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German Pages [572] Year 2023
Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editors Liv Ingeborg lied (Oslo) · Christoph Markschies (Berlin) Martin Wallraff (München) · Christian Wildberg (Pittsburgh) Beirat/Advisory Board Peter Brown (Princeton) · Susanna Elm (Berkeley) Johannes Hahn (Münster) · Emanuela Prinzivalli (Rom) Jörg Rüpke (Erfurt)
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Annemarie Pilarski
Der Libellus Carminum des Eugenius von Toledo Poesie als Lebensbewältigung und spirituelle Praxis
Mohr Siebeck
Annemarie Pilarski, geboren 1993; 2011−2017 Lehramtsstudium Lateinische Philologie und Katholische Theologie, Universität Regensburg; 2021 Promotion; seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Alte Kirchengeschichte und Patrologie der Fakultät für Katholische Theologie, Universität Regensburg. orcid.org/0000-0003-0994-9186
ISBN 978-3-16-161007-3 / eISBN 978-3-16-162116-1 DOI 10.1628/978-3-16-162116-1 ISSN 1436-3003 / eISSN 2568-7433 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp und Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Dieses Buch stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Sommersemester 2021 von der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg angenommen wurde. Eugenius von Toledo, der Gegenstand meiner Arbeit, zu dem ich nach der langen Zeit, in der mich seine Gedichte begleitet haben, auch eine irgendwie persönliche Verbindung verspüre, war sich sehr bewusst, wie wichtig die Menschen in seinem Umfeld für ihn sind und wie sehr er auf sie angewiesen ist: Bittet er doch in carm. 35 um die helfende Hand seiner cari: praebete socio cum pietate manum. All den Menschen, die mir während meiner Arbeit immer wieder diese helfende Hand entgegengestreckt haben, möchte ich hier von Herzen danken. Ohne sie hätte ich dieses Ziel nicht erreichen können. Das gilt besonders für Prof. Dr. Andreas Merkt, der meine Arbeit betreut hat und mich nicht nur jederzeit unterstützt, sondern den Raum geschaffen hat, in dem diese Arbeit gedeihen konnte: Durch seine unaufdringliche Hartnäckigkeit darin, mir die Wissenschaft als Arbeitsfeld nahezubringen, durch ehrliche Gespräche und Rückmeldungen, durch so viele inhaltliche Impulse und schließlich dadurch, dass ihm der schwierige Balanceakt zwischen dem Gewähren von Freiheiten und dem Setzen von Strukturen so hervorragend gelungen ist. Ebenso gilt mein Dank dem ganzen Team des Lehrstuhls für Alte Kirchengeschichte und Patrologie, an dem ich seit dem Wintersemester 2017/18 als Assistentin arbeite. Marko Jovanoviü hatte immer ein offenes Ohr und eine Tasse Kaffee für mich. Viele ehemalige und aktuelle studentische Hilfskäfte unseres Lehrstuhls haben die Arbeit geduldig, tatkräftig und zuverlässig unterstützt: Maria Meier bei der Quellenarbeit, Simon Heimerl und besonders Franziska Deller bei der Publikationsvorbereitung. Dass dies möglich war, verdanke ich dem finanziellen Zuschuss der Frauenförderung der Universität Regensburg, wofür ich auch dem Frauenbeauftragten unserer Fakultät, Prof. Dr. Wolfgang Baum, danken möchte. Die Fakultät für Katholische Theologie war dabei ein Umfeld, in dem fachlicher und persönlicher Austausch in unterschiedlichsten Formaten gefördert wurde. Auch das an die Fakultät angeschlossene Centre for Advanced Studies Beyond Canon_ hat mir, obwohl meine Forschungsinteressen zunächst andere waren, immer die Türen geöffnet, wovon meine Arbeit wahrscheinlich mehr
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Vorwort
profitiert hat, als man ihr anmerkt. Daher gilt mein Dank auch allen, die mich zu verschiedenen Anlässen an ihrem Wissen und ihrer Erfahrung haben teilhaben lassen. Besonders danken möchte ich Prof. Dr. Tobias Nicklas für die gemeinsame Diskussion meiner Gliederung und Prof. Dr. Harald Buchinger für seine regelmäßigen Ermutigungen und seine Hinweise zur altspanischen Liturgie. Meinen Mittelbaukolleginnen und -kollegen danke ich für kathartische Gespräche und lange Schreibabende im Sitzungszimmer der Fakultät und den Studierenden der Fakultät dafür, dass sie mit bohrenden Fragen mich immer wieder gezwungen haben, über den Rand meines Themas hinauszudenken. Schließlich gilt mein herzlicher Dank den Herausgebern dieser Reihe Prof. Dr. Liv Ingeborg Lied, Prof. Dr. Christoph Markschies, Prof. Dr. Martin Wallraff und Prof. Dr. Christian Wildberg für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe „Studien und Texte zu Antike und Christentum“ sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Mohr Siebeck Verlags, besonders Markus Kirchner, Elena Müller und Ilse König, für die konstruktive Betreuung. Bleiben noch die Menschen, die mir im Privaten jederzeit zur Seite gestanden und durch viele kleine Gesten zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben – oder auch einfach nur für mich da gewesen sind: Meine Freunde und meine Familie. Ingrid Jande hat einige Kapitel zur Korrektur gelesen und hilfreiche Anmerkungen dazu gegeben. Meine Eltern sind immer hinter mir gestanden, haben mich ermutigt und mich in der Abschlussphase von manchen kleinen anderen Aufgaben entlastet. Und schließlich bin ich Michael, meinem Mann, unendlich dankbar für die Nächte, die er sich mit der Korrekturlektüre um die Ohren geschlagen hat, und noch für so vieles mehr. Einer Person kann ich leider nicht mehr persönlich danken. Prof. Dr. Thomas Karmann, der das Zweitgutachten zu meiner Dissertation spontan übernommen und mich durch seine Vorlesungen an die Patristik herangeführt hat, ist im vergangenen Jahr überraschend und viel zu früh von uns gegangen. Dieses Buch ist auch ihm und seinem Andenken gewidmet. Regensburg, im März 2022
Annemarie Pilarski
Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................... V Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. XIII Tabellenverzeichnis .................................................................................... XV
Erster Teil: Hinführungen ...................................................................... 1 1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand .............................................. 3 1.1 Begründung des Forschungsvorhabens ............................................ 3 1.2 Methodisches Vorgehen .................................................................10 1.3 Perspektiven der Untersuchung ......................................................12 1.3.1 Spiritualitätsgeschichte und die ‚History of Emotions‘ .......13 1.3.2 Performativität und Performanz literarischer Texte.............20 1.3.3 Das lyrische Ich – zwischen Dichter und persona ...............24 1.4 Forschungsüberblick: Text und Interpretationen des Libellus carminum ....................................................................31 1.4.1 Textkritik ............................................................................31 1.4.2 Eugenius von Toledo in Literaturgeschichten .....................34 1.4.3 Analysen .............................................................................36 2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius vor seinem sozio-kulturellen Hintergrund ...............................................41 2.1 Biographischer Abriss ....................................................................41 2.1.1 Vorbemerkungen zur Hauptquelle: Ildefons von Toledo, de uiris illustribus...............................................................41 2.1.2 Sagaci fuga: Von Toledo nach Saragossa ...........................45 2.1.3 Principali uiolentia? Eugenius’ Berufung nach Toledo ......47 2.1.4 Eugenius’ Verhältnis zu Chindasuinth ................................50 2.2 Leid, Körper und Daseinsnot ..........................................................52 2.2.1 Ildefons: corpore tenuis, paruus robore ..............................52 2.2.2 „In diesem Fleisch, in dem wir sind und leben“ – Eugenius als Lehrer des Julian von Toledo .........................57
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Inhaltsverzeichnis
2.2.3 Eugenius’ Brief an Braulio: „Weshalb meine Seele zergeht“ ..............................................................................63 2.2.4 Eugenius’ Brief an Protasius: inutilitas morum und adsiduus languor ................................................................65 2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit: Das Zeugnis der sekundären Quellen ........................................................................70 2.3.1 Die Werkliste des Eugenius bei Ildefons.............................70 2.3.2 Eugenius als Liturgiegestalter: Ildefons und das Zeugnis der bischöflichen Korrespondenz ........................................74 2.3.3 Eugenius und die Dichtkunst: „Von der Last des Geschwätzes befreien“........................................................77 2.3.4 Die Epistula Taionis ad Eugenium: In welcher Form kannte Eugenius das Werk Gregors des Großen? ................81 2.4 Zusammenfassung ..........................................................................95 2.4.1 Das biographische Profil des Eugenius ...............................95 2.4.2 Das literarische Profil des Eugenius aus den äußeren Quellen ...............................................................................97
Zweiter Teil: Analyse des Libellus carminum .................................99 3 Die Makrostruktur des Libellus .............................................................101 3.1 Die Gattungsfrage.........................................................................101 3.1.1 Der libellus aus vielen Gattungen .....................................101 3.1.2 Nugae – Die poetische Kleinform .....................................106 3.1.3 Epigramma – ein heterogenes Genre ................................108 3.1.4 Dia poemata: Orationes/Hymnen zwischen Poesie und Liturgie .............................................................................126 3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus..................................130 3.2.1 Die Rekonstruktion des Libellus aus den Handschriften ...130 3.2.2 Der Aufbau des Libellus: Überblick über die Gedichte .....134 3.2.3 Thematisch-generische Gruppierung als Strukturprinzip ..138 3.2.4 Der Libellus vom Anfang her gedacht – inhaltliche Progression im Libellus carminum? ..................................139 4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre des Libellus carminum ............143 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
carm. praef.: Ein pastorales Vorwort ............................................143 carm. 1: Einleitendes Gebet ..........................................................144 carm. 2–4: Die condicio humana ..................................................151 carm. 5–5b: Klage aus Sünde und Leid ........................................155 carm. 6–7: Moralisierende Gedichte .............................................158 carm. 8: Ein Bibel-titulus .............................................................159
Inhaltsverzeichnis
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4.7 carm. 9–12: Basilika-tituli ............................................................161 4.8 carm. 13–15: Krankheit, Alter und Tod ........................................163 4.9 carm. 16–19: Die Auto-Epitaphe ..................................................165 4.10 carm. 21–24: Epitaphe aus Saragossa ...........................................168 4.11 carm. 25–26: Epitaphe für die Königsfamilie ...............................170 4.12 carm. 27–29: Epitaphe für Nicholaus ...........................................174 4.13 carm. 30–34: Nachtigall, Ulmen und Spatzen – lyrische Naturbetrachtung und Poetologie..................................................175 4.14 carm. 35–36: Streit und Versöhnung ............................................179 4.15 carm. 37–43: Aufzählende Epigramme.........................................183 4.16 carm. 44–75: Naturrealien, Gebrauchsgegenstände und poetische Grüße ............................................................................184 4.17 carm. 76: Conclusio .....................................................................186 4.18 carm. 77–79: Bettverse .................................................................187 4.19 carm. 80–96: Sprichwörter ...........................................................189 4.20 carm. 97–100: Briefgedichte an Eusychius ...................................189 4.21 carm. 101: Sommerleiden .............................................................192 5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen ........................................................200 5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen ...............................200 5.1.1 Theologischer Kommentar zur Überschrift .......................200 5.1.2 Struktur ............................................................................207 5.1.3 Kommentar .......................................................................208 5.1.4 Fazit .................................................................................228 5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße ................................230 5.2.1 Struktur ............................................................................232 5.2.2 Metrik ...............................................................................233 5.2.3 Kommentar .......................................................................233 5.2.4 Fazit .................................................................................253 5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit ......................256 5.3.1 Vorbemerkungen: Ein Prolog zu carm. 14–14b?...............257 5.3.2 Struktur ............................................................................259 5.3.3 Metrik ...............................................................................260 5.3.4 Kommentar .......................................................................260 5.3.5 Fazit .................................................................................268 5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer ...........................................274 5.4.1 Struktur ............................................................................277 5.4.2 Kommentar .......................................................................291 5.4.3 Fazit .................................................................................347 5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters ........................................366 5.5.1 Struktur ............................................................................367 5.5.2 Metrik ...............................................................................367
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Inhaltsverzeichnis
5.5.3 Kommentar .......................................................................368 5.5.4 Fazit: Eine kleine (minimalistische?) Poetologie der Klage ................................................................................378
Dritter Teil: Poesie zwischen Askese und Lebensbewältigung.. .............................................................................383 6 Die condicio humana als Grundperspektive der Carmina......................385 6.1 Vitae stadium: Das Leben als zu bewältigende Aufgabe ...............385 6.2 Die doppelte Instabilität des Menschen ........................................389 6.2.1 Die körperliche Bedrohung des Menschen: Sterblichkeit und Vergänglichkeit .........................................................391 6.2.2 Die seelisch-geistige Bedrohung des Menschen: Leid und Sünde .........................................................................396 6.2.3 Der Kontext der Instabilität: Die verführerische und feindliche Welt .................................................................399 6.3 Die Frage nach dem Konnex von individueller Sünde und individuellem Leid .......................................................................403 7 Klagepoesie als Reaktion auf die huius uitae mala ................................409 7.1 Die condicio humana als Klagegrund ...........................................409 7.2 Die Frage nach der Funktionalität der Klage ................................412 7.2.1 Scribere nam uersus impulit, ecce, dolor: Das Leid als hinreichender Klagegrund ............................412 7.2.2 Cantu depellere pestem? Linderung durch Klage..............416 8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis? ................................422 8.1 Historische Vorbemerkungen: Bußspiritualität zwischen Ritual, Handlung und Emotion .................................................................422 8.1.1 Paenitentia publica im wisigotischen Spanien ..................423 8.1.2 Buße im spirituell-asketischen Diskurs des wisigotischen Spanien .............................................................................427 8.1.3 Literarische Klage und Bußspiritualität – Formexperimente ..............................................................430 8.2 Klage und conpunctio cordis ........................................................432 8.2.1 Die conpunctio cordis als komplexe spirituelle Emotion ..433 8.2.2 Klage als performative conpunctio in den Carmina? ........442 8.3 Poesie und Bußperformanz ...........................................................447 8.3.1 Klagepoesie als Hilfe und literarische Form der Tränen der Buße? .........................................................................447
Inhaltsverzeichnis
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8.3.2 Confessio und Gebet als heilsbedeutsame Sprechakte .......451 9 Metapoetische Perspektive ....................................................................455 9.1 Die Sprechhaltung in den Carmina ...............................................455 9.1.1 Stilisierung der Dichter-persona als Leidender und Sünder ..............................................................................455 9.1.2 Ich, Du, Ihr, Wir: Die poetische Konstruktion einer Gemeinschaft der Sündigen ..............................................457 9.2 Die intertextuelle Technik ............................................................460 9.2.1 Zwischen Poesie und Prosa: Die Vielfalt der Intertexte ....460 9.2.2 Strukturbildende Intertexte ...............................................463 9.3 Die Grenzen der spirituellen Funktionalisierung der Poesie ..........464 10 Der Libellus carminum im Kontext spätantiker Literaturund Geistesgeschichte ...........................................................................467 10.1 Der Libellus carminum im Kontext spätantiker Poesie .................469 10.1.1 Gattungstradition und Dichtungshaltung ...........................469 10.1.2 Die Christianisierung der Poesie und der poetischen Praxis................................................................................473 10.2 Lose Enden und offene Fragen .....................................................477 Literaturverzeichnis ....................................................................................481 Stellenregister.............................................................................................521 Autorenregister...........................................................................................547 Personen- und Sachregister.........................................................................549
Abkürzungsverzeichnis AH AL BLAISE CCH CCL CCM CLE CSEL DSp GEORGES
ICERV IHC LLT-A MGH OLD PG PL RAC
SC SOUTER THLL
Analecta Hymnica Medii Aevi Anthologia Latina I. Carmina in codicibus scripta – ed. D. R. SHACKLETON BAILEY et A. RIESE, Leipzig 1906–1982. BLAISE, A., Dictionnaire Latin-Français des Auteurs Chrétiennes, Turnhout 1954. La Collección Canónica Hispana – ed. G. MARTÍNEZ DÍEZ y F. RODRÍGUEZ, Madrid 1984–1992. Corpus Christianorum. Series Latina Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis Anthologia Latina II. Carmina Latina Epigraphica – ed. F. BUECHELER; Supplementum cur. E. LOMMATZSCH, Stuttgart 1982. Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique, doctrine et histoire, hg. von M. VILLER u.a., Paris 1937–1995. GEORGES, K. E., Der Neue Georges. Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, hg. von T. BAIER, bearbeitet von T. DÄNZER, 2 Bde., Darmstadt 16 2013. Inscripciones cristianas de la España Romana y Visigoda – ed. J. VIVES, Barcelona 1969. Inscriptiones Hispaniae Sacrae – ed. E. HÜBNER, Berlin 1871. Brepols Publishers Online (Hg.), Library of Latin Texts, Series A, 2014. Monumenta Germaniae Historica GLARE, P. W. G. (Hg.), Oxford Latin Dictionary, 2 Bde., Oxford 1982. Patrologia Graeca – ed. J.-P. MIGNE Patrologia Latina – ed. J.-P. MIGNE Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, hg. von Th. KLAUSER u.a., Stuttgart 1950–. Sources Chrétiennes SOUTER, A., A Glossary of Later Latin. To 600 A.D., Oxford 1949. Thesaurus Linguae Latinae editus auctoritate et consilio Academiarum quinque Germanicarum, Leipzig 1900–.
Für die Werkabkürzungen antiker, spätantiker und frühmittelalterlicher Autoren wurden folgende Abkürzungsverzeichnisse verwendet: BLAISE, A., Dictionnaire Latin-Français des Auteurs Chrétiennes, Turnhout 1954. DÍAZ Y DÍAZ, M. C., Index scriptorum latinorum Medii Aevi Hispanorum, Madrid 1959. LAMPE, G.W.H., A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961.
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Abkürzungsverzeichnis
Thesaurus Linguae Latinae. Index librorum scriptorum inscriptionum ex quibus exempla afferuntur, Leipzig 21990. Sämtliche Autoren- und Werkabkürzungen sind auch über das Literaturverzeichnis auflösbar.
Tabellenverzeichnis Tab. 1: Strukturübersicht des Libellus carminum.............................................................135 Tab. 2: Metrische Struktur carm. 14 und 14b Alberto......................................................278 Tab. 3: Inhaltsübersicht carm. 14 Alberto........................................................................282 Tab. 4: Überleitungen in carm. 14....................................................................................282 Tab. 5: Altersbeschwerden bei lateinischen Dichtern, ausgehend von carm. 14...............306
Erster Teil
Hinführungen
1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand 1.1 Begründung des Forschungsvorhabens 1.1 Begründung des Forschungsvorhabens
Labilem cursum fugientis aeui / carmine planxi.1 So fasst Eugenius II. von Toledo († 657) rückblickend einen Teil seiner Dichtung zusammen, der gemeinhin als der charakteristischste Teil seiner Poesie gilt: die Klage über den flüchtigen und vergänglichen Lauf der Welt, dem der Mensch unterworfen ist. Die zeitlich verfasste Welt erscheint in der Dichtung des Toledaner Bischofs in erster Linie als Ort des Leidens: In seiner körperlichen Dimension plagen den Menschen Beschwernisse, Krankheiten und die Aussicht auf den stetig herannahenden Tod, in seiner seelischen Dimension belasten ihn Unfrieden und die Verstrickungen der Sünde, in denen er lebt und aus denen er sich nicht aus eigener Kraft zu befreien vermag. So verwundert es kaum, dass moderne Interpretinnen und Interpreten seinen Gedichten einhellig einen pessimistischen Grundzug attestieren.2 Eugenius selbst hingegen bezeichnet seine Gedichte in der programmatischen Vorrede seines Libellus carminum in guter poetischer Tradition 3 als nugae (carm. praef. 11), als Kleinigkeiten, leichte Spielereien, die zwar durchaus ästhetischen Anspruch erheben können, die man aber nicht allzu ernst nehmen sollte. Damit steht sein Libellus vorwiegend in der Tradition der lateinischen Epigrammatik, einer verspielten Gattung, die vor allem in spätantiker Zeit dem Ideal der Vielfalt in metrischer wie inhaltlicher Hinsicht folgt.4 In seinem 101 Gedichte und eine poetische Vorrede umfassenden Gedichtbuch lassen sich zwar thematische Gruppierungen vornehmen (etwa eine Reihe von vier Gedichten über die Nachtigall) und inhaltliche Schwerpunkte ausmachen, doch weder bietet das Gedichtbuch eine thematische Einheit noch eine ununterbrochen fortlaufende Handlung. Die Themen sind bunt gemischt und reichen 1
Eugenius von Toledo, carm. 14b,19–20 (CCL 114,232 ALBERTO). Vgl. bereits RABY 1953/11927, 127, DIESNER 1980, 477, CODOÑER 1981, 330 und ALBERTO 2003, 356. 3 Vgl. z.B. Catull, carm. 1,4 (2 BARDON) und im Anschluss an diesen Ausonius, praef. var. 4,7 (5 GREEN); Martial, epigr. 4,10,4; 4,84,4; 6,64,1; 10,18,4 (118; 145; 198; 322 SHACKLETON BAILEY), um nur die prominentesten Stellen zu nennen, sowie Ausonius, ep. 3,10 (216 GREEN). 4 Vgl. BERNT 1968, 42. 2
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
von banal wirkenden Alltags- und Naturbeobachtungen über Anlassdichtungen bis hin zu theologischer Reflexion in Form gebetsähnlicher Dichtungen, die im Einzelfall sogar für den liturgischen Gebrauch geeignet scheinen und vielleicht auch dafür angedacht waren. Vom Abwechslungsprinzip ist schließlich auch die Metrik geprägt: Das elegische Distichon ist zwar vorherrschend, wird aber mit den verschiedensten klassischen Metren variiert, teils sogar innerhalb eines Gedichtes. Der Umfang der Gedichte reicht von Einzeilern bis hin zum 80 Verse umfassenden carm. 14. War Eugenius’ Dichtung lange Zeit von Literaturhistorikern sowohl belächelt als auch vernachlässigt worden, so kann man seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer allmählichen Wiederentdeckung des wisigotischen5 Dichters sprechen, die ihren Höhepunkt sicherlich in der neuen und nach modernen Standards herausgegebenen Textedition von Paulo Alberto gefunden hat. Auch bei der Einordnung und Bewertung der Dichtung des Eugenius zeichnet sich ein Richtungswechsel ab. Während seine prominente Stellung als schon in seinem eigenen Umfeld hochgeschätzter Dichter einer keineswegs poesielosen Zeit6 niemals bestritten wurde,7 war die Qualität seiner Dichtung vor dem Hintergrund eines klassizistischen Stilideals lange Zeit abgewertet worden, wenn es auch einige frühe Verteidiger gab.8 Beispielhaft hierfür kann das vernichtende Urteil Frederic Rabys stehen, der Eugenius’ Dichtung als symptomatisch für eine Epoche des allgemeinen kulturellen Niedergangs empfindet:
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Die Bezeichnung „wisigotisch“ bzw. „Wisigoten“ wird hier anstelle des im deutschen Sprachraum geläufigeren Begriffes „westgotisch“ bzw. „Westgoten“ verwendet, da sie der Namensherkunft sachlich zutreffender Rechnung trägt: Der Name Wisigothi leitet sich von einer Selbstbezeichnung der Gruppe als vesi, die Guten bzw. die Edlen, ab und steht in keinem ersichtlichen Zusammenhang zur Himmelsrichtung; vgl. KAMPERS 2008, 41. Auch Gerd Kampers verwendet in seiner Geschichte der Westgoten diese Bezeichnung daher nur im Titel (aus Gründen der Wiedererkennung), spricht aber sonst konsequent von den „Wisigoten“: „Man wird einen Herrn Edelmann vernünftigerweise nicht Herrn Westermann nennen.“ (a.a.O., 15). 6 Vgl. ALBERTO 2014a und HOLTZ 1992a, die einen guten ersten Überblick über erhaltene Werke liefern und vor deren Hintergrund eine Gesamtschau der wisigotischen Dichtung bieten. 7 Vgl. BRUNHÖLZL 1975, 95, BERNT 1968, 137 sowie SZÖVÉRFFY 1970, 310. 8 Vgl. schon MANITIUS 1889, 548: „[Seine Gedichte] verdienen das harte Urtheil nicht“; vgl. auch MANITIUS 1965/11911, 196: „Der Inhalt dieser Gedichte ist nicht bedeutend: zieht man die übliche Rhetorik ab, so bleibt nicht viel übrig. Manche sind allerdings lebendig geschrieben, besonders die Klagen über Alter und Krankheit.“ VOLLMER 1901, 393: „Freilich zeugt seine Prosodie deutlich von der Verwilderung der Aussprache seiner Zeit; aber seine Sprache darf im Allgemeinen gut, ja reich genannt werden.“
1.1 Begründung des Forschungsvorhabens
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His verses with their metrical faults, their barbarism of phrase, their poverty of contents, their characteristics of acrostic, telestich, and epanalepsis illustrate the declining culture of the seventh century.9
In jüngerer Zeit hingegen konzentriert man sich zunehmend weniger auf Mängel, die bei Anlegung des als anachronistisch abzulehnenden klassischen Bewertungsmaßstabs tatsächlich auffallen müssen. Stattdessen werden die originellen Züge seiner Dichtung stark gemacht, die gerade auch vor dem Hintergrund der poetischen Tradition aufscheinen. Die Entdeckung dieser Originalität nimmt ihren Anfang mit einem Aufsatz von Carmen Codoñer, die darin auch das grundlegende Defizit der bis dato geschehenen Forschung zu Eugenius’ Gedichten aufzeigt: Man interessierte sich lange weit mehr für die Quellen und Vorbilder seiner Dichtung, die in der Tat wichtige Aufschlüsse für eine Kulturgeschichte des spanischen Wisigotenreiches von Toledo liefern können,10 als für seine Dichtung an sich. Die Quellenforschung überwiegt bislang gegenüber der Analyse des Textes (der Einzelgedichte wie des gesamten Libellus) als eigenständiges Kunstwerk.11 Aus heutiger Perspektive wäre angesichts der umfangreichen Arbeiten Paulo Albertos zu ergänzen: Ebenso hat die Erforschung der wisigotischen und dann auch karolingischen Rezeption des Eugenius mehr Raum eingenommen als die Analyse und Interpretation der Texte selbst.12 Dabei kann, wie Carmen Codoñer an fünf Gedichten eindrucksvoll aufzeigt, eine solche Analyse Eigenarten des Eugenius zutage bringen, die Eugenius gerade nicht als handwerklich schlechten Epigonen der klassischen und spätantiken Tradition erscheinen lassen. Codoñer identifiziert hierbei als Hauptmerkmal des Dichters seinen unorthodoxen Umgang mit den überkommenen Topoi der klassischen und spätantiken Dichtung, die er als Sprachmedium für seine konkreten, individuellen Befindlichkeiten zu nutzen und so mit neuem Leben zu füllen verstehe:
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RABY 1953/11927, 127. Vgl. zur dahingehenden Auswertung der Eugenius-Dichtung ALBERTO 2014a, bes. 123–149. 11 Vgl. CODOÑER 1981, 324–325. 12 Unter den Werken Albertos beschäftigen sich sechs mit Analyse und Interpretation einzelner Gedichte des Eugenius, stellen aber keine übergreifenden Zusammenhänge über die Einzelgedichte hinaus her: ALBERTO 2016, ALBERTO 2014c, ALBERTO 2012 zum Teil, ALBERTO 2005b zum Teil, ALBERTO 2003, ALBERTO 2002a zum Teil; allein den Quellen und literarischen Vorbildern sind zwei Werke gewidmet: ALBERTO 2012 und ALBERTO 2002b; der Manuskripttradition neben der von ihm herausgegebenen textkritischen Edition sechs: ALBERTO 2014b, ALBERTO 2007, ALBERTO 2006, ALBERTO 2004a, ALBERTO 2004b, ALBERTO 1999a, der Rezeption des Eugenius sieben: ALBERTO 2018, ALBERTO 2011, ALBERTO 2010a, ALBERTO 2010b, ALBERTO 2008b, ALBERTO 2002c, ALBERTO 1999b, ALBERTO 1998. Eine von Alberto im Vorwort seiner Edition erwähnte Dissertation in Form eines Kommentars zum Libellus carminum wurde nie herausgegeben. 10
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand The development of the topic moves away from the conventional terrain. The most astonishing thing is that we are not faced with a satirical treatment of the theme, which would justify the presence of the lexical vulgarisms and the inversion of the topics. Real feelings break through a stereotype imposed by the preceding tradition.13
Zu einem ähnlichen Schluss kommt Paulo Alberto, der diesen Zug der Dichtung des Eugenius an dessen Bearbeitung des Sommer-Topos in carm. 101 nachweist.14 Jüngst hat Kurt Smolak in seiner Analyse derjenigen Gedichte, in denen Eugenius ein (wohl biographisch zutreffendes) körperliches Leiden beklagt und reflektiert, vor dem Hintergrund möglicher Quellen und Vorbilder eine starke Tendenz zur Individualisierung und Ich-Zentrierung in Eugenius’ Dichtung herausgearbeitet,15 was sich mit den erwähnten Beobachtungen Codoñers ebenfalls gut in Einklang bringen lässt. Die genannten Stimmen der Forschung, die Eugenius’ Gedichte positiv würdigen können, teilen dabei eine auffällige Gemeinsamkeit: Sie konzentrieren sich nicht auf die (freilich zahlreichen und für sich keineswegs uninteressanten)16 Alltags- bzw. Schuldichtungen des Eugenius, die ihm seinen zweifelhaften Ruf als Dichter eingebracht haben dürften,17 sondern auf diejenigen Dichtungen, in denen Eugenius ernsthaftere Töne anschlägt: auf die Epitaphe, auf seine Klagegedichte und die ebenso mit existentiellen Grundfragen aufgeladenen gebetsähnlichen Gedichte. Vieles spricht dafür, diese Gedichte als das Herzstück der Dichtung des Eugenius zu betrachten: Es sind meist die längsten Gedichte in seiner Sammlung, sie nehmen innerhalb der Gesamtzahl seiner Verse den größten Raum ein18 und sie weisen im Vergleich zu den vielen Ein-
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CODOÑER 1981, 340. Vgl. ALBERTO 2003, passim. 15 Vgl. SMOLAK 2010, passim. 16 Beispielhaft dafür, dass auch diese Dichtungen keineswegs immer banal sind, mag das carm. 75 stehen: Das zunächst im ersten elegischen Distichon in typischer Manier an einen Alltagsgegenstand gerichtete Gedicht – hier das Handtuch, das man sich nach dem Baden umlegt –, bildet durch das zweite Distichon eben diesen Gegenstand zu einer sünden- und tauftheologisch aufgeladenen Metapher um. 17 Vgl. CODOÑER 1981, 325: „Some features of Eugenius’ poetry may help to explain the negative attitude of the majority of scholars. There is a high proportion of scholastic poems or school exercises in his work, on subjects such as the invention of the alphabet, the days of the Creation, the plagues of Egypt, the qualities of animals, vegetables and minerals, etc. Some poems are simply exercises in versification: versi disrupti, epanaleptics, acrostichs, telestichs.“ 18 Beispielsweise ist dem Thema ‚Alter‘ mit dem 80 Verse umfassenden carm. 14 das längste Gedicht gewidmet; der Themenkomplex der Epitaphe hat mit insgesamt 176 von 919 das zumindest quantitativ größte Gewicht, gefolgt vom Themenkomplex ‚Alter‘ mit insgesamt 104 Versen, zu dem ein Kreis von allgemein dem körperlichen Leiden gewidmeten Gedichten noch dazuzuzählen wäre. 14
1.1 Begründung des Forschungsvorhabens
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bis Vierzeilern oft eine bewusst gestaltete inhaltliche Struktur auf.19 Ein weiteres häufiges Unterscheidungsmerkmal dieser Gedichte ist, dass sie, anders als in den eher naturkundlich-epigrammatischen Gedichten des Libellus carminum, meist persönlicher Natur sind, d.h., sie sind aus der Perspektive eines lyrischen Ichs verfasst, das manchmal namentlich, oft aber auch in der Zusammenschau mit anderen Gedichten des Gedichtbuches als persona des Dichters identifizierbar ist. In thematischer Hinsicht scheinen diese Gedichte zunächst ebenso vielfältig, wie es das gesamte Gedichtbuch ist: Zu nennen wären die Themen Krankheit, Alter, Tod, Jenseits, Sündhaftigkeit, Friede (im politischen, religiösen und persönlichen Bereich), Moral und Moralvermögen, schließlich oft sehr verhalten: die Gottesbeziehung des Menschen. Hinter dieser Vielfalt zeichnet sich jedoch auch ein gemeinsames inhaltliches Grundinteresse ab. Ein Stichwort, das in der Forschung wie beiläufig immer wieder fällt, ist das der condicio humana – „human condition“.20 Paulo Alberto überschreibt damit die carm. 2–5 und 13–15 sowie 101 und bezeichnet sie als „the most remarkable poems of the Visigothic period.“ 21 In der Tat scheint das Allgemeinmenschliche inhaltlich den kleinsten gemeinsamen Nenner der beschriebenen, aus dem Libellus hervorstechenden Gedichte darzustellen (nicht nur, aber insbesondere der von Paulo Alberto unter diesem Begriff subsumierten Gedichte). Diese inhaltliche Bestimmung wirkt zunächst sehr unspezifisch: Zielt die persönlich-lyrische Dichtung nicht immer auf das Allgemeinmenschliche ab? Besonders im christlichen Verständnis des ersten Jahrtausends hat der Reflexionsbegriff der condicio humana jedoch eine besondere Schlagseite: Er bezeichnet die Unvollkommenheit, Instabilität und Fragilität des menschlichen Lebens in seiner körperlichen und seelisch-geistigen Dimension.22 Darin unterscheidet sich der Mensch – als Geschöpf – grundlegend von Gott, seinem Schöpfer, dem einzig Ewigen und Beständigen, der den Menschen jedoch an seinem Zustand hätte teilhaben lassen, wenn dieser sich nicht willentlich von ihm abgewandt hätte. Im christlichen Kontext ist die als leidvoll erfahrene condicio humana also Ergebnis des Sündenfalls, aus dem körperliche Anfälligkeit und Sterblichkeit, 19
Vgl. carm. 14, das mit einer Art Vorrede ausgestattet ist, dann den Themen Krankheit und Alter zwei (ins Negative gekehrte) Hymnen widmet, um dann überzuleiten in einen Rückblick auf das eigene Leben in Verbindung mit einem gebetsähnlichen Abschluss. Die genannten Teile sind über kurze Ausblicke und zusammenfassende Rückbeziehungen gegliedert, wie z.B. carm. 14,51–52 (CCL 114,230 ALBERTO): Multa pauenda quidem cecini multaque tremenda, / sed mage quid uerear, nunc lacrimando loquar. 20 Vgl. CODOÑER 1981, 338 (über carm. 13), ALBERTO 2003, 350 über carm. 101 und ALBERTO 2014a, 122 über carm. 2–5 und 13–15. Vgl. für das Stichwort auch TIZZONI 2012, 259. 21 ALBERTO 2014a, 173. 22 Vgl. dazu BALMER 2020, 11–13.
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
aber auch die moralischen und spirituellen Beschränkungen des Menschen resultieren. Für dieses Konglomerat an Sündenfolgen steht der Begriff der condicio humana etwa bei Ambrosius: denique peccatum ab Adam, […] ex illo praeuaricatio, ex quo et humana condicio.23 Es ist also in erster Linie ein Negativbegriff und umschreibt das Schwache im Menschen und seine Abhängigkeit von Gott.24 Auch Eugenius’ Gedichte beleuchten die menschliche Existenz, insbesondere diejenige der Dichter-persona selbst, in der Regel unter dem Aspekt des Leides, der Instabilität, der Sündhaftigkeit und der Angewiesenheit auf Gottes Gnade. Der Modus, in dem sich die Gedichte der condicio humana nähern, ist im Fall der carm. 2 und 3 objektiv-beschreibend. Noch häufiger aber werden dem lyrischen Ich die leidvollen Konsequenzen der menschlichen Verfasstheit und seine eigene Sündhaftigkeit Anlass zu verzweifelter, leidenschaftlicher Klage. Die Trostlosigkeit, die in den Gedichten zum Ausdruck kommt, ist im Übrigen Anlass für einen weiteren Vorwurf, der gegen die Gedichte des Eugenius erhoben wurde: den der Larmoyanz, der sich in der Zuschreibung von pessimistischen Charakterzügen entweder an den Dichter selbst oder an sein Werk äußert. So sei Eugenius ein Dichter gewesen, „der in dieser Welt zumeist nur noch das Dunkle sah“.25 Ihm wird ein „Hang zum Skrupulösen und auch zur Depression“ 26 attestiert. Seine Dichtung zeige nach dem bereits zitierten Frederic Raby „that medieval pessimism which we have already remarked in Gregory the Great.“27 Nach Andrew Fear könne gerade bei modernen Leserinnen und Lesern der Eindruck entstehen, Eugenius sei wehleidig und seine Gedichte seien ein einziges Gejammer über seine zahlreichen Leiden – ein Vorwurf, gegen den er den wisigotischen Dichter mit guten Gründen zu verteidigen sucht.28 Aus Eugenius’ eigenem Kulturkreis, in dem er gerne gelesen und rezipiert wurde, ist dieser Vorwurf jedenfalls nicht zu hören. Dort schien niemand seine Klage – am wenigsten die Sündenklage – als etwas Kritikwürdiges zu empfinden. Im Gegenteil wurde vor allem der Sündenklage sogar eine hohe spirituelle Valenz zugeschrieben: Nach Gregor dem Großen, den bereits Frederic Raby 23
Ambrosius von Mailand, Tob. 23,88 (CSEL 32/2,570 SCHENKL). Vgl. ebenfalls Ambrosius von Mailand, in psalm. 36,15,1 (CSEL 264,80 PETSCHENIG): Sed quia obnoxia fragilitati omnis humana condicio est et non nostrae est potestatis iter nostrum ex uoluntate dirigere, ideo tibi dicit: spera in domino, et ipse faciet. 25 BRUNHÖLZL 1975, 97. Vgl. auch TIZZONI 2012, 259: „his poems read something like the Blues, and in them we see the author himself.“ 26 DIESNER 1980, 477. 27 RABY 1953/11927, 127. 28 Vgl. FEAR 2010, 58: „One result is to make the modern reader, who would normally expect a stiffer upper lip in the face of adversity, less than sympathetic to Eugenius’s seemingly interminable list of his woes which give the impression that the bishop is simply whining about his life and miserable lot.“ 24
1.1 Begründung des Forschungsvorhabens
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als Beispiel für das geistige Klima, in dem er Eugenius sieht, anführte, kennzeichnet es gerade die Gerechten, dass sie sich ‚an Klagen erfreuen‘ (lamentis gaudent).29 In diesem Sinne hat auch Andrew Fear die Klagegedichte über Krankheit, Alter und Tod als Gedichte gelesen, die ein spirituell-didaktisches Programm verfolgen: Sie sollen am Beispiel der Person des Eugenius aufzeigen, wie das Leiden in und an der Welt im Menschen conpunctio auslösen kann, eine innere Zerknirschung, die zu einer heilsamen Ablösung von der Welt und Umkehr zu Gott führt und den Menschen für die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit zu öffnen vermag.30 Dieselbe Funktion schreibt auch Gregor der Große insbesondere dem körperlichen Leid zu: Es könne den Menschen zur Selbsterkenntnis führen, ihn an seine condicio erinnern und dadurch Stolz und Hochmut verhindern. Nach Anweisung seiner Regula pastoralis sollen Kranke sogar dazu ermutigt werden, ihre körperlichen Beschwerden als eine paradoxe innerliche Gesundheit, als salus cordis zu interpretieren.31 Damit rücken einige der Gedichte des Eugenius in die Nähe der Bußpoesie.32 Diesen Gedanken hat David Ungvary weitergeführt und für die Interpretation eines der Gedichte des Eugenius fruchtbar gemacht, das inbesondere der historischen Forschung oft Rätsel aufgab: carm. 25, ein Epitaph, das Eugenius für den wisigotischen König Chindasuinth verfasst und in dem er den König sich selbst der schweren Sünde bezichtigen lässt. Während es lange als (für die damalige Zeit geradezu wagemutig offenes) Schmähgedicht auf den König gelesen wurde, stellt Ungvary es in den Kontext des spirituellen Diskurses um Buße und Sünde, vor dessen Hintergrund das Gedicht als durchaus würdigende Darstellung eines büßenden Königs erscheint. Obgleich er nur kursorisch auf andere Gedichte des Eugenius eingeht, äußert Ungvary die allgemeine Vermutung, Eugenius experimentiere in seinen Gedichten „with the power of a penitential poetics.“33 Diese ersten Streiflichter auf das Werk des Eugenius deuten bereits an, dass bei aller Vielfalt des Libellus carminum doch eine inhaltliche Mitte erkennbar ist: die condicio humana, die sich in ihren leidvollen Auswirkungen auf die gesamte menschliche Existenz und in der Sündhaftigkeit des Menschen äußert. Die Modi, in denen auf diese Grundprobleme des Menschseins Bezug genom-
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Gregor der Große, in evang. 2,34,5 (CCL 141,303 ÉTAIX). Vgl. FEAR 2010 und 2019. 31 Vgl. Gregor der Große, reg. 3,12 (SC 382,328 ROMMEL): Ammonendi sunt aegri, ut considerent quanta salus cordis sit molestia corporalis, quae ad cognitionem sui mentem reuocat, et quam plerumque salus abicit, infirmitatis memoriam reformat, ut animus qui extra se in elatione ducitur, cui sit condicioni subditus, ex percussa quam sustinet carne memoretur. Vgl. dazu HACK 2012, 119–121. 32 Vgl. schon SZÖVÉRFFY 1970, 340: „nähert sich […] der Bußlyrik“. 33 UNGVARY 2018b, 304. 30
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
men wird (insbesondere Klage, Sündenklage und Gebet), legen dabei die Hypothese nahe, dass Eugenius die Poesie nicht lediglich als Medium der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der condicio humana begriff, sondern auch als Mittel zu deren Bewältigung. Die hier skizzierten ersten Entdeckungen der Forschung, die in Eugenius’ Gedichten Prinzipien der Seelenführung erkennen und seine Dichtung in den Kontext der Bußspiritualität stellen, erhärten diesen Verdacht und lassen sogar daran denken, dass Poesie als Mittel der Unterstützung spiritueller Praxis, wenn nicht sogar als eine eigene Form derselben aufgefasst werden konnte und dementsprechend auf die Erfüllung dieses Zwecks hin gestaltet war. In welchem Ausmaß und auf welche Weise dies auf die Gedichte des Eugenius zutrifft, ist die Frage, von der die vorliegende Studie sich bei der Analyse des Libellus carminum leiten lässt.
1.2 Methodisches Vorgehen 1.2 Methodisches Vorgehen
Zur Beantwortung dieser Frage ist es einerseits notwendig, den Libellus carminum in seiner Gesamtheit wahrzunehmen, um spirituelle Diskurse über Gedichtgrenzen hinweg verfolgen und Konvergenzen sowie gegebenenfalls auch Divergenzen beschreiben zu können. Gleichzeitig wird für manche Gedichte, in denen die für unsere Frage interessanten Hinweise in verdichteter Form auftreten, eine kleinschrittige, philologisch exakte und auch intertextuell sensible Analyse erforderlich sein. Um der Anforderung der Breite und Vollständigkeit gerecht zu werden, bietet es sich an, zunächst eine kursorische, von der Fragestellung gelenkte Lektüre des Libellus vorzunehmen und dabei Hinweise herauszufiltern, die für eine Gesamtinterpretation des Gedichtbuches im Kontext spiritueller Praxis fruchtbar gemacht werden können. Neben dem inhaltlichen Aspekt und den Bezügen zwischen den Gedichten, die das Fortführen genannter Diskurse markieren können, ist hier insbesondere auf zwei Dinge zu achten: Erstens können poetologische Aussagen, in denen der Dichter seine Dichtung selbst reflektiert, darüber Aufschluss geben, wie Eugenius seine Tätigkeit als Dichter auffasste und welche Funktionen er seiner Dichtung zuschrieb. Zweitens muss auch die Entwicklung und Konstruktion des lyrischen Ichs, das in den meisten der relevanten, ‚persönlichen‘ Gedichte als die persona des Dichters auftritt, über die Gedichtgrenzen hinweg analysiert werden. Da in einigen Gedichten – das bereits erwähnte Epitaph für König Chindasuinth, mit dem Eugenius allein aufgrund seiner Position als Erzbischof von Toledo viel verband, kann hierfür als Beispiel dienen – explizit die Biographie des Dichters in die Gedichte hineinragt, scheint es zudem sinnvoll, die Charakterisierung der Dichter-persona punktuell auch mit biographischen Informationen ins Gespräch zu bringen, auch wenn die Dichter-persona nicht naiv mit dem Erzbischof von Toledo
1.2 Methodisches Vorgehen
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gleichgesetzt werden darf. Wie das Verhältnis zwischen dem Dichter und seiner persona methodisch verantwortbar zu fassen ist, wird im folgenden Kapitel Gegenstand einiger Vorüberlegungen sein. Für einen zentralen Kern an Gedichten, namentlich die carm. 3 und 5 sowie die carm. 13–14b (der Krankheit-Alter-Tod-Komplex), werden dagegen Detailanalysen durchgeführt, in denen neben den beschriebenen Hinweisen auch die innere Struktur der einzelnen Gedichte erfasst werden soll. Für diese erfüllt die Analyse also gleichzeitig die Funktion eines Kommentars, was für alle genannten Gedichte bislang ein Forschungsdesiderat darstellt.34 Die Analysen haben dabei zum Ziel, das jeweilige Gedicht sowohl in sich wahrzunehmen als auch den Text im Lichte anderer Texte des antiken und spätantiken Kulturkreises besser zu verstehen. Der intertextuellen Untersuchung fällt deshalb ein besonderes Gewicht zu. Da diese im Horizont unserer Fragestellung gleichzeitig eine Methode der (historischen) Diskursanalyse darstellt, kann es hierbei jedoch nicht nur um eine Identifikation von Zitaten und benutzten Quellen gehen, sondern es müssen auch rhetorische und theologische Topoi sowie geteilte Sprachspiele berücksichtigt werden.35 Den Text auf diese 34 Carm. 3 wurde bislang keine detaillierte Analyse gewidmet, obgleich es für Eugenius’ Auffassung der condicio humana als zentral gelten kann. Mehr Aufmerksamkeit haben die carm. 5 sowie 13–14b auf sich gezogen, die aufgrund ihrer thematischen Ähnlichkeit meist im Verbund interpretiert wurden; vgl. auch den folgenden Forschungsüberblick in Kap. 1.4.3. 35 Vgl. als Beispiel für diesen breiteren Intertextualitätsansatz die Prudentius-Studie von MASTRANGELO 2008, 4–5. Der Ansatz sprengt den gewöhnlichen Rahmen des Intertextualitätsbegriffs, der freilich selbst in seinem Geltungsbereich umstritten ist. Eine im Kontext der lateinischen Poesie gängige Definition stammt von EDMUNDS 2001, 134: „The study of intertextuality is the study of a certain kind of relation between texts: one text quotes another or others. [...] To quote means to repeat part of another text in such a way (which would sometimes entail sufficient quantity) that its status as a quotation and its source may be discernible.“ Wie Edmunds selbst bemerkt, umfasst Intertextualität natürlich nicht nur Wortund Junkturwiederholungen, sondern auch „word shape, word order, and the sound of words that are perceived as repeated“. Seine Definition, die den schlagenden Vorteil hat, ein klares Kriterium zu bieten, wird im Folgenden immer dann angewandt, wenn es darum geht, einen relativ eindeutig identifizierbaren Quellentext für eine intertextuelle Referenz vorzustellen. Gerade für die ausgehende Spätantike bietet sich jedoch ein weiteres Verständnis des Begriffs Intertextualität an, das auch die Inhaltlichkeit unabhängig von lexikalischen Parallelen berücksichtigt, und – in einem noch weiteren Sinne – kulturelle Kontexte mit einbezieht, in denen ein Werk geschrieben und gelesen wurde, die aber wiederum durch andere literarische Werke konstituiert sind. Wie MASTRANGELO 2009, passim bemerkt, verliert in der Spätantike die Poesie gegenüber der Prosa an Bedeutung, was auch zur Folge hat, dass Prosa-Texte – insbesondere die Bibel und die patristische Prosa – auch für die Poesie zu wichtigen Bezugstexten werden. Deren Verbindungen zu Prosa-Texten lassen sich jedoch durch die starken Unterschiede der Textgattungen und insbesondere der metrischen Begrenzungen der Poesie mit dem üblichen ‚Raster‘, das Edmunds beschreibt, nicht erkennen. Eine Öffnung ist daher vor allem bei der Untersuchung von Beziehungen zwischen Poesie und patristischer Prosa angezeigt; vgl. dazu O’HOGAN 2019, 312 und REES 2016, 315, der allerdings einen
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
Weise als Text im Kontext zu betrachten, verspricht sichtbar zu machen, wo und auf welche Weise Eugenius in seinen Gedichten an die spirituell-theologischen Diskurse seiner Zeit anknüpfte – oder sich anbietende Möglichkeiten der Anknüpfung verstreichen ließ. Nachdem auf diese Weise eine gesicherte Materialbasis gewonnen ist, gilt es, Beobachtungen zusammenzutragen und in eine Systematik zu bringen. Einerseits ist hier der innere Zusammenhang der im Gedichtbuch vorgefundenen theologischen Inhalte, soweit sich ein solcher erkennen lässt, herauszuarbeiten. Im Hinblick auf die (vermutete) Bedeutung, die der Dichtung für eine spirituelle Praxis zukommen kann, gilt es in einem zweiten Schritt, Hinweise auf die Performativität der Texte zu sammeln. Performativität wird hier verstanden als die dem Text bereits inhärenten, sich in der Struktur abbildenden Bedingungen, die dem Text ermöglichen, in der Sphäre des Dichters selbst oder der Rezipientinnen und Rezipienten ‚handlungswirksam‘ zu werden.36 (Zur Frage, was als solcherlei Hinweis gelten kann, sollen ebenfalls einige methodische Vorüberlegungen gesondert im folgenden Kapitel getroffen werden.) Diese Strukturen können freilich erst im Akt der Rezeption zum Tragen kommen, der bei einem historischen Text – zumal in diesem Fall, da wir über Lese-, Vorleseoder Aufführungsgewohnheiten im wisigotischen Spanien nur unzureichend informiert sind – noch schwerer greifbar ist als ohnehin. Im Einzelfall kann trotzdem die Rekonstruktion der historischen Realitäten, in denen die Produktion und die erste Rezeption des Textes stattfand, sowie historisch kontingenter allgemeiner Auffassungen dazu, was beim Lesen ‚geschieht‘, die Möglichkeiten und Plausibilitäten der Rezeption erhellen. Deren Beschreibung ist dabei immer wieder auch mit den poetologischen Aussagen innerhalb des Textes abzugleichen, die die Rezeption teilweise zu lenken, ihr aber auch gewisse Grenzen aufzuzeigen vermögen.
1.3 Perspektiven der Untersuchung 1.3 Perspektiven der Untersuchung
Wie in der Beschreibung des methodischen Vorgehens deutlich geworden, basiert die Methodik der vorliegenden Untersuchungen auf einigen literatur- und kulturtheoretischen Grundannahmen, die es im Folgenden transparent zu machen gilt.
umgekehrten Fall, nämlich Bezüge von Prosa zur Poesie, untersucht. Nimmt man solche begrifflichen Unschärfen in Kauf, ist es allerdings umso wichtiger, im Einzelfall transparent zu machen, von welcher Art der Intertextualität an der jeweiligen Stelle auszugehen ist. 36 Vgl. zu diesem Verständnis der Performativität HERBERICHS/KIENING 2008, 11 sowie die Ausführungen im folgenden Kapitel 1.3.2.
1.3 Perspektiven der Untersuchung
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1.3.1 Spiritualitätsgeschichte und die ‚History of Emotions‘ Der Libellus carminum soll in erster Linie mit einem spiritualitätsgeschichtlichen Interesse betrachtet und dementsprechend auch für diesen Zweig der Forschung erschlossen werden. Das Feld der Spiritualität erscheint dabei selbst sehr weit und schwer abgrenzbar. Im Kontext der Spätantike wird der (nicht antike) Begriff gerne als christliches Pendant zur heidnischen Philosophie verwendet, die selbst nicht im Sinne einer reinen Epistemologie zu verstehen ist, sondern als dux vitae, mit deren Hilfe der Mensch zu einer guten, das heißt: glücklichen Lebensführung finden soll.37 Auch das Christentum beansprucht für sich, diese Funktion zu erfüllen, und sucht sich demgemäß als die wahre Philosophie zu profilieren.38 Das Unterscheidende, was die christliche Spiritualität vom Gros der paganen (Lebens-)Philosophie (von markanten Ausnahmen wie dem Neuplatonismus abgesehen) abhebt, ist freilich der religiöse Verständnishorizont, in dessen Rahmen das Leben interpretiert wird und auf den die Lebensführung auszurichten ist.39 Das in diesem Forschungsfeld einflussreiche Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique definiert Spiritualität als „fondée en même temps sur l’expérience et sur la liberté qui président à l’invention des divers chemins conduisant à Dieu“.40 Spiritualität hat also zum Ziel, den Menschen zu Gott zu führen; die Wege, die sie dazu findet, basieren dabei einerseits auf der menschlichen Erfahrung, andererseits werden sie vom Menschen in freier Erkundung entwickelt. Bereits die doppelte Bestimmung der Spiritualität als asketisch und mystisch im Titel des Lexikons zeigt ferner, dass Spiritualität neben der Erfahrungsdimension auch eine grundlegende Handlungsdimension aufweist, die insbesondere im Begriff der Askese aufscheint. Darauf wird der Blick zu richten sein, wenn der Libellus carminum in seinem Verhältnis zur spirituellen Praxis untersucht werden soll. Gerade das Verständnis von Askese hat sich in der Forschung insofern stark gewandelt bzw. verfeinert, als sie heute nicht länger nur als (vor allem körperliche) Selbstrestriktion verstanden wird, als Kasteiung und Abwendung von der Welt, sondern als eine Praxis, durch die der Mensch eine
37
Vgl. zu dieser Sichtweise der antiken Philosophie HADOT 1991. Vgl. etwa die Parallelisierung von paganen Philosophen und den Mönchen als ‚neuen Philosophen‘ in STROUMSA 2005, 186. Vgl. auch KOBUSCH 2002, 240, zur Interpretation des mönchischen Lebens als christliche Form der Philosophie vor dem Hintergrund eines solchen antiken Philosophiebegriffs, in dem Theorie und Praxis nicht unterschieden sind. 39 Vgl. die Definition der Spiritualitätsgeschichte nach BAIER 2006, 26 als „Geschichte der Suche nach einem ‚heiligen‘, d.h. dem jeweiligen Verständnis der letzten Wirklichkeit entsprechenden Leben, sei es von Individuen, religiösen Gemeinschaften oder Bewegungen.“ 40 LAMARCHE o.J. 38
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
positive Transformation seines Selbst erfahren kann, die ihn der höheren Wirklichkeit Gottes besser entsprechen und gerecht werden lässt.41 Da sie folglich den ganzen Menschen sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt hat, ist sie als Praxis zu verstehen, die sowohl die körperlichen, affektiven, kognitiven als auch sozialen Dimensionen des Menschen umfasst und in ihnen verwirklicht wird.42 Die genannten Dimensionen stellen dabei keine separaten Sphären dar, sondern überlappen sich gegenseitig und interagieren auf vielfältige Weise miteinander.43 Wenn, um ein sehr eindeutiges Beispiel zu wählen, eine asketische Praxis wie das Fasten in erster Linie eine verkörperte spirituelle Handlung darstellt, so hatte diese doch Auswirkungen auf andere körperliche Bereiche44 und insbesondere auf die Seele des Menschen, um deretwillen die Handlung überhaupt ausgeführt wurde. Gregor der Große schreibt etwa dem Fasten die Macht zu, die „Stadt des Herzens“45 gegen den Angriff des Feindes zu verschließen. Und selbstverständlich war das Fasten eine durch soziale Erwartungen konstituierte Praxis und konnte den Status der Fastenden im sozialen Gefüge verändern, etwa durch Integration in die Gemeinschaft auf dem Wege gemeinsamer
41 Vgl. den Überblick über historische Definitionsversuche bei DE GUIBERT 1937, 936–938, der selbst bereits einer nicht nur negativen Definition zuneigt: Askese sei „tout ce qui dans la vie spirituelle est exercice, effort, lutte contre soi et contre les tentations extérieures, travail positif de perfectionnement de nos activités spirituelles“ (a.a.O., 938). Die Definition der Askese und des Asketischen ist bis heute umstritten; grundlegend kann man jedoch von einer Ausweitung und Tiefführung des Begriffs vor dem Hintergrund moderner kulturanthropologischer Theorie sprechen. Den Anstoß hat unter anderem die Definition von Richard Valantasis (VALANTASIS 1995, 797) gegeben, der Askese als „performances within a dominant social environment intended to inaugurate a new subjectivity, different social relations, and an alternative symbolic universe“ definiert. Seine Definition wurde zwar als zu unspezifisch abgelehnt, da sie nicht nur auf religiöse Diskurse, sondern auf ganz unterschiedliche Bereiche anwendbar sei, vermochte jedoch zu inspirieren und beeinflusste folgende Definitionsversuche durchaus; vgl. MARTIN 2005, 14–16. Vgl. eine ähnliche, aber für den religiösen Bereich spezifizierte Definition von HARVEY 1999, 317: „A term deriving from the Greek word askƝsis (training), asceticism is the practice of a disciplined life in pursuit of a spiritual condition. In late antiquity this discipline was exercised through a physical and mental process of ordering the self in relation to the divine.“ 42 Vgl. etwa den Ansatz von CLEMENTS 2020, 14–15 zur Analyse des asketischen Denkens Johannes Cassians. 43 Vgl. schon CLARK 1999, 17: „The standard textbook approach to asceticism that dualistically pits soul against body is in urgent need of nuance, for early Christian ascetics usually claimed that soul and body were tightly connected, that the actions and movements of one had a direct effect upon the other.“ 44 Vgl. zur Verbindung, die zwischen dem Fasten und der Erleichterung sexueller Abstinenz gesehen wurde, BROWN 1988, 421. 45 Vgl. Gregor der Große, moral. 19,21,33 (CCL 143A,983 ADRIAEN): Ecce ciuitatem cordis sui insidiantibus hostibus per elationem aperuit, quam frustra per ieiunium et eleemosynas clausit.
1.3 Perspektiven der Untersuchung
15
religiöser Observanz oder durch das Erringen eines besonderen Status im ‚asketischen Wettbewerb‘.46 Will man spirituelle Praxis nicht eindimensional wahrnehmen, ist es daher angeraten, alle vier (ohnehin in der Regel nur künstlich voneinander zu trennenden) Dimensionen im Blick zu behalten. Im Falle der Carmina des Eugenius, in denen der Schmerzausdruck und die Klage über die condicio humana eine besondere Rolle spielen, bietet sich jedoch besonders die affektive bzw. emotionale Dimension der Spiritualität als Ausgangspunkt der Analyse an. Eine solche erste Fokussierung kann gerade deshalb keine Verengung des Blickwinkels zur Folge haben, weil die kulturwissenschaftliche Theorie der Emotion, die mittlerweile auch für die historische Forschung fruchtbar gemacht wurde,47 Emotion heute als komplexes, sich im Schnittfeld der genannten Dimensionen realisierendes Konstrukt denkt. Die Multidimensionalität ist hier also bereits inhärent gegeben. Inwiefern kann eine emotionsgeschichtliche Perspektive48 für eine spiritualitätsgeschichtlich interessierte Untersuchung etwas beitragen? Sachlich ergibt sich dies daraus, dass Kirchenväter bestimmte Emotionen bzw. Affekte49 für 46 Vgl. für eine Erkundung der sozialen Bedeutung von Essen und Fasten in unterschiedlichen Kontexten christlicher Askese ROSENBERGER 2018, passim. 47 Die dazu erschienenen Publikationen, die einen emotionsgeschichtlichen Ansatz im Bezug auf Einzelprobleme fruchtbar machen, sind bereits zahlreich. Für Antike, Spätantike und Frühmittelalter gibt es darüber hinaus bereits einige Überblickswerke, vgl. für die Antike etwa den Sammelband von CAIRNS 2020, der eine Kulturgeschichte der Emotionen in verschiedenen Teilsystemen nachzeichnet, sowie von CAIRNS/NELIS 2017, wo Methoden, Ansätze und Forschungsrichtungen skizziert werden. Die Mittelalterstudien stellen gewissermaßen die ‚Wiege‘ des emotionsgeschichtlichen Ansatzes dar; vgl. für das Mittelalter die diachronen Emotionsgeschichten von ROSENWEIN 2015 und BOQUET/NAGY 2018. Den mittelalterlichen Emotionsausdruck in historischer Perspektive erkunden die Beiträge des Sammelbandes von FÖRNEGÅRD/KIHLMAN/ÅKESTAM/ENGWALL 2017. 48 Vgl. für einen Einstieg und Überblick zur ‚History of Emotions‘ und aktueller Entwicklungen des Feldes insbesondere ROSENWEIN/CRISTIANI 2018, PLAMPER 2015 und HITZER 2011. Insbesondere sei hier auch auf die umfassende Kritik des ‚Projekts‘ einer ‚Geschichte der Gefühle‘ hingewiesen, die SCHNELL 2015 vorlegt, und die insbesondere den Anspruch betrifft, an Gefühle über deren Repräsentationen und Verwirklichungen im Handeln ‚herankommen‘ zu können. Dies gelinge nur, indem das Konzept Emotion so gefasst wird, dass es als mit seinen Äußerungsformen identisch gilt. Damit verwische der Forschungszweig, dass es ihm um das eigentlich Emotionale, also das Erleben von Gefühlen, gar nicht gehe. Vgl. zu einer Entgegnung NAGY 2019, 195–197, die eine Lösung gerade darin sieht, auch die Historizität aktueller Emotionskonzepte im Blick zu haben und sie mit den historischen Emotionskonzepten ins Gespräch zu bringen. 49 Der Begriff ‚Affekt‘ ist, insbesondere in der englischsprachigen Theorie der Emotionen, oft insofern von Emotionen zu unterscheiden, als er stärker das Impulsive und Vorkognitive betont; vgl. dazu ROSENWEIN/CRISTIANI 2018, 30–32. In dieser Arbeit wird er dennoch als Synonym zu Emotion verwendet, da er, im Unterschied zum modernen Begriff ‚Emotion‘, als einer der Begriffe gelten kann, die bereits in der Antike gängig waren; vgl.
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
spirituell relevant hielten.50 Auch für Eugenius selbst lässt sich dies bereits mit Blick auf einen seiner Zweizeiler bestätigen, in dem die Furcht zum Mittel wird, das die Menschen zu Gott treibt: Omnia quae metuunt homines, haec rite cauentur; namque Deum metuens post ipsum currit ab ipso.51 Was auch die Menschen fürchten, mit Recht hüten sie sich davor; denn wer Gott fürchtet, der rennt vor ihm selbst davon zum Selben.
In methodischer Hinsicht ist jedoch gerade im Kontext historischer Fragestellungen Vorsicht geboten, wenn eine Annäherung an die Emotionalität entfernter Zeiträume und unterschiedlicher kultureller Kontexte versucht werden soll. Wie ist es möglich, Emotionen und die Bedeutungszuschreibungen, die sie erfuhren, auf der Basis historischer Quellen zu erfassen? Auf unser Beispiel angewandt: Können wir davon ausgehen, dass Furcht für Eugenius und in seinem historischen Kontext dasselbe bedeutete wie für uns? Die Frage, wie er sie ‚erlebte‘, ist freilich nicht zu beantworten und wäre es auch dann nicht, wenn er demselben Kulturkreis angehörte wie wir. Diese grundsätzliche Entzogenheit der Emotionen ist immer mitzubedenken.52 In den Geschichtswissenschaften finden sich ausreichend Beispiele dafür, dass unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen an Emotionen und insbesondere unterschiedliche Interpretationsmuster, die Forscherinnen und Forscher aufgrund ihres eigenen kulturellen Hintergrundes an Emotionsäußerungen herantragen, die Interpretation der in historischen Quellen zum Ausdruck kommenden Emotionalität verzerren können, wenn sie nicht reflektiert werden. Einer solchen Verzerrung könnte auch Eugenius ‚zum Opfer gefallen‘ sein, dem
ROSENWEIN 2006, 39 zu affectus als Reflexionsbegriff Senecas sowie allgemein KOCH 2019, 13. Gregor der Große benutzt ihn besonders gern und für jedwede Regung der Seele, vgl. moral. 6,35,54 (CCL 143,323 ADRIAEN): Corporali enim uisitatione ad proximum gressuum accidimus; spiritali uero, non gressu sed affectu ducimur; ebenso moral. 6,25,42 (CCL 143,315 ADRIAEN): uulneratur in intimis affectu pietatis. Er scheint einem modernen Emotionsbegriff sogar insofern verwandt, als er kognitive ebenso wie körperliche Komponenten aufweist (und so etwa Schmerz miteinschließt) und auch einen habituellen Seelenzustand bezeichnen kann; vgl. THLL s.v. affectus, I,1185 und NAGY 2017, 22, die verschiedene lateinische Begriffe für innere Regungen mit unserem Emotionsbegriff vergleicht und zum Schluss kommt: „Medieval people speak about what we call emotions, without using the term.“ Vgl. zu affectus bei Johannes Cassian auch CLEMENTS 2020, 25–26. 50 Vgl. für einen Überblick KOCH 2019, 13–16, die Arbeit von ROSENWEIN 2006, 79–99 zu Gregor dem Großen sowie jüngst zu Johannes Cassian CLEMENTS 2020, bes. 112–134. 51 Eugenius von Toledo, carm. 92 (CCL 114,273 ALBERTO). Sämtliche Übersetzungen dieser Arbeit stammen, sofern nicht anders vermerkt, von mir. Die Übersetzung der Carmina folgt dabei dem Prinzip, dass eine metrische, das Original nachbildende Übersetzung angestrebt ist, aber im Zweifel dem Prinzip der Übertragungsgenauigkeit untergeordnet wird. 52 Vgl. die Kritik von SCHNELL 2015, 967–968.
