zwar lobte er die Tapferkeit der Aachener Soldaten, enthielt sich aber nicht warnender Bemerkungen an die Grenzstädter vor fremdländischem, insbesondere französischem Einfluss, womit er sein Misstrauen gegen die rheinische Frankophilie zum Ausdruck brachte.432 Der Appell an den Patriotismus der Aachener Volksvertreter gelang. Die Versammlung verabschiedete Wilhelm II. mit vielstimmigen Hochrufen.433 Bei der Abfahrt des Kaisers mit seiner aus fünf Autos bestehenden Kolonne versammelte sich dicht gedrängt eine große Menschenmenge, die ihn unter „gewaltige[m] Hurra“434 verabschiedete. Es folgte eine Spazierfahrt durch die Stadt, bevor man die Heimreise nach Spa antrat.435 Nur wenige Monate vor dem katastrophalen Ende des Weltkrieges zeugte der letzte Besuch Wilhelms II. in Aachen von den ungebrochenen Siegeserwartungen des Kaisers, seiner martialischer Vernichtungsrhetorik, der Verachtung der Heimatfront und des Zivilen sowie schier pathologischen Verratsängsten. Umgekehrt übten sich die Aachener Stadtverordneten in patriotischer Nibelungentreue.436 Das Charisma des nationalen Führerkönigs schien in Aachen auch nach den zurückliegenden Kriegsjahren ungebrochen. Für die Aachener Bevölkerung war der Anblick des Kaisers in ihrer Stadt angesichts der beiden zurückliegenden Kaiserbesuche ein positiv besetztes Ereignis. Er löste, internen Einschätzungen und Berichten der lokalen und überregionalen Presse zufolge, die allerdings auf den Kaiserhof selbst zurückgingen, einen „tiefen Eindruck […] in der ganzen Bevölkerung aus“437. Der katholische Feldgeistliche im Großen Hauptquartier, Ludwig Berg438, schrieb als parteiischer, aber in diesem Punkt wohl glaubwürdiger Au-
430 Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 138–144. Vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 296. 431 Mitschrift der Rede Kaiser Wilhelms II., undatiert, ohne Autorenangabe (maschinenschriftlich mit hs. Korrekturen), STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 2, Vol. 5, S. 190. 432 Ebd., S. 191. 433 Ebd., handschriftliche Hinzufügung. Vgl. auch ebd., S. 194–195, Erinnerungsprotokoll der Rede, datiert Aachen, den 3. Mai 1918. 434 Zit. Tagebucheintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Berg, vom 3. Mai 1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 580. Vgl. Heinrich Savelsberg, ‚Der Besuch Kaiser Wilhelms des Zweiten in der Aachener Stadtrats-Sitzung, Freitag, den 3. Mai 1918ދ, S. 1f., STA Aachen, Hs. 1117; Protokoll der 4. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 3.5.1918, STA Aachen, PRZ , AR I, Nr. 149, S. 21; ‚Ein Besuch des Kaisers in Aachenދ, EdG vom 14.5.1918. 435 Tagebucheintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Berg, vom 3. Mai 1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 581f. 436 Über den Nibelungenmythos Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 69–107. 437 Zit. Brief des katholischen Feldgeistlichen Berg an den Generaladjutanten des Kaisers und 1. Kommandanten des Großen Hauptquartiers, von Plessen, vom 4.5.1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 590f. 438 Zu Msgr. Prof. Dr. theol. Ludwig Berg (1874–1939), Religions- und Oberlehrer am Aachener Realgymnasium, der späteren Hindenburg-Schule, Feldgeistlicher im Großen Hauptquartier 1915 bis 1918, Mitbegründer des katholischen Akademikerverbandes und Leiter von dessen
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genzeuge in sein Tagebuch, dass sich die begeisterte Menschenmenge am Münster und auf dem Markt spontan versammelt hätte: „Nicht enden wollender Jubel der Menge. Der Kaiser begrüßt auf dem Gang durch die Reihen nach allen Seiten, spricht einige unter den Wandelgängen des Verwaltungsgebäudes stehende verwundete Offiziere an und dann die Treppe hinauf zum Rathaus, dessen Fassade bewundert und erklärt wird. Auf dem Marktplatz sehr große Volksmenge in hellster Begeisterung.“439
Bergs Bericht erfasst einen kaum abschätzbaren Ausschnitt der damaligen Stimmungslage der Aachener Bevölkerung. Am Kaiserhof war man mit dem Besuch des Kaisers in Aachen mehr als zufrieden. In der öffentlichen Wahrnehmung konnte er, nicht zuletzt zu propagandistischen Zwecken, als spontane Huldigung der Aachener gegenüber dem kaiserlichen Staatsoberhaupt verstanden werden.440 Nach dem Vorbild eines Gemäldes des unerwarteten Kaiserbesuchs in Essen am 28. Oktober 1896 sollte zudem auf Beschluss der Aachener Stadtverordnetenversammlung vom 7. Juni 1918 ein Gemälde für den Sitzungssaal des Rathauses angefertigt werden, das den Besuch Wilhelms II. vom 3. Mai 1918 festhalten sollte. Am 17. Mai genehmigte das Große Hauptquartier die Ausführung des Projektes.441 Was der Kaiser und sein Hof mit den Aachener politischen Eliten diskutierten, ging noch weit darüber hinaus. In jenen Tagen plante man im persönlichen Umfeld des Kaisers in Spa ernsthaft die erneute Erhebung Aachens zum Bistum zur Pflege des Deutschtums im Westen. Dabei ging es um die Stärkung der deutschen Sprache und Kultur im Grenzgebiet. Die Erneuerung der schon länger erwogenen Idee ging offenbar vom Kaiser selbst aus, doch wurde bald auch Oberbürgermeister Farwick in die Planungen einbezogen.442 Das Stadtoberhaupt und nachfolgend der Aachener Rat waren ohne Rücksicht auf die sonstigen Belange
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Aachener Ortsgruppe Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 357; Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 1–51. Tagebucheintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Berg, vom 3. Mai 1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 579. Begleitbrief zum Bericht Ludwig Bergs an den Generaladjutanten des Kaisers und 1. Kommandanten des Großen Hauptquartiers, von Plessen, vom 4.5.1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 591. Aus dem Brief und dem zugehörigen Tagebucheintrag Ludwig Bergs geht hervor, dass er noch am selben Tag mehrfach selbst redigierte Berichte über den Aachener Kaiserbesuch von der Redaktion des Echo der Gegenwart aus, über Wolffs Telegraphenbüro, an „alle hiesigen Zeitungen“ hatte schicken lassen. Brief des Kommandanten des Großen Hauptquartiers (Spa) an den katholischen Feldgeistlichen des Gr. Hauptquartiers Ritter pp., Prof. Dr. Berg, STA Aachen, OB, Caps. 1, Nr. 2, Vol. 5, S. 220–223; Briefabschrift und Tagebucheintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Berg, vom 17.5.1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 620, vgl. auch S. 626f., 636. Tagebucheintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Berg, vom 12.5.1918 über ein Abendessen Wilhelms II. in Spa, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 600– 602, 607, 621, 624, 627, 882. Zu älteren, seit Ende des 19. Jahrhunderts gehegten Bistumsplänen, zu den Verhandlungen von 1918 und zur Realisierung des zweiten Aachener Bistums 1930, vgl. Reuter, Die Wiedererrichtung des Bistums Aachen, bes. S. 90–94; Gatz, Zur Vorgeschichte des zweiten Bistums Aachen.
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der Bürgerschaft bereit, der Regierung insgesamt 350.000 Reichsmark für die Bistumsgründung zur Verfügung zu stellen. 200.000 Reichsmark beschloss man aus dem städtischen Haushalt aufzubringen und 78.000 Reichsmark aus Spenden, wobei allein der Großindustrielle August Thyssen, der in Aachen seine Schulzeit verbracht hatte, 25.000 Reichsmark zusagte. Der Rest betraf die Renovierungskosten für das von der Stadt bereitgestellte bischöfliche Wohn- und Dienstgebäude.443 Parallel und möglicherweise auch verbunden mit den Bistumsplänen waren weitergehende Annexionshoffnungen im Westen.444 Diese wurden, ausgehend von einem im Echo der Gegenwart veröffentlichten Zeitungsartikel des Studienrats Joseph Liese, zwischen Berg und Farwick diskutiert. Liese hatte mit historischen und wirtschaftsgeographischen Argumenten die Annexion von neun Orten im belgisch-limburgischen Grenzgebiet mit 17.000 Einwohnern, einschließlich Neutral-Moresnet begründet. Aachen sollte durch die Annexion sein 1815 verlorenes Hinterland zurückerhalten. Offenbar gab man sich damit nicht zufrieden, sondern wollte die Gunst der Stunde nutzen, denn Farwick sandte Berg im August 1918 eine Karte mit der Eintragung von Sprachgrenzen und 16 Gemeinden in den an Aachen angrenzenden Teil Belgiens zu.445 Zeitgleich wurde im selben Zirkel der baldige Bau eines Deutschen Kaisermuseums in Aachen ausführlich erörtert. Im Juli setzte sich Oberbürgermeister Farwick nochmals mit einem Schreiben an den Kaiser für den Bau des Museums ein. Auch Berg schrieb am 25. Mai 1918 eigens an Reichskanzler von Hertling, der dem Projekt zustimmte. Der Kaiser war offenbar geneigt, den Museumsbau kraftvoll zu unterstützen. Dazu war ein jährlicher Staatszuschuss von 75.000 Reichsmark für das bald zu errichtende Museum vorgesehen. Nach dem Willen des Kaisers sollte damit Aachens Vergangenheit neuen Glanz erhalten. In das Museum sollte ein Forschungsinstitut für Kaiserikonographie integriert werden.446 Museumsdirektor Hermann Schweitzer447 und sein Mitarbeiter Otto Mayer448 443 Brief Ludwig Bergs an Reichskanzler Hertling vom 24.6.1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 667. Vgl. Reuter, Die Wiedererrichtung des Bistums Aachen, S. 91. 444 Pabst, Das Problem der deutsch-belgischen Grenze. 445 Bericht Bergs von einem Gespräch an der kaiserlichen Frühstückstafel am 1. August 1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 690, 890. 446 Der Entwurf für ein Deutsches Kaisermuseum gelangte über Ludwig Berg, am 22. Mai 1918 an Kaiser Wilhelm II., vgl. Brief Bergs an Hans Albrecht von Gontard, Generaladjutant und Oberhofmarschall Wilhelms II. im Großen Hauptquartier, vom 24.5.1918, überliefert in seinen Kriegstagebüchern bei Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, 637f. Vgl. die Briefwechsel und Tagebucheinträge Bergs ebd., S. 601, 606, 609f., 618, 621–624, 630, 639, 657, 677, 702. 447 Zu Hermann Schweitzer (1871–1933), von 1904 bis 1922 Direktor des Suermondt-Museums Aachen, Herausgeber der Aachener Kunstblätter 1906 bis 1916 sowie geistiger Vater der für 1914 geplanten Kaiser-Karls-Ausstellung, der für 1915 geplanten Aachener Krönungsausstellung und des 1918 geplanten Deutschen Kaisermuseums Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 269. 448 Der Archäologe Dr. Otto Eugen Mayer (geb. 1888) war Mitarbeiter, seit 1924 Assistent, danach Kustos am Aachener Suermondt-Museum. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde er im Juli 1933 von den Nationalsozialisten aus dem Amt gedrängt. Vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 319.
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entwarfen detaillierte Pläne. Sie beruhten auf der für die abgesagte Krönungsausstellung erstellten, 30.000 Zettel umfassenden Kartothek mit Informationen zur Krönungs- und Kaisergeschichte und den im Besitz der Stadt Aachen befindlichen Exponaten, namentlich den Reichskleinodienkopien. Die Stadtverordnetenversammlung beschloss am 7. Juni 1918 die Förderung des Projekts durch einen jährlichen Zuschuss, es kam aber wegen des baldigen Kriegsendes nicht mehr zustande.449 Am 19. Juni und 2. August 1918 fuhren annähernd 700 bzw. 1.000 Personen umfassende Besuchergruppen von Beamten, Offizieren und Mannschaften im Sonderzug aus dem Großen Hauptquartier in Spa nach Aachen, um dort Münster, Rathaus und Reichskleinodien im Suermondt-Museum zu besichtigen.450 Berg besuchte auf besonderen Wunsch des Kaisers am 22. und 23. Mai 1918 Aachen, um sich die Schätze von Münster und Rathaus vorführen zu lassen. Dabei ging es auch um den vom Kaiser bei seinem zurückliegenden Besuch vorgebrachten Wunsch einer baulichen Abtrennung des Oktogons vom Chor. Zur Erweiterung des karolingischen Kernbaus sollte in die gotische Chorhalle ein winziger Chor im romanischen Stil hineingebaut werden.451 Die räumliche Nähe Aachens zum Großen Hauptquartier in Spa und damit zum Kaiser und seinem Hof, die bestehenden personellen Verbindungen in das Zentrum der Macht und das ungebrochene Interesse Wilhelms II. an Aachen, vor allem am Münsterbau, hätten den Erfolg der Aachener Großprojekte am Ende des Ersten Weltkrieges höchstwahrscheinlich gewährleistet. Ludwig Berg brachte mit Blick auf den Bistumsplan seinen diesbezüglichen Optimismus mit den Worten zum Ausdruck, dass Aachen „recht bald einen glänzenden Schlusserfolg“452 erleben würde. Aus Aachener Sicht erscheint es deshalb beinahe tragisch, dass wegen der Kriegsniederlage Bistum, Kaisermuseum und Annexionspläne nicht realisiert werden konnten. Der Rest ist Epilog. Die letzte Treuekundgebung der bürgerlichen Führungsschichten Aachens für Kaiser und Reich fand am 3. November 1918 in Anwesenheit von Regierungspräsident von Dalwigk453 und Oberbürgermeister Farwick in einer vom Volksverein für das katholische Deutschland454 einberufenen Ver-
449 Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 37, 43–45, 68f. 450 Tagebucheintrag Bergs vom 15.6.1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 656f. sowie S. 660f., 676, 691, 718. 451 Brief Bergs vom 24.5.1918, GStA PK Berlin, HA I, Rep. 89, Nr. 23234. Vgl. Tagebucheintrag Bergs vom 24.5.1918, Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 637f., 654, 730–732. 452 Zit. nach Reuter, Die Wiedererrichtung des Bistums Aachen, S. 91. 453 Zu Adolf Maximilian Freiherr von Dalwigk zu Lichtenfels, (1860–1924), Aachener Regierungspräsident von 1917–1924 Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Beamten der Rheinprovinz, S. 402f.; Bergmann, Die Regierungspräsidenten des Regierungsbezirkes Aachen, S. 326–328; Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 295. 454 Zur Politik des 1890 gegründeten Volksvereins für das katholische Deutschland Grothmann, „Verein der Vereine“, S. 17–30; Klein, Der Volksverein für das Katholische Deutschland, bes. S. 37–73.
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sammlung im städtischen Konzerthaus statt. Von dort sandten die Teilnehmer ein letztes Telegramm mit folgendem Wortlaut an Wilhelm II.: „Die alte Kaiserstadt Aachen, die Wiege des deutschen Kaisertums und einstmals Sitz des Reiches, erblickt im deutschen Kaisertum das hohe Symbol der vaterländischen Kraft und Einheit, auf dem die Zukunft Deutschlands ruht, und legt das Gelöbnis steter Treue ab dem Kaiser und dem Reich.“455
Deutlicher hätte das allen Zeitumständen trotzende Bekenntnis des katholischkonservativen Aachener Bürgertums und seiner Führungseliten zur Monarchie, wenige Tage vor dem endgültigen Zusammenbruch des Kaiserreiches und dem Ausbruch der Novemberrevolution456, kaum ausfallen können. Der Vorgang wird aber durch die Haltung der Aachener Eliten begreiflich, die den Krieg und die Politik des Kaisers als großartige Chance zur endgültigen Einfügung der Katholiken in die nationale Gemeinschaft457 und zur glanzvollen Wiederaufwertung Aachens betrachteten und nun den Einbruch des sozialistischen Chaos fürchteten. Das für die Niederlage verantwortliche Versagen der politischen und militärischen Führung durchschaute man nicht. Dass die Loyalität der Aachener Eliten zum Kaiser nach dem Zusammenbruch bald einer starken Abneigung wich und alles Preußische in der Lokalpresse mit beinahe rassistischen Äußerungen belegt wurde, kann mit der Ablehnung des Systemwechsels, nicht zuletzt aber mit den bitter enttäuschten großen Erwartungen in Aachen begründet werden. Nun kamen urplötzlich wieder alte Ressentiments der Bismarckära zum Vorschein.458 Als Reaktion auf die als antikirchlich empfundene Politik der sozialistischen Berliner Volksbeauftragten konkretisierten sich im Rheinland unter Führung des Kölner Oberbürgermeisters Adenauer Autonomiebestrebungen, die in Aachen in Teilen der Zentrumspartei Unterstützung fanden. Farwicks radikale Pläne zur Gründung einer Westdeutschen Republik liefen sogar auf eine Loslösung des Rheinlandes von Preußen hinaus, stießen aber bei Adenauer und den Aachener Liberalen und linken Zentrumsvertretern auf heftigen Widerstand.459 Bezeichnenderweise regte sich gegen den Anfang November 455 EDG vom 4.11.1918, zit. nach Possehl, Der Regierungsbezirk Aachen vom Kriegsende bis zum Dawes-Abkommen, S. 58 und Anm. 1. Vgl. Metzmacher, Der Novemberumsturz 1918, S. 150, 236; Possehl, Der Regierungsbezirk Aachen vom Kriegsende bis zum DawesAbkommen, S. 57f. 456 Machtan, Die Abdankung, bes. S. 263–292; Gutsche, Ein Kaiser im Exil, S. 12–27. Zum Zusammenbruch Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 146–150. Am 9. November 1918 bildete sich in Aachen wie anderswo ein Arbeiter- und Soldatenrat. Vgl. Poll, Geschichte Aachens in Daten, S. 297; Metzmacher, Der Novemberumsturz 1918, bes. S. 236–242; ders., Arbeiter- und Soldatenrat in Aachen. 457 Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands, S. 119. 458 Eintrag des katholischen Feldgeistlichen im Großen Hauptquartier, Berg, in seinen Kriegstagebüchern vom 16.12.1918 über ein Gespräch mit dem Redakteur des Echo der Gegenwart, Weyers, bei Betker/Kriele, Pro Fide et Patria, S. 835; ‚Ostelbien ist tot! Es lebe Ostelbienދ, Volksfreund vom 11.12.1918, wo etwa von der „slavisch-asiatischen Tyrannis“ aus Berlin die Rede ist. Zur Interpretation Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 111. 459 Stieve, Die ‚Rheinische Bewegungދ, S. 547f.; Haude, ‚Kaiseridee ދoder ‚Schicksalsgemeinschaftދ, S. 113f.; Pabst, Probleme einer Geschichte der Stadt Aachen während der Weimarer
7.4 Transformation des kulturellen Kapitals
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1918 unter maßgeblicher Beteiligung von Soldaten der Aachener Garnison ins Leben gerufenen Arbeiter- und Soldatenrat von Seiten der lokalen Vertreter des alten Systems keinerlei Widerstand. Die bis dahin führenden bürgerlichen Kräfte Aachens verschwanden vorübergehend „in der Versenkung“460. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie und der Errichtung der Weimarer Demokratie meldeten sie erst mit der Niederschlagung der Arbeiterrevolte und des Separatistenputsches 1923 endgültigen Vollzug bei der Rückeroberung ihrer alten Herrschaft. Als die bürgerliche Presse Aachens einmütig die bei der Überwindung von Putsch und sozialistischem Chaos bewiesene Treue zum Reich als „goldenes Ruhmesblatt“461 der alten Kaiserstadt und Zeugnis von „Heldenmut und Opfergeist“462 feierte, waren die Herrschaftsverhältnisse nicht nur semantisch wiederhergestellt. 7.4 DIE TRANSFORMATION DES KULTURELLEN KAPITALS DER STADT IN DAS SYMBOLISCHE KAPITAL DES NATIONALEN FÜHRERKAISERS 7.4 Transformation des kulturellen Kapitals Die bürgerlichen Eliten Aachens wurden nach 1890 zu verlässlichen Trägern der von Wilhelm II. verkörperten nationalen Monarchie charismatischer Prägung. Die Akzeptanz der Königsherrschaft reichte bis weit in das Kleinbürgertum und die Arbeiterschaft hinein. Der Hauptgrund dafür liegt in der Entfaltung der nationalen Monarchie als klassenübergreifende illusio des Herrschaftsfeldes. Indem sich der Kaiser an die Spitze der Nation stellte und sich, massenmedial inszeniert, als charismatischer Führer präsentierte, gelang es ihm, sein symbolisches Kapital auf dem Herrschaftsfeld massiv zu vermehren. Insofern beruhten die Autorität der Monarchie und die Anerkennung der Beherrschten im Kern auf der Projektion einer Traumwelt, die in krassem Gegensatz zu den tatsächlichen Leistungen des Monarchen stand.463 Die Aachener Katholiken gewann er mit seiner auf Versöhnung gerichteten Religions- und Kulturpolitik als Unterstützer. Dies geschah, wie am Beispiel Aachens dargestellt. Damit konnte der Kaiser die im 19. Jahrhundert aufgetretenen Friktionen weitgehend beseitigen.464 Bis zur Kriegsniederlage 1918 wurde die doxa des Feldes, der Fortbestand der Monarchie, bestenfalls von einer radikalen Minderheit in Frage gestellt. Die politischen Akteure, einschließlich der Sozialdemokratie, hielten an ihr nicht nur unbeirrt fest, sondern trugen selbst zur Charismatisierung des Kaisers bei. Zwischen 1890 und 1918 gelang es den Aachener Eliten, das objektivierte kulturelle Kapital in der Stadt um ein Vielfaches zu vermehren und als symboli-
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Republik, S. 598f.; Possehl, Der Regierungsbezirk Aachen vom Kriegsende bis zum DawesAbkommen, S. 99ff.; Morsey, Die Rheinlande, Preußen und das Reich , S. 183ff. Zit. Metzmacher, Der Novemberumsturz 1918, S. 264. Vgl. ebd., S. 236–242, 264f.; Possehl, Der Regierungsbezirk Aachen vom Kriegsende bis zum Dawes-Abkommen, S. 60. Vgl. für die Arbeiter- und Soldatenräte im Reich auch Wirsching, Die Weimarer Republik, S. 2f. Zit. nach Hermanns, Stadt in Ketten, S. 265. Zit. nach Ebd. Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand, S. 240. Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 41–43.