1.3 Perspektiven der Untersuchung
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auf Basis der Emotionsäußerungen in seinen Briefen und Gedichten, wie angedeutet, eine Art depressive Grundstimmung zugeschrieben wurde. Wenn (was der Fall ist) eine intertextuelle Untersuchung seiner Selbstäußerungen jedoch zeigt, dass diese sich nicht wesentlich von den Selbstzeugnissen seiner Zeitgenossen unterschieden, haben wir dann davon auszugehen, dass die wisigotischen Bischöfe mehrheitlich „in dieser Welt zumeist nur noch das Dunkle sah[en]“?53 Derartige Gesamtinterpretationen der Emotionalität einer Zeit, einer sozialen Gruppe oder sogar einer Epoche sind in der Geschichtswissenschaft in der Tat vorgenommen worden, insbesondere für das Mittelalter. Die Verwunderung über die Intensität der Emotionsäußerungen, die sich in den spätmittelalterlichen Quellen niederschlagen, hat etwa Johan Huizinga dazu veranlasst, dem Mittelalter eine besonders ursprüngliche, kindlich-naive Emotionalität zuzuschreiben, der er einiges abzugewinnen vermag: We have to transpose ourselves into this impressionability of mind, into this sensitivity to tears and spiritual repentance, into this susceptibility, before we can judge how colorful and intensive life was then.54
Seine Beschreibung wurde gerade von Historikerinnen und Historikern der frühen Neuzeit zum Anlass genommen, das Mittelalter als in seiner Emotionalität impulsiv und unreguliert zu betrachten und so eine Kontrastfolie für das in der ‚eigenen‘ untersuchten Epoche wahrgenommene Streben nach Nüchternheit und Kontrolliertheit zu gewinnen.55 Die historische Mediävistik hat demgegenüber oft aufgezeigt, wie gerade diese für uns verwirrend andersartigen Formen der Emotionsäußerung Beispiele dafür sein können, dass mittelalterliche Emotionalität keineswegs ‚unkontrolliert‘, sondern im Gegenteil stark von sozial konstruierten Erwartungen und Bedeutungszuschreibungen geprägt erscheint56 – nicht anders, als dies in anderen Epochen der Fall ist. Die skizzierten Veränderungen in der Art und Weise, wie die historische Forschung Emotionen wahrnimmt, beschreibt und bewertet, entsprechen dabei einer veränderten Wahrnehmung des Emotionskonzepts insgesamt. Bettina Hitzer nennt zwei Grundannahmen, die heute in Bezug auf Emotionen von Historikerinnen und Historikern allgemein geteilt werden: Sie sind erstens überzeugt, dass Emotion und Kognition nicht scharf zu trennen oder einander gegenüberzustellen sind. Zweitens betrachten sie Gefühle als sozio-kulturelle 53
BRUNHÖLZL 1975, 97 über Eugenius. HUIZINGA 1996/11919, 7–8. 55 Vgl. etwa die für die Entwicklung der Methodik der Emotionsgeschichte einflussreiche Arbeit von STEARNS/STEARNS 1986, 25. Vgl. für einen Überblick der derartigen Rezeption Huizingas ROSENWEIN 2006, 5–10. 56 Vgl. hierzu insbesondere das umfangreiche Werk von Gerd Althoff (ALTHOFF 1993, 1996 und 1998). Vgl. für einen Überblick über derartige ‚Gegendarstellungen‘ auch AIRLIE 2001, 236–240. 54
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand Produkte, die damit sowohl kulturell als auch historisch variieren können – und zwar nicht nur in ihrem Ausdruck, sondern ebenso in ihrem Gehalt.57
Während Emotionen lange als anthropologische Grundkonstanten betrachtet wurden, die allen Menschen angeboren sind (wodurch es erst gerechtfertigt wäre, Emotionen als in allen Kulturen gleichartig und lediglich durch austauschbare Wörter in unterschiedlicher Weise repräsentiert zu betrachten), ist insbesondere im Horizont sozialkonstruktivistischen Denkens eine Auffassung von Emotionen und Emotionsäußerungen vorherrschend geworden, die sie als ‚erlernt‘ betrachtet: als internalisiertes sozial-normatives ‚Skript‘, das das Individuum prägt und formt und von diesem zugleich mitgetragen wird.58 Wahrnehmung, Empfindung, Interpretation und Äußerung von Emotion werden damit im sozialen Raum verortet, in dem emotionsbezogene Normen ausgehandelt und stabilisiert werden. Dieser Ansatz ist zuerst von der sogenannten kognitivistischen Richtung der Emotionsforschung vertreten worden, deren wichtigster Vordenker William Reddy an Austins Sprechakt-Theorie anknüpft und vor diesem Hintergrund die Frage aufwirft, wie emotionale Sprechakte (die er ‚emotives‘ nennt) auch die emotionale Erfahrung verändern können.59 Bereits über die Rezeption der Sprechakt-Theorie wird also Emotion in die Nähe des Performativen gerückt. In darauf aufbauenden Konzeptionalisierungen von Emotion als Handlung wird dabei noch expliziter, als dies in kognitivistischen Theorien geschieht (auch das Denken als Gehirnfunktion kann ja als ‚verkörpert‘ gedacht werden),60 der Körper in das emotionale Handeln mit einbezogen:61 Das Skript will nicht nur in emotional kodierten Sprachspielen ‚aufgeführt‘ werden, sondern auch mittels Mimik, Gestik und körperlicher Reaktionen wie z.B. des Errötens, die ebenfalls als kulturell erlernbar gedacht werden. If emotions are learned, as social constructionists think, then they are like the lines and actions that an actor memorizes. In the hands of some social constructionists, emotional expression becomes a kind of ‚practice‘ or performance.62
57
HITZER 2011, 6. Vgl. zusammenfassend zur sozialkonstruktivistischen Sichtweise von Emotion ROSENWEIN/CRISTIANI 2018, 32–38 und zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung, mit besonderem Fokus auf die anthropologische Forschung, PLAMPER 2015, 75–146. 59 Vgl. REDDY 2001, 63–111. 60 SCHEER 2019, 359–360 kritisiert an diesem Ansatz das Außer-Achtlassen des Körpers, was zu einer Interiorisierung und Entmaterialisierung der Emotion führe. 61 Vgl. zu diesem Ansatz, der Anknüpfungspunkte an die Handlungstheorie von Pierre Bourdieu aufweist, insbesondere SCHEER 2012, passim. Vgl. auch ROSENWEIN/CRISTIANI 2018, 33. 62 ROSENWEIN/CRISTIANI 2018, 33. 58
1.3 Perspektiven der Untersuchung
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Monique Scheer betont, dass es gerade ihr Handlungscharakter ist, der Emotionen überhaupt erst für die historische Forschung in befriedigender Weise zugänglich macht: „[K]eine Emotion [ist] ohne die alltäglichen Körper- und Diskurspraktiken möglich, die durchaus für die Forschung ‚greifbar‘ sind.“63 Als solcherlei auch historisch beobachtbare Praktiken nennt sie insbesondere das Mobilisieren, Benennen, Kommunizieren und Regulieren von Emotionen.64 Emotion scheint damit – zunächst kontraintuitiv – nicht in erster Linie im Inneren des Menschen, sondern in Abstimmung mit dem Außen stattzufinden: Sie ist grundsätzlich ‚verkörpert‘.65 Das bedeutet freilich nicht, dass das Zeigen bzw. ‚Ausüben‘ von Emotion nur eine Rolle wäre, die der Mensch nach außen hin spielt und die in dem Sinne als unecht zu gelten hätte, dass inneres Denken und Empfinden und körperlich verwirklichte Emotionsäußerung nicht miteinander übereinstimmen (auch wenn das natürlich möglich ist).66 Die Unterscheidung zwischen dem Körperlichen (‚body‘) und dem Geistigen (‚mind‘) ist hier grundsätzlich verwischt: „Wenn man Emotionen als Praktiken betrachtet, dann privilegiert man weder Sprache noch Mimik, weder Herzfrequenz noch Kognition, denn alles – Ausdruck und Erfahrung, Wahrnehmung von Intensität und Bedeutungszuschreibung – ist etwas, was ein sozialisierter, mit Wissen und Erfahrung aufgeladener Körper tut.“67 Für einen emotionsgeschichtlichen Zugang ist es damit unerlässlich, die Bedingungen und Charakteristika solcherlei Arten von Sozialisation in den jeweils unterschiedlichen historischen Kontexten zu rekonstruieren, also die Situiertheit der Emotionen zu erfassen. Dazu sind unterschiedliche Konzepte geprägt worden, die die Vorstellung eines kulturell vorgegebenen ‚Sets‘ an Normen, Bedeutungen, Wertungen, Ausdrucksformen und Interpretationsmustern theoretisch zu fassen und zu reflektieren versuchen. Der bereits zitierte William Reddy spricht hier von ‚emotional regimes‘, die den emotionalen Selbsterkundungen bzw. -erprobungen in den Sprechakten mal engere, mal weitere Grenzen setzen.68 Während Reddy den ‚emotional regimes‘ einen sehr weiten Geltungsbereich zuschreibt und den Begriff meist auf politische Entitäten anwendet (und dieser sich daher vor allem für die moderne Geschichte eignet),69 betont die Mediävistin Barbara Rosenwein die Notwendigkeit der feingliedrigen Differenzierung: Ihr Konzept der ‚emotional communities‘, kleinen oder 63
SCHEER 2016, 17. Vgl. SCHEER 2012, 209–217 sowie, kürzer gefasst, SCHEER 2019, 357–359. 65 Vgl. SCHEER 2012, 209: „Viewing emotion as a kind of practice means recognizing that it is always embodied, that an emotion without a medium for experience cannot be described as one.“ 66 Vgl. ROSENWEIN/CRISTIANI 2018, 33. 67 SCHEER 2019, 360. 68 Vgl. REDDY 2001, 112–130. Vgl. zu einer Einführung ROSENWEIN/CRISTIANI 2018, 50–55. 69 Vgl. ROSENWEIN 2006, 23. 64
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
größeren historisch situierten sozialen Kontexten (die als nicht klar abgrenzbar und fluide betrachtet werden sollten,70 einander überlappen können und multiple Zugehörigkeiten eines Menschen zu anderen emotionalen Gemeinschaften nicht ausschließen, die aber auch miteinander in Konflikt treten können), ist demgegenüber als ‚mikrohistorisch‘ zu bezeichnen.71 Als Reflexionsbegriff mit ähnlichen Implikationen beginnt ferner der Begriff des emotionalen Stils an Einfluss zu gewinnen, der (als in einer Gruppe vorherrschender Stil oder ‚Gefühlskultur‘) sowohl die soziale Situiertheit von Emotionen im Plural der sozialen Kontexte erfasst als auch offen bleibt für das Handeln des Individuums im Kräftefeld der Pluralität dieser Stile.72 Für eine spiritualitätsgeschichtlich interessierte Lesart der Carmina bedeutet dies, dass die Gedichte, in denen Emotionen vor dem Hintergrund eines religiösen Sinnhorizonts repräsentiert, benannt, bewertet und vielleicht auch im Akt der Rezeption hervorgerufen werden, selbst als Teil von Emotionspraktiken betrachtet werden können, die an einem emotionalen Stil teilnehmen und durch ihn bedingt sind, diesen aber auch mitkonstituieren (oder dies zumindest versuchen).73 Wie Barbara Rosenwein die Schriften Gregors des Großen als Fenster zum ‚emotionalen Stil‘ seiner Gemeinschaft, in der er lebte und schrieb, betrachtet,74 so können auch Eugenius’ Gedichte sowohl als ‚Produkt‘ einer solchen (freilich nicht klar umreißbaren) Gemeinschaft Rückschlüsse auf emotionale Stile ermöglichen als auch aufzeigen, wie diese kommuniziert und daher sozial ‚am Leben erhalten‘ werden konnten. Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die Emotionen bzw. Affekten in spiritueller Hinsicht zugeschrieben wurde, kann dies auch als genuin pastorales Handeln des Eugenius aufgefasst werden. In den Worten Andrew Fears: „Eugenius has not ceased to be a bishop when writing poetry.“75 1.3.2 Performativität und Performanz literarischer Texte Soll Dichtung als Ort emotionaler Praxis gelten können, stellt sich die Frage, inwiefern Dichtung (bzw. Literatur allgemein) überhaupt als eine Form des 70
Vgl. hierzu die wichtige Kritik an Barbara Rosenwein durch SCHNELL 2015, 463–535. Dementsprechend sind auch die Beispiele, die sie in ROSENWEIN 2006 untersucht, auf Mikrokontexte bezogen: Sie betrachtet etwa die emotionale Sprache auf Grabsteinen dreier gallischer Städte, der Texte Gregors des Großen, die er an seine monastische Gemeinschaft richtet, und den Freundeskreis um Venantius Fortunatus und Gregor von Tours. Vgl. für eine ausführliche Beschreibung ihrer historischen Methodik ROSENWEIN 2010, 11–24. 72 Vgl. dazu insbesondere GAMMERL 2012, 162–163 und, ihn rezipierend, SCHEER 2012, 217. 73 Vgl. SCHEER 2019, 359: „Praxisorientierte Ansätze weisen darauf hin, dass solche Kulturen und Strukturen immer in Bewegung sind, dass sie in tagtäglichen Akten der Herstellung bestätigt und in abweichenden Praktiken des undoing herausgefordert werden.“ 74 Vgl. ROSENWEIN 2006, 30. 75 FEAR 2010, 60. 71
1.3 Perspektiven der Untersuchung
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Handelns aufgefasst werden kann. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Handeln ist zuerst in der Sprechakt-Theorie hergestellt worden, in der John L. Austin zunächst bestimmten Sprechakten (den Performativa im Unterschied zu den Konstativa) und später jeder Art von Sprechen zuschrieb, eine wirklichkeitstransformierende Wirkung zu entfalten.76 Dies kann natürlich grundlegend auch für geschriebene Texte geltend gemacht werden. Eine schriftliche Kündigung etwa schafft sehr spürbar Realität, ein informierender Text verändert den Wissenstand derer, die ihn lesen. Literarischen Texten hatte Austin hingegen den Handlungscharakter zunächst abgesprochen, da ihnen – als Form eines ‚Sprechens, als ob‘ – die Ernsthaftigkeit der Sprech- bzw. Kommunikationssituation fehle. Dabei nennt er als Beispiel für solche Nicht-Sprechakte explizit die Poesie: „I must not be joking, for example, or writing a poem.“77 Für vormoderne Texte ist diese Unterscheidung in Literatur und Nicht-Literatur freilich nur mit Vorsicht anwendbar, da das ‚Literarische‘ dort keine klar umrissene Kategorie darstellte, auch wenn manchen literarischen Formen sicher mehr Wirklichkeitsbezug zugetraut wurde als anderen.78 Der Beschränkung des Handlungscharakters von Sprache auf das Nicht-Literarische (man könnte auch sagen: das Streng-Ernsthafte) ist jedoch ganz grundsätzlich widersprochen worden, auch im Hinblick auf das, was nach heutiger Auffassung als literarisch gelte. Literatur schaffe sehr wohl Wirklichkeit: First and most simply, it brings into being characters and their actions, for instance. […] Second, literary works seem to bring into being ideas, concepts, which they deploy.79
Literatur kann freilich nicht qua Existenz etwas ‚tun‘, also Wirklichkeit schaffen. Notwendig ist dafür der Akt des Lesens als der Akt, in dem der Text zu den Rezipientinnen und Rezipienten sprechen und an ihnen und mit ihnen Veränderungen anstoßen kann.80 Das ist keine rein moderne Auffassung. Das spätantike Paradebeispiel für die durch den Akt des Lesens vermittelte transformative Wirkung von Texten bilden bekanntlich Augustinus’ Confessiones, und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen vermittelt Augustinus darin seine eigene transformative Leseerfahrung im Hinblick auf die Bibel, zum anderen intendiert er selbst für seinen eigenen Text, seine Confessiones, eine wirklichkeitsverändernde Wirkung im Verstand (intellectus) und Gemüt (affectus) seiner Leserinnen und Leser:
76 Vgl. zur Sprechakttheorie einführend FISCHER-LICHTE 2012, 37–41 sowie CULLER 2000, 503–506. 77 AUSTIN 1975, 9. Vgl. dazu auch FISCHER-LICHTE 2012, 136. 78 Vgl. HERBERICHS/KIENING 2008, 12. 79 CULLER 2000, 506–507. Vgl. zu dieser Auffassung von Literatur auch PETREY 1990. 80 Dies betont vor allem ISER 1976, der sich dem Akt des Lesens und dem, was darin geschieht, auch aus psychologischer Perspektive nähert.
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand confessionum mearum libri tredecim et de malis et de bonis meis deum laudant iustum et bonum, atque in eum excitant humanum intellectum et affectum.81 Die dreizehn Bücher meiner Confessiones loben sowohl von meinem Schlechten als auch meinem Guten her den gerechten und guten Gott, und erwecken für ihn Verstand und Gemüt des Menschen.
Ulrich Beil vermag nach diesem Hinweis auch in der Textstruktur der Confessiones selbst Elemente zu finden, durch die die Verwirklichung des performativen Ziels (excitare in Deum) unterstützt werden kann.82 Um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie Texten Performativität (verstanden als das der Textstruktur inhärente ‚Handlungspotential‘)83 zukommen kann, bietet sich eine Unterscheidung in strukturelle Performativität und funktionale Performativität an.84 Die strukturelle Performativität bezeichnet dabei die Strategien eines Textes, mit denen es dieser vermag, die ‚Defizite‘ auszugleichen, die er gegenüber einem unmittelbaren Sprechakt oder einer unmittelbaren Performanz insofern aufweist, als ihm die in der Handlungstheorie als entscheidend geltende Präsenzrelation zu den Rezipientinnen und Rezipienten fehlt. Im Grunde handelt es sich hierbei um Strategien, die bereits die antike Rhetorik als zentral erachtete, um ihr ebenfalls ‚performatives‘ Ziel, in den Zuhörenden etwas zu bewirken, erreichen zu können: die vielen sprachlichen Mittel, um eine Unmittelbarkeit zwischen den Leserinnen und Lesern und dem Autor bzw. dem dargestellten Gegenstand oder den Diskursen zu simulieren. 85 Insbesondere gehören dazu auch „autoreflexive oder autoreferenzielle Textstrategien“, durch die der Autor den Modus der Sprechhandlungen innerhalb des Textes reflektiert, damit den Blick auf die Vermittlungssituation selbst lenkt und sie den Rezipientinnen und Rezipienten aufzeigt.86 So kann in einem Text etwa transparent gemacht werden, dass ein dargestelltes Verhalten nicht nur ‚konstativ‘ beschrieben, sondern ‚performativ‘ als exemplum dargestellt werden soll, oder aber das Erkennen der Exemplarizität durch anderweitige Textsignale gestützt werden. Der Autor kann sowohl für sich als auch für seine Leserinnen und Leser eine bestimmte Rolle konstruieren, sodass Geltungsbedingungen für eine bestimmte Art der Handlung, etwa das Unterrichten, konstituiert werden. Niki Kasumi Clements zeigt etwa am Beispiel Johannes Cassians auf, wie dieser in seinen Conlationes zunächst in die Rolle des Schülers, der dem monastischen Lehrer nacheifert, schlüpft, dadurch selbst zum nachahmenswerten Beispiel für seine 81
Augustinus, retr. 2,6,32 (CCL 57,94 MUTZENBECHER). Vgl. BEIL 2008, passim. 83 Vgl. VELTEN 2002, passim. 84 Vgl. dazu HÄSNER/HUFNAGL/MAASSEN/TRANINGER 2011, 82–87 und FISCHERLICHTE 2012, 139–143. 85 Vgl. HERBERICHS/KIENING 2008, 13 mit Verweis auf Quintilians evidentia-Begriff. 86 Vgl. HÄSNER/HUFNAGL/MAASSEN/TRANINGER 2011, 83–84. 82
1.3 Perspektiven der Untersuchung
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Leserinnen und Leser wird – und diesen schließlich selbst in Aussicht stellt, zu exempla werden zu können.87 Funktionale Performativität nimmt hingegen die Wirkungen des Textes bei den Leserinnen und Lesern, also die Rezeptionsprozesse in den Blick, aber auch die kulturelle Wirkmächtigkeit von Texten insgesamt.88 Diese sind freilich von den strukturellen Aspekten des Textes keinesfalls unabhängig. Ein Beispiel dafür ist das Phänomen der ‚Gefühlsansteckung‘ zwischen Figuren des Textes und den Leserinnen und Lesern: Wenn diese mit der Figur etwa mitweinen oder mitlachen, dann basiert diese Art der Rezeption natürlich auf der Struktur des Textes, in der Lustiges, das Lachen selbst, oder Traurigkeit inszeniert ist. Gleichzeitig wird damit die Ebene des Textes im Übersprung zur Wirklichkeit der Rezeptionssituation verlassen: „Die Figuren der Textwelt und deren lebensweltliche Rezipienten können als eine Lach- oder Trauergemeinschaft verstanden werden, die erst unter einer das Innen und das Außen des Textes zusammenhaltenden Perspektive als solche in den Blick gerät.“89 Während dergleichen natürlich besonders im Falle historisch entfernter Rezeption nicht mehr nachvollziehbar ist, kann es trotzdem aufschlussreich sein, nach Modellierungen von Rezeption innerhalb des Textes, nach Rezeptionsdarstellungen in anderen Texten und Hinweisen auf bestimmte ‚Rezeptionsgewohnheiten‘ zu suchen, die innerhalb eines Kulturkreises gängig waren.90 Als ein im Hinblick auf die Carmina gleich vorab darzustellender Sonderfall kann hierbei das Gebet oder der Hymnus gelten. Die Gedichte des Eugenius enthalten immer wieder gebetsähnliche Elemente, die oft als von Eugenius selbst (namentlich genannt) gesprochen dargestellt werden. Gebete sind in vielerlei Hinsicht geradezu ein Paradebeispiel eines Sprechaktes, insofern sie im Sprechen des Gebetes auch den Akt des Betens, die Aktualisierung der Beziehung zu Gott, vollziehen.91 Ob aber ein schriftlich fixierter Gebetstext insofern als performativ zu bezeichnen ist, als er auf die ‚Durchführung‘, das Lesen und Sprechen des Textes im Vollzug des Gebetsaktes, ausgerichtet ist, ist von den Produktions- und Rezeptionsbedingungen abhängig: etwa davon, ob er innerhalb eines zum persönlichen Gebrauch bestimmten Gebetsbuches stand.92 Solche für die tatsächliche Performanz ‚günstigen‘ Rezeptionsbedingungen haben
87
Vgl. CLEMENTS 2020, 119–123. Vgl. HÄSNER/HUFNAGL/MAASSEN/TRANINGER 2011, 84–87. 89 HÄSNER/HUFNAGL/MAASSEN/TRANINGER 2011, 87. 90 FISCHER-LICHTE 2012, 141–142 nennt hier als Beispiel die aufkommende Praxis des stillen Lesens im 18. Jahrhundert, die den Rezipientinnen und Rezipienten einen anderen, nicht länger sozial kontrollierten Handlungsraum eröffnete, um so Identitäten und Handlungsweisen ausprobieren zu können. 91 Vgl. zur Performativität von Gebeten HAHN 2007, 236–237 und FITZGERALD 2012, 52–70. 92 Vgl. SUWELACK 2017, 165–166. 88
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wir im Falle der Carmina für carm. 5b anzunehmen, das zwar einen anlassbezogenen Hymnus darstellt, der in seiner Form und literarischen Gestaltung aber nicht von Hymnen unterscheidbar ist, die nachweislich für die Liturgie bestimmt waren. Wenn ein Gebet dagegen innerhalb der ‚Welt‘ der Gedichte gesprochen wird, wäre dies nicht mit Performativität zu verwechseln, sondern als im Text repräsentierter performativer Akt zu werten:93 Das Gedicht ‚ist‘ dann nicht das Gebet bzw. vollzieht es nicht, sondern bildet lediglich einen Gebetsakt poetisch ab. Diese Unterscheidung basiert jedoch auf einer wichtigen Annahme, die für die Moderne selbstverständlich gilt, für den Kontext unserer Gedichte jedoch erst zu überprüfen ist. Wird in den Carmina ein vom lyrischen Ich ‚Eugenius‘ gesprochenes Gebet als Teil der ‚Welt‘ der Gedichte aufgefasst, ist damit zugleich ausgesagt, dass dieses lyrische Ich eben nicht mit Eugenius gleichzusetzen ist, sondern als eine Figur innerhalb der Gedichte betrachtet werden muss, deren Handlungen und Sprechakte folglich eine poetische Illusion darstellen. 1.3.3 Das lyrische Ich – zwischen Dichter und persona Die Verhältnisbestimmung zwischen dem Dichter und der in den Gedichten auftretenden Dichter-persona stellt auch im Hinblick auf eine mögliche (freilich ohnehin nicht sehr ergiebige) biographische Auswertung der Carmina ein zu lösendes Problem dar. In seinen poetischen Texten tritt Eugenius insgesamt vierzehnmal unter eigenem Namen auf;94 zudem sind zahlreiche Gedichte aus der Ich-Perspektive verfasst. Dass dies dazu verleitet, Ich-Aussagen des lyrischen Ichs auf den Autor als historische Person zu beziehen, deutet sich bereits in der Sekundärliteratur an, in der das lyrische Ich stets mit dem Namen des Autors benannt wird – ohne dass darüber reflektiert wird, was damit ausgesagt oder eben nicht ausgesagt sein kann. Gleichzeitig kommt in nicht wenigen Besprechungen eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Validität biographischer Rückschlüsse zum Ausdruck. In diesem Sinne äußert sich Kurt Smolak über carm. 14, ein sehr signifikantes Beispiel für potentiell biographisch verwertbare Gedichte:
93
Vgl. zu dieser Unterscheidung FISCHER-LICHTE 2012, 141. Hierbei ist das seinen Namen bildende Akrostichon in carm. 16 mitgezählt, sowie auch die Erwähnungen in der dichterischen Praefatio zur Rezension der Werke des Dracontius (Drac. praef. 15 [CCL 114,328 ALBERTO]) und in den von Eugenius ergänzten Monosticha zum siebten Schöpfungstag (monost. 35 [CCL 114,390 ALBERTO]). 94
1.3 Perspektiven der Untersuchung
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Dieses [Sündenbekenntnis, A.P.] ist in seinen Übertreibungen rein literarischer Natur. Man wird Eugenius keinen Mord (66: nec sine caede fui), zutrauen, es sei denn, er gebraucht das Wort in rein etymologischem Sinn für ‚Schläge‘, um irgendwelche Handgreiflichkeiten zu beschreiben.95
Der zitierte Absatz zeigt zweierlei auf: Einerseits erkennt Smolak an, dass in der poetischen Form aus einer biographisch lesbaren Aussage nicht einfach auf eine historische Tatsache geschlossen werden darf, sondern mit dem Einwirken literarischer Gestaltungsinteressen (z.B. Übertreibungen) zu rechnen ist. Andererseits bezweifelt Smolak nicht, dass es in den Gedichten des Eugenius genau um diesen geht: um Eugenius als historisch greifbare Person. Immerhin spielt er mit dem Gedanken, es könne sich unter Annahme einer ‚milderen‘ Bedeutungsvariante für caedes doch um eine autobiographische Aussage handeln. Einen etwas anderen Weg, mit der Ich-Perspektive in den Dichtungen umzugehen, geht Andrew Fear: Er verteidigt Eugenius gegen den Vorwurf, sich in narzisstischen Jammereien zu ergehen, indem er zumindest einen bedeutenden Teil der Gedichte als ‚Predigt in Versform‘ mit explizit didaktischer Absicht interpretiert, die es erforderlich macht, das lyrische Ich als mögliche Identifikationsfigur für den Leser zu öffnen: „the personal form is intended to make the reader to empathise all the more with the plight that is outlined to him.“96 Eugenius nehme in seinen Dichtungen eine ähnliche Rolle ein wie als Bischof und Seelsorger.97 Das bedeutet für Fear aber nicht, dass die aus der Ich-Perspektive beschriebenen Erfahrungen des Eugenius nichts mit seiner (historischen) Person zu tun haben: This is not to say that the poems were just a literary exercise for the bishop. Their powerful descriptions of affliction are no doubt inspired by Eugenius’s own personal misfortunes and in their anguished lines we can detect Eugenius’s wrestling to find solace through faith while enduring great physical suffering.98
Es ist daher festzuhalten, dass auch Fear grundsätzlich nicht zwischen dem lyrischen Ich und dem historischen Eugenius unterscheidet, aber – denkt man seine Äußerungen weiter – die Möglichkeit offenlässt, dass dieses Ich bewusst stilisiert wird, um seinen didaktischen Absichten entsprechend die Identifika-
95 SMOLAK 2010, 82 in Bezug auf carm. 14,66. Er bezeichnet in seinem Aufsatz das lyrische Ich teilweise als „Dichter“, worunter man problemlos auch eine Dichter-persona verstehen könnte, teilweise als „Eugenius“, ohne dass eine Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen erkennbar wäre. Der zitierte Absatz zeigt aber recht deutlich, dass Kurt Smolak biographische Rückschlüsse für grundsätzlich möglich hält, im Einzelfall jedoch zur Vorsicht mahnt. 96 FEAR 2010, 63. 97 Vgl. FEAR 2010, 60: „Eugenius has not ceased to be a bishop when writing poetry: his laments are sermons in verse.“ 98 FEAR 2010, 68.
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tion der Leserinnen und Leser mit dem lyrischen Ich zu erleichtern – eine Technik, die auch für Augustinus’ Confessiones von Bedeutung ist.99 Weiterhin ist Fear bemüht, aus Dichtungen gewonnene autobiographische Aussagen durch äußere Quellen abzusichern.100 Dennoch bleibt der Eindruck, dass Fear in seinen Aussagen über die Person des Eugenius an einigen Punkten über das durch äußere Quellen Gesicherte hinausgeht: Wissen wir z.B. durch Ildefons, dass Eugenius von schwacher körperlicher Konstitution war, so ist es doch noch ein gewisser interpretatorischer Weg dahin, ihm „great physical suffering“ zuzuschreiben. Dieser Eindruck dürfte vor allem aus den Gedichten gewonnen sein. Die jüngeren Besprechungen101 der Gedichte des Eugenius scheinen also einen stillen Konsens aufzuweisen, dass Ich-Aussagen zwar aufgrund verschiedener literarischer Eigenheiten der Dichtung mit Vorsicht zu bewerten sind, aber prinzipiell als Selbstaussagen des Eugenius gelten können und damit biographisch verwertbar sind. 102 Mit anderen Worten: In seinen Dichtungen spricht Eugenius selbst. Diese Annahme, die in der modernen Literaturwissenschaft (und im Falle zeitgenössischer Dichtung) als untragbar naiv betrachtet würde, scheint in diesem Falle einerseits durch den Text selbst gerechtfertigt (das lyrische Ich wird als Eugenius identifiziert), andererseits durch die Interpretationsgewohnheiten seiner Zeit, die oft unter dem Stichwort des ‚antiken Biographismus‘ zusammengefasst werden.103 Bei letzterem Punkt stoßen wir allerdings auf eine Forschungskontroverse, die hier kurz angeschnitten werden
99
Vgl. ZIMMERMANN 2005, 244–245. Vgl. FEAR 2010, 60–61. 101 Neben den eben dahingehend überprüften Aufsätzen von SMOLAK 2010 und FEAR 2010 ist hier ALBERTO 2003 zu nennen (vgl. 356: „Eugenius converts everything into an expression of his own anxieties.“), der sich jedoch sonst mit biographischen Aussagen über Eugenius sehr zurückhält; vgl. dazu die Einleitung zu seiner Eugenius-Edition in ALBERTO 2005a, 13–14. Die jüngste Besprechung, UNGVARY 2018a, hat nur das auf Chindasuinth bezogene carm. 25 zum Thema und ist daher für die Frage nach autobiographischen Lesarten der Gedichte uninteressant, wenn sie auch wichtige Aspekte zum Verhältnis von Eugenius und Chindasuinth beinhaltet. Ältere Abhandlungen wie CODOÑER 1981 (vgl. 337: „Eugenius speaks of his illness because it oppresses him, because it affects his spirit.“) und BRUNHÖLZL 1975 (vgl. 97: „Mehrmals hat Eugenius […] seine eigene Kränklichkeit beklagt“.) zeigen dasselbe Bild. Vorsichtiger äußert sich SZÖVÉRFFY 1970, 315: „Ein jeder, der den spanischen Sommer kennt und Toledo an einem heißen Sommertag gesehen hat, wird zugeben, daß (neben der ‚rhetorischen‘ Inspiration) auch Erlebnis und Erfahrung beim Dichten dieser Verse mitgespielt haben dürften.“ 102 So stellt SMOLAK 2010, 80 etwa Überlegungen über die Art der Erkrankung des Eugenius an, die in seiner von Ildefons verfassten Biographie und in carm. 13 ihren Ausdruck finde. 103 Vgl. KORENJAK 2003, 61–66. 100
1.3 Perspektiven der Untersuchung
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soll. Sie betrifft zwar in erster Linie Autoren der Antike, erfasst aber zunehmend auch die Spätantike, wie speziell die Debatten um die biographische Auswertung der Confessiones des Augustinus zeigen.104 Gerade wer mit einem historischen Forschungsinteresse an einen Text herantritt, muss sich möglichst derselben hermeneutischen Schlüssel bedienen, die die Autoren bereits bei ihren antiken Leserinnen und Lesern voraussetzen konnten.105 Angeregt durch die moderne Literaturwissenschaft schien besonders der persona-Begriff, der unter anderem die Unterscheidung zwischen dem Dichter selbst und der ‚Maske‘ des Dichters in seinem Werk markieren soll,106 durch seine antike Herkunft dazu prädestiniert, in der antiken Literaturwissenschaft rezipiert zu werden, ohne dabei die Gefahr des Anachronismus mit sich zu bringen. Schließlich konnte der spätantike Vergil-Kommentator Servius für die Lehrdichtung festhalten, sie benötige et doctoris et discipuli personam.107 Gerade die hier vorgenommene Parallelisierung der persona des Autors und der des Schülers, der ja in der Lehrdichtung sicher eine fiktive Figur des Werkes und keine konkrete Person ist, scheint für eine antike Verankerung dieses Konzeptes zu sprechen. Die Rezeption des Begriffes führte zu teils euphorischen Neubewertungen mancher Forschungsprobleme. Dies betraf insbesondere den Dichter Ovid, der allgemein als Testfall der Kontroverse um die persona-Kritik gelten kann:108 Ähnlich dem Eugenius tritt er unter eigenem Namen in seinem Werk auf und schreibt in der Ich-Perspektive – über verschiedene amouröse Abenteuer, über die Kunst der Liebe, in der er aufgrund eigener Erfahrung Meister zu sein vorgibt, schließlich über die Exilierung in Tomi am Schwarzen Meer. Besonders in den Tristia, einem Zyklus von Klageelegien über das Leben im Exil, findet sich ein langer ‚autobiographischer‘ Teil,109 der einen Großteil der Informationen liefert, die wir heute über den Autor zu haben glauben. Bei Ovid kommt erschwerend hinzu, dass kaum anderweitige Quellen über sein Leben erhalten sind, an denen diese Aussagen gemessen werden könnten – sind solche vorhanden, sind sie meist von seiner Dichtung abhängig und kompilieren lediglich
104
Vgl. die Zusammenfassung der Kontroverse in KOTZÉ 2004, 10–12, mit umfassenden Literaturangaben. Die Monographie widmet sich als Ganzes der Analyse der kommunikativen Strategien und Absichten sowie der Ziele des Augustinus und stellt allein dadurch schon die Annahme in Frage, es handle sich bei den Confessiones um eine biographisch verlässliche Darstellung. 105 Vgl. CLAY 1998, 9. 106 Vgl. VOLK 2005, 85. 107 Servius, georg. prooem. (129 THILO). 108 Einen guten Überblick sowie eine sehr ausgewogene Lösung bietet dazu VOLK 2005; vgl. mit leicht anderer Schwerpunktsetzung HOLZBERG 2006. 109 Vgl. Ovid, trist. 4,10 (165–171 HALL).
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
die darin enthaltenen Informationen.110 Die Rezeption des persona-Begriffs in den klassischen Studien führte hier zu einer so starken Trennung von Dichterpersona und historischem Autor, dass sogar die Historizität des Exils in Tomi insgesamt angezweifelt wurde.111 Angesichts der (nicht zuletzt im theologischen Bereich!) komplexen Entwicklungsgeschichte des Begriffes persona112 ist jedoch kritisch zu fragen, ob jenseits des Begriffes auch die ‚Sache‘ in der Antike geläufig war, ob also real zwischen einem Dichter und seiner persona unterschieden werden konnte. Dies wurde unter anderem von Diskin Clay und Roland Mayer bestritten: Sie zeigen sowohl anhand antiker Literaturkritiker (Clay) als auch anhand von Dichtern, die ja in der Regel auch Leser sind (Mayer), auf, dass die (auto-)biographische Lesart, die eben nicht zwischen Dichter und Dichter-persona unterscheidet, die in der Antike gängigste Form der Interpretation literarischer Werke war.113 Zwar seien römische Leserinnen und Leser insofern mit Begriff und Sache der persona als literarischer Kategorie vertraut gewesen, als sie annahmen, ein Autor könne in die Rolle einer fremden Person ‚schlüpfen‘: So kann z.B. Cicero in seinem Werk de oratore die ‚Maske‘ des Antonius aufsetzen und durch ihn sprechen.114 Dabei waren sowohl Cicero selbst als auch seine späteren Rezipienten115 sich dessen bewusst, dass eine Figur in Ciceros Werk eben nicht die historische Persönlichkeit dieser Figur spiegelt, sondern dass der Autor, Cicero, durch diese Person spricht. Die Bereitschaft, hinter den verschiedenen personae eines Werkes den Autor erkennen zu wollen, konnte nach Roland Mayer sogar so weit gehen, dass die dazwischengeschobene persona schlicht übersehen wurde: Augustinus schrieb beispielsweise die phantastischen Abenteuer der Romanfigur Lucius (eines Ich-Erzählers), der in den Metamorphosen des Apuleius unter anderem in einen Esel verwandelt wird, fälschlicherweise dem Autor selbst zu – wenn er auch an der Verwandlungsgeschichte seine Zweifel hatte.116 110
Vgl. FITTON BROWN 1985, 20–21, mit einer Diskussion der Zeugnisse. Zwei fragliche Fälle, die zeitlich recht nahe an Ovids Exil liegen, werden dagegen oft stärker als Argumente für die Historizität des Exils bewertet, vgl. die Diskussion in LITTLE 1990, 27–28. 111 Eine detaillierte Zusammenfassung der Diskussion von den Anfängen bis hin zu den neuesten Beiträgen sowie eine Klassifizierung der vorgebrachten Argumente – die sich keineswegs nur auf die persona-Kritik beschränken – liefert ALVAR EZQUERRA 2010. 112 Einen Überblick dazu liefert FUHRMANN 1982. 113 Vgl. CLAY 1998, passim, MAYER 2003, passim und KORENJAK 2003, bes. 61–66. 114 Vgl. Ciceros Kommentierung in fam. 7,32,2 (238 SHACKLETON BAILEY): quae sunt a me in secundo libro de oratore per Antoni personam disputata de ridiculis. 115 Vgl. z.B. Laktanz, inst. 6,2,15 (533 HECK/WLOSOK): quae sententia non utique Catuli, qui fortasse illud non dixit, sed Ciceronis est putanda, qui scripsit. 116 Vgl. Augustinus, civ. 18,18 (CCL 48,608 DOMBART/KALB): sicut Apuleius in libris, quos asini aurei titulo inscripsit, sibi ipsi accidisse, ut accepto ueneno humano animo permanente asinus fieret, aut indicauit aut finxit. Haec uel falsa sunt uel tam inusitata, ut merito non credantur. MAYER 2003, 65 merkt dazu an, dass Augustinus den Wahrheitsgehalt dieser
1.3 Perspektiven der Untersuchung
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Doch umgekehrt wurde die persona eines Dichters kaum je als eine Rolle verstanden, die der Autor spielt, sondern als Spiegelung des Autors selbst. Zum Beispiel war denkbar, dass eine Vestalin, die Jungfräulichkeit gelobt hatte, auf Basis eines Gedichtes angeklagt wurde, in dem sie die Vorzüge der Ehe gepriesen hatte, die sie, wie man ihr unterstellte, wohl aus eigener Erfahrung kannte.117 Und selbst Ovid, der sich gegen ähnliche Vorwürfe hinsichtlich seines Lebenswandels eben mit dem Argument zu verteidigen suchte, die auctoris mores hätten nichts mit den erotischen artes gemein, die er in seinem Lehrgedicht unterrichte, habe, so Mayer, Selbstaussagen anderer Dichter selbstverständlich autobiographisch gelesen.118 Mayer mahnt in der Folge zu größter Vorsicht dabei, die moderne persona-Kritik auf die Antike anzuwenden, da sie der Antike selbst fremd gewesen sei: „On this matter we ought […] to do antiquity the favour of respecting its own views.“119 Nun kennt jedoch gerade die Poesie dichterische Äußerungen, die explizit vor einer Verwechslung des ‚Autors im Werk‘ mit dem Autor selbst warnen, wofür die genannte Argumentation in Ovids Tristia ein Beispiel ist. Roland Mayer betont allerdings, dass diese Äußerungen einerseits genrespezifisch sind und nur in der Liebeselegie auftreten, andererseits immer als Reaktion auf einen von außen an den Autor herangetragenen Vorwurf dienen – also ein gesuchtes, sonst aber keinesfalls geläufiges Argument darstellen, da die Dichter, die das Argument anbringen, es nicht einmal selbst anderen Dichtern zugestanden.120 Andere Forscher gewichten derartige Äußerungen stärker und betonen, dass die Dichter diese Argumentation gar nicht hätten benutzen können, wenn sie ihrer Umwelt völlig unverständlich gewesen wäre.121 Dass solche Positionen zumindest anschlussfähig waren, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass sie
Aussage nicht rundherum ablehnt (indicauit aut finxit) und daher die Vermutung naheliegt, dass einige seiner Zeitgenossen das Werk durchaus für einen Tatsachenbericht gehalten haben. Es ist aber zu überlegen, ob die Stelle nicht genauso gut für das Gegenteil sprechen könnte: Wenn Augustinus lediglich aus Unkenntnis des Textes die Erlebnisse dem ‚Apuleius‘ zugesprochen hat, bedeutet das doch, dass er einem Autor durchaus zutraute, sein eigenes Leben zu ‚fingieren‘ (finxit)? 117 Vgl. dazu Seneca der Ältere, contr. 6,8 (164–165 HÅKANSON), angeführt von MAYER 2003, 69–70. Jedoch konnte der fiktive Verteidiger der Vestalin auch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die Gegenfrage stellen: Quid, tu putas poetas quae sentiunt scribere?, dann aber wiederum das im Gedicht ausgedrückte Gefühl, den Neid auf die verheirateten Frauen, der Vestalin selbst zuschreiben. Durch diese Uneindeutigkeit wird Mayers Schlussfolgerung, das Argument der Unterscheidung von Dichter und Dichter-persona werde immer nur angesichts eines Vorwurfes von außen vorgebracht, ebenfalls gestützt. 118 Vgl. MAYER 2003, 68–69. 119 MAYER 2003, 79. 120 Vgl. MAYER 2003, 66–71. 121 Vgl. z.B. VOLK 2005, 85.
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
von späteren Dichtern rezipiert wurden: So zitieren Apuleius in seiner Apologie und Plinius der Jüngere in einem Brief Catull als Gewährsmann,122 wenn sie ermahnen, nicht von der Laszivität ihrer Verse auf die Person des Autors zu schließen. Der Kontext ist freilich wieder die erotische Dichtung, innerhalb derer das Argument genrespezifisch sein könnte. Allerdings: Warum sollten Dichter auch sonst die Illusion der Authentizität, die ja den Reiz von Gedichten ausmacht, stören, wenn sie keinen apologetischen Grund dazu haben? Ebenso ist fraglich, ob der beschriebene antike Biographismus,123 dessen Existenz kaum bestritten wird, zwangsläufig dazu führen muss, eine modifizierte und an antike Begebenheiten angepasste persona-Kritik rundum aus dem Repertoire der antiken Literaturwissenschaft zu verbannen.124 So scheint sich ein Konsens darüber herauszubilden, dass zwar die Dichter-persona bzw. das lyrische Ich als (anerkanntermaßen sekundäre) Deutungskategorie beizubehalten ist, dass man diese persona aber nicht vom historischen Dichter lösen kann, sondern als mit diesem auf komplexe Weise verbunden zu betrachten hat.125 Dieser Mittelweg trägt einerseits den konkreten Gegebenheiten des Altertums Rechnung, in dem der Autor längst nicht so abwesend war, wie er oder sie es im heutigen Literaturbetrieb ist, und der Fiktionalität gewisse Grenzen gesetzt waren: Schließlich kannten die historisch greifbaren zeitgenössischen Leserinnen und Leser den Autor oft persönlich.126 Andererseits dürfte der sich abzeichnende Konsens auch in anderer Weise den antiken Vorstellungen besser gerecht werden: Z.B. hat Manfred Fuhrmann nicht nur darauf hingewiesen, dass persona in der Antike – im Gegensatz zu unserem heutigen Verständnis – durchaus ein Begriff war, der das Spielen einer sozialen Rolle, das Ausüben einer Funktion mit all ihren Erfordernissen sowie die Außenwirkung umfasste, die jemand entfaltete.127 Wichtiger noch ist seine Erkenntnis, dass diese persona eines Menschen, also die Summe seiner relevanten Außenwirkungen, eben nicht als äußere Schicht verstanden wurde, unter der man den authentischen Menschen zu erkennen versuchte. Im Gegenteil: Die persona eines Menschen war alles, was interessierte.128 Die Außenwirkung eines Menschen sollte in sich konsistent sein; ob sie ‚echt‘ war, war eine kaum gestellte Frage.
122 Vgl. Apuleius, apol. 11 (13 HELM) und Plinius der Jüngere, epist. 4,14,4–6 (123 SCHUSTER). 123 Vgl. zum Begriff KORENJAK 2003, 61–66. 124 Selbst CLAY 1998, 18, der sich dagegen verwehrt, die persona-Theorie als eine genuin antike Theorie zu betrachten, gibt zu: „Yet in practice, Greek and Roman poets exploited the persona of both the poet and that of his audience, the reader.“ 125 Vgl. z.B. MORRISON 2007, 33–35 und VOLK 2005, 87. 126 Vgl. KORENJAK 2003, 61–62. 127 Vgl. FUHRMANN 1982, 31–33. 128 Vgl. FUHRMANN 1982, 41–42.
1.4 Forschungsüberblick
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Von daher wird auch verständlich, dass Dichtungen mit Ich-Perspektive mit Vorliebe autobiographisch gelesen wurden. Schließlich dürfte die Außenwirkung – und diese wird durch die Literatur in der Tat mitkonstituiert – genau das gewesen sein, was einen antiken Biographen interessierte. Wir müssen also davon ausgehen, dass poetische Selbstäußerungen als öffentliche Selbstäußerungen genauso zur Selbststilisierung beitrugen wie etwa Briefe dies taten. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass es für die heutige Forschung nicht fruchtbringend sein kann, begrifflich sensibel zwischen diesem Außenbild und dem historischen Autor selbst zu unterscheiden,129 um voreiligen Rückschlüssen ein caueat in den Weg zu stellen. Die Unterscheidung erscheint gerade im Falle des Eugenius insofern angemessen, als er selbst gelegentlich mit der IchPerspektive spielt, wie etwa im bereits erwähnten carm. 25.
1.4 Forschungsüberblick: Text und Interpretationen des Libellus carminum 1.4 Forschungsüberblick
1.4.1 Textkritik Die Carmina des Eugenius geben den Editoren insbesondere die Schwierigkeit auf, ihre Reihenfolge innerhalb des Gedichtbuches zu rekonstruieren, da die Gedichte sich, zumeist vereinzelt, in einer geradezu unüberschaubaren Vielzahl an Manuskripten finden.130 Dennoch sind Eugenius’ Gedichte Gegenstand einer langen Reihe an textkritischen Editionen geworden. Die erste wurde bereits im Jahr 1619 vom Jesuiten und Gelehrten Jacques Sirmond besorgt und enthielt den Libellus gemeinsam mit Eugenius’ Recensio der Werke des Dracontius, die bis zur Wiederentdeckung des ursprünglichen Werkes die einflussreichste Textvariante des nordafrikanischen Dichters blieb. Sirmonds Version basierte bereits auf zwei Manuskripten, die bis heute zu den wichtigsten Textzeugen nicht nur einzelner Gedichte, sondern auch der Gesamtstruktur des Li-
129 KORENJAK 2003, 62 hält diese Unterscheidung für sinnlos, da sie einen banalen, in anderen Lebensbereichen selbstverständlich mit eingerechneten Umstand beschreibe: „Bei solchen Gelegenheiten [z.B. innerhalb eines literarischen Zirkels, A.P.] wird [der Dichter] sich in der Regel nicht als jemand präsentieren, der mit seinem Alltagsich gar nichts zu tun hat. Das heißt nicht, dass er nicht in eine bestimmte Rolle schlüpfen kann – doch welche soziale Interaktion involviert denn kein Rollenspiel? ‚Autor‘ ist unter solchen Umständen nur eine Rolle unter vielen, durch das sonstige Auftreten des Betreffenden nicht vollständig determiniert, mit diesem aber zumindest durch gewisse Affinitäten verbunden.“ Das Zitat zeigt jedoch vor allem, dass Martin Korenjak sich damit v.a. gegen die strenge Unterscheidung zwischen Autor und Dichter-persona richtet, die, wie gezeigt, mittlerweile in eine gemäßigtere Richtung hin modifiziert wurde. 130 Vgl. ALBERTO 2005a, 162.
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
bellus zählen: zwei Manuskripte Lyonenser Provenienz, die ein großes Libellus-Fragment enthalten und die Paulo Alberto als von einem gemeinsamen Prototyp abstammend identifiziert.131 Sirmonds Edition war jedoch allein schon hinsichtlich der Anzahl der Gedichte unvollständig. Eine vollständige Edition der Carmina war erst auf der Basis der Entdeckung von Eugenius-Gedichten im Manuskript Madrid 10029 möglich, dem nach seinem Entdecker Miguel Ruiz de Azagra († vor 1587) oft auch als Codex Azagra bezeichneten Manuskript, das für eine bedeutende Anzahl an Gedichten den einzigen Textzeugen darstellt und die Gedichte des Eugenius vervollständigt. Ruiz de Azagra bereitete auf der Basis dieser Handschrift selbst eine Edition vor, die jedoch unveröffentlicht blieb. Erst knapp zweihundert Jahre später wurde das Manuskript von Cardinal Francisco de Lorenzana für eine Edition der Eugenius-Gedichte verwendet, die schließlich auch in den 87. Band von Mignes Patrologia Latina aufgenommen wurde. Bis heute in einiger Hinsicht nützlich ist die Edition Friedrich Vollmers in den Monumenta Germaniae Historica132 aus dem Jahr 1905, die auf Vorarbeiten von Rudolf Peiper beruht, der diese Edition zunächst selbst zu besorgen plante. Damit lag für die Carmina des Eugenius bereits sehr früh eine verhältnismäßig hochwertige Edition vor, die nicht nur Gedichtreihenfolge und Text nach textkritischen Gesichtspunkten rekonstruiert, sondern auch erste Ansätze zu einer Kommentierung liefert und insbesondere Quellen und Testimonien der Eugenius-Gedichte sowie der Dracontius-Rezension angibt. Vollmers Edition vermag nach wie vor wichtige Anstöße zum Verständnis der Carmina zu geben.133 Allerdings weist Paulo Alberto Vollmer an einigen Stellen Ungenauigkeiten in der Lektüre und der kodikologischen Rekonstruktion der Manuskripte nach; ferner habe Vollmer einige Textzeugnisse in ihrer Bedeutung für die Etablierung des Textes überschätzt.134 Im Hinblick auf die Reihenfolge der Gedichte schließt er sich jedoch mit wenigen Ausnahmen Vollmers Rekonstruktion an. Die Jahre zwischen dem Erscheinen der Edition Vollmers und derjenigen Albertos brachten einige erwähnenswerte Vorarbeiten zur Textgeschichte der Carmina.135 Yves-François Riou zeichnete die Texttradition einzelner (als moraldidaktisch wertvoll erachteter) Gedichte im Rahmen des sogenannten Liber Catonianus und der Octo auctores morales nach, zweier aus verschiedenen 131
Vgl. zur Beschreibung der Manuskripte ALBERTO 2005a, 54–65. VOLLMER 1905. Vgl. auch seinen vorausgehenden Werkstattbericht zur Etablierung der Texttradition in VOLLMER 1901, passim. 133 Ein Beispiel dafür ist das (oft bei oberflächlicher Lektüre) in seiner Intention missverstandene carm. 25, bezüglich dessen UNGVARY 2018a, 331 Anm. 7 sich explizit auf Vollmers Lesart bezieht und ihm zugesteht, er habe hier eine erste richtige Intention im Hinblick auf die Interpretation des Gedichtes gehabt. 134 Vgl. ALBERTO 2005a, 161. 135 Vgl. z.B. MUNZI 1977 zu einer Detailfrage. 132
1.4 Forschungsüberblick
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Quellen vereinter ‚Schulbücher‘, in denen Eugenius’ Gedichte diesem zwar nicht namentlich zugeeignet werden (manchmal erscheinen sie unter dem Deckmantel des Ps.-Cato, des Autors der Disticha Catonis), aber doch eine breite Wirkungsgeschichte entfalten konnten. 136 Die Studien von Manuela Vendrell Peñaranda haben bedeutende Manuskripte, die Anthologien von Eugenius-Gedichten enthalten, weiter erschlossen.137 Paulo Albertos im Jahr 2005 in der Reihe Corpus Christianorum. Series Latina erschienene Edition stellt demgegenüber die dem textkritischen ‚state of the art‘ entsprechende Ausgabe dar. Alberto beachtet sämtliche vorliegenden Manuskripte, auch solche, die nur einzelne Gedichte enthalten.138 Insbesondere beim wichtigen Lyonenser fragm. 8 (in Albertos Edition: Ú) gelingt ihm im Unterschied zu Friedrich Vollmer eine überzeugende Rekonstruktion und der Gewinn einiger verbesserter Lesarten. Die Edition ist besonders im Hinblick auf die Transparenz der Entscheidungen zu loben:139 Neben einer kurzen Einleitung zu Biographie und Werk des Dichters leistet Alberto eine umfassende Beschreibung, historische Einordnung und Kommentierung der wichtigsten Manuskripte bzw. Manuskriptgruppen und nimmt auf dieser Basis eine vorsichtige Verhältnisbestimmung der Manuskripte vor.140 Als wichtig erachtete Textzeugen zu einzelnen Gedichten werden ebenso minutiös analysiert und auf ihren Nutzen hin befragt wie die ‚großen‘ Manuskripte, die Fragmente des Gesamt-Libellus enthalten.141 Selbiges gilt für Rezeptionszeugnisse individueller Gedichte, insofern diese etwas zur Erhellung der Textbefunde beitragen können. Albertos Ausführungen hierzu sind auch als ‚kleine Rezeptionsgeschichte‘ der Carmina des Eugenius durchaus von Interesse.142 Ebenso nützlich ist ein umfangreicher Similienapparat. Alberto legt diesen sehr extensiv an; teilweise genügen ihm einige wenige übereinstimmende Wortfolgen, um einen locus similis zu konstituieren. Darüber hinaus kann auch eine wahrgenommene inhaltliche Ähnlichkeit für ihn Kriterium sein, um auf einen Text zu verweisen. Gregory Hays bescheinigt dem Herausgeber hier eine gewisse Neigung, christliche Autoren stärker zu betonen als klassische Dichter,143 was zumindest teilweise mit Albertos nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich ausgerichtetem ‚Suchfilter‘ zusammenhängen dürfte – und vielleicht gerade deshalb dem Text besonders gut gerecht wird.
136
Vgl. RIOU 1972, passim. Vgl. VENDRELL PEÑARANDA 1979 und 1992. 138 Vgl. ALBERTO 2005a, 162. 139 Vgl. auch die sehr positiv ausfallende Rezension von SCHWIND 2008, die lediglich das Fehlen einer metrischen Studie moniert. 140 Vgl. ALBERTO 2005a, 53–109. 141 Vgl. ALBERTO 2005a, 109–156. 142 Vgl. ALBERTO 2005a, 171–198. 143 Vgl. HAYS 2009, 292. 137
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
Einzelne, bedeutendere Entscheidungen (hier ist v.a. die Abtrennung des sapphischen Teils von carm. 14 Vollmer als carm. 14b und das Vorziehen von carm. 20 Vollmer als carm. 5b innerhalb des Gedichtbuches zu nennen) hat er dabei konsequent auch außerhalb der Edition in Form zahlreicher Werkstattberichte begründet.144 Hinsichtlich der Aufteilung von carm. 14 in zwei Gedichte, die später öfters kritisch gesehen wurde,145 drückt Alberto mittlerweile, nach Erscheinen seiner Edition, gewisse Zweifel aus.146 Insbesondere aber führt Alberto sein oft mit Fragen der Manuskripttradition verbundenes Interesse am ‚Fortleben‘ der Carmina, insbesondere im Rahmen der karolingischen Rezeption, in zahlreichen Aufsätzen weiter.147 1.4.2 Eugenius von Toledo in Literaturgeschichten Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Dichtung des Eugenius fand lange Zeit in erster Linie über kurze, summarische Abschnitte in einschlägigen Literaturgeschichten statt, basierte also kaum auf einer vertieften Beschäftigung mit den Carmina. Eugenius wird hier in erster Linie der Vollständigkeit halber zitiert – als einziger nennenswerter Vertreter der Poesie seiner Zeit.148 Seine Dichtung kann dabei abwechselnd als christlich und säkular charakterisiert werden, wie das doppelte Auftreten sowohl in Rabys History of Secular Latin Poetry als auch seiner History of Christian-Latin Poetry zeigt.149 Wie bereits einleitend angedeutet, schwanken die Bewertungen, die Eugenius zuteilwurden. Meist wird positiv bemerkt, dass Eugenius überhaupt dichtete, noch dazu in einer gewissen Breite der in der Antike zur Verfügung stehenden metrischen Varianz.150 In diesem Sinne gilt er ebenso wie Isidor als
144
Vgl. zur Abtrennung von carm. 14 und carm. 14b ALBERTO 1999a, 310–311; vgl. dazu detaillierter auch Kap. 5.4.1. Zur Positionierung von carm. 5b vgl. ALBERTO 2004a, wo Friedrich Vollmers Rekonstruktion des einzigen Manuskripts, das carm. 5b enthält, widerlegt wird. Auch nach Erscheinen seiner Edition publiziert Paulo Alberto gerne zur Manuskripttradition und des Eugenius und setzt sie zu übergreifenden Fragestellungen in Bezug; vgl. ALBERTO 2018, ALBERTO 2014b, ALBERTO 2007, ALBERTO 2006, ALBERTO 2004b und ALBERTO 1999a. 145 Vgl. Insbesondere SMOLAK 2010, 83 Anm. 27 und UNGVARY 2018b, 309 Anm. 109. 146 Vgl. ALBERTO 2018, 10 Anm. 23: „Oggi sarei meno sicuro di separare le stanze saffiche del carm. 14.“ 147 Vgl. ALBERTO 2017; ALBERTO 2011, ALBERTO 2010a, ALBERTO 2010b, ALBERTO 2008b, ALBERTO 2002c, ALBERTO 1999b, ALBERTO 1998. 148 Vgl. EBERT 1874, 569: „Die uns erhaltenen [Gedichte] sind nur deshalb beachtenswerth, weil wir aus diesem Jahrhundert so wenige besitzen.“ 149 Vgl. RABY 1953/11927, 127–128 und 1934, 149–151. 150 Vgl. MANITIUS 1965/11911, 196, SZÖVÉRFFY 1970, 318 und BRUNHÖLZL 1975, 98–99.
1.4 Forschungsüberblick
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verbindendes Glied zwischen Antike und Mittelalter. 151 Seine Dichtung erweckte jedoch oft den Eindruck inhaltlicher Banalität,152 seine Metrik schien nicht mehr der antiken Prosodie verpflichtet, sondern grobschlächtig und oft (nach klassischen Maßstäben) regelwidrig.153 Franz Brunhölzl hat dementsprechend in seiner Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters zu den sapphischen Strophen und Jamben des Eugenius die Vermutung geäußert, Eugenius habe nicht nur nach antiker Manier quantitierend, sondern auch rhythmisch gedichtet; daher sei an seinen Gedichten der Übergang von der einen zur anderen Art der Dichtung beobachtbar.154 Dies widerlegt jedoch Dag Norberg, dessen metrische Studie der Carmina zwar zeigt, dass Eugenius sich prosodische Freiheiten nahm, innerhalb seines eigenen Systems jedoch durchaus regelkonform blieb, sodass von rhythmisierender Dichtung bei ihm nicht gesprochen werden kann. Insbesondere gestattet sich Eugenius, die jeweils letzten Silben eines Wortes variabel lang oder kurz zu messen.155 Franz Brunhölzl ist gleichzeitig die Stimme aus dem Kontext der Literaturgeschichten, die sich am lobendsten zu Eugenius äußert und damit schon die Rehabilitierung seiner Dichtung durch Carmen Codoñer vorbereitet. Im Anschluss an einige der genannten Stimmen, die trotz Kritik an der poetischen Qualität des Eugenius ihm einen gewissen originellen Charme zuerkennen können,156 unterstreicht er: Einfallsreich und beweglichen Geistes, verstand er selbst die konventionellsten Formen der poetischen Kunst aus ihrer Gebundenheit zu lösen, wenn der Gegenstand dies zu fordern schien.157
Während die genannten Literaturgeschichten meist einen sehr weiten Zeitrahmen umfassen und daher der Platz und die Aufmerksamkeit für den einzelnen Dichter natürlich limitiert ist, können thematisch enger gefasste Literaturgeschichten hier bereits stärker in die Tiefe gehen. Ein Beispiel dafür ist der umfassend informative Abschnitt von Salvador Iranzo Abellán in der ganz auf 151 Vgl. MANITIUS 1965/11911, 196 und, hier versöhnlicher als noch in seinem vernichtenden Urteil in der History of Christian-Latin Poetry, RABY 1957/11934, 149: „He is a witness to the persistence of the rhetorical tradition, and like Isidore a link between the old world and the new.“ 152 Vgl. MANITIUS 1965/11911, 196: „Der Inhalt dieser Gedichte ist nicht bedeutend: zieht man die übliche Rhetorik ab, so bleibt nicht viel übrig.“ Vgl. auch LAISTNER 1931, 130: „[t]he positive merits of his verse are slight.“ 153 Vgl. MANITIUS 1965/11911, 196. 154 Vgl. BRUNHÖLZL 1975, 99. 155 Vgl. NORBERG 1984, passim. Vgl. auch TIZZONI 2012, 250–252. 156 Vgl. schon MANITIUS 1965/11911, 196: „Manche sind allerdings lebendig geschrieben, besonders die Klagen über Alter und Krankheit.“ Vgl. auch MANITIUS 1957/11934, 150: „The sapphics in which he gives us a picture of his pain-racked life are interesting as a continuation of the tradition of the personal poem“. 157 BRUNHÖLZL 1975, 97.
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
eine enge Literaturepoche beschränkten Hispania visigótica y mozárabe. 158 Günter Bernt setzt sich mit dem Libellus carminum im Rahmen seiner gattungsgeschichtlichen Betrachtungen in Das lateinische Epigramm im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter auseinander und zeigt auf, inwiefern Eugenius in einem Teil (den er vom lyrischen Teil seiner Gedichte abgrenzt) an die Gattungstradition des Epigramms anknüpft und wie diese sich beinahe vollständig in seinem Libellus abbildet.159 Dass er Eugenius nicht qua seines Status als Dichter, sondern auch in formaler Hinsicht in die Literaturgeschichte einzuordnen sucht, kann bis heute insofern als Verdienst gelten, als Eugenius auch in aktuellen Gattungsgeschichten gerne außen vor gelassen wird.160 Eine aktuelle ‚Ausnahme‘ bilden hier die Aufsätze von Luca Mondin, insbesondere zur Untergattung des didaktischen Epigramms.161 Paulo Alberto untersucht hier eine gattungsmäßig relativ distinkte Gruppe der Carmina, nämlich die Basilika-tituli, im Lichte der poetischen Traditionen, in denen sie stehen und mit denen sie interagieren;162 ebenso Francesco Stella das carm. 8 in Bezug auf die Tradition poetischer Darstellungen des Bibelkanons.163 Auch in motivgeschichtlichen Untersuchungen können die Carmina des Eugenius insofern ihren Platz finden, als ihre spezifische Fassung eines Motivs als ‚Glied‘ einer Kette innerhalb der Entwicklung eines Motivs betrachtet werden kann: Hier sind insbesondere Kurt Smolaks Ausführungen zum NachtigallMotiv (vgl. die carm. 30–33) zu nennen, aber auch seine Überlegungen zur Vergänglichkeitsklage als literarischem Motiv, die er mit Eugenius beginnen lässt.164 1.4.3 Analysen Während ein Gesamtkommentar über den Libellus carminum bislang noch aussteht, 165 sind zu einigen Gedichten oder Gedichtsequenzen Einzelanalysen, 158
Vgl. IRANZO ABELLÁN 2010, 110–118. Vgl. BERNT 1968, 137–146. 160 Vgl. etwa den aktuellen und maßgeblichen Sammelband von HENRIKSÉN 2019 zum Epigramm, in dem Eugenius kein einziges Mal erwähnt wird. Vgl. auch den Beitrag zum ‚Nachleben‘ der Gattung von HOWELL 2019, 667, der zwar Eugenius’ Zeitgenossen Isidor als Kenner Martials nennt, aber weder auf dessen eigene Epigramme noch auf die des Eugenius eingeht. 161 Vgl. MONDIN 2016 und 2008, 460–463. 162 Vgl. ALBERTO 2014c über die Basilika-tituli. 163 Vgl. STELLA 1993, bes. 29–33. 164 Vgl. zur Nachtigall SMOLAK 2012 und zur Vergänglichkeitsklage SMOLAK 2011, 118–120. 165 ALBERTO 2005a, 7 gibt an, eine Dissertation in Form eines „literary commentary“ zu den Gedichten des Eugenius verfasst zu haben, diese ist jedoch nicht ediert und wird von Alberto auch in seiner Bibliographie zu Eugenius (a.a.O., 27–32) nicht erwähnt. Von Paola Cubeddu existiert eine italienische Übersetzung der Carmina (CUBEDDU 1983) und eine Art 159
1.4 Forschungsüberblick
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meist in Form von Aufsätzen, erschienen. Das Erkenntnisinteresse dieser Studien ist dabei unterschiedlich: Manche Arbeiten untersuchen vornehmlich die Quellen des Eugenius, um so Aufschluss über die literarische Kultur seiner Zeit zu gewinnen.166 Besonders haben sich hier die aufzählenden Epigramme, in denen Eugenius biblisches, kulturelles oder naturkundliches Wissen verarbeitet, für diese Art der Suche nach den Quellen angeboten.167 Die Quellenfrage kann über die Traditionen, die in die Gedichte inkorporiert werden, auch mit der Frage nach Eugenius’ literarischer und manchmal auch politischer Identität verbunden werden.168 In der Regel ist das Interesse an den Quellen aber bereits dem Zweck untergeordnet, im Dialog mit den literarischen Vorbildern des Dichters die Eigenheiten seiner Poesie herauszuarbeiten. Beispiele hierfür sind besonders das Altersgedicht carm. 14, das Freundschaftsgedicht carm. 35 und carm. 101, das Gedicht über die Schrecken des Sommers:169 Dabei werden die Gedichte vor dem Hintergrund einer durch andere Gedichte repräsentierten typischen Topik gelesen, um dadurch zum Beispiel erkennen zu können, inwiefern Eugenius das Alter anders sieht als etwa der spätantike Liebeselegiker Maximian oder wie sich sein Konzept von Freundschaft zum antiken Konzept der Dichterfreundschaft verhält. ‚Angestoßen‘ wurde diese Art, sich den Carmina zu nähern, in gewissem Sinne durch Carmen Codoñers Aufsatz mit dem schlichten Titel „The Poetry of Eugenius of Toledo“.170 Dem Titel gemäß geht es ihr darum, das Besondere der Dichtung des Eugenius nicht nur punktuell, auf ein Thema oder einen Topos bezogen, herauszustellen, sondern um eine grundsätzliche Charakterisierung. Sie arbeitet dafür nicht in dem Sinne intertextuell, dass sie nach Quellen sucht, sondern hält einer gewissen Auswahl an Gedichten (den carm. 26, 1, 13, 14b und 101) jeweils ein vergleichbares Gedicht der spätantiken christlichen spirituelle Biographie des Eugenius, die auf einer Lektüre der Carmina (auch pseudo-eugenianischer) aufzubauen scheint, aber keinerlei Textarbeit leistet. Die Biographie (CUBEDDU 1984) erscheint von daher auch inhaltlich mindestens kreativ und poetisch und deshalb hier nicht verwertbar. 166 Vgl. dazu vor allem ALBERTO 2012 und ALBERTO 2002b. 167 Vgl. KNAEPEN 2018 für carm. 42, CODOÑER 1983 über carm. 41, GARCÍA Y GARCÍA 1927 über carm. 8 und ALBERTO 2012, über carm. 39 und 40. 168 Vgl. etwa TIZZONI 2017–2018, 172: „Yet he also perceived himself, and expressed himself, as part of the wider culture of the pan-Latin world.“ Tizzoni arbeitet anhand des Libellus, in dem Saragossa und Toledo als Orte erscheinen, und seiner Quellenbenutzung, v.a. des Isidor und Venantius Fortunatus, aber auch seiner grundsätzlichen Nutzung der klassischen Form heraus, wie Eugenius regionale, überregionale und schließlich pan-romanische Identitäten in seinen Libellus inkorporiere. Vgl. zu programmatischen Linien der Dichtung des Eugenius auch ALBERTO 2002a. 169 Vgl. für carm. 14 WASYL 2014 und SMOLAK 2010 und 2006, für carm. 35 DE GIANNI 2016 und für carm. 101 ALBERTO 2003 und SMOLAK 2010. 170 CODOÑER 1981.
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
Poesie entgegen (dem carm. 26 ein Epitaph des Venantius Fortunatus, dem carm. 1 ein poetisches Gebet, carm. 13 und 14b ein Krankheitsgedicht wiederum von Venantius Fortunatus; carm. 101 wird allgemein mit der poetischen Konvention kontrastiert). Im Anschluss an Franz Brunhölzls oben zitierte Bemerkung stellt sie dabei einerseits eine Tendenz zur dichterischen Selbstbeschränkung fest: Eugenius beanspruche selten Allgemeingültigkeit, sondern spreche zumeist mit Bezug auf eine sehr konkrete Situation, auf die das Gedicht exakt zugeschnitten werde. Andererseits vermöge er dadurch, dass er Topoi nicht pauschal, sondern sehr individualisiert setze, ihnen gleichzeitig neues Leben einzuhauchen: „The topic almost ceases to be a topic.“171 In eine ähnliche Kerbe schlägt Kurt Smolak, der die Analyse des Krankheit-Alter-Tod-Zyklus (carm. 13–14b) und der Klage über die Leiden am Sommer (carm. 101) zum Anlass nimmt, um dort eine besondere Ich-Zentrierung und Personalisierung in der Sprechhaltung der Dichter-persona aufzuzeigen.172 Nach einer Gesamtwertung der Dichtung des Eugenius strebt auch Mark Lewis Tizzoni in seiner Dissertation über die Rezeption des Dracontius. Ihm gilt Eugenius’ Auffassung von Dichtung und das Charakteristische seines eigenen Dichtens als Verständnishorizont dafür, mit welchen historisch veränderten poetologischen Bedingungen das Werk des Dracontius in diesem neuen ‚Umfeld‘ konfrontiert war. Aufgrund einer sporadischen Lektüre kommt er zu dem Schluss, dass Eugenius das Didaktische an der Dichtung wertschätze (obgleich er auch sehr persönlich werden könne) und sich zwischen den beiden Polen traditioneller Dichtung und persönlicher Innovation bewege. Letzteres komme bei ihm vor allem in seiner Neigung zum Ausdruck, eigentlich Prosaisches (insbesondere in den naturkundlichen carmina) ‚poetisch zu heben‘.173 Neben diesen in gewissem Sinne metaliterarischen Interessen dienen Analysen auch immer wieder dazu, die Gedichte mit ihrer historischen Situiertheit in Beziehung zu setzen. Für das carm. 25, das Epitaph für König Chindasuinth, haben sich Historikerinnen und Historiker interessiert und es als Dokument einer dem König feindlichen Einstellung des Eugenius oder der wisigotischen Bischöfe insgesamt gelesen.174 Ihre Lesart basiert zunächst nicht auf einer Analyse, sondern auf einfacher Lektüre, die oft wenig offen dafür ist, die Dichtung 171
CODOÑER 1981, 330. Vgl. SMOLAK 2010, bes. 86–87. 173 Vgl. TIZZONI 2012, 245–260. Vgl. auch vertieft, aber mit derselben Schlussfolgerung, TIZZONI (im Druck). Der Autor ließ es mir freundlicherweise als pre-print zukommen, wofür ich mich herzlich bedanken möchte. 174 Vgl. noch jüngst ESDERS 2019a, 193, der seine Meinung allerdings in ESDERS 2019b, 113 revidiert; vgl. unter den jüngeren Historikern COLLINS 2004, 88 und besonders KAMPERS 2008, 199: „ein in der Schwärze seiner Farbe kaum zu überbietendes Bild der sittlichmoralischen Verkommenheit des verstorbenen Königs.“ DIESNER 1980, 478: „der verbleibende Unmut manifestierte sich in dieser ätzenden und verunglimpfenden posthumen ‚Widmung‘, die natürlich zugleich als Paränese für Zeitkommen und Nachkommen gemeint war.“ 172
1.4 Forschungsüberblick
39
des Eugenius im Licht von mehr als nur einem Diskurs zu sehen. Demgegenüber hat Andrew Fear die Wechselwirkungen zwischen Dichtung und spirituellen Diskursen ins Gespräch gebracht. In zwei Aufsätzen nimmt er insbesondere die Klagegedichte des Eugenius in den Blick und zeigt auf, wie sowohl die bitteren Selbstanklagen des Königs Chindasuinth im carm. 25 und die (aus heutiger Sicht) ebenfalls schwer verständliche Vorherrschaft der Klage über Vergänglichkeit und Leid an der Welt eine pastorale Funktion erfüllen können: Er nennt sie „a powerful preaching technique“,175 über die Leserinnen und Leser des Eugenius am Beispiel seines lyrischen Ichs lernen können, ihrem Leid einen Sinn zu geben und einen spirituellen Gewinn daraus zu ziehen. Gleichzeitig lässt Fear die Möglichkeit offen, dass Poesie für Eugenius auch zum genuinen Ausdruck seines Leidens werden konnte.176 Ebenfalls einen weiteren Blick nimmt David Ungvary in seiner Dissertation ein,177 die zum Ziel hat, eine Kulturgeschichte lateinischen christlichen Dichtertums (‚poetship‘) zu schreiben und dichterische Praktiken, Gewohnheiten und Routinen in einer sich verändernden Welt mit neuen Notwendigkeiten zu beschreiben. Eugenius gilt ihm hier als eines von mehreren Beispielen von Dichtern, die durch ihre Dichtung neue Orte und neue Formen von Diskurs und Praxis schaffen. Bei Eugenius sieht er dies sowohl in seinen eigenen Gedichten (Ungvary geht hier insbesondere auf die carm. 1 und 14 sowie auf Eugenius’ Auto-Epitaphien ein) als auch in carm. 25 ‚stellvertretend‘ für Chindasuinth durch poetische Techniken des „self-fashioning“178 verwirklicht, mit denen es Eugenius gelinge, sich und den König als reuige, bußbereite Sünder zu zeichnen, was im Rahmen der auch die politische Sphäre durchdringenden asketischen Diskurse der Zeit zudem politisch legitimierende Wirkungen habe. Insofern experimentiere Eugenius in seiner Dichtung „with the power of a penitential poetics“.179 Gerade die letzteren und aktuellsten Publikationen zu Eugenius – insbesondere Andrew Fears pastoral-didaktische Sichtweise einiger carmina und Ungvarys Verweise auf den Handlungsbezug poetischer Selbststilisierung – weisen also bereits in die Richtung der Frage der vorliegenden Studie, ob und inwie-
175
FEAR 2010, 63. Vgl. FEAR 2019, 44: „But could we not also see a less philosophical writer: a man struggling with illness and pain and while finding an intellectual answer to the questions their existence inevitably raises, also discovering that such answers do not always convince?“ 177 Vgl. UNGVARY 2018b, 8: „I demonstrate the development of a deep interplay between experimental verse writing, shifting structures of power, and emergent spiritual practices, such as penance, Christian burial, and worship in martyr cults.“ 178 UNGVARY 2018b, 304. 179 UNGVARY 2018b, 304. 176
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1 Thema, Perspektiven und Forschungsstand
fern Poesie auch als Teil spiritueller Praxis fungieren könne. Ihre Einzelbeobachtungen werfen die Frage auf, inwiefern sie sich in eine Gesamtsicht des Libellus carminum integrieren lassen können. Dem Umfang dieser Arbeiten gemäß (im Falle Andrew Fears lediglich zwei Aufsätze, in denen er teils auf drei bis sieben Gedichte eingeht; im Falle David Ungvarys ein Teil einer Dissertation mit einem übergreifenden historischen Interesse, in deren Rahmen er nur auf carm. 25 genauer eingehen kann) war in den bisherigen Studien eine eingehendere Analyse der Carmina nicht möglich. Eine Detailanalyse der fraglichen Gedichte verspricht jedoch nicht nur, ihre Interpretation auf eine gesicherte Basis zu stellen, sondern auch eine genauere Beschreibung der poetischen und intertextuellen Mittel und Techniken zu gewinnen, die Eugenius’ Gedichte kennzeichnen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit scheint es daher gerade nötig, die immer wieder kursorisch gelesenen, aber nie eingehend untersuchten und zudem mit Kontroversen behafteten180 carm. 13–14b einer Detailanalyse zu unterziehen, obwohl auf den ersten Blick, im Unterschied zu den carm. 3 und 5, die aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die Fragestellung ebenfalls näher betrachtet werden sollen, zu diesen bereits viel geschrieben wurde.181 Ferner gilt es, solcherlei Einzelbeobachtungen nicht nur punktuell im einzelnen Gedicht, sondern auch im Horizont des Gesamt-Libellus und des darin zum Ausdruck kommenden dichterischen Selbstverständnisses des Eugenius zu betrachten, um ihre Gesamtrelevanz und ihre Geltungsbereiche einschätzen zu können. Wie bereits in den Ausführungen zur persona-Theorie angedeutet, kann zudem eine stärkere Situierung der Carmina im Kontext anderweitiger Selbstäußerungen des Dichters und im Lichte des ‚Bildes‘, das Eugenius’ Zeitgenossen von seiner Person gewannen, Aufschluss darüber geben, in welche Diskurse und in welches Feld von Vorannahmen über die Person des Dichters die Carmina ‚hineingesprochen‘ sind. So viel wertvolle Forschungsarbeit also in mancherlei Hinsicht schon geleistet wurde, fehlt es bislang an einer ebenso intensiven wie extensiven Auseinandersetzung mit dem Libellus, wie sie im Folgenden unter dem Aspekt seiner Beziehungen zur spirituellen Praxis geleistet werden soll.
180 Vgl. die bereits skizzierte, nach wie vor umstrittene Frage nach der Zugehörigkeit von carm. 14b. 181 Vgl. SMOLAK 2010, FEAR 2010 und 2019; kursorisch auch UNGVARY 2018b, 305–311. SMOLAK 2010, 80–83 wirft dabei insbesondere die Frage nach der Verhältnisbestimmung der carm. 13–14b auf, genauer: ob diese als zusammenhängender Zyklus zu lesen sind, was zu prüfen sein wird.
2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius vor seinem soziokulturellen Hintergrund 2.1 Biographischer Abriss 2.1 Biographischer Abriss
2.1.1 Vorbemerkungen zur Hauptquelle: Ildefons von Toledo, de uiris illustribus Für antike Verhältnisse kann die Quellenlage zum Leben des Eugenius als erfreulich gut gelten. Abgesehen von seinen eigenen Briefen und denen seiner Mitbischöfe (und wohl auch Freunde) Braulio und Taio ist die wichtigste Quelle, die uns zugleich als einzige ein kohärentes Bild seines Lebens bietet, die von Ildefons von Toledo verfasste Vita in der Biographiensammlung de uiris illustribus. Da sie nicht nur einzelne Episoden in Eugenius’ Leben beleuchtet, sondern uns gewissermaßen das Grundgerüst seiner Biographie bietet, eignet sie sich hervorragend als Ausgangspunkt, während andere Quellen in der folgenden Darstellung zur Vertiefung einzelner Aspekte, besonders solcher, die für eine geistesgeschichtliche Einordnung der Carmina relevant sind, herangezogen werden sollen. Das Besondere an der Eugenius-Vita ist dabei nicht nur die reine zeitliche Nähe zu den berichteten Ereignissen, aus der Ildefons sie schreibt:1 Wir wissen sicher, dass Ildefons seinem Vorgänger auf dem Bischofsstuhl von Toledo persönlich begegnet ist. Sowohl Ildefons als auch Eugenius nahmen am VIII. (653) und IX. Konzil von Toledo (655) teil,2 Ildefons als Abt des nahe Toledo gelegenen Klosters Agalí, Eugenius als Erzbischof von Toledo. Dies ist umso interessanter, als Ildefons in seinen Viten nicht nur nach der Vermittlung objektiver Information strebt, sondern sich auch immer wieder bemüht, in knap-
1
Ildefons starb im Jahr 667, also bereits „neun Jahre und zehn Monate“ nachdem er Eugenius nach dessen Tod als Erzbischof von Toledo nachfolgte, wie uns das von Julian von Toledo verfasste elog. Ildeph. (CCL 115B,5 YARZA URQUIOLA) unterrichtet. Einen aktuellen Gesamtüberblick über das Leben und Wirken Ildefons’ stellt die umfangreiche Einleitung von YARZA URQUIOLA 2007 dar; vgl. auch NAVARRA 2003. 2 Vgl. dazu die Liste der Unterzeichnenden in den Konzilsakten der beiden Konzile, Conc. Tolet. VIII (CCH 5,438–444 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ) sowie Conc. Tolet. IX (CCH 5,512–513 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ).
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
pen Zügen ein Bild der Persönlichkeit des Biographierten zu zeichnen – in diesem Fall ein Bild, das er unter anderem aus persönlicher Anschauung gewonnen haben dürfte. Bei der Auswertung der Vita, gerade auch der ‚subjektiveren‘ Angaben zu den Persönlichkeitseigenschaften, müssen freilich allgemeine Tendenzen der gesamten Schrift mit in Betracht gezogen werden: Hier ist im Vergleich zu den literarischen Vorgängern des Ildefons, die ebenfalls de uiris illustribus schrieben, zuerst die beinahe ausschließliche Konzentration auf Bischöfe des hispanischen Raums zu nennen. Insbesondere den Bischöfen der urbs regia Toledo, seines eigenen Bischofssitzes, gilt Ildefons’ Aufmerksamkeit; er bemüht sich spürbar, ihre Autorität und Heiligkeit zu unterstreichen. Anders als noch Hieronymus, der erste christliche Autor von ‚Viten berühmter Männer‘, der noch das apologetische Interesse verfolgte, christliche Schriftsteller von Rang und Bildung zu präsentieren und daher vor allem literarisch interessiert war, setzen die Viten des Ildefons einen fast hagiographischen Akzent auf den Lebenswandel der biographierten Personen. Exkurs: Die Entwicklung des Genres de uiris illustribus von Hieronymus bis Ildefons Das Genre der ‚Viten berühmter Männer‘ (de uiris illustribus) wird erstmals von Hieronymus mit den Biographien berühmter Christen gefüllt; seine Sammlung wird im 5. Jahrhundert von Gennadius und im wisigotischen Spanien von Isidor und Ildefons sukzessive weitergeführt. Der große Zeitraum, der zwischen Hieronymus und Ildefons liegt, bleibt selbstverständlich nicht ohne Auswirkungen auf die Pragmatiken, die das Genre abseits des offenkundigen Zweckes, denkwürdige Persönlichkeiten zu erinnern, verfolgt:3 Hieronymus zeigte sich noch stark dem apologetischen Anliegen verpflichtet und stellte daher, um die Kulturfähigkeit des Christentums zu erweisen, vor allem gelehrsame Christen in den Viten dar (und betonte an ihnen daher natürlich besonders ihre Gelehrsamkeit). Sowohl Gennadius als auch Isidor stehen insofern in Kontinuität zu Hieronymus, als sie berühmte Christen explizit in ihrer Funktion als Literaten in ihre Vitensammlung aufnehmen. Gleichzeitig setzen sie auch eigene, den Umständen ihrer Zeit geschuldete Akzente: Gennadius betont an seinen uiri illustres monastisch-asketische Qualitäten, ist aber auch an den Verfassern häresiologischer Schriften interessiert; Isidor teilt vor dem Hintergrund der noch fragilen Konversion der Wisigoten vom homöischen zum katholischen Bekenntnis dieses häresiologische Interesse, beginnt aber – sei es im Zuge eines langsam entstehenden ‚spanischen Selbstbewusstseins‘, wie es sich auch in seiner Laus Spaniae niederschlägt,4 oder aufgrund eines erschwerten Zugangs zu biographischen Informationen und Werken ‚ausländischer‘ Autoren5 – explizit
3
Vgl. SÁNCHEZ SALOR 2006 und CODOÑER 2009, die die Verschiebungen in den Zielsetzungen des Genres von Hieronymus bis Ildefons analysieren und darstellen. 4 Vgl. zum politischen Programm dieser Schrift FONTAINE 2001, bes. 65–66. 5 Diesen Grund betont CODOÑER 2009, 252: Die Entwicklung der Auswahl der uiri illustres sei gut anhand der Zugänglichkeit derer Werke erklärbar.
2.1 Biographischer Abriss
43
die kirchlichen Autoritäten unter seinen Landsleuten hervorzuheben. Besonders im Fokus steht hier auch sein von ihm verehrter Bruder Leander.6 Diese Linie ist es, die Ildefons aufnehmen und zum beinahe alleinigen Prinzip seiner de uiris illustribus erheben wird: Mit zwei Ausnahmen, nämlich Papst Gregor dem Großen und dem einflussreichen Mönch Donatus, der von Nordafrika nach Spanien übersiedelte, sind sämtliche von Ildefons behandelten Personen hispanische Bischöfe, unter denen wiederum die toledanischen Bischöfe in einer solchen Überzahl sind, dass das Werk schon als „liber pontificalis“7 der toledanischen Kirche bezeichnet wurde: Die Hälfte aller dargestellten Bischöfe hatten den Bischofsstuhl von Toledo inne.8 Dieses Kriterium für die Aufnahme unter die uiri illustres scheint das überkommene Kriterium einer bedeutenden literarischen Leistung so sehr zu verdrängen, dass einzelne Bischöfe (etwa Asturius oder Helladius) biographiert werden, ohne dass ein einziges Werk genannt werden kann:9 Ildefons betont, diese Bischöfe hätten sich „mehr durch das Beispiel ihres Lebens als durch das Schreibrohr eines Schriftstellers“10 ausgezeichnet. Für andere Persönlichkeiten werden teils kleinste Werke, wie einzelne Briefe, eigens aufgeführt.11 Und neben literarischen Leistungen werden in Ildefons’ Augen zunehmend andere Aspekte erwähnenswert: Die Tugendhaftigkeit des Lebenswandels, die Mildtätigkeit den Armen gegenüber, Verbindungen zu bestimmten Heiligen, sogar wunderhafte Zeichen werden berichtet. Das Genre entfernt sich so in den Händen Ildefons’ von der Schriftstellervita und nähert sich der Hagiographie an.12 Die Gründe für Ildefons’ bereits angedeutete Eigenheiten sind dabei oft diskutiert worden. Unstrittig ist, dass seine Konzentration auf die toledanischen Bischöfe vor dem Kontext des Aufstiegs Toledos zur urbs regia und damit zum politischen und zunehmend auch geistlichen Zentrum des wisigotischen Spaniens zu verstehen ist.13 Ildefons stärkt – unter anderem 6 Vgl. SÁNCHEZ SALOR 2006, 51: „Todos ellos forman con toda claridad un grupo de biografiados con un denominador común: son ilustres obispos o autores de la Hispania visigoda.“ WOOD 2012, 621–628 hebt ferner hervor, wie Isidor geschickt die Themen in seinen Biographien so gruppiert und verwebt, dass die Fäden immer wieder bei seinem Bruder Leander zusammenlaufen und die übrigen uiri illustres in Verbindung zu ihm gebracht werden, mit dem Ziel, seinen Bruder als echten spanischen Kirchenvater zu etablieren. 7 RIVERA RECIO 1948, 259. 8 Vgl. SÁNCHEZ SALOR 2006, 52. 9 Dies ist der Fall bei den Bischöfen Asturius, Aurasius, Helladius und Nonnitus sowie beim Mönch Donatus, dem Gründer des Klosters Servitanum. 10 Ildefons von Toledo, vir. ill. 1,3–4 (CCL 114A,603 CODOÑER MERINO): plus exemplo uiuendi quam calamo scribentis. 11 Vgl. z.B. die Iustus-Vita; vir. ill. 7,122–124 (CCL 114A,610 CODOÑER MERINO). 12 Vgl. GALÁN SÁNCHEZ 1992, 71: „Se pasa así de la ‚bibliografía‘ – marca fundamentel del género – a la ‚biografía‘ propiamente dicha y, más concretamente, a la ‚hagiografía.‘“ Seine damit verbundene Aussage, der „ethische Aspekt dominiere“ („predomina el aspecto ético“) die Biographien, erscheint allerdings vor dem Hintergrund problematisch, dass die Viten der schriftstellerisch tätigen Bischöfe meist ohne die Thematisierung ihrer Tugenden auskommen (vgl. CODOÑER MERINO 2007, 519). Insofern scheint Ildefons weniger den Typus des Schriftstellerbischofs als vir illustris durch den Typus des Mönchbischofs ersetzen, sondern ihn dadurch ergänzen zu wollen. 13 Politisches Zentrum als Königsresidenz war Toledo spätestens 589, als das III. Toletanum formal die Konversion Reccareds zum Katholizismus auch für das gesamte Königreich vollzog. Vgl. für den Aufstieg Toledos zum politischen und kirchlichen Zentrum VELÁZQUEZ/RIPOLL 2000, 521–546 sowie, mit stärker archäologischem Fokus, ARCE 2019,
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
gegenüber Sevilla, das durch die Brüder Leander und Isidor zum wichtigsten intellektuellen Zentrum Spaniens geworden war, aber auch z.B. Cartagena, das Toledo erst jüngst als Metropole der Provinz Carthaginiensis abgelöst hatte – durch seine Biographien den ideellen Primat Toledos,14 indem er sowohl das hohe Alter der christlichen Tradition seiner Stadt aufzeigt, als auch das dortige göttliche Walten und Wirken bis in seine eigene jüngste Vergangenheit darstellt.15 Das wirkt sich selbstverständlich auch auf die Darstellung der toledanischen Bischöfe aus: Mit zweien von ihnen (Asturius und Montanus) wird ein göttliches Zeichen verbunden, das jeweils ihre Autorität im innerkirchlichen Konflikt bestärkt. 16 Gleichzeitig galt Ildefons’ Loyalität offenkundig nicht nur Toledo, sondern auch Agalí, dem Kloster unweit Toledos, aus dem er selbst hervorging – dies könnte auch einer der Hintergründe seiner besonderen Betonung von Askese und monastischem Leben sein.17
Die Vita seines direkten Vorgängers Eugenius ist die letzte Vita, die Ildefons verfasst. Sie wird im Folgenden in Übersetzung wiedergegeben:18 Ebenso wird Eugenius der Zweite nach Eugenius als pontifex nachgewählt. Dieser hatte, obgleich er ein hervorragender Kleriker der Kirche der Königsstadt war, Freude am Lebenswandel eines Mönches. In kluger Flucht suchte er die Stadt Saragossa auf; dort hing er den Gräbern der Märtyrer an und pflegte dort das Studium der Weisheit und das Ziel eines Mönches in geziemender Weise. Nachdem er von dort von fürstlicher Gewalt zurückgeführt und für das Pontifikat bestimmt worden war, führte er das Leben mehr durch tugendhafte Verdienste als mit Kraft. Er war nämlich von schmächtigem Körperbau und schwacher Konstitution, aber kraftvoll glühend in geistiger Tugend und strebte nach der Kraft guter Studien. Gesänge, die durch ausgedehnten Gebrauch fehlerhaft geworden waren, verbesserte er durch seine Kenntnis der Melodik und machte sich die Sorge um noch fehlende liturgische Ordnungen zu eigen. Über die Heilige Trinität schrieb er ein sowohl von Beredsamkeit leuchtendes als auch durch seine sachliche Wahrheit klares schmales Buch, das eilends nach Libyen und in den Osten hätte geschickt werden können, wenn nicht ein von Stürmen tobendes Meer die furchtsamen Reisenden zum Aufschub der ungewissen Reise bewegt hätte. Er schrieb noch zwei andere schmale Bücher – eines aus verschiedener metrischer Dichtung, das andere aus Prosa aus verschiedenen Werken zusammengestellt –, die es vermochten, sein heiliges Andenken zum Eifer vieler nachhaltig anzuempfehlen. Auch die Bücher des Dracontius über die Erschaffung der Welt, die die alte Zeit fehlerhaft auf uns hat kommen lassen, hat er, indem er das, was er unpassend gefunden hat, 86–92. Zum Einfluss auf die Darstellungsweise in Ildefons’ de uiris illustribus vgl. COsowie CASTRO 2016, passim. 14 Vgl. dazu WOOD 2012, 628–637. 15 Vgl. zu Ildefons’ zweigeteiltem Schema der Berichte in ex antiquitate ueteri und temporis noui CODOÑER MERINO 2007, 548–549 und CASTRO 2016, 54–55. 16 Vgl. Ildefons von Toledo, vir. ill. 1,6–11 (CCL 114A,603 CODOÑER MERINO); 2,35– 41 (CCL 114A,605 CODOÑER MERINO); vgl. zum autoritätsstützenden Zweck dieser Wunder bei Ildefons CASTRO 2016, 56–57. 17 Vgl. CODOÑER 2009, 253. Vgl. zu Agalí und seiner Geschichte GONZÁLVEZ RUIZ 2007, passim. 18 Vgl. für den lateinischen Text Ildefons von Toledo, vir. ill. 13 (CCL 114A,614–616 CODOÑER MERINO).
DOÑER MERINO 2007, 540–549, WOOD 2012, passim
2.1 Biographischer Abriss
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weggestrichen, abgeändert oder sogar Besseres angefügt hat, derart in Formschönheit gezwungen, dass sie von der Kunstfertigkeit des Korrektors schöner hervorgegangen zu sein scheinen als von der Hand des Autors. Und weil derselbe Dracontius dadurch, dass er über den siebten Tag gänzlich geschwiegen hat, sein Werk nur halb fertig zurückgelassen zu haben scheint, hat dieser hier sowohl eine Wiederholung der sechs Tage in einzelnen Versen angefertigt als auch über den siebten Tag das, was ihm gut schien, in erlesenen Worten hinzugefügt. Als berühmt galt er in den Zeiten der Könige Chindasuinth und Reccesuinth und hatte beinahe zwölf Jahre lang zugleich die Würde und den Ruhm des Bischofsamtes inne, und so liegt er nach dem Niedergang seines Erdenlichtes in der Basilika der Heiligen Leocadia zu Grabe.
Die Struktur der Vita ist, wie leicht zu erkennen, grob zweigeteilt: Vor einem im Falle des Eugenius vergleichsweise ausführlichen Abschnitt über seine Werke und sonstigen literarischen und liturgischen Verdienste steht ein kurzer Abriss seines Lebens mit einer Beschreibung seiner Eigenschaften, der am Ende der Vita von der Sterbe- und Begräbnisnotiz ergänzt wird.19 2.1.2 Sagaci fuga: Von Toledo nach Saragossa Der erste Abschnitt will uns dabei einen relativ lebendigen Eindruck der Persönlichkeit des Eugenius vermitteln: So hält Ildefons es immer und unterscheidet sich darin von seinen Vorgängern, selbst von Isidor, der sich rein auf äußere Fakten konzentriert. Wir erfahren, dass Eugenius ursprünglich dem toledanischen Klerus angehörte und dort bereits als egregius galt, also hohe Achtung genoss und wohl auch einer vielversprechenden Karriere entgegenblicken konnte. Dem stellt Ildefons in einem cum-Satz, der in obiger Übersetzung bereits als konzessiv („obgleich“) interpretiert ist, die Freude des Eugenius am mönchischen Leben gegenüber. Wenn Ildefons darin einen Gegensatz sah, der erst ausgehandelt werden muss (wofür es andere, berühmte Beispiele gibt, nicht zuletzt Gregor den Großen),20 erklärt sich auch die „kluge Flucht“ (sagaci fuga) des Eugenius nach Saragossa zu den Gräbern der Märtyrer ohne weiteres als die nach Ildefons in spiritueller Hinsicht richtige Lebenswahl. Freilich handelt es sich bei der Flucht ins Mönchtum um einen Topos, den er etwa auch auf
19 Die Zweiteilung entspricht dem im Werk des Ildefons für literarisch aktive Persönlichkeiten gängigen Schema. CODOÑER MERINO 2007, 563 umschreibt die beiden Teile bzw. Inhalte als „plano de la realización personal, y el de las actividades literarias.“ 20 Vgl. MÜLLER 2013, 104–105 und beispielsweise den im wisigotischen Spanien wohlbekannten Brief an Leander, in dem er vom „Hafen des Klosters“ (portum monasterii) spricht, in das er sich nach dem „Schiffbruch dieses Lebens“ (huius uitae naufragio) geflüchtet habe, nur um dieser Ruhe, deren Wert er erst nachher voll erkannte, wieder durch die Bürde des Amtes entrissen zu werden; vgl. Gregor der Große, moral. epist. 13–20 (CCL 143,1–2 ADRIAEN).
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
Helladius anwendet.21 Über die eigentliche Motivation für die Übersiedelung nach Saragossa kann Ildefons höchstwahrscheinlich ohnehin nichts wissen;22 sie bot sich jedoch für eine derartige, mit Ildefons’ Prinzipien übereinstimmende Interpretation der Person des Eugenius an, der freilich auch nicht widersprochen werden kann. Ebenso lässt die Vita offen, ob damit eine allgemeine Flucht in die Abgeschiedenheit des Klosters und der Studierstube gemeint ist oder ob es vielleicht einen konkreten Anlass dafür gab.23 Dergleichen wird jedoch nicht erwähnt, und der Ausdruck fuga erklärt sich zur Genüge aus dem Verlassen des für Eugenius zunächst vorgezeichneten Lebensweges. Eugenius’ Aufenthalt in Saragossa ist nach dem Bericht des Ildefons von drei Faktoren geprägt: der engen Beziehung (inhaesit; er „hing an“) zu den Gräbern der Märtyrer, dem studium sapientiae sowie dem propositum monachi. Mit den Gräbern der Märtyrer dürften diejenigen der Heiligen Encratia (der auch das Kloster in Saragossa geweiht ist, in dem Eugenius zu dieser Zeit wahrscheinlich lebte),24 und der 18 Märtyrer von Saragossa gemeint sein.25 Aber auch eine Bemerkung in Bischof Braulios Brief an Chindasuinth, in dem er widerwillig der Berufung des Eugenius nach Toledo zustimmt, kann dies noch weiter konkretisieren: Braulio drückt seine Hoffnung an ein Umdenken Chindasuinths aus, nämlich ut restituatis eum patrono uestro sancto Vincentio.26 Zu diesem Zeitpunkt war Eugenius also (als Erzdiakon) der Basilika St. Vincentius zugeordnet, der er auch eines seiner Gedichte (carm. 10) widmet. Allgemein erlauben uns mehrere der carmina einen Einblick in Eugenius’ Zeit in Saragossa und in die Beziehungen, die er dort unterhielt: ein titulus für eine Bibel des Johannes, des Bruders Braulios und seines Vorgängers als Bischof von Saragossa (carm. 8), tituli für die dortigen Basiliken (carm. 9–10), und schließlich Epitaphe für den verstorbenen Bischof Johannes (carm. 21) und für Braulios und Johannes’ Schwester Basilla (carm. 22–23).
21
Ildefons von Toledo, vir. ill. 6,95–97 (CCL 114A,608 CODOÑER MERINO): celeri fuga relictis omnibus quae esse nouerat mundi, ad id sanctum monasterium quod frequentauerat uoto, uenit permansurus optabili usu. 22 FEAR 2019, 27 vermutet eher die Begeisterung des Eugenius für die schönen Künste und besonders die Kirchenmusik, für die Saragossa zu dieser Zeit ein Zentrum war, als Hintergrund seiner ‚Flucht‘. 23 ESDERS 2019a, 192 lässt anklingen, dass seiner Meinung nach eine allgemeine Unzufriedenheit im toledanischen Klerus mit Chindasuinths politischer Positionierung innerhalb der monotheletischen Krise Anlass der ‚Flucht‘ gewesen sein könnte. 24 Vgl. AYALA 1996, 31. 25 Eugenius verfasste ein Gedicht, carm. 9, auf die Basilika der Hl. Encratia und der 18 Märtyrer. 26 Braulio von Saragossa, ep. 27,7–8 (CCL 114B,97 MIGUEL FRANCO). Vgl. auch Eugenius’ carm. 10 für die Kommemoration der dem Heiligen Vicentius geweihten Basilika. Vgl. zu Ildefons’ Praxis, die toledanischen Bischöfe in enge Verbindung mit bestimmten Heiligen zu bringen, CASTRO 2016, 60.
2.1 Biographischer Abriss
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Für das studium sapientiae war Saragossa gerade durch die Persönlichkeit Bischof Braulios ein idealer Ort: Dieser stand in engem Austausch mit Isidor von Sevilla, des damals unbestritten führenden Theologen, der übrigens auf dem VIII. Toletanum unter Mitwirkung des Eugenius wie ein Kirchenvater als theologische Autorität zitiert und mit einem Eulogium versehen wird.27 So sind wir in Briefen darüber unterrichtet, dass Isidor Braulio seine Synonyma übersandte, und dass die Abfassung des großen enzyklopädischen Werkes, der Etymologiae uel origines, auf die Anregung (bzw. sogar das Drängen) Braulios hin geschah.28 Über Eugenius’ dortige wissenschaftliche und literarische Bemühungen erfahren wir sowohl aus Ildefons’ Werkliste als auch aus Briefen Braulios, in denen er Eugenius’ Mitwirken, etwa an der Messe für den Hl. Aemilian, erwähnt – und natürlich auch durch die mit Saragossa in Verbindung stehenden Carmina. 2.1.3 Principali uiolentia? Eugenius’ Berufung nach Toledo Mit der Berufung des Eugenius nach Toledo findet diese für ihn prägende Zeit ein jähes Ende. Nach Ildefons findet die Berufung principali uiolentia statt, also gegen den Willen des Eugenius, der jedoch nicht umhinkonnte, sich dem Willen des princeps zu beugen. Die ‚Berufung wider willen‘ ist freilich ein Topos, der nicht nur Eugenius zugeschrieben wurde.29 In diesem Falle ist es jedoch hochwahrscheinlich, dass er mit der historischen Realität übereinstimmte: 30 Über die Vorgänge und Verhandlungen zwischen Saragossa und Toledo rund um die Berufung des Eugenius sind wir nämlich auch durch den Briefwechsel Braulios von Saragossa und Chindasuinths gut informiert.31 Der Briefwechsel, bestehend aus einem ‚Petitionsbrief‘ Braulios, der negativen Antwort des Chindasuinth und wiederum der Antwort Braulios, in dem er seine Fügung in den königlichen Willen bekräftigt, bestätigt die Darstellung des Ildefons, dass die Berufung des Eugenius nach Toledo durchaus auf Widerstand stieß – mindestens vonseiten seines Mentors, der seine Gesellschaft
27
Vgl. Conc. Tolet. VIII, c. 2 (CCH 5,411 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ): Nostri quoque saeculi doctor egregius, ecclesiae catholicae nouissimum decus, praecedentibus aetate postremus, doctrinae conparatione non infimus, et, quod maius est, in saeculorum fine doctissimus atque cum reuerentia nominandus, Isidorus. 28 Vgl. für die Synonyma Isidor von Sevilla, ep. Braul. B,9–11 (CCL 114B,6 MIGUEL FRANCO) und für die Etymologiae den sehr fordernden Brief Braulios ep. IV (CCL 114B,12– 21 MIGUEL FRANCO). 29 Ein sogar sprachliches Echo finden wir in Ildefons’ eigener, von Julian von Toledo verfassten Vita, vgl. elog. Ildeph. 19–20 (CCL 115B,4 YARZA URQUIOLA): Principali post haec uiolentia Toletum reducitur. Vgl. ALBERTO 2005a, 14 Anm. 5. 30 Diese Meinung vertritt MIGUEL FRANCO 2011, 171. 31 Vgl. zum Briefwechsel MIGUEL FRANCO 2011, die sich hier mehr für übergreifende literarische Themen des Epistularium interessiert, sowie DIESNER 1979.
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
und Hilfe in Saragossa nicht missen wollte. Beide Korrespondenzpartner zeigen sich dabei durchaus der theologischen Argumentation fähig: Braulio verweist auf die Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Niedergedrückten, an der sich – da die rechte irdische Herrschaft ad cuius [sc. Domini omnipotentis] similitudinem32 ausgeübt werde – der König ein Beispiel nehmen solle. Im Zuge dessen erhalten wir auch einen Einblick, was Eugenius für Braulio bedeutet haben mag, auch wenn der Brief aufgrund seines Anlasses freilich anfällig für Übertreibungen gewesen sein dürfte: Dem von Krankheit gezeichneten, allmählich erblindenden, geistig nachlassenden und in Bitterkeit das Leben fristenden Braulio sei Eugenius das utcumque huius uitae solamen gewesen, mehr noch, ein pars animae meae,33 ein Teil seiner Seele, was an Horaz’ schon von Augustinus zitierte Bezeichnung seines Freundes Vergil als animae dimidium meae erinnert.34 (Braulio war freilich mit derartigen Epitheten allgemein nicht sparsam.)35 Braulio betont zwar, er wisse nicht, wie nützlich Eugenius dem Chindasuinth in Toledo überhaupt sein könne. Für das Erreichen seines Zieles dürfte jedoch die Lobpreisung der außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Erzdiakons Eugenius ein wenig ungeschickt gewesen sein: Dieser sei in omnibus […] aptus gewesen, „sowohl bei Erbschaftsangelegenheiten als auch bei der Erfüllung eures Befehls als auch bei verschiedensten Dingen, wenn Hilfe nötig war.“36 Ein derart vielfältiges Profil dürfte Chindasuinths Begehrlichkeit eher weiter geweckt als abgewehrt haben. Chindasuinth jedenfalls insistiert, ungerührt von Braulios Argumentation, auf der Berufung des Eugenius. Als Grund dafür ist, neben dem Prestige seines ‚Lehrers‘ und seinem durch Braulios Brief bezeugten guten Ruf, u.a. diskutiert worden, ob gewisse Unruhen durch die Konkurrenz des nahe Toledo gelegenen Klosters Agalí und des weltlichen Klerus von Toledo Eugenius zu einem idealen Kompromiss-Kandidaten gemacht haben, der, obgleich aus Toledo stammend, durch seine lange Abwesenheit nicht in lokale Konflikte verwickelt war.37 In jedem Fall durchbrach Eugenius eine schon drei Bischofsgenerationen andauernde ‚Dynastie‘ der Agalienser auf dem Bischofsstuhl von Toledo, die von Ildefons selbst wieder aufgenommen wurde. Freilich dürfte auch die 32
Braulio von Saragossa, ep. 25,3 (CCL 114B,93 MIGUEL FRANCO). Vgl. Braulio von Saragossa, ep. 25,20–21 (CCL 114B,93 MIGUEL FRANCO): Nunc uero iussione gloriae uestrae aufertur a me pars animae meae. 34 Vgl. Horaz, carm. 1,3,8 (5 KLINGNER): animae dimidium meae. Vgl. das Zitat in Augustinus, conf. 4,6,22 (CCL 27,45 SKUTELLA/VERHEIJEN) und – auch in der Formulierung pars animae meae – Hieronymus, epist. 3,3 (CSEL 254,14 HILBERG). 35 Vgl. Braulio von Saragossa, ep. 14,39 (CCL 114B,66 MIGUEL FRANCO) an Bischof Valentinus und ep. 17,26–27 (CCL 114B,76 MIGUEL FRANCO) an Abt Aemilian. 36 Braulio von Saragossa, ep. 25,29–31 (CCL 114B,94 MIGUEL FRANCO): Iste autem in omnibus erat aptus: et in legatoriorum susceptione et ad implendam uestram iussionem et in diuersarum rerum subuenienda occasione. 37 Dies vermutet RIVERA RECIO 1948, 268. 33
2.1 Biographischer Abriss
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Tatsache, dass Chindasuinth allgemein einen durchaus engen und guten Kontakt zu Braulio hatte,38 das Vertrauen des Königs in dessen Schützling gestärkt haben – zu einer Zeit, da Chindasuinth durchaus einigen Bischöfen und Klerikern misstraute und fürchtete, sie könnten sich mit den Franken jenseits der Pyrenäen verbünden, wie das auf dem VII. Toletanum Verhandelte nahelegt.39 Das erhaltene Antwortschreiben Chindasuinths an Braulio ist jedenfalls beinahe zynisch zu nennen: Braulios Wortgewandtheit und Eloquenz in seinem Brief hätten dem König gezeigt, dass es um die geistigen Fähigkeiten des Bischofs von Saragossa hervorragend bestellt sei, sodass er Eugenius getrost von dort abberufen könne.40 Braulios Berufung auf Gottes nachahmenswerte Barmherzigkeit stellt er auf den Kopf und behauptet für sich selbst göttliche Inspiration und intime Kenntnis des Willens Gottes:41 Es sei Gottes Entscheidung, Eugenius zu berufen, und sein eigener königlicher Befehl sei lediglich die Ausführung des göttlichen Willens. „Wir dürfen nichts anderes tun, als was Ihm selbst gefällt.“42 Dass dies ein Opfer für Braulio bedeute (Chindasuinth benutzt hier höchst sakrale Sprache, immolare, sacrificium und hostia),43 sei ihm bewusst, umso größer werde Braulios Lohn dafür sein. Darüber hinaus sei die Berufung seines Schützlings natürlich auch für Baulio selbst eine hohe Ehre.44 Braulios impliziten Vorwurf, er beraube die eine Kirche (Saragossa), um die andere (Toledo) auszustatten,45 will sich Chindasuinth freilich nicht gefallen lassen und bemerkt in einem Seitenhieb, es sei ohnehin gerecht, wenn ein aus 38
Das zeigt besonders augenscheinlich der Brief auf, in dem Braulio im Namen der Bischöfe den bereits sehr alten Chindasuinth bat, seinen Sohn Reccesuinth zum Mitregenten zu erheben, was freilich nicht gegen den Willen des Königs gewesen sein kann oder sogar von diesem orchestriert wurde; vgl. KAMPERS 2008, 203 und für den Brief Braulio von Saragossa, ep. 28 (CCL 114B,98–99 MIGUEL FRANCO). 39 Vgl. GARCÍA MORENO 1999, 51. Vgl. zum VII. Toletanum insbesondere ESDERS 2018, passim. 40 Vgl. Chindasuinth, ep. Braul. 6–8 = Braulio von Saragossa, ep. 26,6–8 (CCL 114B,95 MIGUEL FRANCO): nobis datur intelligi nulla uos intellectus necessitate conpressos nullaque indigentia sapientiae exiguos apud uos Eugenium arcediaconum retineri. 41 Chindasuinth ist nicht der erste König, der diesen Anspruch widerspruchslos erheben darf: Bereits als Braulio, beauftragt vom VI. Toletanum, einen Antwortbrief auf die Kritik des Papstes Honorius am zu milden Umgang mit den Juden im wisigotischen Spanien verfasst, berufen die Bischöfe sich auf ihren princeps (damals Chintila), dem der göttliche Wille durch Inspiration offenbar sei; vgl. Braulio, ep. 16 (CCL 114B,67–74 MIGUEL FRANCO). Vgl. dazu und zum sakralen Selbstverständnis des Chindasuinth DIESNER 1979, 26–28. 42 Chindasuinth, ep. Braul. 17 = Braulio von Saragossa, ep. 26,17 (CCL 114B,95 MIGUEL FRANCO): alia nos quam quid ipsi conplacet facere non debemus. Vgl. dazu DIESNER 1980, 474. 43 Vgl. Chindasuinth, ep. Braul. 13–15 = Braulio von Saragossa, ep. 26,13–15 (CCL 114B,95 MIGUEL FRANCO). 44 Vgl. Chindasuinth, ep. Braul. 24–27 = Braulio von Saragossa, ep. 26,24–27 (CCL 114B,96 MIGUEL FRANCO). 45 Vgl. Braulio von Saragossa, ep. 25,31–34 (CCL 114B,94 MIGUEL FRANCO).
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
Toledo stammender Kleriker auch in Toledo zu hohen Ehren gelange.46 Dieser Argumentation kann sich Braulio freilich nur fügen, auch wenn er seine fortwährende Hoffnung zum Ausdruck bringt, der König möge sich in seiner gewohnten pietas doch noch eines anderen besinnen und Eugenius wieder zu ihm zurückschicken.47 Dies ist jedoch nie geschehen. 2.1.4 Eugenius’ Verhältnis zu Chindasuinth Die Implikationen der von Ildefons geschilderten und vom Briefwechsel dokumentierten Episode für das Verhältnis zwischen Braulio, Eugenius und Chindasuinth wurden oft in die Richtung eines anhaltenden Ressentiments, ja sogar einer Feindschaft zwischen Eugenius und Chindasuinth interpretiert, zumal letzterem bis in die heutige Geschichtsforschung hinein das Image anhaftet, sich durch seine in der Tat oft harte Politik nicht nur weite Teile der Aristokratie, sondern auch kirchliche Vertreter zum Feind gemacht zu haben.48 Obgleich kein Zweifel daran bestehen kann, dass Chindasuinth hart und grausam gegen seine Opponenten in der Aristokratie vorging (die sog. Fredegar-Chronik spricht von der Hinrichtung von ungefähr 700 Aristokraten),49 ist die enge Zusammenarbeit zwischen ihm selbst, seinem Hofstaat und den Bischöfen jedoch niemals abgerissen. Wie ‚herzlich‘ sie war und wie groß oder gering die Zufriedenheit mit dieser Zusammenarbeit war, ist wohl eine anachronistische und nicht mehr zu beantwortende Frage, da alle vorhandenen Quellen von der notwendigen politischen Pragmatik geprägt erscheinen. Für das spezifische Verhältnis zwischen Chindasuinth und seinem ‚zwangsweise‘ berufenen Erzbischof ist oft das von Eugenius verfasste carm. 25 als Beleg der Spannungen zwischen ihm selbst und dem princeps, nach dessen Tod Eugenius seinem Ärger Luft gemacht habe, gelesen worden.50 Es handelt sich
46
Vgl. Chindasuinth, ep. Braul. 18–20 = Braulio von Saragossa, ep. 26,18–20 (CCL 114B,95 MIGUEL FRANCO): Nec enim […] nostra est praetermittenda iustitia, quod ipse hic extiterit oriundus, ubi nunc eum consecrandum speculatorem optamus. 47 Braulio von Saragossa, ep. 27,6–8 (CCL 114B,97 MIGUEL FRANCO). 48 Vgl. vor allem KAMPERS 2008, 198–203, etwas milder im Urteil COLLINS 2004, 81–84. Vgl. jüngst ESDERS 2019a, 192–193 für Chindasuinths wohl kontroversen Umgang mit der monotheletischen Krise und ESDERS 2018 für Chindasuinths strenges Hochverratsgesetz; vgl. zur allgemeinen Evaluation GÚZMAN ARMARIO 2013, passim; vgl. für eine summarische Evaluation der Regierungszeit Chindasuinths DIESNER 1979, passim. 49 Vgl. Fredegar, chron. 4,82 (MGH.SS rer. Mer. 2,163 KRUSCH). 50 Vgl. noch jüngst ESDERS 2019a, 193, der seine Meinung allerdings in ESDERS 2019b, 113 revidiert; vgl. unter den jüngeren Historikern COLLINS 2004, 88 und besonders KAMPERS 2008, 199: „ein in der Schwärze seiner Farbe kaum zu überbietendes Bild der sittlichmoralischen Verkommenheit des verstorbenen Königs.“ DIESNER 1980, 478: „der verbleibende Unmut manifestierte sich in dieser ätzenden und verunglimpfenden posthumen ‚Widmung‘, die natürlich zugleich als Paränese für Zeitkommen und Nachkommen gemeint war.“
2.1 Biographischer Abriss
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um ein Epitaph, also ein Grabgedicht für König Chindasuinth, in dem der König aus der Ich-Perspektive spricht und sich in bittersten Selbstvorwürfen der schweren Sündhaftigkeit bezichtigt. Die Lesart dieses Epitaphs, das gerade aufgrund der Ich-Perspektive eher mit Eugenius’ fiktiven Auto-Epitaphen vergleichbar ist als mit ‚echten‘ Epitaphen, die Verstorbene kommemorieren sollen,51 ist jedoch in jüngster Zeit überzeugend revidiert worden. Bereits der erste Herausgeber Friedrich Vollmer hatte die richtige Intuition gehabt, dass es sich nicht um ein Schmähgedicht, sondern um ein senilis paenitentiae documentum52 handle. Damit wäre sogar denkbar, dass es auf Befehl des Chindasuinth (oder posthum im Auftrag seines Sohnes) verfasst wurde. Es wäre nicht das erste Mal, dass Chindasuinth Eugenius literarische Aufträge erteilt hätte; schließlich wurde auch die Dracontius-Rezension auf seinen Befehl oder zumindest seine Anregung hin angefertigt. Überhaupt ist das Verfassen eines posthumen Schmähgedichtes, mit dem sich Eugenius strenggenommen eines unter hoher Strafe stehenden Vergehens gegen den König schuldig gemacht hätte, 53 unter den gegebenen historischen Bedingungen, dass Chindasuinth nach seinem Tod nicht durch einen Usurpator, sondern von seinem eigenen Sohn abgelöst wurde, kaum denkbar. Eine solche Interpretation des Gedichtes hat jüngst David Ungvary nach Vorlage von Andrew Fear überzeugend widerlegt und in den Diskurs eingeordnet, vor dessen Hintergrund es zu lesen ist:54 den Diskurs um Sünde und Buße, in dem es königlicher Autorität keinen Abbruch tut, sich selbst der Sünde zu bezichtigen, sondern einen „paradoxically dignifying speech-act“55 darstellt. Wir können also nicht ohne Weiteres von einer Feindschaft zwischen Eugenius und Chindasuinth ausgehen, die in seiner ‚Zwangsberufung‘ ihren Anfang nahm. Genau genommen erfahren wir durch die Briefe Braulios auch lediglich von seiner Missbilligung der Abberufung seines Erzdiakons, nicht von Eugenius’ eigenem Unwillen. Céline Martin hat dabei plausibel argumentiert, dass der tiefere Grund für Braulios doch vehemente Weigerung nicht nur die enge
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Dies bemerkt schon DIESNER 1980, 479: „Freilich ist gleichzeitig in Betracht zu ziehen, daß Eugenius in seinen autobiographischen Epitaphen sich selbst als unübertroffenen Sünder darstellt.“ 52 VOLLMER 1905, 103. 53 Vgl. UNGVARY 2018a, 330. Vgl. zum Vergehen der Majestätsbeleidigung, angelehnt an das römische crimen laesae maiestatis, das freilich meist das Intrigieren gegen den König meinte, aber auch verbale Schmähung beinhaltete, Conc. Tolet. VII, c. 1 (CCH 5,345–346 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ): Nam si […] reperiatur aliquis nequiter loqui. Die dafür (kirchlich) festgesetzte Strafe ist die Exkommunikation, allerdings mit Begnadigungsmöglichkeit durch den Prinzeps. Vgl. zu diesem Gesetz, das auch im Liber Iudiciorum enthalten ist, ESDERS 2019a, 176–180 und ESDERS 2018, passim. 54 Vgl. UNGVARY 2018a, passim sowie 2018b, 275–315; vgl. bereits FEAR 2010, 72–73. 55 UNGVARY 2018b, 279.
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
Freundschaft zwischen den beiden und Braulios Hilflosigkeit war (letzteres erkennt auch Chindasuinth als vorgeschobenen Grund), sondern ein wesentlich politischerer:56 Braulio habe Eugenius bereits als seinen eigenen Nachfolger in Saragossa auserkoren und ihn auf diese Rolle vorbereitet. Eines von Eugenius’ eigenen Gedichten, das Epitaph auf Bischof Johannes, den Bruder Braulios, weist uns darauf hin, dass diese Art von ‚Erbepiskopat‘ auch in Saragossa nicht unüblich war: Schon Braulios Vater Gregor war sacerdos57 und Braulio selbst folgt seinem älteren Bruder ins Bischofsamt nach, das nach Eugenius’ Epitaph dieser selbst ihm „hinterlassen hat.“58 Wenn dies tatsächlich darauf hindeutet, dass der Wille des verschiedenen Bischofs bei der Wahl seines Nachfolgers faktisch berücksichtigt wurde, erscheint Eugenius tatsächlich als hochwahrscheinlicher Kandidat, zumal das Amt des Erzdiakons zu dieser Zeit oft eine Vorstufe zum Bischofsamt war.59 Umgekehrt würde dies nahelegen, dass Eugenius nicht so frei von kirchlichen Ambitionen war, wie Ildefons ihn beschreibt und wie er Eugenius’ sagax fuga interpretiert – auch wenn Saragossa sicherlich ein ruhigeres Erzbistum gewesen wäre als die urbs regia Toledo.
2.2 Leid, Körper und Daseinsnot 2.2 Leid, Körper und Daseinsnot
2.2.1 Ildefons: corpore tenuis, paruus robore Zurück zur Vita des Ildefons: Gerade im Vergleich mit Ildefons’ übrigen Bischofsviten können Eigenheiten, die er an Eugenius besonders bemerkenswert gefunden hat, deutlicher hervortreten. In einem merkwürdigen Verhältnis zum skizzenartigen Bericht über die Umstände seiner Berufung zum Pontifikat steht etwa eine Aussage, die Ildefons über Eugenius’ körperlichen Zustand trifft: unde principali uiolentia reductus atque in pontificatum adscitus, uitam plus uirtutum meritis, quam uiribus egit. Fuit namque corpore tenuis, paruus robore, sed ualide feruescens spiritus uirtute, studiorum bonorum uim persequens.60 Nachdem er von dort von fürstlicher Gewalt zurückgeführt und für das Pontifikat bestimmt worden war, führte er das Leben mehr durch tugendhafte Verdienste als mit Kraft. Er war nämlich schmächtig im Körperbau, klein an körperlicher Stärke, aber kraftvoll glühend in geistiger Tugend und strebte nach der Kraft guter Studien. 56
Vgl. MARTIN 2001, 371. Eugenius von Toledo, carm. 21,17–18 (CCL 114,237 ALBERTO): Nobilis hunc [sc. Iohannem] genuit clara de matre sacerdos / factis egregius, nomine Gregorius. Sacerdos bedeutete in der wisigotischen Kirche meist den Bischof im Unterschied zum Priester, dem presbyter, vgl. PREDEL 2005, 212. 58 Eugenius von Toledo, carm. 21,23 (CCL 114,237 ALBERTO): Iura sacerdotii germano liquit amato. 59 Vgl. MARTIN 2001, 371. 60 Ildefons von Toledo, vir. ill. 13,195–199 (CCL 114A,614 CODOÑER MERINO). 57
2.2 Leid, Körper und Daseinsnot
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Durch die voranstehende Partizipialkonstruktion (principali uiolentia reductus atque in pontificatum adscitus) scheinen beide Aussagen eng miteinander verbunden zu sein und „mehr durch Tugend als durch Kraft“ sich explizit auf Eugenius’ Zeit als Erzbischof von Toledo zu beziehen, es sei denn, man wollte die Partizipialkonstruktion als elliptischen Hauptsatz begreifen und den zweiten Teil des Satzes als eine eigenständige Gesamtaussage über sein Leben begreifen. Tatsächlich liest sich die Begründung – fuit namque corpore tenuis, paruus robore – nicht so, als hätte sich dieser Umstand erst während seiner Zeit als Erzbischof in Toledo ergeben, sondern beschreibt eine grundsätzliche körperliche Verfasstheit, möglicherweise sogar eine dauerhafte Beeinträchtigung oder Behinderung, die aber vielleicht erst dann besonders nachteilig auffiel, als Eugenius das strapaziöse Amt des Erzbischofs übertragen wurde. Es fällt schwer, hier keine Resonanz zu einem der wenigen theologischen Fragmente des Eugenius zu spüren, das Julian zitiert und in dem Eugenius über die futurae gloria resurrectionis nachdenkt, in der den Heiligen körperliche Integrität verheißen sei: nulla corporibus sanctis deformitas, nulla quoque doloris aut laboris erit aduersitas.61 Der Ausdruck plus… quam bzw. tam… quam (und Verwandtes), der hier auf Eugenius’ uirtutum merita und uires angewandt wird, ist bei Ildefons eine regelmäßig auftretende Konstruktion, wo es um die Bewertung des Wirkens der biographierten Person geht,62 und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. An solcherlei Vergleichskonstruktionen wurde oft abzulesen versucht, welche Wertmaßstäbe Ildefons an seine uiri illustres heranträgt, welche Qualitäten und Wirkbereiche er favorisiert: Der zweite, ‚geringere‘ Begriff werde innerhalb der Vergleichskonstruktion gegenüber dem ersten aufgewertet; wenn also Ildefons beispielsweise über Asturius schreibt, er bewirke seine tugendhaften Leistungen plus exemplo uiuendi quam calamo scribentis („mehr durch das Beispiel seines Lebens als durch das Schreibrohr“) impliziere dies eine Aufwertung des Verhaltens im Leben gegenüber schriftstellerischen Errungenschaften.63 Auf diese Weise kann Carmen Codoñer Ildefons die folgende ‚Werteskala‘ zuschreiben: 1. merita/exempla/uirtutes 2. uerba 3. scripta Ildefons gebe also dem pastoralen Ideal (uerba) den Vorzug vor dem Literarischen (scripta) und dem asketisch-monastischen Ideal (merita/exempla/uirtutes), an dem er freilich nicht nur Mönche misst, den Vorzug vor beidem.64 Der 61
Eugenius von Toledo, fragm. 3 = Julian von Toledo, progn. 3,26 (CCL 115,100 HILL-
GARTH). 62
Vgl. dazu CODOÑER MERINO 2007, 565, die insgesamt 11 Beispiele aus den Viten sam-
melt. 63 64
Vgl. CODOÑER MERINO 2007, 565. Vgl. CODOÑER MERINO 2007, 565–566.
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
Blick auf einzelne Viten scheint diese Werteskala zu bestätigen, wenn beispielsweise an Isidor, dessen beeindruckende Werkliste die aller anderen literarisch tätigen Bischöfe quantitativ wie qualitativ weit übertroffen haben dürfte, vor allem seine Redegabe betont wird;65 umgekehrt wird von den scripta nie ausgesagt, dass sie rhetorische Defizite oder gar einen Mangel an Tugendhaftigkeit ausgleichen. Vielleicht erklärt sich dies jedoch leichter daraus, dass der Schrifsteller-Bischof eben den von der Tradition des Genres vorgegebenen Archetyp eines uir illustris darstellt, der keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, um als solcher gelten zu können (und nicht dadurch, dass Ildefons Schriftsteller für grundsätzlich weniger tugendhaft hielt – das wäre auch eine schmerzhafte Spitze gegen sich selbst). Umgekehrt wird nämlich bei den schreibenden Bischöfen nur in maximal zwei Fällen auch deren Tugendhaftigkeit erwähnt – nämlich im Fall des Montanus, allerdings in reduzierter Form,66 und ‚unseres‘ Eugenius II. Erklärungen dafür, warum Eugenius’ Tugenden ‚trotz‘ seiner ohnehin vorhandenen schriftstellerischen Leistungen erwähnt werden, bieten sich viele an. Vielleicht ließ die Tatsache, dass Eugenius nicht ein Mönch ab infantia war, sondern, parallel zum von Ildefons persönlich verehrten Helladius, eine Lebenswende vollzog, den monastischen Grundzug seiner Persönlichkeit für Ildefons deutlicher hervortreten, sodass er stärker als andere Schriftsteller-Bischöfe auch am Typus des Mönch-Bischofs partizipierte. Vielleicht traute er sich bei Eugenius – wie auch bei Helladius – dieses Urteil aufgrund persönlicher Bekanntschaft zu. Auffallend ist aber, dass Eugenius’ Tugenden gleich zweimal seinen körperlichen Schwächen gegenübergestellt werden und diese beinahe zu ‚kompensieren‘ scheinen. Auch in den anderen Viten haben die exempla/merita/uirtutes bemerkenswert oft eine Kompensationsfunktion und gleichen eine andere Schwäche aus, wie etwa mangelndes Redetalent oder das Fehlen von scripta.67 Die Betonung der Tugendhaftigkeit wäre so vor allem ein Mittel, das Konzept des uir illustris zu weiten, sodass auch Persönlichkeiten dort ihren Platz finden können, die das typische Schema nicht bedienen. 65 Vgl. Ildefons von Toledo, vir. ill. 8,129–132 (CCL 114A,610 CODOÑER MERINO). Bei Gregor, den er in allen drei Bereichen herausragen lässt, stehen sie in exakt dieser Reihenfolge; vgl. vir. ill. app. 7–8 (CCL 114A,617 CODOÑER MERINO): Vicit enim sanctitate Antonium, eloquentia Cyprianum, sapientia Augustinum. 66 Wie CODOÑER MERINO 2007, 519 bemerkt, teilen Montanus und Eugenius die Formel spiritus uirtute, während sonst die uirtutes, merita, exempla im Plural und ohne Genitivattribut stehen. So ist nach Carmen Codoñer Merino mit diesem Ausdruck möglicherweise nicht genau dasselbe gemeint wie unter den uirtutes, merita, exempla, sondern eher eine spirituelle oder sogar intellektuelle Kraft – für Montanus, dessen Verdienst zu einem gewissen Teil in der Widerlegung von Häretikern bestehe, würde dies sicherlich gut passen. Bei Eugenius besteht – durch die zusätzliche Zuschreibung von uirtutum merita – jedoch kein Zweifel, dass ihm auch die genannten monastischen Qualitäten zugeschrieben werden. 67 Vgl. die Vita des Asturius in vir. ill. 1,3–4 (CCL 114A,603 CODOÑER MERINO): plus exemplo uiuendi quam calamo scribentis.
2.2 Leid, Körper und Daseinsnot
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Gehörte also körperliche Robustheit ebenfalls zum Ideal eines uir illustris? Im Hinblick auf die spirituelle Bewertung eines Menschen, die Ildefons grundlegend wichtig zu sein scheint, kennt die patristische Literaturgeschichte – neben einer unprätentiösen Sichtweise der Krankheit als etwas, das Menschen nun einmal widerfährt – in der Tat einen Konnex zwischen körperlicher Gesundheit und Langlebigkeit und der Heiligkeit eines Menschen.68 Doch auch eine gegensätzliche Tendenz, in der Krankheit zur Hilfe bei der Askese, wenn nicht gar zu einer asketischen Praxis selbst wird, ist zur Zeit des Ildefons längst gängig; beide Modelle können zudem durchaus koexistieren und je nach Einzelfall Anwendung finden oder auch nicht.69 Innerhalb von Ildefons’ de uiris illustribus ist in dieser Hinsicht schwerlich eine Tendenz erkennbar, da das Thema der körperlichen Gesundheit kaum präsent ist. Die hier durch die merita kompensierte Eigenschaft des Eugenius, sein Mangel an uires und seine schwache körperliche Konstitution, ist ein Attribut, das Ildefons bei anderen Persönlichkeiten nie erwähnt (was der Schilderung wiederum besondere historische Glaubwürdigkeit verleiht). Nicht einmal in der Gregor-Vita kommen Gregors Gebrechen vor, obgleich Gregor in seinen Briefen keinen Hehl aus seiner Krankheit macht und an mehreren Stellen deutlich wird, dass diese für ihn auch ein ihn definierendes Moment darstellt.70 68 Vgl. dazu die Analyse der Antonius-Vita des Athanasius in CRISLIP 2013, 60–67: Das Erdulden der strengen Askese und auch der Heimsuchung durch Satan wird dort als körperliche Stärkung des Antonius interpretiert, die ihm einen geradezu paradiesischen Gesundheitszustand bis ins hohe Alter beschert habe. Umgekehrt bedeutet dies für das dort zum Ausdruck kommende Modell der Krankheit: „In Antony’s model the suffering of pain, wounds, and illness is not an inherent fact of human existence but the effect of a discrete and passable stage in ascetic progress. […] The health of the monastic thus offers the observer a window into the monk’s soul and an indication of his or her ascetic merit.“ (a.a.O., 66). Vgl. zur Paulus-Vita des Hieronymus a.a.O., 68–70, in der Paulus durch seine Askese den paradiesischen Zustand wieder zurückgewinnt und „prelapsarian health“ (a.a.O., 68) genießt. 69 Wie CRISLIP 2013, 81 bemerkt, können solche „competing approaches to making meaning out of ascetic illness“ sogar bei ein und demselben Autor präsent sein, wie das Beispiel des Hieronymus zeigt, der in unterschiedlichen Einzelfällen unterschiedlichste Deutungen für Gesundheit oder Krankheit der Asketen tätigen kann: Gesundheit kann für ihn ein Erweis asketischen ‚Erfolges‘ sein, Krankheit ein göttliches Erziehungsmittel oder schlicht im unergründlichen Willen Gottes verankert; vgl. a.a.O., 81–84. Ein ‚Gegenmodell‘ zu Antonius’ heiliger, paradiesischer Gesundheit in Athanasius’ einflussreicher Vita stellt Pachomius dar, in dessen Leben Schwäche und Krankheit von früher Jugend an eine Rolle spielen, die in seiner Vita aber ebenfalls zum Erweis seiner Heiligkeit werden, ja sogar zu einer besonderen Form, das Martyrium zu erleiden: „Pachomius’s illness is as fundamental to his identity as a saint as Antony’s health is to his“ (a.a.O., 137). Das Extrem in der asketischen Wertschätzung von Krankheit und körperlichem Leid ist durch die Figur des Simeon Stylites repräsentiert, der seinen Körper nicht nur durch übergroßen Verzicht schädigt, sondern ihn sogar aktiv verletzt, um die höchste Form der Askese zu erreichen, vgl. a.a.O., 86–87. 70 So etwa in der moral. epist. 5 (CCL 143,6 ADRIAEN), wo er seine Krankheit als Basis dafür sieht, die Leiden des Ijob sowohl persönlich nachvollziehen als auch fruchtbar anderen
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Vielleicht ist die Erklärung dafür, dass es sich bei Gregor explizit um eine Krankheit (im Sinne einer leidhaften Abweichung vom eigenen körperlichen Ausgangszustand) handelte, von der Ildefons strenggenommen in der Eugenius-Vita gar nicht spricht, sondern auf grundlegende, vielleicht von vornherein vorhandene Körpermerkmale eingeht. Freilich ist die überaus panegyrische Gregor-Vita – Ildefons lässt Gregor in allen drei Bereichen seiner erwähnten ‚Taxonomie‘ herausragen 71 – ohnehin nicht völlig mit den anderen Bischofsviten in de uiris illustribus vergleichbar. In diesen beschreibt Ildefons zwar durchaus körperliche Eigenheiten anderer Bischöfe – merkwürdigerweise, wie Codoñer bemerkt, jedoch nur einiger Schriftsteller-Bischöfe.72 Meist bezieht sich dies allerdings eher auf den allgemeinen Habitus als auf spezifische Körpermerkmale und es sind ausschließlich Eigenschaften, die aus dem Kontext heraus positiv gewertet werden.73 Dies und die typische plus-quam-Konstruktion legt nahe, dass es sich bei den körperlichen Einschränkungen des Eugenius tatsächlich um etwas handelte, was ihm als Nachteil hätte ausgelegt werden können – ein Nachteil, den Ildefons durch Eugenius’ Tugendhaftigkeit und seine intellektuelle wie spirituelle Kraft mindestens ausgeglichen, wenn nicht sogar übertrumpft sehen will. Jedenfalls macht die Vita deutlich, dass die eigene Gebrechlichkeit, die Eugenius in mehreren seiner carmina thematisiert, nicht einfach eine literarische Fiktion bildet, sondern ein persönliches Merkmal darstellt, das von seiner Umwelt klar wahrgenommen wurde – zumindest klarer als bei anderen Bischöfen, die sich in ihren Selbstäußerungen ebenfalls als körperlich schwach hinstellten. Gerade wenn bei Ildefons ein apologetisches Anliegen zu spüren ist und er versucht, Eugenius’ schwache Konstitution zu entschuldigen, könnten auch die Carmina eine Reaktion auf diesen nicht unerheblichen Aspekt der Wahrnehmung seiner Person durch seine Umwelt darstellen. vermitteln zu können: Et fortasse hoc diuinae prouidentiae consilium fuit, ut percussum Iob percussus exponerem, et flagellati mentem melius per flagella sentirem. Vgl. zu Gregors Umgang mit seiner Krankheit HACK 2012, bes. 105–140. 71 Vgl. Ildefons von Toledo, vir. ill. app. 7–8 (CCL 114A,617 CODOÑER MERINO): Vicit enim sanctitate Antonium, eloquentia Cyprianum, sapientia Augustinum. 72 Vgl. CODOÑER MERINO 2007, 519–520. Als mögliche Erklärung nennt sie eben die Höherschätzung von monastischen Tugenden, die für Schriftsteller eine (am sallustischen Ideal des gleichermaßenen ‚Trainings‘ von Körper und Geist ausgerichtete) Apologie nötig machte. Die deutlich differierende Art und Weise, wie Ildefons die körperlichen Eigenschaften der Schriftstellerbischöfe beschreibt, scheint mir jedoch gegen eine pauschal auf alle Personen zutreffende Erklärung zu sprechen. So ist bei Bischof Johannes von Saragossa die körperliche Beschreibung klar mit seiner Freigiebigkeit den Armen gegenüber parallelisiert und nicht seiner Gelehrsamkeit gegenübergestellt: tam largus et hilaris dato quam hilaris etiam uultu (Ildefons von Toledo, vir. ill. 5,72–73 [CCL 114A,607 CODOÑER MERINO]). 73 Vgl. Ildefons von Toledo, vir. ill. 7,115 (CCL 114A,609 CODOÑER MERINO): Vir habitudine corporis ingenioque mentis decorus; vir. ill. 10,159–161 (CCL 114A,612 CODOÑER MERINO): tam pondere mentis quam habitudine speciei grauis, und vir. ill. 12,184–185 (CCL 114A,614 CODOÑER MERINO): moribus incessuque grauis, ingenio callens.