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7 Mediale Charismatisierung
sches Kapital auf dem Feld der Herrschaft zur Geltung zu bringen. Das kulturelle Kapital bezog seinen Spielwert durch die symbolpolitische Ausrichtung auf die Hohenzollernmonarchie und die Reich und Nation verkörpernde Person Wilhelms II. Der Kaiser bekundete mit der kontinuierlichen finanziellen Förderung und Überwachung der Restaurierungsmaßnahmen an Rathaus und Münster sein Interesse an der Aufwertung Aachens zu einem historisch-ideellen Zentrum der Monarchie. Die kulturellen Artefakte und Vergemeinschaftungsformen des lokalen Raumes wurden symbolpolitisch an den Kaiserkult angepasst oder neu geschaffen. Die Symbolfigur Karls des Großen wurde dabei aus dem engen städtischkatholischen Zusammenhang gelöst und als städtisch-nationale Ikone auf den Heldenkaiser Wilhelm II. projiziert. Dazu brachte der lokale Klerus sein religiöses und kulturelles Kapital ein, das er mithilfe der preußischen Könige im 19. Jahrhundert akkumuliert hatte und das von Wilhelm II. durch Stiftungen weiter vermehrt worden war. Durch ihre symbolpolitische Annäherung an die nationale Monarchie wurde das Stiftskapitel wieder zu einem starken Akteur auf dem Herrschaftsfeld. Die Kaiserbesuche verliehen der Herrschaft des Hohenzollern im lokalen Raum durch die auf ihn zugeschnittene Aachener Karls- und Königstradition eine erneuerte charismatische und traditionale Legitimation. Die Traditionsanbindung konnte Aachen nur als Wertezentrum der Nation gewähren, als das es nach 1840 schrittweise neu erfunden und nach 1890 anerkannt worden war. Der Kaiserbesuch von 1902 bereitete mit der konfessionellen Aussöhnung und geschichtspolitischen Analogien entscheidend den Weg. Die nationalistische und militaristische Aufladung der Symbolsprache, wie sie im Aachener Kaiserbesuch von 1911 und in der lokalen Festkultur vor dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck kam, machte den Kaiser endgültig zum lokalen Garanten der Nation und ihrer Ehre. Die Konstruktion Wilhelms II. als nationaler, charismatischer Führerkaiser465, ermöglichte den Aachenern die erfolgreiche Transformation ihres akkumulierten kulturellen Kapitals in eigenes politisches und symbolisches Kapital. Der Treuediskurs der politischen Eliten Aachens entsprach in wilhelminischer Zeit nicht mehr dem ständischen, stadtbürgerlichen Habitus, der die Bürger der ehemaligen Reichs- und Krönungsstadt Aachen ausgezeichnet hatte, und der bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nachwirkte. Vielmehr war dieser Habitus zu dem des nationalbewussten Staatsbürgers geworden. Er ruhte auf bürgerlichen Treueund Ehrkonzepten, die nun auf die Kollektive der Nation und des Staates bezogen wurden.466 Die Katholiken nahmen dieses Angebot zur Integration in die Nation ihrem angepassten Habitus gemäß an. Die nationale Integration bedeutete in der Konsequenz die Aufwertung der lokalen Eliten zu aktiven Unterstützern der Königsherrschaft. Für diese Unterstützungsleistung wurden sie vom Kaiser mit kultu465 Malinowski, Vom König zum Führer, S. 104–117, 134–143, 247–259. 466 Hettling/Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel; Hettling/Hoffmann, Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert; Frevert, Bürgerlichkeit und Ehre; dies., Ehrenmänner; Frevert/Schreiterer, Treue – Ansichten des 19. Jahrhunderts; Mecking, Immer treu; dies., Demokratie – Diktatur – Demokratie; Siegel, High Fidelity – Konfigurationen der Treue um 1900; Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre; Burkhart, Eine Geschichte der Ehre, S. 89–112.
7.4 Transformation des kulturellen Kapitals
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rellem Kapital in Form von Orden und Titeln467, mit dem politischen Kapital der Aufnahme in die nationale Gemeinschaft sowie mit ökonomischem Kapital in Form von Stiftungen und Förderungen belohnt, das wiederum zur Vermehrung des kulturellen Kapitals genutzt wurde. Die lokalen Eliten verstanden es im Zusammenspiel mit dem Kaiser, ihre auf dem Herrschaftsfeld errungene Position durch den Einsatz kulturellen und den Erwerb symbolischen Kapitals erfolgreich zu verteidigen. Sie besaßen durch ihre Kulturhegemonie468, gestärkt durch die vielfältigen Aktivitäten bildungsbürgerlicher Experten, im lokalen Raum die uneingeschränkte Deutungshoheit über die vaterstädtische und nationale Geschichte. Die institutionalisierte Vernetzung, innerhalb derer die Experten agierten, Vereine und städtische Verwaltung, wirkte sich als bedeutendes politisches und soziales Kapital auf den kulturellen und politischen Feldern aus. Auch passten sie ihr Denken und Handeln den herrschaftspolitischen Erfordernissen an und spielten das institutionalisierte kulturelle Kapital akademischer Bildungstitel, von Amtsbezeichnungen und Ordensträgerschaften auf dem Herrschaftsfeld aus. Die neue Rolle der wissenschaftlichen Experten als Herrschaftsträger wird in der Funktion des Stadtarchivars Huyskens als politischer Berater des Aachener Oberbürgermeisters, Verfasser von Zeitungsartikeln und Druckschriften sowie als kaisertreuer und nationalbewusster Redner beim Karlsfest von 1914 greifbar. Mit seinen geschichtspolitischen Deutungen lieferte er der nationalen Monarchie und der im Kampf mit imperialen Konkurrenten befindlichen Nation vor Ort wichtiges symbolisches Kapital zu ihrer Legitimation. Das herrschende Aachener Bürgertum transportierte seine geschichtspolitische Deutungshoheit über die Ikonologie zentraler Bauwerke und Denkmäler, die Lokalpresse und Publizistik und die Festkultur in den öffentlichen Raum. Der bürgerlichen Medienherrschaft stand mit der noch in ihren Anfängen befindlichen Arbeiterpresse eine Opposition gegenüber, die mit Ausnahme des 1902 beim Kaiserbesuch geäußerten, regressiven Sachsenschlächtervorwurfs gegen Karl den Großen kein geschichtspolitisches Gegenkonzept zu bieten hatte und mit ihrer Kritik an den enormen Kosten der Feiern und Denkmäler allein auf die soziale Karte setzte. Angesichts dieser kulturellen Überlegenheit fiel es den starken bürgerlichen Kräften bis 1918 relativ leicht, ihre Rolle als Träger der Monarchie auszubauen. Vom Legitimitätsverfall des monarchischen Obrigkeitsstaates im Ersten Weltkrieg469 war in der Beziehung zwischen den Aachener Eliten und dem Kaiser wenig zu spüren. Die Akkumulation ihres kulturellen und symbolischen Kapitals erreichte erst im Sommer 1918 ihren Höhepunkt, als der Kaiser im benachbarten Spa residierte und Ludwig Berg als persönlicher Vertrauter und Interessenvertreter Aachens Einfluss auf den Kaiser ausüben konnte. Zu keinem Zeitpunkt stimmten die Interessen zwischen dem Kaiser und den Eliten Aachens stärker überein, da sich dieser nun, innenpolitisch bedrängt, auf die Katholiken stützen musste. 467 Zum Wert dieses symbolischen Kapitals auch Stagl, Orden und Ehrenzeichen. 468 Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums, S. 22–25. 469 Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 99–107.
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7 Mediale Charismatisierung
Von beherrschten Reichsfeinden wurden die katholischen Eliten zu profitierenden Herrschaftsunterstützern. Der dritte Aachener Kaiserbesuch im Mai 1918, die geplante Gründung des Bistums, der projektierte Bau des Kaisermuseums und die nach einem siegreichen Kriegsende vorzunehmende Umfunktionierung der Stadt in einen militärisch-kulturellen Brückenkopf zur Verwaltung der auf Kosten Belgiens annektierten Gebiete hätten für Aachen nach dem Krieg eine ungeahnte politische Aufwertung als Subzentrum des Reiches und die Rückgewinnung früherer wirtschaftlicher und kultureller Ressourcen bedeuten können. Die Sonderbeziehung des Kaisers zu Aachen in der Endphase des Weltkrieges und die großen Pläne für die Zukunft stellten eine Belohnung für die guten Dienste dar, die Aachen als symbolpolitisch hochgradig aufgeladener Legitimationsort dem wilhelminischen Kaisertum erwiesen hatte. Zur Erlangung dieses Ziels wollten die politischen Eliten Aachens nach den Kraftanstrengungen der zurückliegenden zwei Jahrzehnte die letzten finanziellen Reserven mobilisieren. Doch hing alles von der auf Messers Schneide stehenden militärischen Offensive im Frühjahr und Sommer 1918 ab, die schließlich desaströs scheiterte. In einer mentalen Gemengelage berechtigter Erwartungen und Endzeitutopien spielten sowohl der Kaiser und die politische Führung des Reiches als auch die Aachener Akteure Vabanque. Da der Ausgang des Spiels allein von der an den militärischen Erfolg gebundenen Aufrechterhaltung der charismatischen Herrschaft des Kaisers abhing, brachen im Herbst 1918 mit der Niederlage und dem Ende der Monarchie zugleich die Aachener Träume wie ein Kartenhaus zusammen. Von diesem Kapitalverlust sollte sich die Stadt trotz später mehrfach bewiesener kultureller Anpassungsfähigkeit an neue Herrschaftssysteme nicht wieder erholen.
8 FAZIT 8.1 DER KÖNIG IM LOKALEN RAUM 8.1 Der König im lokalen Raum Die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit werden im Folgenden unter drei Gesichtspunkten zusammengefasst: 1. die Ergebnisse der mikrogeschichtlichen Analyse des Königtums im lokalen Raum Aachen, 2. Feststellungen zur epochenübergreifenden Entwicklung des Königtums, 3. eine Diskussion der verwendeten kulturwissenschaftlichen und soziologischen Herrschaftstheorien. Die Untersuchung wollte das Verständnis dafür vertiefen, dass Königsherrschaft im lokalen Raum nicht allein durch die Verteilung ökonomischer Ressourcen oder mit den Zwangsmitteln der Zentralgewalt, sondern auch in subtilerer Form, kulturell, realisiert wird. Es sollte sichtbar geworden sein, wie wirkmächtig dies vonstatten geht: wie der König sich im lokalen Raum in Szene setzt und durch Huldigungsrituale legitimieren lässt, wie die Symbole seiner Herrschaft von den Beherrschten aufgenommen und dauerhaft anerkannt werden, anders gesagt, wie die Beherrschten ihr Gehorchenwollen kulturell mehr oder weniger freiwillig in sozialer Praxis implementieren. Kulturelle Realisierung von Königsherrschaft heißt Indienstnahme und Inkorporierung symbolischer, bestimmte Sinn- und Wertvorstellungen repräsentierender Formen für die Legitimation, Repräsentation bzw. Kommunikation von Herrschaft. Diese Funktionalisierung kann entweder zu deren dauerhafter Durchsetzung beitragen oder zu Ablehnung führen. Nicht selten ist die Ausgestaltung der Symbolwelten Gegenstand von Kulturkämpfen und geschichtspolitischen Debatten. Der lokale Raum wird zum Spielfeld der diskursiven Gestaltungskraft und symbolischen Gewalt des Königs und der lokalen Eliten, die danach streben, dem Verwaltungsstab königlicher Herrschaft anzugehören. Äußeres Merkmal der kulturellen Durchsetzung des Königtums im lokalen Raum ist die durch den lokalen Verwaltungsstab vermittelte Annäherung der königlichen und der lokalen Repräsentationsformen von Herrschaft. Hierbei erfolgt eine Verständigung über die Leitprinzipien der Gesellschaft; Legitimitätsglauben wird erzeugt. Diskurse und Symbole offenbaren ihren Machtcharakter und erweisen sich als Indikatoren des politischen Anpassungs- oder Abgrenzungswillens der sozialen Akteure. Die von Herrschenden und Beherrschten in die Welt gesetzten Diskurse und symbolischen Formen manifestieren sich in einer Vielzahl lokaler Vergemeinschaftungsformen und Artefakte: Krönungen, Königsbesuche, kirchliche und säkulare Feste, die Ikonographie städtischer Bauten, Denkmäler, Ausstellungen, Inschriften, lokale Historiographie und Straßennamen. Ein Teil der untersuchten Objekte entstammt dem außeralltäglichen, ein anderer dem alltäglichen Lebensbereich. Außeralltäglich sind Feste und Feiern, alltäglich Bauten und Kunstwerke. Deren Ikonographie unterliegt dem zeitlichen Wandel und schreibt sich mit jedem hinzugefügten oder umgedeuteten Herrschaftsbezug neu in das kulturelle Kapital
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des lokalen Raumes ein. Als spektakuläre, außeralltägliche Vergemeinschaftungsformen besitzen Krönungen, Herrscherbesuche, Nationalfeste und Anniversarfeiern das Potential, zu Erinnerungsorten des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses der Stadt zu werden. Indem ihrer auf Denkmälern, öffentlichen Gebäuden, Straßennamen und Geschichtswerken erinnert wird, perpetuiert sich der außeralltägliche Vorgang des Rituals in den Alltag. Die Rituale wiederum schließen die einmal geschaffenen sinnbeladenen Artefakte des lokalen Raumes in soziale Handlungszusammenhänge und persistente Narrationen ein, von denen manche zu Mythen des lokalen Raumes werden. Klassische verfassungsgeschichtliche Studien zur deutschen MonarchieGeschichte vermögen dieses komplexere Verständnis von Herrschaft nicht zu erfassen, da sie von einem normativen und statischen Verfassungsverständnis ausgehen. Begriffen als historische Erscheinungsform einer Verfassung in actu und mithilfe interdisziplinärer Methoden kann Königsherrschaft als kulturell erzeugte Beziehung der Beherrschten zum König analysiert werden, die die Bindung des Einzelnen und deren Verstetigung aus der Praxis heraus erklärt, d.h. aus der Vielzahl sinnbeladener Handlungen von Akteuren in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der König ist diesem Verständnis nach ein von bestimmten Beherrschten in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit erzeugtes kulturelles Konstrukt. Dies gilt gleichermaßen für charismatisch, traditional und rational-legal legitimierte Königsherrschaft. Aus Gründen der Arbeitseffizienz wurden nicht alle Vergemeinschaftungsformen und Artefakte des lokalen Raumes in die Studie einbezogen, ebenso nicht die königliche Rechtsprechungs- und Verwaltungspraxis, die Polizei, das Fiskalund das Militärwesen, die allesamt dem alltäglichen Bereich von Herrschaft angehören. Der Verzicht auf diese Untersuchungsgegenstände mag zur Einengung des verfassungsgeschichtlichen Gesamtbildes geführt haben, dessen Erzeugung im Sinne einer histoire totale allerdings keineswegs angestrebt wurde. Die entstandene fragmentarische Erzählung stellt eine von vielen plausiblen Verfassungsgeschichten dieses lokalen Raumes und anderer lokaler Räume dar und liefert Ausgangspunkte für vertiefende Studien zu den einzelnen Epochen. Die vorliegende Aachener Verfassungsgeschichte in actu behandelt wandelbare Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die durch das kommunikative Handeln der Akteure hergestellt worden sind. Herrschaftspositionen und Machtkonstellationen werden fortlaufend in den Handlungen sozialer Praxis gewonnen, erneuert, verloren, gefestigt, geschwächt, akzeptiert oder bestritten. Königsherrschaft, die bis ins 20. Jahrhundert hinein die europäische und deutsche Kultur prägende Herrschaftsform, dient letztlich nur als historiographisches Fallbeispiel. Die gewonnenen Ergebnisse lassen sich, so ist zu vermuten, prinzipiell auf andere Herrschaftsformen übertragen. Das durch Kulturgeschichtsforschung und Soziologie geschärfte Verständnis der Vergemeinschaftungsformen und Artefakte als handlungssteuernde Elemente der sozialen Interaktion von Herrschern und Beherrschten dürfte noch weitergehende Einsichten in die Funktionsweise gelebter Herrschaft ermöglichen, wenn Phänomene wie individuelle und
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kollektive Erinnerung, Gruppenverhalten, Massenkommunikation und moderne Politikstile einbezogen werden. Die Arbeit hat Königsherrschaft mithilfe der mikrogeschichtlichen Methode in ihrer verdichteten Realisierung im lokalen Raum untersucht, so wie sie von den sozialen Akteuren in der Praxis gestaltet wurde. Aachen spielte mit seiner Karlsund Krönungstradition eine Schlüsselrolle in der Geschichte des fränkischen und deutschen Königtums und war ein Erinnerungsort der deutschen Nation. In den Vergemeinschaftungsformen und Artefakten dieses städtischen Raumes manifestierte sich das Selbstbewusstsein des als Königsherrschaft organisierten politischen Verbandes. Deutlich wurde eine Tendenz zur Sakralisierung der Herrschaft und deren Ausstattung mit Tradition, man könnte auch sagen: mythisch überhöhter Herkunft. Gleichwohl war Aachen nur ein Raum unter vielen lokalen Räumen, in denen Königsherrschaft in Mittelalter und Neuzeit kulturell realisiert wurde. Die jahrhundertelange Konkurrenz Aachens mit Städten wie Köln, Nürnberg und Frankfurt hat diesen Aspekt, der eine eigene vergleichende Untersuchung verdient hätte, mehrfach angedeutet. Gleiches gilt für die Spannung zwischen Herrschaftszentrum und Peripherie, zwischen gefühlter und tatsächlicher Bedeutung, die sich im Fall Aachen im langen Prozess der Provinzialisierung als prägend erweist: von der Residenz Karls des Großen zur Reichs- und Krönungsstadt zum regionalen Verwaltungszentrum in französischer und preußischer Zeit. Der Blick auf die Königsherrschaft im lokalen Raum Aachen schließt damit das Verhältnis zu den jeweiligen Metropolen Wien, Paris und Berlin ein. Jeder lokale Raum produziert in einer bestimmten Zeit ein bestimmtes Bild des Königs und mit diesem verbundene Narrationen, jeder eignet Königsherrschaft gemäß seiner spezifischen Ressourcen bzw. Kapitalien an. Der lokale König bildet nicht den König selbst oder einen andernorts konstruierten König ab, wenngleich das lokale Bild des Königs in gewisser Weise ein Verdichtungsprodukt der makrohistorischen Entwicklungen des Königtums ist: ob nun des heiligen Königs, des nationalen Führerkönigs oder des ungeliebten, fernen Königs. Umgekehrt bedient sich ein König entsprechend seiner Herrschaftsbedürfnisse der Kapitalien jedes einzelnen Raums zur Festigung seiner Macht. Geglückte Aneignungen des lokalen Raums Aachen (Karl der Große, Wilhelm II.) zeigen dies ebenso nachdrücklich auf wie stark wandelbare (Napoleon), formalisierte (Wilhelms I.) oder gescheiterte Aneignungen (Friedrich Wilhelm III.). Ebenso wie der lokale Raum sein Königtum erschafft, konstruiert Königsherrschaft lokale Räume ihrer Legitimation und Repräsentation, was gleichermaßen von den am Ort vorhandenen Ressourcen und vom königlichen Legitimationsbedarf abhängt. Unter diesen Bedingungen sind der Ansatz und einzelne Ergebnisse der Arbeit durchaus auf andere Städte übertragbar. Die spezifische Beschaffenheit der überlieferten und herangezogenen Quellenmaterialien des lokalen Raumes Aachen und die als Untersuchungsgegenstand gewählten kulturellen Vergemeinschaftungsformen und Artefakte führten zu einer Fokussierung der Perspektive auf die Beziehung der stadtbürgerlichen und klerikalen Eliten des lokalen Raums zum Königtum, während die Mittel- und Unterschichten weitgehend im Hintergrund verblieben. Aufgrund ihrer ritualisierten
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Form sind Feste und Feiern vergleichsweise resistent gegen Störungen und lassen kaum Widerstände gegen die Königsherrschaft im Alltag erkennen, wie sie vielleicht durch eine Untersuchung sozialer Revolten in Aachen deutlich geworden wären. Häufig blenden die erzählenden und normativen Quellen Nichtkonformität, Subversion und Regelverstöße im Ablauf der Festakte aus. Sie verraten wenig über die inneren Bindungen der Beherrschten an das Königtum, die aber weder im Mittelpunkt der Untersuchung standen noch unter Heranziehung vermeintlich geeigneterer Quellen exakt bestimmbar gewesen wären. Anders als das überwiegend im Verborgenen bleibende Denken und Fühlen der großen Masse der Beherrschten können mit der Anwendung adäquater kulturwissenschaftlicher und soziologischer Methoden die Normen und Wertordnungen der in der Praxis hervortretenden Akteure in ihrem symbolischen Handeln, wie es sich in den kulturellen Vergemeinschaftungsformen und Artefakten manifestiert, entschlüsselt werden. Zeitweise gingen die lokalen Eliten mit dem Königtum eine gleichsam symbiotische Beziehung ein, ohne die eigenen Interessen aus dem Auge zu verlieren. Dies zeigt sich deutlich bei der königlichen Privilegierung der Reichsstadt und beim reziproken Kapitalaustausch anlässlich der Aachener Krönungen. Auch die Ikonographie der öffentlichen Bauten und die Feste im Raum der Stadt spiegeln diese Beziehung der lokalen Eliten zum Königtum in einzelnen Zeitphasen wider. In ihrer Relation zum Königtum waren die Aachener Patrizier und Stiftskleriker beherrschte Herrschende. Im Folgenden sollen nochmals systematisch für jede einzelne Epoche die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst werden, auch um weitere Aspekte der Realisierung von Königsherrschaft im lokalen Raum zu beleuchten. Dass Königsherrschaft in actu als dynamische, spannungsgeladene Interaktion zwischen konkurrierenden Akteuren aufzufassen ist, zeigt bereits der Blick auf Karl den Großen, dessen Herrschaft innerhalb der Kriegergesellschaft des frühen Mittelalters der gewaltsamen Infragestellung durch adlige Konkurrenten ausgesetzt war, die mit der direkten Verteilung von Kriegsbeute und Landgütern nicht gänzlich eingedämmt werden konnte. Karl der Große erweiterte dieses traditionelle fränkische Herrschaftsinstrument durch den Aufbau von Klientelstrukturen. Die Vergabe königsnaher Ämter und Güter an die Gefolgschaft wurde systematisiert. Die materielle Zufriedenstellung des Adels und des höfischen Gefolges erhielt mit der Vergabe prestigeträchtiger Hofämter ihre Ergänzung durch die Erzeugung symbolischen Kapitals gegenseitiger Anerkennung. Gabenpraxis und charismatische Erhöhung der eigenen Person brachten dem König die Treue und Gefolgschaft des zur Unzufriedenheit neigenden fränkischen Adels ein, aus dem die gefährlichsten Konkurrenten des Königtums erwuchsen. Aus der Sicht Karls musste es darum gehen, die als problematisches Erbe auf ihn gekommene Usurpation der Königsherrschaft durch seinen Vater Pippin zu verschleiern. Eine gewisse Stabilisierung seiner latent gefährdeten Stellung als charismatischer Herrscher gelang ihm mit der Vermehrung seines genuinen Charismas durch militärische Erfolge und Eroberungen. Nicht minder wichtig waren aber die hierokratische Überhöhung seines Königtums und die Stilisierung zum biblischen Priesterkönig durch
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den Hofkreis, dessen gelehrte Mitglieder ihm religiöses und kulturelles Kapital verschafften. Unter Einsatz der auf die schmale fränkische Elite begrenzten Schriftöffentlichkeit wurde dieses Kapital in symbolisches Kapital verwandelt, da es die kulturelle Überlegenheit des Königs verdeutlichte. Der umfangreiche Reliquienerwerb Karls des Großen bedeutete die Vermehrung religiösen Kapitals und dessen Umwandlung in das symbolische Kapital des Ansehens als gottesfürchtiger Herrscher, das in der christlichen Gesellschaft des Mittelalters äußerst wirksam war. Die aus dem Hofkreis Karls hervorgehende Literatur der Karolingerzeit verlieh diesem Herrscherbild seine ethische und theologische Fundierung, was die Rolle des Frankenkönigs als Zeremonienmeister des Herrschaftsfeldes, der dessen Regeln kreiert, aufzeigt. Die mithilfe der Hofgeistlichen und Hofgelehrten bewerkstelligte Aneignung religiös-kulturellen Kapitals hob den Frankenkönig entscheidend über den Kreis der adligen Konkurrenten, dem er entstammte, empor. Mit der Palastschule trug Aachen wesentlich zur geistigen Bewegung der karolingischen Renaissance bei, der eine stabilisierende Funktion für die Königsherrschaft Karls des Großen zugesprochen werden kann. Karl der Große strebte ebenfalls danach, seine charismatische Herrschaft durch Anbindung an römische und germanische Traditionen und durch Legalisierung, die Huldigungseide der Beherrschten, zu verstetigen. Mit dem langobardischen Königstitel und der römischen Kaiserkrönung erwarb er bedeutendes institutionalisiertes kulturelles Kapital. Der Kaiser konnte damit seine Position auf dem Herrschaftsfeld erfolgreich ausbauen. Doch die traditionale und legale Verstetigung ging nicht zu Lasten der charismatischen Qualität seiner Herrschaft, die wenig von ihrer Ursprünglichkeit einbüßte, wie die Mitkaisererhebung Ludwigs des Frommen 813 verdeutlicht. Die mühsam erreichte Stabilität seiner Herrschaft konnte er allerdings nicht dauerhaft an seinen Sohn weitergeben. Der lokale Raum Aachen verdankte seine Jahrhunderte währende Funktion als materialisiertes Charisma und Tradition spendender Ort der symbolischen Aufladung durch Karl den Großen. Dieser schuf gleichsam den ersten Kapitalstock, von dem alle folgenden Akteure auf dem Feld der Königsherrschaft profitierten. Aachen wurde unter Karl zum Herrschaftsmittelpunkt und Repräsentationszentrum des Frankenreiches. Der Frankenkaiser ließ die prächtige Marienkirche und die riesige Palastaula der Pfalz errichten. Durch Kirchengründung, Reliquienschenkungen, monumentale Steinbauten, Denkmäler, technische Wunderwerke und Kuriositäten machte er die Aachener Residenz zum vornehmsten Sitz und heiligen Ort seines Reiches, der seine persönliche Superiorität und Unantastbarkeit widerspiegelte. Das bedeutendste religiös-kulturelle Kapital Aachens waren der in der Marienkirche errichtete Thron und das Grab mit dem Leichnam Karls des Großen. Die Aneignung des Leichnams einer herausragenden Persönlichkeit ermöglicht die Sinnfindung, Identitätsbildung und Herrschaftslegitimation Einzelner ebenso wie die ganzer sozialer Gruppen. Das biologische Urkapital des Leichnams Karls des Großen wurde in religiöses, politisch-soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital transferiert. Die verehrende Erinnerung und mythische Überhöhung Karls als heldenhafter Gründer des Reiches, Heiliger und Ahnherr von Herrscherdynas-
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tien begründete die Aachener Krönungstradition. Karls- und Krönungstradition waren im Mittelalter fest miteinander verbunden. Mittelalterliche Königsherrschaft konnte nur durch die Übertragung materialisierten Charismas am rechten Ort, mit der Krönung in der Marienkirche Karls des Großen in Aachen, als rechtmäßige Königsherrschaft Anerkennung finden. Die objektivierte Übertragung des göttlichen Charismas und des Heldencharismas Karls auf den neuen König erfolgte durch das als magischen Akt aufzufassende Betreten der Krönungskirche, das rituell durch den Einzug des Königs und seines Gefolges in die Stadt vorbereitet wurde, anschließend durch Salbung, Investitur und Thronsetzung, die zentralen Elemente des Krönungszeremoniells. Die Königsherrschaft des Mittelalters erfuhr durch die an den lokalen Raum Aachen gebundene, physische Aneignung heiliger Objekte ihre Charismatisierung. Diese Aneignung religiösen Kapitals begründete den Vorrang des Königs gegenüber den konkurrierenden Herrschaftsansprüchen der Reichsfürsten. Der fortbestehende Legitimierungsdruck erklärt die noch weitergehende Rangerhöhung des römisch-deutschen Königs als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, die im Mittelalter an die nur vom Papst und in Rom zu empfangende Kaiserkrönung gebunden war. Das Königtum neigte wie das Kaisertum seit dem Hochmittelalter zunehmend zur Traditionalisierung und Legalisierung, was das königliche Charisma in ein dauerhaftes Amtscharisma verwandelte und von der Person löste. Maßgebliches Zeugnis dieses Prozesses ist die von den Kurfürsten sanktionierte Festschreibung des Aachener Krönungsortes in der Goldenen Bulle Karls IV. von 1356. Die Bindung der Reichs- und Krönungsstadt Aachen an den König war maßgeblich vom erfolgreichen Legitimations- und Repräsentationsakt der Krönung und von der daran gekoppelten Erneuerung der reichsstädtischen Privilegien abhängig. Im Transfer von herrscherlichem Schutz und Schirm für die Treue der Reichs- und Krönungsstadt erweist sich Königsherrschaft im lokalen Raum als Gabentausch zwischen Herrscher und Beherrschten, der sich nur oberflächlich in wechselseitigen materiellen Geschenken ausdrückte. Die Krönungen waren Orte des reziproken Transfers symbolischen Kapitals: Als Gegenleistung für die im Krönungszeremoniell erfolgte Übertragung des Charismas des heiligen Karl erhob Barbarossa Aachen zum Haupt des Reiches und Haupt der Städte, ein Ehrenvorrang, der von den nachfolgenden Kaisern bis zum Ende des Alten Reiches zusammen mit den Privilegien mehrfach erneuert wurde. Darüber hinaus trug das Krönungszeremoniell durch seine symbolischen Einzelakte zur Verinnerlichung der sozialen Distinktion bei, die die ständische Gesellschaft des Mittelalters kennzeichnete und den Vorrang des Adels, der geistlichen und städtischen Eliten in Abgrenzung von der Masse der Beherrschten sichtbar machte. Wie zentral die Vergabe des symbolischen Kapitals der Ehre für die Sichtbarmachung und Aufrechterhaltung der mittelalterlichen Herrschaftsordnung war, beleuchten die Ritterschläge und die inneradligen Rangstreitigkeiten bei der Ordnung des Krönungszuges und beim Krönungsmahl ebenso wie die Streitigkeiten der Reichsstädte Aachen und Köln um den Vorsitz im spätmittelalterlichen Reichstag. Das Verblassen charismatischer Königsherrschaft und der Wechsel des Krönungsortes von Aachen nach Frankfurt führten in der Frühen Neuzeit zu einer
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weitgehenden Distanzierung des Königs vom lokalen Raum. Der König war zwischen 1562 und 1792 nicht mehr persönlich in Aachen präsent, sein Glanz fiel nicht mehr auf die Stadt. Das symbolische Kapital Aachens war wegen der Imitation der Karls- und Krönungstradition in Frankfurt einerseits nicht mehr zwingend erforderlich, andererseits wurde es, auf die bei den Krönungen benötigten drei Aachener Reichskleinodien reduziert, portabel. Die wesentliche strukturelle Ursache für diesen Wandel war die sich seit dem Spätmittelalter herausbildende rational-legale Fundierung königlicher Herrschaftslegitimation durch das Reichsrecht der Goldenen Bulle und die verfassungsähnlich fixierten Wahlkapitulationen, die der König mit den Kurfürsten mühsam aushandeln musste. Die Rationalisierungstendenz frühneuzeitlicher Herrschaft kommt in der schon länger eingetretenen Priorität der Frankfurter Wahl gegenüber der Aachener Krönung zum Ausdruck. Der Karlskult verlor seit dem 16. Jahrhundert an Strahlkraft und wurde zu einer lokalen Angelegenheit ohne Bezug zur traditionalen Legitimation des Königs. Mit der Portabilität der heiligen Objekte und des stark reduzierten Karlskults von Aachen nach Frankfurt konnte das Königtum seine Bindung an den rechten Ort der Krönung ohne jegliche Einbuße an Legitimität aufgeben. Die Regeln des Herrschaftsfeldes hatten sich durch den Paradigmenwechsel, den der Beginn der Neuzeit nach sich zog, in mancherlei Hinsicht gewandelt. Wichtiger wurden die regelmäßige Erneuerung der reichsstädtischen Privilegien und die Vertretung der Stadt auf den Reichstagen. An Bedeutung gewannen ebenfalls zwangsläufig die rechtlichen und administrativen Beziehungen Aachens zu den königlichen Machtzentren im Reich. Verwiesen sei nur auf die wachsende Bedeutung des Reichshofrates in Wien als Schiedsrichter innerstädtischer Konflikte. Die gelockerte Bindung der Reichsstadt zum Königtum führte zu einer Stärkung der städtischen Autonomie, die sich wiederum in der fortschreitenden Lokalisierung des Karlskultes äußerte. Um das verbliebene kulturelle und symbolische Kapital der Reichsstadt kam es zu heftigen Kämpfen zwischen der Stadtgemeinde und dem Marienstift sowie zwischen Aachen und konkurrierenden Reichsstädten. Der schon länger schwelende Sessionsstreit mit Köln in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts wurde von den Magistraten beider Städte mit historischen und juristischen Argumenten ausgefochten, an erster Stelle mit dem Ehrenvorrang Aachens als Haupt und Sitz des Reiches. Die miteinander um die innerstädtische Herrschaft ringenden lokalen Akteure, Magistrat und Marienstift, konkurrierten um die Vermittlung der Königsherrschaft in Gestalt der kulturellen Erinnerung an Karl den Großen und die Krönungen. Das seit dem 15. Jahrhundert in heftigen Konflikten durchgesetzte Konkustodienrecht der Stadtgemeinde an den Heiligtümern des Stiftes, also auch an den drei Aachener Reichskleinodien und den Karlsreliquiaren, deutete die Einbußen des lokalen Klerus auf dem Herrschaftsfeld frühzeitig an. Der Verlust der Krönungen nahm den Stiftskanonikern die wichtigste Bühne ihrer Repräsentation auf dem Feld der Königsherrschaft, da ihr Erwerb symbolischen Kapitals von allen Akteuren am meisten an die Präsenz im lokalen Raum, insbesondere an die Rolle als Gastgeber des Königs in der Krönungskirche, gebunden war. Den Stadtbürgern gelang hingegen nach dem Verlust der Krönungen am schnellsten die durch den Wandel nötig gewordene kulturelle