2.2 Leid, Körper und Daseinsnot
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2.2.2 „In diesem Fleisch, in dem wir sind und leben“ – Eugenius als Lehrer des Julian von Toledo Interessanterweise erscheint Eugenius nicht nur in seiner eigenen Vita, sondern auch in einer der Fortführungen von de uiris illustribus, die nach dem Tod des Ildefons angefertigt wurden. Während in Ildefons’ eigener, von Julian von Toledo verfasster Vita nur die obligatorische Notiz erscheint, dass er post secundum Eugenium74 nachfolgte, wird in der von Felix von Toledo verfassten Vita Iuliani in durchaus überraschender Weise auf Eugenius Bezug genommen. Julian wird dort als Schüler des Eugenius vorgestellt, und es wird nicht nur kurz erwähnt, dass er Quiricus als Bischof von Toledo nachfolgte, sondern dass er ‚seinem Lehrer an vierter Stelle nachfolgte‘ (quarto in loco praeceptorem suum sequens).75 Obwohl Felix von Toledo eine ausgeprägte Neigung zu haben scheint, Julian von seinen Beziehungen her zu beschreiben und auch ausführlich auf dessen Freundschaft zum Diakon Gudila eingeht,76 kann daher kein Zweifel bestehen, dass auch das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu Eugenius in Felix’ Augen etwas war, was Julian im Besonderen definierte.77 Den Rahmen, in dem dieses Verhältnis möglich war, dürfen wir in der Institution der bischöflichen Schule sehen, deren Vorsteher der Bischof war und die der Ausbildung des weltlichen Klerus, aber wohl auch des aristokratischen Nachwuchses diente.78 Sie wird in den Konzilsakten greifbar, in denen immer wieder Organisationsfragen und Reformansätze zum bischöflichen Schulwesen festgelegt werden:79 So erfahren wir, dass bereits Kinder, die von ihren Eltern zum Altardienst auserkoren waren, in der domus ecclesiae (später als conclaue atrii präzisiert) lebten und unter der Oberaufsicht des Bischofs, wenn auch nicht notwendigerweise von ihm selbst, moralisch erzogen und intellektuell ausgebildet wurden.80 Diese Position als ‚Schulmeister‘, die Eugenius innehatte und die er, wie das Zeugnis seines berühmtesten Schülers zeigt, nicht
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Julian von Toledo, elog. Ildeph. 3–4 (CCL 115B,3 YARZA URQUIOLA). Felix von Toledo, Vita Iuliani 1 (CCL 115B,9 YARZA URQUIOLA). 76 Vgl. Felix von Toledo, vita Iul. 2–3 (CCL 115B,9–10 YARZA URQUIOLA). Vgl. für Grunddaten und grundlegende Charakteristika der Schrift GUIANCE 2016. 77 Vgl. GUIANCE 2016, 16–17 und GÓMEZ HEREDIA 1999, 148. 78 Vgl. MARTIN 2003, 258. 79 Vgl. zur Auswertung der Konzilsakten DIAGO JIMÉNEZ 2018, 200–204. 80 Vgl. Conc. Tolet. II, c. 1 (CCH 4,357–358 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ): De his quos uoluntas parentum a primis infantiae annis clericatus officio manciparit, statuimus obseruandum ut mox detonsi uel ministerio electorum contraditi fuerint, in domo ecclesiae sub episcopali praesentia a proposito sibi debeant erudiri. Über die nötigen Qualitäten dieses praepositus sowie über die Lebensweise der Schüler präzisiert das unter Isidors Vorsitz stattfindende Conc. Tolet. IV, c. 24 (CCH 5,214–215 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ): Ob hoc constituendum oportuit ut si qui in clero puberes aut adulescentes exsistunt, omnes in uno 75
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nur als Oberaufsicht verstand, sondern in die er sich auch persönlich involvierte, spiegelt sich auch in manchen seiner Gedichte, die primär Merkverse für schulische Zwecke zu sein scheinen: Etwa die Gedichte über die zehn ägyptischen Plagen (carm. 38), die Erfinder der Schrift (carm. 39 und 40), die Teile des Körpers (carm. 43), die Tierstimmen (carm. 41) oder die hybriden Tiere (carm. 42). Julian selbst bestätigt den Einfluss, den sein Lehrer auf ihn hatte, in seinen eigenen Werken.81 Mehrmals werden Eugenius’ Gedichte in der Ars Grammatica als Lehrbeispiele herangezogen, die (wenn auch nicht ohne jeden Zweifel) Julian oder zumindest seinem direkten Umfeld, vielleicht seinem eigenen Schülerkreis, zugeschrieben wird;82 zitiert werden dort die carm. 2, 5, 9, 13, 33, 39, 58, 70, 79 und 88 sowie mehrfach die Dracontius-Rezension des Eugenius.83 Eugenius’ Präsenz dort überrascht nicht, da auch Isidor zitiert wird84 – es zeugt eher von einem gewissen kulturellen Selbstbewusstsein des wisigotischen Spanien, das nicht nur die ferne Antike in Vergil, Ovid und Horaz als autoritativ betrachtet, nicht einmal nur die christlichen Dichter der jüngeren Vergangenheit, sondern auch eigene Zeitgenossen zu den ‚neuen Klassikern‘ kürt.85 Unter diesen fehlt Eugenius natürlich nicht, der, wie schon in anderen Kontexten deutlich wurde, einen beträchtlichen Ruhm als Dichter genoss. Doch Eugenius tritt in Julians Werk nicht nur als Dichter, sondern auch als Theologe in Erscheinung. Dadurch wird sein Zeugnis besonders wertvoll, da sonst keine theologische Prosa des Eugenius überliefert ist. In Julians Prognosticon futuri saeculi, seinem eschatologischen Hauptwerk kompilatorischen Charakters, dessen Einfluss auf die mittelalterliche Theologie oft unterschätzt
conclaui atrii commorentur, ut lubricae aetatis annos non in luxuria sed in disciplinis ecclesiasticis agant deputati probatissimo seniori quem et magistrum doctrinae et testem uitae habeant. 81 Vgl. zu Julian von Toledo nun die Monographie von PABST 2021 und zur Frage des Einflusses Eugenius’ auf Julian a.a.O., 43-45.60–61. 82 Vgl. dazu CARRACEDO FRAGA 2005, passim. 83 Vgl. für eine Aufstellung der Zitate ALBERTO 2005a, 454. Als Beispiel, in denen Julian ein ganzes Gedicht, nämlich das gesamte carm. 39 zitiert, kann Julian von Toledo, gramm. 2,1,4 (115 MAESTRE YENES) dienen. Vgl. für eine Analyse des Kontextes und der Technik der Einpassung DENECKER 2018, passim; vgl. für wichtige Grunddaten zur ars grammatica Julians GÓMEZ HEREDIA 1999. 84 Vgl. z.B. Isidors carm. 2 (CCL 113A,213 SÁNCHEZ MARTÍN) in Julian von Toledo, gramm. 1,2,32 (40 MAESTRE YENES). 85 Vgl. ALBERTO 2014a, 128–129 sowie HOLTZ 1992b, passim.
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wird,86 zitiert er seinen Lehrer, den er als egregius praeceptor noster87 betitelt, insgesamt dreimal.88 Die Quelle Julians – ob es sich um den verlorenen ProsaLibellus handelte, um de sancta trinitate (unwahrscheinlicher) oder sogar um Aufzeichnungen, die Julian sich aus seinem Unterricht gemacht hatte – ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Interessant ist, dass alle drei Zitate innerhalb des Werkes dicht beieinander stehen und sich thematisch in einem eng gesteckten Rahmen bewegen: Sie stehen im dritten Buch des Prognosticon, das von der leiblichen Auferstehung am Ende der Zeit handelt. Alle drei Zitate drehen sich dabei spezifisch um das Schicksal des menschlichen Körpers in der Auferstehung, das freilich einen thematischen Schwerpunkt des dritten Buches darstellt, aber keinesfalls das einzige Thema des Buches ist. Insbesondere das endzeitliche Gericht und die Beschaffenheit von Paradies und Hölle sind weitere wichtige Themen. Das erste der Eugenius-Zitate richtet sich dabei klar gegen (vielleicht zu seiner Zeit real vorhandene) Leugner der Identität des Erdenleibes und des Auferstehungsleibes: Nam, ut caeteros taceam, egregii praeceptoris nostri Eugenii Toletanae sedis antistitis breuiter hic uerba retexam: resurrectionem, ait, carnis uerissime confitemur, non, ut quidam delirant, ut in aerea uel qualibet alia carne surgamus, sed in hac qua sumus et uiuimus, in qua etiam aut pro recte factis coronam, aut pro male gestis unusquisque merebitur percipere poenam.89 Denn um von den übrigen zu schweigen, will ich hier kurz die Worte unseres hervorragenden Lehrers, Eugenius, des Vorstehers des Bischofsstuhls von Toledo, wiedergeben: Wir bekennen, sagt er, wahrhaftig die Auferstehung des Fleisches, nicht, wie manche in ihrem Wahn sagen, dass wir in einem luftartigen oder beliebigen anderen Fleisch auferstehen, sondern in diesem, in dem wir sind und leben, und in dem auch ein jeder entweder für seine rechten Taten den Kranz, oder für seine schlechten Taten verdienen wird, die Strafe zu empfangen.
Die zitierten Worte sind auch Bestandteil des Symbols des XI. Toletanum (unter dem Vorsitz des Quiricus, was darauf hinweisen könnte, dass es prominente
86 Vgl. für den Einfluss des Prognosticon auf die mittelalterliche, besonders auch die scholastische Theologie STANCATI 1996 und GARCÍA HERRERO 2006 für seinen Einfluss auf die Entwicklung der Purgatoriumsvorstellung; vgl. grundsätzlich HILLGARTH 1958, passim. BROWN 2015, 1 bezeichnet das Werk als „a little-read text from the seventh century“, macht es aber zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Entwicklung eschatologischer Vorstellungen. 87 Julian von Toledo, progn. 3,17 (CCL 115,92 HILLGARTH): egregii praeceptoris nostri Eugenii Toletanae sedis antistitis breuiter hic uerba retexam. 88 Ich möchte an dieser Stelle Stefan Pabst sehr herzlich für die anregende Diskussion dieser Textstellen danken. 89 Julian von Toledo, progn. 3,17 (CCL 115,92–93 HILLGARTH). Vgl. zur Diskussion der Stelle PABST 2021, 405.
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Stimmen gegeben haben könnte (vgl. auch die Formulierung ut quidam delirant), die diese körperliche Identität und Kontinuität des auferstandenen Menschen bestritten haben.90 Das Zitat enthält jedoch auch eine interessante Implikation für die Art und Weise, wie das Erleben der Belohnung und der Höllenstrafe im Jenseits gedacht wird: Für diese ist der Körper essentiell, da er die Rolle des ‚Vermittlers‘ spielt, der der Seele ermöglicht, die Strafe des ebenfalls materiell gedachten Höllenfeuers körperlich zu fühlen.91 Das zweite, kürzere Zitat beschäftigt sich mit der äußeren Gestalt des Auferstehungsleibes, den „eine so große und derartige Schönheit, dass sie sowohl den Blick erfreut als auch das Herz in keinster Weise zum Laster neigt“,92 auszeichnet. Mit anderen Worten: Der Auferstehungsleib bietet den Menschen die Freude an körperlicher Schönheit, die aber nicht mit dem Stachel der Sünde verbunden ist. Inhaltlich knüpft dies an die vor dem Eugenius-Zitat aus Augustinus’ de ciuitate Dei zitierte Aussage an, dass im Auferstehungsleib die Unterscheidung der Geschlechter erhalten bleibe, nicht aber der Geschlechtstrieb.93 Beinahe als Fortsetzung dazu liest sich das auch bei Julian kurz darauf erscheinende dritte und letzte Zitat: quod in illa futurae gloria resurrectionis, ubi nulla iam corporibus sanctis deformitas, nulla quoque doloris aut laboris erit aduersitas, non sit quoque tegminum necessarius usus, quibus erit omnia et in omnibus Christus.94 … dass in jener Herrlichkeit der zukünftigen Auferstehung, wo den heiligen Körpern keine Missgestaltung und auch keine Widrigkeit von Schmerz und Mühsal mehr zu eigen sein wird, denjenigen der Gebrauch der Kleidung nicht mehr notwendig sein wird, denen Christus alles und in allem ist (vgl. Gal 3,28). 90
Conc. Tolet. XI, Fidei professio (CCH 6,96 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ): confitemur ueram fieri resurrectionem mortuorum, nec in aeria uel qualibet alia carne, ut quidam delirant, surrecturos nos credimus, sed in ista qua uiuimus, consistimus et mouemur. Vgl. MADOZ 1939, 531–532. 91 Während die Materialität des Höllenfeuers nach der Auferstehung patristischer Konsens ist, stellt es ein Problem dar, wie das Höllenfeuer vor der Auferstehung und damit vor der Wiedervereinigung der Seele mit dem Leib zu denken ist. Julian harmonisiert hier die Auffassungen Augustinus’ und Gregors des Großen miteinander und geht von einer Ähnlichkeit, einem ‚Bild‘ des Körpers aus, das auch die körperlose Seele in sich trägt, und parallel dazu von einem immateriellen Bild des Höllenfeuers im Kontakt mit der Seele, das aber von einem materiellen Höllenfeuer erzeugt wird, vgl. BARBEZAT 2013, 10–11. Dies stellt gleichzeitig ein schönes Beispiel für Julians kompilatorische Technik dar. 92 Eugenius von Toledo, fragm. 2 = Julian von Toledo, progn. 3,24 (CCL 115,98 HILLGARTH): tanta ac talis […] pulchritudo, ut et oblectet intuitum, et cor nullatenus inflectat ad uitium. 93 Vgl. Augustinus, civ. 22,17 (CCL 48,835 DOMBART/KALB) = Julian von Toledo, progn. 3,24 (CCL 115,98 HILLGATH). 94 Eugenius von Toledo, fragm. 3 = Julian von Toledo, progn. 3,26 (CCL 115,100 HILLGARTH).
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Dass Eugenius den Auferstehungsleibern der Heiligen nulla deformitas, nulla quoque doloris aut laboris aduersitas zuschreibt, also die Freiheit von Missgestaltung und Hässlichkeit, aber auch von Schmerz und Mühsal, erinnert an das zweite Zitat, das von der Schönheit der Auferstehungsleiber handelt, geht aber noch darüber hinaus und schließt auch die Freiheit von körperlichem Leid mit ein. Daraus – weil der Auferstehungsleib weder Schutz vor Kälte und Verletzungen noch vor Sünde und Begehren brauche – leitet Eugenius ab, es bestehe in der Gemeinschaft des Leibes Christi keine Notwendigkeit zur Bedeckung des Körpers mehr.95 Möchte man daraus umgekehrt Eugenius’ Auffassung des diesseitigen Körpers ableiten,96 wird deutlich, dass all die Eigenheiten des Körpers, die im Jenseits aufgehoben sind, als Mängel des irdischen Körpers gelten können, die durch den Sündenfall (auf diesen verweist insbesondere die Notwendigkeit der Bekleidung und die Scham voreinander, die nach biblischer Überlieferung erst durch den Sündenfall entstanden seien, vgl. Gen 3,10–11.21) Teil der condicio humana geworden sind: Hässlichkeit, Gebrechlichkeit, aber auch, dass der Körper durch seine Schönheit und das daraus resultierende Begehren zum Einfallstor der Sünde werden kann. Einige dieser Themen werden uns in den Carmina wiederbegegnen. Galt Eugenius dem Julian also als ein Experte auf dem Gebiet der Eschatologie?97 Es wirkt zunächst so, ist Eugenius doch der einzige Autor der jüngsten Vergangenheit Julians, den er unter expliziter Nennung des Namens zitiert – im Unterschied zu Isidor etwa, dessen Werk zwar im Prognosticon präsent ist, der aber namentlich nicht erscheint. Eugenius scheint so beinahe auf einer Stufe mit den anderen von Julian zitierten großen Namen der patristischen Vergangenheit zu stehen, etwa mit Cyprian von Karthago, Augustinus und Gregor dem Großen. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Umfang, in dem Eugenius im Prognosticon zitiert wird, im Vergleich zu den genannten Kirchenvätern mehr als mager ist. Zudem ist Julians Bemerkung ut caeteros 95 Der Ausdruck omnia et in omnibus Christus ist eine lateinische Übersetzungsvariante von Gal 3,28, die beispielsweise Augustinus noch hat, vgl. Augustinus, spec. 38 (CSEL 12,244 WEIHRICH): ubi non est gentilis et iudaeus, circumcisio et praeputium, barbarus et scytha, seruus et liber, sed omnia et in omnibus Christus. Die Formulierung ist in civ. 22,30 (CCL 48,863 DOMBART/KALB) mit der Fülle Gottes assoziiert, die jedem anderweitigen Begehren zuvorkommt: sic enim et illud recte intellegitur, quod ait apostolus: ut sit deus omnia in omnibus. ipse finis erit desideriorum nostrorum, qui sine fine uidebitur, sine fastidio amabitur, sine fatigatione laudabitur. 96 Allgemein hat sich die Körperlichkeitsforschung oft die Diskussionen um das eschatologische Schicksal des Körpers zum Erkenntnisgewinn zunutze gemacht, vgl. besonders BYNUM 1995a, xvii: „I have looked at what theologians argued about bodily resurrection in order to understand what they thought about body.“ Vgl. aktuell und mit einem ähnlichen Ansatz auch PAPADOGIANNAKIS 2014, passim. 97 Vgl. ALBERTO 2005a, 21: „These quotations suggest that Eugenius, whom Julian explicitly names as his praeceptor, was considered an authority on eschatological subjects.“
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taceam durchaus ernst zu nehmen: Ohne weiteres hätte Julian in den patristischen Quellen auch andere Gewährsmänner finden können, die inhaltlich nichts Anderes sagen als Eugenius;98 beim dritten Fragment ist das EugeniusZitat ohnehin nur eine Zusammenfassung des zuvor anhand eines anderen Gewährsmannes Dargelegten.99 Die große inhaltliche Nähe der drei Zitate lässt ohnehin nicht an einen groß angelegten eschatologischen Wurf des Eugenius denken (einen solchen hätte Ildefons sicherlich in seiner Werkliste erwähnt), sondern eher an eine kleinere Schrift, vielleicht eine Predigt oder einen kurzen Traktat, der vielleicht sogar spezifisch dem Thema des Auferstehungsleibes gewidmet war. Immerhin hätte ein größer angelegtes Werk des Eugenius auch die Abfassung des Prognosticon durch Julian obsolet gemacht. Es scheint dennoch gut denkbar, dass die Eschatologie im Lehren und Predigen des Eugenius so präsent war, dass sein Schüler dieses besondere Interesse sozusagen ‚erbte‘ und weiterführte – und sich bei der Abfassung seines Werkes an seinen Lehrer erinnerte und ihn gewürdigt wissen wollte. Dabei ist jedoch bemerkenswert, dass Eugenius im Werk Julians nicht als allgemeine Autorität in eschatologischen Fragen auftritt, sondern spezifisch für das Thema des Auferstehungsleibes herangezogen wird: Zu keinem anderen Thema zitiert Julian Eugenius, zu diesem dafür gleich dreimal. Erklärungen dafür müssen notwendigerweise spekulativ bleiben, da wir den ursprünglichen Kontext der Zitate nicht kennen. Ziehen wir das Zitat im Symbol des XI. Toletanum (675) hinzu, in dem die Vorstellung vom ‚Luftleib‘ abgelehnt wird, ist denkbar, dass sich nicht erst Quiricus, sondern schon Eugenius mit Missverständnissen der Auferstehung des Fleisches oder sogar mit deren Leugnung auseinandersetzen musste und dies daher als ‚eugenianisches Thema‘ besetzt war. Schließlich darf auch nicht vergessen werden, dass Julian mit Ildefons das Interesse an der Hebung des theologischen Prestiges der toletanischen Kirche teilte – gerade unter Julian stand Toledo auch kirchenpolitisch im Zenit seines Einflusses. 100 Das würde das merkwürdige Schweigen über Isidor erklären, der der weitaus bedeutendere und produktivere Theologe gewesen sein muss. Und unter den Bischöfen Toledos dürfte Julians Auswahl an eschatologisch schreibenden Theologen in der Tat nicht übermäßig gewesen sein.
98 Vgl. etwa zur Ablehnung des luftartigen Auferstehungsleibes Gregor der Große, moral. 14,56,72 (CCL 143A,743 ADRIAEN) und zu dessen Schönheit Augustinus, civ. 22,24 (CCL 48,850–851 DOMBART/KALB). 99 Julian zitiert in progn. 3,26 (CCL 115,99–100 HILLGARTH) zuvor ausführlich und inhaltlich beinahe identisch Julian Pomerius. 100 Vgl. IZQUIERDO BENITO 2007, 156. So wird auf dem XII. Toletanum (681), dem Julian vorstand, kanonisch festgelegt, dass nach dem Tod eines Bischofs dessen Nachfolger vom König mit Zustimmung des Bischofs von Toledo zu wählen und in Toledo zu weihen sei; vgl. Conc. Tolet. XII, c. 6 (CCH 6,169–171 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ).
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Gerade beim dritten und letzten Zitat jedoch, in dem Eugenius beiläufig, in einem Nebensatz, das Fehlen jeglicher deformitas und doloris aut laboris aduersitas im Auferstehungsleib betont, fällt es schwer, keine Resonanz mit den Schilderungen seiner körperlichen Schwäche bei Ildefons und den Klagen über körperliches Leid in den Carmina zu spüren. Wenn, wie Ildefons’ Darstellung nahelegt, seine körperlichen Defizite einen bedeutenden Aspekt der Außenwahrnehmung des Eugenius darstellten und ihn beinahe schon definierten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch Julian diese Resonanz gespürt hat: Aus dem Mund oder der Feder eines Menschen, der die Schwäche des irdischen Leibes in besonderem Maße persönlich erfuhr, erhält sowohl die rückhaltlose Bejahung der Leiblichkeit als auch die Hoffnung auf das Ende dieser Schwäche in der Auferstehung ein besonderes Gewicht. In jedem Fall bezeugen die Zitate Julians, dass Eugenius auch als Theologe durchaus als zitierfähig galt, aber auch, dass er im Rahmen der Eschatologie dem menschlichen Körper, der Kontinuität, aber auch den Unterschieden zwischen Erdenleib und Auferstehungsleib besondere Aufmerksamkeit schenkte: Vielleicht, weil dieses Thema, ohne dass wir davon unterrichtet sind, auf der theologischen Tagesordnung stand – oder auch, weil es für Eugenius’ Denken und vielleicht auch in Bezug auf seine eigene Biographie eine besondere Rolle spielte. 2.2.3 Eugenius’ Brief an Braulio: „Weshalb meine Seele zergeht“ Drei von Eugenius selbst verfasste Briefe sind uns heute erhalten, die zwar wenig über die objektive historische Situation des Eugenius aussagen, uns aber einen Eindruck vermitteln können, wie er sich in verschiedenen konkreten Situationen nach außen hin zeigte – was auch als Vergleichspunkt für die Carmina, die (auch) eine besondere Form der Kommunikation nach außen darstellen, interessant sein kann. Darauf soll hier folglich das Hauptaugenmerk liegen. Zwei der Briefe, einer an Braulio von Saragossa, der andere an Protasius von Tarragona, sind dabei Korrespondenz unter bischöflichen Amtskollegen, während der dritte Brief des Eugenius an König Chindasuinth eine Doppelfunktion hat und sowohl Eugenius’ Überarbeitung des Dracontius-Werkes dem König und Auftraggeber widmet als auch eine einleitende Funktion für das folgende Werk hat – dementsprechend unterschiedlich ist der Fokus dieser Briefe. Der erste Brief, der wohl relativ bald nach der Berufung des Eugenius nach Toledo verfasst worden sein dürfte, ist an Braulio von Saragossa gerichtet. Eugenius spricht seinen ehemaligen Lehrer in der Form domino meo et uere proprio domino101 an, eine besondere Betonung der Ehrerbietung, die trotz des vielleicht damals schon leicht höheren Ranges des Erzbischofs von Toledo
101
Eugenius von Toledo, ep. Braul. 1 (CCL 114,399 ALBERTO).
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(Braulio spricht Eugenius im Antwortschreiben auf diesen Brief als primas episcoporum102 an) für ihn bestehen bleibt. Auffallend ist hier insbesondere die Prägnanz, die Eugenius gerade im Vergleich zum Antwortbrief des Braulio an den Tag legt. Sofort kommt er zur Sache: Es gebe zwei Dinge, „weshalb meine Seele allzu sehr zergeht und ich, wenn nicht euer Rat es mir schenkt, beim besten Willen nicht weiß, welches Heilmittel ich anwenden soll.“ 103 Die beiden Probleme, die im Folgenden knapp und präzise geschildert werden – genau genommen fügt Eugenius noch ein drittes an – betreffen sämtlich die Kirchendisziplin, also Fragen, denen sich der noch unerfahrene Erzbischof zum ersten Mal stellen muss. Erst danach greift Eugenius auf den typischen rhetorischen Schmuck zurück, wie er etwa Braulios Antwortbrief kennzeichnet: Die von seinem Lehrer Braulio, dem „ein größeres Licht göttlicher Weisheit“104 leuchtet, erbetene Antwort auf diese Fragen antizipiert er in Worten und Bildern rund um Licht und Dunkelheit, die Braulio nur schmeicheln konnten und Eugenius’ Bewunderung transportieren. Dem strahlenden Bild seines Lehrers stellt Eugenius – ein locus humilitatis – sein eigenes Unvermögen gegenüber, das gleichzeitig in eine bittere Klage über die Umstände mündet, denen es geschuldet ist: Sein „kleines Äderchen maßvollen Wissens“ sei ingruentibus aegritudinibus et curarum multifidis tempestatibus völlig vertrocknet; 105 deshalb bedürfe er der Hilfe durch Bischof Braulio und wisse sich selbst keinen Rat. Dürfen wir ingruentibus aegritudinibus hier schon als Verweis auf die von Ildefons beschriebene schwache körperliche Konstitution des Eugenius begreifen? Das ist wahrscheinlich, gerade wenn wir an die Verwendung von aegritudo (was freilich auch seelische Bekümmerung bezeichnen kann)106 im Libellus carminum denken, wo es meist
102 Braulio von Saragossa, ep. 24,1 (CCL 114B,87 MIGUEL FRANCO). Ob damit schon an einen Primat Toledos in Spanien gedacht werden kann, der formal zu dieser Zeit noch nicht festgelegt ist, ist unklar; evtl. spielt primas hier auch nur auf die Metropolitanstellung des Bischofs von Toledo an oder meint eine besondere Ehrenstellung desselben, vgl. MARTIN 2003, 246. 103 Eugenius von Toledo, ep. Braul. 3–5 (CCL 114,399 ALBERTO): unde nimium contabescit anima mea et quid remedii adhibeam, nisi consilium uestrum praebuerit, penitus scientia nostra non habet. 104 Eugenius von Toledo, ep. Braul. 31 (CCL 114,399 ALBERTO): diuinae sapientiae maiori lumine. 105 Eugenius von Toledo, ep. Chind. 35–37 (CCL 114,400 ALBERTO): aliquantula scientiolae modiculae uenula, ingruentibus aegritudinibus et curarum multifidis tempestatibus, ita penitus exsiccata defecit. 106 Aegritudo kann nicht nur das körperliche, sondern auch das seelisch-geistige Leiden meinen; vgl. GEORGES s.v. aegritudo, 176 und THLL s.v. aegritudo, I,951–953. Augustinus, civ. 14,7 (CCL 48,423 DOMBARTH/KALB) begründet einmal seine Wortwahl tristitia im Unterschied zum von Cicero oft verwendeten Begriff aegritudo damit, dass letzteres seinem Empfinden nach häufiger das körperliche Leiden bezeichne.
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die körperliche Krankheit meint.107 Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass sich eine Krankheitssymbolik durch den gesamten Brief zieht, wenn etwa Eugenius nach einer Medizin (remedium) für die von ihm beschriebenen kirchendisziplinarischen Problemfälle sucht.108 In diesem Sinne könnte aegritudo innerhalb der medizinischen Metaphorik einfach ein Synonym für die ebenfalls genannten curae um den Zustand seiner Kirche sein, die Eugenius belasten. Jedenfalls führt weder Eugenius in diesem Brief die Bemerkung über seine Krankheiten weiter aus noch geht Braulio in seinem Antwortbrief darauf ein. Falls es also tatsächlich um körperliche Beschwerden geht, dürfte deren Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit jede Nachfrage oder weitere Erläuterung unnötig gemacht haben. 2.2.4 Eugenius’ Brief an Protasius: inutilitas morum und adsiduus languor Weiterhin fällt auf, dass in einem zweiten Brief des Eugenius, diesmal an Bischof Protasius aus Tarragona, eine ähnliche sprachliche Figur auftritt wie an genannter Stelle in Braulios Brief, in dem Eugenius von den ingruentibus aegritudinibus spricht: Eugenius von Toledo, ep. Braul. 35–37
Eugenius von Toledo, ep. Prot. 22–25
In nobis autem etsi fuerit aliquantula scientiolae modiculae uenula, ingruentibus aegritudinibus et curarum multifidis tempestatibus, ita penitus exsiccata defecit, ut nec tantillo sudore distillet.
Nam etsi est in nobis, ut tu, domine, reputas, uenula tantilla sermonis, nunc inutilitate morum, nunc adsidui languoris adgestu quotidie intercluditur et siccatur.
In beiden Fällen spricht Eugenius von einem „Äderchen“ seines Wissens bzw. seiner Beredsamkeit, 109 das durch äußere Umstände ausgetrocknet wird. Im zweiten Beispiel scheint die nunc...nunc-Konstruktion nahezulegen, dass mit inutilitas morum und adsiduus languor zwei verschiedene Dinge gemeint sind, languor also nicht nur geistige Trägheit meint, die ja schon in inutilitas morum inbegriffen wäre, sondern auch die körperliche Mattigkeit (die sich aber natürlich auch auf den Geist auswirkt). Dies ist wiederum der Sinn, in dem das Wort
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Innerhalb der Carmina des Eugenius findet der Begriff immer im Kontext körperlicher Krankheit Verwendung: vgl. für aegritudo carm. 14,13 (CCL 114,228 ALBERTO) und carm. 14b,9 (CCL 114,232 ALBERTO) sowie für aeger carm. 6,13 (CCL 114,216 ALBERTO), wo die Ruhe des Betrunkenen eine aegra quies ist, carm. 11,5 (CCL 114,223 ALBERTO) und carm. 14,15 (CCL 114,228 ALBERTO). 108 Generell speisen sich Metaphern um Sünde und mangelnde Kirchendisziplin oft aus dem medizinischen Bereich; vgl. allgemein MAYER 2018, passim; vgl. HACK 2012, 158–163 für die spirituelle Bedeutung medizinischer Metaphern bei Gregor dem Großen. Zur Wunden-Metaphorik von Sünde vgl. UPSON-SAIA 2017, passim und zum Christus medicus-Motiv den Forschungsüberblick bei EMMENEGGER 2014, 2–3. 109 Vgl. für dieses Bild Paulinus von Nola, ep. 33,2 (CSEL 229,302 HARTEL).
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
meist auch im Libellus carminum auftritt, und das sogar recht häufig:110 „a particularly Eugenian theme“,111 wie Andrew Fear es nennt. Im Brief an Protasius steht die Wendung im Kontext einer Bitte, die der Bischof von Tarragona an seinen Amtskollegen richtet, nämlich um die Erstellung einer Messe für den Hl. Hippolyt, genauer wohl: einer Votivmesse, was Eugenius mit dem Verweis auf bereits Existentes ablehnt.112 Dies können wir hier allerdings nur dem Brief des Eugenius, der als Antwortbrief darauf Bezug nimmt, entnehmen, während der ursprüngliche Brief verloren ist. Eugenius’ Brief an Protasius scheint in mancherlei Hinsicht viel formeller als derjenige an Braulio und lässt keine Äußerung von Herzlichkeit vermissen: Auf den Brief des Protasius nimmt Eugenius als „Weissagungen Eurer Liebe, angenehmer als die Süße von Honig“113 Bezug; das Thema dilectio bzw. amor, mit dem Protasius den Eugenius bedenke, sowie dessen dankbare und glückliche Erwiderung dieser Zuwendung zieht sich durch den gesamten Brief. Gleichzeitig betont Eugenius (wiederum ein locus humilitatis) seine eigene Unwürdigkeit dieser Liebe,114 wodurch das gute Verhältnis zwischen beiden nicht wie ein gleichwertiges Gegenüber erscheint, sondern wie eine bonitas vonseiten des Protasius, die Eugenius zum Schuldner mache – hier leitet Eugenius zu dem Gefallen über, um den er gebeten wurde. Da er ohnehin schon viel darüber nachgedacht habe, wie er dem Protasius dieses Geschenk seiner Zuneigung vergelten könne, freue er sich besonders, ihm nun sich selbst anbieten115 und ihm zu Diensten sein zu können. Die Zusicherung der Erfüllung dieses Wunsches schränkt Eugenius jedoch gleichzeitig ein wenig ein: 110 Insgesamt kommen die Vokabeln languor oder das zugehörige Adjektiv languidus im Libellus carminum siebenmal vor, davon fünfmal in einem Kontext, der die Bedeutung „Krankheit“ nahelegt: carm. 1,9 (CCL 114,206 ALBERTO); carm. 5,7 (CCL 114,211 ALBERTO); carm. 11,11 (CCL 114,224 ALBERTO); carm. 13,2 (CCL 114,226 ALBERTO); carm. 14b,14 (CCL 114,232 ALBERTO). Ein allgemeinerer Sinn wie „Trägheit“ liegt nahe in carm. 52,2 (CCL 114,259 ALBERTO) und carm. 101,26 (CCL 114,278 ALBERTO). 111 FEAR 2019, 31. 112 Vgl. Eugenius von Toledo, ep. Prot. 25–30 (CCL 114,406–407 ALBERTO): Missam sancti Hippolyti uel orationes […] pro uestra iussione patrabo; missam uero uotiuam ideo non scripsi, quia in hac patria tam accurati sermonis habentur atque sententiae, ut simile non possim excudere, et superfluum iudico inde me aliquid dicere, unde meliores recolo iam dixisse. 113 Eugenius von Toledo, ep. Prot. 2 (CCL 114,406 ALBERTO): Vestrae pietatis oracula faui dulcedine suauiora. 114 Dies wird klar angezeigt im Lobpreis des Protasius: ab arce culminis qua sublimis emines et praecellis ad amandum infirmos et exiles ultronea benignitate descendis; Eugenius von Toledo, ep. Prot. 6–8 (CCL 114,406 ALBERTO). 115 Eugenius von Toledo, ep. Prot. 14–16 (CCL 114,406 ALBERTO): Quaero namque ac mecum saepenumero cogito quid uestrae potestati pro tanta possim rependere bonitate; sed quia nihil dignum aut aequabile ualeo reperire, me ipsum offero.
2.2 Leid, Körper und Daseinsnot
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Nam quod officium nostri sermunculi iussioni uestrae parere compellitis, sincere meam fateor uoluntatem, non solum uerbo uobis me uelle parere, sed et animo, si tamen uestrae orationis obtentu et uita nostra meruerit ueniam et lingua facundiam. Nam etsi est in nobis, ut tu, domine, reputas, uenula tantilla sermonis, nunc inutilitate morum, nunc adsidui languoris adgestu quotidie intercluditur et siccatur. Missam sancti Hippolyti uel orationes, si nobis oratu uestro uita comes adfuerit, ut potuero, pro uestra iussione patrabo.116 Denn bezüglich dessen, dass Ihr die Dienstbarkeit meines kleinen bisschen Wortgeschicks dazu drängt, eurem Auftrag zu gehorchen, gestehe ich aufrichtig meinen Willen, Euch nicht nur im Wort gehorchen zu wollen, sondern auch im Herzen, wenn nur auf Betreiben Eures Gebetes hin sowohl unser Leben Vergebung erlangt als auch unsere Zunge Beredsamkeit. Denn auch wenn in uns, wie Du, Herr, meinst, ein kleines Äderchen Wortgeschick ist, wird es bald durch die Nutzlosigkeit meiner Sitten, bald durch das Einwirken beständiger Mattigkeit täglich unterbrochen und ausgetrocknet. Eine Messe für den Hl. Hippolytus oder auch Orationen werde ich, wenn durch Euer Gebet uns das Leben als Begleiter zur Seite stehen wird, so wie ich kann, gemäß eurem Auftrag zustandebringen.
Die Einschränkungen seiner Bereitschaftserklärung, die Eugenius vor allem in den beiden hervorgehobenen Konditionalsätzen anbringt, sind nicht ohne weiteres verständlich. In beiden bittet Eugenius indirekt um das Gebet des Protasius bzw. verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, dass dieser für ihn bete. Was aber Eugenius von diesem Gebet erhofft und was also die Bedingung dafür ist, dass er seine übernommene Aufgabe erfüllen kann, scheint zunächst unklar: Was bedeutet es, dass seine uita die uenia erlangt? Die Wendung mereri ueniam tritt sehr häufig im Kontext von Buße und Konversion auf und bedeutet dort das Erlangen der göttlichen Vergebung, oft als ‚Frucht‘ von Buße, Gebet, Sündenbekenntnis und Reuetränen117 – dies freilich nicht in dem Sinne, dass man sich die Vergebung ‚verdienen‘ würde: mereri kann diese Konnotation zwar haben, aber auch neutral ‚erlangen‘ bedeuten. 118 Diese Bedeutung liegt auch im carm. 10,22 des Eugenius vor: Dort wird denen, die in der Basilika des Hl. Vincentius in Saragossa um uenia beten, der sichere Erfolg ihrer Bitte verheißen.119 Es erscheint also plausibel, diese Bedeutung auch für unseren Kontext anzunehmen, und in der Tat ist es nicht ungewöhnlich, in einem Brief um das Gebet eines anderen für die Vergebung der eigenen Sünden zu bitten. Taio tut
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Eugenius von Toledo, ep. Prot. 19–27 (CCL 114,406 ALBERTO). Vgl. für den Ausdruck mereri ueniam im Kontext der Buße beispielsweise Ambrosius von Mailand, paenit. 2,3 (CSEL 73,171 FALLER); Augustinus, pecc. mer. 2,34,56 (CSEL 60,125 URBA/ZYCHA) und Gregor der Große, moral. 9,50,76 (CCL 143,510 ADRIAEN). Vgl. für die identische Wortverbindung meruerit ueniam Tertullian, adv. Marc. 4,18 (CCL 1,591 KROYMANN). 118 Vgl. THLL s.v. mereo, VIII, 805–806. 119 Eugenius von Toledo, carm. 10,11–12 (CCL 114,222 ALBERTO): Hic ueniam culpae mereantur, uota fauorem; / gaudia summa ferat, qui petit hic ueniam. 117
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
es ebenso in seinem Brief an Eugenius, 120 Isidor tut es nicht selten, 121 und schließlich bietet Eugenius in seinem ersten Brief von sich aus sein Gebet für Braulios Sünden an: „So möge Christus Eure Schuldverstrickung lösen, wenn es überhaupt eine gibt.“122 Es handelt sich hier also nicht nur um einen Bescheidenheitsausdruck, der Eugenius Anlass gibt, auf seine eigene Unwürdigkeit hinzuweisen, sondern der Austausch von Gebetsanliegen ist in bischöflicher Korrespondenz durchaus Usus. Protasius soll also für Eugenius sowohl um die Vergebung seiner Sünden bitten als auch darum, dass ihm Beredsamkeit, facundia, zuteilwerden möge. Was hier überrascht, ist weniger der Inhalt der Bitten als vielmehr die Tatsache, dass ihr ‚Erfolg‘ als Voraussetzung dafür gesehen wird, dass Eugenius seinen Auftrag erfüllen kann. Dies wird im Weiteren durch den nam-Satz begründet, in dem wir erfahren, dass Eugenius’ „Äderchen Wortgeschick“ durch seine inutilitas morum, aber auch den adsidui languoris adgestus ausgetrocknet wird. Wie verhalten sich diese Aussagen zueinander? Steht für Eugenius seine mangelnde Schaffenskraft, die er beklagt, in Verbindung mit seiner Sündhaftigkeit? Wenn ja, wie ist dieser Zusammenhang vermittelt? Durch die inutilitas morum, was vielleicht ein Synonym für die Sünden, für die Eugenius uenia benötigt, ist, oder durch den languor, der vielleicht als Sündenstrafe aufzufassen ist, oder durch beides? Was könnte überhaupt damit gemeint sein, dass die inutilitas morum ihn bei seinen literarischen Tätigkeiten behindert? Geht es um das, was wir heute als Disziplinlosigkeit bezeichnen würden, oder darum, dass Sündhaftigkeit kein der Abfassung religiöser Texte zuträglicher Zustand ist? Nicht alle dieser Fragen sind eindeutig beantwortbar. So lässt sich hinsichtlich des Verständnisses der inutilitas morum aufgrund des kulturellen Umfeldes des Eugenius für beides argumentieren: Isidor definiert den Begriff inutilis gerne damit, „nicht leisten zu wollen“, was aber durchaus auch als religiösmoralische Defizienz verstanden sein kann – insofern wäre eine Trennung der Aspekte wahrscheinlich ohnehin künstlich und anachronistisch.123 Die Selbst120 Vgl. Taio von Saragossa, ep. Eug. 127–128 (360 VARELA RODRÍGUEZ): ac pro meis abluendis delictis peruigili intentione eius misericordiam deprecare non dedignemini. 121 Vgl. Isidor von Sevilla, ep. Braul. B,11–13 (CCL 114A,6 MIGUEL FRANCO): commendo et memetipsum, ut ores pro me, misero, quia ualde langueo et infirmitatibus carnis et culpa mentis. Vgl. auch ep. Braul. V,19–20 (CCL 114A,23 MIGUEL FRANCO): Peto autem ut pro meis peccatis apud Deum exsistere intercessor digneris. 122 Eugenius von Toledo, ep. Braul. 18–19 (CCL 114,399 ALBERTO): ita soluat Christus culpae uestrae, si tamen est aliqua, nexionem. 123 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,55,3 (CCL 111,311 CAZIER): Peior est testis qui laedit quam qui praestare nolit, nam ille malignus est, iste inutilis. Dagegen scheint in Isidor von Sevilla, expos. in gen. 29,3 (PL 83,268), sowohl ‚aktives‘ als auch ‚passives‘ Sündigen inbegriffen zu sein: Nec sunt amplius quam duo genera hominum inutilia generi humano: unum nocentium, alterum praestare nolentium, et, si quid boni habent in hac terrena vita, perdentium, tanquam in terra fundentium. Damit zitiert Isidor wortwörtlich aus Augustinus, c. Faust. 22,84 (CSEL 25/1,687 ZYCHA).
2.2 Leid, Körper und Daseinsnot
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bezeichnung als inutilis ist in der bischöflichen Korrespondenz übrigens sehr üblich.124 Dass der languor bei literarischen Tätigkeiten hinderlich ist, versteht sich dagegen von selbst; so argumentiert auch Gregor der Große in seinem die Moralia begleitenden Widmungsbrief an Leander.125 Das enge Aufeinanderfolgen der Vergebungsbitte um uenia und der Erwähnung der Krankheit in diesem Brief wirft allerdings die gleiche Frage nach einer (von Eugenius angenommenen) Verbindung zwischen beidem auf wie in carm. 13, wo auf die Schilderung der Krankheit des lyrischen Ichs unvermittelt und ohne, dass jemals von der Sünde die Rede wäre, die Bitte um uenia folgt. Ein Kausalzusammenhang wird jedoch weder hier noch dort geknüpft, jedoch umgekehrt auch nicht ausgeschlossen. Und freilich ist das Parallelisieren von körperlichem und geistigem Zustand allgemein nicht unüblich, wie auch Isidor in einem Atemzug beides beklagt: ualde langueo et infirmitatibus carnis et culpa mentis.126 Festzuhalten bleibt jedoch: Eugenius’ Gesundheitszustand ist im Brief an Protasius zwar Thema, aber nur eine kryptische und darüber hinaus topische Nebenbemerkung wert. Ähnliches gilt für den zweiten Konditionalsatz si nobis oratu uestro uita comes adfuerit, „wenn uns durch euer Gebet das Leben [weiterhin] als Begleitung zur Seite stehen wird“.127 Der Ausdruck, eine Variation der Wendung uita comite, kommt bei Hieronymus, der ihn auch an zwei Stellen in seine Bibelübersetzung einfügt,128 sehr häufig vor.129 Obwohl Hieronymus ihn auch im Kontext eigener körperlicher Gebrechlichkeit verwendet,130 dürfte es sich mehr um eine Redewendung nach Art von Deo uolente gehandelt haben,131 also in unserem Fall wenig darüber aussagen, ob Eugenius tatsächlich (vielleicht aus bestimmten gesundheitlichen Gründen) befürchtete, bald zu 124
Vgl. auch Braulio selbst in seiner ep. 24,2 (CCL 114B,87 MIGUEL FRANCO), an Eugenius gerichtet. 125 Vgl. Gregor der Große, moral. epist. 5 (CCL 143,6 ADRIAEN): Nam dum molestia corpus atteritur, afflicta mente etiam dicendi studia languescunt. Vgl. für eine detaillierte Analyse des Briefes inklusive Bibliographie GRESCHAT 2016, 111–121; für einen Überblick über Gregors Schilderungen der eigenen Krankheit in seinen Briefen vgl. HACK 2012, 79– 104. 126 Isidor von Sevilla, ep. Braul. B,12–13 (CCL 114B,6 MIGUEL FRANCO). 127 Eugenius von Toledo, ep. Prot. 25–26 (CCL 114,406 ALBERTO). 128 Vgl. Gen 18,14: vita comite und 2 Kön 4,16: si vita comes fuerit. 129 Vgl. z.B. Hieronymus, in Is. 17,63,3 (CCL 73A,723 ADRIAEN): si uita comes fuerit, domino praebente. 130 Vgl. Hieronymus, Victorin. Poetov. in apoc. prol. (CSEL 49,15 HAUSSLEITER): si uita nobis comes fuerit et dominus sanitatem dederit, tibi nostrum in hoc uolumine potissimum sudabit ingenium. Vgl. auch Hieronymus, epist. 119,12 (CSEL 55,468 HILBERG): si uita comes fuerit, futuro me operi reseruabo, ut et uobis per partes paream et fractum ac senile corpusculum onus possit ferre moderatum. 131 Vgl. auch die beiläufige Verwendung in Isidor von Sevilla, ep. Braul. B,14 (CCL 114B,6 MIGUEL FRANCO): dum, uita comite, portitori ad nos regredi fuerit oportunitas.
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
sterben – auch wenn die Hinzufügung oratu uestro nicht so leicht über die Wendung hinweglesen lässt, wie dies sonst der Fall ist. In jedem Fall entsteht im Brief an Protasius der Eindruck eines in mehrfacher Hinsicht fragilen Menschen, der sich dieser seiner Fragilität wohl bewusst ist. Eugenius zeigt sich sowohl von Sünde als auch von körperlicher und geistiger Schwäche bedroht, und auch seines Lebens scheint er sich nicht sicher. Diese vielfache Bedrohtheit drückt sich auch im Schluss des Briefes aus, in dem er seine Bitte um das Gebet des Protasius noch einmal summarisch wiederholt: „Im Übrigen ersuche ich ganz besonders darum, dass du mir Armem, der ich in den Fluten der Anfechtungen umherirre, die Hilfe deines Gebetes zuteilwerden lässt.“132 Ein solches Selbstbildnis unterscheidet sich jedoch kaum von der Selbstdarstellung anderer Bischöfe seiner Zeit oder seiner jüngeren christlichen Tradition, sondern fügt ihn nahtlos ein in die in diesen Kreisen allgemein vorherrschende Auffassung davon, was ein Mensch ist, wie er sich selbst und sein Leben empfinden sollte und sich nach außen hin zeigen sollte.
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit: Das Zeugnis der sekundären Quellen 2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
2.3.1 Die Werkliste des Eugenius bei Ildefons Wie erwähnt besteht die zweite Hälfte der Vita in Ildefons’ de uiris illustribus aus einer Werkliste des Eugenius. Ildefons gruppiert seine Werke in drei Kategorien: 1) Liturgische Überarbeitung und Produktion, 2) eigene Werke, wiederum unterteilt in den Libellus de Sancta Trinitate und die zwei Libelli aus Poesie und Prosa, 3) die Rezension des Dracontius. Erhalten sind uns heute davon in einigermaßen vollständiger Form lediglich der Poesie-Libellus und seine Dracontius-Rezension, die die maßgebliche Basis der mittelalterlichen Dracontius-Überlieferung wird. De Sancta Trinitate ist dagegen ebenso wie der ProsaLibellus verloren – wenngleich wir möglicherweise aus letzterem die drei bereits in Kap. 2.2.2 dargestellten Fragmente erhalten haben, in denen Eugenius’ Schüler Julian von Toledo in seinem Prognosticon futuri saeculi seinen egregius praeceptor zitiert.133 Gerade über den verlorenen Prosa-Libellus hätten wir uns von Ildefons natürlich mehr Informationen zu seinen Inhalten gewünscht. Wir erfahren hier nicht mehr, als dass er diuersi operis prosa verfasst 132 Eugenius von Toledo, ep. Prot. 42–43 (CCL 114,407 ALBERTO): De cetero praepeculiariter suggero ut mihi misero temptationum fluctibus errabundo tuae precis impendas auxilium. Vgl. zu ähnlichen Formulierungen z.B. Braulio von Saragossa, ep. 3,51–52 (CCL 114B,39 MIGUEL FRANCO): me in uitae huius tempestate fluctuantem. 133 Vgl. Julian von Toledo, progn. 3,17 (CCL 115,92–93 HILLGARTH), progn. 3,24 (CCL 115,98 HILLGARTH) und 3,26 (CCL 115,100 HILLGARTH). Vgl. ALBERTO 2005a, 21.
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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ist, also eine bunte Mischung aus verschiedenen kleineren Werken enthalten dürfte – die Formulierung legt nahe, dass der Prosa-Libellus als Pendant des Poesie-Libellus (diuersi carminis metro) verstanden wurde.134 In zwei Buchinventaren aus dem 9. bzw. 10. Jahrhundert ist das Buch noch verzeichnet, ohne dass inhaltliche Rückschlüsse möglich wären.135 Die bereits erwähnten, von Julian in seinem Prognosticon zitierten eschatologischen Passagen könnten durchaus diesem Prosa-Libellus entstammen, wie Alberto vermutet, 136 aber auch Briefe etc., von denen wir tatsächlich zwei erhalten haben, könnten darin enthalten gewesen sein.137 Möglicherweise impliziert Ildefons’ über beide Libelli getroffene Aussage, dass sie es vermochten, „sein heiliges Andenken zum Eifer vieler nachhaltig anzuempfehlen,“ dass die dort gesammelten Schriften nicht nur theologisch-inhaltlicher, sondern auch persönlicher oder spiritueller Natur sind – eben ein Bild von Eugenius vermitteln, wie es ja auch die uns erhaltenen Carmina tun. Im Ausdruck ad multorum industriam könnte ein exhortativer Charakter der Schriften angedeutet sein, dass sie also zur Nachahmung anregen, was wiederum (auch) auf die Carmina zutrifft. Besonders die von Ildefons beschriebenen literarischen Tätigkeiten im Bereich der Gestaltung und Erneuerung der Liturgie, aber auch die Überarbeitung eines anderen Dichters (Dracontius) durch Eugenius spannen interessante Kontexte für das Verständnis des Libellus carminum auf. Nur kurz erwähnt werden soll hier das verlorene138 Werk De Sancta Trinitate, da es für das Verständnis der Carmina nicht erkennbar relevant ist. Der schmale Traktat über die Trinität, so Ildefons, war nicht nur lobenswert wie alles, was Eugenius verfasste, sondern hätte sogar „nach Libyen und in den Osten“ geschickt werden können, wozu es aufgrund eines Sturmes dann doch nicht kam. Mit Recht liest Alberto die Passage als Ausdruck von Ildefons’ Bewunderung, „[e]ven if we want to accept it as an encomiastic topic rather than a truthful statement“.139 Über den Wahrheitsgehalt bzw. überhaupt den Aussagegehalt der Geschichte von der „stürmischen See“, die das Wandern dieser Schrift verhindert, ist in der Forschung viel
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Die etwas merkwürdige Verwendung des Singulars diuersi operis und diuersi carminis in beiden Beschreibungen (sowohl Julian als auch Felix verwenden in den von ihnen verfassten Viten den Plural, wenn sie von der Gedichtsammlung des Biographierten sprechen) sollte wohl am ehesten als ein kollektiver Singular aufgefasst werden. Gerade für den Libellus carminum wissen wir ja, dass es sich nicht um ein ‚in sich diverses‘, aber zusammenhängendes Gedicht (etwa nach Art der Metamorphosen Ovids) handeln kann, sondern um verschiedene Einzelgedichte. Dasselbe sollten wir daher auch für den Prosa-Libellus annehmen. 135 Vgl. ALBERTO 2005a, 26. 136 ALBERTO 2005a, 21. 137 Dies vermutet VEGA 1970, 66. 138 FEAR 1997, 119 Anm. 57 vermutet, ein Fragment (Najéra fragm. 18) in der Bibliothek Santo Domingo de Silos könne ein Fragment des verlorenen Traktats sein; dieses wird allerdings von MADOZ 1939, 532 Anm. 4 als Teil des Glaubensbekenntnisses des IV. Konzils von Toledo identifiziert. 139 ALBERTO 2005a, 21.
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
diskutiert worden. Als wahrscheinlicher Anlass für die Versendung der Schrift gilt eine eng mit einer politischen Krise verwobene theologische Krise: der monotheletische Streit, der um diese Zeit die Beziehungen zwischen Byzanz und Nordafrika belastet.140 Bereits durch die arabischen Eroberungen in Mitleidenschaft gezogen, enttäuscht vom byzantinischen Krisenmanagement und theologisch gegen den von Kaiser Konstans II. unterstützten Monotheletismus eingestellt, schlug sich Nordafrika auf die Seite des Usurpators Gregor, der sich für eine Verurteilung des Monotheletismus einsetzte.141 Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass König Chindasuinth Gregors Usurpation unterstützte und nach einer Allianz mit ihm strebte142 – eine Allianz, die er vielleicht auch auf der theologischen Ebene von seinem ‚Hoftheologen‘ gestützt sehen wollte. Was die Versendung der Schrift jedoch letztlich verhinderte, ist heute, falls man das von Ildefons erwähnte schlechte Wetter nicht als Grund akzeptieren möchte, nicht mehr nachvollziehbar: Denkbar wäre aber zum Beispiel die vorzeitige Zerschlagung der Usurpation Gregors, die die Schrift, falls darin eine starke Ablehnung des Monotheletismus zum Ausdruck kam, zu einer potentiell gefährlichen Provokation für die Byzantiner gemacht hätte.143 140
Vgl. COLLINS 2004, 168. Vgl. ESDERS 2019a, 188–190. Vgl. zu dieser Etappe des monotheletischen Streits auch WINKELMANN 2001, 40–41 sowie allgemein für die Entwicklung des Streits LANGE 2012 und OHME 2006. 142 Vgl. ESDERS 2019a, 190–192 sowie GARCÍA MORENO 2009, bes. 460–461, der Argumente dafür vorbringt, dass Gesandschaften zwischen Chindasuinth und dem Usurpator Gregor ausgetauscht wurden, und auch die Abfassung von de trinitate in dieser Linie sieht. 143 ESDERS 2019a, 193 mutmaßt, Chindasuinth selbst hätte aus Unzufriedenheit mit dem Inhalt der Schrift deren Versendung vereitelt: „[W]e may suspect that Eugenius’s treatise was not prevented from being spread in Africa and beyond by stormy weather, but due to a storm of indignation it caused on the part of King Chindasvinth, whose African plans would have been thwarted by the new archbishop of Toledo.“ A.a.O., 192 interpretiert er die sehr geringe Teilnahme am VII. Toletanum (insbesondere die Bischöfe der Provinzen Tarraconensis und Septimania fehlten, also der östlichen, an Gallien angrenzenden Provinzen, vgl. ESDERS 2019b, 107) im Jahr 646 als Zeichen der Unzufriedenheit einiger Bischöfe mit dem Umgang des Königs mit der monotheletischen Frage; die von den dort anwesenden Bischöfen beschlossenen Canones, in denen Klerikern die Exkommunikation angedroht wird, falls sie ‚vaterlandsflüchtig‘ werden und mit ausländischen Mächten paktieren, könnten in der Tat auf eine derartige Spaltung des hispanischen Episkopats und eine Orientierung mancher spanischen Bischöfe nach jenseits der Pyrenäen, wo der fränkische Episkopat ähnlich zwiegespalten scheint, hinweisen. Leider lässt die Quellenlage es nicht mehr zu, nachzuvollziehen, ab wann die hispanischen Bischöfe sich mit dem Monotheletismus-Problem befassten; wir finden vor dem XIV. Toletanum keine Hinweise darauf, dass die Frage explizit konziliar verhandelt wurde. ESDERS 2019a, 187–188 liest allerdings einen Hinweis des VII. Toletanum, dass die Treueverpflichtung ggü. einem Prinzeps nicht gelte, falls dieser Häretiker sei, als Hinweis auf den Monotheletismus und einen in Zukunft erwarteten monotheletischen princeps; demgegenüber ist allerdings festzuhalten, dass die hispanischen Konzilien dieser Zeit nach wie vor stark trinitätstheologisch, weniger christologisch, interessiert scheinen, vgl. HAINTHALER 2010, 131 und MADOZ 1938, 144 zum Symbol des XI. Toletanum. In jedem Fall scheint es wenig plausibel, dass Eugenius als frisch von Chindasuinth berufener Bischof sich in einem theologischen Traktat explizit gegen diesen stellt und etwa dem Monotheletismus das Wort redet, zumal ESDERS 2019a, 193 plausible alternative Erklärungen für das Nicht-Absenden der Schrift vorschlägt, wie etwa die frühzeitige Zerschlagung der 141
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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Über den Inhalt von De Sancta Trinitate lässt sich jedoch nur spekulieren. Angesichts des Titels (und des bleibenden trinitätstheologischen Interesses der Spanier, deren Konversion vom Homöismus zum Katholizismus noch nicht allzu weit in der Vergangenheit liegt), dürfte die eigentlich christologische Frage des Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Natur in Christus, auf das sich die monotheletische Debatte bezieht, eher ein Randthema sein. Im Hinblick auf die theologischen Traktate seiner Zeitgenossen ist davon auszugehen, dass auch dieses Werk stark von der bis dato verfassten patristischen Theologie beeinflusst gewesen sein dürfte – so etwa von Augustinus’ de trinitate, hinter dessen Umfang es allerdings weit zurückgeblieben sein muss, um noch als Libellus gelten zu können. Vielleicht können wir uns unter diesem Werk am ehesten eine patristische Summe der Trinitätstheologie vorstellen. José Madoz und insbesondere Ángel Custodio Vega haben darüber nachgedacht, inwieweit sich das Buch in den Konzilsakten des VII. und XI. Toletanums niedergeschlagen haben könnte. Dass eine solche Schrift auf den hispanischen Konzilien zitiert wurde, ist grundsätzlich wahrscheinlich, zumal wir in einem Fall sogar ein Eugenius-Zitat in den Konzilsakten de XI. Toletanums identifizieren können: So wird im Symbol des XI. Toletanum das von Julian überlieferte eschatologische Fragment des Eugenius, in dem die tatsächliche Identität von irdischem Leib des Menschen und Auferstehungsleib betont wird, beinahe wörtlich zitiert.144 Ob das Fragment aus De Sancta Trinitate stammt, ist jedoch unklar bzw. angesichts des thematischen Zuschnitts der Schrift sogar unwahrscheinlich. Aufgrund des wohl geringeren Umfanges von De Sancta Trinitate dürfte dort kaum Platz für ausgedehnte eschatologische Exkurse gewesen sein.145 Angesichts des von Ildefons attestierten hohen Ansehens des Buches ist aber davon auszugehen, dass seine Theologie die Konzilien unter und nach Usurpation Gregors. GARCÍA MORENO 2009, 461 führt hier die Umbrüche in Rom rund um die Verhaftung des anti-monotheletischen Papstes Martin durch Konstans II. an; vgl. für die Hintergründe LANGE 2012, 616–619. Später jedenfalls, im Rahmen des XIV. Toletanum, das die spanische Anerkennung des 6. Ökumenischen Konzils von Konstantinopel verhandelte, reihten sich die hispanischen Bischöfe grundsätzlich rückhaltlos in die Verurteilung des Monotheletismus ein. Die Differenzen, die es zwischen Eugenius’ Schüler Julian und Papst Benedikt II. hinsichtlich der Interpretation dieses Konzils gab, betreffen lediglich Detailfragen und dürften in erster Linie einer unglücklichen Kommunikation geschuldet sein, aber kein Zuneigen der hispanischen Bischöfe zum Monotheletismus bedeuten; vgl. FERREIRO 2020, 253–254. 144 Vgl. MADOZ 1939, 531–532. Es handelt sich dabei um Julian von Toledo, progn. 3,17 (CCL 115,23 HILLGARTH): Nam, ut caeteros taceam, egregii praeceptoris nostri Eugenii Toletanae sedis antistitis breuiter hic uerba retexam: resurrectionem, ait, carnis uerissime confitemur, non, ut quidam delirant, ut in aerea uel qualibet alia carne surgamus, sed in hac qua sumus et uiuimus, in qua etiam pro recte factis coronam, aut pro male gestis unusquisque merebitur percipere poenam. 145 Libellus scheint für Ildefons kein Standardbegriff für ein Buch (unabhängig von dessen Umfang) zu sein; so nennt er in der Werkliste Isidors dessen Werke sämtlich liber, mit Ausnahme der libellos duos ad Florentinam sororem contra nequitiam Iudaeorum (vgl. Ildefons von Toledo, vir. ill. 8,135–136 [CCL 114A,611 CODOÑER MERINO]), die tatsächlich relativ schmal sind und jeweils etwa den halben Umfang der Sententiae (von Ildefons als liber bezeichnet) haben. VEGA 1970, 67–68 kann sich nur De Sancta Trinitate als Quelle des Julian-Zitates vorstellen, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass er den Inhalt des Prosa-Libellus mit „las Cartas, piezas litúrgicas y de algún que otro escrito menor“ (a.a.O., 66) füllt und dieses daher für ihn als Quelle ausscheidet.
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
Eugenius beeinflusst hat, vielleicht sogar – hier schließt sich der Kreis zu den von Ildefons genannten ‚libyschen Stürmen‘ – die Interpretation des Dogmas des 3. Konzils von Konstantinopel (des 6. Ökumenischen Konzils) bzgl. der monotheletischen Kontroverse, die Julian von Toledo gegen römische Kritik als rechtgläubig verteidigt.146
2.3.2 Eugenius als Liturgiegestalter: Ildefons und das Zeugnis der bischöflichen Korrespondenz Dass Ildefons die Verfasserschaft – oder auch nur die Überarbeitung – liturgischer Texte und Musik in der Werkliste einer Vita, und noch dazu an erster Stelle nennt, mag heute überraschen. Es ist jedoch eine in Ildefons’ de uiris illustribus durchaus gängige Praxis,147 die zudem gut zu einem „curious phenomenon“ der hispanischen Liturgie ab dem 7. Jahrhundert passt, auf das Manuel Díaz y Díaz aufmerksam macht: Die Praxis, die Namen der Autoren bzw. Komponisten als Randnotizen in liturgische Bücher aufzunehmen. „Such notations had a double purpose: on the one hand the information received carried the name of its author as a guarantee; on the other hand it shows us that at this time liturgical creation was so important that it was considered right to unite the name of the writer to his work.“148 Trotz dieser Notationen lassen sich hinsichtlich der von Ildefons erwähnten liturgischen Produktion des Eugenius nur begründete Spekulationen anstellen, welche Elemente der wisigotischen Liturgie konkret aus seiner Feder stammen könnten. Bezüglich der von Ildefons erwähnten officiorum omissi ordines – was ich mit Carmen Codoñer Merino eher als „noch nicht erstellte“ Ordines denn als „in Vergessenheit geratene“ Ordines auffassen würde 149 – können weitere Quellen angeführt werden, die diese Aussage stützen und uns einer Identifikation der Texte näherbringen: So etwa der Widmungsbrief, in dem Braulio von 146
Vgl. dazu MURPHY 1951, passim und FERREIRO 2020, passim. Vgl. ähnlich zu Eugenius das Kapitel über Conantius in Ildefons von Toledo, vir. ill. 10,160–162 (CCL 114A,612 CODOÑER MERINO): ecclesiasticorum officiorum ordinibus intentus et prouidus: nam melodias soni multas nobiliter edidit. 148 DÍAZ Y DÍAZ 1980, 73. 149 Vgl. die beiden Übersetzungen in ALBERTO 2005a, 21: „he tried to give an order to the liturgical rituals, which were becoming forgotten“ und in CODOÑER MERINO 1972, 135: „se preocupó por las fórmulas de los oficios hasta entonces preteridas“. (Codoñer Merinos neue Ausgabe von de uiris illustribus in der Reihe Corpus Christianorum. Series Latina, CODOÑER MERINO 2007 enthält nur den lateinischen Text, nicht mehr die spanische Übersetzung.) Für letztere Auffassung spricht einerseits, dass etwa im zitierten Brief des Eugenius an Protasius explizit um das neue Verfassen eines officium für den Hl. Hippolyt gebeten wurde, auch wenn Eugenius letztlich auf einen bereits vorhandenen, dem Protasius aber nicht bekannten Text verweist. Andererseits scheint im wisigotischen Spanien, wie die Beobachtungen von DÍAZ Y DÍAZ 1980, 72–74 zur Bedeutung von persönlicher Verfasserschaft liturgischer Texte, aber auch zu den größeren Freiheiten, die die wisigotische Liturgie zuließ (vgl. a.a.O., 61–65), untermauern, allgemein eine Auffassung von Liturgie geherrscht zu haben, die nicht nur restaurativ war, sondern auch eigene Kreativität erlaubte und ermutigte. 147
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
75
Saragossa die von ihm verfasste Vita S. Aemiliani150 und einen Hymnus für denselben Heiligen seinem Bruder Frunimianus empfiehlt – zu einer Zeit, als Eugenius noch Erzdiakon in Saragossa war. Sowohl die Vita als auch den Hymnus sah er, wie wir erfahren, auch für den liturgischen Gebrauch im Rahmen einer Heiligenmesse für den Heiligen Aemilian vor. Eine Nebenbemerkung im selben Brief zeigt uns, dass auch Eugenius (damals noch Diakon Braulios in Saragossa) in die Entstehung dieser Messe involviert war; inwieweit, ist jedoch aus den teils missverständlichen Formulierungen des Briefes schwer zu bestimmen.151 Plausibel erscheint die Interpretation, Braulio habe seinem filio […] Eugenio diacono152 nicht die gesamte Messe aufgetragen, sondern lediglich einige literarische Aufträge von unklarem Umfang erteilt.153 Möglicherweise könnte also die im Liber Sacramentorum erhaltene Messe für den heiligen Aemilian (falls sie mit der in Braulios Brief erwähnten Messe übereinstimmt) teilweise von Eugenius stammen – in welchem Umfang, muss jedoch offenbleiben.154 Ähnliches gilt für die Messe für den Heiligen Hippolyt, um deren Erstellung Protasius von Tarragona Eugenius bat, wie wir aus dessen Antwortschreiben an Protasius erfahren. Eugenius, zu dieser Zeit bereits Erzbischof von Toledo, versicherte seinem Korrespondenzpartner: Missam sancti Hippolyti uel orationes […] ut potuero, pro uestra iussione patrabo.155 Auch hier ist erstens unklar, ob Eugenius letztendlich eine gesamte Messe oder nur einzelne Gebete verfasste (oder der Bitte überhaupt nachkam, da er im Brief unter anderem seinen Gesundheitszustand als einschränkenden Faktor nennt), und zweitens, ob wir hier konkrete Texte identifizieren können. Bzgl. der im Liber Sacramentorum erhaltenen Messe für die Heiligen Sixtus, Hippolytus und Laurentius hält
150
Braulio von Saragossa, uita Aemil. (7–38 VAZQUEZ DE PARGA). Die fragliche Formulierung lautet: De eadem quoque sollemnitate, ut missa recitaretur communi, iniunxi filio meo Eugenio diacono, non putans a me diuersum si eius lingua, cuius in omnibus consiliis cogitationibusque meis teneo animum, ministret ob huius beatissimi uiri honorem, meum officium; simulque considerans ut quo in caeteris rebus utor participe in his etiam mercedis fruar consorte. (Braulio von Saragossa, ep. Frunim. I,3 [6–7 VAZQUEZ DE PARGA]). Die verschiedenen Interpretationen, die von lediglich einem ‚Feierauftrag‘ für die Messe bis zum Verfassen der gesamten Messe reichen, fasst VALCÁRCEL 1997, 255–258 zusammen und widerlegt sie teilweise. 152 Braulio von Saragossa, ep. Frunim. I,3 (6 VAZQUEZ DE PARGA). 153 Vgl. VALCÁRCEL 1997, 258. 154 Vgl. VALCÁRCEL 1997, 259 Anm. 31. Das in der Messe zum Ausdruck gebrachte Gedankengut – die Notwendigkeit der Buße, die Aufmerksamkeit für körperliche Askese, körperliche Heilung und Vergebung der Sünden – verträgt sich zwar gut mit den in den Carmina zum Ausdruck kommenden Schwerpunkten des Eugenius, ergibt sich aber ebenso organisch aus der Lebensbeschreibung des Heiligen und dürfte überhaupt zum damaligen theologischen ‚common sense‘ gehört haben. 155 Eugenius von Toledo, ep. Prot. 25–27 (CCL 114,406 ALBERTO). 151
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
Manuel Díaz y Díaz eine Zuschreibung an Eugenius für unwahrscheinlich.156 Plausibler erscheint dies bei Orationen zum Fest des Heiligen Hippolyt, die in einem Veronenser Orationale wisigotischen Ursprungs überliefert sind, und deren poetische Gestaltung durchaus an einen geübten Poeten, wie Eugenius es war, denken lässt.157 Evtl. könnte auch ein Hymnus für den Hl. Hippolytus von Eugenius sein.158 Bei der von Ildefons erwähnten Nachbesserungstätigkeit hinsichtlich der liturgischen Gesänge – was aufgrund von Ildefons’ Zusatz melodiae cognitione ohnehin eine hauptsätzlich musikalische und restaurative Tätigkeit gewesen zu sein scheint – ist eine Identifikation freilich unmöglich. Trotzdem wird bei einigen Hymnen des wisigotischen Spaniens, die sich plausibel in das 7. Jahrhundert datieren lassen, die Verfasserschaft des Eugenius diskutiert, was freilich nur aufgrund sprachlicher Vergleiche, die jedoch bislang nicht umfassend durchgeführt wurden (und auch hier nicht durchgeführt werden können) möglich ist.159 In jedem Fall legt aber die Tatsache, dass Eugenius in beträchlichem Maße im Bereich der Liturgie schöpferisch und gestalterisch mitwirkte, nahe, dass die Liturgie (im Besonderen die ebenfalls metrische Hymnik) gerade für die religiöseren Stücke in den Carmina sowohl inhaltlich als auch formal-stilistisch einen wichtigen Referenzpunkt darstellt.
156
Vgl. DÍAZ Y DÍAZ 1965, 64 Anm. 36. Vgl. Orationale Visigothicum 1153–1159 (371–374 VIVES); vgl. dazu DE GAIFFIER 1949, 222–224 und DÍAZ Y DÍAZ 1965, 63–64, die besonders auf poetische Vokabeln wie flammicomus und lucifluus verweisen. Vgl. für Eugenius’ Vorliebe für solcherlei Wortneuschöpfungen ALBERTO 2008a, passim. 158 Vgl. Hymn. Hispan. 127 (CCL 167,471–473), den PÉREZ DE URBEL 1926, 220–221 aufgrund der Evidenz der zitierten Quelle und aufgrund sprachlicher Ähnlichkeiten für ein Werk des Eugenius hält. 159 Näher infragekommende Hymnen hat PÉREZ DE URBEL 1926 identifiziert: Besonders wahrscheinlich hält er dies für den Hymnus der Heiligen Leocadia, für die (aufgrund der ihr geweihten Basilika in Toledo sowie textimmanenter Gründe) es Sinn macht, einen mit Toledo in Verbindung stehenden Verfasser anzunehmen. Eugenius erscheint ihm als Verfasser wahrscheinlich, da er unter anderem Ähnlichkeiten zum wahrscheinlich ebenfalls von Eugenius stammenden Hippolytus-Hymnus aufweist, vgl. a.a.O., 120. Das Argument der loci similes allein ist jedoch heikel, da wir erkennen, dass Eugenius sowohl eigene sprachliche Bilder und sogar Versbestandteile ‚recycelt‘ als auch diejenigen anderer Autoren; vgl. das Beispiel des sicher von Braulio stammenden Hymnus für den Hl. Aemilian und Eugenius’ carm. 14 ab S. 309). 157
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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2.3.3 Eugenius und die Dichtkunst: „Von der Last des Geschwätzes befreien“ Interessanterweise widmet Ildefons einem Werk des Eugenius (wenigstens quantitativ) die meiste Aufmerksamkeit, 160 für das man sich in heutigen Schriftstellerbiographien wenig interessieren würde: der Überarbeitung des bis dato nur „fehlerhaft“ (uitiatos) vorliegenden Dracontius-Werkes, genauer des beinahe vollständigen ersten Buches der laudes Dei, eines nach den sechs Schöpfungstagen gegliederten Lobes Gottes und seiner Schöpfung, sowie der Satisfactio, die ein an Gott und den Vandalenkönig Gunthamund gerichtetes Bußgedicht des Dichters darstellt. Es wird hier nicht primär Eugenius’ ‚eigene‘ Kreativität und Produktivität betont, sondern seine Fähigkeit, bereits Vorhandenes zu verbessern und auf die Höhe der Zeit zu bringen, wird mindestens ebenso wertgeschätzt. Dass Eugenius mit dieser sicherlich schwierigen und als bedeutsam angesehenen Aufgabe betraut wurde, zeigt, wie hochangesehen seine poetische Kompetenz bei seinen Zeitgenossen war, zumal die von Eugenius vorgenommenen Verbesserungen, so Ildefons, nicht einfach nur den ursprünglichen Qualitätsstandard wiederherstellen, sondern die Bücher „von der Kunstfertigkeit des Korrektors schöner hervorgegangen zu sein scheinen als von der Hand des Autors“.161 Für unser Verständnis von den ästhetischen Idealen der Zeit besonders interessant ist Ildefons’ Beschreibung des ‚Politur-Vorgangs‘, den Eugenius vornimmt:162 Das In-Form-Bringen beinhaltet das Entfernen oder Abändern von inconuenientia, aber auch das Hinzufügen von Besserem. Letzteres löst Eugenius insbesondere dadurch ein, dass er den fehlenden siebten Schöpfungstag der laudes Dei ersetzt, indem er seine eigenen Monosticha, die die sechs ersten Schöpfungstage rekapitulieren und auch den siebten behandeln, am Ende mit anfügt; ein Werk, das Ildefons besonders als eleganter dicta lobt. Wie gelang es Eugenius, bei Ildefons einen solchen Eindruck zu erwecken? Tatsächlich ist Eugenius selbst über die von ihm übernommene Aufgabe nicht schweigend hinweggegangen, sondern hat rege darüber kommuniziert – mehr noch, seine Überarbeitungstätigkeit dem Werk des Dracontius nahezu eingeschrieben: Er leitet die überarbeitete Version mit einer dichterischen praefatio ein, mit der er sein Vorgehen erklärt und rechtfertigt; die ergänzenden Monosticha enden mit der Verfasserangabe: seruulus Eugenius deuota mente dicaui.163 160 Vgl. TIZZONI 2012, 176: „In essence, Ildefonsus’ attention here places the redaction as one of the most noteworthy events of the recent past, and one of the more important pieces of Toledo’s intellectual output.“ 161 Ildefons von Toledo, vir. ill. 13,212–213 (CCL 114B,615 CODOÑER MERINO): ut pulchriores de artificio corrigentis quam de manu processisse uideantur auctoris. 162 Vgl. dazu ausführlich TIZZONI 2012, 176–177. 163 Eugenius von Toledo, monost. 34–35 (CCL 114,389–390 ALBERTO).
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
Dem Werk ist aber auch ein Widmungsbrief an Chindasuinth, der schon in der praefatio als Auftraggeber genannt wird, vorangestellt. Gemäß der spätantiken Praxis, Widmungsbriefe gemeinsam mit dem Werk zu überliefern, konnte Eugenius wohl von vornherein von einer weiten Verbreitung des Briefes ausgehen – es geht hier also nicht nur um eine direkte, halb-öffentliche Kommunikation zwischen ihm selbst und dem princeps, sondern auch um die öffentliche Kommunikation seiner Rolle und seines literarischen Anspruchs bei der Korrektur des Dracontius-Werkes. 164 Selbstverständlich fehlt hier der locus humilitatis nicht und ist hier im Unterschied zu den beiden anderen Briefen des Eugenius vor allem auf den literarischen Bereich bezogen. Eugenius drückt ihn an zwei Stellen mit dem Gegensatz zwischen uelle und ualere, Wollen und Können aus (was in der gebeugten Form zum Wortspiel wird: uolendo – ualendo und uolui – ualui):165 Sein Können sei bei der Überarbeitung des Dracontius-Werkes hinter seinem Wollen zurückgeblieben. Auch die ‚Rekapitulation‘ der sechs Tage und der Ersatz für den siebten Tag sei pedestri sermone verfasst.166 Der ualor, also das Können, das er dann doch aufgebracht habe, komme nicht aus ihm selbst, sondern sei von Christus geschenkt.167 Eugenius zeichnet sich also zunächst ganz als eigentlich unwürdiger Befehlsempfänger Chindasuinths, der mit der Hilfe Christi sein Möglichstes getan habe, aber hinter seinem Anspruch trotzdem zurückgeblieben sei. Die Selbstbescheidung bröckelt ein wenig, wenn Eugenius dann tatsächlich sein Vorgehen bezüglich der Dracontius-Rezension darstellt und sich ohne Weiteres das Urteil zutraut, welche Verse des Dracontius verderbt und daher zu streichen seien – namentlich die Verse, die „sich im Sinngehalt als dröge, in der Formulierung als unfein und als durch keinerlei Vernunftgründe gestützt erweisen“ und solche, in denen sich „nichts findet, wodurch entweder der gelehrte Sinn des Lesers erfreut wird oder der ungelehrte Sinn belehrt wird.“168 Doch Eugenius wird nicht nur kürzend tätig, sondern drückt dem Werk auch
164 Vgl. als Beispiel für die Praxis derartiger ‚Einleitungscorpora‘ dasjenige für die Moralia in Iob, herausgegeben und analysiert in VARELA RODRÍGUEZ 2018a; vgl. für einen Überblick über diese besondere ‚Gattung‘ von Briefen IRANZO ABELLÁN 2018, 209–215 und für die Analyse der Topoi innerhalb von epistulae-praefationes am Beispiel der isidorianischen Widmungsbriefe MIGUEL FRANCO 2014. Vgl. auch die Analyse des Widmungsbriefes Taios an Eugenius in Kap. 2.3.4. 165 Vgl. Eugenius von Toledo, ep. Chind. 3–4 (CCL 114,325 ALBERTO): Clementiae uestrae iussis […] plus uolendo quam ualendo deseruiens; ep. Chind. 17 (CCL 114,325 ALBERTO): non ut uolui, uel ut ualui. 166 Eugenius von Toledo, ep. Chind. 14 (CCL 114,325 ALBERTO). 167 Vgl. Eugenius von Toledo, ep. Chind. 5 (CCL 114,325 ALBERTO): Christo domino tribuente ualorem. 168 Eugenius von Toledo, ep. Chind. 8–11 (CCL 114,325 ALBERTO): Versiculos […] et sensu tepidi et uerbis illepidi et nulla probantur ratione subnixi; nec in eis aliquod reperitur quo lectoris animus aut mulceatur doctus aut doceatur indoctus.
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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seinen eigenen Stempel auf:169 Nicht nur nimmt er Überflüssiges weg (superflua demerem), sondern ergänzt auch Halbfertiges (semiplena supplerem), festigt die Textstruktur, wo sie brüchig geworden ist (fracta constabilirem) und vermeidet Wiederholung durch Variation (crebrius repetita mutarem).170 Interessanterweise setzt seine Wortwahl, superflua demere, seinen Brief in Bezug zur Vergil-Vita des Servius und der dort dargestellten Überarbeitung des ebenfalls unfertigen Vergilwerkes durch Tucca und Varius. Servius betont, Kaiser Augustus habe den beiden Korrektoren die lex auferlegt, ut superflua demerent, nihil adderent tamen, dass also nur das Kürzen, nicht aber das Einfügen von ‚Unvergilischem‘ gestattet sei.171 Dass diese Anspielung kein Zufall ist, bestätigt die dichterische Praefatio172 zum Werk des Dracontius, in der Eugenius den Vorwurf eines Neiders aus dem niedrigen Volk, eines de plebe quisquam liuore perustus, vorwegnimmt, er habe die „Lieder der Alten“ verändert und zudem noch seine eigenen epigrammata uana hinzugefügt.173 Dem Vorwurf begegnet er zunächst mit einem Verweis auf die „höhere Gewalt“ (maior iussio) des Befehls des Königs, der jedoch nicht zu Unrecht ergangen sei und den er deshalb gerne befolgt habe.174 Sein Argument dafür ist ein Vergleich mit den ‚Dichterfürsten‘ Vergil und Homer, die beide trotz ihres Status einen Korrekturdurchgang nötig gehabt hätten: Quod si Vergilius et uatum summus Homerus Censuram meruere nouam post fata subire, quam dat Aristarchus Tucca Variusque Probusque, cur dedignetur quod iussus principe magno paruula praeparui Draconti carmina libri paruulus Eugenius nugarum mole piaui?175 Wenn aber Vergil und Homer, der Höchste der Seher, verdienten, sich nach ihrem Tod einer neuen Prüfung zu unterziehen, 169 TIZZONI 2012, 173–232 argumentiert anhand seiner Analyse der Abweichungen von der übrigen Dracontius-Überlieferung (die, wie er gesteht, auch nicht überbewertet werden dürfen, da es nicht möglich ist, den Eugenius vorliegenden Text zu rekonstruieren) dafür, dass Eugenius das Dracontius-Werk auch inhaltlich an seine eigenen Zeitumstände anpasste und so aktualisierte. Vgl. a.a.O., 179: „This represents, of course, a quite substantially interventionist approach to editing.“ 170 Eugenius von Toledo, ep. Chind. 7–8 (CCL 114,325 ALBERTO). 171 Servius, vita Verg. (18 HARDIE). 172 Vgl. für eine stärker an der Dracontius-Rezension interessierte Lektüre der Praefatio TIZZONI 2012, 181–183. 173 Eugenius von Toledo, Drac. praef. 13–15 (CCL 114,327 ALBERTO): At si de plebe quisquam liuore perustus / dixerit: „iste quis est ueterum qui carmina mutat / inscribitque leuis epigrammata uana libellis?“. 174 Vgl. Eugenius von Toledo, Drac. praef. 17–18 (CCL 114,328 ALBERTO): maior iussio cogit. / Denique iussa bona dum promulgantur, agenda / qui complet sapiens, qui uult contemnere demens. 175 Eugenius von Toledo, Drac. praef. 20–25 (CCL 114,328 ALBERTO).
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius die durchführten Aristarch, Tucca, Varius und Probus, warum wird’s geschmäht, dass auf Befehl des großen Fürsten die kleinen Lieder aus Dracontius’ recht kleinem Buche ich, der kleine Eugenius, von der Last des Geschwätzes befreite?
Die Maske der Bescheidenheit aufzubehalten gelingt hier freilich nur, indem Eugenius nicht nur sich selbst, sondern auch das Werk des Dracontius kleinmacht (zumal das Adjektiv praeparui sich grammatikalisch auch auf Dracontius beziehen könnte, nicht auf dessen Buch). Indem jedoch auch den Werken Vergils und Homers ein Korrekturvorgang zugemutet wird, schmälert sich auch augenzwinkernd deren vom fictus interlocutor beschworene Autorität als ueterum carmina, die man nicht verändern dürfe, – dass er nach eigener Aussage im Brief an Chindasuinth weitaus stärkere Texteingriffe vorgenommen hat als etwa Varius und Tucca bei Vergil, übergeht er natürlich geflissentlich. Der gesamte Vorgang, wie er im Brief des Eugenius an Chindasuinth und in dessen dichterischer praefatio erscheint, zeugt also von einem weitgehend unbeschwerten Umgang mit der Autorität des Autors, vielleicht aber auch von einem gewissen Vertrauen in das dichterische Talent des Korrektors, was Ildefons in der Eugenius-Vita ja beredt bestätigt. Ein wenig davon scheint auch in Eugenius’ Selbstzeugnissen als ein Selbstbewusstsein zumindest auf dem Gebiet der Poesie durch, wenn auch sorgsam verborgen hinter der obligatorischen Bescheidenheitstopik. Ein Beweis für dieses Selbstbewusstsein ist vielleicht schon die bloße Tatsache, dass im Unterschied etwa zu Varius und Tucca Eugenius innerhalb seiner Überarbeitung des Dracontius-Werkes nicht als namenloser Korrektor hinter dem Autor zurücktritt, sondern über die praefatio und über die Ergänzung des siebten Tages, die mit der Nennung seines eigenen Namens endet, seinen Anteil am Werk explizit für sich beansprucht. Ferner bieten uns die Aussagen über den Bearbeitungsvorgang – die per se gleichzeitig metapoetische Äußerungen darstellen – einen guten Einblick darin, was im wisigotischen Spanien in der Theorie als poetisches Stilideal galt: Fernab jeder Plethorik muss in Eugenius’ Augen ein Vers gewissen Kriterien genügen, um ‚poetisch gerechtfertigt‘ zu sein: Er muss einen Zweck erfüllen, ‚Zweck‘ freilich in einem weit gefassten Sinne. Ein Vers kann belehren, aber auch einfach nur – fernab von jedem Funktionalismus – ästhetisch erfreuen. Mit der Zusammenfassung lectoris animus aut mulceatur doctus aut doceatur indoctus reformuliert Eugenius den häufig zitierten Grundsatz aus der Ars Poetica des Horaz: aut prodesse volunt, aut delectare poetae.176 Auf diese beiden Prinzipien lassen sich auch Eugenius’ übrige Äußerungen zu den Kriterien,
176
Horaz, ars 333 (306 KLINGNER).
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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die einen Verbesserungsbedarf anzeigen, herunterbrechen:177 Natürlich dürfen die Verse nicht ästhetisch mangelhaft, also uerbis illepidi sein – aber auch der geistige Gehalt der Dichtung ist bedeutsam. So umschreibt Eugenius eine negative Eigenschaft eines Verses mit den Worten nulla ratione subnixus, kritisiert also mangelnde logische Fundierung. Da einiges dafür spricht, dass Eugenius das Dracontius-Werk nicht nur stilistisch, sondern auch theologisch geglättet hat,178 schwingt hier auch das Kriterium der Richtigkeit und Wahrheit eines Sachverhaltes, und damit (in Bezug auf Gott) auch das der Rechtgläubigkeit mit. Sensu tepidus ist vielfältig interpretierbar, bewegt sich aber im Zwischenbereich zwischen prodesse und delectare und kann sowohl Unverständlichkeit, fehlende Präzision und Zuspitzung des Ausgedrückten, aber auch einen Mangel an der Vermittlung von Gefühl ausdrücken.179 Gegen beide Prinzipien verstößt die von Eugenius als in jedem Fall für streichenswert erachtete überflüssige Wiederholung. Zwar hat Eugenius dieses Ziel einer ästhetisch ansprechenden, gut aufgebauten, vernünftigen und sachlich richtigen Dichtung im Falle des Dracontius nicht nur durch Streichungen, sondern auch durch Änderungen und sogar Hinzufügungen bewirken wollen. Auf der ‚Entschlackung‘ bzw. sogar ‚Entsühnung‘ liegt aber zumindest nach dem Schluss der dichterischen praefatio Eugenius’ Hauptaugenmerk: „Ich habe [die Gedichte] von der Last des Geschwätzes befreit“ (nugarum mole piaui). 2.3.4 Die Epistula Taionis ad Eugenium: In welcher Form kannte Eugenius das Werk Gregors des Großen? Die Kurzbiographie des Ildefons beschreibt Eugenius als einen uim studiorum bonorum persequens. Er sei ein Bischof gewesen, der durch seine Gelehrsamkeit hervorrage – und sich auch selbst aktiv für deren Pflege und Förderung eingesetzt habe, wie Ildefons am Beispiel der Restauration liturgischer Texte und des Gedichtzyklus des Dracontius sowie an der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit des Bischofs illustriert. In Eugenius’ Kontakte zu Kultur und Wissenschaft gibt uns zudem ein Brief Einblick, den Taio von Saragossa an seinen Bischofskollegen in Toledo richtet. Der Brief verdankt seine Überlieferung der Aufnahme in eine Art ‚Einleitungscorpus‘ zum Werk Gregors des Großen – was dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass das zentrale Anliegen des Briefes die ‚Gregor-Panegyrik‘ ist.180 Demgemäß sind die Informationen, die wir 177
Vgl. dazu TIZZONI (im Druck): „The general picture of the poetic art that Eugenius gives, then, is one with two distinct facets. Poetry should be both aesthetically and educationally motivated.“ Für die Zurverfügungstellung der noch unveröffentlichen Version seines Aufsatzes möchte ich mich an dieser Stelle herzlich beim Autor bedanken. 178 Vgl. TIZZONI 2012, 210. 179 TIZZONI (im Druck) sieht beide Möglichkeiten gegeben, neigt aber ersterem zu. 180 Dieses Corpus, das in seiner extensivsten Form aus dem Brief Taios an Eugenius, einem als Visio Taionis betitelten Abschnitt aus der sog. Chronik von 754, einem Werkindex
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
darin über den Adressaten Eugenius erhalten, weitaus spärlicher als das, was wir über Taio selbst, sein Werk und seine Bewunderung für den römischen Bischof erfahren. Dennoch kann er uns sowohl die Rolle verdeutlichen, die Eugenius bei den Bemühungen des Wisigotenreiches um die Bewahrung des patristischen Erbes spielte, als auch wichtige Hinweise darauf liefern, in welcher Form Eugenius Zugriff auf die Schriften Gregors des Großen hatte, besonders auf die Moralia in Iob, die aufgrund ihrer Thematik ein wichtiges Bezugswerk für die Carmina gewesen sein dürften. Zuerst Näheres zum Hintergrund des Briefes: Gregor der Große († 604), der noch der Bischofsgeneration vor Eugenius angehörte, erscheint nicht nur in der Rezeption der mittelalterlichen Theologie als einer der bedeutendsten Kirchenväter,181 sondern erreichte bereits in der theologischen Landschaft seiner eigenen Zeit mit seinen Schriften ein ebenso rasches wie nachhaltiges Echo.182 Im wisigotischen Spanien war es besonders deutlich zu hören,183 da dort persönliche und politische Kontakte des römischen Bischofs besonders für Beliebtheit und Ansehen sorgten: König Reccared erhielt zu seiner Konversion zum Katholizismus ein Gratulationsschreiben mit Geschenken aus Rom.184 Zu Leander von Sevilla unterhielt er seit ihrer Begegnung in Konstantinopel ein freundschaftliches Verhältnis und ließ sich von ihm über die politische Lage im Wisigotenreich informieren;185 Gregors exegetisches Werk Moralia in Job ist Leander gewidmet.186 Dessen Bruder und Nachfolger Isidor, der aufgrund dieser engen Beziehung natürlich auch ein gewisses Eigeninteresse an einer positiven Gregors des Großen und dem Gregor gewidmeten Abschnitt aus Isidors de uiris illustribus besteht, ist bereits in DÍAZ Y DÍAZ 1979, 333–350 als zusammenhängendes Corpus ediert und studiert worden. Diese Edition ist jedoch mittlerweile überholt durch VARELA RODRÍGUEZ 2018a, der durch neu hinzugekommene Testimonien noch einmal einen verbesserten kritischen Text liefern kann. 181 Vgl. für einen Überblick MEWS/RENKIN 2013 und umfassend CASTALDI/CHIESA 2013. 182 Als Studien zu seinem unmittelbaren Nachwirken sind zu nennen: Für den germanischen Norden die Einzelartikel im Sammelband von BREMMER/DEKKER/JOHNSON 2001 und für die noch durch seine Zeitgenossen einsetzende Anfertigung von Kompilationen seines Werkes WASSELYNCK 1962. Für das wisigotische Spanien vgl. schon SERRANO 1911, ORLANDIS 1983 und jüngst WOOD 2016. 183 WOOD 2016, bes. 52–53 argumentiert sogar, dass Gregors Ruf und Ruhm in Spanien, der nicht zuletzt durch die enge Verbindung zur wichtigsten Figur der wisigotischen Bildungslandschaft, Isidor, zustandekam, eine der Hauptursachen für seinen nachhaltigen Einfluss war und ihm letztlich den Rang als Kirchenvater bescherte. 184 Vgl. MARKUS 1997, 164–168. 185 Zum Briefwechsel beider Persönlichkeiten sowie zu Gregors sonstigen politischen Verbindungen zu Spanien vgl. jüngst FERREIRO 2020, 147–180. DÍAZ 2008 warnt allerdings vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung seiner Werke vor einer Überschätzung seines Einflusses auf die politischen Geschicke des wisigotischen Spaniens, bei denen Gregor eher eine Beobachterrolle innegehabt habe. 186 Vgl. Gregor der Große, moral. epist. (CCL 143,1–7 ADRIAEN). Vgl. für eine detaillierte Analyse des Briefes inklusive Bibliographie GRESCHAT 2016, 111–121.
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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Darstellung Gregors hatte,187 leistete dessen Ruf noch einmal deutlichen Vorschub und stellte ihn in einem Epigramm sogar auf eine Stufe mit Augustinus, dem Lieblingsobjekt des „ferveur patristique“,188 der die Nachfolgereiche des Imperium Romanum ergriff: Quantum Augustino clares tu Hippone magistro Tantum Roma suo praesule Gregorio.189 Wie du, Hippo, durch Meister Augustin leuchtest, ebenso Rom durch Gregor, sein Haupt.
a) Die Romreise Taios und die Frage nach der Verfügbarkeit der Werke Gregors In der Epistula Taionis berichtet nun Taio dem Eugenius,190 wie er während einer Romreise eius [sc. Gregorii] quae in Hispaniis deerant uolumina beschaffte und eigenhändig abschrieb.191 Offenkundig waren die Werke Gregors also in Spanien – trotz seiner Beliebtheit – vor Taios Romreise nicht vollständig vorhanden. Welche Werke es genau waren, die den spanischen Bibliotheken fehlten, geht aus dem Schreiben an Eugenius leider nicht hervor, auch wenn Taio kurz darauf, aber in unklarem Zusammenhang zur Romreise, eine Auslegung der historia beati Iob sowie der Ezechielis prophetae prima uel ultima pars erwähnt, worauf seine eigene, dem Eugenius gewidmete Testimoniensammlung basierte.192 Spätere Quellen zur Romreise193 des Taio geben hingegen einhellig an, dass es sich bei dem Werk um die Moralia in Job gehandelt habe. Dieses Werk, so die Historia Gothica des Erzbischofs Rodrigo Jiménez de Rada († 1247), sei in Spanien deperditus neglegencia gewesen.194 Diese Information ist nicht nur durch den großen zeitlichen Abstand der Chronik zu ihrem Gegenstand unglaubwürdig, sondern auch durch die breite Wirkungsgeschichte, die die Moralia im spanischen Wisigotenreich hatten – und zwar schon vor der Romreise 187
Vgl. zu Isidors Bemühungen um ein positives Andenken Gregors WOOD 2016. WASSELYNCK 1962, 5. Vgl. zur hohen Bedeutung Augustinus’ MARTÍN-IGLESIAS 2013, 280, der aufzeigt, dass er zusammen mit Hieronymus der wohl meistgelesene Autor des wisigotischen Spaniens war. 189 Isidor von Sevilla, carm. 13 (CCL 113A,225 SÁNCHEZ MARTÍN). 190 Vgl. Taio von Saragossa, ep. Eug. 1–3 (355 VARELA RODRÍGUEZ): SANCTISSIMO AC VENERABILI DOMINO MEO EVGENIO EPISCOPO TOLETANAE VRBIS. 191 Vgl. Taio von Saragossa, ep. Eug. 71–72 (357 VARELA RODRÍGUEZ): Igitur cum Romae positus eius quae in Hispaniis deerant uolumina sedulus uestigator perquirerem inuentaque propria manu transcriberem. Die vollständigste Aufarbeitung der Romreise des Taio bleibt bis dato MADOZ 1951. 192 Vgl. Taio von Saragossa, ep. Eug. 75–77 (358 VARELA RODRÍGUEZ). 193 Für eine Gesamtschau sämtlicher Quellen zur Romreise vgl. MADOZ 1951. 194 Vgl. Rodrigo Xímenez de Rada, hist. Goth. 2,20 (CCM 72,69 FERNÁNDEZ VALVERDE). 188
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des Taio.195 Neglegentia als Grund für das Fehlen des Werkes ist auch deshalb schwer vorstellbar, weil das Widmungsexemplar, das an Leander von Sevilla ging, sicherlich an seinen jüngeren Bruder und Nachfolger Isidor († 636) vererbt wurde, dessen Bemühungen um Erhalt und Weitergabe der patristischen Literatur sogar den – heute aus verschiedenen Gründen nur noch selten benutzten – Begriff „isidorianische Renaissance“ prägten.196 Dass Isidor oder die Bischöfe, die ihm direkt nachfolgten, ein so hochgeschätztes Werk auf irgendeine Weise verloren, ist kaum vorstellbar. Eine wesentlich wahrscheinlichere Erklärung geht bereits aus dem Briefwechsel Leanders und Gregors hervor, durch den wir zwar erfahren, dass Leander 595 die fertigen Moralia erhielt, jedoch ohne die Bücher 11–22 (also das mittlere Drittel), von denen Gregor zu dieser Zeit noch keine Kopie für seinen Freund entbehren konnte.197 Von der sicherlich geplanten Ergänzung um die fehlenden Bücher hören wir in den Briefen jedoch nichts mehr. Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei detaillierteren Untersuchungen der Rezeption der Moralia: So hat Paul Meyvaert dafür argumentiert, dass Isidor dort, wo er sich auf die Bücher 11–22 bezieht, mit einer anderen, vielleicht auf früher kursierenden Predigtmitschriften basierenden Version 198 arbeitete als mit der Endfassung der Moralia – dass also die fehlenden Bücher seinen älteren Bruder nie erreichten.199 An seiner These ist zwar mit Recht kritisiert worden, dass seine Beobachtungen auch anderweitig, etwa durch Varianten in der Manuskripttradition, erklärbar sind und zudem nicht selten auf unsicheren Vorannahmen beruhen.200 Sie wird jedoch jüngst von Joel Varela Rodríguez gestützt, der zumindest für die Bücher 11–16 der Moralia sowie den zweiten Teil der EzechielHomilien eine unsichere Benutzung durch Isidor aufzeigt.201 Näher an den tatsächlichen Umständen scheint also die (historisch wesentlich zuverlässigere) Chronik von 754 zu sein, die von den residuis libris Moralium spricht und sie später als beati Iob libri spezifiziert, deretwegen Taio
195 Vgl. für eine Aufstellung ihrer Rezeption MARTÍN-IGLESIAS 2013, 269 sowie für die breite Nutzung schon zur Zeit Isidors MADOZ 1951, 351. 196 Vgl. WOOD/MARTÍNEZ JIMÉNEZ 2016, 34. 197 Vgl. Gregor der Große, ep. 9,228 (CCL 140A,802–805 NORBERG); vgl. dazu MEYVAERT 1995, 64 und MARTYN 2006, 157. 198 Bereits nach der Rückkehr Leanders aus Konstantinopel 585/586 kursierten wohl Mitschriften der dort gehaltenen Ijob-Homilien Gregors, die er später zu den Moralia umarbeitete, in Spanien, wie MEYVAERT 1995, 62–74 anhand eines Briefes des Licinianus von Cartagena aufzeigt und anhand der Benutzung Gregors durch Isidor zu plausibilisieren sucht. Gregor selbst klagt in seiner in euang. praef. (CCL 141,1–2 ÉTAIX) über solche noch unausgegorenen Versionen seiner Evangelienhomilien, die gegen seinen Willen unter quidam fratres kursierten. 199 Vgl. MEYVAERT 1995, 63–74. 200 Vgl. CASTALDI/CHIESA 2013, 67. 201 Vgl. VARELA RODRÍGUEZ 2019, bes. 146–162.
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diese Reise unternommen habe.202 Dass jedoch auch die von Taio in seinem Brief erwähnten Ezechiel-Homilien oder zumindest Teile davon damals erstmals ihren Weg nach Spanien fanden, ist dadurch trotzdem nicht ausgeschlossen. Wie Madoz aufzeigt, konnten in wisigotischer Zeit auch andere exegetische Werke Gregors, namentlich die Ezechiel-Homilien und der HoheliedKommentar, unter dem Terminus libri morales subsumiert werden, eine Begriffsverwirrung, die vielleicht die ausschließliche Nennung der Moralia in Job durch die Chronik und andere, spätere Quellen erklärt. Im Falle der Ezechiel-Homilien vermutete vor Varela Rodríguez schon Madoz, dass sie ebenfalls im Reisegepäck Taios waren, da ihre Benutzung in Spanien zuvor eher spärlich erscheint.203 Ein weiteres Indiz ist für ihn auch die Epistula Taionis, in der die hervorgehobene Erwähnung der Ezechiel-Homilien im losen Kontext der Romreise zumindest auffällig ist. Besonders deutlich wird dies im Vergleich mit dem Prooemium zur Testimoniensammlung des Paterius, in der dieser nur den Ijob-Kommentar Gregors erwähnt, obwohl sein Werk dann auch alle anderen exegetischen Werke Gregors umfasst, so v.a. die Evangelien-Homilien, die Ezechiel-Homilien und den Hohelied-Kommentar. Nahezu wörtliche Übereinstimmungen machen es wahrscheinlich, dass dieses Prooem Vorbild für den Widmungsbrief an Eugenius war, und lassen die zusätzliche Nennung der Ezechiel-Homilien noch deutlicher zutage treten.204 Ein Beweis ist das natürlich nicht, sondern könnte auch lediglich Ausdruck einer besonderen Wertschätzung dieses Werkes durch Taio sein.
In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass mit der Romreise des Taio die Werke Gregors vollständig in Spanien verfügbar waren.205 Die Teile der Moralia, die bereits Gregor an Leander geschickt hatte, waren sicherlich auch vorher schon komplett, von den dort fehlenden Büchern 11–22 (oder wenigstens 11–16) sowie anderen exegetischen Werken, besonders den EzechielHomilien,206 kann dies jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden – was natürlich nicht heißt, dass sie nicht in Form von Florilegien etc. zumindest teilweise zugänglich waren.
202
Vgl. Chron. muzar. 19 (CCM 65,336 GIL): Hic [sc. Chindasuintus] Taionem Cesaragustanum episcopum, ordinis litterature satis inbutum et amicum scripturarum, Rome ad suam petitionem pro residuis libris Moralium naualiter porrigit destinatum. […] quia hoc ex beati Iob libri expositum retemtabant solum, quod per beatum Leandrum, Spalensem episcopum, fuerat aduectum et holim honorifice deportatum. 203 Vgl. MADOZ 1951, 358. 204 Vgl. zur Gegenüberstellung der beiden Texte und genannten Schlussfolgerungen MADOZ 1951, 356–358, VEGA 1957, 248–251 und VARELA RODRÍGUEZ 2018a, 327. 205 Vgl. MEYVAERT 1995, 72: „In Taio almost every text can be tied to one of Gregory’s known and published works – the Moralia, the Homilies on Ezechiel, the Gospel Homilies, the Regula Pastoralis, the Dialogues. Taio had them all in his possession.“ 206 Die Auffassung, die Ezechiel-Homilien seien unter den aus Rom geholten Werken gewesen, vertritt auch MARTELLO 2013, 978.
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Wann diese Reise jedoch genau stattfand, ist schwer einzugrenzen und in der Forschung Gegenstand von Schätzungen.207 Sicher ist nur, dass Braulio († 651), Taios Vorgänger auf dem Bischofsstuhl von Saragossa, dessen Rückkehr aus Rom noch erlebte, da er in einem Brief an Taio dessen Reise im Vergangenheitstempus erwähnt und darum bittet, die Codices möglichst bald zur Transkription zu erhalten.208 Unklar ist auch, wo sich diese Codices gerade befinden, als Braulio brieflich nach ihnen verlangt. In dem wahrscheinlich in der Nähe von Saragossa gelegenen Kloster, dessen Abt Taio zu dieser Zeit ist? Oder doch eher in der urbs regia Toledo? Für letzteres spricht, dass die Romreise des Taio wahrscheinlich auf Initiative Chindasuinths geschah. García Moreno vermutet, im Unterschied zu den genannten Quellen, dass der primäre Zweck der Reise weniger die Beschaffung der Moralia war (auch im Brief an Eugenius liest diese sich eher als eine ergriffene günstige Gelegenheit denn als alleiniges Reiseziel), sondern es sich um eine diplomatische Unternehmung anlässlich der schwelenden Monotheletismuskrise handelte, zumal der Zeitpunkt der Reise im Vorfeld der sog. Lateransynode liegen dürfte.209 Obwohl die bereits genannten späteren Quellen zu politischen Hintergründen der Reise schweigen, bringen auch sie die Romreise explizit mit dem princeps in Verbindung: Die (ältere) Chronik von 754 erwähnt unmittelbar vor dem Bericht über die Entsendung Taios durch Chindasuinth die Einberufung des VII. Toletanums, doch der Zusammenhang zwischen beidem bleibt unklar.210 Die historia Gothica des Erzbischofs Rodrigo Jiménez de Rada (die hier klar abhängig von der Chronik von 754 ist) webt dann einen narrativen Zusammenhang zwischen der Einberufung des Konzils und der Entsendung:211 Auf dem Konzil sei Verwirrung entstanden, da das Werk nicht in 207
Vgl. VARELA RODRÍGUEZ 2018b, 11: „entre los años 646 y 650“; MEWS/RENKIN 2013, 319: „[s]ometime in the 630s“ und MIGUEL FRANCO 2010, 290: „[p]oco antes de la fecha de envoi de esta epístola“. Gemeint ist die unten zitierte ep. 35, die nach der Autorin aus dem Jahr 649/50 stammt, vgl. a.a.O., 289. 208 Vgl. Braulio von Saragossa, ep. 35,154–158 (CCL 114B,113 MIGUEL FRANCO): ut mihi codices sancti papae Gregorii inexpositos, qui necdum in Hispania erant, tuoque studio et sudore de Roma huc sunt delati, ad transcribendum ocius mitas. MADOZ 1941, 54 datiert diesen Brief auf das Jahr 649/50, allerdings anhand der Romreise (nicht umgekehrt), die er in den Jahren 646–649 ansetzt, ohne dies weiter zu begründen. Mit der Romreise argumentiert auch MIGUEL FRANCO 2018a, 66* in ihrer neuen Edition für das Datum 649/50, kombiniert allerdings mehrere Indizien miteinander. 209 Vgl. GARCÍA MORENO 2002, 303–306. 210 Vgl. Chron. muzar. 19 (CCM 65,336 GIL): Hic [sc. Chindasuintus] Taionem Cesaragustanum episcopum, ordinis litterature satis inbutum et amicum scripturarum, Rome ad suam petitionem pro residuis libris Moralium naualiter porrigit destinatum. 211 Vgl. Rodrigo Xímenez de Rada, hist. Goth. 2,20 (CCM 72,69 FERNÁNDEZ VALVERDE): Vnde et idem princeps [sc. Cindasuyndus], sacro concilio aprobante, Taionem Cesaraugustanum episcopum religione et litteratura prestantem et sollicitum Scripturarum ad Romanum Pontificem cum sua peticione pro libris Moralium nauigio destinauit. Die oft
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Spanien vorhanden sei, und so habe Chindasuinth sacro concilio approbante die Reise angeordnet – eine Information, die sich aber aus den Konzilsakten des VII. Toletanum nicht belegen lässt.212 Auch wenn unklar ist, ob Chindasuinth neben der Reise an sich auch die Abschrift der Moralia in Auftrag gab, passt der Bericht der Chroniken gut zu den anderweitig belegten literaturkonservatorischen Aktivitäten des Princeps, der auch Eugenius mit der Redaktion der Laudes Dei beauftragte. Sollte es sich so verhalten, ist es wahrscheinlich, dass Eugenius als Bischof seiner Residenzstadt einer der ersten war, die die Bücher zu Gesicht bekamen.213 Der mit der Nennung des Konzils bezeichnete Zeitraum (nach 646) erscheint ebenfalls plausibel. Wie schon erwähnt stellt der Brief des Braulio, der gemeinhin auf die Jahre 649/50 datiert wird,214 einen terminus ante dar. Es ist sinnvoll, anzunehmen, dass die Romreise einigermaßen zeitnah davor geschah. In dieses Bild fügt sich auch die ungefähre Datierung ein, die sich für die kompilatorischen Arbeiten Taios vornehmen lässt. Aus dem Brief an Eugenius wissen wir, dass Taio eine (evtl. fragmentarisch erhaltene) 215 Testimonien-
beinahe identische Wortwahl (litteratura, scripturae, petitio, libri Moralium, destinare) in der Charakterisierung Taios und der Bezeichnung der Romreise zeigt klar, dass die Chronik des Rodrigo Xímenez de Rada die in der vorherigen Fußnote zitierte Chronik von 754 voraussetzt. Besonders deutlich wird dies in der wörtlich von der Chronik übernommenen einleitenden Formulierung Hic in Toletana urbe synodale decretum XXX episcoporum cum omni clero et uicariis eorum quos langor inopia detinuerat [Chron. muzar.: praesentes fore non fecit]; vgl. auch den textkritischen Apparat in F ERNÁNDEZ VALVERDE 1987, 69. 212 MIGUEL FRANCO 2010, 290 spricht davon, die Romreise sei mit Themen verbunden, die auf dem VII. Toletanum behandelt wurden („los asuntos que se trataron en el VII Concilio de Toledo“), expliziert allerdings nicht, welche das genau waren. Vgl. dagegen MADOZ 1951, 350 und VEGA 1957, 238: „Ciertamente, en las Actas del citado Concilio no se habla para nada de semejante incidente, aunque bien pudiera haberse dado en un acto extraconciliar.“ Das VII. Toletanum verführt allerdings immer wieder dazu, daraus auf ein genaues Datum der Romreise zu schließen, vgl. WASSELYNCK 1962, 9: „Ce prélat fut envoyé à Rome par les Pères du VIIe concile de Tolède (octobre 646)“. 213 Vgl. auch WOOD 2016, 52 über die erweiterte Werkliste Gregors in Ildefons’ de uiris illustribus: „It may also be the case that Ildefonsus’s extension of Isidore’s biography of Gregory was part of a broader effort by the bishops of Toledo to demonstrate the excellence of their bishopric in opposition to Seville and other powerful ecclesiastical centres in Spain […]. On this reading, control over the dissemination of Gregory’s writings and the definition of his memory was one way to demonstrate Toledan superiority within Spain.“ 214 Vgl. insbesondere die Datierung der Briefe in der Edition von MIGUEL FRANCO 2018a, 66*. 215 Vgl. zur Identifizierung der Excerpta Gregorii (CPL 1269) mit dieser Testimoniensammlung VEGA 1957, der dort auch die maßgebliche textkritische Edition liefert. Seine These ist bislang meist akzeptiert worden, vgl. PALACIOS MARTÍN 1980 und CASTALDI/ MARTELLO 2011.
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sammlung nach dem Vorbild des Paterius anfertigte und Eugenius widmete:216 dass er also Passagen, in denen Gregor sich auf eine bestimmte Bibelstelle bezog, sammelte, gemäß der biblischen Reihenfolge der Perikopen neu anordnete und so ein praktisches exegetisches Nachschlagewerk erstellte. Als diese Arbeit abgeschlossen war und er sie dem Eugenius widmete, war Taio gemäß der Grußformel des Briefes bereits Braulio († 651) als Bischof von Saragossa nachgefolgt; der Brief wurde also zwischen dem Tod des Braulio und 657, dem Todesjahr des Eugenius, verfasst. Da es Grund zur Annahme gibt, dass diese erste Kompilation noch vor der Abfassung der Sententiae stattfand und für diese bereits ein wichtiges Arbeitswerkzeug war, ist ein früheres Abfassungsdatum, evtl. vor 653, wahrscheinlich,217 auch wenn der letzte Schliff inklusive Übersendung an Eugenius natürlich später stattgefunden haben kann. Es ist jedoch auffallend, wie stark Taio in seinem Brief an Quiricus die Abfassung der Sententiae mit den Wirren rund um die Rebellion Froias (652/653) und die Belagerung von Saragossa verband – wohingegen er sie im Brief an Eugenius nicht einmal kurz erwähnte. Die Sententiae, das zweite kompilatorische Werk Taios, folgen im Unterschied zur Testimoniensammlung keiner biblischen Reihenfolge, sondern strukturieren die Exzerpte aus Gregors Werk nach inhaltlichen Kriterien – sie bilden also ein theologisches Nachschlagewerk, eine Gesamtschau des Werkes Gregors. Wie der Name schon nahelegt, ist es von den Sententiae Isidors beeinflusst, wenn auch stärker eschatologisch ausgerichtet: Das übergreifende Strukturprinzip ist die augustinische Unterscheidung in ciuitas Dei und ciuitas terrena.218 Zu ihrer Datierung lässt sich die bereits erwähnte Widmungspräfation, diesmal an Bischof Quiricus von Barcelona, heranziehen: Taio beschreibt das Chaos und Leid, das die Rebellion Froias und die Belagerung seiner Stadt Saragossa auslösen – aber auch, wie die Arbeit am Werk Gregors ihm in den Wirrnissen dieser Zeit Trost spendet: „Und in bitteren Tagen haben wir unter Tränen Nahrung süßer Speise gesammelt.“219 Während der Rebellion des Froia (653) also arbeitet Taio noch an den Sententiae. Ein terminus ante für das Werk ist jedoch schwerer zu gewinnen und hängt wesentlich davon ab, wie zeitnah man die Fertigstellung annimmt. Vega nimmt dafür einen längeren Zeitraum an und begründet dies einerseits mit dem beträchtlichen Umfang des Werkes, aber auch damit, dass Quiricus von Barcelona, der Widmungsträger, erst seit 656, also einem Jahr vor dem Tod des Eugenius, sicher als Bischof 216
Vgl. dazu VARELA RODRÍGUEZ 2018b, 11–12 sowie zum Werk des Paterius MAR147–152 für das Verhältnis zum Werk Taios. 217 Vgl. VARELA RODRÍGUEZ 2018a, 324. Wie CASTALDI/MARTELLO 2011 argumentieren, war die Testimoniensammlung für Taio eine Vorarbeit für die Sententiae, die er auch dafür benutzt. 218 Vgl. VARELA RODRÍGUEZ 2018b, bes. 27–30. 219 Taio von Saragossa, ep. Quir. 17 (199 AGUILAR MIQUEL): atque in amaris diebus dulcium ciborum lacrimando dapes collegimus.
TELLO 2012, bes.
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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von Barcelona belegt ist.220 Aussagen über die Bischofsreihe von Barcelona werden jedoch allgemein dadurch erschwert, dass zwischen 638 und 656 keine Vertreter aus Barcelona mehr an den Konzilien in Toledo teilnahmen.221 Insofern sind auch die Lebensdaten des Quiricus selbst schwer zu bestimmen. Wir wissen jedoch, dass er noch mit Ildefons, als dieser Eugenius bereits als Bischof von Toledo nachgefolgt war, korrespondierte und somit Eugenius einige Jahre überlebt haben dürfte.222
Es lässt sich also zusammenfassen: Für die Sententiae des Taio ist nicht mehr sicher festzustellen, ob Eugenius das Werk kannte und benutzte – abhängig davon, wann man die Fertigstellung der Sententiae ansetzt. Das Werk Gregors ‚im Original‘, besonders die Moralia, war allerdings bis auf die genannten Lücken (Bücher 11–22 oder zumindest 11–16, wahrscheinlich die EzechielHomilien) schon seit Leanders Zeiten im wisigotischen Spanien weit verbreitet. Dass Eugenius, der Bischof der urbs regia, jedoch auch die fehlenden Werke Gregors, die mit Taio nach Rom kamen, früher oder später zu Gesicht bekam, ist wahrscheinlich: Selbst wenn Chindasuinth nicht der Auftraggeber der Romreise war, so zeugen doch die vielen Briefwechsel von der Aufmerksamkeit, die diese Reise in Spaniens gebildeten Kreisen auf sich zog – sicherlich auch die des uim studiorum bonorum persequens Eugenius. Was wir sicher wissen, ist, dass Eugenius die von Taio angefertigte Testimoniensammlung erhielt und zumindest über diesen Umweg Kenntnis des vollständigen Werkes erhielt. Für diese Testimoniensammlung wiederum stellt der Brief an Eugenius die einzige vorhandene Quelle dar, mittels derer wir über ihren Inhalt informiert werden. Dankenswerterweise schildert Taio seine Methodik so ausführlich, dass Vega auf dieser Basis die anonym überlieferten Excerpta Gregorii (CPL 1269), die die weisheitlichen biblischen Bücher Hohelied, Sprüche, Kohelet, Weisheit und Jesus Sirach umfassen, als erhaltene Teile des Werkes Taios identifizieren kann.223 Wie bereits erwähnt ist die Testimoniensammlung des Paterius,224 die Taio sicherlich in Rom eingesehen hat, als Vorbild zu betrachten. Es gibt jedoch auch Unterschiede zwischen den beiden Testimoniensammlungen, die aus dem Vergleich unseres Briefes mit der Praefatio des Paterius deutlich werden:225 Während Paterius drei Bände mit seinem Werk füllt, umfasst die Sammlung Taios sechs Codices (vier für das Alte Testament, zwei für das Neue).226 Im Unterschied zu ihm stellt Taio jedem Buch einen kurzen Einlei-
220
Vgl. VEGA 1957, 247. Vgl. GARCÍA MORENO 1974, 204. 222 Vgl. Quiricus von Barcelona, ep. Ildef. I (PL 96,193–194). AGUILAR MIQUEL 2018, 182 schätzt das Todesjahr des Quiricus auf 666. 223 Vgl. VEGA 1957, bes. 253–257; für den Abschnitt über das Hohelied liefert PALACIOS MARTÍN 1980 neue Argumente für die Autorschaft Taios. 224 Paterius, test. (PL 79,678–1136). 225 Für eine umfassende Gegenüberstellung der Epistula Taionis und der Praefatio des Paterius vgl. VARELA RODRÍGUEZ 2018a, 327–328. 226 Vgl. Taio von Saragossa, ep. Eug. 107–110 (359 VARELA RODRÍGUEZ): Cuius rei quantitatem in sex codicibus, quatuor scilicet ueteris instrumenti, duobus etiam noui testamenti, suis connexis ordinibus […] explere curaui. 221
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tungstext voran;227 überhaupt scheint Taio, wie der Textvergleich zwischen seinen Fragmenten und der Expositio des Paterius ergibt, stärker nach Vollständigkeit zu streben als sein Vorbild.228 Kein Proprium Taios, aber eine interessante Information über die Eugenius sicher bekannten Passagen aus Gregor ist, dass dieser diejenigen biblischen Bücher in seiner Exzerptesammlung ausließ, die Gregor selbst ex ordine behandelt: 229 also insbesondere das Buch Ijob selbst.230
b) Eugenius in der Epistula Taionis Was aber kann uns der Brief über Eugenius, den Empfänger, sagen? Welches Verhältnis zu Taio kommt zum Ausdruck? Und können wir über die Rekonstruktion der historischen Umstände hinaus Thesen darüber bilden, welche Rolle Eugenius bei dem Unterfangen der Aufbereitung der Werke Gregors spielte? Solcherlei Rückschlüsse werden vor allem dadurch erschwert, dass der Brief durch seine Doppelrolle als epistula und praefatio noch stärker stilisiert ist, als es die Korrespondenz der hispanischen Bischöfe dieser Zeit ohnehin schon ist.231 Solcherlei Briefe durchliefen sicherlich (wie auch die meisten veröffentlichten Privatbriefe) einen Redaktionsprozess und richten sich in der heute erhaltenen Form mindestens ebenso sehr an den Leser des Werkes, dem sie voranstehen, wie an die vordergründigen Adressaten: Sie informieren über den Entstehungsprozess, geben eine kurze inhaltliche Einführung in das Werk und
227 Vgl. Taio von Saragossa, ep. Eug. 110–112 (359 VARELA RODRÍGUEZ): Praefatiunculas quoque eiusdem codicibus consonantes decerpsi, quas etiam in capite librorum praeposui. 228 Vgl. zum Materialvergleich MARTELLO 2012, 147–152. 229 Taio von Saragossa, ep. Eug. 109 (359 VARELA RODRÍGUEZ): praetermissis scripturis quas isdem uirorum sanctissimus ex ordine tractauit. 230 Vgl. VEGA 1957, 256. Merkwürdig ist dabei, dass, wenn die Identifikation mit den Excerpta Gregorii richtig ist, das Hohelied dort keineswegs ausgelassen wurde, obwohl Gregor es sehr wohl in seiner Hohelied-Homilie selbst ex ordine behandelt. In den Excerpta sind dann auch nur solche Stellen aufgeführt, die sich in anderen Werken Gregors verstreut finden, nicht aber die Bestandteile der Hohelied-Homilie. Dieses Vorgehen hätte Taio aber insofern mit Paterius gemeinsam, als auch dieser sowohl das Hohelied als auch das Buch Ezechiel aufnimmt und lediglich das Buch Ijob beiseitelässt. Und es fügt sich trotzdem in Taios Programm, eben diejenige Bibelexegese Gregors aufzuarbeiten, die ad probationem uel expositionem cuiusque rei adhibita diuersis in locis (Taio von Saragossa, ep. Eug. 87–88 [358 VARELA RODRÍGUEZ]). stattfindet. Diese sammelt Taio, ordnet sie gemäß der biblischen Reihenfolge, fügt Geringfügiges ein und lässt inhaltliche Doppelungen weg; vgl. ep. Eug. 87–88 (358 VARELA RODRÍGUEZ). 231 Für einen Überblick über diese besondere „Gattung“ von Briefen vgl. IRANZO ABELLÁN 2018, 209–215, für die Widmungsbriefe Isidors MIGUEL FRANCO 2018b und für die Analyse der Topoi innerhalb von epistulae-praefationes am Beispiel der isidorianischen Widmungsbriefe MIGUEL FRANCO 2014.
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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rechtfertigen oft überhaupt die Abfassung des Werkes, die auf Bitten der adressierten Person geschehen sei.232 Das Wichtigste, was uns Taios epistula-praefatio über Eugenius sagt, ist wahrscheinlich, dass dieser dazu auserkoren wurde, Widmungsträger des Werkes zu sein. Wir wissen nicht, wie eng der Kontakt zwischen Taio und Eugenius war – dass sie aber zumindest flüchtig miteinander bekannt waren, liegt durch die Freundschaft nahe, die beide zu Braulio von Saragossa unterhielten.233 Zudem ist es möglich, dass beide zur selben Zeit in Saragossa ihre Ausbildung genossen haben, da sie ungefähr gleich alt gewesen sein dürften.234 Unabhängig von einem etwaigen Freundschaftsverhältnis ist jedoch die Nennung Eugenius’ selbstverständlich eine Ehrenbezeugung. Taios Wertschätzung drückt sich in den ehrerbietigen Anreden innerhalb seines Briefes aus (mi uenerabilis domine, prudentissime uirorum, uirorum sanctissime, mi uenerabilis ac sanctissime domine), die sowohl die Heiligkeit als auch die Klugheit des Eugenius hervorheben, was aber natürlich in Bischofskorrespondenzen auch nicht ungewöhnlich ist.235 Leicht auffällig ist es dennoch: In Taios zweitem Widmungsbrief an Bischof Quiricus von Barcelona wird zwar ebenfalls dessen Verehrungswürdigkeit und Heiligkeit (uestrae sanctitati, mihi uenerabilis domine)236 hervorgehoben, nicht jedoch seine Klugheit, für die er bei Eugenius starke Worte findet (prudentissime uirorum). Taio dürfte sich selbstverständlich auch umgekehrt erhofft haben, dass ein wenig von dem guten Ruf, den Eugenius nachweislich in literarischen Kreisen genoss (und von dem uns auch Ildefons berichtet), auf sein eigenes Werk überging oder dessen Ansehen dadurch zumindest nicht geschmälert wurde – zumal er es, wie der Brief angibt, ihm zur Durchsicht übersandte und so quasi unter seine Aufsicht stellte: Ipsos etiam codices laboriosa nimium intentione collectos prudentiae uestrae malui commitere contuendos, in quibus si quaedam sagacissima uestigatio uestra reppererit inordinate composita, non tam neglegentiae culpam quam necessitati adscribat, quia dum uehiculo paruae scaphulae quasi inmensum pelagus solitarius nauta nauigaturus adgredior, cum maximis difficultatibus latissimi aequoris huius spatia transmeaui tandemque ad optatam litoris requiem Christo gubernante perueni.237
232
Vgl. IRANZO ABELLÁN 2018, 214 und MIGUEL FRANCO 2014, 115–120. Vgl. für die Freundschaft Braulios und Taios Braulio von Saragossa, ep. 4 (CCL 114B,40–42 MIGUEL FRANCO) und 35 (CCL 114B,107–113 MIGUEL FRANCO). 234 Dies vermutet MIGUEL FRANCO 2010, 292. 235 Vgl. z.B. in einem Brief des Eugenius an Braulio: uestra prudentia und uestra […] pietas (Eugenius von Toledo, ep. 1,15 und 1,25 [CCL 114,399 ALBERTO]). 236 Vgl. Taio von Saragossa, ep. Quir. 2 (197 AGUILAR MIQUEL) und 32 (200 AGUILAR MIQUEL). 237 Taio von Saragossa, ep. Eug. 114–117 (359 VARELA RODRÍGUEZ). 233
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius Ich habe gerne die Codices, wenn ich sie auch mit allzu mühevoller Anstrengung gesammelt habe, Eurer Klugheit zur Ansicht anvertraut; wenn eure überaus weise Untersuchung etwas gefunden hat, was nicht ordnungsgemäß zusammengestellt wurde, möge sie die Schuld nicht so sehr der Nachlässigkeit zuschreiben als vielmehr der Notwendigkeit, weil ich, während ich es mit dem Gefährt einer kleinen Nussschale als einsamer Seefahrer unternehme, ein gleichsam unermessliches Meer zu besegeln, unter größten Schwierigkeiten die Weiten dieses überaus breiten Meeres durchwandert habe und endlich, mit Christus als Steuermann, zur erhofften Ruhe der Küste gelangt bin.
Es ginge aber zu weit, daraus schließen zu wollen, dass Eugenius der Korrektor dieser Testimoniensammlung war, obgleich dies natürlich auch nicht auszuschließen ist. Die Bitte an den Widmungsträger, beim letzten Schliff des als verbesserungsbedürftig dargestellten Werkes mitzuhelfen, ist eine häufig anzutreffende Variation des Bescheidenheitstopos.238 In der uns heute vorliegenden Fassung des Briefes ist demgemäß auch keine Bereitschaft Taios zu spüren, noch substantielle Änderungen an seinem Werk vorzunehmen. Es ist also gut denkbar, dass diese Äußerungen rein rhetorischer Natur sind. Auffällig im Vergleich zum Widmungsbrief an Bischof Quiricus ist jedoch wiederum, dass dort ähnliche ‚Hilfsgesuche‘ an den Adressaten fehlen. Durch die Epistula ad Eugenium dagegen zieht sich Taios Hilfsbedürftigkeit angesichts der Größe seiner Aufgabe wie ein roter Faden. Schon zu Beginn des Briefes239 drückt er sie in topischer Form aus:240 Es sei nur recht und billig, dass der Schwächere nach der Hilfe des Stärkeren suche – mit diesem Stärkeren meint er den Adressaten Eugenius. Taio benutzt dafür die Metapher eines Laufes (desideratum cursum), bei dem es besser sei, sich von der Hand des Stärkeren (dextera potioris) mitziehen zu lassen, als mitten auf dem Weg stehen zu bleiben.241 Die Hilfe, die sich Taio hier von Eugenius erhofft, betrifft jedoch wiederum nicht die Arbeit an seinem Werk selbst: Taio ist ‚lediglich‘ adiutus orationibus.242 Überhaupt ist die ‚helfende Hand des Gebetes‘ ein Topos, den
238
Vgl. MIGUEL FRANCO 2014, 124. Der Beginn des Briefes, Congrua satis ualdeque necessaria dispositione, zeigt übrigens deutliche Anklänge an einen Brief Braulios an Papst Honorius I. (= Braulio von Saragossa, ep. 16,3 [CCL 114B,69 MIGUEL FRANCO]: Optime satis ualdeque congrue); vgl. MIGUEL FRANCO 2010, 293. 240 Vgl. für Hilfegesuche an den Stärkeren/Klügeren/Heiligeren in Briefen z.B. Eugenius von Toledo, ep. 1 (CCL 114,399 ALBERTO): a te [sc. Braulio] de his illuminari me postulo, qui diuinae sapientiae maiori lumine pollens et legis sanctae quotidie meditationi deseruiens […]. Der Unterschied ist freilich, dass Eugenius tatsächlich eine konkrete Frage an Braulio stellt. 241 Vgl. Taio von Saragossa, ep. Eug. 5–7 (355 VARELA RODRÍGUEZ): eoque facilius corporis gressum porrigit, quo trahitur dextera potioris, ut saltim desideratum cursum ualentioris auxilio possit explere, quam segnis in sui itineris medio remanere. 242 Taio von Saragossa, ep. Eug. 8–9 (355 VARELA RODRÍGUEZ). 239
2.3 Eugenius und die literarische Kultur seiner Zeit
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Taio aus einem Brief des von ihm verehrten Gregor an Leander gekannt haben könnte.243 Es folgt ein wortgewaltiges Elogium auf Person und Werk Gregors, die mit einem grünenden und blühenden Paradies verglichen werden – ein Paradies, von dessen Blumen und Zweigen Taio als schüchterner Betrachter spielerisch ein paar abpflückt und sammelt, more pusillorum infantium.244 Prompt nach diesem ‚Gleichnis‘ (quibusdam parabolis) verlässt Taio interessanterweise die Ebene des Briefes und lässt dessen Funktion als Einleitung seines Werkes deutlicher zutage treten: Diesen Vergleich habe er angebracht, um die Größe der Weisheit Gregors den nescientibus kundzutun.245 Zu diesen kann er Eugenius vernünftigerweise wohl nicht zählen. Es wird also deutlich, dass er hier die Leser seiner epistula-praefatio anspricht, für die der Paradies-Vergleich eigentlich gedacht war, um ihnen einen Eindruck von der Pracht des gregorianischen Werkes zu vermitteln. Sofort jedoch kehrt er zum vordergründig adressierten Eugenius zurück und bedenkt seinen Vergleich mit einer erneuten Abwandlung des humilitas-Topos, in dem der zuvor als der ‚Stärkere‘ angepriesene Eugenius wiederum eine Rolle spielt: Optaueram siquidem tuae nunc adesse presentiae ut […] ex tui oris prudentiae formulam sumerem, quam in principio huius operis uelut cuiusdam telae uerborum texturam ponerem uel certe ex tui cordis artificiosa manu quasi in cuiusdam magni constructione aedificii politos atque quadratos humeris propriis uerborum lapillos deferrem, quoniam frater fratem adiuuans exaltabitur sicut ciuitas munita.246 Freilich hätte ich mir gewünscht, nun in deiner Gegenwart zu sein, um […] aus der Klugheit deines Mundes ein Bild zu empfangen, um es am Beginn dieses Werkes, wie gewissermaßen einer Webarbeit, als Wortgewebe voranzustellen, oder gleichsam bei der Errichtung eines großen Gebäudes von der kunstfertigen Hand deines Herzens geschliffene und viereckig gehauene Wortsteinchen auf eigenen Schultern fortzutragen, weil ja der Bruder, der dem Bruder hilft, erhöht werden wird wie eine befestigte Stadt (Spr 18,19).