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Neuerfindung, indem sie sich der neuen Medien der Zeit, insbesondere des Buchdrucks, bemächtigten, wie anhand der lokalen Geschichtsschreibung verdeutlicht wurde, die der Stadtgemeinde ihre eigene Herkunftslegende in die Hand gab. Die vorübergehend protestantisch regierte, dann katholische Stadtgemeinde kommunizierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Treue und besondere Beziehung zu Kaiserhaus und Reich, um mit möglichst pompösen Inszenierungen, Ausschmückungen, Inschriften und Feuerwerken die neue Krönungsstadt Frankfurt und alle anderen Städte des Reiches zu übertreffen. Indem das Stadtbürgertum Aachens neue Teilöffentlichkeiten wie den Reichstag erschloss, weitete es seine Kommunikation auf dem Feld der Königsherrschaft über den engeren Raum der Stadt hinaus aus. Der neue Freiraum wurde von den stadtbürgerlichen Akteuren und den sie unterstützenden Experten erfolgreich genutzt, um den lokalen Klerus als zuvor nach außen dominierenden Vertreter der Stadt zu überflügeln. Der Kampf mit anderen Reichsstädten um das symbolische Kapital der städtischen Ehre sollte offenbar die Gesamteinbußen der Aachener Akteure auf dem Herrschaftsfeld der Frühen Neuzeit kompensieren helfen. Die zentralen Gebäude und Plätze Aachens spiegeln in der Aneignung der Symbole königlicher Herrschaft den Kampf der konkurrierenden lokalen Akteure, Stadtgemeinde und Stift, um den symbolischen Vorrang bei der innerstädtischen Vertretung der Königsherrschaft wider. Das gotische Aachener Rathaus mit seinen prächtigen Königsfiguren an der Marktfassade kann als Medium der Herrschaftskommunikation des patrizischen Stadtadels verstanden werden, als Visualisierung des Stolzes auf Wohlstand und Macht, der Treue zu Kaiser und Reich und der bestehenden politischen und sozialen Ordnung. Durch Inschriften an öffentlichen Bauten verbreitete der Magistrat offensiv den Anspruch Aachens als Haupt und Sitz des Reiches. Das Stiftskapitel machte demgegenüber durch die ikonographische Ausstattung der Marienkirche ebenfalls seine besondere Verbundenheit und Treue zu Kaiser und Reich sowie speziell zum katholischen Habsburgerhaus deutlich, während es die Krönungstradition nahezu vollständig aufgab. Das Stiftskapitel hatte mittlerweile seinen kulturellen Vorsprung innerhalb der Stadt eingebüßt. Die Dezentralisierung und allgemeine Veränderung der Kommunikation von Königsherrschaft durch die Verwendung neuer Medien wie des Buchdrucks weist auf die vermehrte politische und kulturelle Partizipation von Akteuren der bürgerlichen Mittelschicht auf dem Herrschaftsfeld der Stadt hin. Ende des 18. Jahrhunderts spielten der Aachener Karlskult und die Krönungstradition kaum noch eine Rolle bei der symbolischen Kommunikation der Königsherrschaft im lokalen Raum, wie sie in den kulturellen Vergemeinschaftungsformen und Artefakten zum Ausdruck kam. Eine tiefe Zäsur bildete die Eingliederung Aachens in den französischen Staat Ende des 18. Jahrhunderts. Mit dem Staatsstreich Napoleons entstand eine neuartige Form monarchischer Herrschaft: der mit plebiszitären Elementen versetzte konstitutionelle Cäsarismus, Produkt der Revolution von 1789, die Gesellschaft, Politik und Religion voneinander getrennt und die Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit entscheidend vorangetrieben hatte. Um das durch Usurpation erlangte Kaisertum und die nachfolgende Expansionspolitik auch traditional zu
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legitimieren, griff Napoleon schöpferisch auf Vorbilder einer mythischen Vorzeit zurück, mit denen er sich von den gestürzten Bourbonen und potentiellen Konkurrenten abzuheben hoffte: zunächst auf die römischen Kaiser, dann auf Chlodwig und Karl den Großen. Die Rückkehr zur Monarchie, das Konkordat und die Wiederbelebung des Karlskultes schlugen in Frankreich und im linksrheinischen Deutschland vorübergehend eine Brücke zu den traditionellen Eliten in Adel, Bürgertum und Klerus. Das durch die revolutionäre Besatzung stark verminderte religiös-kulturelle, politische und symbolische Kapital des lokalen Raums wurde von Napoleon wieder aufgestockt. Wichtige Objekte des lokalen Karlskults aus dem Besitz des Marienstifts und der Stadtgemeinde waren vor 1800 als Kunstgüter nach Paris abtransportiert worden und wurde nun wieder nach Aachen zurückgebracht. Die an den Kaiserhof in Wien überführten drei Aachener Reichskleinodien aber waren auf Dauer verloren. Die charismatische Herrschaft des Franzosenkaisers und deren starker Bedarf nach neuem Charisma und Tradition eröffnete den Aachener Akteuren zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Chance, ihre Rolle als Legitimationslieferanten der Königsherrschaft neu zu definieren. Die Einbindung des Karlskultes in den imperialen Staatskult war für Aachen geradezu ein Glücksfall. Der um Karl den Großen zentrierte Personenkult Napoleons brachte vaterstädtische Haltung, Loyalität zum Kaiser und Staatstreue der lokalen Helfereliten zeitweise miteinander in Einklang, erforderte aber die anpassende Überschreibung von Teilen des alten reichsstädtischen Symbolsystems. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches und der Abdankung Franz’ II. 1806 besaßen die in Wien befindlichen Reichskleinodien keinen Spielwert auf dem Herrschaftsfeld mehr, da Napoleon nicht das Kaisertum des Alten Reiches anstrebte. Die Rückgabeforderungen des Aachener Stadtarchivars Karl Franz Meyer konnten deshalb keinen Kapitalgewinn mehr nach sich ziehen und wurden vom Kaiser und der französischen Verwaltung nicht unterstützt. Weit mehr als das Stiftskapitel verstand es der neue Aachener Bischof Berdolet, das rückerstattete religiöse und objektivierte kulturelle Kapital des Aachener Klerus dem napoleonischen Karlskult dienstbar zu machen, wie die Neuschöpfung der Grabplatte Karls des Großen und die Wiederbelebung des Karlsfestes anzeigen. Im charismatischen und plebiszitären Wesenszug des napoleonischen Cäsarismus äußerte sich die neue Bedeutung inszenierter und medial vermittelter Selbstdarstellung als Kennzeichen politischen Handelns in der Moderne. Auf die beginnende Ausdifferenzierung eines autonomen politischen Feldes weisen die rationale Konzeptionalisierung der Herrschaftspraxis des Kaisers im linksrheinischen Gebiet, die öffentlichen Reden der Herrschaftsträger bei Festakten, das Einwirken des Staates auf die lokale Festkultur und die zunehmende Vielgestaltigkeit der Medien hin. Der politische Karlskult nahm hier seinen Anfang. Die am Profit orientierte rationale Logik des Feldes napoleonischer Herrschaft ermöglichte einzelnen Akteuren einen bemerkenswerten politischen und sozialen Aufstieg. Die napoleonische Königsherrschaft war jedoch zu sehr auf kurzfristige Profitmöglichkeiten bedacht und brach folgerichtig auch in Aachen schrittweise zusammen.
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Der Übergang an Preußen 1815 brachte für Aachen eine weitere harte Zäsur, eine Restauration des älteren Monarchietypus, die zugleich reaktionär und revolutionär wirkte. Eine Wiederbelebung des Alten Reiches kam für Preußen und die auf dem Wiener Kongress vertretenen Mächte wie auch für die Staaten des Deutschen Bundes nicht in Frage. Damit war die Funktionalisierung der verbliebenen reichsstädtischen Symbole für die neue Königsherrschaft im lokalen Raum zunächst obsolet. Die Erinnerungen an Karl den Großen und das mittelalterliche Kaisertum wurden in das Reich der politisch-sozialen Utopie verschoben. Die Ikonographie der Karlsfresken Alfred Rethels im Aachener Rathaus macht dies vor dem Hintergrund der Revolution von 1848 besonders deutlich. Der preußische König blieb in Aachen zunächst ein fremder Herrscher, wie die sterile Aachener Huldigungsfeier 1815, die gescheiterte Repräsentation Friedrich Wilhelms III. während des Monarchenkongresses 1818 und die Berliner Huldigungsfeier für Friedrich Wilhelm IV. 1840 veranschaulichen. Die Sympathien der Aachener galten 1818 aufgrund der alten Bindungen der ehemaligen Reichsstadt an das katholische Habsburgerhaus unübersehbar nicht dem preußischen König, sondern dem österreichischen Kaiser. 1848 sympathisierte ein großer Teil der Katholiken der Stadt offenkundig mit der großdeutschen Reichsidee und dem österreichischen Reichsverweser Erzherzog Johann. Dass die Annäherung zwischen der Königsherrschaft und den Akteuren im lokalen Raum mehr als ein halbes Jahrhundert in Anspruch nahm, lag auch an wenig charismatischen Herrscherpersönlichkeiten wie Friedrich Wilhelm III., Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I., der im Schatten der überragenden Persönlichkeit Bismarcks stand und noch stark den Traditionen der preußischen Monarchie verpflichtet war, wie seine Königsberger Krönung 1861 aufzeigt. Der König beschränkte sich in dieser Zeit weitgehend auf Planungskontrolle, bürokratische Herrschaft und die finanzielle Förderung der lokalen Eliten und ihrer Projekte, die ihm deren grundsätzliche Anerkennung über alle konfessionellen und kulturellen Spannungen hinweg sicherte. Die Geschichte preußischer Königsherrschaft im lokalen Raum Aachens war gleichwohl über Jahrzehnte hinweg die eines kulturellen Missverständnisses, das die eigentliche Ursache für die schwierige Integration der Aachener Katholiken in den preußischen Staat bildete. Die konfessionellen Auseinandersetzungen der Katholiken mit dem preußischen Staat waren dessen stärkste Äußerungsform. Der katholische Karlskult wurde zur Legitimation der protestantisch geprägten preußischen Königsherrschaft mit ihrem eigenen Verständnis von Gottesgnadentum schlicht nicht gebraucht. Die preußischen Könige brachten ihm nicht allzu viel Verständnis entgegen. Der ultramontane Klerus Aachens dachte ebenfalls nicht daran, sein religiös-kulturelles Kapital auf dem Feld der Königsherrschaft einzubringen. Der Karlskult spulte wieder auf den lokalen katholischen Zusammenhang zurück und brachte nun verstärkt die städtische Autonomie zum Ausdruck. Trotz der Frontstellung der Ultramontanen zur preußischen Regierungspolitik, ließ der lokale Klerus keine Zweifel an der Gottgewolltheit der Monarchie und an seiner Loyalität aufkommen, nicht zuletzt wegen der tiefen Furcht vor einer radikalen Revolution und dem Umsturz der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Die Kanoniker des Stifts gehörten im 19. Jahrhundert unbestritten zur Elite der Stadt, was
8.1 Der König im lokalen Raum
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ihre repräsentative Einbindung in das Programm der Königsbesuche nötig machte. Das Bündnis von Thron und Altar musste im lokalen Raum der katholischen Stadt eindrucksvoll inszeniert werden, um die politische Opposition und alle Formen der Ordnungswidrigkeit niederzuhalten. Indem die preußisch-deutsche Monarchie 1850 und 1871 eine konstitutionelle Basis erhalten hatte, war der Staat als Lieferant rational-legaler Herrschaftslegitimation der mächtigste Stützpfeiler ihrer Fortexistenz. Aufgrund der schweren Konflikte der rheinischen Katholiken und Liberalen mit dem preußischen Staat konnte die Umwandlung des Königs zum staatlichen Verfassungsorgan dessen Anerkennung im lokalen Raum zeitweise beeinträchtigen, worauf das Fehlen der liberalen Politiker bei der Jubel-Huldigungsfeier von 1865 und die Vernachlässigung der Geburtstagsfeiern für den König am städtischen Gymnasium hindeuten. Das kulturelle Kapital Aachens, Münster und Rathaus, Karl der Große und die mittelalterliche Krönungsgeschichte, wurde im 19. Jahrhundert von historisch interessierten, vaterstädtischen und national gesonnenen Bürgern wiederentdeckt. Über die Restauration der Bauten kam es zu heftigen Deutungskämpfen, vor allem zwischen den national-liberalen und katholisch-ultramontanen Fraktionen innerhalb des städtischen Bürgertums, aus denen zunächst Letztere als Sieger hervorgingen. Mit Herfried Münkler können die damit einhergehenden Mythendebatten als Surrogat für die immer noch fehlende politische Partizipation des Bürgertums betrachtet werden.1 Vom Königtum wurden mit der kleindeutschen Reichsgründung ohne eine Kaiserkrönung in Aachen oder Frankfurt und dem expliziten Verzicht Wilhelms I. auf eine neue Kaiserkrone nach dem Vorbild der mittelalterlichen Reichskrone die Wiedererrichtung des Alten Reiches und das Anknüpfen an dessen Tradition nochmals negiert. Damit lag es an den Aachener Katholiken, die kleindeutsche Lösung der nationalen Frage zu akzeptieren und die lokalen Symbolsysteme an das sich der Nation zuwendende preußische Königtum anzupassen. Erst als sich die Katholiken nach den Erschütterungen des Kulturkampfes kulturell wie politisch in den neuen Nationalstaat einzufügen begannen, waren die Voraussetzungen für eine Annäherung der beiden Symbolsysteme und für einen über das Materielle hinausgehenden Kapitaltausch geschaffen. Den Anstoß dazu gab Wilhelm II., der den Katholiken mit seiner auf nationale Sammlung ausgerichteten Religionspolitik die Hand reichte. Die charismatische Herrschaft Wilhelms II. lieferte neue Voraussetzungen für die Akzeptanz des Königs im lokalen Raum. Sie öffnete die mittelalterliche Kaisergeschichte für die charismatische und traditionale Legitimation des nationalen Führerkönigtums. Der Kaiser benutzte den Karlskult zur Charismatisierung und Traditionalisierung seiner in der Reichsverfassung festgeschriebenen, legal legitimierten Königsherrschaft. Der Karlskult konnte nun als Brücke zu den Beherrschten bei der Integration der Aachener in den preußisch-deutschen Staat dienen. Die Vertreter des von der Zentrumspartei dominierten Stadtrates mobilisierten mit Unterstützung des Kaisers erhebliches ökonomisches Kapital, um das für die Anerkennung der Hohenzollernmonarchie im katholischen Aachen benötigte kulturelle Kapital bereit1
Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 18.
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8 Fazit
zustellen. Die Stadt ging dabei über die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten hinaus und opferte am Ende sogar die lokal-katholische Ausrichtung des Karlskultes auf dem Altar ihrer nationalen Aufwertung. Die drei Kaiserbesuche 1902, 1911 und 1918, die Restauration von Münster und Rathaus, die Denkmäler für Wilhelm I. und Friedrich III. oder auch die Kopien der Reichskleinodien können als eindrucksvolle Beispiele für die Schaffung und Investition kulturellen Kapitals zu diesem Zweck bezeichnet werden. Die ikonographische Ausstattung von Münster und Rathaus verrät den Kompromiss zwischen den katholischen und nationalen Symbolsystemen, der Deutungsspielräume für beide Seiten beließ. Die Nationalisierung des Karlskults innerhalb einer nationalistischen und militarisierten lokalen Feierkultur vor dem Ersten Weltkrieg bildet die Anpassung des lokalen Symbolsystems an die Erfordernisse der Spieleinsätze auf dem Feld der Herrschaft ab. Erst 1918 war der lokale Raum Aachens auf dem Höhepunkt seiner kulturellen und symbolischen Aufladung im Wilhelminischen Kaiserreich angekommen. Dem katholischen Bürgertum Aachens war der Aufstieg von den Reichsfeinden der Bismarckära zum politischen und kulturellen Träger der wilhelminischen Königsherrschaft gelungen. Die kulturelle Annäherung zwischen dem Kaiser und seinen Aachener Untertanen hätte sich nach einem siegreichen Ausgang des Weltkrieges mit einiger Sicherheit zugunsten des lokalen Raumes ausgewirkt, wie anhand der letzten Planungen für die Zeit nach dem Krieg aufgezeigt werden konnte. Wegen des jähen Endes der Monarchie als Verfassungsform in Deutschland 1918 zahlte sich die enorme Kapitalaufwendung der lokalen Akteure aber nicht mehr aus. Die unter dem Banner der Nation künstlich geeinten gesellschaftlichen Kräfte brachen mit dem abrupten Ende der Monarchie wieder auseinander. Die politische und soziale Spaltung der Gesellschaft wurde nun offenkundiger denn je. Das zuvor mühsam akkumulierte, ganz auf das Königtum zugeschnittene kulturelle Kapital Aachens verlor mit dem Beginn der Weimarer Republik seinen Wert und war vorübergehend außerstande, den lokalen Akteuren symbolisches Kapital einzubringen. Dies sollte sich Mitte der 1920er Jahre, unter den Bedingungen der alliierten Besetzung des Rheinlandes und der Renaissance nationalistischer Mythen, wieder ändern, die mit ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft an die Stelle der verlorenen Königsherrschaft traten. Aachen vermochte mit seinem religiösen und kulturellen Kapital vorzugsweise einen Charisma und Tradition benötigenden König zu legitimieren. Das von Aachen gestiftete religiöse und kulturelle Kapital, materiell vermitteltes Charisma und historische Tradition, war für eine charismatische Königsherrschaft mit Bedarf an traditionaler Verstetigung, für eine traditionale Königsherrschaft mit Charisma-Bedarf und für eine legale Königsherrschaft mit Bedarf an Charisma und Tradition prädestiniert. Der erste Typus findet sich in all seiner Ursprünglichkeit in der Herrschaft Karls des Großen und Napoleon Bonapartes angelegt, der zweite bei den mittelalterlichen Königen und der dritte bei Wilhelm II. Dieser Befund führt zur Frage nach der langfristigen Entwicklung der Königsherrschaft, wie sie im lokalen Raum untersucht wurde.