Taio hätte also gerne von Eugenius selbst eine formula247 empfangen, um sie seinem Werk voranzustellen. Was damit genau angedacht ist, muss wohl offen
243
Vgl. Gregor der Große, ep. 9,228 (CCL 140A,804 NORBERG): tuae orationis manu me
tene. 244
Taio von Saragossa, ep. Eug. 10–25 (355–356 VARELA RODRÍGUEZ) Taio von Saragossa, ep. Eug. 27–31 (356 VARELA RODRÍGUEZ): nisi ut tam incomparabilis excellentiam uiri, sancti scilicet pape Gregorii […] in ipso locutionis exordio quibusdam parabolis anteferrem eiusque magnitudinem sapientiae […] aliquatenus non scientibus, sed nescientibus propalarem. 246 Taio von Saragossa, ep. Eug. 31–38 (356 VARELA RODRÍGUEZ). 247 Der Begriff formula ist schillernd und kann gerade gegen Ende der Spätantike mehrere Bedeutungen tragen. Aus dem römischen Rechtswesen wird dessen Bedeutung als „festgesetzte Formulierung“ etwa zum Abschluss eines Vertrages (vgl. THLL s.v. formula, 245
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
bleiben – und womöglich diente der Gedanke, Eugenius könne etwas zur Einleitung des Werkes beitragen, für Taio ohnehin nur dem literarischen Zweck, seine Bescheidenheit auszudrücken, sodass die Frage nach der Form, in der dies hätte geschehen sollen, nichts zur Sache tut. Denkbar wäre allerdings angesichts des dichterischen Ruhmes des Eugenius ein Einleitungsgedicht nach Art seiner eigenen dichterischen Praefatio zum überarbeiteten Werk des Dracontius. Diese durchaus übliche Praxis nimmt auch Taio selbst für seine Sententiae vor, denen er ein Epigramma operis subsequentis voranstellt.248 Dass die epistula-praefatio mindestens ebenso für die Leser seines Werkes gedacht ist wie für Eugenius (wenn nicht mehr), verdeutlicht auch der letzte Abschnitt des Briefes noch einmal aufs Deutlichste. Hier wird der Bescheidenheitstopos in eine Gebetsbitte gegossen, die sowohl an den vordergründigen Adressaten als auch an die ‚Mitlesenden‘ seiner Testimoniensammlung ergeht – und sowohl die Aufnahme von Taios Werk als auch sein eigenes Seelenheil betrifft: Obsecro igitur te, uirorum sanctissime, et omnes quibus huius operis lectio non displicuerit, ut hos libellos uelut duo minuta in gazophylacio templi Domini conlocare dignemini ac pro meis abluendis delictis peruigili intentione eius misericordiam deprecare non dedignemini, ut aeternis ereptus incendiis sempiternis solari merear refrigeriis. Vale, mi uenerabilis ac sanctissime domine.249 Ich flehe also dich, Heiligster der Männer, und alle, denen die Lektüre dieses Werkes nicht missfällt, an, dass ihr diese Büchlein wie zwei kleine Münzen in die Schatzkammer des Tempels des Herrn zu legen für wert erachtet und es nicht für unwert haltet, für die Vergebung meiner Vergehen mit wacher Sorgfalt seine Barmherzigkeit zu erbitten, damit VI,1,1115–1117: fere i. q. concepta uerba, vgl. auch das moderne Wort „Formel“, „Formular“) auf den logischen Bereich (Syllogismus-„Formel“, vgl. dazu Isidor von Sevilla, orig. 2,28,2: Formulae categoricorum, id est praedicatiuorum syllogismorum, sunt tres.) und den liturgischen Bereich im Sinne von „Gebetsformeln“ und rituellen Abläufen übertragen. Als Diminutiv von forma umschließt es aber auch dessen Bedeutungsspektrum als ‚äußere Gestalt‘ bzw. ‚Form‘. Davon dürfte auch die Bedeutung als „allégorie, symbole, règles pour les interpréter“ (BLAISE s.v. formula, 361) abgeleitet sein, die z.B. im Werktitel formulae spiritalis intelligentiae des Eucherius von Lyon (5. Jahrhundert) aufscheint: Es handelt sich dabei um ein exegetisches Nachschlagewerk für die spirituelle Bedeutung einzelner biblischer Ausdrucksweisen oder Naturphänomene, nach dem Schema: Aues sancti, quod ad superiora corde euolent; in euangelio: et fecit ramos magnos ita ut possent sub umbra eius aues caeli habitare; Eucherius von Lyon, form. 4 (CSEL 31,22 WOTKE). Bezieht man formula in diesem Sinne auf Taios comparationes des Werkes Gregors mit den Blumen und Bäumen des Paradieses, ist diese Bedeutung wohl die wahrscheinlichste. In diesem Sinne hätte Taio sich gefreut, wenn Eugenius eine passende Allegorie für das Werk Gregors gefunden hätte, wenn es auch nicht auszuschließen ist, dass er ihn nach der ‚Norm‘ oder ‚Form‘ befragen wollte, wie man ein solches Werk am besten einleite, oder sich von ihm sogar ein ‚Modell‘ (auch dies eine Bedeutung von formula, vgl. GEORGES s.v. formula, 2172) dafür erhoffte. 248 Vgl. Eugenius von Toledo, Drac. praef. (CCL 114,327–328 ALBERTO) und Taio von Saragossa, epigr. (203 AGUILAR MIQUEL). 249 Taio von Saragossa, ep. Eug. 125–130 (359–360 VARELA RODRÍGUEZ).
2.4 Zusammenfassung
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ich den ewigen Bränden entrissen und würdig werde, in immerwährender Erfrischung getröstet zu werden. Lebe wohl, mein verehrungswürdiger und heiligster Herr.
2.4 Zusammenfassung 2.4 Zusammenfassung
2.4.1 Das biographische Profil des Eugenius Zwischen dem biographischen und dem literarischen Profil des Eugenius ist sicherlich nicht trennscharf zu unterscheiden, da etwa die Selbstcharaktierisierung der Dichter-persona des Eugenius in den Carmina durchaus die Wahrnehmung der Person des Eugenius durch seine Zeitgenossen beeinflusst haben dürfte, was auch Ildefons eingesteht: Die beiden libelli aus Prosa und Poesie „vermochten es, [Eugenius’] heiliges Andenken zum Eifer vieler nachhaltig anzuempfehlen.“250 Ildefons schildert Eugenius als einen monastisch geprägten Mann, der sowohl intellektuell vielfältig interessiert war als auch ein spirituell und moralisch vorbildliches Leben führte. Die Zeit, mit der beides bei Ildefons in besonderer Weise verbunden zu sein scheint, ist Eugenius’ Aufenthalt in Saragossa, unter den Fittichen Braulios, der selbst enge Kontakte mit der damals führenden theologischen und intellektuellen Autorität, Isidor von Sevilla, unterhielt. Aus seiner Korrespondenz, aber auch seinen Carmina werden Persönlichkeiten aus dem Umfeld Saragossas, etwa Braulios Geschwister und der spätere Bischof Taio von Saragossa, als Eugenius definierende Beziehungen greifbar. Demgegenüber stellte nach Ildefons das hohe Amt, das an Eugenius herangetragen wurde, eine seinem Lebensentwurf zuwiderlaufende Bürde dar, die auch seiner körperlichen Konstitution wegen besonders schwer auf ihm lastete. Dieses Bild zeichnet Eugenius selbst in seinen Briefen weiter, in denen er sich von den Sorgen und Mühen des Amtes gezeichnet und daher rat-, gebets- und hilfsbedürftig zeigt. In Anspielungen scheint durch, dass er sich sowohl seiner körperlichen Fragilität als auch seiner moralischen Instabilität und Sündigkeit wohl bewusst war. Obgleich sein verlorenes theologisches Prosa-Werk von Julian nur überaus selektiv rezipiert wird und daher wenig aussagekräftig ist, passt die in seinem eschatologischen Fragment zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach einem vom Leid befreiten Auferstehungsleib gut in dieses Gesamtbild einer Person, die trotz – oder gerade wegen – ihres eigenen Leides ein Leben spiritus uirtute führen konnte. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass sowohl die Schilderung Ildefons’ als auch das Zeugnis der Briefe des Eugenius stark von den Konventionen der Zeit geprägt waren. Wir finden sowohl den Topos der ‚klugen
250 Ildefons von Toledo, vir. ill. 13,206–208 (CCL 114A,615 CODOÑER MERINO): qui ad multorum industriam eius ex hoc tenaciter sanctam ualuerunt commendare memoriam.
96
2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
Flucht‘ in die klösterliche Abgeschiedenheit als auch der gewaltsamen, unwillentlichen Berufung mehrfach im Werk des Ildefons. Die objektiven Daten der kirchlichen Laufbahn des Eugenius belehren uns hier teils eines Besseren: Eugenius befand sich bereits als Erzdiakon Braulios durchaus in einem cursus honorum, der mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zum Bischofsamt führte, wenn auch die Berufung gerade nach Toledo überrascht haben mag. Nicht belegbar ist das ihm oft zugeschriebene schwierige Verhältnis zu König Chindasuinth; im Gegenteil zeugen die Dracontius-Rezension und auch das wohl in Auftrag gegebene carm. 25, sowie die Konzilsakten des VII. Toletanum von einer engen Kollaboration auf allen Ebenen. Die Klagen des Eugenius in seinen Briefen resonieren zwar mit dem, was wir aus der Ildefons-Vita über seine körperliche Schwäche und seinen Unwillen zur Kirchenpolitik gehört haben, die „den sensiblen Menschen oft gänzlich überfordert[e]“.251 Doch schwächt sich dieser Eindruck der außergewöhnlichen Sensibilität des Eugenius schnell ab, wenn man ähnliche Briefe seiner Zeitgenossen – etwa die Briefe Braulios oder den ebenfalls untersuchten, an Eugenius gerichteten Brief Taios – betrachtet. Die Selbstcharakterisierung als schwach, sündig, hilfsbedürftig und auch körperlich leidend erweist sich vor diesem Hintergrund als Standardmodus der bischöflichen Kommunikation, die unter anderem durch das in Spanien einflussreiche ‚Modell‘ Gregors des Großen bedingt sein dürfte: „Figures from Isidore to Eugenius of Toledo engaged with, and sometimes sought to replicate, Gregory’s self-representation as monk, reluctant leader, theologian, and even hypochondriac.“252 In seinen Briefen, die freilich nur einen schmalen Ausschnitt seiner tatsächlichen Korrespondenz darstellen, partizipiert Eugenius an dieser Art der Selbststilisierung, bedient sich ihrer aber nicht erkennbar stärker, als dies andere Bischöfe tun: So geht er etwa nie konkret auf die Art seiner Leiden ein, sondern deutet seine Gebrechlichkeit lediglich in etablierten Floskeln an. Gleiches gilt für die Bescheidenheitstopik und die Beteuerung der eigenen Sündhaftigkeit, die das Bild eines in jeder Hinsicht demütigen Menschen erzeugen – ein Bild, das auch aus den Carmina heraus entsteht.253 Dennoch lässt gerade die Einmaligkeit der Beschreibung des Eugenius in Ildefons’ Viten kaum einen Zweifel zu, dass Eugenius’ körperliche Schwäche, die Ildefons bei anderen Persönlichkeiten nie erwähnt, historisch war und zudem als ein so grundlegender und ihn definierender Aspekt wahrgenommen wurde, dass sie in seiner Vita als erwähnenswert galt: Ildefons meinte sogar,
251
DIESNER 1980, 480. WOOD 2016, 32. Vgl. zu den Äußerungen Isidors zu seinem gesundheitlichen Zustand und der Frage, wie viel Selbststilisierung dabei enthalten ist, BARRETT 2020, 54–55. 253 Vgl. UNGVARY 2018b, 304: „A repentant humility and a pessimistic realism regarding suffering and mortality form the crux of his self-fashioning.“ 252
2.4 Zusammenfassung
97
dieses Defizit des Eugenius durch den Verweis auf seine spirituelle und intellektuelle Kraft ausgleichen zu müssen. Und auch Eugenius selbst trägt in seinen Carmina, die Ildefons als persönliches Zeugnis liest, zu diesem Eindruck bei, wenn er die Klagen über Krankheit, Alter und sonstige körperliche Beschwernisse explizit mit seinem Namen verbindet. 2.4.2 Das literarische Profil des Eugenius aus den äußeren Quellen Ildefons stellt uns Eugenius als Bischof dar, den nicht nur eine asketisch-monastische Lebensführung, sondern auch sein intellektuelles Interesse charakterisierte. In seinem Schrifttum sieht Ildefons zwar einen gewissen Fokus auf der Dichtung, beschreibt aber doch ein deutlich breiteres literarisches Profil. Bereits innerhalb der dichterischen Aktivitäten des Eugenius macht eigene literarische Produktion nur einen Teil seines Schaffens aus, den Ildefons noch nicht einmal besonders hervorhebt. Stärker geht er auf die restaurative Tätigkeit am Dracontius-Werk ein, zu der auch Eugenius selbst sich in den Rahmenkompositionen, wie dem Chindasuinth-Brief und der dichterischen Praefatio, bei aller Bescheidenheitstopik doch durchaus stolz bekannte. Und auch die Erneuerung und Ergänzung der Liturgie, insbesondere der Gesänge, ist es Ildefons sogar wert, am Anfang der Werkliste des Eugenius zu stehen. Mit dem verlorenen Traktat de sancta trinitate verfasste Eugenius ein Werk, das in den Kernbereich der Theologie vordringt. Über Julians Fragmente wissen wir, dass er sich auch mit Eschatologie und vielleicht besonders mit der Beschaffenheit des Auferstehungsleibes beschäftigte. Im verlorenen Prosa-Libellus, der eine parallele Komposition zum Libellus carminum gewesen und daher von einer ähnlichen thematischen Varietät geprägt sein dürfte, können wir noch weitere theologische Themenbereiche vermuten, aber auch persönlich gefärbte Literatur, die ebenso wie der Libellus carminum „sein heiliges Andenken“ bewahrte. Darüber hinaus erscheint Eugenius in der Korrespondenz mit seinen Zeitgenossen, etwa Braulio, Protasius und Taio, immer wieder als Ansprechpartner für Fragen der liturgisch-literarischen Kultur: Bereits Braulio band ihn in seiner Zeit in Saragossa in liturgische Projekte mit ein, Protasius ersuchte ihn zur Übernahme eines solchen, und Taio informierte Eugenius nicht nur über den Stand der Akquise der fehlenden Gregor-Werke, sondern erbat sich eventuell ein knappes Einleitungsepigramm zu seiner Exzerptesammlung aus den Moralia in Iob und den Ezechiel-Homilien, die er Eugenius widmete. Eine interessante These hinsichtlich dieses Befundes stellt David Ungvary auf:254 Er sieht im Diskurs um Sünde und Buße einen thematischen Schwerpunkt der literarischen Kultur der Zeit. Als Beispiele nennt er die Akquise der
254
Vgl. dazu UNGVARY 2018b, 300–302.
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2 Die Biographie und das literarische Profil des Eugenius
vollständigen Moralia und der Ezechiel-Homilien Gregors, Taios daraus erstellte Sententiae, die Überarbeitung des ersten Buches der Laudes Dei, das mit einem Bußaufruf abschließt, sowie der Satisfactio des Dracontius, die ein einziges Bußgedicht darstellt, und das ‚Auto-Epitaph‘ Chindasuinths (d.h. carm. 25 des Eugenius) sowie andere Gedichte, die Sündenklage und Bußaufforderung beinhalten. In der Tat fällt auf, dass gerade die literarischen Projekte unter der Patronage Chindasuinths in unterschiedlicher Weise um diese Thematik kreisen, sei es durch theologische Fundierung (vgl. die Aufarbeitung des Erbes Gregors in den Sententiae Taios) oder durch Innovation im Bereich des poetischen Ausdrucks (vgl. Dracontius’ Satisfactio sowie einige Gedichte des Eugenius). Eine solche Schwerpunktsetzung am Hofe Chindasuinths könnte damit zusammenhängen, dass der bereits bei seinem Regierungsantritt hochbetagte König nach Angaben der Fredegar-Chronik gegen Ende seines Lebens sich der Buße unterzog.255 Freilich war Chindasuinth bei weitem nicht der Erste mit diesem Interesse, wie uns etwa Isidors Sententiae oder, noch wichtiger, seine Synonyma zeigen, die eine Klage der sündigen Seele darstellen und übrigens in Braulios Bibliothek zu Saragossa sicher vorhanden waren.256 Dass das Thema allerdings in Eugenius’ kulturellem Umfeld virulent war und daher auch als einer der Kontexte seines eigenen literarischen Schaffens gelten muss, ist unbestritten.
255 Vgl. Fredegar, chron. 4,82 (MGH.SS rer. Mer. 2,163 KRUSCH): Chyntasindus paenetentiam agens, aelymosinam de rebus propries faciens, plenus senectutae, fertur nonagenarius, moretur. Dass es sich um eine kanonische Buße handelte, wäre vor allem im Falle einer Buße am Sterbebett denkbar, wie dies bei seinem (dazu gezwungenen) Vorgänger Tulga und später auch bei Wamba der Fall war, vgl. UNGVARY 2018b, 311–315 und speziell zu Wamba DE JONG 1999, 373–402. Vgl. dazu ausführlich Kap. 8.1.1. 256 Vgl. zur Bedeutung der Synonyma für den Bußdiskurs FIREY 2016, passim. Vgl. zur Übersendung der Synonyma an Braulio Isidor von Sevilla, ep. Braul. B,9–10 (CCL 114B,6 MIGUEL FRANCO).
Zweiter Teil
Analyse des Libellus carminum
3 Die Makrostruktur des Libellus 3.1 Die Gattungsfrage 3.1 Die Gattungsfrage
3.1.1 Der libellus aus vielen Gattungen Die etwas umständliche Bezeichnung, die Eugenius’ Gedichtsammlung in der von Ildefons verfassten Vita erhält (libellus diuersi carminis metro concretus), steht für eine Praxis, die im wisigotischen Spanien nach Eugenius beinahe zur Tradition unter den Toledaner Bischöfen geworden zu sein scheint: Verschiedene Anlassdichtungen, die vielleicht über einen langen Zeitraum hinweg entstanden sind, werden zusammengefügt (concretus) und als Gedichtbuch herausgegeben. Über Ildefons berichtet Julian von einem liber […] uersibus prosaque concretus, in quo epitaphia et quaedam sunt epigrammata atque adnotata.1 Julian selbst hat, wie wir durch Felix von Toledo unterrichtet sind, ein aus „Hymnen, Epitaphen und zahlreichen Epigrammen aus unterschiedlichen Anlässen“2 bestehendes Gedichtbuch verfasst. Die kurzen Notizen können uns dabei, obwohl die Gedichtbücher Ildefons’ und Julians nicht mehr erhalten sind,3 einen gewissen Einblick in das Gattungsempfinden der Zeit des Eugenius geben. Während der Libellus carminum des Eugenius in der Werkliste seiner Vita inhaltlich nicht näher charakterisiert wird, wissen wir über Ildefons’ und Julians libri inhaltlich etwas mehr: Ildefons’ Buch war kein reines Gedichtbuch, sondern ein Mischwerk aus Poesie und Prosa; unter den Gedichten fanden sich insbesondere „Epitaphe und […] einige Epigramme“. Diese Aufzählung überrascht insofern, als das Epitaph in heutigen Kategorisierungen der Genres als Untergattung des Epigramms und nicht als eigene Gattung gilt. Dass es neben dem Epigramm eigens erwähnt wird, bezeugt, wie beliebt und bedeutsam das Genre im wisigotischen Spanien war. Auch Isidor führt in seinen Etymologiae uel Origines Epitaph und Epigramm getrennt voneinander auf, auch wenn er durch die Definition als titulus (Epi-
1
Julian von Toledo, elog. Ildeph. 35–37 (CCL 115B,4–5 YARZA URQUIOLA). Felix von Toledo, vita Iul. 9 (CCL 115B,13 YARZA URQUIOLA): Item librum carminum diuersorum, in quo sunt hymni, epitaphia atque de diuersis causis epigrammatum numerosa. 3 Vgl. ALBERTO 2018, 5–8, der Versuche der Identifikation diskutiert und allesamt als fruchtlos widerlegt. 2
102
3 Die Makrostruktur des Libellus
gramm) und titulus mortuorum (Epitaph) der bestehenden Gattungsverwandtschaft Rechnung trägt.4 Mit dem Epitaphion Antoninae gehört zudem eines der hochwertigsten poetischen Erzeugnisse der Zeit zur Gattung der Epitaphe. „Epitaphe und Epigramme“ finden sich auch im liber des Julian, der wiederum eine rein poetische Sammlung war. Für sein Gedichtbuch werden zusätzlich Hymnen als eigene literarische Gattung genannt, während Ildefons seine liturgischen Werke interessanterweise in einem eigenen Buch von „Messen, Hymnen und Predigten“5 gesammelt hat (wie ihm überhaupt die thematische Unterscheidung wichtiger zu sein scheint als die nach Prosa und metrischer Dichtung, die er in einem ‚Misch-Libellus‘ vereint). Damit können wir für Julians Gedichtbuch dieselbe bunte Mischung nicht nur an Gattungen und Themen, sondern auch an religiösen (sogar liturgienahen) und profanen Gedichten annehmen, die für Eugenius’ Libellus charakteristisch ist. Gemeinsam ist allen drei libri bzw. libelli somit das Prinzip der diuersitas. Für die Anthologie des Eugenius lässt sich das nicht nur hinsichtlich der enthaltenen Gattungen, sondern auf allen Ebenen feststellen: Die Gedichte unterscheiden sich in der Länge (zwischen einem und achtzig Versen), dem Metrum, dem Anlass, dem Inhalt und dem Ton; auch wenn Gedichte oft thematisch gruppiert sind und sogar kleine Zyklen bilden können, ist keine inhaltliche Einheit, kein perpetuum argumentum vorhanden,6 das signifikant über die Grenze des einzelnen Gedichtes hinausginge. Damit steht Eugenius’ Libellus in einer guten poetischen Tradition der Sammlung verschiedener kleinerer Gedichte – auch wenn das Ausmaß der inhaltlichen Mischung seinesgleichen sucht; so stehen etwa sachlich ‚informierende‘ Epigramme selten in einer Sammlung mit anderen Gedichttypen.7 Da er seiner Sammlung eine dichterische praefatio voranstellt, ist davon auszugehen, dass er seine Gedichte bereits zu Lebzeiten selbst anordnete und herausgab; inwieweit die heute noch rekonstruierbare Gestalt des Libellus jedoch seiner eigenen Anordnung entspricht, muss fraglich bleiben.8 Sie wäre freilich für die Interpretation der Gedichte hochinteressant: Spätestens durch die Forschung 4 Vgl. Isidor von Sevilla, orig. 1,39,20.22 (79 LINDSAY): Epitaphium Graece, Latine supra tumulum. Est enim titulus mortuorum […]. Epigramma est titulus, quod in Latinum superscriptio interpretatur. 5 Julian von Toledo, elog. Ildeph. 33–34 (CCL 115B,4 YARZA URQUIOLA): Partem sane tertiam missarum esse uoluit, hymnorum atque sermonum. Die Einteilung in vier Werkteile, die dieser Unterscheidung zugrundeliegt, geht nach Julian auf Ildefons eigenen Wunsch zurück: elog. Ildeph. 23 (CCL 115B,4 YARZA URQUIOLA): idem in tot partibus censuit diuidendos. 6 Vgl. die Unterscheidung des Varro in Men. 398 (67 ASTBURY): poema est lexis enrythmos, id est, uerba plura modice in quandam coniecta formam; itaque etiam distichon epigrammation uocant poema. Poesis est perpetuum argumentum ex rhythmis, ut Ilias Homeri et Annalis Enni. 7 Vgl. MONDIN 2016, 220, der hier als Vorläufer nur das Symposium XII sapientum nennt. 8 Vgl. ALBERTO 2018, 12.
3.1 Die Gattungsfrage
103
an den Epigrammen Martials ist uns heute bewusst, dass solcherlei vom Autor vorgenommene Sammlungen von Gelegenheitsgedichten oft keine schlichten, dem chronologischen oder dem Zufallsprinzip folgenden Inventarisierungen darstellen, sondern über eine komplexe und bedachte Komposition verfügen, die das Wahrnehmen von größeren Linien und Einheiten ermöglicht und anregt, ohne dass diese sich den Leserinnen und Lesern aufdrängen (das Gestaltungsprinzip bleibt prima facie die uariatio, also die Abwechslung in Thema, Umfang und Metrum) oder die Autonomie des einzelnen Gedichtes als in sich geschlossenes Kunstwerk beschneiden. 9 Diese Tradition setzt sich erkennbar auch in der Spätantike fort,10 auch wenn in diesem Zeitraum oft Schwierigkeiten der handschriftlichen Überlieferung die Rekonstruktion eines ‚Ganzwerkes‘ schwierig bis unmöglich machen.11 Daneben werden jedoch, gerade durch das Aufkommen autoren- und epochenübergreifender Gedichtsammlungen (etwa die sog. Anthologia Salmasiana, die wohl im vandalischen Nordafrika kompiliert wurde, zu dem das Wisigotenreich enge kulturelle Kontakte pflegte) auch Strukturprinzipien gängig, die sich mehr an thematischer und generischer Ähnlichkeit als am Prinzip der uariatio orientieren.12 Eine solche Neigung zur thematischen Gruppierung ist auch in Eugenius’ Libellus, wie es uns heute vorliegt, erkennbar. Auch der Gattung nach haben die Gedichte eine sehr unterschiedliche Gestalt. Ein Großteil der carmina kann den Epigrammen zugeordnet werden (dieses ist, wie wir sehen werden, selbst ein schwer abzugrenzendes und sehr heterogenes Genre – wenn das Wort überhaupt ein solches bezeichnet),13 doch 9 Vgl. für einen konzisen und aktuellen Überblick über die Gestaltungsprinzipien der Bücher Martials inklusive Hinweisen auf die relevante Forschungsliteratur LORENZ 2019, 522– 527. 10 Vgl. etwa das Beispiel des Luxorius, eines Epigrammdichters des 6. Jahrhunderts aus dem vandalischen Nordafrika, der in diesem Punkt in der Tradition Martials steht; vgl. WASYL 2019, 650–652 sowie, ausführlicher, WASYL 2011, 219–236. In vielen Fällen ist die Forschung gerade erst dabei, diese bewussten Kompositionsstrategien zu entdecken. So plädiert etwa HARICH-SCHWARZBAUER 2009 dafür, die lange als bloß zusammengewürfelt betrachtete Sammlung der carmina minora Claudians als bewusst gestaltete Einheit zu lesen. 11 Vgl. zu den Problemen der Gedichtanordnung des Ausonius KAY 2001,11–12. Bezüglich der Gedichte des Paulinus von Nola plädiert jüngst der Herausgeber Franz Dolveck für eine neue Anordnung der Gedichte des Paulinus, basierend auf einer Edition der Natalicia, die der Dichter womöglich selbst herausgegeben hat, und einer wohl posthum zusammengestellten und veröffentlichten Edition von Carmina Varia; vgl. DOLVECK 2015a, 74–115. 12 Vgl. BREITENBACH 2017, passim zur Strukturierung dieser spätantiken Anthologie, die dort, wo sie keine Ganzwerke eines Dichters wiedergibt, über praefationes und conclusiones strukturiert, oft nach Form und Inhalt anordnet und manchmal auch Gedichte assoziativ, über verwandte Einzelmotive, aneinanderreiht (concatenatio). Ähnliche Strukturprinzipien weist auch Ausonius’ Epigrammbuch auf, von dem wir leider ebensowenig wissen, ob die Strukturierung auf ihn selbst oder auf spätere Herausgeber zurückgeht, vgl. PARKER 2010, 162– 163. 13 Vgl. zu Eugenius als Epigrammatiker v.a. BERNT 1968, 137–146.
104
3 Die Makrostruktur des Libellus
einige Gedichte, vor allem die persönlicher gehaltenen, partizipieren auch an der Gattung der Elegie (etwa carm. 13 und Teile von carm. 14) oder sind lyrischer Natur, wie etwa die sapphischen Gedichte carm. 14b und 101. Es ist dabei nicht immer möglich, das einzelne Gedicht eindeutig einer bestimmten Gattungstradition zuzuordnen. Das wird schon an der einzigen größeren Komposition deutlich, dem polymetrischen carm. 14, das Elemente der Elegie und des Hymnus vereint und eine poetische Oratio enthält. Diese Schwierigkeit berührt natürlich schon die grundsätzliche Frage danach, was die Kategorie der Gattung ‚bedeutet‘: Sie sollte nicht als feststehende Kategorie in einem klaren, a priori geltenden Klassifizierungssystem missverstanden werden (und das, obwohl das Gattungsbewusstsein in der Antike stärker ausgeprägt war als heute!). Literarische Gattungen, ihre Charakteristika und Konventionen sowie die Erwartungen, die Leserinnen und Leser an eine spezifische Gattung hatten, waren schon immer Gegenstand der Entwicklung, Aushandlung, Traditionsbildung und Innovation.14 Eine Gattung ist in gewissem Sinne sogar nur so lange ‚am Leben‘, wie sich Neues, Ungekanntes aus ihr heraus entwickeln kann. Das bedeutet umgekehrt, dass literarische Werke sowohl mehr oder weniger an einem historisch kontingenten ‚Set‘ an Merkmalen einer Gattung partizipieren können (Karla Pollmann bedient sich hier des Wittgensteinschen Ausdrucks „family resemblence“, der Familienähnlichkeit), 15 als auch Merkmale anderer Gattungstraditionen integrieren können. Während diese Einschränkung schon grundsätzlich für die gesamte Antike gilt, kann die Schwierigkeit der Gattungsbestimmung der Carmina des Eugenius besonders vor dem Hintergrund der spätantiken Dichtung nicht allzu sehr überraschen.16 Autoren dieser Zeit verstehen es, sich immer wieder aus bestehenden Beschränkungen der poetischen Gattungen zu befreien, diese aber auch aufzunehmen und schöpferisch-kreativ weiterzuentwickeln. 17 Gerade die christliche Dichtung der Spätantike hat sich in dieser Hinsicht als außerordentlich innovativ erwiesen, was der besonderen Herausforderung an christliche Dichter entspricht, klassische Dichtungstraditionen mit christlichen religiösen Beschränkungen, aber auch christlichem Anspruch zu vereinbaren und zu versöhnen.18 Das Ergebnis ist eine oft zu beobachtende verstärkte Fluidität der
14
Vgl. POLLMANN 2017, 22–23. POLLMANN 2017, 23. 16 Ähnlichen Schwierigkeiten begegnen wir z.B. auch bei Ausonius, vgl. dazu PUCCI 2009, 50. 17 Vgl. dazu v.a. POLLMANN 2017, 19–36, FORMISANO 2007, 282–283 und WASYL 2011, 7. 18 MASTRANGELO 2016, 25–28 definiert drei große Entwicklungsanstöße, die die christliche Dichtung prägten: Den Umgang mit dem Prestige des klassischen Erbes, die Auseinandersetzung mit dem Christentum (und seinen oft poesiekritischen Vertretern) und mit dem allgemeinen Bedeutungsverlust der Poesie ggü. der Prosa. Diese Herausforderungen wirkten 15
3.1 Die Gattungsfrage
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Gattungen. Therese Fuhrer bringt dies auf den Punkt: „The sharpest resistance to a classification in the traditional genre system, or of any genre system, occurs in Christian literary works.“19 Als bedeutendster christlicher ‚Gattungsspieler‘ ist in der Poesie sicherlich Prudentius zu nennen, 20 der als erster christlich-allegorische Epik verfasst 21 und in seine Hymnen Elemente des Dramas, des Epos oder der Elegie einfließen lässt.22 Neben diesen ‚Hybriden‘, die durchaus noch klare Gattungsmerkmale erkennen lassen, sie aber neu kombinieren, verlieren aber auch viele Genera eine zuvor vorhandene typische Konturierung und öffnen sich für Inhalte, die ihnen zuvor fremd waren – hier ist das wohl typischste Beispiel die Elegie, die nur noch selten die Form der römischen Liebeselegie annimmt und auch nicht mehr an die Klage gebunden scheint: Das elegische Distichon wird zum „Vielzweckmetrum“.23 Das Problem der Integration von klassischem Erbe und christlicher Religion scheint bei Eugenius, der sich auf eine bereits stattliche Reihe an Vorbildern berufen kann und auch innerhalb seines eigenen kulturellen Umfelds in einer (auch durch ihn selbst beförderten) Tradition bischöflichen Dichtens steht, freilich nicht mehr virulent: Seine dichterische praefatio zum Libellus wendet sich nicht an den religiösen Kritiker oder den poetischen Traditionalisten, sondern an den Neider, der sich selbst wünscht, ein großer Dichter zu sein. Die für die spätantiken christlichen Dichter typische Freiheit im Umgang mit den Formen der Dichtung bewahrt er sich jedoch, zumal sein primäres Genre, das Epigramm, bereits von vornherein einen höheren Grad an Fluidität aufweist als andere Gattungen, wie wir sehen werden. Daher scheint es wenig zielführend, hier einen vollständigen Überblick über alle für Eugenius relevanten Gattungen und Gattungstraditionen zu geben. (Dies ist im Rahmen der Detailanalysen für den einzelnen Fall sinnvoller zu leisten). Stattdessen sollen die metapoetischen, gattungsrelevanten Aussagen, gerade auf die Fortentwicklung der christlichen Genres prägend; vgl. LEFTERATOU/HADJIT2020, 3–4. Vgl. für die Entwicklung der christlichen Haltung zur Poesie EVENEPOEL 2016 und für eine Analyse poetologischer Aussagen christlicher Dichter GÄRTNER 2004. 19 FUHRER 2013, 80, mit einem Überblick über christliche ‚Gattungsneuerungen‘ der Spätantike. 20 Vgl. zu Prudentius’ Spiel mit Gattungstraditionen schon LUDWIG 1977, passim. Während seine Theorie, das Gesamtwerk des Prudentius sei eine Art christliches „Supergedicht“ (a.a.O., 304), das systematisch jeder paganen Gattung ein christliches Pendant gegenüberstelle, auf Skepsis gestoßen ist, gilt seine grundsätzliche Beobachtung heute als Konsens, vgl. TSARTSIDIS 2020, 2. 21 Vgl. dazu schon FONTAINE 1975 und in Bezug auf die Hamartigenia DYKES 2011, 174–224. 22 Vgl. zum Romanus-Hymnus (perist. 10) als christlichem „Lesedrama“ LUDWIG 1977, 336, FUX 2005, 90–91 und TSARTSIDIS 2016, 67–72. Vgl. zu epischen Elementen O’HOGAN 2016, 41–48 und zur elegischen puella in perist. 14 TSARTSIDIS 2020, 8–16. 23 ROBERTS 2010, 98: „multi-purpose meter“.
TOFI
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die Eugenius selbst in seinen Gedichten trifft, erläutert und auf ihre Anbindung an die poetische Tradition hin untersucht werden. Dadurch gewinnen wir, wie sich zeigen wird, auch bereits erste wichtige Erkenntnisse in Bezug auf sein Selbstverständnis als Dichter. 3.1.2 Nugae – Die poetische Kleinform Poetologische Aussagen zur Gattung sind im Libellus carminum überschaubar. In der dichterischen praefatio bezeichnet Eugenius seine Gedichte als nugae,24 Kleinigkeiten und poetische Spielereien, die den eifersüchtigen Blick des Neiders, der in der praefatio angesprochen ist, nicht verdienen. Mit dieser Bezeichnung seiner Gedichte reiht sich Eugenius zunächst in die dichterische Tradition der leichten poetischen Kleinform im Gegensatz zur epischen Großform ein:25 Wir finden den Ausdruck nugae ebenso bei Catull, dem Neoteriker und Begründer der lateinischen lyrischen und epigrammatischen Tradition, sowie vielen seiner Nachfolger und Epigonen, insbesondere bei Martial.26 Das Selbstbewusstsein der Neoteriker, kleine, aber umso sorgfältiger ‚polierte‘ und ausgefeilte Gedichte zu schreiben, macht sich Eugenius hingegen nicht zu eigen, im Gegenteil:27 Er wertet seine Dichtung als rustica uerba ab – als roh und ungeschlacht, obwohl geschliffene Eleganz, wie wir aus seinem Brief an Chindasuinth wissen, das für ihn selbstverständlich gültige Stilideal ist.28 Ein ähnliches Vorgehen kennen wir aus Ausonius’ dichterischer praefatio zu seinen Eklogen, der Catulls berühmtes carm. 1, einen poetologischen Grundlagentext des neoterischen Stilideals, ins Negative kehrt und sich die rhetorische Frage stellt, wem er seinen illepidum rudem libellum29 widmen solle. Das neoterische ‚Buzzword‘ nugae macht sich Ausonius dagegen positiv zu eigen, baut es aber
24 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. praef. 11 (CCL 114,204 ALBERTO): At tu, qui nostras tranquillo pectore nugas / perlegis et blande rustica uerba foues. 25 Vgl. MATTIACI 2013, 51 Anm. 26: „À partir de Catulle, qui ne l’utilise cependant qu’une foi (1, 4), nugae devient le terme officiel pour indiquer la poésie légère.“ 26 Vgl. z.B. Catull, carm. 1,4 (2 BARDON) und im Anschluss an diesen Ausonius, praef. var. 4,7 (5 GREEN); Martial, epigr. 4,10,4; 4,84,4; 6,64,1; 10,18,4 (118; 145; 198; 322 SHACKLETON BAILEY), um nur die prominentesten Stellen zu nennen, sowie Ausonius, ep. 3,10 (216 GREEN). Vgl. für einen kurzen Überblick zum Anknüpfen spätantiker Dichter an neoterisch geprägte Genres WASYL 2011, 7–10. 27 Vgl. ALBERTO 2002a, 252. 28 Vgl. Eugenius von Toledo, ep. Chind. 8–11 (CCL 114,325 ALBERTO), wo Eugenius dem Chindasuinth beschreibt, welche Verse er aus dem Dracontius-Werk kürzt: die et sensu tepidi et uerbis illepidi et nulla […] ratione subnixi. Gerade illepidus/lepidus ist ein neoterisches Stichwort, das auch in Catulls zentralem carm. 1,1 (2 BARDON) vorkommt. 29 Ausonius, praef. var. 4,7 (5 GREEN), das, obwohl durch den Herausgeber Roger Green von diesem Werk abgetrennt, eine Praefatio zu Ausonius’ Eklogen darstellt. Der Bezug zu Catulls carm. 1,1 (2 BARDON): Cui dono lepidum nouum libellum? ist evident; vgl. SOWERS 2016, 513–514 und für eine ausführliche Analyse MATTIACI 2013, 49–51.
3.1 Die Gattungsfrage
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ebenfalls in seine Bescheidenheitstopik ein: trepidae silete nugae.30 Die ostentative Bescheidenheit charakterisiert insbesondere auch spätantike Dichter, die sich explizit als christlich verstehen und damit an die Wertschätzung sprachlicher Einfachheit anknüpfen, die christliche Apologeten den biblischen Schriften entgegenbringen. 31 So bezeichnet sich etwa Prudentius selbst als poeta rusticus.32 Aufschlussreich ist darüber hinaus der Vergleich zur zweiten dichterischen praefatio, die Eugenius zu seiner Überarbeitung des Dracontius-Werkes verfasst, das sicherlich als Vertreter der poetischen Großform gelten kann: Hier erscheint das Stichwort nugae erneut – jedoch in einem ganz anderen Kontext als in der praefatio zu seinen eigenen Gedichten: Eugenius rühmt sich hier gerade, die Verse des Dracontius von den nugae befreit zu haben (nugarum mole piaui).33 Wie David Ungvary darlegt, beschreibt Eugenius seinen Überarbeitungsvorgang in der Dracontius-praefatio in einer Bildsprache von Schmutz und Befleckung, Reinigung und Sühne, die an den spirituellen Bußprozess erinnert.34 Will man vor diesem Hintergrund die nugae als überflüssige Nichtigkeiten, die man aus einem ernsthaften literarischen Werk streichen müsste, und vielleicht sogar – in einem natürlich metaphorischen Sinne – als ‚literarische Sünden‘ begreifen, ist Eugenius’ Understatement kaum noch zu überbieten: Während Dracontius’ Werk eine Substanz aufweist, die nur von solchen kleinen Fehlern bereinigt werden müsse, bestehe sein eigenes ausschließlich aus solchen Fehlern. Damit liegt Eugenius jedoch ganz auf einer Linie mit einer in der Spätantike häufig anzutreffenden Dichtungshaltung: Die eigene Positionierung gegenüber den literarischen Vorgängern geschieht nicht im Modus der wetteifernden aemulatio, sondern in einem bescheidenen Zurücktreten hinter die großen Vorbilder, wodurch sich Dichter freilich auf ihre Weise ebenso in eine Tradition einreihen und die Leserinnen und Leser zum Vergleich einladen, wie dies selbstbewusstere aemulatores tun.35 Auch Eugenius’ Understatement werden aufmerksame Leserinnen und Leser beider Werke spätestens bei der Lektüre des carm. 4 als solches erkennen, wenn er exakt den Beginn ‚seiner‘ Dracontius-Überarbeitung, bestehend in einer 20-fachen anaphorischen 30
Ausonius, praef. var. 4,7 (5 GREEN). Vgl. dazu ALBERTO 2002a, 252. So verteidigt etwa Hieronymus die sprachliche Einfachheit der Bibel gegen Kritiker, die ihr den literarischen Wert abzusprechen versuchen, mit dem Hinweis auf den Zweck dieser Einfachheit: ut rusticam contionem facilius instruerent et in una eademque sententia aliter doctus, aliter audiret indoctus (epist. 53,10 [CSEL 2 54,463 HILBERG]). 32 Vgl. Prudentius, perist. 2,574 (CCL 126,277 CUNNINGHAM): audi poetam rusticum. 33 Eugenius von Toledo, Drac. praef. 25 (CCL 114,328 ALBERTO). 34 Vgl. UNGVARY 2018b, 303–304. 35 Vgl. WASYL 2011, 9: „The poets of late antiquity hardly if ever acknowledge that their intention is to emulate the masters of old. Much more typical of them is the attitude described by Curtius as affektierte Bescheidenheit.“ 31
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Wiederholung des Wortes lux, mit der fast ebenso häufigen Wiederholung des Wortes pax nachahmt – Eugenius zeigt also, dass er im Kleinen dasselbe poetische Spiel zu spielen in der Lage ist wie Dracontius im Großen.36 3.1.3 Epigramma – ein heterogenes Genre Besonders die kurzen, meist nur ein Distichon umfassenden Gedichte des zweiten Teils des Libellus carminum lassen sich am treffendsten als Epigramme charakterisieren. Dies bestätigt Eugenius, der den Begriff im Libellus selbst nie verwendet, übrigens in der dichterischen praefatio zur Dracontius-Rezension: At si de plebe quisquam liuore perustus dixerit: „iste quis est ueterum qui carmina mutat inscribitque leuis epigrammata uana libellis?“37 Wenn jedoch einer vom Volk, verätzt durch den Neid, sagen mag: „Wer ist der Windbeutel, der die Lieder der Alten verändert, und nichtsnutzige Epigramme in die Büchlein schreibt?“
Diese Aussage ergibt zunächst auch ohne Bezug zum Libellus carminum Sinn: Schließlich ändert Eugenius das Dracontius-Werk eben nicht nur ab, sondern fügt sowohl am Anfang die dichterische Praefatio (die als ‚Buchaufschrift‘ aufgefasst werden kann) als auch am Ende seine eigenen Monosticha hinzu, die eine Rekapitulation der sechs Schöpfungstage und eine Ergänzung des siebten Schöpfungstages beinhalten.38 Ein Bezug zum Libellus ist jedoch rein faktisch dadurch gegeben, dass die ersten sieben Verse der Monosticha mit dem carm. 37 des Libellus carminum identisch sind, das die sieben Schöpfungstage merkversartig auflistet. Im Widmungsbrief an Chindasuinth gesteht Eugenius dieses ‚Gedicht-Recycling‘ auch unumwunden ein: „Daher habe ich am Ende des Büchleins, wenn auch in holp-
36 Vgl. Eugenius von Toledo, Drac. laud. dei 1–12 (CCL 114,331 ALBERTO) = Dracontius, laud. dei 1,118–129 (156 MOUSSY/CAMUS): Lux datur ante polum, lux clari causa diei, / lux iubar aethereum, lux noctis limes et umbris, / lux facies rebus cunctis et lux elementis […]. Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 4 (CCL 114,210 ALBERTO): Pax animae uita, pax uirtus paxque medella, / pax ordo rerum, pax bonitatis amor. / Pax fessis requies, pax denique certa laboris […]. 37 Eugenius von Toledo, Drac. praef. 13–15 (CCL 114,327 ALBERTO). 38 MONDIN 2008, 463 stellt die Frage, was unter den epigrammata genau gemeint sein könnte: Nur die Praefatio oder nur die Monosticha am Ende, oder beides? Letzteres erscheint mir am plausibelsten. Wie Luca Mondin selbst bemerkt, liegt die entscheidende Aussage in der klaren Unterscheidung zwischen dem Haupttext des Autors und dem durch Eugenius verfassten ‚Peri-Text‘ („peri-testo“; ebd.); d.h. spätestens bei der Ganzlektüre der Dracontius-Rezension und damit auch der Monosticha werden die Leserinnen und Leser epigrammata auch auf letztere beziehen, zumal sie im Unterschied zur Praefatio bereits im Widmungsbrief an Chindasuinth explizit erwähnt werden.
3.1 Die Gattungsfrage
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riger Sprache (pedestri sermone), eine Wiederholung der sechs Tage in einzelnen Verslein angefügt, die ich einst verfasst hatte (quos olim condidi).“39 Zumindest das carm. 37 zählte Eugenius also zu den Epigrammen. Doch auch darüber hinaus liegt die Interpretation nahe, dass Eugenius sich in oben zitierter praefatio nicht nur als der Dichter dieser konkreten epigrammata uana am Ende seiner Dracontius-Überarbeitung vorstellt, sondern allgemein als Epigramm-Dichter: Die praefatio zum Dracontius-Werk teilt mit der praefatio zu den Gedichten die Figur des fiktiven Neiders, der auftritt und das Werk des Eugenius schlechtreden möchte. Leserinnen und Leser beider Werke, die die Anspielung bemerken, werden in der Dracontius-praefatio hier eine zusätzliche Bedeutungsschicht erkennen: ‚Wer ist der Windbeutel, dessen nichtsnutzige Epigramme ich (sc. der Neider) schon kenne, und der sich nun auch noch an den ehrwürdigen Liedern der Alten vergreift?‘ – zumal die Leserinnen und Leser entweder den Chindasuinth-Brief nicht gelesen haben und so die Monosticha noch gar nicht erwarten können oder dort ebenfalls den Bezug zu seinen früheren Dichtungen (quos olim condidi) bemerkt haben dürften. Was bedeutet diese ‚Gattungszuschreibung‘, die Eugenius also zumindest für einen Teil seiner Carmina, vielleicht sogar für das gesamte Gedichtbuch, vorgenommen hat? Epigramma ist ein schillernder literaturtheoretischer Begriff, dessen Definition auch der heutigen literarhistorischen Forschung (in der Eugenius übrigens oft als Gattungsvertreter übersehen wird)40 keine geringen Schwierigkeiten bereitet. So stellt Mario Citroni fest: The diversity of the traditions and formal typologies that converge in the genre makes it impossible to reach a unitary definition. Overly broad definitions fail to characterize it, while distinguishing ones cover only part of the production traditionally recognized as falling within the genre.41
Wenn im Folgenden einige Charakteristika des Genres (die immer eine Kannund nie eine Soll-Bestimmung des Epigramms darstellen) beispielhaft beschrieben werden, ist damit keine Vollständigkeit angestrebt, sondern es sollen 39 Eugenius von Toledo, ep. Chind. 14–16 (CCL 114,325 ALBERTO): Idcirco in fine libelli, quamuis pedestri sermone, sex dierum recapitulationem singulis uersiculis, quos olim condidi, renotaui. 40 Als Epigrammatiker wahrgenommen wird Eugenius v.a. von BERNT 1968, 137–146, der durch seinen Fokus auf die Übergangszeit von Spätantike und Frühmittelalter für unser Thema nach wie vor ein wichtiger Ausgangspunkt bleibt, und in der neueren Literatur von MONDIN 2008, 460–463. Abwesend ist Eugenius dagegen im für die Erfassung der gesamten Gattungsgeschichte Maßstäbe setzenden Sammelband von HENRIKSÉN 2019, in dem die antike epigrammatische Tradition im vandalischen Afrika des 6. Jahrhunderts (mit dem Hauptvertreter Luxorius) endet; vgl. den Beitrag von WASYL 2019. Bei der Darstellung des ‚Nachlebens‘ der Gattung geht HOWELL 2019, 667 lediglich auf Isidor von Sevilla als Kenner Martials ein, übergeht aber sowohl dessen eigene Epigramme als auch die immerhin für drei Bischöfe belegte epigrammatische Tradition Toledos. 41 CITRONI 2019, 39.
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3 Die Makrostruktur des Libellus
allein diejenigen ‚Fäden‘ des bunten Gewebes, das die Gattung Epigramm darstellt, hervorgehoben werden, an die Eugenius mit seinen Carmina anknüpft. Dadurch entsteht freilich bereits ein guter Eindruck von der Vielfalt des Genres, da Eugenius keine partikulare Tradition des Epigramms aufnimmt, sondern die Gattung durchaus in ihrer Breite rezipiert und fortführt: Die Vielfalt hat er [der Gattung] gelassen, ja er hat sie um das Prospersche Epigramm vermehrt. Daß die Gattung bei Eugenius den alten Charakter zeigt, dürfte nicht durch Imitation eines einzelnen Dichters zustandegekommen sein sondern durch Vertrautheit mit der lebendigen literaritschen Tradition.42
a) Epigramma als Oberbegriff für poetische Kleinformen jeder Art Im Unterschied etwa zum Epos bleibt das Genre des Epigramms über seine gesamte antike und spätantike Geschichte hinweg wenig definiert. 43 Mehr noch: Von vielen antiken Literaturtheoretikern wird es offenbar nicht einmal als eigenständiges Genre wahrgenommen. Weder in Horaz’ Ars poetica noch in Quintilians Aufstellung der Gattungen im 10. Buch seiner Institutiones erscheint es.44 Es überrascht dabei kaum, dass die Antike sich über das Epigramm in weiten Teilen wenig Gedanken machte. Schließlich wurde derlei Kleinpoesie mehr als das Privatvergnügen der Oberschicht denn als ernstzunehmende Literatur (über deren Gravität sich die nugae-Dichter immer wieder lustig machten) betrachtet – obwohl sie überaus beliebt war.45 Alltäglichere antike Äußerungen über das Epigramm zeugen daher von einer erstaunlichen begrifflichen Unschärfe. Das zeigt z.B. ein Brief des jüngeren Plinius (übrigens ein Freund Martials, des Epigrammdichters schlechthin), in dem er mit seinem Korrespondenzpartner den Titel einer Sammlung seiner Gedichte – kleiner Gelegenheitsgedichte, die er als ineptiae und nugae bezeichnet – diskutiert und dabei als Möglichkeiten hendecasyllabi (nach der Metrik), epigrammata, idyllia, eclogae und schließlich poematia vorschlägt.46 Hier scheint das Epigramm ein Synonym für Gelegenheitsgedichte und literarische Spielereien jeder Art zu sein, die nicht näher nach Inhalt, Gattung und Metrik unterschieden werden – anders als im griechischen Raum, in dem das Epigramm die mehr oder weniger feste Gestalt des Kurzgedichts im elegischen Distichon angenommen hatte.47
42
BERNT 1968, 142. Vgl. CITRONI 2019, 21–22. 44 Vgl. MONDIN 2008, 397 und PUELMA 1996, 131. 45 Vgl. PUELMA 1996, 136. 46 Vgl. Plinius der Jüngere, epist. 4,14,8–9 (123–124 SCHUSTER). Vgl. dazu PUELMA 1996, 136. 47 Vgl. für eine Auswertung der Aussagen des Plinius’ zum Epigramm und deren Einordnung in die Literaturgeschichte CITRONI 2004, 14. 43
3.1 Die Gattungsfrage
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Ein Grund für diese große metrische Diversität des lateinischen Epigramms – verstanden im Sinne des Plinius und wohl weiterer neoterischer Zirkel, für die epigramma nur ein möglicher Begriff unter vielen war – dürfte gewesen sein, dass als Begründer der dortigen Tradition Catull galt, dessen libellus polymetrisch war und neben dem elegischen Distichon Jamben, aber auch primär lyrische Metren wie die sapphische Strophe und den Hendekasyllabus enthielt, der neben dem elegischen Distichon einer der beliebtesten Versmaße Martials werden sollte. Noch auffälliger wird Catulls Abweichung von der griechischen Gestalt der Gattung auf der Ebene einzelner Gedichte, wo er nicht selten ein konkretes griechisches Epigramm ins Lateinische überträgt, aber nicht das elegische Distichon als Metrum beibehält, sondern etwa den Hendekasyllabus verwendet.48 Auch vom Stil und Inhalt her erscheinen seine Gedichte sehr divers, weshalb man sich heute gerade angesichts der metrisch wie inhaltlich eher lyrisch anmutenden Gedichte schwertut, Catull als Epigrammatiker zu definieren (was freilich aufgrund der unklaren Kontur der Gattung insbesondere vor, aber auch nach Martial zudem methodisch problematisch wäre).49 Erst Martial scheint sich in den metapoetischen Äußerungen seiner Epigrammbücher explizit darum zu bemühen, das Profil des Epigramms zu schärfen. 50 Dieses unterscheidet sich in manchem, besonders dem polemischen Spott, deutlich von den Gedichten Catulls, auch wenn Martial ihn in seinen Epigrammen zum Archipoeten der Gattung stilisiert (der nun einmal notwendig ist, damit eine Gattung als solche gelten kann).51 Was er übernimmt, ist die größere metrische Freiheit, die Catull dem griechischen Epigramm gegenüber in seinen Gedichten an den Tag legte: Martials Epigramme sind zwar großteils wie das griechische Epigramm im elegischen Distichon verfasst, aber enthalten 48
Vgl. zur Gattungsfrage der Gedichte Catulls FUHRER 1994, passim, die diese Freiheiten Catulls aus den spezifischen literarischen Einflüssen, v.a. der alexandrinischen Dichter, herleitet. Oft werden nach dem rein metrischen Kriterium nur der dritte Teil von Catulls libellus, die carm. 69–116, als Epigramme betrachtet, vgl. dafür HARTZ 2007, 54. Zumindest Plinius und Martial sehen freilich das metrische Kriterium nicht als ausschlaggebend – natürlich in Rezeption Catulls, was nichts über Catulls Selbstverständnis oder die Gattungskonventionen seiner Zeit sagt. Catull selbst verwendet den Begriff Epigramm nicht. 49 Vgl. dazu MINDT 2013, 136–137. 50 Vgl. PUELMA 1996, 137–138: „Ziel dieses intensiven Bemühens um den Einbau seiner Epigrammdichtung in ein verbindliches künstlerisches Regelsystem war es, den Typus der bislang sozusagen ‚gattungslosen‘, als blosse nugae, ludus, ioci unterbewerteten ‚Kleinkunst‘ catullischer Art aufzuwerten und ihm unter dem Fachbegriff epigrammata einen vollgültigen Platz im Kanon der anerkannten poetischen Gattungen, ja in herausforderndem Wettbewerb mit den höchsten von ihnen, Epos und Tragödie, zu verschaffen.“ 51 MINDT 2013, 134–160 analysiert ausführlich Martials Rezeption des Catull, die sich nicht nur auf die im martialischen Sinne epigrammatischen Gedichte Catulls beschränkt, sondern auch die eher lyrischen und elegischen Stücke mit einbezieht. Diese werden in Martials Epigrammen jedoch transformiert und sozusagen einer Relecture unterzogen, die Nina Mindt (a.a.O., 160) als „vereindeutigende Epigrammatisierung“ bezeichnet.
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3 Die Makrostruktur des Libellus
auch z.B. reine Hexameter, Hendekasyllaben und Jamben. Ihre Verteilung über Martials Gedichtbücher verrät jedoch eine rigide, restringierte Anwendung dieser Metren.52 Obwohl Martial für das Gesicht der Gattung in manchem prägend war, konnte sich freilich seine Eingrenzung des Begriffs Epigramm auf eine eng umschriebene literarische Gattung nicht allgemein durchsetzen, sondern Dichter wie Ausonius und Claudian knüpften wieder an die wenig reglementierte Kleinpoetik an, die Plinius bezeugt.53 Gerade im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter bedeutete epigramma zumeist einfach wieder die poetische Kleinform.54 Interessant ist hier zudem die Art und Weise, wie z.B. Sidonius Apollinaris und Avitus von Vienne, zwei gallische Dichter des 5. Jahrhunderts, den Begriff verwenden: Nach seinem 235 Verse umfassenden carm. 22 (eine poetische Villenbeschreibung) entschuldigt sich Sidonius dafür, er habe die erforderliche epigrammatis paucitas missachtet. 55 In der Tat lassen 235 Verse nicht mehr an die poetische Kleinform denken; trotz dieser Länge war für Sidonius die Bezeichnung seines Gedichtes als Epigramm aber offenkundig grundsätzlich denkbar. In seinem Fall erscheint dies noch thematisch gerechtfertigt: Gegenstandsbeschreibungen, wie hier einer Villa, sind durchaus eine typische Domäne des Epigramms. Noch unverständlicher wird diese Bezeichnung aber in einem Brief des Avitus: Dieser beharrt gegen seinen Bruder, der seinem 666 Verse langen Gedicht de uirginitate den Status des Epigramms (nach antiken Maßstäben zu Recht) absprechen und es eher als liber bezeichnen möchte, auf der Bezeichnung als Epigramm.56 Dass sich der Bruder des Avitus nicht am (im Sinne Martials) wenig epigrammatischen Thema der Jungfräulichkeit, sondern an der Länge stört (das Gegenstück zu epigramma ist für ihn liber), erinnert uns wiederum an Plinius, für den epigramma mit anderen Begriffen für kurze Gedichte austauschbar war. Die Art und Weise, wie Avitus widerspricht, legt dagegen nahe, dass epigramma für ihn als zum Ausdruck der Bescheidenheit gewählter Begriff analog zu den nugae diente, und weniger zur präzisen Erfassung der Gattung.57 Man fühlt sich darin durchaus an die pejorative Wendung epigrammata uana in Eugenius’ Dracontius-praefatio erinnert.
52
Vgl. CITRONI 2004, 16–17. Vgl. CITRONI 2004, 30. 54 Vgl. BREITENBACH 2017, 367. 55 Sidonius Apollinaris, epist. (carm. 22),6 (MGH.AA 8,250 LÜTJOHANN): si quis autem carmen prolixius eatenus duxerit esse culpandum, quod epigrammatis excesserit paucitatem, istum liquido patet neque balneas Etrusci […] neque Papinii nostri silvulis lectitasse. 56 Avitus von Vienne, carm. 6 prol. (MGH.AA 6,2,274 PEIPER): Quos tamen cum ego post denuntiatum poematis finem epigramma rectius dicerem, tu primum libri nomine vocitasti. 57 Vgl. LAUSBERG 1982, 58. 53
3.1 Die Gattungsfrage
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Insofern der Begriff epigramma also – trotz aller Versuche der Vereinheitlichung – begrifflich nie letztgültig auf eine bestimmte Art von Gedicht festgelegt wurde, lässt sich nicht ausschließen, dass Eugenius gewissermaßen seinen gesamten Libellus (auch die längeren und persönlicher gehaltenen Gedichte am Anfang des Buches) als Epigrammbuch in oben beschriebenem weiten Sinne empfand – der von ihm selbst gewählte Ausdruck nugae knüpft deutlich an die Selbststilisierung der Epigrammatik an.58 In diesem Fall wäre Eugenius’ Epigrammbegriff freilich nichts Anderes als das, was Ildefons mit dem Ausdruck diuersi carminis ausdrückte, also eine Mixtur aus unterschiedlichsten Kleindichtungen im Unterschied zu einem durchkomponierten magnum opus. Zumindest im Falle Julians von Toledo scheinen in seinem vergleichbaren Gedichtbuch allerdings die Hymnen und sogar die Epitaphe – vielleicht als religiös geprägte Formen – eigens hervorgehoben worden zu sein und nicht in der Masse der ‚Epigramme‘ (im weitesten Sinn) aufzugehen. Einige Gedichte im Libellus carminum fügen sich jedoch auch in eine enger gefasste epigrammatische Tradition. b) Das Epigramm als reale oder fiktive Aufschrift Einen Willen zur Präzisierung dieses so schwammigen Begriffs zeigt Isidor von Sevilla in seinen Etymologiae uel Origines. Gemäß seiner gewohnten etymologischen Methode definiert er die Gattung streng der Wortherkunft nach als titulus, also als dichterische Auf- oder Überschrift auf Gegenständen.59 Der weitere Kontext dieser Kurzdefinition überrascht jedoch: Der Definition von epigramma geht eine Abgrenzung unterschiedlicher poetischer Begriffe voraus, die sich nach der Länge der Dichtung unterscheiden: Poesis dicitur Graeco nomine opus multorum librorum, poema unius, idyllion paucorum versuum, distichon duorum, monostichon unius.60 Als ‚Poesie‘ wird mit griechischem Namen ein Werk bezeichnet, das aus vielen Büchern besteht, als ‚Poem‘ eines, das aus einem Buch, als ‚Idyll‘ eines, das aus wenigen Versen, als ‚Distichon‘ eines, das aus zwei Versen, und als ‚Monostichon‘ eines, das aus einem Vers besteht.
Dieser Einschub wirkt innerhalb einer Aufzählung von poetischen Genera – es steht zwischen dem Epitaph, das als titulus mortuorum61 eigentlich eine Unter-
58
Vgl. zur Bescheidenheitstopik in der Epigrammdichtung CITRONI 2019, 40. Isidor von Sevilla, orig. 1,39,22 (79 LINDSAY): Epigramma est titulus, quod in Latinum superscriptio interpretatur; ĠŤ enim super, ñúĄööë littera uel scriptio dicitur. 60 Isidor von Sevilla, orig. 1,39,21 (79 LINDSAY). 61 Isidor von Sevilla, orig. 1,29,20 (79 LINDSAY). Überhaupt scheint das Epitaph ein im wisigotischen Spanien so beliebter Sonderfall des Epigramms zu sein, dass es häufig eigens aufgeführt wird, so etwa in der Inhaltsbeschreibung eines verlorenen Poesie-Libellus des 59
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3 Die Makrostruktur des Libellus
gattung des Epigramms ist, und dem Epigramm selbst – merkwürdig deplatziert. Er wird jedoch verständlich als Abgrenzung und Präzisierung: Für die Angabe der Länge oder Kürze einer Dichtung (wofür der Begriff Epigramm, wie wir gesehen haben, gerne verwendet wird) sind nach Isidor andere poetologische Begriffe einschlägig. Nicht jedes ‚irgendwie kurze‘ Gedicht ist ein Epigramm, sondern diese Bezeichnung ist nach Isidor rein für den Spezialfall der Aufschrift reserviert.62 Isidor selbst hält sich in der Abfassung seiner Bibliotheks-tituli übrigens strikt an diese seine Festlegung und mischt keine andersartigen Gedichte bei.63 Die Herkunft der Vorstellung vom Epigramm als Aufschrift lässt sich nicht nur etymologisch, sondern auch historisch erklären: Der Begriff epigramma ist zuerst als terminus technicus für die monumentale metrische Inschrift ins Lateinische übergegangen, während der Begriff im Griechischen schon lange ein weiteres Bedeutungsfeld aufwies. 64 Zwar dürfte auch das griechische ĠŤñúëööë die von Isidor beschriebenen epigraphischen Anfänge gehabt haben, aber sich in der verfeinerten poetischen Kunst bald von seiner Bindung an ein Objekt, dem es aufgeschrieben ist, gelöst haben und dabei zunächst offen für fiktive, nur vorgestellte und durch das Gedicht selbst evozierte Gegenstände geworden zu sein, um dann schließlich für beinahe alle Themen empfänglich zu werden. 65 Marion Lausberg zählt etwa als häufig anzutreffende Epigrammtypen Grabepigramme, Weih- und Ehrenepigramme, Epigramme auf Örtlichkeiten, Bildepigramme, Epigramme auf Persönlichkeiten aus Mythos, Geschichte und Literatur, erotische und sympotische Epigramme, Epigramme zu Geschenken und Gegenständen, Rätsel und Orakel, Epigramme zu verschiedenen Begebenheiten, Graffiti und Verwandtes, Spottepigramme und
Julian in Felix von Toledo, vita Iul. 9 (CCL 115B,13 YARZA URQUIOLA): Item librum carminum diuersorum, in quo sunt hymni, epitaphia atque de diuersis causis epigrammatum numerosa. 62 Vgl. zu dieser Interpretation MONDIN 2008, 464–466. 63 Vgl. FONTAINE 1959, 172–173. 64 Vgl. PUELMA 1996, 132–133. 65 Vgl. CITRONI 2019, 26–28. Die Gründe für die Öffnung für Themen, die mit der Inschrift augenscheinlich nichts mehr zu tun haben, sowie das sich daraus ergebende Problem der Abgrenzung zu anderen Genera wie dem Jambus und den lyrischen Formen, aber vor allem auch der Elegie, mit dem das Epigramm bald das Metrum und im Falle der Grabgedichte oft auch das Thema teilte, stellt bis heute ein nicht schlussendlich geklärtes Problem dar: Citroni vermutet eine gegenseitige Beeinflussung dieser Gattungen zu einem Zeitpunkt (dem 5.–3. Jahrhundert v. Chr.), als sowohl das Epigramm nicht nur Gebrauchsliteratur blieb, sondern auch Genussliteratur wurde und so in die mündliche literarische Kultur (etwa bei Symposien) Einzug hielt, als auch umgekehrt die vormals mündlichen Genres in die vormals dem Epigramm vorbehaltene Schriftkultur eingingen; vgl. a.a.O., 27–28.
3.1 Die Gattungsfrage
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gnomische Epigramme auf.66 Faktisch hat sich „das die Titulus-Funktion vernachlässigende Epigramm“ 67 also sowohl im griechisch- als auch im lateinischsprachigen Bereich einen gleichwertigen Platz neben dem Titulus erstritten, diesen aber nie verdrängt. Eugenius scheint in der Dracontius-Praefatio beinahe mit der isidorischen (und literarhistorischen) Definition des Epigramms zu spielen, wenn er betont, dass er den Büchern des Dracontius seine eigenen epigrammata uana „einschreibt“ (inscribit).68 Strenggenommen gehen sowohl die Praefatio als Buchtitelei 69 als auch die zusammenfassenden und fortführenden Monosticha als ‚epigraphischer Zusatz‘ zu einem Gegenstand (hier: das Werk des Dracontius) durch. Gerade die Monosticha zeigen jedoch auch, wie weit sich der Begriff der Aufschrift dehnen lässt. Schließlich könnten sie auch ohne Weiteres unabhängig vom Dracontius-Werk stehen und wären trotzdem in sich verständlich. Andererseits wäre das ursprüngliche carm. 37, wie es in Eugenius’ Gedichtsammlung steht, auch als titulus zum Buch Genesis oder einer entsprechenden bildlichen Darstellung vorstellbar. Ähnlich wird auch für Prudentius’ Dittochaeon, eine Reihe von 48 Epigrammen zu biblischen Themen des Alten und Neuen Testaments diskutiert, ob sie dazu gedacht waren, als Bild-tituli die Wände einer Kirche zu schmücken, eine Praxis, über die wir durch Sidonius Apollinaris informiert sind, auch wenn derlei Inschriften kaum erhalten sind.70 Freilich sind sowohl Prudentius’ Gedichte als auch das carm. 37 im Rahmen des Libellus auch einfach als poetische Adaptionen biblischer Themen, unabhängig von einem konkreten Gegenstand, rezipierbar. Dennoch führt Isidors Definition, will man sie im Sinne eines Ausschlusskriteriums verwenden, schnell in die Aporie, wenn man etwa die Spottepigramme Martials betrachtet. Aber auch bei Epigrammen, die eine Lesart als Aufschrift zulassen oder sogar nahelegen, ist das Kriterium der Inschriftlichkeit heute und schon damals (sofern das Epigramm nicht über den Trägergegenstand rezipiert wurde, sondern über eine Gedichtsammlung) letztlich nicht überprüfbar, da es sich nicht um ein inhaltliches Kriterium handelt,71 wie bereits das Beispiel des carm. 37 zeigte. Zwar geben sich vom griechischen Hellenismus bis zur lateinischen Spätantike einige Epigramme explizit als Aufschrift zu erkennen, d.h., sie konstruieren eine Rezeptionssituation, in der die Leserinnen und Leser den vorgestellen Gegenstand betrachten oder sich am 66
Vgl. LAUSBERG 1982, 7–8. MAAZ 1992, 3. 68 Vgl. MONDIN 2008, 463. 69 Vgl. auch Taios Bezeichnung epigramma subsequentis operis für das einleitende Gedicht seiner Sententiae; vgl. dazu AGUILAR MIQUEL 2018, 187–192. 70 Vgl. LEATHERBURY 2020, 194–196. Vgl. dazu Sidonius Apollinaris, epist. 2,10,3–4 (MGH.AA 8,34–35 LÜTJOHANN), der in diesem Brief ein Epigramm explizit für diesen Zweck vorsieht und bereits existente tituli anderer Dichter erwähnt. 71 Vgl. BERNT 1968, 4 sowie LAUSBERG 1982, 96–97. 67
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3 Die Makrostruktur des Libellus
vorgestellten Ort befinden. Dies ist im Gedichtbuch des Eugenius insbesondere der Fall bei den tituli auf Kirchenbauten (carm. 9–12), Epitaphen (carm. 16–29), einem titulus für eine Bibel (carm. 8) und einigen tituli auf Gebrauchsgegenständen (carm. 65–69, 75, 77–79). Gerade die Kirchen-tituli – als gewissermaßen christianisierte Form des antiken Weihepigramms, aber auch des Bild-titulus als Epigramm, das Bilder oder Bilderzyklen begleitet72 – sind Spielarten der Gattung, die sich in der christlichen Poesie der Spätantike einer hohen Beliebtheit erfreuten. Für Eugenius ist hier als wichtigster Einfluss Venantius Fortunatus zu nennen.73 Ob Eugenius’ Gedichte freilich wirklich auf einem Gegenstand zu stehen kamen, können wir heute nicht mehr nachvollziehen, obgleich in manchen Fällen vergleichbare historische Zeugnisse dies sehr plausibel erscheinen lassen.74 Selbst wenn dies nicht der Fall war, wurden Eugenius’ Gedichte – insbesondere die ‚königlichen‘ Epitaphe carm. 25 und 26 – doch sehr zeitnah auch epigraphisch rezipiert und finden sich noch im 7. Jahrhundert in abgewandelter Form als Grabinschriften. 75 In jedem Fall stellen (metrische) Inschriften also einen faszinierenden möglichen ‚Sitz im Leben‘ mancher Gedichte des Eugenius dar. Wie in anderen Gesellschaften bediente man sich auch im wisigotischen Spanien (sogar besonders gerne) der Inschriften auf Gebäuden, Kirchen oder Grabmälern zur sozialen Kommunikation über den eigenen Status oder zur Verbreitung von Ideen und Ansprüchen;76 72
Vgl. zum Bild-titulus am Beispiel des Prudentius und Paulinus von Nola LEATHER-
BURY 2020, 189–202. 73 Vgl. für eine kursorische Analyse der Epitaphe und Kirchen-tituli des Fortunatus ROBERTS 2009, 10–37 und 61–71. Vgl. für die Rezeption des Venantius im wisigotischen Spanien und seinen Einfluss auf Eugenius, der sich auch hier in den Detailanalysen ausgewählter carmina an vielen Stellen zeigen wird, ALBERTO 2002b, passim. 74 So sind etwa aus der wisigotischen Periode metrische Kirchen-tituli auf Stein erhalten; am berühmtesten ist hier die hexametrische Inschrift in der Kirche S. Juan de Baños (ICERV 314), die die Manuskripttradition sogar mit Eugenius in Verbindung bringt, vgl. VELÁZQUEZ/HERNANDO 2000, 302. Vgl. auch VELÁZQUEZ SORIANO 2006, 5 und für einen Überblick über weitere wisigotische Beispiele ALBERTO 2014c, 29–30. Umgekehrt argumentiert MIRÓ VINAIXA 1996, passim bzgl. einiger lediglich in Manuskripten überlieferter Epitaphe auf wisigotische Kleriker des 5. Jahrhunderts, dass diese wohl keine materialen Inschriften repräsentieren, sondern rein literarische Kompositionen sind. Eines der Argumente, dass elaboriertere Epitaphe der wisigotischen Zeit kaum je auf Stein überliefert werden (vgl. a.a.O., 968), erscheinen jedoch durch andere Zeugnisse zumindest infragegestellt, wie etwa das zwar in rhythmischer Prosa abgefasste, aber sehr umfangreiche Epitaph auf die jung verstorbene Maura (ICERV 534). Vgl. dazu FONTAINE 1994, passim. 75 Vgl. für einen chronologisch fortschreitenden Gesamtüberblick über die epigraphische Rezeption des Eugenius ALBERTO 2010a, sowie VELÁZQUEZ SORIANO 2006, 23–25; vgl. GILSANZ STANGER 2005, 75–83 und CORREA/PEREIRA 1972 speziell für die Rezeption von carm. 25 und für carm. 26 SANTIAGO FERNÁNDEZ 2020, 288. 76 Ein frühes, viel zitiertes und studiertes Beispiel ist die Inschrift auf der neu erbauten Brücke von Mérida, die heute nur noch handschriftlich überliefert ist; vgl. zu dieser Inschrift im Kontext anderer Inschriften derselben Region jüngst OSLAND 2019.