8.2 Königsherrschaft im Epochenwandel
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8.2 KÖNIGSHERRSCHAFT IM EPOCHENWANDEL 8.2 Königsherrschaft im Epochenwandel Über Jahrhunderte hinweg betrachtet erscheint Königsherrschaft als eine im Institutionalisierungsprozess verstetigte, verinnerlichte und sich langsam verändernde symbolische Ordnung mit regelnder und normativer Kraft. Sie stellt eine äußerst erfolgreiche und persistente Herrschaftsform dar, die nicht allein prägend für die vormoderne Epoche war, sondern weit in die Moderne hineinreicht. Die Entwicklung der Königsherrschaft über mehrere Epochenschwellen hinweg ist durch eine Reihe grundlegender Merkmale gekennzeichnet: 1. den maßgeblich durch Verrechtlichung bewerkstelligten Übergang von personalen Machtbeziehungen zur Ausbildung der Staatsgewalt, 2. die Heiligung des Königtums durch Sakralität und Tradition in der Vormoderne und die Notwendigkeit ihrer Neudefinition mit der Durchsetzung legal-rationaler Herrschaftslegitimation, 3. die Ausweitung des die Königsherrschaft stützenden Verwaltungsstabes von Hofkreis und Kurfürstenkollegium zu sozialen Großgruppen und kulturellen Experten im Übergang von der vormodernen Ständegesellschaft zur modernen fragmentierten Klassengesellschaft sowie 4. die starke Vermehrung und Veränderung der Formen, Medien und Öffentlichkeiten herrschaftsbezogener Repräsentation und Kommunikation. Die Arbeit begreift die Entwicklung des Königtums vom Karolingerreich des 8. Jahrhunderts bis zu seinem Ende 1918 als Verfassungsgeschichte in actu. Sie verfolgt den langen Weg von der traditionalen Gesellschaft des frühen Mittelalters bis in die Moderne und richtet ihren besonderen Fokus auf einen lokalen Raum, der sich durch eine bemerkenswerte Stabilität in seiner Bedeutung für die charismatische und traditionale Legitimierung des Königtums auszeichnete. Eine wechselvolle Rolle verband Aachen mit dem Königtum, mit Reich und Nation. Selbstverständlich war dieser lokale Raum Modernisierungsschüben unterworfen, in deren Gefolge sich die bestehenden Herrschaftsverhältnisse grundlegend wandelten: So wurden in der Zeit der französischen Herrschaft die reichsstädtischen Strukturen nahezu vollständig beseitigt. Das deutsche Königtum weist mit der mittelalterlichen Entwicklung zur Wahlmonarchie manche Besonderheiten gegenüber den zur Zentralisierung neigenden westeuropäischen Erbmonarchien auf. Seit dem Mittelalter war der deutsche König immer stärker gezwungen, die Macht mit dem konkurrierenden Feudaladel zu teilen. Wie andere Reichsstädte war das von den benachbarten Territorialmächten in seiner Autonomie bedrohte Aachen in diesem Machtspiel ein natürlicher Verbündeter des Königs. Aachen lieferte dem König Charisma, Tradition und Treue und empfing dafür Ehre, Vorrang und Freiheit durch die Bestätigung der städtischen Privilegien. Der reziproke Gabentausch zwischen König und Stadt lag der erfolgreichen Bewahrung der Aachener Krönungstradition von 936 bis 1531 zugrunde. In politischer Hinsicht war das katholische Aachen in der Umbruchszeit zwischen 1789 und 1848 eine Bastion der Restauration, wie der Widerstand gegen die republikanischen Modernisierungsbemühungen während der französischen Besatzung, die Wahl Aachens als Ort des Monarchenkongresses 1818 und die vehemente Ablehnung der radikalen Revolution im katholischen Aachen 1848 verdeutlichen. Die traditionelle Königs- und Vaterlandstreue war
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8 Fazit
nach 1815 das stärkste Pfund der Stadt, um auf der politischen Bühne Beachtung zu finden. In preußischer Zeit garantierte die moderne Kommunalverfassung Autonomie. Die konfessionell und kulturell begründete Distanz zu Preußen und zum Hohenzollernkönig wurde allerdings erst unter dem Dach der geeinten deutschen Nation überwunden. Darüber hinaus darf der Einfluss preußischer Mentalität im rheinischen Verwaltungszentrum Aachen nicht verkannt werden. Die stilbildende Rolle Wilhelms II. und die Militarisierung der lokalen politischen Kultur stehen am Ende dieser Entwicklung. In der Endphase der wilhelminischen Herrschaft geriet die Königsnähe der Aachener Bürger zur Nibelungentreue. Die stabilisierende Funktion Aachens für die deutsche Monarchie ergibt sich aus der Aktualisierbarkeit und Multifunktionalität der lokalen, um Karl den Großen und das Reich zentrierten Herkunftsmythen, die in bestimmten historischen Konstellationen mit den neuen Mythen des deutschen Nationalismus, wie dem Kyffhäuser- bzw. Barbarossamythos, kompatibel gemacht werden konnten. Die Persistenz dreier Faktoren von Verspätung – ein im Kern labiles, politisch kaum modernisierungsfähiges monarchisches System, die Dominanz autoritärer Ordnungsvorstellungen und die um das Reich kreisenden Nationalmythen – kennzeichnen die deutsche Entwicklung, ohne dadurch aber einen Sonderweg zu begründen, der sich aus der bloßen Kontinuität vormoderner Strukturen ableiten würde.2 Die politischen wie sozialen Konflikte und andauernde Kulturkämpfe zwangen den König wie alle Akteure des Herrschaftsfeldes zu Kompensationsbzw. Anpassungsleistungen, die die Mobilisierung aller materiellen und diskursiven Ressourcen erforderten. Der Ablauf dieser Kämpfe in Aachen und die inszenierten Besuche Wilhelms II. in Aachen erweisen deutsche Königsherrschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Manifestation eines reaktionären Modernismus, der die antimodernen, romantischen und irrationalen Ideen des deutschen Nationalismus mit der Mittel-Zweck-Rationalität der modernen Technik aussöhnte.3 Einzelne Ergebnisse der Arbeit könnten wohl auch auf die Königsherrschaft in anderen europäischen Ländern übertragen werden, da gezeigt wurde, wie Könige die Anerkennung ihres Vorrangs realisieren, wie es den einen Akteuren gelingt, durch kulturelle Anpassung stärkere Positionen innerhalb eines Herrschaftssystems zu erobern und wie andere Akteure dabei zurückgedrängt werden. Übertragbar scheinen insbesondere die Beobachtungen zum lokalen Raum. Reims, die alte Metropole und Bischofsstadt der Champagne, etwa kann als ein mit Aachen vergleichbarer lokaler Raum des französischen Königtums und als Erinnerungsort im kulturellen Gedächtnis Frankreichs bezeichnet werden. Um die Reimser Legenden der Taufe Chlodwigs und der Heiligen Ampulle formierte sich im Frühmittelalter der französische Königsmythos, der wesentlich stärker als der Aachener Karlsmythos langfristig fortwirkte und auf die Nation ausstrahlte. Die Durchsetzung von Reims als Salbungsort der französischen Könige gegen konkurrierende Städte im 11. Jahrhundert beruhte im Wesentlichen auf der eminenten 2 3
Zur Sonderwegs-Debatte Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, S. 53–62; Torp/Müller, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel. Herf, Reactionary modernism; Tschacher, HerrschaftsTechnik im lokalen Raum.
8.2 Königsherrschaft im Epochenwandel
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symbolischen Kraft dieser Tradition. Die vom Heiligen Geist bewirkte Salbung verlieh dem König die charismatische Legitimation seiner Herrschaft.4 Der Sacre des Königs von Frankreich in der prächtigen, im 13. Jahrhundert vollendeten gotischen Kathedrale von Reims, dem „Parthénon de la France“5, wie sie genannt wurde, verfestigte sich zur herrschaftsstützenden Tradition. Als eines der drei Zentren der französischen Nationalmonarchie befand sich die heilige Stadt Reims in steter Konkurrenz mit der Thron- und Residenzstadt Paris und der königlichen Nekropole St. Denis. Wie Aachen steht Reims für „das Bündnis von Monarchie und Kirche“6, wie Aachen stieg Reims in der Frühen Neuzeit zur Provinzstadt und zum Ort eines lange Zeit „nahezu bewegungslosen Gedächtnisses“7 ab. Anders als Aachen bewahrte Reims bis weit in die Neuzeit hinein, bis zur Krönung Charles’ X. 1825, den traditionellen Rang als Krönungsort. Reims transportierte die vormoderne charismatische Ausstattung des französischen Königs in eine Epoche, in der beide Städte zu Zentren der Frühindustrialisierung geworden waren. Wie Aachen wurde Reims im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als die Nation einen identitätsstiftenden Ursprungsmythos benötigte, zu einem ihrer kollektiven Erinnerungsorte. In Frankreich richteten sich die revolutionären Bewegungen 1789, 1830 und 1848 mit größerer Durchschlagskraft als in Deutschland gegen die Monarchie, scheiterten aber vorerst an den reaktionären Kräften. Anders als die deutsche nahm die französische Nation bereits 1871 die Gestalt einer Republik an – eine Republik freilich, die seit dem 19. Jahrhundert durch die historisch-politischen Kulturkämpfe der Deux France, des katholisch-royalistischen und des laizistischrepublikanischen Lagers, tief gespalten blieb. Im sozialistisch regierten Reims spielten sich diese Kämpfe um 1900 mit weitaus größerer Vehemenz als in Aachen ab.8 Die anhand der Langzeituntersuchung monarchischer Herrschaft gewonnenen Ergebnisse könnten nicht nur auf andere Länder, sondern auch auf die politischen Systeme späterer Epochen übertragen werden. Ganz offenbar benötigte politische Herrschaft auch nach dem Ende der Monarchie mit symbolischem Kapital und Mythen angereicherte lokale Räume ihrer Legitimation und Repräsentation. Der Tag von Potsdam verlieh der charismatisch fundierten Herrschaft Adolf Hitlers die dringend benötigte traditionale Legitimation in Gestalt des Preußenmythos, spendete diesem wichtiges symbolisches Kapital und erweist die hohe Bedeutung lokaler Räume für die Selbstinszenierung der NS-Diktatur.9 Nach 1945 gelang Aachen der ersehnte Wiederaufstieg zum Legitimationsort einer neuen, transnationalen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung: das Europa der westlichen Demokratien. 4 5 6 7 8 9
Bur, Reims; ders., Reims, ville des sacres; Große, Parallele und Kontrast; Le Goff, Reims, Krönungsstadt. Zit. Reinhardt, La Cathédrale de Reims, S. 1. Zit. Le Goff, Reims, Krönungsstadt, S. 25. Zit. Ebd. Engels, Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik; Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen; Minc/Séguin, Deux France. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 275–284, 477–490.
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8 Fazit
Die Aneignung kulturellen Kapitals, der Streit um Bedeutungen und die Produktion symbolischen Kapitals erscheinen als epochenübergreifende Merkmale der Austragung von Konflikten konkurrierender Akteure auf dem Herrschaftsfeld. Die schleichende Ablösung des Adels durch das Bürgertum als Träger der Königsherrschaft spiegelt sich im Auftreten der Aachener Stadtbürger als Akteure wider, die in zuvor ungekanntem Ausmaß kulturelles Kapital akkumulieren. Den Klerus zeichnet eine bemerkenswerte Persistenz in der Wahrung und Restituierung seines religiösen und kulturellen Kapitals aus. Im Mittelalter war das religiöse Kapital für die Übertragung materialisierten Charismas auf den König unabdingbar. Im 19. Jahrhundert benötigte die Inszenierung königlicher Herrschaft die Verknüpfung mit der Inszenierung der politischen Religion des Nationalismus. Die Reichsmonarchie sollte als von der Gnade Gottes eingesetzt, die Nation, die der König anführte, als von göttlicher Fügung auserwählt erscheinen.10 Die Exklusion bestimmter sozialer Gruppen aus den Festgemeinschaften und die scharfe soziale Distinktion bei der symbolischen Kommunikation stellt ein epochenübergreifendes Phänomen der Königsherrschaft im lokalen Raum dar. Die Unterschichten verfügten über das geringste ökonomische, kulturelle und symbolische Kapital auf dem Herrschaftsfeld und blieben deshalb bei der Mehrzahl der untersuchten Feste im Hintergrund. Erst in wilhelminischer Zeit, mit der beißenden Kritik der Kaiserbesuche in den Arbeiterzeitungen, konnten sie ihr kulturelles Verständnis von Herrschaft im öffentlichen Raum der Stadt artikulieren. Der diachrone Vergleich der Auftritte der Könige in Aachen liefert Anhaltspunkte für die Bedeutung der repräsentativen Vermittlung von Herrschaft. Den pompösen mittelalterlichen Krönungszeremonien und den triumphalen Besuchen Wilhelms II. in Aachen steht die eher schwache Selbstdarstellung Friedrich Wilhelms III. beim Aachener Monarchenkongress gegenüber. Der Vergleich zwischen den beiden Besuchen Napoleons in Aachen 1804 und 1811 lässt den schleichenden Niedergang seiner Herrschaft im lokalen Raum erkennen. Auch der nichtpräsente Herrscher konnte Kapital durch seine inszenierte Verehrung sammeln, wie die Aachener Huldigungsfeiern anlässlich der Frankfurter Krönungen in der Frühen Neuzeit und der Napoleonkult belegen. Der sterile Charakter der Huldigungsfeier von 1815 beruhte nicht vorrangig auf der ohnehin durch das Herrscherporträt auf dem Thron kompensierten Abwesenheit des preußischen Königs, sondern auf der mangelnden Einbindung der Beherrschten und dem Festhalten am veralteten Zeremoniell ständischer Repräsentation. Die Jubel-Huldigungsfeier von 1865 war wenig mehr als eine Summe materieller Tauschakte und eine vom Königshof und den lokalen Eliten gewollte Inszenierung kultureller Gemeinsamkeiten, die es in Wirklichkeit nicht gab. Die um Vergemeinschaftungsformen und Artefakte angelegten Diskurse und symbolischen Ausdrucksformen tragen epochenübergreifend zur Stabilisierung bestehender Statushierarchien und Herrschaftsverhältnisse bei. Zugleich machen sie deren Veränderung und Krisenhaftigkeit sichtbar. Bedeutungen werden in der Neuzeit nicht mehr vorrangig durch symbolische Kommunikation, sondern ver10 Vom Bruch, Kaiser und Bürger, S. 131, 143.
8.2 Königsherrschaft im Epochenwandel
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mehrt durch politische Reden vermittelt. Ereignisgeschichtliche Zäsuren und kulturelle Umbrüche können überkommene Bedeutungen in kürzester Zeit verändern. Sie lassen sich, wie gesehen, den Erfordernissen andersartiger Typen der Königsherrschaft anpassen. Traditionsbestände vergangener Zeiten können einen Platz in der jeweils gegenwärtigen politischen Kultur einnehmen. Sie können aber ebenso vorübergehend oder dauerhaft in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Die mit der Besetzung von Medien und Öffentlichkeiten verbundene Deutungshoheit über symbolische Formen verstärkt die Legitimation der dominanten Akteure im Herrschaftsprozess und verschafft ihnen Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen.11 In epochenübergreifender Perspektive lässt sich eine erhöhte soziale Öffnung, Komplexität und Dynamik der Herrschaftsrepräsentation und kommunikation feststellen. Die Aneignung Aachens als lokalen Raum der kulturellen Realisierung von Königsherrschaft durch Napoleon Bonaparte und Wilhelm II. belegt den keineswegs gesunkene Traditions- und Charismabedarf neuzeitlicher Herrscher. Max Webers Herrschaftstheorie zeigt, wie Charisma, Tradition und Legalität aufgebaut werden und wieder verloren gehen, wie sich diese in ihrer Beschaffenheit verändern und verstetigen. Die Untersuchungsergebnisse weisen auf ein epochenübergreifendes Zusammenspiel charismatischer, traditionaler und rational-legaler Herrschaftslegitimation hin, in dem sich historischer Wandel spiegelt. Der Gedanke an eine Weber ohnehin fremde Meistererzählung des Rationalisierungsprozesses von Herrschaft12 muss mit Blick auf die Bedeutung von Tradition und Charisma für die Legitimation der Königsherrschaft Napoleons und Wilhelms II. im lokalen Raum als abwegig verworfen werden. Der diskursive Verweis auf die ehrwürdige Tradition Aachens als Stadt Karls des Großen und der Krönungen war für die Akzeptanz nicht allein der mittelalterlichen, sondern auch der neuzeitlichen Könige in Aachen unabdingbar. Die massenmediale, technische Reproduktion Wilhelms II. in Presse, Fotographie und Film trug entscheidend zu seinem Aufbau als charismatischer Herrscher bei seinen Aachener Untertanen bei. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird im lokalen Raum Aachens die moderne Form des Herrschercharismas fassbar: das auf dem politischen und journalistischen Feld erzeugte und fortwährend reproduzierte Charisma des Herrschers als Medienstar. Der Einsatz technischer Innovationen bei der monarchischen Herrschaftsrepräsentation und -kommunikation dient eben diesem Zweck, der beim Kaiserbesuch Wilhelms II. in Aachen 1911 überdeutlich zum Ausdruck kam. Im Verhältnis der Aachener Akteure zur Königsherrschaft kam es infolge makrogeschichtlicher Zäsuren mehrfach zu Wandlungsprozessen, wie sich für 1794, 1815 und 1918 aufzeigen lässt. Die Entwicklungsgeschwindigkeit im lokalen Raum blieb insgesamt langsam, weil die innerstädtischen Herrschaftseliten zur Oligarchisierung neigten, eine konfessionelle wie soziale Segregation betrieben und radikale oppositionelle Kräfte bis ins 20. Jahrhundert ausgesprochen schwach blieben. Der Habitus der lokalen Eliten war auf die Bewahrung der bestehenden 11 So auch Ursprung, Herrschaftslegitimation zwischen Tradition und Innovation, S. 35. 12 Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 29f.
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8 Fazit
Herrschaftsstrukturen eingestellt. Die Treuebekundungen der Bürger der Reichsstadt Aachen gegenüber dem mittelalterlichen König, dem Stadtherrn, waren angesichts der Begehrlichkeiten der umliegenden Territorialfürsten eine notwendige Überlebensstrategie. Treue blieb auch in der Neuzeit das zentrale Muster für die Anerkennung des Königs im lokalen Raum. Die ältere personale Treue wurde abgelöst von der staatsbürgerlichen Loyalität und nach 1871 von der Aufhebung des Einzelnen in der nationalen Treuegemeinschaft mit dem König an der Spitze. Nach den Zäsuren von 1794 und 1815 erwiesen sich die katholisch-konservativen Aachener Bürger, angeführt vom ultramontanen Klerus, dort als ausgesprochen resistent, wo es um die Bewahrung ihrer religiösen und kulturellen Autonomie ging. Gleichzeitig verstanden es die stadtbürgerlichen Eliten, sich den veränderten Gegebenheiten anzupassen und das symbolische Kapital ihrer Stadt dem König zum eigenen Vorteil anzubieten. Entsprechende Initiativen von Einzelpersonen gab es mehrfach in napoleonischer und preußischer Zeit, nach 1890 waren sie aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen mehrheitsfähig und von nachhaltigem Erfolg gekrönt. Die kulturgeschichtliche Analyse erwies die Fortexistenz älterer Repräsentations- und Kommunikationsformen der Königsherrschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein, wenngleich mit veränderter inhaltlicher Ausrichtung, wie bei den Huldigungen sowie den Titel- und Ordensverleihungen. Pierre Bourdieu bezeichnet diese „Produktion einer geweihten Elite“13, des Blutadels ebenso wie des Staatsadels, mithilfe einer Weihehandlung als „Institutionsritus“14. Bezogen auf den Gegenstand der Untersuchung handelte es sich dabei um öffentlichkeitswirksame, magische Inszenierungen, die der sozialen Fiktion der Höherrangigkeit des Königs und seiner streng hierarchisierten Herrschaftsträger ihre charismatische Würde verliehen. Wandel kommt nach Pierre Bourdieu auf dem Herrschaftsfeld einmal durch den Kampf der Akteure um die besten Positionen auf dem Feld, die konkurrierende Akkumulation von Kapital und veränderte Taxonomien von Kapitalsorten zustande. Die Akteure kämpfen um die Durchsetzung des gültigen Herrschaftsprinzips, das „legitime Prinzip der Legitimation“15, den „legitimen Reproduktionsmechanismus der Grundlagen der Herrschaft“16. Dynamik entsteht durch die Veränderung der Machtpotentiale der Akteure, durch Kapitalverlust und Kapitalakkumulation zwischen den beiden ursprünglichen Polen des Herrschaftsfeldes, dem ökonomischen und dem kulturellen Kapital sowie zwischen den später hinzutretenden Polen der multipolar gewordenen Feldstruktur. Weiterhin entsteht Bewegung durch die Veränderung der Regeln des Feldes. Das religiöse oder kulturelle Kapital einer Epoche kann in der folgenden an Wert verlieren und nicht mehr in symbolisches Kapital auf dem Herrschaftsfeld konvertiert werden. Dann konzentrieren sich die Akteure mehr auf den Transfer anderer Kapitalsorten. Dies 13 14 15 16
Zit. Bourdieu, Der Staatsadel, S. 125. Zit. Ebd. Zit. Ebd, S. 322. Zit. Ebd.