3.1 Die Gattungsfrage
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hier spielt auch die Kirche als Auftraggeberin eine nicht zu unterschätzende Rolle.77 Metrische Epitaphe (im Unterschied zu solchen, die nur kurze Sterbenotizen in Prosa enthielten) waren ein beliebtes Zeichen für einen gehobenen sozialen Status und eine besondere Würdigung des oder der Verstorbenen.78 Einige Gedichte des Eugenius scheinen jedoch höchstens sekundär als Inschrift gedacht zu sein. Jedoch spielen oft gerade diese erkennbar nicht-inschriftlichen Epigramme oft mit der fiktiven, vorgestellten Lesesituation, als Inschrift auf einem Trägergegenstand oder an einem Ort angebracht zu sein.79 Dafür bietet uns Eugenius ein mustergültiges Beispiel: Mit carm. 17 verfasst er ein Grabgedicht für sich selbst, das also per Definition (er lebte ja noch, als er es verfasste) fiktiv sein muss. Und doch suggeriert das Gedicht einen konkreten Ort, an dem die Begegnung der Leserinnen und Leser mit der Inschrift stattfindet: occubat istic80 – das lyrische Ich „liegt hier darnieder“. Umgekehrt müssen jedoch gerade ‚echte‘, also nicht-fiktive Epigramme, oft gar keine besondere Auskunft über ihren Aufschrift-Charakter geben, der ja in der Rezeptionssituation selbstevident ist.81 Nach der Aufnahme in ein Gedichtbuch wären sie dann oft gar nicht mehr als Aufschrift erkennbar. Freilich zeugen gerade die Epitaphe als eine beinahe schon eigenständige Untergattung des Epigramms (von der wir signifikante Textcorpora sowohl auf Stein als auch auf Pergament erhalten haben), davon, dass ‚Epigraphie‘ und ‚Literatur‘ eine falsche Dichotomie bilden und die Grenze zwischen ‚funktional‘ und ‚rein literarisch‘ schwimmend sein konnte:82 Während etwa Eugenius’ Auto-Epitaphe oder auch das (ebenfalls in der ersten Person verfasste) Chindasuinth-Epitaph zunächst als reines literarisches Spiel gelten können, wird z.B. letzteres kurze Zeit später in einer realen Grabinschrift rezipiert;83 dasselbe gilt für andere, vielleicht wirklich unmittelbar als Inschrift gedachte Gedichte.84
77 Vgl. SANTIAGO FERNÁNDEZ 2020, 274. Vgl. für einen Überblick über die Epigraphik des wisigotischen Spaniens VELÁZQUEZ SORIANO 2007. 78 Vgl. SANTIAGO FERNÁNDEZ 2020, 288: „The goal was to achieve maximum solemnity to exalt the inscription and, therefore, its protagonists.“ 79 Vgl. schon für die hellenistischen Ursprünge des Epigramms CITRONI 2019, 26: „The ‚inscriptions‘ are recognizably fictitious when they concern unrealistic burials or votive offerings (for example, for figures of myth or from remote ages), or when they are parodic (for instance, celebrating a dead person’s vices rather than his virtues).“ 80 Eugenius von Toledo, carm. 17,4 (CCL 114,234 ALBERTO). 81 Vgl. BERNT 1968, 4. 82 Vgl. für den Befund des wisigotischen Spaniens VELÁZQUEZ SORIANO 2006, 3–11. 83 Vgl. das anonyme Epitaph aus Gerena, das CORREA/PEREIRA 1972, 326 transskribieren und abdrucken. Vgl. dazu auch GILSANZ STANGER 2005, 75–83. 84 Vgl. z.B. die Rezeption von carm. 23, einem Epitaph für Basilla, in der Inschrift für Tarsaia; vgl. VELÁZQUEZ SORIANO 2006, 25.
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3 Die Makrostruktur des Libellus
Die Korrespondenz des Sidonius Apollinaris legt nahe, dass oft mehrere Entwürfe für Grabgedichte angefertigt wurden.85 Auch Eugenius fertigt, beispielsweise für Braulios verstorbene Schwester Basilla, mehrere Epitaphe an (carm. 22 und 23). Poetische Inschriften, denen ein über den epigraphischen Anlass hinausgehender literarischer Wert zugemessen wurde, nahm man in Gedichtsammlungen auf. 86 Umgekehrt konnten primär literarisch überlieferte Epitaphe namhafter Autoren Eingang in spezielle Vorlagenbücher finden und für reale Grabinschriften (wieder-)verwertet werden.87 So ist es auch für viele Gedichte des Eugenius sehr gut denkbar, dass sie parallel zur Buchüberlieferung auch in realen, heute verlorenen Inschriften Verwendung fanden – und diese Verwendung bereits bei der Abfassung zumindest mitbedacht wurde. c) Das Epigramm als pointiertes Kurzgedicht Als Gattungsmerkmal ähnlich schwammig ist das häufig vorgebrachte Kriterium der Kürze, das Isidor als Kriterium zu verwerfen scheint: Bis wann kann ein Gedicht noch als kurz gelten? Antike Auseinandersetzungen zu diesem Thema gibt es durchaus; so beschwert sich schon Plato bei Grabgedichten, die länger als vier Verse sind, über den überhand nehmenden Grabluxus.88 Gerade in der griechischen Epigrammtheorie wird sogar die Zweizeiligkeit als Ideal propagiert,89 das freilich nicht immer verwirklicht wird.90 Innerhalb der lateinischen Dichtung dehnt schon Martial, der dem Epigramm ohnehin eine ganz eigene Prägung gibt, die poetische Praxis sehr weit aus:91 Während das zweizeilige Epigramm bei ihm nach wie vor am häufigsten auftritt, sind auch Epigramme von vier bis zwölf Versen nicht selten (die Durchschnittslänge eines Gedichtes beträgt bei ihm sieben Verse) und es finden sich in seinen Epi-
85
Vgl. Sidonius Apollinaris, epist. 7,17 (MGH.AA 8,2,123 LÜTJOHANN). Vgl. dazu HANDLEY 2003, 25. 86 Vgl. LAUSBERG 1982, 96–97. 87 Anhand von immer wieder in Inschriften auftauchenden Textbestandteilen (sowie typischen Fehlern, die bei der Abschrift passierten) ging bereits LE BLANT 1890, 70–72 davon aus, dass Epitaphe Eingang in ‚Modellbücher‘ finden konnten, die als Vorlage für Grabinschriften dienten, bei denen keine individuelle Abfassung möglich oder erschwinglich war; vgl. zusammenfassend auch HANDLEY 2000, 54–55. HANDLEY 2003, 26 untermauert diese Aussage mittels Inschriften, in denen fehlerhafterweise der Name des Verstorbenen fehlte und stattdessen eine Art Platzhalter für den Namen des Verstorbenen stehengeblieben ist. 88 Vgl. LAUSBERG 1982, 29. 89 Vgl. für eine Sammlung und Interpretation der relevanten Stellen LAUSBERG 1982, 37–44. 90 Vgl. besonders zu den hellenistischen epigrammata longa CAIRNS 2008, passim. 91 Vgl. für eine statistische Auswertung des Umfangs der Epigramme Martials SCHERF 2008, 195–202.
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grammbüchern immer wieder strategisch positionierte Ausnahmen, deren Umfang darüber weit hinausgeht. Sein längstes Epigramm misst 51 Verse.92 Trotzdem zeigt Martial ein Bewusstsein dafür, dass er mit seinen Epigrammen eine Regel bricht, und findet geschickt Argumente, warum man ihm dies nicht vorwerfen dürfe.93 Auch in der lateinischen Spätantike bleibt die Kürze ein mit dem Epigramm verbundenes Ideal, dem man sich jedoch bewusst oder unbewusst ebenso gerne widersetzt, wie die bereits zitierten Beispiele des Sidonius und Avitus zeigten. Sidonius ist (wenn auch nicht in der Praxis, so doch in der Theorie) selbst der Kronzeuge für das Ideal der Kürze, wenn er das Epigramm als non copia sed acumine placens beschreibt und fordert, es solle nicht mehr als ein oder zwei Distichen umfassen.94 Über das reine Kriterium der Kürze hinaus scheint in Sidonius’ Definition jedoch auch ein häufiges Merkmal des Epigramms auf, das v.a. im lateinischen Bereich gattungsrelevant wird: Die Vorliebe für pointierte, ‚zugespitzte‘ Enden (vgl. Sidonius’ Ausdruck acumen), die auch die römische Rhetorik prägt, ist besonders mit Martial verbunden, der darin Meisterschaft erlangt.95 Obwohl sich auch diese schärfer konturierte Variante des Epigramms nicht allgemein durchsetzen oder zu einer Reduktion der Vielfalt führen kann, hat sie doch die Rezeption der Gattung geprägt:96 Martial findet in einigen Epigrammen des Ausonius und insbesondere in Luxorius durchaus seine spätantiken Erben, und auch einige der carmina des Eugenius führen diese Linie weiter.97 Epigramme, die dieses Charakteristikum aufweisen (was weder bei Martial noch bei seinen Epigonen konsequent der Fall ist), sind oft im Aufbau von einer typischen Zweiteilung geprägt. Karl Barwick beschreibt sie als Aufteilung in 1) eine objektive Darstellung des Gegenstandes oder Themas und 2) eine subjektive Bedeutungszuschreibung oder Wertung (die sogenannte sententia).98 Die Erwartung einer solchen ‚erhellenden‘ Pointe am Ende des Epigramms bezeugt schon der Rhetoriklehrer Fronto, der das Epigramm als Paradebeispiel für einen gelungenen Abschluss bemüht: ut novissimos in epigrammatis versus 92
Martial, epigr. 3,58 (99–100 SHACKLETON BAILEY). Vgl. z.B. das auf ein 23 Verse langes Gedicht folgende epigr. 1,110 (51 SHACKLETON BAILEY); vgl. für eine ausführliche Behandlung aller derartiger Stellen LAUSBERG 1982, 44–56 und WILLIAMS 2008, passim. 94 Sidonius Apollinaris, epist. 8,11,7 (MGH.AA 8,141 PEIPER): praeterea quod ad epigrammata spectat, non copia sed acumine placens, quae nec brevius disticho neque longius tetrasticho finiebantur, eademque cum non pauca piperata, mellea multa conspiceres, omnia tamen salsa cernebas. 95 Vgl. CITRONI 2019, 35. 96 Vgl. CITRONI 2019, 34. 97 Vgl. dazu BERNT 1968, 142. 98 Vgl. BARWICK 1959, bes. 5 für die gewählte Terminologie sowie LAUSBERG 1982, 88–89 für eine Diskussion derselben. 93
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habere oportet aliquid luminis.99 Ob dieses aliquid luminis allerdings immer die von Barwick geforderte Form der subjektiven Wertung annehmen muss, ist fraglich. Marion Lausberg schlägt hier vor, die Zweiteilung in der Dichotomie von Spannungserregung und Spannungsabbau grundgelegt zu sehen, was den Vorteil habe, dass diese Beschreibung mehr Einzelphänomene umfasse und keine Aussage darüber treffe, wie diese Spannung aufgebaut wird. Umgekehrt handelt man sich, wie Lausberg gesteht, den Nachteil ein, dass dieses Schema auf sehr viele Arten von Literatur und nicht nur auf das Epigramm zutrifft. Nicht umsonst erwähnt Fronto die Schlusspointe des Epigramms als Beispiel, das es auch in der Rhetorik nachzuahmen gelte. Dennoch kann dieser Zweiteilung auch eine epigrammspezifische Heuristik abgewonnen werden: Beim Epigramm und insbesondere beim [Einzeldistichon] liegt dabei insofern ein besonderer Fall vor, als in einem kurzen Gedicht Anfang und Ende des ganzen Textes sehr nahe beieinanderliegen und somit Spannungserregung und Spannungsbefriedigung besonders eng aufeinander bezogen sein müssen. Weiterhin kann die Frage, wie jeweils Spannung erregt und befriedigt wird, durchaus aufschlußreich für die jeweilige Eigenart eines Epigramms sein, auch wenn die Tatsache, daß es geschieht, kaum etwas Besonderes ist.100
Ein schönes Beispiel für die Zweiteilung nach der engen Definition Barwicks finden wir in Eugenius’ Libellus etwa im carm. 75, einem Epigramm auf ein (vielleicht sogar: auf einem?) Handtuch: Omnibus effectis quae poscit cura lauacri, praetende membris lintea clara tuis. Vt haec candifico praenitent tegmina cultu, uestrum sic meritum promicet ante Deum.101 Wenn dann alles gescheh’n, was der Reinigung Sorge erfordert, halt’ deinen Gliedern vor reinweißen leinenen Stoff. Wie derlei Hüllen schimmern in weißmachend glänzender Zierde, so möge euer Verdienst leuchtend erstrahlen vor Gott.
Das erste Distichon beschreibt eine alltägliche Verrichtung in Form einer Aufforderung: das Bedecken des Körpers mit einem Handtuch nach dem Bad. Die Beschreibung ist rein objektiv. Das Adjektiv clarus, auf einen Leinenstoff angewandt, wirkt jedoch vielleicht etwas übertrieben und kann bereits auf die folgende Zuschreibung eines symbolischen Mehrwertes verweisen, wenn auch ein Handtuch, das ein Epigramm trägt, in der Tat ein besonders edles Stück wäre. Das zweite Distichon nimmt die Beschreibung des ersten auf, erweitert es aber (subjektiv) um eine spirituelle Umdeutung dieser alltäglichen Hand-
99
Fronto, laud. fum. 2 (215 VAN DEN HOUT). LAUSBERG 1982, 90. 101 Eugenius von Toledo, carm. 75 (CCL 114,267 ALBERTO). 100
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lung: Das strahlend weiße, den Körper bedeckende Handtuch wird zum Gleichnis für die religiösen und/oder moralischen Verdienste, die einen Menschen vor Gott hell leuchten lassen. Ein (diesmal nahezu satirisches) Beispiel, wo das aliquid luminis zwar vorhanden ist, aber im Sinne Lausbergs weiter gefasst werden muss, ist das carm. 88: Ipse manus sibimet immundo stercore foedat qui canem cauda retentat.102 Selbst macht sich schmutzig die Hände mit dreckigem Kot, wer am Schwanz einen Hund packt.
Was der zweite Vers hier bringt, ist weniger eine subjektive Bedeutungszuschreibung zum Sachverhalt des ersten Verses, sondern einfach die überraschende Antwort auf die im ersten Vers aufgeworfene Frage (darin besteht die Spannung!), wer so ungeschickt ist, sich selbst die Hand mit Kot zu beschmutzen. Jedoch lädt das Epigramm die Leserinnen und Leser auch dazu ein, bei dieser vordergründigen Antwort nicht stehen zu bleiben, sondern vielleicht für sich eine zusätzliche Bedeutungszuschreibung vorzunehmen (die vielleicht ein uns unbekanntes Sprichwort, das die Basis des Epigramms ist, ohnehin vorgibt): Was könnten in der eigenen Alltagswelt analoge Situationen sein, in denen man vermeiden kann, sich auf diese Weise ‚die Hände schmutzig zu machen‘? Wann packt man im übertragenen Sinne einen Hund am Schwanz? c) Epigramm und Schule: Das informierende und belehrende Epigramm und der christliche Sonderfall Prospers von Aquitanien Freilich folgen längst nicht alle Epigramme des Eugenius dem beschriebenen zweigeteilten Schema. Ein weiter Teil der Gedichte verzichtet auf eine Pointe oder zumindest einen erhellenden Schluss, sondern liefert lediglich eine einzige, poetisch eingekleidete Information. Ein Beispiel dafür ist carm. 53 (in zwei Hexametern) über die fünf Sinne des Menschen: Auditus, uisus, gustus, olfactio, tactus, aure, oculis, ore, nare, cute corporis extant.103 Der Hörsinn, die Sicht, Geschmack, Geruch und der Tastsinn, haben im Ohr, den Augen, dem Mund, der Nase und Haut des Körpers Bestand.
Auch wenn das Distichon durchaus zweigeteilt ist (der erste Vers zählt die fünf Sinne auf, der zweite Vers stellt ihnen die zugehörigen Sinnesorgane gegenüber), ist die aufgebaute Spannung sicher nicht übermäßig und der zweite Teil kommt auch nicht weiter überraschend. Das bestimmende Element dieses Epi-
102 103
Eugenius von Toledo, carm. 88 (CCL 114,271 ALBERTO). Eugenius von Toledo, carm. 53 (CCL 114,259 ALBERTO).
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gramms ist die vollständige Aufzählung eines kleinen Wissensbausteins – dasselbe Prinzip erkannten wir schon im von Eugenius wahrscheinlich selbst als Epigramm bezeichneten carm. 37, das die sieben Schöpfungstage aufzählte. Es trifft auch auf die carm. 38–43, 49, 53–54 und 71 zu, und vielleicht auch teilweise auf carm. 8, das die Bücher der Heiligen Schrift aufzählt.104 Andere Epigramme beschreiben eine Kuriosität aus der Natur, etwa aus dem Tierreich oder der Mineralienkunde. Hier kann die (manchmal eher legendarische als reale)105 Kuriosität, die beschrieben wird, zwar als Schlusspointe verstanden werden, folgt aber in der Regel nicht aus einer erzeugten Erwartungshaltung: Sum leuis et lenis piceo nigrore gagates; Ardeo tinctus aqua, restinguor tinctus oliuo.106 Leicht und sanft bin ich in pechfarbener Schwärze, ich, der Gagat; ich brenne benetzt mit Wasser, doch erlösche vom Öl der Olive.
Eher von einer erzeugten Spannung kann man sprechen, wenn im Epigramm die Frage aufgeworfen wird, woher eine Sache ihren Namen hat. So auch in einem Epigramm über einen Gecko, das die Wortähnlichkeit stellio – stella ausschlachtet: Stellio guttatus nomen de corpore sumpsit stellata maculis languida membra trahens.107 Der Sterngecko,108 mit Tropfen verziert, hat den Namen vom Körper, denn mit Flecken bestirnt schleift schlaffe Glieder er mit.
Auffallend ist, dass solcherlei ‚enumerative‘, ‚beschreibende‘ oder sogar ‚etymologische‘ Epigramme beinahe samt und sonders poetische Reformulierungen von ‚Lexikoneinträgen‘ der Etymologiae uel origines des Isidor von Sevilla darstellen – ohne dass Isidor für diese Epigramme die einzige Quelle des Eugenius wäre; gerade in manchen Abweichungen von Isidor wird Eugenius’ breite Belesenheit deutlich.109 Über einen Briefwechsel zwischen Isidor und Eugenius’ Mentor Braulio von Saragossa wissen wir, dass das monumentale Nachschlagewerk der Etymologiae dort schmerzlich erwartet und daher wohl auch begeistert aufgenommen 104
Zu den Merkversen zählt dieses Gedicht GARCÍA Y GARCÍA 1927, 6. Vgl. etwa das Epigramm über den Vogel Phönix, carm. 44 (CCL 114,256 ALBERTO). 106 Eugenius von Toledo, carm. 59 (CCL 114,261 ALBERTO). 107 Eugenius von Toledo, carm. 52 (CCL 114,259 ALBERTO). 108 Stellio bezeichnet im Lateinischen einfach den Gecko und keine besondere Unterart desselben; diese ungewöhnliche Übersetzung wurde lediglich gewählt, um das Wortspiel, das nur im Lateinischen funktioniert, sichtbarer zu machen. 109 Vgl. etwa carm. 39, wo Eugenius ggü. den Etymologiae noch Ulfila als Erfinder der gotischen Schrift hinzufügt, und die Vogel-Epigramme carm. 46–47; vgl. dazu ALBERTO 2012, 270–273. 105
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wurde.110 Das Werk ist ein Kompendium, das wie kein zweites Werk antike Bildung paganer wie christlicher Provenienz kompiliert und kondensiert. In den Worten Braulios: „Beinahe alles, was man wissen muss, hat er in aller Kürze zusammengestellt.“111 Oft ist das Werk als eine Art umfassendes Bildungsprogramm, vielleicht zur intellektuellen Ausbildung des Klerus, an der Isidor wohl viel gelegen war,112 oder für die klösterliche Bildung, verstanden worden:113 Insbesondere die ersten drei Bücher entsprechen in ihrem Aufbau den septem artes liberales und damit dem Bildungsprogramm, das ähnlich schon Cassiodor kompilierte. Die kurzen Gedichte des Eugenius sind freilich vor allem an den zweiten großen Teil der Etymologiae (die Bücher 11–20) angelehnt, der vor allem Naturkundliches enthält.114 Möglicherweise hatten sie also denselben Zweck, für den die Etymologiae oft verwendet wurden, nämlich einen didaktischen: Durch die metrische Form Informationen in eine leicht memorierbare Form zu bringen, eine Funktion, die wir den ‚enumerativen‘ Gedichten, besonders carm. 37–41, sicher zuschreiben können.115 Damit stünden diese Gedichte in einer sich in der Spätantike entwickelnden poetischen Tradition, für die wir im lateinischsprachigen Bereich etwa die Gedichte des Ausonius, aber auch weite Teile der Anthologia Latina als Vorläufer haben.116 Zumindest in der karolingischen Rezeption des Eugenius wissen wir von einem Fall, in dem ein Gedicht des Eugenius mit seinem entsprechenden Abschnitt
110
Vgl. Braulio von Saragossa, ep. 4 (CCL 114B,12–21 MIGUEL FRANCO). Braulio von Saragossa, renot. 48–49 (CCL 113B,204 MARTÍN): quaecumque fere scire debentur restricta collegit. 112 Vgl. die unter seinem Vorsitz am IV. Toletanum verabschiedeten canones 25–26 (Conc. Tolet. IV, c. 25–26 [CCH 5,215–216 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ]), die mit gewissen Mindestanforderungen die ausreichende Bildung der Priester sicherstellen sollen; ein Bemühen, das bereits auf dem Conc. Tolet. II, c. 1 (CCH 4,347–349 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ) begonnen wurde. 113 Vgl. etwa AMSLER 1989, 133–135; zur faktischen Rezeption der Etymologiae vel Origines im Schulkontext vgl. CARDELLE DE HARTMANN 2014, bes. 498–500. 114 Vgl. für Gedichte, die Naturkundliches enthalten, carm. 42 über die hybriden Tiere (//orig. 12,1,61 [o.S. LINDSAY]), carm. 43 über die Körperteile des Menschen (//orig. 11,1,25 [o.S. LINDSAY]), die Vogel-Epigramme carm. 44–50 (// orig. 12,7 [o.S. LINDSAY]), von denen carm. 46–47 sich interessanterweise anderer Quellen bedienen (vgl. ALBERTO 2005a, 257), die Mineralien-Epigramme carm. 59–62 (// orig. 16,4.13 [o.S. LINDSAY]), sowie einzelne Gedichte, etwa carm. 51 (// orig. 12,6,34 [o.S. LINDSAY]), carm. 52 (// orig. 12,4,38 [o.S. LINDSAY]) und carm. 53 (// orig. 11,1,18 [o.S. LINDSAY]). Dem ersten, grammatikalischen Buch (orig. 1,3,5–6; 1,4,1 [26–28 LINDSAY]) sind die Informationen aus den carm. 39–40, die beide von den Erfindern der Schrift handeln, entnommen. 115 Vgl. allgemein MONDIN 2016, 221; für die carm. 37–40 ALBERTO 2016, 119 und zu carm. 41 CODOÑER MERINO 1983, passim. 116 Vgl. für einen Überblick MONDIN 2019, 579–580. 111
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3 Die Makrostruktur des Libellus
aus den Etymologiae zusammengestellt wurde.117 Im Fall des carm. 39, einer Aufstellung der Erfinder der Schrift, erfolgt die Rezeption unmittelbar, noch in der Ars grammatica des Julian von Toledo, und das nicht zur Illustration eines sprachlichen Phänomens, sondern direkt als Merkhilfe für die Schüler.118 Dies ist auch für die anderen ‚enumerativen‘ Epigramme (besonders carm. 37–43) anzunehmen, während bei den kürzeren Epigrammen über Naturphänomene auch denkbar ist, dass sie nicht Mittel, sondern Produkt der Schule waren und das Ergebnis von Schulübungen darstellen.119 Dass grundsätzlich Gedichte zu schulischen Zwecken verwendet wurden, ist damit zu Genüge belegt. Der Zweck solcher ‚scholastischen‘ Gedichte erschöpfte sich jedoch nicht in reiner Information, sondern auch moralische Belehrung hatte darin ihren Platz. Das sehen wir schon am carm. 41, einer Auflistung von Tierstimmen, dessen ‚Schlusspointe‘ darin besteht, dass der Mensch, der sie nachzuahmen versucht, sich nicht nur vergeblich müht, sondern vor Gott und den Menschen anstößig wird, sozusagen seine Menschlichkeit verliert.120 Ein weiteres Beispiel für den Eingang der Eugenius-Gedichte in die moralische Schulbildung sind seine carm. 6, 2 und 7, die (in dieser Reihenfolge) im Mittelalter als fünftes Buch den sogenannten Disticha Catonis angefügt werden,121 die schon für das wisigotische Spanien gut belegt sind122 und im Mittelalter zu einem wegen seiner moralischen Qualitäten und leichten Sprache beliebten Anfängertext der lateinischen Poesie werden.123 Tatsächlich sind solcherlei moralisch-theologische belehrende Inhalte eine der großen Gattungsinnovationen in der Epigrammatik der Spätantike. Pionierfunktion kommt hier insbesondere Prosper von Aquitanien zu, der in seinem Liber Epigrammatum Sentenzen aus dem Werk des Augustinus poetisch verarbeitet – und zwar, wie seine Praefatio erwähnt, zu Zwecken der religiösen Übung (exercere) und Erbauung.124 Das Werk ist, wie so oft in der Spätantike, 117 Nämlich Teile des carm. 33 (CCL 114,247–248 ALBERTO) zu Isidor von Sevilla, orig. 12,7,37 (o.S. LINDSAY) in einem Manuskript aus dem 12. Jahrhundert; vgl. ALBERTO 2010a, 22–23. 118 Vgl. Julian von Toledo, gramm. 2,1,4 (115 MAESTRE YENES); vgl. dazu DENECKER 2018 und ALBERTO 2012. 119 Vgl. dazu ALBERTO 2012, 268; für die didaktische Ausrichtung der ‚enumerativen‘ Epigramme vgl. CODOÑER 1983, bes. 54, die aufzeigt, wie Eugenius in carm. 41 ein Epigramm des Ausonius rezipiert, in der Rezeption aber ‚didaktisch wendet‘. 120 Vgl. CODOÑER 1983, 54 und Eugenius von Toledo, carm. 41,12 (CCL114,255 ALBERTO): non Deus hoc recipit, quod homuncio sanus abhorret. 121 Vgl. dazu RIOU 1972, 26–30. 122 So zitiert etwa Julian von Toledo, gramm. 2,20,28 (227 MAESTRE YENES) den Beginn der Disticha Catonis. Vgl. für einen Überblick über die spanische Rezeption der Disticha BLOOMER 2015, passim. 123 Vgl. zur didaktischen Verwendung der Disticha HENKEL 2005, 30–35. 124 Vgl. Prosper Tiro von Aquitanien, epigr. praef. 1–2 (CSEL 100,77 HORSTING): Dum sacris mentem placet exercere loquelis / caelestique animum pascere pane iuuat. Vgl. dazu
3.1 Die Gattungsfrage
125
hinsichtlich seiner Gattung schwer einzuschätzen und scheint Schnittmengen sowohl mit der Lehrdichtung als auch mit dem Epigramm zu haben;125 so ist in der Praefatio der Anschluss an den großen Lehrdichter Lukrez evident. 126 Während Prospers Innovation zunächst kaum Nachahmer zu finden scheint, ist in einigen Epigrammen des Eugenius Prosper als Vorbild präsent, besonders in den ‚gnomischen‘ Epigrammen carm. 90–95.127 Im carm. 93 wird der Bezug auf Prosper unmittelbar durch die starke sprachliche Anlehnung deutlich, während in den carm. 90–92 und 94–95 der Anschluss an Prosper eher über die Rezeption seiner Prosa-Sentenzensammlung aus dem Werk des Augustinus (die auch Basis für Prospers eigene Epigramme war) geschieht.128 Wie Céline Urlacher-Becht bemerkt, ist in diesen kurzen Distichen der literarische Anspruch sehr zurückgefahren; Eugenius’ Adaptionen bzw. Transpositionen der Sentenzen zeigen wenig Originalität und scheinen auch in ihrer Kürze (es handelt sich nur um jeweils ein Distichon) im Vergleich zu Prosper ganz auf das leichte Memorieren ausgerichtet zu sein.129 Vielleicht ist aber der Einfluss Prospers, wenngleich nicht sprachlich, so doch formal in anderen Gedichten des Eugenius spürbar, in denen er theologische Inhalte in poetische Kurzform bringt: So etwa im (stark von patristischer Theologie, wenn auch nicht wie bei Prosper von einem einzigen Autor informierten) carm. 3, das ähnlich nüchtern-objektiv erscheint wie die meisten Epigramme Prospers, oder (stärker moralisierend) in den carm. 2 und 4. In entfernterem Sinne kann dies auch für carm. 6 und 7 (über die Trunksucht und Völlerei) gelten, insofern auch Prosper’sche Epigramme sich gegen konkrete Laster, z.B. die Schmeichelei, wenden können.130 So zeigt sich bei Prosper noch einmal besonders die außerordentliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Epigramms bzw. der poetischen Kleinform, die Eugenius bereits von seinen poetischen ‚Vorfahren‘ erbte und, wie wir sowohl in der kursorischen Lektüre als auch den Detailanalysen sehen werden, durchaus selbstständig weiterführte.
CUTINO 2009, 192–195. Vgl. zu Prospers Epigrammen als religiöse Protreptik DELMULLE 2013, passim. 125 Vgl. die Klassifizierung von CHARLET 1997, 520 als Lehrdichtung. BERNT 1968, 43 bezeichnet sein Werk als „Neuschöpfung eigener und fast einziger Art“; ebenso der Herausgeber HORSTING 2016, 1: „a testament to Late Antiquity’s […] predilection for strange new literary forms“. 126 Vgl. CUTINO 2009, 192–195. 127 Vgl. URLACHER-BECHT 2017, passim und zu Eugenius als ‚Nachfolger‘ der epigrammatischen Poesie Prospers bereits BERNT 1968, 142: „Die Vielfalt hat er [der Gattung Epigramm] gelassen, ja er hat sie um das Prospersche Epigramm vermehrt.“ 128 Vgl. URLACHER-BECHT 2017, 559–563. 129 Vgl. URLACHER-BECHT 2017, 572–573. 130 Vgl. Prosper Tiro von Aquitanien, epigr. 87 (CSEL 100,141 HORSTING).
126
3 Die Makrostruktur des Libellus
3.1.4 Dia poemata: Orationes/Hymnen zwischen Poesie und Liturgie Mit der theologischen und religiösen Inhaltlichkeit des Prosper’schen Epigramms gelangen wir bereits zu einer vierten Gattungszuschreibung, die den Libellus – zumindest indirekt – charakterisiert. In der dichterischen praefatio zum Libellus tritt neben dem Neider auch eine fiktive Gegenfigur auf, die Eugenius’ Gedichte wohlwollend aufnimmt: „Doch du, der du meine Spielereien mit ruhigem Herzen der Reihe nach liest und die grobschlächtigen Worte liebevoll hegst, […] du mögest mit wohlklingenden Metren geradezu heilige Gedichte (sat dia poemata) schreiben und für deine Bücher den Gegenwind des Rivalen nicht fürchten.“131 Dia poemata ist eine aus Persius’ erster Satire übernommene Junktur und im ursprünglichen Zusammenhang (dort geht es um den unsterblichen Ruhm der Dichter) wohl eine ironische Überhöhung. 132 Auch wenn in Eugenius’ praefatio ebenfalls ein leicht satirischer Tonfall vorliegt, scheint der Wunsch der Dichter-persona für seinen ‚Gönner‘ hier jedoch durchaus ehrlich gemeint zu sein; er steht in einer Reihe mit anderweitigen Segenswünschen an ihn, aus denen keine Ironie herauszuhören ist. Dazu kommt, dass eine beinahe gleichlautende (in Eugenius’ Vers aber metrisch unpassende) Junktur diuina poemata bei Venantius Fortunatus gängig ist, die im Unterschied zu Persius keine Aussage über den ‚gottgleichen Status‘ eines Gedichtes trifft: Sie meint vielmehr das göttlich inspirierte oder auf Gott bezogene Gedicht.133 So wird Eugenius auch hier den wohlwollenden Leserinnen und Lesern wünschen, sie mögen selbst, ohne sich vor einem Rivalen verstecken zu müssen, heilige, gottgefällige, von Gott inspirierte Gedichte schreiben.134 Das zu tun, beansprucht Eugenius – die ausgeprägte Bescheidenheitstopik war ja schon öfters aufgefallen – für sich selbst freilich nicht; dennoch wird damit ein dichterisches Ideal formuliert, an dem die Leserinnen und Leser auch Eugenius unwillkürlich messen werden. Wohl nicht zufällig wendet sich der erste Vers des ersten Gedichts (carm. 1,1) an Gott in seiner Funktion als Weltenschöpfer: Rex Deus immense, quo constat machina mundi.
131 Eugenius von Toledo, carm. praef. 11–16 (CCL 114,204 ALBERTO): At tu, qui nostras tranquillo pectore nugas / perlegis et blande rustica uerba foues, […] suauibus effingas sat dia poemata metris / nec uereare libris aemula flabra tuis. Vgl. zur zunächst problematischen, heute aber sicheren Etablierung des Textes hier MUNZI 1977 und ALBERTO 1999a, 311–312. 132 Vgl. Persius, sat. 1,31 (3 KISSEL) und dazu HARVEY 1981, 26: „[Persius]’s use of the word lends mock-dignity to the context.“ Vgl. zu Persius als einer möglichen Quelle für carm. praef. ALBERTO 1999a, 313–314. 133 Vgl. Venantius Fortunatus, carm. 2,9,19 (64 REYDELLET), wo kein geringerer als König David der Sänger der diuina poemata ist, und 8,3,7 (129 REYDELLET). 134 In diese Richtung interpretieren auch ALBERTO 2018, 10 („dedicata a Dio“) und UNGVARY 2018b, Anm. 105 („inspired by God“) die Junktur.
3.1 Die Gattungsfrage
127
Das carm. 1 ist dabei insgesamt ein explizit religiöses Gedicht: ein poetisches Gebet. Gebetscharakter ist mehreren Gedichten des Eugenius zu eigen; wie Paulo Alberto bemerkt hat, schließt Eugenius seine Gedichte sogar besonders gern mit einem abschließenden Bittgebet.135 Zwei Gedichte jedoch, nämlich carm. 1 und carm. 76 (die vermutlich einmal Anfangs- und Schlussgedicht des Libellus darstellten) sowie das carm. 5b, sind Gebete in ‚Reinform‘, weisen also vom ersten bis zum letzten Vers die typische Struktur des Hymnus bzw. Gebetes auf, die Brucker folgendermaßen beschreibt: Hymns usually have a three-part structure: the invocation of the deity, the epic (and often argumentative) central part and the final petition (invocatio, pars epica, precatio). When the last part predominates, the hymn as a whole may be seen as a prayer (here the boundaries are fluid).136
Lässt sich aus dieser Beobachtung eine Aussage zur Gattung treffen? Im verlorenen Gedichtbuch des Julian von Toledo tritt als eigene ‚Kategorie‘ von Gedichten der hymnus auf, ein Begriff, der jedoch gerade in der Antike immer unbestimmt bleibt.137 Das frühe und spätantike Christentum verstand darunter – gemäß der augustinischen Definition des Hymnus als gesungenes Gotteslob – wohl in erster Linie eine liturgische Funktion und erst sekundär eine literarische Form.138 Dem steht die (ebenso wenig klar definierte) antike Tradition des Götterhymnus gegenüber, der freilich ebenfalls weniger eine eigene Gattung darstellte, sondern – markiert durch die im Zitat dargestellte Struktur – auf unterschiedlichste Weise poetisch eingebettet sein und innerhalb von Epos und Elegie, aber auch (in der lyrischen Form) für sich allein stehen konnte.139 Das schließt natürlich auch das kreative Spiel mit dieser Grundstruktur ein; etwa die Übertragung auf Abstrakta oder sogar die Umkehrung ins Negative, für die
135
Vgl. ALBERTO 1999a, 311. BRUCKER 2014, 4. 137 Vgl. THRAEDE 1994, 927–928. Vgl. auch LÖHR 2014, 161–163, über die (auch interkulturelle) Schwierigkeit, den Terminus hymnus zu definieren: „The genre of hymns and the phenomenon of hymnody are only partly overlapping in antiquity, be it pagan, Jewish, or Christian.“ (a.a.O., 163). 138 Vgl. Augustinus, en. Ps. 72,1 (CCL 39,986 DEKKERS/FRAIPONT): si sit laus et non sit dei, non est hymnus; si sit laus et dei laus et non cantetur, non est hymnus. Vgl. auch Isidor von Sevilla, orig. 1,39,17 (78 LINDSAY): Hymnos primum David prophetam in laudem Dei conposuisse ac cecinisse manifestum est. […] Hymni autem ex Graeco in Latinum laudes interpretantur und orig. 6,19,17 (247 LINDSAY), wo Isidor Augustinus zitiert. Gerade mit Isidors Erwähnung König Davids als ersten Hymnensänger wird das Grundproblem der Terminologie deutlich: Nach Augustinus’ und Isidors Definition sind auch Psalmen zu den Hymnen zu rechnen – das entscheidende Kriterium sind hier die Inhaltlichkeit und die Performanz, nämlich der Gesang, wogegen formale (etwa metrische) Kriterien oder Kriterien des Aufbaus nicht berücksichtigt werden. 139 Vgl. zum Hymnus als ‚Genre im Genre‘ LA BUA 1999, 86–89. 136
128
3 Die Makrostruktur des Libellus
wir im jambischen Teil von Eugenius’ carm. 14, einem ‚Anti-Hymnus‘ an das Greisenalter, ein mustergültiges Beispiel haben. Umgekehrt ist jedoch festzuhalten, dass die dargestellte dreigeteilte Struktur weniger ein Gattungscharakteristikum als vielmehr eine mögliche Grundstruktur religiöser Sprache darstellt. Daraus ergibt sich auch die – in obigem Zitat bereits angedeutete – Schwierigkeit, den Hymnus vom Gebet zu unterscheiden. Die Dreierstruktur lässt sich etwa ohne weiteres auch in Prosa-Orationes der wisigotischen Liturgie, die sicher niemand als Hymnus bezeichnen würde, wiedererkennen,140 auch wenn dort, wie häufig als Unterscheidung zwischen Hymnus und Gebet herangezogen, der letzte, bittende Teil dominiert.141 Im wisigotischen Spanien gibt es jedoch auch einige Beispiele aus Hymnensammlungen, wo dies ebenfalls der Fall ist – wie es auch auf die drei genannten Gedichte des Eugenius zutrifft.142 Hinsichtlich der äußeren Form spricht jedoch einiges dafür, dass im wisigotischen Spanien zumindest der liturgisch verwendete hymnus 143 dort bereits eine relativ feste Gestalt hatte – und das, obwohl seine liturgische Berechtigung neben den Psalmen im wisigotischen Spanien lange umstritten war und erst konziliar ausgehandelt werden musste.144 Einen auffälligeren Unterschied etwa zu carm. 1 und 76 zeigt die Metrik der wisigotischen Hymnen. Carm. 1 und 76 sind im Hexamter bzw. im elegischen Distichon verfasst, carm. 5b dagegen im 140 Vgl. etwa ein sonntägliches Gebet über die Büßenden (Liber ordinum XXXII [94 FÉROTIN]): Deus, humilitatis adiutor, confessionis absolutor, penitentiae suffragator [Anrede], qui publicanum in templo propria peccata pandentem dignatus es exaudire, qui Raab […] ad plebis tue salutare collegium transtulisti [‚epischer Teil‘, Prädikation]; dimitte, quesumus, quod admisisse se dolent […] ut qui in suis erroribus ingemescunt, tuis, Domine, muneribus gratulentur. Amen. [Bitte]. 141 Vgl. zu diesem Unterscheidungskriterium bereits KROLL 1921, 11 und aktuell BRUCKER 2014, 4. 142 So sind etwa Hymn. Hispan. 200–202 (CCL 167,708–713 CASTRO SÁNCHEZ) Hymnen, die beinahe ein einziges Bittgebet mit lediglich implizitem Lobpreis, wenn etwa Gottes Güte und Milde angerufen wird, darstellen. Die Mehrheit der Forscher vermutet, sie könnten ebenfalls aus dem 7. oder frühen 8. Jahrhundert stammen, vgl. CASTRO SÁNCHEZ 2010, 855–856; skeptischer SZÖVÉRFFY 1971, 51. 143 Freilich sind liturgische und ‚literarische‘ (im Sinne von ‚als zweckfreie Dichtung verstandene‘) Hymnen nur lose zu trennen: Hymnen konnten in der literarischen Kultur rezipiert werden (wofür Eugenius selbst ein Beispiel darstellt, vgl. die Ausführungen zu carm. 14) und umgekehrt; vgl. etwa das Beispiel der wohl nicht ursprünglich für die Liturgie gedachten Hymnen des Prudentius (DÉRI 2016, passim und für Prudentius‘ Einfluss auf die hispanische Hymnodik SZÖVÉRFFY 1971, 15–20). 144 So hielt noch Conc. Brac. I, c. 12 (73 VIVES) im Jahr 563 an der Position des Konzils von Laodicea fest, in dem das Singen von Hymnen in der Liturgie untersagt wurde und dafür nur die biblischen Psalmen als zulässig galten; vgl. SZÖVÉRFFY 1971, 28. Die Kehrtwende erfolgte erst mit dem Conc. Tolet. IV, c. 13 (CCH 5,201–203 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ), in dem das Hymnensingen explizit ermutigt und dessen Ablehnung sogar mit der Exkommunikation bedroht wurde, vgl. dazu F ONTAINE 1999, passim.
3.1 Die Gattungsfrage
129
jambischen Trimeter. Die Sammlung der (liturgisch verwendeten) Hymnen des wisigotischen und mozarabischen Spaniens enthält keinen einzigen Hymnus im Hexameter oder elegischen Distichon, sondern lediglich lyrische, vor allem jambische und trochäische Versmaße.145 In diesem Sinne sind die Hymnen dieser Zeit ‚Erben‘ von Hilarius und Ambrosius, die sich als erste der lyrischen Form (repräsentiert durch den antiken Dichter Horaz) bedienten, um darin den Lobpreis des christlichen Gottes zu singen.146 Als Hymnus in diesem engeren Sinne kommt folglich nur das carm. 5b in Betracht. Diese Unterscheidung wird gestützt durch einen weiteren Unterschied, der carm. 1 und 76 (und weitere Gedichte gebetsähnlichen Charakters, wie etwa carm. 5, carm. 13 und der letzte Teil von carm. 14) von carm. 5b unterscheidet: Während in den liturgischen hispanischen Hymnen und, soweit erkennbar,147 in carm. 5b ein Kollektiv spricht (sozusagen ein ‚lyrisches Wir‘), ist insbesondere carm. 1, der zweite Teil von carm. 5 und der Schluss von carm. 14 ein persönliches Gebet der Dichter-persona, die mit Namen auftritt. Eine ähnlich starke Präsenz des lyrischen Ichs liegt in carm. 13, 76 und 101 vor. Carm. 1 scheint also in den Handschriften zu recht nicht mit Hymnus, sondern Oratio überschrieben – auch wenn beide Begriffe nicht immer trennscharf verwendet werden können. Carm. 5b dagegen (für das kein Titel überliefert ist) ist von seiner literarischen Form her trotz seiner Länge ohne weiteres als Bestandteil der Liturgie vorstellbar und damit ein Hymnus im engsten Sinne des Wortes. Da er nach einiger Wahrscheinlichkeit die Ängste und Nöte des Volkes im Angesicht der Froia-Rebellion widerspiegelt, ist damit vielleicht auch ein liturgischer ‚Sitz im Leben‘ gegeben. Durch diese mögliche enge Anlassbezogenheit erklärt sich vielleicht auch die Abwesenheit anderer Hymnen im Libellus carminum, obwohl es aufgrund biographischer Notizen wahrscheinlich ist, dass Eugenius durchaus noch weitere Hymnen verfasste (vgl. Kap. 2.3.2). Freilich haben carm. 1 und die ‚kleineren‘ Gebetselemente in anderen Gedichten zwar insofern einen Bezug zur Liturgie, als sie einen liturgischen (aber auch privat-spirituellen) Vollzug sozusagen poetisch nachahmen und, wie es 145
Vgl. die Aufstellung der Metren in CASTRO SÁNCHEZ 2010, 37. Vgl. zu Hilarius’ und Ambrosius’ Horaz-Nachfolge MALICK-PRUNIER 2017, 3–7. Die Ursprünge der christlichen Hymnodik liegen – definiert man sie nach Augustinus als Lobgesang Gottes jeder Art und nicht nach formalen Kriterien – freilich weiter zurück, vgl. schon die Debatte um die Präsenz von Hymnen im Neuen Testament (zusammenfassend BRUCKER 2014) und die unklaren Anfänge der lateinischen Hymnodik; vgl. dazu FREUND 2016. 147 Carm. 5b (CCL 114,213–215 ALBERTO) ist nur unvollständig überliefert; insbesondere fehlt das für die Gesamtinterpretation aufschlussreiche Ende, an dem Eugenius oft eine persönliche Bitte ausspricht. Der vorhandene Text enthält aber durchgängig ein ‚lyrisches Wir‘, vgl. etwa carm. 5b,49–51 (CCL 114,215 ALBERTO): Riuos aquarum profluamus proximi, / panem petenti porrigamus pauperi, / clamemus omnes, rugiamus acriter: par. 146
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3 Die Makrostruktur des Libellus
auch im Rahmen der Einzelanalysen deutlich wird, liturgische Sprache poetisch integrieren. Dabei handelt es sich aber eher um ein allgemeines Charakteristikum christlicher Poesie, das schon durch Gebetselemente in der paganen Poesie vorgeprägt war, die besonders leicht christlich gefüllt und ausgeweitet werden konnten.148 Für Eugenius dürften hier Ausonius und Paulinus von Nola prägende Vorbilder gewesen sein, deren beide Orationes u.a. in carm. 1 rezipiert werden,149 aber auch viele weitere: Venantius Fortunatus, Paulinus von Pella und schließlich Dracontius, den Eugenius selbst überarbeitet und dessen Satisfactio im Grunde ein einziges langes Gebet darstellt.
3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus 3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus
3.2.1 Die Rekonstruktion des Libellus aus den Handschriften Eine Gesamtausgabe des Libellus carminum ist uns in der Manuskripttradition nicht mehr erhalten. Die Version, die unsere heutigen textkritischen Editionen wiedergeben (die Editionen von Vollmer und, mit wenigen Änderungen der Gedichtreihenfolge, Alberto),150 stellt eine Rekonstruktion aus verschiedenen frühmittelalterlichen Anthologien dar, die jeweils lediglich Teile des Libellus beinhalten. Die Übereinstimmungen in der Art der Gedichtreihung sind jedoch immerhin derart groß, dass die – heute bestmögliche – Rekonstruktion der Reihenfolge weitgehend unstrittig ist.151 Damit ist freilich noch nicht ausgesagt, dass die heute rekonstruierte Form des Gedichtbuches dem Libellus entspricht, wie es Eugenius selbst wohl anordnete. Dass Eugenius seine Gedichte selbst anordnete, legt schon die Existenz der einleitenden praefatio nahe; für eine bewusste Gestaltung spricht aber auch das Gespür, das Eugenius an anderer Stelle, nämlich bei der Einleitung und Beschließung der Dracontius-Rezension, beweist und das sicherlich auch seinem eigenen Libellus zugute kam.152 Für die Erstellung des Libellus wäre das Jahr 653, das Todesjahr Chindasuinths und das Jahr der Froia-Rebellion,
148 Vgl. zu Gebeten in der paganen Poesie VON SEVERUS 1972, 1141–1145; vgl. für ein Beispiel zur christlichen Rezeption von paganen Gebetselementen etwa PELTTARI 2014, 155–157 (für Prudentius’ Rezeption eines Gebetes aus Vergils Aeneis). 149 Vgl. ALBERTO 2005a, 205–207. 150 Vgl. für einen Überblick über die ersten gedruckten Versionen ALBERTO 2005a, 156–160 und 160–162 zur Edition von Vollmer. 151 Vgl. für eine Übersicht der wichtigsten Manuskripte und der dort vorkommenden carmina ALBERTO 2005a, 166–168. 152 Vgl. ALBERTO 2018, 12.
3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus
131
auf die möglicherweise das carm. 5b anspielt, ein terminus post, die Sammlung wäre also zwischen 653 und 657, dem Todesjahr des Eugenius, entstanden.153 Es ist freilich nicht ganz auszuschließen, dass seine Gedichte posthum nach den Vorlieben anderer Editoren umgeordnet wurden. So wissen wir etwa von Isidor von Sevilla, dass nach seinem Tod durchaus frei mit seinem umfassenden Werk umgegangen wurde.154 Gerade die häufig zu beobachtenden thematischen Gruppierungen der Gedichte (so erscheinen etwa sämtliche Epitaphe, die carm. 16–29, in Reihe)155 lassen es nicht undenkbar erscheinen, dass die Gedichte im Nachhinein so angeordnet wurden, um ein stärker selektives, themenorientiertes Lesen im Unterschied zur Ganzlektüre zu erleichtern. Wäre dieses grundlegende Gestaltungsprinzip jedoch nicht von Eugenius selbst vorgegeben, wäre es doch erstaunlich, wie gründlich der usprüngliche Libellus vom heute aus den Manuskripten rekonstruierbaren Libellus verdrängt worden wäre. So kann es als wahrscheinlich gelten, dass in den Handschriften zumindest Teilstrukturen des ursprünglichen Libellus überliefert sind, deren bestmögliche Rekonstruktion die Ausgabe von Alberto darstellt. Ein besonderes Rätsel gibt jedoch die Frage nach dem Ende des Libellus carminum auf: Während sein Beginn durch die dichterische praefatio klar gekennzeichnet ist, haben wir zwar ein Gedicht, das in der einzigen erhaltenen Handschrift mit Conclusio überschrieben ist (carm. 76). Auf dieses folgen jedoch in derselben Handschrift – es handelt sich um eines der wichtigsten Zeugnisse des Libellus, den nach seinem berühmtesten Besitzer benannten Codex Azagra (Madrid 10029, pars 1, aus dem 9. Jahrhundert) – einige weitere Gedichte.156 Wie verhalten sich die Gedichte nach der Conclusio zum Libellus? Sind sie womöglich gar nicht von Eugenius? Während für einige dieser Gedichte der Codex Azagra das einzige Zeugnis darstellt, finden wir andere Gedichte auch in anderen wichtigen Handschriften unter Eugenius’ Carmina, so etwa die carm. 80–85 und das carm. 96, das in einer Handschrift (Paris lat. 8093, pars I) sogar die Eugenius-Gedichte beschließt. Andere Gedichte sind etwa in Julian 153 Vgl. ALBERTO 2005a, 16–17. Beim Chindasuinth-Epitaph (carm. 25), das für Alberto für ein Publikationsdatum nach 653 spricht, dem Todesjahr Chindasuinths, erscheint es aufgrund seiner heutigen Neuinterpretation allerdings nicht völlig undenkbar, dass es schon zu Lebzeiten des princeps verfasst wurde, vgl. die Ausführungen zu carm. 25 in Kap. 4.11 dieser Arbeit. 154 Vgl. für einen Überblick BARRETT 2020, 65–68. 155 Vollmers Einfügung des fragmentarischen carm. 20 VOLLMER = carm. 5b ALBERTO (ein Hymnus) in diese Reihe basiert auf einer fälschlichen Rekonstruktion des einzigen Manuskripts, das das Gedicht überliefert, vgl. ALBERTO 2005a, 162 und zur Rekonstruktion des fraglichen Manuskripts ALBERTO 2004a. 156 Vgl. zum Codex Azagra, der oft das Interesse der Forschung geweckt hat, VENDRELL PEÑARANDA 1979 und ALBERTO 2005a, 88–95. Vgl. zur Persönlichkeit des Miguel Ruiz de Azagra, eines der ersten und erfolgreichsten Editoren der Gedichte des Eugenius, dessen Edition leider nicht gedruckt wurde, ALBERTO 2014b, passim.
132
3 Die Makrostruktur des Libellus
von Toledos Ars grammatica zitiert, der auch sonst Eugenius oft und gerne als ‚aktuelles‘ Grammatikbeispiel verwendet. 157 Es gibt also zumindest keinen pauschalen Grund, die Gedichte nach carm. 76 als nicht-eugenianisch zu verwerfen – auch wenn einigen Gedichten eine gewisse Unsicherheit anhaftet.158 Alberto gesteht im Vorwort seiner Edition ein: „I was once tempted to exclude several pieces of very poor literary interest“, und nennt hier etwa carm. 93 und die carm. 77–79.159 Gleichzeitig hat die Conclusio, wenn sie sich auch nicht explizit als abschließendes Gedicht zu erkennen gibt, doch einige Merkmale, die dafür sprechen, dass der ursprüngliche Libellus einmal dort endete. Carm. 76 ist ein poetisches Gebet für den umfassenden, d.h. politischen, militärischen und moralischen Erfolg des princeps (ob an einen konkreten princeps gedacht ist, wissen wir nicht). Damit haben wir allein von der Textgattung her ein paralleles Gedicht zu carm. 1, dem ersten Gedicht des Buches nach der praefatio, das ebenfalls eine Oratio darstellt, hier für den Dichter selbst. Bereits die Anrede Gottes als Weltenschöpfer verbindet beide carmina miteinander, ebenso wie manche Formulierungen:160 carm. 1
carm. 76
V. 1: Rex Deus immense, quo constat machina mundi V. 4–6: sit mihi recta fides et falsis obuia sectis, sit mihi praecipue morum correctio praesens sim carus humilis uerax, cum tempore prudens
V. 1: Omnipotens rerum factor regumque creator
V. 19: da, precor, auxilium possim quo uincere mundum
V. 11–12: te donante, precor, qui regnans trinus et unus texis in aeternum saecula cuncta Deus.
V. 6: Sit blandus famulis, sit lenis censor iniquis V. 10: sit bona tota gerens et mala nulla gemens
Freilich dürfen solche Parallelen nicht überbewertet werden, da das ‚sprachliche Register‘ in Orationes naturgemäß begrenzt ist. Darüber hinaus haben
157
Vgl. für carm. 79 Julian von Toledo, gramm. 2,23,5 (235 MAESTRE YENES) und für carm. 86,2 und 88,2 gramm. 2,22 (234 MAESTRE YENES). 158 Vgl. dazu ALBERTO 2018, 14–15. 159 ALBERTO 2005a, 162–163. Gerade carm. 77 (CCL 114,268 ALBERTO), das erste von drei ‚Bett-Epigrammen‘, ist voll von typisch eugenianischen Ausdrücken und dürfte daher zumindest eine enge Rezeption der Eugenius-Gedichte darstellen, vgl. etwa carm. 77,2 membra […] labore fessa // carm. 14b,11–12 diu fessa […] membra (CCL 114,232 ALBERTO); carm. 77,4 tolle monstra // carm. 101,25 Tolle tot monstra (CCL 114,278 ALBERTO). Die sprachlichen Anklänge sind umgekehrt auch kein Argument gegen eine Abfassung durch Eugenius, da sich solcherlei starke Ähnlichkeiten auch zwischen anerkannt echten eugenianischen Gedichten finden, vgl. etwa carm. 1,16 lingua canat (CCL 114,206 ALBERTO) und carm. 33,2 lingua canit (CCL 114,247 ALBERTO). 160 Vgl. für das Folgende ALBERTO 2018, 13.
3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus
133
beide Gedichte ein unterschiedliches Versmaß: Während carm. 1 im Hexameter verfasst ist, steht carm. 76 – wie übrigens auch die praefatio – im elegischen Distichon. Es weist also nichts darauf hin, dass carm. 76 von vornherein als Parallelgedicht zu carm. 1 komponiert wurde. Dennoch eignet es sich – bei einer Sammlung und Anordnung der Gedichte ‚im Nachhinein‘ – sicherlich besonders gut als Stück, das den Kreis zum Anfang des Gedichtbuches wieder zu schließen vermag, insbesondere mit dem letzten Wort des Gedichtes in carm. 76,12, das den ersten Vers von carm. 1 aufnimmt: Deus, der zudem in beiden Kontexten königliche Epitheta erhält (rex in carm. 1, regnans in carm. 76). Gott wäre damit – rechnet man die praefatio nicht zum Gedichtbuch dazu – sozusagen das ‚Alpha und Omega‘ des Gedichtbuches. Alberto verweist an dieser Stelle auch auf Prudentius, der seinen Epilogus zu seinem Gesamtwerk mit dem Wort Christum enden lässt:161 „Das letzte Wort bringt sein ganzes literarisches Werk auf den Punkt: Christus ist sein Gegenstand, dessen Name in zuversichtlicher Freude aus allen Gedichten […] hervorklingt.“ 162 Freilich ist der Libellus in seiner Gesamtheit deutlich bescheidener als das monumentale Gesamtwerk des Prudentius (der Epilog schließt nicht nur eines seiner Bücher ab, sondern rahmt sein gesamtes magnum opus). Und auch der religiöse Anspruch jedes einzelnen Gedichtes erscheint viel offenkundiger als im Falle des Eugenius, sodass sich zu Prudentius’ Aussage, er habe ‚Christus erklingen lassen‘, keinerlei Widerspruch regen kann. Vielleicht lässt diese Beobachtung trotzdem den Schluss zu, dass nach Eugenius’ Auffassung eben auch geradezu Alltägliches, was er in der praefatio als nugae abwertet, auf seine eigene Weise von Gott künden kann – oder zumindest nicht im Widerspruch dazu steht, Gott als die ‚innere Mitte‘ des Libellus betrachten. Geht man in diesem Sinne von einem bewussten Abschluss des Libellus mit carm. 76 aus und akzeptiert gleichzeitig, dass zumindest einige, vielleicht sogar alle im Codex Azagra nach carm. 76 auftretenden Gedichte eugenianisch sind, lässt dies eigentlich nur den Schluss zu, dass es sich dabei um Gedichte handelt, die Eugenius entweder von vornherein (aus welchen Gründen auch immer) nicht in den Libellus aufgenommen hat oder die erst nach der ersten Herausgabe des Libellus verfasst wurden. Diese könnten dann nach seinem Tod von einem interessierten Herausgeber gesammelt und sozusagen als posthumer Appendix an den Libellus angeheftet worden sein.163
161 Vgl. ALBERTO 2018, 13 und Prudentius, epil. 34 (CCL 126,402 CUNNINGHAM): iuuabit ore personasse Christum. 162 COùKUN 2003, 230. 163 Vgl. ALBERTO 2018, 16.
134
3 Die Makrostruktur des Libellus
3.2.2 Der Aufbau des Libellus: Überblick über die Gedichte Die praefatio und die 101 Gedichte des Libellus werden unterschiedlich eingeteilt. Bernt spricht von einer grundlegenden Zweiteilung in einen ersten Teil, in dem das „Persönliche, Gefühlsbetonte, Religiöse, Lyrische“ dominiere, und einen zweiten Teil, der überwiegend „sachlich, reflektierend, kommentierend“ sei.164 Freilich gibt es Überlappungen; so muss gerade das letzte Gedicht, carm. 101, eindeutig zu den persönlichen Gedichten gezählt werden, ebenso wie manche ‚vorderen‘ Gedichte, etwa carm. 15 über die nachlassende Sexualität als Vorteil des Alters, auch unter den Sprichwörtern des zweiten Teils stehen könnten. Der Schwerpunkt gerade des Anfangs des Libellus auf dem Persönlichen ist jedoch ebenso unverkennbar wie der Schwerpunkt des zweiten Teils, den ich ungefähr ab carm. 37 ansetzen würde,165 auf dem Sachlichen. Paulo Alberto, der Herausgeber des Libellus carminum des Eugenius, gibt jüngst folgenden groben Überblick über die Struktur an:166 a) Dichterische Praefatio b) Oratio c) Moralisierende Epigramme d) Epigramme auf Kirchen e) Krankheit, Alter und Tod f) Epitaphe g) Scholastische Epigramme und Verschiedenes
(praef.) (carm. 1) (carm. 2–7) (carm. 9–12) (carm. 13–15) (carm. 16–29) (carm. 30–101)
Die Angabe des Großteils der übrigen Epigramme als ‚Verschiedenes‘ zeigt bereits, dass die thematische Anordnung gegen Ende des Gedichtbuches zunehmend schwieriger zu fassen wird. Trotzdem lassen sich auch innerhalb dieser Gedichte Gruppierungen vornehmen, wie Tabelle 1 zeigen soll. Selbstverständlich stellt auch der hier vorgestellte Vorschlag einer Unterteilung nur eine unter vielen Möglichkeiten dar. Im Unterschied zu Alberto habe ich etwa die „moralisierenden“ Gedichte noch einmal stärker unterteilt, da sie sich meiner Ansicht nach ihrem Charakter nach doch deutlich unterscheiden: Zwar haben alle Gedichte eine mehr oder weniger ausgeprägte moralisierende Schlagseite (jedoch etwa carm. 2 deutlich stärker als carm. 3 und 4), carm. 2– 4 treffen jedoch eher allgemeine Aussagen zum menschlichen Leben, während die carm. 6–7 sich mit zwei ganz konkreten Themen der individuellen Moral beschäftigen. Auch die beiden Klagegedichte bzw. -hymnen carm. 5 und 5b haben moralische Implikationen, der Schwerpunkt liegt hier aber eben auf der Klage, die in carm. 5 den allgemeinen Zustand der Menschen betrifft, in 164
BERNT 1968, 138. So zählt auch BERNT 1968, 139, der die zwei Teile nicht explizit voneinander abgrenzt, die Nachtigall-Gedichte (carm. 30–33), das Gedicht de ulmis et passeribus (carm. 34) und die beiden Gedichte rund um Streit und Versöhnung mit einem Freund (carm. 35 und 36) zu seinem ersten Teil, da sie „Menschlichem und Empfundenem“ gewidmet seien. 166 Vgl. ALBERTO 2018, 11. 165
135
3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus
carm. 5b jedoch eher als situationsbezogen erscheint und eine Klage im Angesicht schwerer gesamtgesellschaftlicher Krisen darstellt. Themen Einleitendes Die condicio humana
Moralisierende Gedichte
Praefatio Oratio Sterblichkeit Wankelmütigkeit Friedenssehnsucht Klage aus Sünde und Leid Trunksucht Völlerei Bibel-titulus
praef. carm. 1 carm. 2 carm. 3 carm. 4 carm. 5 carm. 5b carm. 6 carm. 7 carm. 8
Basilika-tituli
carm. 9 carm. 10 carm. 11 carm. 12 carm. 13 carm. 14
Krankheit, Alter und Tod
Krankheit Alter und Tod
Epitaphe
Rückblick auf das Alter Der Vorteil des Alters Epitaphia propria
Epitaphe für andere Personen
167
Gedicht
carm. 14b carm. 15 carm. 16 carm. 17 carm. 18 carm. 19 carm. 21168 carm. 22 carm. 23 carm. 24 carm. 25 carm. 26 carm. 27 carm. 28 carm. 29
Versmaß Eleg. Dist. Hexameter Hexameter Hexameter Eleg. Dist. Troch. Septenar Jamb. Trimeter Hexameter Eleg. Dist. Hexameter / Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. / Jamb. Trimeter Sapph. Strophe Eleg. Dist. Hexameter Sapph. Strophe Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Hexameter Eleg. Dist. Hexameter Eleg. Dist.
Verszahl 18 22 14 10 12 30 69?167 16 10 48 22 12 20 12 10 80 20 4 8 12 6 4 30 30 6 12 26 14 10 8 10
Carm. 5b ist nur fragmentarisch erhalten, der Aufbau des Gedichtes (es handelt sich um einen abecedarischen Hymnus, in dem jede Dreierstrophe mit dem im Alphabet folgenden Buchstaben beginnt) lässt aber gut erschließen, dass dem Gedicht zuvor 15 Verse und danach mindestens 14 Verse fehlen, sodass die Gesamtlänge mindestens 69 Verse beträgt, vgl. ALBERTO 2005a, 213. 168 Gemäß der Edition von Paulo Alberto, der mit guten Gründen das carm. 20 der Edition Vollmers als carm. 5b nach vorne zieht, wird hier Vollmers Zählung der übrigen Gedichte beibehalten, weshalb hier ein Gedicht zu fehlen scheint.
136
3 Die Makrostruktur des Libellus carm. 30 carm. 31 carm. 32 carm. 33 carm. 34 carm. 35 carm. 36 carm. 37 carm. 38 carm. 39 carm. 40 carm. 41 carm. 42 carm. 43
Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Hexameter Hexameter Troch. Septenar Hexameter Hexameter Hexameter Eleg. Dist.