8.2 Königsherrschaft im Epochenwandel
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geschah beispielsweise in Aachen in den ersten sechs Jahrzehnten der preußischen Herrschaft, als Herrscher und Beherrschte vorwiegend über den Transfer ökonomischen Kapitals zueinander fanden. Wandel entsteht weiterhin durch die Ausdifferenzierung neuer autonomer Felder und die Schöpfung neuer Kapitalsorten. Den Anfang machte im frühen Mittelalter die Ausbildung des religiösen Feldes mit dem Papst an der Spitze, dessen Akteure immer wieder in Gegensatz zum König gerieten. Hofgeistliche, Theologen, die geistlichen Kurfürsten und die Aachener Stiftsgeistlichen lieferten dem König das dringend benötigte religiöse Kapital, das diesem als symbolisches Kapital im Kampf mit den konkurrierenden Adeligen diente. Darauf folgte im Hochmittelalter das juristische Feld, auf dem universitär gebildete Rechtsgelehrte das Kapital des Königs zur legalen Begründung seiner Herrschaft produzierten. Die Entstehung der Bürokratie und ihres autonomen Feldes korrespondierte mit der Ausbildung einer neuen Ordnung, dem Übergang vom alten Schwertadel zum neuen bildungsbürgerlichen Staatsadel und der damit verbundenen Durchsetzung eines neuen, technisch-rational definierten Reproduktionsprinzips von Herrschaft.17 Die Propaganda des Napoleonkultes indizierte mit der neuen Kultur der politischen Rede, der Instrumentalisierung von Theater und Zeitungen sowie der massenhaften Aufstellung von Herrscherbildern die beginnende Ausbildung des politischen Feldes. Im frühen 20. Jahrhunderts begann die Geschichtswissenschaft ihr auf dem wissenschaftlichen Feld produziertes Kapital der Herrschaftslegitimation im Modus der nun mächtigsten Form der symbolischen Gewalt, der Rationalität, zur Verfügung zu stellen. Mit der Entstehung autonomer Felder gerieten der König und mit ihm der deutsche Adel angesichts der beschleunigten Kapitalproduktion konkurrierender Akteure unter Druck, weshalb die Monarchen nun selbst als Akteure auf diesen Feldern tätig werden mussten, wie z.B. die persönliche Einflussnahme Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms II. auf die bauliche Restauration und symbolische Ausstattung des Aachener Münsters und des Rathauses belegt. Der König wurde jetzt selbst zum Künstler, so wie er auf dem politischen Feld zum Politiker werden musste. Der Durchbruch des Bürgertums zur herrschenden Klasse im 19. Jahrhundert beruhte auf der Produktion neuer autonomer Felder und der bürgerlichen Dominanz auf den Feldern der Politik, der Kultur bzw. Kunst, der Wissenschaft oder des Journalismus. Diese erhöhte Komplexität der Felder, Kapitalsorten und Akteure war das Ergebnis der rasanten ökonomischen, sozialen und technischen Entwicklungen in der Neuzeit, die vor allem dem Bürgertum große Mengen ökonomischen und kulturellen Kapitals in die Hände spielte. Doch brachte die Infragestellung der königlichen Dominanz infolge der Ausdifferenzierung neuer Felder und komplexer Feld- und Akteursbeziehungen dem König neues und besonders wertvolles symbolisches Kapital auf dem Herrschaftsfeld ein, da die Anerkennung seiner Herrschaft durch die Beherrschten jenseits polizeistaatlicher Methoden überwiegend freiwillig durch mündige Akteure erfolgte. Nur in dieser subtilen Gestalt war der Aufbau der charismatischen Herr17 Ebd., S. 462.
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8 Fazit
scherfigur Wilhelms II. als Produkt der Massenmedien und der durch sie erzeugten Öffentlichkeit denkbar, während sich gleichzeitig die bürokratisch organisierte Staatsgewalt als neue strukturelle Herrschaftsform weiter entfaltete. Gerade dieser Vorgang verdeutlicht, dass der Wandel der Königsherrschaft in der Neuzeit mit medientechnischen Innovationen und der Entstehung neuer Kommunikationsformen und Öffentlichkeiten einherging. Eine Schlüsselrolle bei der Funktionalisierung symbolischen Kapitals als Legitimationskapital und machtverschleiernde illusio spielten kulturelle Experten. Bei diesen Experten handelte es sich zunächst um Vertreter des Klerus, die Königsherrschaft durch die Übertragung des göttlichen Charismas heiligten, dann um Juristen, die dies mit Hinweis auf ein übergeordnetes göttliches oder weltliches Recht taten und in der Moderne um Geschichtsexperten, die Priester der Klio18, die ihr den Ruhm einer heiligen Tradition übertrugen. Der von Historikern wissenschaftlich begründete Vorrang der Nation als zentraler Wert des 19. und frühen 20. Jahrhunderts machte dieses symbolische Kapital für das Herrschaftsfeld besonders geeignet, als sich das preußisch-deutsche Königtum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Sachwalter ihrer Ehre aufschwang. Der Vormarsch bildungsbürgerlicher Experten als Vermittler beim kulturellen Anpassungsprozess der lokalen Ressourcen an die Erfordernisse monarchischer Herrschaftslegitimation hatte zur Folge, dass sie kulturelles und symbolisches Kapital in eigener Sache akkumulierten und dadurch zu Mitgliedern des Verwaltungsstabes und Herrschaftsträgern aufsteigen konnten. Die Untersuchung von Königsherrschaft im lokalen Raum erzählt eine Antigeschichte zu ihrem angeblichen Verfall in der Neuzeit. Die Notwendigkeit des Fortbestands der Königsherrschaft war eine allgemeine Überzeugung, eine illusio im Sinne Pierre Bourdieus, der Herrschende und Beherrschte als Akteure auf dem Feld der Herrschaft gleichermaßen unterlagen. Die epochenübergreifende Persistenz der Königsherrschaft in Deutschland beruhte auf der fortgesetzten Neuerfindung des Magischen ihrer Legitimation, wobei das auf den autonomen Feldern produzierte symbolische Kapital auf die drei Weberschen Legitimitätsgründe von Herrschaft, Charisma, Tradition und Legalität, projiziert werden kann. Die Ablösung eines Legitimitätsgrundes durch einen anderen entsprach den von den dominanten Akteuren durchgesetzten Reproduktionsprinzipien. Die Erzeugung des kollektiven Legitimitätsglaubens wurde mit der rational-legalen Legitimation und der massenmedialen Beeinflussung der Öffentlichkeit technokratisch perfektioniert.19 Das symbolische Kapital Aachens, Charisma und Tradition, ließ sich weiterhin dazu verwenden, prekär gewordene Grundlagen der königlichen Macht zu überspielen, insbesondere die Geltung monarchischer Absolutheitsansprüche. Die Anerkennung des Zusammenhangs zwischen Königshaus und Nation verschleierte die machtpolitische Entscheidung, die mit der Bestimmung Wilhelms I. zum deutschen Kaiser durch die deutschen Fürsten gegeben war und als solche in die Reichsverfassung von 1871 Eingang gefunden hatte. Nachfolgend erhielt das Kö18 Weber, Priester der Klio. 19 Bourdieu, Meditationen, S. 312–315; ders., Der Staatsadel, S. 125–142.
8.3 Desiderate einer historischen Herrschaftstheorie
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nigtum eine neue, vom symbolischen Kapital der geheiligten Nation getragene fremdcharismatische Legitimation. Durch die erfolgreiche Installation der Nation als Legitimationsgrund verschaffte sich das Königtum im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die höchste Form der Anerkennung: die auf der Übereinstimmung von Weltbildern beruhende Zustimmung der Beherrschten. 8.3 DESIDERATE EINER HISTORISCHEN HERRSCHAFTSTHEORIE 8.3 Desiderate einer historischen Herrschaftstheorie Die vorliegende Arbeit verfolgte einen theoriegeleiteten Ansatz zur Analyse des historischen Materials. Sie versteht sich als Baustein einer Theorie von Herrschaft im historischen Prozess, die ein Forschungsdesiderat darstellt. Ein multiperspektivischer und epochenübergreifender Blick auf Königsherrschaft vom Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts erfordert die Bereitschaft zur Interdisziplinarität, zu Grenzüberschreitungen und zur Überwindung mancher wissenschaftlicher Konventionen. Insofern stellt diese Arbeit ein methodisches und darstellerisches Experiment dar. Eine solche Form der Geschichtswissenschaft will nicht auf Spezialthemen, zweifelhafte Epochengrenzen und eherne Methoden beschränkt bleiben, sondern aus der ganzen Fülle des kulturwissenschaftlichen Fächerkanons heraus agieren. Die Verbindung der drei gewählten methodischen Grundpfeiler der Untersuchung – die klassische Herrschaftssoziologie Max Webers, die moderne Kulturgeschichtsforschung und die kritische Herrschaftssoziologie Pierre Bourdieus – bildet diese wissenschaftliche Grundposition in der Annahme der Erweiterbarkeit des hier vorgestellten interdisziplinären Ansatzes auf andere soziologische, auf erinnerungsgeschichtliche, politikwissenschaftliche oder ethnologische Methoden ab. Die drei gewählten herrschaftstheoretischen Ansätze spiegeln nur einen Ausschnitt aus dem umfangreichen kulturwissenschaftlichen Methodenrepertoire wider. Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Arbeit nochmals im Spiegel der Herrschaftstheorien zusammengefasst werden. Jenseits von Legitimität, Verstetigung und Anerkennung kann Herrschaft nicht ohne diskursiv produzierte und reproduzierte Machtressourcen – das von Bourdieu definierte ökonomische, soziale, kulturelle und symbolische Kapital – gedacht werden. Wie die Untersuchung gezeigt hat, lag in der Zeit Karls des Großen die Masse des zu verteilenden ökonomischen, religiös-kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals beim König, der allein über Kommunikationsmittel verfügte, den Herrschaftsdiskurs zu steuern. Der König war zur Bewahrung und zum Ausbau der dem nomos des Feldes zugrunde liegenden Machtasymmetrie auf die Aneignung und die Weitergabe vor allem des ökonomischen und symbolischen Kapitals an den ihn unterstützenden Adel angewiesen. Daneben produzierte er wichtiges soziales Kapital durch die Pflege der Familien- und Sippenbeziehungen, durch Ämtervergabe und Vasalität. Ihren Vorrang begründeten die mittelalterlichen Könige seit Karl dem Großen zunehmend aus dem religiös-kulturellen Kapital und dessen Umwandlung in symbolisches Kapital.
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In epochenübergreifender Perspektive und typologischen Begriffen ausgedrückt, konnten das Königtum und der Adel ihre unangefochtene Spitzenstellung auf dem Herrschaftsfeld bis zum Ende der Frühen Neuzeit verteidigen. Die Vergabe ökonomischen und symbolischen Kapitals gehörte wesentlich zur Herrschaftstechnik des mittelalterlichen Königs gegenüber dem Adel, um seinen ererbten Vorrang zu manifestieren. Natürliche Verbündete des Königs waren der Reichsklerus und die Bürger der Reichsstädte, die bestrebt waren, ihre Positionen auf dem Feld der Königsherrschaft zu verbessern. Königtum, Klerus und Stadtbürgertum wiesen sich gegenseitig kulturelles Kapital zu und transformierten es in symbolisches Kapital. Die Aachener Stiftskanoniker verfügten über das in der Krönungskirche des römisch-deutschen Königtums materialisierte Charisma des heiligen Karl und übertrugen es dem jeweiligen König. Dafür wurden sie mit wichtigen ökonomischen und rechtlichen Privilegien ausgestattet. Das daraus gewonnene symbolische Kapital begründete ihre innerstädtische Vorherrschaft und das auf der Königsnähe fußende Ansehen des Aachener Marienstifts im Reich. Die Könige banden die Stadtbürger durch Ritterschläge, Ordens- und Titelvergaben an sich. Die Rangerhöhung Aachens als Haupt des Reiches bzw. Haupt der Städte durch Friedrich Barbarossa stellt ein signifikantes Beispiel für diese Herrschaftstechnik durch privilegierende Ehrerhöhung dar, die den beherrschten städtischen Akteuren symbolisches Kapital einbrachte und ihnen im Gegenzug die Treue zum König abverlangte. Das aus dem religiösen und kulturellen Kapital generierte symbolische Kapital, der geheiligte Vorrang des Königs, sicherte den Bestand der Königsherrschaft, selbst noch als die materiellen Ressourcen des Königs gegenüber denjenigen anderer Akteure längst geschwunden waren. Im 19. Jahrhundert gelang es dem städtischen Bürgertum durch die Akkumulation ökonomischen und kulturellen Kapitals und die wachsende Transformierbarkeit beider Kapitalsorten in symbolisches Kapital, den Adel als führenden Träger und Anteilseigner der Königsherrschaft langsam aber stetig zu verdrängen. Die Ablösung des Adels und die Niederhaltung des nachdrängenden Kleinbürgertums und der Unterschichten konnte der führenden bürgerlichen Klasse nur durch den erfolgreichen Einsatz dieser beiden Kräfte des Herrschaftsfeldes gelingen. Das die Stadt beherrschende Wirtschaftsbürgertum war zur Aneignung kulturellen Kapitals auf die Kooperation mit dem Bildungsbürgertum angewiesen. In der Vormoderne imitierte der bürgerliche Stadtadel mithilfe gelehrter Experten noch das kulturelle Kapital des Feudaladels. Seit dem 19. Jahrhundert erzeugte das Bildungsbürgertum kulturelles Kapital auf dem entstehenden autonomen kulturellen Feld und wurde zum eigenständigen Akteur auf dem Herrschaftsfeld. Deshalb gelang es ihm, das herrschende Wirtschaftsbürgertum zu durchdringen und zum Herrschaftsträger aufzusteigen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das christlich-religiöse Kapital des Klerus durch eine neue Form religiösen Kapitals ergänzt: den alles überragenden Wert der Nation. Vom König wie vom Klerus verlangte dieser Wandel einen erheblichen kulturellen Anpassungsprozess: Der König stellte sich an die Spitze der Nation, die Kirche verlieh ihr die passende christliche Begründung. Mit der Erfindung der Nation als neue Religion entdeckte das nationale Bürgertum die
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Geschichte als kulturelles Kapital zur Begründung seines politischen und kulturellen Vorrangs und teilte mit dem König die Sachwalterschaft der Nation. Wilhelm II. ließ sich vom geschichtsbegeisterten Aachener Bildungsbürgertum die nun in der Nation aufgegangene Karlstradition und mit dieser das Charisma des Nationalhelden übertragen. Die den jeweiligen Erfordernissen des Herrschaftsfeldes einer Epoche angepasste Transformation des religiösen bzw. kulturellen Kapitals der Stadt in symbolisches Kapital, die Übertragung von materiellem Charisma und Tradition auf den König und der Rückfluss symbolischen Kapitals auf die Stadt, begründet die besondere Funktion der Aachener Akteure für die Legitimation des Königtums in mehreren der untersuchten historischen Epochen. Augenfällig sind die Zugriffe auf objektiviertes religiöses und kulturelles Kapital zu diesem Zweck: Reliquien, Bauten, sakrale und profane Kunst-Objekte. Die physische Einbindung dieser Objekte in die symbolische Praxis kultureller Vergemeinschaftungshandlungen bildet die Voraussetzung für das Überfließen von Charisma und Tradition in das legitimationsbedürftige Königtum, das auf diese Weise seine Heiligung erfährt. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Aachener Marienkirche, wenn auch mit größeren zeitlichen Unterbrechungen und in gewandelter Art und Weise, dem Königtum vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert als magische Legitimationsquelle diente. Der König konnte durch die Ausübung symbolischer Gewalt zeitweise zum Zeremonienmeister des Herrschaftsfeldes aufsteigen, sofern ihm die Schöpfung neuer symbolischer Instanzen und „legitime[r] Prinzipien der Legitimation“20 seiner überragenden Stellung gelang. Die alle fränkischen Herrschaftstraditionen revolutionierende Charismatisierung der Königsherrschaft durch Karl den Großen und die mit dem Rückbezug auf Karl den Großen bewerkstelligten Traditionsschöpfungen Friedrich Barbarossas, Napoleons und Wilhelms II. verdeutlichen die kulturelle Innovationskraft des Königtums auf dem Feld der Herrschaft. Das Aachener Stadtbürgertum und der lokale Klerus konnten mit Hilfe des Karlskultes zumeist die Bedürfnisse charismatischer und traditionaler Herrschaftslegitimation des Königs erfüllen. In Zeiten der Entfremdung der Könige vom lokalen Raum wie in der Frühen Neuzeit oder kultureller Missverständnisse wie im 19. Jahrhundert war der gegenseitige Transfer symbolischen Kapitals über längere Zeit stark vermindert. Das Beispiel Aachen zeigt nachdrücklich auf, dass kulturelle und symbolische Tauschbeziehungen zwischen Herrscher und Beherrschten ebenso wichtig für die Anerkennung von Herrschaft sein können wie die materielle Zufriedenstellung der beherrschten Akteure. Die Arbeit stellt ein Plädoyer für den fortgesetzten geschichtswissenschaftlichen Nutzwert des Herrschaftsbegriffs dar, der nicht mit Verweis auf die Internationalität und Interdisziplinarität des Wissenschaftsbetriebes hinwegargumentiert werden kann. Interdisziplinarität ist im Gegenteil das zentrale forschungsgeschichtliche Argument, das für den Herrschaftsbegriff spricht. Gerade die Langzeitperspektive auf Königsherrschaft zeigt, dass Webers grundlegende Definition 20 Zit. Bourdieu, Der Staatsadel, S. 322.
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immer noch Gültigkeit besitzt, wonach sich Herrschaft von Macht zum einen maßgeblich durch ihre Stabilität, zum anderen durch die Anerkennung ihrer Legitimität seitens der Beherrschten unterscheidet. Die drei Merkmale von Herrschaft, Legitimierung, Stabilität und Anerkennung, gehen über Machtbeziehungen hinaus und sind wissenschaftlich weiterhin erklärungsbedürftig. Der Einsatz von Gewalt stellt demgegenüber kein notwendiges Unterscheidungskriterium zwischen Macht und Herrschaft dar. Der asymmetrischen Machtbeziehungen inhärente Zwangscharakter ist eher ein unspezifisches Merkmal von Herrschaft. Zwang fordert die Zustimmung bzw. Zulassung der Beherrschten in Form von Gehorsam ein und bildet sich kulturell in Festordnungen und den dabei vom König persönlich, von Obrigkeit bzw. Staatsgewalt oder vom gesellschaftlichen Konformitätsdruck erzwungenen Verhaltensweisen der Akteure ab. Die in der vorliegenden Untersuchung dargestellten Huldigungsleistungen und Treuebekundungen der Untertanen bei den mittelalterlichen Krönungsfesten und neuzeitlichen Königsbesuchen in Aachen legen nahe, dass ein als strukturelle Gewalt zu verstehender Zwang der Praxis des Herrschens und Beherrschtwerdens innewohnt. Anerkennung von Herrschaft beruht aber auch auf der entweder bewussten oder unbewussten Aneignung und Internalisierung der in Symbolsystemen vermittelten Norm- und Ordnungsentwürfe durch die Beherrschten, Nichtanerkennung von Herrschaft auf fehlender Aneignung und verweigerter Internalisierung. Die gewählten theoretischen Zugänge müssen am Quellenmaterial in ihrer Reichweite überprüft werden. Die wissenschaftliche Konstruktion von Untertanensubversion aus modernen Festtheorien Bachtinscher Provenienz konnte beispielsweise für die Aachener Krönungen zurückgewiesen werden. Die soziologischen Herrschaftstheorien Webers und Bourdieus bedürfen der weiteren Überprüfung und Fortentwicklung am historischen Material, um den historischen Wandel von Herrschaftsprozessen, der vor allem bei Weber angelegt ist, abzubilden. Dies wurde im vorangegangenen Kapitel in den Bemerkungen zum Epochenwandel versucht. Der lokalgeschichtliche Zugang über das Fallbeispiel Aachen stellt die charismatischen und traditionalen Aspekte prononciert heraus, während die legalbürokratischen Elemente eher im Hintergrund stehen. Wichtigstes Untersuchungsergebnis ist hierbei die alle Epochen durchziehende Notwendigkeit, die labile charismatische Herrschaftsform durch traditionale und legale Legitimation zu ergänzen. Unübersehbarer Schwachpunkt des Weberschen Ansatzes ist die idealtypische Reduktion der historischen Komplexität von Herrschaft, der z.B. nur unzureichend danach fragt, wie Charisma von den sozialen Akteuren kommunikativ aufgebaut wird und welche Interessen, Weltbilder und Wertvorstellungen dem zugrunde liegen. Die gewählten perspektivischen Zugänge, Legitimation, Repräsentation und Materialität, versuchen, diese Komplexität zumindest ansatzweise sichtbar zu machen. Herrschaft wird als Sonderform von Macht kritisch betrachtet, weil deren Anerkennung durch die Beherrschten letztlich auf einer kollektiven Illusion, auf Legitimationsglauben oder Ideologie, beruht und in allen historisch untersuchten Fällen der Heiligung gesetzter Macht dient. Der kulturgeschichtliche Blickwinkel auf Herrschaft lässt diese als Folge symbolischer Handlungen und
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Kommunikationsakte erscheinen, die Kohärenzen zwischen Herrscher und Beherrschten erzeugen und kulturell verstetigen. Die Weberschen Legitimitätsgründe, Charisma, Tradition und Legalität, werden durch ritualisierte Sprech- und Handlungsakte eingeübt und verinnerlicht. Eine kulturgeschichtlich fundierte Herrschaftstheorie besitzt einen wissenschaftlichen Mehrwert, weil sie jenseits normativer Entscheidungen und abseits der Macht- und Gewaltebene den Blick auf die kommunikative Realisierung von Herrschaft als Zusammenspiel von Akteuren eröffnet und Gründe für die längerfristige Anerkennung des Herrschers anbietet. Herrschaft erscheint in ihrer jeweiligen Form nicht als naturgegebene Ordnung, sondern als veränderbares kulturelles Konstrukt, das in der sozialen Praxis hergestellt und entsprechend den sich wandelnden sozialen Kontexten aktualisiert wird. Häufig vernachlässigen kulturgeschichtliche Analysen die materielle Dimension der Geschichte, wie sie Machtverhältnissen zugrunde liegt. Kulturgeschichtlich inspirierte Herrschaftstheorien benötigen deshalb eine Fundierung in der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Das Fehlen einer modernen Stadtgeschichte Aachens erscheint insofern als ein Manko dieser Studie, das provisorisch durch Einzelstudien ausgeglichen werden musste. Im Ergebnis erscheint der Zusammenhang zwischen der ökonomischen Prosperität der Stadt und der Fähigkeit der lokalen Akteure zur Akkumulation kulturellen Kapitals offensichtlich. Dies betrifft die Stiftung liturgischer Objekte des Karlskultes und den prunkvollen Ausbau von Münster und Rathaus in der spätmittelalterlichen Blütezeit Aachens ebenso wie die baulichen Restaurationsmaßnahmen in der Industrialisierungsphase zwischen 1850 und 1914. Die politische und soziale Fraktionierung des dominanten katholischen Bürgertums in Aachen führte zu heftigen Deutungskämpfen über die symbolische Zurichtung der verfügbaren Artefakte und Vergemeinschaftungsformen. In vertiefenden Studien müsste nun ermittelt werden, welche Akteure im Einzelnen ökonomisch, sozial und politisch von diesen Kämpfen profitierten und welche geschwächt daraus hervorgingen. Die Soziologie Bourdieus spricht, obwohl sie den Herrschaftsbegriff terminologisch nicht aufgreift, indem sie von einer Kampfrelation der Akteure auf dem Macht-Feld ausgeht, die Defizite der beiden anderen diskutierten herrschaftstheoretischen Ansätze an. Die Produktion symbolischen Kapitals und die Durchsetzung symbolischer Gewalt impliziert im Weberschen Sinne die Anerkennung von Macht durch die beherrschten Akteure und bezieht sich damit unmittelbar auf die Funktionsweise von Herrschaft. Das symbolische Kapital kann mithin als Kapital der Anerkennung bezeichnet werden. Bourdieus Verständnis von Anerkennung geht von der primären Konfliktstellung der Akteure aus, nicht vom Streben nach Konsens, den er als eine Verschleierung der bestehenden asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen den Antagonisten bewertet. Gleichwohl spricht auch Bourdieu von sozialem Kapital, der Herstellung vorübergehender oder dauerhafter solidarischer Beziehungen. Das grundsätzlich aus allen Kapitalsorten zu gewinnende symbolische Kapital stellt für ihn aufgrund seiner sinn- und bezie-
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hungsstiftenden Potenz das höchste soziale Gut in einer Gesellschaft dar.21 Charisma, Tradition und Legalität bzw. Rationalität, sind kulturell erzeugte Formen symbolischen Kapitals, die von konkurrierenden Akteuren auf dem Feld der Herrschaft als Legitimitätsgründe ihrer jeweiligen Ansprüche investiert werden. Die Erlangung und Ausübung anerkannter Deutungshoheit durch politische Selbstinszenierung und Charismatisierung mit Hilfe von Massenmedien und plebiszitären Politikformen stellt in der Moderne einen Herrschaftsfaktor erster Ordnung dar. Wie anhand der Aachenbesuche Wilhelms II. deutlich gemacht werden konnte, wird Königsherrschaft in der Neuzeit nicht zuletzt durch eine solchermaßen erzeugte symbolische Gewalt ausgeübt. Dieser schleichende, für die Beherrschten kaum wahrnehmbare Prozess geht einher mit der staatlichen Monopolisierung der Gewaltmittel und verankert den Legitimitätsglauben und die Anerkennung der bestehenden Ordnung durch die kulturelle Prägung des Habitus. Für die Analyse symbolischer Gewalt im Herrschaftsprozess müssten die sozialpsychologischen Dispositionen der Akteure stärker in den Blick genommen werden: die Mentalitäten und alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht, einschließlich der Emotionen, „die zentralen Operatoren, mit deren Hilfe wir Erfahrungen als gut, schlecht, neutral usw. bewerten und entsprechend in unserem Gedächtnis abspeichern.“22
Die Struktur der Felder, insbesondere des Herrschaftsfeldes ist zwar prinzipiell auf die Reproduktion der sozialen Ordnung gerichtet, unterliegt aber Veränderungen an makrogeschichtlichen Zäsuren, und zwar dann, wenn einzelnen Akteuren die markante Akkumulation politischen Kapitals und die Übernahme der symbolischen Gewalt gelingt. So attraktiv eine solche Herrschaftsanalyse erscheint, eignen sich die teilweise unscharfen Begrifflichkeiten Bourdieus vorrangig für kleinräumige, auf überschaubare Zeiträume beschränkte Felder, da sie zum exakten Nachweis empirischer Methoden bedürfen. Bourdieu liefert zudem keine historische Entwicklungstheorie, da er sich von historischen Großvorstellungen wie die eines epochenübergreifenden Rationalisierungsprozesses von Herrschaft abgrenzt. Größere historische Entwicklungen können vornehmlich anhand der Veränderung der Feldstrukturen einschließlich der doxa und der illusio und der Positionen der Akteure abgelesen werden. Die Wahrnehmbarkeit herrschaftskritischer Diskurse, Krisen und Umbrüche markieren solche Modifikationen des Herrschaftsfeldes.23 Das Ende der Monarchie in Deutschland 1918 stellt insofern eine Überschreitung der von der herrschenden doxa gesetzten Grenzen und letztlich die Ablösung der alten durch eine neue doxa dar, während die vorangegangenen Zäsuren der Königsherrschaft im lokalen Raum mit der Implementierung einer neuen illusio im Gestalt eines gewandelten Legitimitätsglaubens innerhalb der von der doxa, der 21 Bourdieu, Meditationen, S. 309–315. 22 Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, S. 136. Vgl. am Beispiel der Monarchie des deutschen Kaiserreiches Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand, S. 240f. 23 Krais, Zur Funktionsweise von Herrschaft in der Moderne, S. 56f.
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prinzipiellen Anerkennung der Königsherrschaft gesetzten Grenzen, erklärt werden können. In der Analyse dieser Veränderungen müssten das ökonomische und kulturelle Kapital der sozialen Akteure aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen quantifiziert und das symbolische Kapital noch weitaus präziser in seiner feldabhängigen Wertigkeit qualifiziert werden. In Mikroanalysen dieser Art wäre das gesamte Spektrum der Kapitalsorten für jeden einzelnen Akteur zu analysieren. Das Bourdieusche Instrumentarium ist angesichts solcher Ansprüche auf weit zurückliegende, durch Quellen eher dünn dokumentierte Epochen nur mit Vorbehalt anzuwenden und eignet sich vorrangig für zeitgeschichtliche Bestandsaufnahmen. Historische Großstrukturen wie die Herrschaftsverhältnisse ganzer Epochen erscheinen eher holzschnittartig abgebildet. Die epochenübergreifende Wirksamkeit kulturellen und symbolischen Kapitals stellt ein gesondertes Problem dar. Das religiös begründete Charisma oder der Traditionsbezug mittelalterlicher Herrscher können von den Königen der Neuzeit nicht einfach inkorporiert werden. Im gewandelten historischen Kontext müssen sie neu generiert, auf die eigene Herrschaftslegitimation zugeschnitten und narrativ unterlegt werden, wobei Räume, Feiern und Artefakte nützliche Anknüpfungspunkte bieten. Herrschaftspraxis beruht im Verständnis Bourdieus nicht auf rationalen Entscheidungen, sondern auf unbewussten Anlagen, dem Habitus der Akteure und ihrem Platzierungssinn. Der durch vornehme Herkunft, Ehrkodex, Rang- und Besitzdenken geprägte Habitus des herrschenden Adels begründet die Schärfe der Herrschaftskonkurrenz innerhalb der adligen Führungsschicht und die soziale Distinktion als Merkmal der vormodernen Ständegesellschaft. Der zumindest partiell adlige Verhaltensweisen und Normen imitierende Habitus der stadtbürgerlichen Eliten fand seinen Ausdruck in der Rangerhöhung des städtischen Patriziats und seiner symbolischen Abgrenzung gegenüber den Zunftbürgertum und den Unterschichten. Die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts ist maßgeblich vom modernen bürgerlichen Habitus geprägt. Das Zusammenspiel habitueller Praktiken der Akteure bildet somit das Fundament der kulturellen Realisierung von Königsherrschaft. Der von der Struktur der Felder geprägte Habitus generiert die Strategien der Akteure auf dem Feld.24 Kulturelle Anpassungsstrategien erhöhen die Chancen, als Akteur auf dem Herrschaftsfeld erfolgreich zu sein und in der politischen Hierarchie aufzusteigen. Kulturelle Verweigerung oder inadäquater Symbolgebrauch führen zu Positionsverlusten auf dem Herrschaftsfeld und sozialem Abstieg. Sind Strategien auf Dauer erfolgreich, entfällt wie in der persistenten Aachener Huldigungs- und Treuekultur die Notwendigkeit grundsätzlichen Wandels. Die Langlebigkeit der deutschen Monarchie kann insofern als höchst erfolgreiche kulturelle Äußerungsform der habituellen Dispositionen des Königs und der lokalen Akteure bewertet werden, deren führende Position innerhalb des Herrschaftsfeldes auf der wechselseitigen, dauerhaft lukrativen Anpassung ihrer Symbolordnungen und auf machtvoll inszenierten Anerkennungshandlungen beruht.
24 Bourdieu/Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 166–175.
9 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AA AAV AAZ ADB AfD AfS AHR AHVN AIB AKB AKuG AMA AN AP APuZG AR AVZ AZ BDLG DA DBA DBE DHI DiA DoA EdG EdN EM FAZ FBPG FmSt GG GGB GiW GStA PK GWU HA
Aachener Anzeiger Mittheilungen des Vereins für Kunde der Aachener Vorzeit Aachener Allgemeine Zeitung Allgemeine Deutsche Biographie Archiv für Diplomatik Archiv für Sozialgeschichte American Historical Review Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein Aachener Intelligenzblatt Aachener Kunstblätter Archiv für Kulturgeschichte Alma Mater Aquensis Aachener Nachrichten Aachener Post Aus Politik und Zeitgeschichte Aachener Rundschau Aachener Volkszeitung Aachener Zeitung Blätter für deutsche Landesgeschichte Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Deutsches Biographisches Archiv Deutsche Biographische Enzyklopädie Deutsches Historisches Institut Diözesanarchiv Domarchiv Echo der Gegenwart Enzyklopädie der Neuzeit Enzyklopädie des Märchens Frankfurter Allgemeine Zeitung Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Ge schichte Frühmittelalterliche Studien Geschichte und Gesellschaft Geschichtliche Grundbegriffe Geschichte im Westen Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Anthropologie
9 Abkürzungsverzeichnis
HDR HAE HJb HoA HWbPh HZ IMS JbKG JContH JMH JNM LCI LA LHA LM LThK Mag. MGH MIÖG MVGN NDB NF NPL NRW NZZ ÖZG PT RAC Rep. RFHMA RGA RHMitt RH RhVjBll RTA RWZ STA StAZ SZ Tit. TRE VfZ VSWG WaG
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Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Historisches Archiv des Erzbistums Historisches Jahrbuch Hochschularchiv Historisches Wörterbuch der Philosophie Historische Zeitschrift Informationen zur modernen Stadtgeschichte Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins Journal of Contemporary History The Journal of Modern History Journal des Nieder- und Mittel-Rheins Lexikon der christlichen Ikonographie Landesarchiv Landeshauptarchiv Lexikon des Mittelalters Lexikon für Theologie und Kirche Magisterarbeit Monumenta Germaniae Historica Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichts forschung Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg Neue Deutsche Biographie Neue Folge Neue Politische Literatur Nordrhein-Westfalen Neue Züricher Zeitung Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (Aachener Anzeiger) Politisches Tageblatt Reallexikon für Antike und Christentum Repositur Repertorium Fontium Historiae Medii Aevi Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Römische Historische Mitteilungen Rheinische Heimatpflege Rheinische Vierteljahrsblätter Reichstagsakten Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde Stadtarchiv Stadt Aachener Zeitung Süddeutsche Zeitung Titel Theologische Realenzyklopädie Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Die Welt als Geschichte
408 WRJb ZAGV ZBL ZfVK ZfG ZGO ZHF ZKG ZRG Kan. Abt. ZRG Germ. Abt.
9 Abkürzungsverzeichnis
Wallraf-Richartz-Jahrbuch Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für Volkskunde Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für historische Forschung Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung
10 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 10.1 ARCHIVALIEN 10.1 Archivalien 1. Aachen, Stadtarchiv (STA Aachen) Handschriften (Hs.): 16 (Chronik des Heinrich von Thenen SJ) 32 (Kayserliche Reichs-Stadt Aach contra Cölln, 1570, den Vorsitz betreffend) 1117 (Prof. Dr. Heinrich Savelsberg, Der Besuch Kaiser Wilhelms des Zweiten in der Aachener Stadtrats-Sitzung, Freitag, den 3. Mai 1918) 1280 (Lebenserinnerungen des Prof. Dr. Ing. e.h. August Hermann Adalbert Hertwig) Reichsstädtische Registratur II, Allgemeine Akten [einschl. Französische Zeit] (RR II AA): Nr. 530 (Krönung und Huldigung Leopolds I., 1658 u. 1660) Nr. 531 (Krönung und Huldigung Josephs I., 1690 u. 1706) Nr. 534 (Krönung Franz’ I., 1745) Nr. 535 (Krönung Leopolds II., 1790) Nr. 536 (Krönung Franz’ II., 1792) Nr. 546 (Krönung Napoleons, 1804) Nr. 547 (Napoleon I. Feste zu Ehren Napoleons I. und seiner Gemahlin) Nr. 548, 549 (Anwesenheit der Napoleoniden in Aachen) Nr. 550 (Der König von Rom, 1811) Nr. 554 (Trauerfeierlichkeiten beim Ableben des Kaisers, 1740–1792) Nr. 566 (Nationalfeste der Gründung der Republik und der Freiheit, 1795–1803) Nr. 654 (Abstimmung über Napoleons Konsulat auf Lebensdauer, 1802) Nr. 1230 (Siegesfeste in französischer und preußischer Zeit, 1794–1817) Registratur Krämer (RK): I-1 Die Huldigung [s-Feier für sämtliche mit der Preussischen Monarchie vereinigten Rheinlande] am 15. Mai 1815 in Aachen (April–Juni 1815), darunter Einladungsschreiben, Historische Abhandlung verfasst vom Stadt-Aachenschen Archivar Karl-Franz Meyer vom 15. May 1815, die Huldigung Seiner Majestät, des Königs von Preußen, in Aachen betreffend; weiterhin fünf Plakate mit Bekanntmachungen zur Huldigungsfeier, Programm-Druckschrift, Bericht über die Feierlichkeiten (mit Reden) I-1d (Huldigung Carl’s VI unter dem Commissar Grafen von Virmond) I-1e (Krönung, auch Huldigung unter Kaiser Joseph II. Rechte und Privilegien) I-13a (Der Congress zu Aachen, 1668) I-13d, Bd. 1–3 (Der Congreß in Aachen, 1818) VIII-2 (Rathaus und dessen Einrichtung, 1817–1885) X-1 (Die Cathedrale zu Aachen…, 1794–1814) Preußische Zeit (PRZ), Amtsbuch-Registratur (AR) I: Protokolle der Stadtverordneten-Versammlungen: Nr. 144, 149 Oberbürgermeisterei-Registratur (OB): Caps. 1, Nr. 1, Vol. 1 (Eidesleistungen, 1817–1862) Caps. 1, Nr. 2, Vol. 1–5 (Landesoberhaupt und dessen Familie sowie das Wohl des Staates) Caps. 1, Nr. 2a (Fest der Stadt Aachen zu Ehren Sr. Kaiserlichen u. Königl. Hoheit des Kronprinzen am 4. u. 5. Juli 1885, 1885–1886) Caps. 1, Nr. 3 (Die Huldigung Sr. Majestaet des Königs Friedrich Wilhem IV. in Berlin am 15. Oct. 1840, 1840–1848)
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10 Quellen- und Literaturverzeichnis
Caps. 1, Nr. 4a, Vol. 1–6 (Verleihung von Orden, Dienstauszeichnungen und dieserhalb gestellte Anträge, 1876–1929) Caps. 1, Nr. 5, Vol. 1–5 (Besuch Seiner Majestät des Kaisers und Ihrer Majestät der Kaiserin am 19. Juni 1902, 1901–1903) Caps. 1, Nr. 5a, Vol. 1–3 (Kaiser-Wilhelm-Denkmal, 1895–1901) Caps. 1, Nr. 6, Vol. 1–3 (Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, 1901–1907) Caps. 1, Nr. 7, Vol. 1–3 (Errichtung eines Kaiser-Friedrich-Denkmals, 1901–1930) Caps. 1, Nr. 7a, Vol. 1–2 (Beiträge zur Errichtung eines Kaiser-Friedrich-Denkmals, 1901–1912) Caps. 1, Nr. 7b, Vol. 1–7 (Enthüllung des Denkmals für Kaiser Friedrich III., 1910–1913) Caps. 1, zu Nr. 7b (Enthüllung des Kaiser Friedrich-Denkmals, 1911) Caps. 1, Nr. 8 (Denkmal für Kaiser Wilhelm I. auf dem Theaterplatz, 1897–1921) Caps, 1, Nr. 9 (Anfertigung der Bilder Sr. Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II. und Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin Augusta Viktoria für das Rathaus, 1906–1910) Caps. 1, Nr. 2, Vol. 1a–b–2 (Reisen hoher Personen, 1817–1929) Caps. 2, Nr. 3, Vol. 1–14 (Volksfeste, Kirchweihen u. sonstige Belustigungen u. Feierlichkeiten überhaupt, auch Bälle, 1814–1938) Caps. 2, Nr. 6, Vol. 1–4 (Patriotische Feste, 1881–1923) Caps. 2, Nr. 6a, Vol. 3 (Patriotische Feste, 1907–1914) Caps. 2, Nr. 11 (Hundertjahrfeier der Zugehörigkeit der Rheinprovinz zu Preußen, 1910–1920) Caps. 2, Nr. 11a (Die Jahrtausendfeier, 1925–1926) Caps. 2, Nr. 14 (Veranstaltungen aus Anlaß des 1100. Todestages Kaiser Karls des Großen, 1913– 1914) Caps. 2, Nr. 14a (Akten des Festausschusses zur Karlsfeier, 1913–1914) Caps. 7, Nr. 37, Vol. 1–2 (betr. Krönungsausstellung, 1911–1913) Caps. 78, Nr. 6, Vol. 2 (Das Rathaus und die Türme, 1839–1877) Caps. 78, Nr. 6, Vol. 3 (Das Rathaus und die Türme, 1877–1879) Caps. 78, Nr. 6, Vol. 4 (Das Rathaus und die Türme, 1878–1881) Caps. 78, Nr. 6, Vol. 5 (Das Rathaus und die Türme, 1881–1883) Caps. 78, Nr. 6, Vol. 6 (Das Rathaus und die Türme, 1883–1891) Caps. 78, Nr. 17, Vol. 1 (Betreffend den Aachener Krönungssaal, Wandgemälde, Stucco-Arbeiten und Reparaturen, 1834–1847) Caps. 78, Nr. 17, Vol. 2 ((Betreffend den Aachener Krönungssaal, Wandgemälde, Stucco-Arbeiten und Reparaturen, (Betreffend den Aachener Krönungssaal, Wandgemälde, Stucco-Arbeiten und Reparaturen, 1847–1858) Caps. 78, Nr. 17, Vol. 3 (Die Wiederherstellung des großen Krönungssaales in Aachen, 1858– 1898) Caps. 78, Nr. 24, Vol. 1 (Rekonstruction des Rathhauses nach dem Brandunglücke vom 29. Juni 1883, 1883–1891) Caps. 78, Nr. 24, Vol. 9a (Aeltere unerledigte Sachen, betr. die Rathausfaçade, 1862–1875) Kleinere Bestände: Depositum Karlsverein Nr. 1 (General-Akten über die Bildung des Vereins) Nr. 2 (Acta des Filial-Karlsvereins, 1847–1867) Nr. 7 (Beteiligung des Karlsschützenvereins, 1848–1850) Nr. 8 (Beteiligung der Liedertafel, 1850–1864, 1895) Nr. 10 (Beteiligung der Concordia-Gesellschaft, 1849–1857) Nr. 12 (Beteiligung der Constantia-Gesellschaft, 1849–1860) Nr. 27 (Feier des Karlsfestes nach Artikel 8 des Statuts sowie sonstige Feste, 1850–1901) Nr. 28 (Beteiligung des Piusvereins, 1850) Nr. 33 (Beteiligung der Bürger-Casino-Gesellschaft, 1851–1861) Nr. 184 (Pläne des Kölner Dombaumeisters Zwirner für die Umgestaltung des Doms: Kuppel mit Kaiserbildern und Kaisergruft)
10.1 Archivalien
411
Bestand K (Krönungsausstellung 1915): Nr. II,4 (Schriftwechsel über Anfertigung der Krönungsinsignien) Nachlässe: Nachlass Albert Huyskens Nachlass Franz Kaufmann Abstellnummern (Akten von Aachener städtischen Ämtern): 4915 (Krönungsausstellung 1915, 15.6. 1914–27.5. 1915, Statistisches Amt) Fotosammlung: XXV, Nr. 3, 4 (Besuche Wilhelms II. in Aachen 1902 und 1911) 2. Aachen, Domarchiv (DoA Aachen) Bestand Propsteiarchiv (PA): Nr. 20 (Acta Generalia Besuche hoher Persönlichkeiten (1881–1927) Nr. 21 (Besuche hoher Persönlichkeiten. Kaiserbesuch 1902 und 1911) Nr. 401 (Gegenstände der verschiedensten Art. Schriftverkehr 1909–1914) Nr. 405 (Allerhand. Kunstausstellungen und Museen, Zeitungsausschnitte 1876–1931) Nr. 407 (Allerhand. Beschaffung eines Reliquienschreins für die Gebeine der Hl. Corona und des Hl. Leopardus 15.11.1910–13.8.1923) 3. Aachen, Katasteramt Handakten zu Aachener Straßen: Karlsgraben, Karlstraße, Karolingerallee, Turpinstraße 4. Aachen, Hochschularchiv der RWTH Aachen (HoA Aachen) Nr. 1699 (Personalakte Josef Buchkremer) Nr. 12162 (Verzeichnis der Ehrensenatoren, Ehrenbürger und Ehrendoktoren der RWTH Aachen) PA 2028 (Personalakte Albert Huyskens) 5. Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK Berlin) HA I (I. Hauptabteilung): Rep. 76 Ve, Sek. 14, Abt. 6 (Kultusministerium, Kunstsachen) Nr. 36, Vol. 1–5 Nr. 15, Bd. 1 (Bauten und Reparaturen an der Münster- und Domkirche zu Aachen, September 1833 bis Dezember 1847) Rep. 76 Ve, Sekt. 16 Lit. A, Nr. 15, Bd. 2 (Bauten und Reparaturen an der Münsterkirche zu Aachen, Januar 1848 bis Dezember 1863) Rep. 77 (Ministerium des Inneren, Abteilung I., Generalabteilung) Tit. 98 (Huldigungen und andere Hoffeierlichkeiten) Nr. 13 (die Huldigungs-Feierlichkeiten betr. die Vereinigung der Rheinlande mit Preußen 1815) Nr. 89, Vol. 1–6 (50jährige Jubelfeier der Vereinigung der Rheinprovinz mit Preußen) Rep. 89 (Geheimes Zivilkabinett, Jüngere Periode, 1809ff.) Nr. 23232 (betr. Herstellung der Arkaden des Hochmünsters der Domkirche zu Aachen, 1841– 1902) Nr. 23233 (betr. Herstellung der Arkaden des Hochmünsters der Domkirche zu Aachen, 1903– 1913) Nr. 23234 (betr. Herstellung der Arkaden des Hochmünsters der Domkirche zu Aachen, 1914– 1918) Rep. 93 B (Ministerium der Öffentlichen Arbeiten) Nr. 2419 (Die Wiederherstellung des Krönungs-Saales in dem Rathhause zu Aachen, 4. August 1843 – 1847 Nr. 2420 (Restaurierungsarbeiten beim Rathhause zu Aachen ab 18. Juni 1856) Nr. 2593 (Münsterkirche zu Aachen 1854 – 30.9.1897) Rep. 137 (Generaldirektion der Museen)
412
10 Quellen- und Literaturverzeichnis
Nr. 32, Bd. 1 (Restauration des Aachener Münsters und Untersuchung in demselben, September 1842 – März 1866) 6. Düsseldorf, Landesarchiv, Abt. Rheinland (LA NRW, Düsseldorf) Regierung Aachen (RAA): Nr. 15. (Acta betr. den Rücktransport der aus dem Aachener Münster nach Paris geschleppten Säulen und des Grabmals Karls des Großen und die Bezahlung der entstandenen Kosten durch die Stadt, 1816–1822) Nr. 7579 (Die Ausschmückung des alten Krönungs-Saales zu Aachen, 1840–1847) Nr. 7580 (Die Ausschmückung des alten Krönungs-Saales zu Aachen desgleichen die Façade des Rathhauses, 1848–1874) Nr. 7581 (Die Ausschmückung der Façade und des Rathhaussaales in Aachen, 1875–1896) Nr. 7582 (Ausschmückung des Rathhaussaales zu Aachen, 1896–1900) NW 1079 (Entnazifizierung – Einzelfallakten): Nr. 935 (Wilhelm Hermanns) 7. Koblenz, Landeshauptarchiv (LHA Koblenz) Bestand 355 Generalgouvernementskommissariat des Mittelrheins für das Departement RheinMosel in Koblenz): Nr. 3 (Acta betreffend die Huldigung in den mit der Preuß. Monarchie vereinigten Rhein-Landen, April 1815, Reaktionen) Bestand 403 (Oberpräsident der Rheinprovinz): Nr. 523 (Wiederherstellung des Kaisersaales zu Aachen, 1843–1848) Nr. 7493 (Die Restauration des Münsters zu Aachen, Sept. 1869–Dezember 1884) Nr. 7495 (Die Restauration des Münsters zu Aachen, Januar 1885–Oktober 1900) Nr. 9108 (Reisen des Königs und anderer fürstlicher Personen, 1901–1902) Nr. 9527 (Die fünzigjährige Jubelfeier der Vereinigung der Rheinprovinz mit der preußischen Monarchie, 1864-Dezember 1865) Nr. 10778 (Die Restauration des Münsters zu Aachen, 1856–1869) Nr. 13637 (Die Restauration des Münsters zu Aachen November, 1900–August 1907) Nr. 16014 (Die Restauration des Münsters zu Aachen, November 1907–Januar 1930) Nr. 16908 (Einladungen des Herrn Oberpräsidenten, ab April 1933) 8. Köln, Historisches Archiv des Erzbistums (HAE Köln) Bistum Aachen (BA): II: Generalia der preußischen Zeit: Nr. 46 Aktenstücke vermischten Inhalts (Feierlichkeiten aus Anlaß der Siege der Alliierten, Inbesitznahme der Rheinlande durch Preußen, erste Anordnungen) V: Dom zu Aachen: Nr. 78 Mischbuch (betr. ... Feste, Protokoll über die Prüfung der Richtigkeit der Reliquien und des Domschatzes nach ihrer Rückkehr aus Paderborn, Schreiben der Kapuziner, 1802–1807) Nr. 79 Domschatz und Reichskleinodien (Inventar über den Domschatz vom 27.10.1802/1759, 1794–1816) Nr. 80 Vermischte Akten (Rückführung der Reliquien von Paderborn, Zeigung der Reliquien vom Turm. Protokoll über die Identität der Reliquien, Karlsfeier und Napoleonfest, 1803–1807) Nr. 81 Vermischte Akten (Rede Berdolets beim Besuch Napoleons, Empfang der Kaiserin in Aachen, Rede des Bischofs Camus, Ausstattung des Doms in französischer Zeit; gestohlene Kunstgegenstände 1794)
10.2 Gedruckte Quellen
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10.2 GEDRUCKTE QUELLEN 10.2.1 Zeitgenössische Quellenwerke und moderne Editionen 10.2 Gedruckte Quellen Alcuin: Carmina, in: MGH Poetae Latini aevi Carolini, Bd. 1, ed. Ernst Dümmler [1881], ND München 1997, S. 160–351. Angermeier, Heinz (Bearb.) unter Mitwirkung von Reinhard Seyboth: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 1, Abt. 1–2, Göttingen 1989. Ders.: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 5,2, Göttingen 1981. Annales Aquenses: in: MGH SS 24, ed. Georg Waitz, Hannover 1879, S. 33–39. Baader, Joseph: Bericht des Ritters Ludwig von Eyb über des Römischen Königs Maximilian Krönung zu Aachen im Jahre 1486, in: AHVN 15 (1864), S. 1–18. Beeck, Petrus à: Aquisgranum sive historica narratio […], Aquisgrani 1620. Benrath, Heinrich: Aachen, Burtscheid und ihre Umgebung. Ein Führer für Fremde, Aachen 1860. Betker, Frank, Almut Kriele (Hg.): „Pro Fide et Patria!“ Die Kriegstagebücher von Ludwig Berg 1914/18. Katholischer Feldgeistlicher im Großen Hauptquartier Kaiser Wilhelms II., KölnWeimar-Wien 1998. Bock, Cornelius P.: Das Rathhaus zu Aachen. Schutzschrift für die unverletzte Erhaltung des Deutschen Krönungssaales, Aachen 1843. Ders.: Die Reiterstatue des Ostengothenkönigs Theoderich vor dem Pallaste Karl d. Gr. zu Aachen, in: Jahrbücher des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande 5–6 (1844), S. 1– 170. Bock, Franz: Die Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nebst den Kroninsignien Böhmens, Ungarns und der Lombardei und ihre formverwandten Parallelen, Wien 1864. Böhmer, J[ohann] F[riedrich]: Regesta Imperii, Bd. 1: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern, Innsbruck 21908, ND Hildesheim 1966. Ders.: Regesta Imperii, Bd. 4, 2. Abt., 2. Lfg.: Die Regesten des Kaiserreichs unter Friedrich I. 1152 (1122)–1190, neu bearb. von Friedrich Opll, Wien-Köln 1991. Braun, Gustav: Zwölf Briefe über die Kronbegleitung von Nürnberg nach Frankfurt am Mayn zur Kaiser-Krönung Leopolds II. im Spat-Jahr 1790 vom 27. September bis 20. Oktober, in: 52. Jahresbericht des Historischen Vereins für Mittelfranken (1905), S. 1–30. Breidenbach, Michael: ‚Aachen – ދVergessene Reisenotizen einer deutsch-spanischen Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, in: ZAGV 96 (1989), S. 193–208. Brüning, Wilhelm: Aachen während der Fremdherrschaft und der Befreiungskriege, in: ZAGV 19, Teil 2 (1897), S. 171–210. Ders.: Handschriftliche Chronik, 1770–1796, in: AAV 11 (1898), S. 18–70. Ders.: Die Aachener Krönungsfahrt Friedrichs III. im Jahre 1442, in: AAV 11 (1898), S. 81–105. Ders.: Das Kaiserthum Karls des Großen, in: EdG vom 6.8.1899. Brunhölzl, Franz (Hg., Übers.): Karolus Magnus et Leo papa – Text und Übersetzung, in: Helmut Beumann, Franz Brunhölzl, Wilhelm Winkelmann: Karolus magnus et Leo papa. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799, Paderborn 1966, S. 55–97. Capitularia Regum Francorum, ed. Alfred Boretius, MGH LL Capitularia Regum Francorum, Hannover 1883. Chronicon Moissiacense, ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SS 1, Hannover 1826, S. 280–313. Ciampini, Giovanni: Vetera Monimenta, in quibus praecipuè musiva opera sacrarum, profanarumque aedium structura, ac nonnulli antiqui ritus, dissertationibus, iconibusque illustrantur, Vol. 1–2, Romae 1690–1699. Classen, Friedrich: Beiträge zur Geschichte der Reichsstadt Aachen unter Karl V., in: ZAGV 36 (1914), S. 1–98. Debey, M[atthias] H.: Die Münsterkirche zu Aachen und ihre Wiederherstellung, Aachen 1851.
414
10 Quellen- und Literaturverzeichnis
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10.2 Gedruckte Quellen
415
Kraus, Thomas R.: Unbekannte Quellen zu den Krönungen Wenzels, Ruprechts und Sigmunds, in: DA 38 (1982), S. 193–202. Ders.: Studien zur Vorgeschichte der Krönung Karls IV. in Aachen – unbekannte Quellen aus dem Stadtarchiv Aachen, in: ZAGV 88/89 (1982), S. 43–93. Ders.: Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493), Bd. 7, Wien-Köln-Graz 1990. Ders.: Regesten der Reichsstadt Aachen (einschliesslich des Aachener Reiches und der Reichsabtei Burtscheid), Bd. 3: 1351–1365, Düsseldorf 1999. Ders.: Regesten der Reichsstadt Aachen (einschliesslich des Aachener Reiches und der Reichsabtei Burtscheid), Bd. 4: 1366–1380, Düsseldorf 2002. Ders.: Regesten der Reichsstadt Aachen (einschliesslich des Aachener Reiches und der Reichsabtei Burtscheid), Bd. 5: 1381–1395, Düsseldorf 2005. Ders.: Die Aachener Stadtrechnungen des 15. Jahrhunderts, Düsseldorf 2005. Krüssel, Hermann (Hg.): Chronogramme. Vergessene Kunst in Aachen. Ausgewählte Chronogramme aus der Geschichte und Gegenwart Aachens mit Übersetzungen und Erläuterungen, Aachen 2005. La Boétie, Étienne de: Von der Freiwilligen Knechtschaft. Unter Mitwirkung von Neithard Bulst übers. und hg. von Horst Günther, Frankfurt am Main 1980. Ladoucette, Jean Charles François le Baron de: Reise im Jahre 1813 und 1814 durch das Land zwischen Maas und Rhein [1818], hg. von Birgit Gerlach, unter Mitwirkung von Johann Leonhard Keller und Manfred Lebbing, Mönchengladbach 2009. Loersch, Hugo: Aachener Chronik, aus einer Handschrift der königlichen Bibliothek in Berlin, in: AHVN 17 (1866), S. 1–29. Lokalkomitee (Hg.): 59. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands in Aachen, Aachen 1912. Menge, [N.N.]: Rede am Vorabend des Geburtstages des Königs im Jahre 1843, in: Programm des Aachener Gymnasiums, Aachen 1844, S. 4–12. Meuthen, Erich (Bearb.): Aachener Urkunden 1101–1250, Bonn 1972. Meyer, Karl Franz: Aachensche Geschichten überhaupt als Beyträge zur Reichs-allgemeinen, insbesondere zur Anlage einer vollständigen Historie über den Königlichen Stuhl und des Heiligen Römischen Reiche freye Haupt-Kron- und Cur-Stadt Aachen von ihrem Ursprung bis auf gegenwärtige Zeiten, in drey Bücher abgetheilt [...], Aachen 1781. Ders.: Historische Abhandlung über die großen Reliquien in der ehemaligen Kron-Stifts-, nun hohen Dom-Kirche zu Aachen, Aachen 1804. Ders.: Meine historischen Gedanken über die Stadt Aachenschen Fabriken in Hinsicht des Alterthums, Aachen 1807. Ders.: Aachen und seine Umgebungen. Nebst einer lateinischen Ode, Essen 1818. Ders.: Der Monarchenkongreß im Jahr 1818, Aachen 1819. Moser, Johann Jacob: Staats-Recht des Heil. Röm. Reichs Statt Aachen, Leipzig-Franckfurt 1740. Müller, Johann Joachim: Reichs-Tags Theatrum Maximiliani I., Bd. 1, Jena 1719. Müller, Klaus: Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/1815, Darmstadt 1986. Mummenhoff, Wilhelm (Bearb.): Regesten der Reichsstadt Aachen (einschliesslich des Aachener Reiches und der Reichsabtei Burtscheid), Bd. 2: 1301–1350, Köln 1937. Ders.: Regesten der Reichsstadt Aachen (einschließlich des Aachener Reiches und der Reichsabtei Burtscheid), Bd. 1: 1251–1300, Bonn 1961. Nithard: Vier Bücher Geschichten, in: Reinhold Rau (Hg., Übers.): Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Bd. 1, Darmstadt 1980, S. 385–461. [N.N.]: Des Königlichen Stuhls und der Kaiserlichen freyen Reichs-Stadt Aachen Raths- und Staats-Kalender oder Schematismus auf das Jahr Christi 1786, Aachen o.J. [1786] (ND Essen 1997). [N.N.]: Die Aachener Heiligthumsfahrt vom 10. bis zum 30. Juli 1846 [...], Köln o.J. [1846]. [N.N.]: Zur fünfzigjährigen Jubelfeier der Einverleibung der Rheinprovinz in Preussen. Von einem Rheinpreußen, Berlin 1865.
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10 Quellen- und Literaturverzeichnis
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10.3 Literatur
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