2 2 4 20 4 18 12 7 10 6 6 12 7 4
Glas Die Zitrusfrucht
carm. 44 carm. 45 carm. 46 carm. 47 carm. 48 carm. 49 carm. 50 carm. 51 carm. 52 carm. 53 carm. 54 carm. 55 carm. 56 carm. 57 carm. 58 carm. 59 carm. 60 carm. 61 carm. 62 carm. 63 carm. 64
2 4 4 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2?
Epigramme auf Gebrauchsgegenständen
carm. 65 carm. 66
carm. 67 carm. 68 carm. 69 carm. 70
Hexameter Eleg. Dist. Eleg. Dist. Hexameter Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Hexameter Hexameter Hexameter Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Hexameter Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Hexameter + ? (zweiter Vers verloren) Eleg. Dist. Hexameter + Jambischer Trimeter Eleg. Dist. Eleg. Dist. Hexameter Hexameter
carm. 71 carm. 72 carm. 73
Hexameter Hexameter Hexameter
2 4 2?
Der Nachtigall-Zyklus
Ein Idyll Streit und Versöhnung Aufzählende Epigramme
Biblisch: Siebentagewerk und zehn Plagen Die Erfinder der Schrift ‚Tierisches‘
Epigramme über verschiedene Naturphänomene
Die Teile des menschlichen Körpers Vogelarten
Der Schiffshalter Der Gecko Die fünf Sinne Die vier Jahreszeiten Epigramme über das Wetter Wasser und Eis Mineralien
Tmetisches Gedicht an Johannes Ein kleiner Altar Himmelsbeobachtung und Winde
2 2
2 2 6 10
137
3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus Segenswunsch an den König Handtuch Conclusio Apotropäische ‚Bettverse‘
Verschiedene Sprichwörter
carm. 74
Eleg. Dist.
4
carm. 75 carm. 76 carm. 77 carm. 78 carm. 79
Eleg. Dist. Eleg. Dist. Troch. Septenar Eleg. Dist. Anapäst. ‚Dimeter‘169 Eleg. Dist. Eleg. Dist. Hexameter Eleg. Dist. Hexameter Eleg. Dist. Hexameter + Troch. Dimeter Hexameter + Jamb. Dimeter Hexameter + Troch. Dimeter Hexameter + Troch. Septenar Hexameter Hexameter Hexameter Hexameter Hexameter Hexameter Hexameter Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Eleg. Dist. Sapph. Strophe
4 12 6 4 1
carm. 80 carm. 81 carm. 82 carm. 83 carm. 84 carm. 85 carm. 86 carm. 87 carm. 88 carm. 89
Religiöse Weisheiten
Die vier Jahreszeiten Brief-Epigramme
Der Sommer
carm. 90 carm. 91 carm. 92 carm. 93 carm. 94 carm. 95 carm. 96 carm. 97 carm. 98 carm. 99 carm. 100 carm. 101
2 2 2 2 2 2 2 2 2 10 2 2 2 2 1 2 3 24 4 4 2 28
Tab. 1: Strukturübersicht des Libellus carminum Erläuterungen: grau hinterlegt = Gedichte mit deutlicher Präsenz der Dichter-persona, siehe unten unter 3.2.4. 169
Eugenius von Toledo, carm. 79 (CCL 114,269 ALBERTO): Crucis almae fero signum: fuge, daemon. Das Versmaß dieses Einzeilers ist nicht leicht zu bestimmen, da Eugenius die ausgeprägte Neigung hat, die Schlusssilben eines Wortes nach Belieben kurz oder lang zu messen. Julian von Toledo, gramm. 2,23 (235 MAESTRE YENES) sieht darin drei aneinandergereihte anapästische Dimeter (crucis almae – fero signum – fuge daemon), wobei bei ihm, wie bei den meisten spätantiken Grammatikern, der Dimeter auch bei den trochäischen, jambischen und anapästischen Versmaßen nur zwei einzelne Versfüße und nicht zwei doppelte Versmaße meint (das klassische Bezeichnungssystem, das ich hier sonst verwende); vgl. dazu HEIKKINEN 2012, 161. Die drei ‚Dimeter‘ bestehen jeweils aus einem Anapäst und einem sog. Kolobon, also einem ‚verstümmelten‘ Versfuß, ebenso die anderen Bestandteile des Verses.
138
3 Die Makrostruktur des Libellus
3.2.3 Thematisch-generische Gruppierung als Strukturprinzip Diese erste – für unser Thema besonders interessante – ‚Gruppe‘ zeigt bereits eines der Grundprinzipien der Gestaltung gut auf: Die Anordnung nach Thema und/oder Gattung ist zwar relativ strikt (so stehen sämtliche Basilika-tituli und sämtliche Epitaphe beieinander), innerhalb dieser Gruppen gibt es jedoch immer wieder Parameter, die für Abwechslung sorgen. Selbst in der sehr homogenen Gruppe der Basilika-tituli (die alle im elegischen Distichon verfasst und ähnlich aufgebaut sind) haben wir im ersten Gedicht (carm. 9) einen Metrikwechsel innerhalb des Gedichtes,170 das zweite Gedicht ist im Unterschied zu den anderen konsequent epanaleptisch (das Distichon beginnt und endet also immer mit demselben Halbvers)171 und in carm. 11 tritt das lyrische Ich des Eugenius auf und ersucht die Leserinnen und Leser um Fürbitte.172 Längere und kürzere tituli wechseln sich ab. Schön zu beobachten ist dieses Prinzip beim Nachtigall-Zyklus, dessen Gedichte allein schon in ihrem Umfang zwischen einem Distichon, zwei und zehn Distichen variieren. Das erste Gedicht (carm. 30) stellt eine etymologische Herleitung des Namens der Nachtigall dar (ein solches Gedicht könnte auch unter den Vogel-Epigrammen carm. 44–50 stehen), das zweite gibt eine kleine Kuriosität an (die Nachtigall singt Menschen in den Schlaf und benutzt doch ihren Gesang, um selbst wachzubleiben). Es folgt als drittes Gedicht ein kurzer fiktiver Dialog mit der Nachtigall, in dem nach der Motivation für ihr Wachen und Singen gefragt wird, bevor dann das längste Gedicht den Zyklus beschließt, in dem das Lob der Nachtigall gesungen und Christus gedankt wird, dass er den Menschen einen so schönen Trost wie den Gesang dieses besten Sängers unter den Vögeln geschenkt habe. Wir haben innerhalb dieses Zyklus also eine Progression von einer banalen etymologischen Beobachtung hin zu einem Preisgedicht, das auch religiöse Züge trägt (und, wie die kursorische Lektüre zeigen wird, auch poetologisch interessant ist). An den Zyklus grenzt ein Gedicht (carm. 34 über Ulmen und Vogelgezwitscher), das zwar nicht mehr von der Nachtigall handelt, aber die lyrisch-idyllische Stimmung des Zyklus einfängt und ausklingen lässt. Eine deutlichere Abweichung vom Prinzip der Gruppierung nach Thema und/oder Gattung stellen eigentlich nur die Gedichte rund um die Conclusio (carm. 76) dar. Nachdem fünf Epigramme auf Gebrauchsgegenstände hintereinanderstanden, tauchen nach dem eingeschobenen tmetischen Gedicht an Johannes (carm. 70) verstreut weitere auf (das Altar- und das Handtuchepigramm, 170 Vgl. carm. 9,13–14 (CCL 114,221 ALBERTO): Sed quia cuncta simul metrum non suscipit unum, accipe diuersis haec uariata metris. 171 Vgl. carm. 10 (CCL 114,222 ALBERTO): Macte decus proprium, Vincenti martyr alumne, / unica spes nobis, macte decus proprium. 172 Vgl. carm. 11,19–20 (CCL 114,224 ALBERTO): Eugenium, quaeso, propriis adiunge querellis: / sic culpis ueniam promereare tuis.
3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus
139
carm. 71 und 75), werden aber von den Gedichten über das Wetter, die eher zu den Naturphänomen-Epigrammen gepasst hätten (carm. 72 und 73), sowie dem Segenswunsch an den König (carm. 74) ‚unterbrochen‘. Dass nach der Conclusio Gedichte nicht bei anderen Gedichten stehen, zu denen sie thematisch gut passen würden (so das carm. 96 zu carm. 54; beide über die vier Jahreszeiten), wäre freilich mit der Theorie, dass die Gedichte nach der Conclusio erst später angefügt wurden, zur Genüge erklärt. Aber auch bezüglich der leichten thematischen Konfusion vor der Conclusio muss bedacht werden, dass an dieser Stelle die Reihenfolge nur durch ein einziges Manuskript belegt ist.173 3.2.4 Der Libellus vom Anfang her gedacht – inhaltliche Progression im Libellus carminum? Bei allen Unsicherheiten im Einzelnen wird deutlich sichtbar, wie stark sich der Charakter des Libellus unterscheidet, je nachdem, ob man ihn weiter vorne oder weiter hinten aufschlägt. Das zeigt sich schon hinsichtlich des Umfangs der Gedichte: Während wir in den großen Epigrammgruppen über Naturphänomene, Gegenstände und Sprichwörter meist nur Ein- oder Zweizeiler haben, ist am Anfang nur selten ein Gedicht kürzer als zehn Verse. Nimmt man die praefatio aus, ist ungefähr nach carm. 19 quantitativ die Hälfte des Gedichtbuches 101 carmina umfassenden Gedichtbuches erreicht. Günter Bernts Beobachtung, dass zu Beginn des Gedichtbuches das Persönliche stärker im Fokus ist als am Ende, bestätigt sich ebenfalls eindrucksvoll, auch wenn die Schlussgedichte, besonders carm. 97 und 101, sicher ebenso zu den persönlichen Gedichten zu zählen sind. Die in obiger Übersicht grau hinterlegten carmina stellen diejenigen Gedichte dar, in denen eine deutliche Präsenz der Dichter-persona (sei es durch die Angabe des Namens des Eugenius oder durch die Gegenwart eines lyrischen Ichs, das die Leserinnen und Leser aus dem Kontext heraus mit Eugenius identifizieren werden) spürbar ist – eine Unterscheidung, die übrigens schon die Antike traf und die auch Isidor kennt.174 Manche Fälle sind uneindeutig,175 wie etwa bei den Brief-Epigrammen carm. 98–100, in denen Eugenius nicht mehr namentlich genannt ist und 173
Vgl. ALBERTO 2005a, 167. Vgl. Isidor von Sevilla, orig. 8,7,11 (321 LINDSAY): Apud poetas autem tres characteres esse dicendi: unum, in quo tantum poeta loquitur, ut est in libris Vergilii Georgicorum: alium dramaticum, in quo nusquam poeta loquitur, ut est in comoediis et tragoediis: tertium mixtum, ut est in Aeneide. Nam poeta illic et introductae personae loquuntur. Dies entspricht der klassischen Unterscheidung in das Mimetische, Dramatische und Narrative, vgl. LEFTERATOU/HADJITTOFI 2020, 15. 175 Unklar ist hier carm. 22 und 29 (unter den Epitaphen); carm. 36 wäre eindeutig persönlich, wenn klar ist, dass das Gedicht (über die Wiederkehr des Friedens) komplementär zu carm. 35 als Beilegung eines Streites mit einem Freund zu lesen ist und nicht als (auch) politisch; carm. 77 und 78 können die Dichter-persona meinen (deren Wunsch nach ruhigem Schlaf auch in carm. 101 eindeutig persönlich zum Ausdruck kommt), aber auch einfach den 174
140
3 Die Makrostruktur des Libellus
wir also entweder das Ich in Fortsetzung zu carm. 97 als Eugenius’ Dichterpersona begreifen oder die Gedichte als beliebig in jedem Brief einsetzbare Grußformeln auffassen können, womit das lyrische Ich dann nicht näher bestimmt wäre als ‚irgendein Briefschreiber‘. Doch auch andere Gedichte insbesondere des ersten Teils, bei denen kein lyrisches Ich auftritt, sind oft auf die eine oder andere Weise mit der Dichter-persona verbunden: Indem z.B. Epitaphe und der Bibel-titulus Menschen aus dem direkten Umfeld des Eugenius kommemorieren oder die Basilika-tituli Kirchengebäude und die zugehörigen Heiligen beschreiben, zu denen Eugenius durch seine Zeit in Saragossa einen persönlichen Bezug hatte, wie wir aus der von Ildefons verfassten Vita wissen. Naturgemäß sind also diejenigen Gedichte, denen aufgrund ihres Themas unser Hauptinteresse gelten kann, eher am Anfang des Libellus zu suchen. Gerade die allererste Gruppe, die ich unter dem Stichwort condicio humana zusammengefasst habe, ist dabei, wie wir gesehen haben, durchaus heterogen und beinhaltet eine Vielzahl an Themen. Ihre Anordnung ist jedoch, verglichen mit den ebenfalls thematisch breiter gestreuten Gedichten rund um die Conclusio, handschriftlich wesentlich breiter und sicherer belegt. Daher drängt sich hier besonders die Frage auf, ob neben dem Prinzip der Gruppierung von Ähnlichem noch andere Ordnungsprinzipien am Werk sein könnten, die erst bei der sequentiellen Lektüre der Einzelgedichte auffallen können. Einen ersten Hinweis kann hier vielleicht die Bemerkung liefern, die Kurt Smolak nicht für das Gedichtbuch insgesamt, sondern für eine wesentlich kleinere Gruppe getätigt hat: Er sieht in carm. 13–14b und carm. 15–19 (evtl. unter Hinzunahme von carm. 5, das er gerne zwischen carm. 15 und 16 stellen würde) „zwei Zyklen über Krankheit, Greisenalter, Tod und Jenseits“.176 Wenn auch Smolaks damit verbundene Einteilung in Fünfereinheiten aus meiner Sicht nicht überzeugen kann (vgl. dazu auch die Detailanalysen zu carm. 13 und 14),177 ist dennoch die Beobachtung bestechend, dass in dieser Gedichtreihe eine chronologische Progression innerhalb des menschlichen Lebens auf Besitzer des (realen oder im Epigramm vorgestellten) Bettes, auf dem das Gedicht als Aufschrift steht. Sie alle wurden hier nicht mitgezählt und sind daher in der Tabelle nicht grau hinterlegt. 176 SMOLAK 2010, 84. 177 SMOLAK 2010, 83–84 sieht in carm. 13–14 (was auch carm. 14b ALBERTO beinhaltet, das Smolak nicht von carm. 14 abtrennen möchte) einen Zyklus aus fünf poetischen Einheiten, die sich durch die Aufteilung des polymetrischen carm. 14 in die distinkten metrischen Bestandteile ergeben. Daran schließe sich eine zweite Fünfereinheit an: Entweder carm. 15– 19 oder, wenn carm. 5 zwischen carm. 15 und carm. 16 stehen könnte, wie diverse ältere Textausgaben es angeben, carm. 5 + carm. 16–19, mit carm. 15 als Mittelpunkt und ‚Scharnier‘ zwischen den beiden Zyklen. Damit folge Eugenius einem Strukturprinzip der Oden des Horaz. Erste Anmerkungen hierzu: Für die Umstellung von carm. 5 kann sich Smolak in der Tat auf zwei (miteinander verwandte) Handschriften berufen (die von Alberto mit F und P bezeichneten Handschriften Paris lat. 8093, pars I und Paris lat. 2832, in denen carm. 5 nach carm. 14 steht; in diesen fehlen aber die carm. 15 und 17. Dem steht das Zeugnis von
3.2 Aufbau und Strukturprinzipien des Libellus
141
den Tod hin stattfindet. Natürlich bilden diese Gedichte kein inhaltliches Kontinuum (im Sinne eines fortlaufenden Narrativs), sondern folgen ähnlichen Prinzipien der Variation eines Themas, wie wir sie bereits anhand der Basilikatituli und der Nachtigall-Gedichte gesehen haben. Die Anordnung der Themen, dass nämlich in der (durch Alberto und Vollmer rekonstruierten) Lesereihenfolge auf Krankheit und Alter der durch die Auto-Epitaphe vorweggenommene Tod folgt, erscheint aber nicht eben zufällig. Derlei ‚kleinere‘ Anordnungsprinzipien, die freilich keinen Gesamtentwurf des Libellus konstituieren, aber doch sinnfällig erscheinen und daher als (von Eugenius selbst oder seinen Rezipienten) bewusst gestaltet anzunehmen sind, werden freilich erst bei einer sequentiellen, die Lesereihenfolge beachtenden Lektüre des Libellus carminum sichtbar, wie sie im Folgenden vorgenommen wird. Die augenfälligsten Ergebnisse seien allerdings hier bereits kurz vorweggenommen: Wie sich zeigen wird, spielt für das thematische Zusammenhalten des ‚persönlichen‘, inhaltlich eher heterogenen Anfangsteils das carm. 1 eine besondere Rolle, das Gebet zu Gott, in dem das lyrische Ich um ein umfassend geglücktes Leben und einen guten Tod und Fortgang im Jenseits betet. Viele Themen, die hier angeschnitten werden – moralisch-ethische Ideale, aber auch ganz konkrete irdische Hoffnungen, die Notwendigkeit zu beständiger Buße und die Hoffnung auf Vergebung nach dem Tod – erscheinen in den folgenden Gedichten des ersten Teils in vielfältiger Weise wieder und wirken so wie ‚Fäden‘, die von carm. 1 ausgeworfen und an unterschiedlicher Stelle und in unterschiedlicher Intensität wieder aufgenommen werden. Der Modus, in dem diese Themen aufgegriffen werden, ist dabei oft durch die in den Gedichten konstruierte je größere Nähe oder Ferne des Todes bestimmt: Dies beginnt
Ú (Léon AC fragm. 8) gegenüber, das nach ALBERTO 2005a, 98 das Fragment einer der vollständigsten Anthologien des Eugenius überhaupt ist und höchstwahrscheinlich auch die carm. 15–19 enthielt, wie andere, damit verwandte Manuskripte belegen. In beiden Fällen, ob mit oder ohne carm. 5, erscheint es mir jedoch in dieser Konzeption unverständlich, dass carm. 15 vom Krankheit-Alter-Zyklus abgetrennt wird und entweder in einem Zyklus mit den Auto-Epitaphen steht oder als ‚Scharnier‘ zu diesem Zyklus gilt. Im sehr kurzen carm. 15 wird das Freisein vom Sexualtrieb im Alter als dessen einziger Vorteil deklariert, und auch wenn sich damit eine leichte Verbindung zu carm. 17 ergibt, in dem das lyrische Ich gesteht, am mönchischen Ideal gescheitert zu sein, scheint diese Verbindung doch etwas gesucht, zumal das lyrische Ich in carm. 14 ebenfalls sexuelle Verfehlungen bekennt. Ferner wäre ein solches Beachten einer horazischen Fünferstruktur in Eugenius’ Carmina ohne paralleles Beispiel. Anders die Vierzahl, deren mögliche Symbolträchtigkeit SMOLAK 2010, 84 selbst für das vierfach variierte Auto-Epitaph bemerkt: Im Gedichtbuch gibt es vier beieinanderstehende Basilika-tituli; der Nachtigall-Zyklus umfasst vier Gedichte, am Ende des Gedichtbuches stehen vier Brief-Epigramme. Trennt man mit Alberto carm. 14b von carm. 14 ab, ergäben die carm. 13–15 (Krankheit und Alter) und die carm. 16–19 (die Auto-Epitaphe) jeweils zwei Zyklen à vier Einheiten.
142
3 Die Makrostruktur des Libellus
schon bei carm. 2, das allgemein (und nicht aus der Situation des bereits drohenden Todes heraus) die Notwendigkeit begründet, den Tod beständig vor Augen zu haben und an dieser Erkenntnis sein Leben auszurichten. Während carm. 2 noch eine nicht spezifisch auf das lyrische Ich bezogene Mahnung darstellt, ist carm. 5 ein persönliches Gedicht, in dem Eugenius’ Dichter-persona das Ende bereits deutlich konkreter auf sich zukommen sieht und im Modus der Klage poetisch verarbeitet. Dementsprechend verschärft sich die Dringlichkeit, die noch verbleibende Zeit zur Umkehr und zur Reinigung durch Bußpraktiken zu nutzen. Carm. 5b verlagert das zunächst für die Dichter-persona selbst Ausgesagte auf die Gesamtgesellschaft, die im Angesicht von Katastrophen und Krisen dasselbe Programm von Klage, Umkehr und büßender Reinigung absolvieren muss, das in carm. 5 aus Sicht der Dichter-persona konstruiert wurde. Nach Gedichten über konkrete moralische Probleme und den tituli, die zwar zunächst von diesem Thema weggehen, en passant die genannten Motive der spirituellen Lebensführung aber ebenfalls streifen, folgt dann der von Kurt Smolak erwähnte Gedichtkreis von Krankheit und Alter, der von den Auto-Epitaphen abgerundet wird. Vor allem in carm. 14 steigert sich die Imminenz des Todes maximal: Umkehr und Besserung sind im Greisenalter nicht mehr möglich, dem lyrischen Ich bleibt nur noch eine späte Reue, bittere Selbstanklage und die blasse Hoffnung auf Gottes Gnade. Natürlich sind diese Gedichte – nach dem Prinzip der uariatio – immer wieder durch ‚leichtere‘ Gedichte wie das geradezu meditative pax-Gedicht carm. 4 oder die tituli unterbrochen. Das Crescendo hin zum Tod ist also nicht linear, sondern wird nur durch einzelne Gedichte getragen. Es verharrt auch nicht auf diesem hohen Niveau existentieller Dringlichkeit, sondern kann durch das resignative carm. 14b und das sarkastisch-realistische carm. 15 bereits wieder abklingen. Auch die Auto-Epitaphe tragen durch ihre formale wie inhaltliche Varianz zu dieser Entspannung bei: Einen anderen Ton schlägt etwa das mit Akrostichen und Telestichen trotz ernsten Inhalts spielerisch gehaltene carm. 16 an, aber auch das carm. 18, in dem ausnahmsweise nicht das furchtsame Sündenbewusstsein, sondern die Hoffnung auf die Auferstehung das vorerst letzte Wort haben darf.
4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre des Libellus carminum 4.1 carm. praef.: Ein pastorales Vorwort 4.1 carm. praef.: Ein pastorales Vorwort
Da die poetologischen Schlüsselbegriffe aus der dichterischen praefatio bereits im Rahmen der Gattungsfrage (Kap. 3.1) erläutert wurden, genügt es, sich hier auf einige Grunddaten zu beschränken. Das einleitende Gedicht spricht die Leserinnen und Leser an, hat dabei jedoch zwei Botschaften, je nachdem, mit welcher Haltung diese an das Gedichtbuch herantreten: Gut die erste Hälfte der praefatio (V. 1–10) wendet sich an missgünstige Leserinnen und Leser, genauer an ein pars pro toto stehendes Auge, das das Buch ‚schief anschaue‘ und nachher schlechtreden wolle.1 Derlei Verhalten wird in satirischer Tradition beschrieben,2 mit einer Wortwahl, die schon Hieronymus aufnimmt, um das herablassende Verhalten anderer zu kritisieren.3 Den Attacken des angesprochenen fiktiven ‚Kritikers‘ – von dem wir einige Verse später erfahren, dass sein Motiv vor allem der Neid ist – stellt der Dichter emphatisch seine eigene Furchtlosigkeit gegenüber: non pauet Eugenius, non pauet Eugenius. Nach dieser grundsätzlichen Feststellung wird der Ton geradezu ‚pastoral‘: Die Dichter-persona versucht den fiktiven Neider von der Sinnlosigkeit seines Gefühls und seiner verleumderischen Handlungen zu überzeugen, und diesmal nicht nur mit dem Verweis auf deren Erfolglosigkeit, sondern auch auf die negativen Auswirkungen auf das eigene Seelenheil des Neiders,4 der damit nur 1 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. praef. 1–3 (CCL 114,203 ALBERTO): Obliquo memet uisu qui figis, ocelle, / si mihi rite placet, quae tibi cura manet? / Quamuis rancidulum rugata fronte susurres, / non pauet Eugenius, non pauet Eugenius. 2 Vgl. für die seltene Vokabel rancidulus (carm. praef. 3 [CCL 114,203 ALBERTO]) Persius, sat. 1,33 (4 KISSEL), Juvenal, sat. 11,135 (158 WILLIS) und Martial, epigr. 7,34,7 (222 SHACKLETON BAILEY); vgl. für die Vokabel sannae (carm. praef. 5 [CCL 114,203 ALBERTO]) Persius, sat. 5,91 (27 KISSEL). Gerade für Persius geht ALBERTO 1999a, 312–313 davon aus, dass Teile seines Werkes in Spanien verfügbar waren. 3 Vgl. Hieronymus, c. Ioh. 4 (CCL 79A,9 FEIERTAG): Tu beatissimus papa et fastidiosus antistes […] conseruos tuos et redemptos sanguine domini tui, rugata fronte et obliquis oculis despicias? 4 Im Unterschied zu ALBERTO 2002a, 250 würde ich carm. praef. 8: prodest hoc animae, fac mihi crede, tuae (CCL 114,203 ALBERTO) nicht als Hinweis verstehen, dass Eugenius vor seinen Leserinnen und Lesern den spirituellen Nutzen seiner Gedichte anpreisen möchte,
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
seinen Geist betrübe und sich selbst dabei doch nicht nütze – geschweige denn dem Dichter irgendeinen Schaden zufügen könne. Mild und freundlich dagegen gibt sich die Dichter-persona gegenüber einem lyrischen Du, das seine uneleganten poetischen Spielereien (die nugae und rustica uerba) ruhig und ohne Groll aufnimmt. Für dieses hat er die wärmsten Segenswünsche übrig: sis uita locuples et Christi munere diues, sermone pollens ingenioque uigens; suauibus effingas sat dia poemata metris nec uereare libris aemula flabra tuis. Praesens incolumi transcurras tempore saeclum et faueat iugis pax tibi paxque tuis.5 Lange mögest du leben und reich sein an Christi Gnade, dein Reden habe Gewicht und dein Geist sei voll Kraft, du mögest mit wohlklingenden Metren geradezu heil’ge Gedichte verfassen, und für deine Bücher den Gegenwind des Rivalen nicht fürchten. Die gegenwärtige Weltzeit mögest du in schadloser Zeit durchlaufen und beständiger Friede sei dir gewogen und Friede den Deinen.
Besonders die Segenswünsche des letzten Distichons leiten bereits zu Themen über, die in den folgenden Gedichten aufgenommen werden, insbesondere im folgenden carm. 1: In der Oratio an Gott wünscht sich das lyrische Ich selbst, weitgehend ‚unbeschädigt‘ durch das eigene Leben zu kommen. Der Friedenswunsch wird im carm. 4 wiederbegegnen, in dem das Friedensthema und seine Bedeutung vertieft werden.
4.2 carm. 1: Einleitendes Gebet 4.2 carm. 1: Einleitendes Gebet
Das carm. 1 eröffnet – nach der praefatio, die durch ihre direkte Anrede der Leserinnen und Leser und einige angedeutete Reflexionen über die Art des Gedichtbuches in gewisser Weise ‚außerhalb‘ steht – den Libellus. Mit seiner Anrede an Gott (carm. 1,1: Rex Deus immense) greift es einerseits auf die dia poemata der praefatio zurück, die zu verfassen der Dichter seinen Leserinnen und Lesern gewünscht hatte, und eröffnet andererseits einen Rahmen, der mit da hoc nicht erkennbar auf Eugenius’ Gedichte, das Gedichtbuch etc. (die noch gar nicht erwähnt wurden) bezogen scheint, sondern eher auf den vorhergehenden Satz, in dem der Neider dazu aufgefordert wird, von seinem üblen Willen abzulassen: Inuide, iam cessa, iam cessa, perfide, cessa (carm. praef. 7 [CCL 114,203 ALBERTO]). Ein spiritueller Mehrwert scheint mir lediglich in den später folgenden Segenswünschen an die wohlwollenden Leserinnen und Leser angedeutet, die Christi munere diues sein mögen; jedoch wird auch hier kein direkter Zusammenhang zwischen der Lektüre und der Erfüllung dieses Wunsches gezogen. 5 Eugenius von Toledo, carm. praef. 13–18 (CCL 114,204 ALBERTO).
4.2 carm. 1: Einleitendes Gebet
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dem letzten Wort der Conclusio (carm. 76,12: Deus) geschlossen wird. (Wie oben, Kap. 3.2.1, dargelegt, haben wir nicht mit einer Gesamtkomposition a priori, aber mit einer durchaus bewussten nachträglichen Anordnung der Gedichte zu rechnen.) Gleichzeitig schneidet das Gedicht bereits einige Themen und Diskurse an, die im Gedichtbuch immer wieder aufgenommen werden. Carm. 1 erscheint bereits stark von einer christlichen poetischen Tradition der dichterischen Orationes geprägt. Ein wichtiger Bezugstext ist hier die sog. Oratio maior bzw. matutina, die in den Handschriften abwechselnd Paulinus von Nola und Ausonius zugeschrieben wurde und die über zahlreiche Referenzen und sogar Zitate mit dem carm. 1 verbunden ist.6 Gut mit dem Gedicht vergleichbar ist aber auch die Oratio minor, deren Zuordnung an einen Autor dieselbe Schwierigkeit bereitet, die aber jüngst als mit der Oratio maior zusammenhängend und so als Gemeinschaftsprojekt des Ausonius und Paulinus von Nola betrachtet wurde.7 Mit den genannten Gedichten teilt carm. 1 die typische dreigliedrige Gebets- bzw. Hymnenstruktur: Es enthält eine Anrede, auf die ein prädikativer Teil folgt (hier im von Norden so genannten Relativstil verfasst: quo constat),8 und eine Reihe von Bitten. Die beiden ersten Teile sind – im Gegenzug zur Oratio maior, deren ausführliche Prädikation beinahe einem poetischen Glaubensbekenntnis entspricht9 – im carm. 1 stark reduziert und in einem einzigen Vers komprimiert, auf den sofort der Beginn des bittenden Teils folgt: Rex Deus immense, quo constat machina mundi, quod miser Eugenius posco, tu perfice clemens: sit mihi recta fides […]10
6
Vgl. am deutlichsten die einleitende Formel Da, pater (carm. 1,17 [CCL 114,206 ALin der Oratio maior dreimal wiederholt wird (Ausonius, ephem. 3,31.43.58 [9– 11 GREEN] = Paulinus von Nola, Or. mai. 31.43.58 [CCL 21,517–518 DOLVECK], und die Einleitung der ‚postmortalen‘ Bitte Cumque suprema dies mortis patefecerit urnam (carm. 1,21 [CCL 114,207 ALBERTO]) und suprema diei cum venerit hora (Ausonius, ephem. 3,72 [11 GREEN] = Paulinus von Nola, Or. mai. 72 [CCL 21,519 DOLVECK]). 7 Diesen Vergleich unternimmt bereits CODOÑER 1981, 331–333. Traditionellerweise wird die Oratio maior eher Ausonius zugeschrieben, die Oratio minor dem Paulinus (manchmal sogar dem Paulinus von Pella, nicht von Nola). Franz Dolveck, der Herausgeber der Carmina des Paulinus von Nola, geht allerdings davon aus, dass beide Gedichte Teil der (meist Ausonius zugeschriebenen) Ephemeris sind, die ein Gemeinschaftsprojekt der beiden Dichter darstelle; vgl. DOLVECK 2015b, passim. 8 Vgl. NORDEN 1974/11913, 168–176. 9 Ausonius/Paulinus widmet diesem Teil 30 Verse und damit ein gutes Drittel des gesamten Gedichtes; vgl. zu den Bezügen dieses Textes auf wichtige kirchliche Symbola und die Bibel SKEB 2000, 333–342. 10 Eugenius von Toledo, carm. 1,1–3 (CCL 114,205 ALBERTO). Ähnlich medias in res geht dagegen Paulinus von Nola, Or. min. 1–3 (CCL 21,507 DOLVECK): Omnipotens Genitor, rerum cui summa potestas, / Exaudi, si iusta precor, ne sit mihi tristis / Vlla dies […]. BERTO]), die
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
O König, unermesslicher Gott, in dem des Weltalls Mechanik Bestand hat, worum ich, der arme Eugenius, bitte, vollende du mild: Den rechten Glauben möge ich haben […]
Die Bitten selbst sind auf keinen Anlass bezogen, sondern betreffen das gesamte Leben, insbesondere die moralische Entwicklung der Dichter-persona,11 die sich hier auch zum ersten Mal im Gedichtbuch mit dem typischen Attribut miser bzw. misellus vorstellt und so bereits die durchgehende Praxis der noch folgenden Gedichte vorwegnimmt:12 Während in der praefatio noch der (innerhalb der Grenzen der nötigen Bescheidenheit durchaus selbstbewusste) Dichter Eugenius auftrat, begegnen wir hier einem armen, oft leidenden, sich notorisch unzulänglich fühlenden Eugenius,13 der sich freilich nicht erst aufgrund besonderer Leiden oder spezieller Sünden vor Gott und den Leserinnen und Lesern miser nennen kann, sondern einfach, weil er ein (unter postlapsarischen Bedingungen in dieser Welt lebender) Mensch ist.14 Er folgt darin dem Beispiel zahlloser christlicher Autoren nicht nur des wisigotischen Spaniens, sondern der gesamten patristischen Zeit.15 Die Bitten selbst erscheinen dabei bunt durchmischt: Sie beginnen mit der Bitte nach Rechtgläubigkeit im Unterschied zu „falschen Sekten“ (falsis […] sectis). Die zweite Bitte nach der morum correctio praesens leitet eine stark moralisch orientierte Reihe von Bitten ein und deutet insbesondere mit der Betonung, sie möge gegenwärtig, also noch in diesem Leben stattfinden,16 bereits ein Thema an, das etwa in carm. 5 wieder aufgenommen wird: die Notwendigkeit, möglichst in diesem Leben die Sünde zu vermeiden oder zu sühnen, um
11
Vgl. CODOÑER 1981, 332: „the requests are general and affect the moral progress of the individual.“ 12 Die Selbstbezeichnung als miser bzw. misellus tritt ferner auf in carm. 5,7 (CCL 114,211 ALBERTO), carm. 14,80 (CCL 114,231 ALBERTO), carm. 16 (CCL 114,233 ALBERTO) und carm. 19,4 (CCL 114,235 ALBERTO). 13 Vgl. UNGVARY 2018b, 306. 14 Vgl. dazu etwa eine Diskussion in Augustinus, en. Ps. 49,22 (CCL 38,592 DEKKERS/FRAIPONT), wo Augustinus davor warnt, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen und zu glauben, man befinde sich zu irgendeinem Zeitpunkt nicht in existentieller Bedrängnis, in der man der Hilfe Gottes bedürfe: Hanc tribulationem nemo inuenit, nisi qui quaesierit. Sanus es, uide si miser es; nam facile est ut qui aegrotat, sentiat se miserum; quando sanus es, uide si miser es; quia cum Deo nondum es. 15 Vgl. etwa Isidor von Sevilla, sent. 2,16,4b (CCL 111,129 CAZIER): Vae mihi, misero Isidoro. Vgl. Augustinus, conf. 10,28,7–9 (CCL 27,175 SKUTELLA/VERHEIJEN): ecce uulnera mea non abscondo: medicus es, aeger sum; misericors es, miser sum. Vgl. Hieronymus, epist. 18A,1 (CSEL 54,74 HILBERG): o miser ego, quoniam conpunctus sum, […] cum sim homo et inmunda labia habeam. 16 Vgl. für diese Konnotation von praesens bei Eugenius schon carm. praef. 16 (CCL 114,204 ALBERTO): Praesens […] saeclum.
4.2 carm. 1: Einleitendes Gebet
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im Jenseits von schlimmerer, weil zeitlich unbegrenzter Strafe verschont zu bleiben.17 Im Allgemeinen bestechen die Bitten durch ihre sprachliche Klarheit und Einfachheit.18 Sie sind oft anaphorisch, im Parallelismus oder durch asyndetische Reihungen strukturiert: Sim carus humilis uerax, cum tempore prudens secreti tacitus et linguae fulmine cautus. Da fidum socium, da fixum semper amicum, da blandum sobrium parcum castumque ministrum.19 Ich möge liebevoll, demütig und aufrichtig sein, mit der Zeit auch klug, verschwiegen Geheimes wahren und vorsichtig sein mit der Zunge zerschmetternder Kraft. Gib, dass ich ein treuer Gefährte, gib, dass ich immer ein fester Freund, gib, dass ein wohlwollender, nüchterner, sparsamer und züchtiger Diener ich sei.
Unter diese ‚moralischen‘ Bitten, die sowohl auf grundlegende Tugenden als auch auf das Gelingen menschlicher Beziehung abzielen (deren Scheitern Eugenius später in carm. 35 darstellt), mischen sich aber auch Bitten, die die äußeren Lebensumstände betreffen. Unvermittelt und im direkten Anschluss betet das lyrische Ich: non me pauperies cruciet aut languor obuncet. Sit comes alma salus et sufficientia uictus. absint diuitiae fastus et iurgia litis, inuidia luxus et uentris pensio turpis.20 Keine Armut soll mich quälen oder Krankheit mich krümmen. Milde Gesundheit sei meine Begleiterin und ausreichender Lebensunterhalt. Fern seien Reichtum, Hochmut und die Zänkerei des Rechtsstreites, Neid, Genusssucht und die schändlichen Aufwendungen an den Magen.
Diese Bitten, die zunächst leidvolle Umstände eines Menschenlebens betreffen (pauperies, languor), sich dann aber auch gegen Ausschweifungen in die an-
17 Vgl. carm. 5,19 (CCL 114,212 ALBERTO): Corrige, crudelis, actus, terge noxam fletibus und 5,27 (CCL 114,212 ALBERTO): hic repende, quod meremur, sit quies post transitum. 18 CODOÑER 1981, 331–333 stellt dies insbesondere im Vergleich mit Paulinus’ Oratio minor heraus und stellt dabei einzelne, inhaltlich deckungsgleiche Bitten einander gegenüber, z.B.: Paulinus von Nola, Or. min. 15–16 (CCL 21,507 DOLVECK): Assit laeta domus, epulisque alludat inemptis / Verna satur und Eugenius von Toledo, carm. 1,9 (CCL 114,206 ALBERTO): non me pauperies cruciet. Carmen Codoñer, die dieser Einfachheit viel abgewinnen kann, fasst zusammen: „[W]e could say that Eugenius does not use imagery, that his language is conceptually simple and that this is what brings him closer to the reader.“ (a.a.O., 333). 19 Eugenius von Toledo, carm. 1,5–8 (CCL 114,205–206 ALBERTO). 20 Eugenius von Toledo, carm. 1,9–12 (CCL 114,206 ALBERTO).
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
dere Richtung wenden (diuitiae, fastus, luxus, uentris pensio), lesen sich beinahe wie ein Manifest epikureischer Lebensführung:21 Das glückliche Leben beinhaltet die Abwesenheit von Schmerz und existentiellem Mangel, was aber darüber hinausgeht, wird als überflüssig und sogar schädlich abgelehnt (was Eugenius in carm. 6 und 7 anhand der Trunksucht und der Völlerei weiter ausführen wird). Das Ideal ist ein bescheidener, ruhiger Lebensstil. Das Hauptaugenmerk bleibt jedoch auf dem Moralischen, bis sich gegen Ende der Bittenliste noch ein spiritueller Aspekt hinzugesellt: Da, pater altitonans, undosum fletibus imbrem, quo ualeam lacrimis culparum soluere moles.22 Lass, hochdonnernder Vater, mein Weinen strömend regnen, dass ich durch Tränen vermag die Last meiner Schuld zu lösen.
Gerade der ‚Tränenregen‘ überrascht in der Reihe der Bitten zunächst. Er entspricht der in der christlichen Prosa (und auch Poesie)23 weit verbreiteten Vorstellung, dass durch das Beweinen der Sünde diese geradezu weggewaschen werden kann. Die Tränen der Reue konnten sogar als eine ‚dritte Taufe‘ (tertium baptismum) neben der eigentlichen Taufe und der ‚Bluttaufe‘ der Märtyrer bezeichnet werden.24 Auch das Motiv der reinigenden Tränen erscheint bei Eugenius öfter und an entscheidenden Stellen seiner Gedichte.25 Am Ende des carm. 1 werden die gesamten zuvor geäußerten Bitten noch einmal zusammengefasst und auf den Punkt gebracht: da, precor, auxilium possim quo uincere mundum, et uitae stadium placido percurrere passu. Cumque suprema dies mortis patefecerit urnam, concede ueniam, cui tollit culpa coronam.26
21 Der Unterschied ist freilich der Stellenwert, den die Schmerzfreiheit bzw. Lust einnimmt: Während sie in epikureischer Lehre das oberste Ziel darstellt, erscheint sie in Eugenius’ Gedicht nur als ein Aspekt unter mehreren und damit selbstverständlich mit der christlichen Lehre vereinbar. Augustinus, util. cred. 4,10 (CSEL 25,14 ZYCHA) warnt demgegenüber explizit davor, sich von Epikurs Anpreisen der (auch christlicherseits geforderten) continentia dazu verleiten zu lassen, seine Lehre insgesamt zu akzeptieren. 22 Eugenius von Toledo, carm. 1,17–18 (CCL 114,206 ALBERTO). 23 Vgl. für die Poesie etwa schon Verecundus von Junca, satisfact. 1–2 (CCL 93,207 DEMEULENAERE): Quis mihi maesta dabit lacrimosis imbribus ora / flendo cruentare […]? 24 Vgl. etwa Isidor von Sevilla, eccl. off. 2,25,2–3 (CCL 113,103 LAWSON): Itaque aqua et sanguis gemini est figura baptismatis: unum quo regeneramur ex lauacro, aliud quo consecramur ex sanguine. Est et tertium baptismum lacrimarum quod laboriosius transigitur, sicut ille qui per singulas noctes stratum suum lacrimis rigat, qui imitatur conuersionem Manasse et humilitatem Niniuitarum […]. Vgl. zur Tränentaufe in der westlichen Theologie ADNÈS 1976, 298 und für die Theologie Gregors bzgl. der Tränen NAGY 2000, 130–133. 25 Insbesondere carm. 5 und 14, vgl. die entsprechenden Detailanalysen in Kap. 5. 26 Eugenius von Toledo, carm. 1,19–22 (CCL 114,206–207 ALBERTO).
4.2 carm. 1: Einleitendes Gebet
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Gib, ich bitte dich, Hilfe, durch die ich die Welt besiegen und die Laufbahn des Lebens mit ruhigem Schritt durchmessen kann. Und wenn der letzte Tag die Urne des Todes dann öffnet, gestehe mir deine Vergebung zu, dem die Schuld den Kranz hat genommen.
Mit diesen letzten Bitten werden alle zuvor geäußerten in den gemeinsamen Kontext der Lebensbewältigung gestellt, die im Bild eines antiken Laufwettkampfes beschrieben wird: Das Leben ist ein ‚Stadion‘ (uitae stadium), das man durchlaufen muss, um am Ende den ‚Siegeskranz‘ (corona) zu erringen;27 die Gegnerin, die es zu besiegen gilt, ist die (wie wir ergänzen müssen: gefallene und sündenbehaftete) Welt. Den Ausdruck uitae stadium finden wir insbesondere bei Augustinus, der, wo er es verwendet, damit immer den Kampf gegen die fleischlichen Begierden meint, die den Menschen im Irdischen und in der Zeitlichkeit verhaftet sein lassen und ihn von Gott, dem Ewigen, fernhalten. Sowohl bei Eugenius als auch bei Augustinus kann der Mensch in diesem Kampf auf Gottes Hilfe vertrauen und ist umgekehrt auf sie angewiesen.28 Wiederum wird also in erster Linie ein ethischer und spiritueller Diskurs über das rechte Gelingen des Lebens eröffnet. Dennoch können in dem Wunsch, das ‚Stadion des Lebens‘ mit ruhigem, friedlichem Schritt (placido […] passu) zu durchschreiten, auch die zuvor genannten materiellen Aspekte des Freiseins von Krankheit und existentiell bedrohlichem Mangel zumindest mitschwingen. Zwar kann auch unter diesem Ausdruck das Wahren des seelischen Gleichgewichts gegen die Anfechtungen der Sünde verstanden werden, insbesondere durch spätere Gedichte, besonders carm. 13, in dem die Krankheit auch die Seele des lyrischen Ichs in höchstem Maße mitnimmt, kommt man jedoch kaum umhin, auch diese Aspekte in die hier evozierte Vorstellung eines friedlich durchschrittenen Lebens zu integrieren.29 Während wir in späteren Gedichten erfahren, dass die Hoffnung des lyrischen Ichs auf das Freisein von der Krankheit nicht erfüllt wurde, ist die moralisch-ethische Perspektive von Anfang an pessimistisch: Bereits die Bitte um den von Sünde reinigenden Tränenstrom hatte verdeutlicht, dass das lyrische 27 Das identische Bild wird schon in der frühchristlichen Literatur oft für das Martyrium verwendet; der hier vorfindbaren Übertragung des Bildes auf die spirituelle Lebensführung entspricht die nachkonstantinische Öffnung des Martyriumsbegriffs für verschiedene andere heilsbedeutsame Praktiken, vor allem das Karitative und Asketische; vgl. dazu ausführlicher Kap. 6.1. 28 Vgl. z.B. Augustinus, uera rel. 12,24 (CCL 32,202 DAUR): si autem, dum in hoc stadio uitae humanae anima degit, uincat eas, quas aduersum se nutriuit, cupiditates fruendo mortalibus et ad eas uincendas gratia dei se adiuuari credat mente illi seruiens et bona uoluntate, sine dubitatione reparabitur et a multis mutabilibus ad unum incommutabile reuertetur reformata per sapientiam non formatam, sed per quam formantur uniuersa, frueturque deo per spiritum sanctum, quod est donum dei. 29 Vgl. auch die weitere Verwendung von placidus in den Gedichten: In carm. 101,27 (CCL 114,278 ALBERTO) bezeichnet es die (ebenfalls an Gott gerichtete) Bitte des lyrischen Ichs um ‚friedlichen Schlaf‘ (placido sopore).
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Ich im Grunde nicht damit rechnen kann, dass der notwendige Sieg im Stadion des Lebens vollständig und ohne Rückschläge gelingt. Und auch die Tränen der Reue als diesseitige Möglichkeit, bereits geschehene Fehler zu sühnen, werden letztlich nicht ausreichen, wie die letzten beiden Verse der Oratio verdeutlichen: Wenn die Todesstunde des lyrischen Ichs gekommen ist, hat es Gottes Vergebung unverändert nötig. Dass die Schuld dem Sprecher den Siegeskranz entreißt (tollit culpa coronam), wird nicht als Möglichkeit beschrieben, die eintreten kann oder auch nicht, sondern gilt in der Gegenwart des Gedichtes bereits als Faktum: Es wird im Indikativ berichtet. Damit verrät das Gedicht doch ein sehr geringes Vertrauen in die eigenen Kräfte und Möglichkeiten der Dichter-persona, selbst unter der Bedingung, dass Gott die erbetene Hilfe gewährt. (Ganz anders ist dies übrigens in der Oratio minor; gedämpfter erscheint der Pessimismus in der Oratio maior).30 Ein Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu den genannten Orationes ist dabei, dass das lyrische Ich explizit unter seinem Namen Eugenius auftritt. Die Bitten und auch das ihnen zugrundeliegende Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit und Hilfsbedürftigkeit werden auf diese Weise unmissverständlich dem lyrischen Ich (und nicht etwa dem Menschen an sich) zugeschrieben, was der Oratio einen sehr gewinnenden persönlichen Ton verleiht31 und zugleich – am Anfang des Libellus – den Leserinnen und Lesern erlaubt, sich ein erstes Bild von der Dichter-persona zu machen. Es wird in den folgenden Gedichten in seinen Grundzügen stabil bleiben. Die Nennung des Namens, zumal des Namens eines hochrangigen Bischofs, der schon qua Amt als spirituelles Vorbild gelten kann, schließt jedoch eine Identifizierung der Leserinnen und Leser mit dem lyrischen Ich keinesfalls aus. Im Gegenteil: Dass das Gedicht sich diese Offenheit bewahrt, zeigt allein schon seine rege mittelalterliche Rezeption, innerhalb derer oft lediglich der Name des Eugenius durch ein allgemeines lyrisches Ich oder sogar den Namen des
30 Paulinus von Nola, Or. min. 18–19 (CCL 21,507 DOLVECK) endet mit der Feststellung, dass Gott alles zuvor Erbetene (Moralisches wie Materielles) den Tugendhaften gewähre und dass deren gute Sitten selbst (und nicht Gottes Gnade!) das ewige Leben versprächen: Moribus haec castis tribuit Deus: hi sibi mores / Perpetuam spondent uentura in saecula uitam. Auch Bitten um Bußfertigkeit fehlen in der Oratio minor. Die Oratio maior dagegen lässt das Zweifeln des lyrischen Ichs an der eigenen Würdigkeit zu und bittet um das Gelingen der Reue und Buße; vgl. Ausonius, ephem. 3,54–55 (10 GREEN) = Paulinus von Nola, Or. mai. 54–55 (CCL 21,518 DOLVECK): confessam dignare animam, si membra caduca / exsecror et tacitum si paenitet […]. Schlussendlich drückt das Gebet aber doch die Hoffnung des lyrischen Ichs aus, grundsätzlich guten Gewissens in den Tod und ins Gericht gehen zu können: Vgl. Ausonius, ephem. 3,72–76 (11 GREEN) = Paulinus von Nola, Or. mai. 72–76 (CCL 21,519 DOLVECK): suprema diei cum venerit hora, / nec timeat mortem bene conscia vita nec optet. / purus ab occultis cum te indulgente videbor […]. 31 Vgl. CODOÑER 1981, 333: „It is a prayer by Eugenius – one man in particular – to God, not a prayer by Everyman.“
4.3 carm. 2–4: Die condicio humana
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später Betenden ersetzt wurde.32 Diese breite Aneigenbarkeit trotz des sehr persönlichen Zuschnitts des Gebetes zeugt davon, wie gut Eugenius das Fühlen seiner Zeitgenossen (und, wie sich herausgestellt hat, auch seiner Nachwelt) einzufangen vermochte, und überrascht auch Carmen Codoñer positiv: It is paradoxical that, during the Middle Ages, it was precisely this prayer of Eugenius that embodied the sentiments of many men, who could simply substitute their own name for the poet’s to feel it as their own. Through its personal approach, the prayer represents desires shared by men of later epochs […] and they may also have seen themselves reflected in the figure of the miser Eugenius.33
4.3 carm. 2–4: Die condicio humana 4.3 carm. 2–4: Die condicio humana
In den folgenden drei carmina tritt, im Unterschied zur praef. und zu carm. 1, das lyrische Ich stark in den Hintergrund. In objektivierender Manier, ähnlich den Epigrammen, in denen Prosper augustinische Sentenzen in Verse fasst, werden zunächst zwei Grundprobleme der menschlichen Existenz dargestellt: die Sterblichkeit des Menschen (carm. 2) und die Wankelmütigkeit der menschlichen Seele (carm. 3). Abgeschlossen wird dieser ‚kleine Zyklus‘ durch ein kurzes Gedicht auf den Frieden (carm. 4), der letztlich mit Gott identifiziert wird und die Antwort auf beide Aspekte der menschlichen Existenz darstellt. Können diese drei Gedichte als Zyklus betrachtet werden? Sicher nicht im Sinne einer von vornherein bewusst gestalteten Einheit, in der die Gedichte aufeinander ausgerichtet wären – dies ist auch in anderen ‚Zyklen‘, etwa carm. 13–15 (Krankheit und Alter) oder carm. 30–33 (der Nachtigall-Zyklus), nicht der Fall. Auch die carm. 2–4 sind in mancher Hinsicht sehr unterschiedlich. Insbesondere werden die beiden genannten ‚Grundprobleme‘ des Menschen, die Sterblichkeit und die Wankelmütigkeit, nicht auf dieselbe Art behandelt: In carm. 2 überwiegt der moralisierende, persuasive Ton und der Verweis auf die Sterblichkeit dient gleichsam als Aufhänger und Begründung für ethische Forderungen an den Menschen. In carm. 3 dagegen wird die Wankelmütigkeit nüchtern-konstatierend dargestellt. Carm. 4 fällt in formaler Hinsicht noch stärker aus der Reihe und stellt einen Lobpreis auf den Frieden dar, der Dracontius’ Lichtlob vom Beginn seiner Laudes dei nachempfunden ist. Es handelt sich also klar um Einzelstücke. Für in patristischer Theologie geschulte Leserinnen und Leser, von denen Eugenius sicherlich ausgehen konnte, erschien die Reihung der Gedichte jedoch sicher ebensowenig zufällig wie die Reihung der carm. 13–19 nach dem 32
Vgl. für diese Art der Rezeption den Testimonienapparat in ALBERTO 2005a, 205. Vgl. CODOÑER 1981, 333, wo sie auch von einer größeren „emotive quality“ im Vergleich zur Oratio minor spricht. 33
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Schema Krankheit – Alter – Tod. Während das Thema des carm. 2, die Sterblichkeit des Menschen, einen Allgemeinplatz darstellt (und innerhalb des Gedichtbuches auch als Anschluss an das Ende von carm. 1, das mit einem Ausblick auf den Tod schloss, gelesen werden kann), verdeutlicht gerade das carm. 3 den inneren Zusammenhang der drei Gedichte. Folgt man dem Thema der geistigen Wandelbarkeit des Menschen in die patristische Literatur hinein (was in der Detailanalyse des carm. 3 ausführlich geschieht, insbesondere in den theologischen Vorbemerkungen zum Titel des Gedichtes), wird deutlich, dass dahinter eine theologisch-anthropologische Grundaussage steht: Die mutabilitas, also die Wandelbarkeit des Menschen, ist Teil der condicio humana und gleichzeitig ein zentrales Merkmal, das den Menschen als Geschöpf (sowie die gesamte Schöpfung!) von Gott als dem ewigen, unveränderlichen Urgrund aller Dinge unterscheidet. Sie äußert sich beim Menschen in zweierlei Hinsicht: in der Wandelbarkeit des Körpers und in der Wandelbarkeit der Seele bzw. des Geistes.34 Was zunächst lediglich eine ontologische Grundaussage darstellt, wird erst durch den Sündenfall zu dem existentiellen Problem, als das es Theologen von Augustinus bis Isidor immer wieder reflektieren:35 Im Sündenfall wendet sich der Mensch von Gott, dem einzigen Ewigen und Unwandelbaren, ab und erhebt stattdessen die materielle Welt zu seinem Gott. Indem der Mensch mit Gott auch die Partizipation an dessen ewiger Stabilität aufgibt, können die negativen Aspekte der Wandelbarkeit durchschlagen, was sich wiederum in zweierlei Weise äußert: in der Schwäche, Vergänglichkeit und Sterblichkeit des menschlichen Körpers36 und in der seelischen Wankelmütigkeit, die den Menschen unfähig macht, sich aus eigener Kraft aus der Sünde und der ungebührlichen Verstrickung ins Materielle zu befreien.37 Sterblichkeit und Wankelmütigkeit sind so im Grunde zwei Manifestationen ein und desselben Umstandes und daher ein ‚theologisches Begriffspaar‘, was das Nebeneinanderstellen von carm. 2 und 3 als sehr sinnig erscheinen lässt. 34 Vgl. Augustinus, Gn. litt. 8,10 (CSEL 28/1,247 ZYCHA): homo autem et secundum animam et secundum corpus mutabilis res est. 35 Augustinus’ und Gregors Positionen hierzu wurden in den Ausführungen zu carm. 3 in Kap. 5.1 ausführlicher dargestellt; für Isidor vgl. sent. 1,11,10 (CCL 111,40 CAZIER): Quamuis eadem mutabilitas non sit homini concreata, sed pro merito primae praeuaricationis illi accesserit, iam tamen naturalis facta est, quia originaliter a primo homine, sicut et mors, in omnes homines transiit. 36 Vgl. Augustinus’ Aussage über den Menschen vor dem Sündenfall in Gn. litt. 6,24 (CSEL 28/1,197 ZYCHA): mortalis ergo erat conditione corporis animalis, inmortalis autem beneficio conditoris. 37 Vgl. dazu etwa Gregor der Große, moral. 11,50,68 (CCL 143A,625 ADRIAEN): Quam tamen mutabilitatem non solum exterius, sed interius quoque homo patitur, dum ad meliora exsurgere opera conatur. Mens etenim mutabilitatis suae pondere ad aliud semper impellitur quam est, et nisi in statu suo arcta custodiae disciplina teneatur, semper in deteriora dilabitur.
4.3 carm. 2–4: Die condicio humana
153
Selbstverständlich finden sich derlei theologische Fundierungen in den eher pastoral-lebensweltlich orientierten Gedichten des Eugenius nur andeutungsweise; wichtiger sind ihm die Konsequenzen, die der Mensch daraus zu ziehen hat. Carm. 2 spricht den sterblichen Menschen direkt an und warnt ihn davor, wie das Vieh nur nach den materiellen Gütern, die direkt vor Augen liegen, zu greifen und den Tod darüber zu vergessen.38 Denn diese Dinge sind vergänglich: Omnia quae cernis uanarum gaudia rerum umbra uelut tenuis ueloci fine recedunt.39 Alles dies, was du siehst, die Freuden nichtiger Dinge, weichen dem flüchtigen Schatten gleich raschen Endes von dannen.
Die Polemik gegen die nichtigen Freuden der Welt, die nicht von Dauer sein können und es daher nicht wert sind, nach ihnen zu streben, kehrt ebenfalls in Gedichten, die sich auf das Thema des Todes beziehen lassen können, wie ein Refrain wieder.40 Dem gegenüber werden typische ethische Forderungen, etwa nach Armenfürsorge und Verzicht auf Reichtum, ins Zentrum gestellt und zu den einzigen Schätzen, die nach dem Tod noch bleiben, erklärt: Id solum tecum post mortis facta manebit quod bene, quod iuste, quod recte feceris ipse.41 Dies allein wird dann, wenn der Tod geschehen, dir bleiben, was du gut, was gerecht, was richtig du selbst hast gehandelt.
Carm. 3 wird, da sich dort die hier bereits angedeuteten patristischen Hintergründe besonders subtil auf die Gestaltung des Gedichtes auswirken, in einer ausführlichen Einzelanalyse behandelt werden. Für eine fortlaufende Lektüre des Libellus ist hier lediglich zu bemerken, dass das Gedicht inhaltlich einen Kontrapunkt zu den Forderungen nach einem ethisch wie spirituell guten Leben in carm. 1 und 2 setzt: Dass es durch die mutabilitas mentis dem Menschen oft nicht gelingt, an guten Vorsätzen, am richtigen Wollen und Meinen festzuhalten, stellt die diesbezüglichen Möglichkeiten des Menschen, diese auch zu realisieren, ganz grundlegend infrage. Das in der (postlapsarischen) condicio
38 Vgl. carm. 2,1–2 (CCL 114,207 ALBERTO): O mortalis homo, mortis reminiscere casus: / nil pecude distas si tantum prospera captas. 39 Eugenius von Toledo, carm. 2,3–4 (CCL 114,207 ALBERTO). 40 Vgl. carm. 5,10 (CCL 114,212 ALBERTO) und carm. 14,32 (CCL 114,229 ALBERTO); in carm. 9,5 (CCL 114,221 ALBERTO) werden die Märtyrer dafür gepriesen, dass sie die flüchtigen Genüsse der Welt geringgeschätzt haben. Umgekehrt gibt es natürlich auch positiv bewertete gaudia, etwa die pacis gaudia in carm. 5b,32 (CCL 114,214 ALBERTO) oder die gaudia, die Gott den Heiligen zuteilwerden lässt; vgl. carm. 14,79 (CCL114,231 ALBERTO). 41 Eugenius von Toledo, carm. 2,13–14 (CCL 114,208 ALBERTO).
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
humana angelegte Schwanken des Geistes und der Seele liefert damit gewissermaßen eine Aitiologie der Sünde: „Bald folgen wir dem Rechten, bald halten wir das Verdorb’ne im Herzen.“42 Innerhalb des carm. 3 wird dies als nüchterne Tatsache beschrieben und gleichsam hingenommen. Erst das carm. 4 liefert eine gewisse Antwort darauf: Wenn man der ‚feindlichen Schlange‘ entgehen wolle (infestum uitare chelydrum), müsse man deren List durch den Frieden aus dem Herzen vertreiben.43 Der Friede stellt also das ‚Antidot‘ gegen die in carm. 3 aufgezeigte seelische Unbeständigkeit des Menschen dar, die den Menschen letztlich zur Sünde führt. Inhaltlich wird der Friede – in einem Lobpreis, der formal dem Lichtlob des Dracontius zu Beginn der laudes Dei (in Eugenius’ Version) nachempfunden ist – in einer langen Reihe von ‚Definitionen‘ konzeptuell gefüllt, die am besten direkt wiedergegeben werden: Pax animae uita, pax uirtus paxque medella, pax ordo rerum, pax bonitatis amor. Pax fessis requies, pax denique certa laboris, pax blanda sociat, pax bona conciliat. Pax lites reprimit, pax gaudia tota remulcet, pax pia corda regit, pax mala cuncta fugat, Pax tria summa Deus pacatis praemia praestet, iurgantes perimet pax tria summa Deus.44 Friede ist Leben der Seele, Friede ist Tugend und Friede ist Heilung, Friede ist Ordnung der Welt, Friede ist Liebe zum Guten. Friede ist Ruhe den Erschöpften, ist schließlich sichere Rast von der Mühe, Friede vereint das Wohlwollende, Friede verbindet das Gute. Friede drängt Streit zurück, Friede schenkt sanfte Freuden, Friede lenkt fromme Herzen, Friede vertreibt alles Böse, Friede, der dreieinige Gott, möge den Friedfertigen schenken den Lohn, die Streitenden wird vernichten der Friede, der dreieinige Gott.
Unmittelbar wird deutlich, wie umfassend der Friedensbegriff in diesem Gedicht ist. Letztlich wird der Friede mit dem dreifaltigen Gott gleichgesetzt,45 und so auch mit allem, was mit dem göttlichen Wesen assoziiert ist oder durch Teilhabe an Gott entsteht: Leben, Tugend, Heilung, Ordnung, Ruhe (worunter 42 Eugenius von Toledo, carm. 3,4 (CCL 114,209 ALBERTO): nunc rectum sequimur, nunc prauum corde tenemus. 43 Eugenius von Toledo, carm. 4,1–2 (CCL 114,210 ALBERTO): qui cupis infestum semper uitare chelydrum, / cordis ab affectu pace repelle dolum. Die „Schildkrötenschlange“, chelydrus, ist schon bei Sedulius, carm. pasch. 3,189–191 (CSEL 210,78 HUEMER) ein Synonym für die dämonischen Verführungskräfte des Feindes. 44 Eugenius von Toledo, carm. 4,5–12 (CCL 114,210 ALBERTO). 45 Der Ausdruck tria summa Deus ist ein Zitat aus Prudentius, apoth. 1,1 (CCL 126,73 CUNNINGHAM).
4.4 carm. 5–5b: Klage aus Sünde und Leid
155
man hier auch den Frieden und die Ruhe nach dem Tod verstehen wird), Harmonie und das Gute schlechthin. Dies korrespondiert mit den angedeuteten theologischen Theorien, nach denen die negativen Auswirkungen der ‚doppelten Instabilität‘ des Menschen erst durch die Gottferne zustandekommen. Auch für Augustinus bedeutet umgekehrt der Friede die intime Nähe zu Gott und die Teilhabe an seiner Unveränderlichkeit: cum ad istam intellegentiae puritatem bonae uitae gradibus uenerimus siue tardius siue celerius, tunc dicere audeamus ualere nos aliquantum mente contingere summae atque ineffabilis trinitatis unitatem, ubi summa pax erit, quia ultra, quod expectetur, non est, cum reformati ad sui generis imaginem filii dei ex hominibus facti paterna incommutabilitate perfruuntur.46 Wenn wir zu dieser Reinheit der Erkenntnis mit den Schritten eines guten Lebens gelangt sind, sei es langsamer, sei es schneller, dann dürften wir wagen zu sagen, dass wir mit unserem Geist ein wenig von der höchsten und unaussprechlichen Einheit der Dreifaltigkeit berühren, wo höchster Friede sein wird, weil es nichts weiter gibt, was erwartet werden kann, wenn die, die nach dem Bild seiner Art umgeformt worden sind, aus Menschen zu Söhnen Gottes geworden sind und die Unveränderlichkeit des Vaters genießen.
Insbesondere in den Gleichsetzungen mit der Tugend und der Liebe zum Guten in carm. 4 erscheint der Friede als Antwort auf das dargelegte moralische Problem der Wandelbarkeit, in den Gleichsetzungen mit der Heilung und mit dem Ausruhen von der Erschöpfung (was beides prinzipiell sowohl körperlich als auch seelisch verstanden werden kann) auch als Antwort auf das Problem des Leides. Die quies bzw. requies, die hier als mit dem Frieden gleichsetzbar verstanden wird, tritt im Gedichtbuch öfters als Gegenstück zu Umständen auf, die das lyrische Ich als leidvoll erfährt.
4.4 carm. 5–5b: Klage aus Sünde und Leid 4.4 carm. 5–5b: Klage aus Sünde und Leid
Unter anderem tritt im folgenden carm. 5 die quies post transitum, also die Ruhe nach dem Tod auf, die das lyrische Ich aufgrund seiner Sündhaftigkeit und der zu erwartenden Strafen dafür jedoch nicht als selbstverständlich nehmen kann. Carm. 5, das in einer Detailanalyse eingehender untersucht werden wird, führt insofern die bereits angelegten Linien des Gedichtbuches weiter, als es wiederum die Sterblichkeit, die Sündhaftigkeit und die Notwendigkeit der Buße thematisiert. Im Unterschied etwa zu carm. 2 werden diese Themen jedoch nicht allgemein behandelt, sondern wiederum konkret auf das lyrische Ich bezogen. Der Tod erscheint in diesem Gedicht auch nicht in unbestimmter Ferne wie am Ende des carm. 1 (1,21: Cumque suprema dies mortis patefecerit urnam), sondern das lyrische Ich hört den Todesboten schon an die Tür klopfen 46
Augustinus, ep. 171A,2 (CSEL 44,634 GOLDBACHER).
156
4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
– möglicherweise, weil es seine körperlichen Kräfte allmählich schwinden sieht.47 Das Problem des Todes ist also ein gutes Stück näher gerückt. Dennoch bleibt noch Raum, darauf zu reagieren: etwa durch die Abkehr von den falsa mundi gaudia (was schon in carm. 2 angemahnt worden war), deren Nichtigkeit und Absurdität der vom lyrischen Ich bereits spürbare Verfall noch augenscheinlicher erweist als eine neutrale, rationale Ermahnung dies könnte. Auch für eine correctio der eigenen verdorbenen Sitten, um die das lyrische Ich bereits in carm. 1 gebeten hatte, scheint noch Raum. Ebenso wichtig erscheint jedoch die ‚Aufarbeitung‘ der eigenen sündhaften Vergangenheit: das Eingeständnis der Schuld, das Beweinen der Sünden und das Anflehen Gottes um Gnade und Vergebung. Das Ende des carm. 5 zeigt zudem wiederum auf, dass hier nicht nur das lyrische Ich Eugenius aus einer individuellen, persönlichen Situation heraus spricht, sondern der Dichter alle Menschen mit diesem Problem konfrontiert sehen will und die Leserinnen und Leser dazu anregen möchte, sich das Ergebnis dieser Reflexionen selbst zu eigen zu machen: Sie werden in der letzten Strophe dazu aufgerufen, gemeinsam mit dem lyrischen Ich Buße zu tun. Damit wird aus carm. 5 schließlich eine aus der Vergegenwärtigung des Todes und dessen persönlicher Reflexion entwickelte exhortatio paenitentiae. Das direkt folgende (leider nur fragmentarisch überlieferte) carm. 5b erscheint hier wiederum passend, da genau dies getan wird: Es handelt sich um einen abecedarischen Hymnus48 im Angesicht schwerer Katastrophen, insbesondere des Krieges und des Ansturms von Feinden, aber in dessen Gefolge auch des Hungers. Im Unterschied zu den übrigen gebetsähnlichen Gedichten ist dieser Hymnus als ‚echter‘, in der Liturgie gesungener Hymnus vorstellbar, da hier eben nicht die Dichter-persona spricht, sondern ein ‚lyrisches Wir‘. Das Subjekt des Hymnus ist also eine Gemeinschaft, die diesen Hymnus vielleicht aus dem Anlass einer konkreten, kollektiven Gefährdung sang.49 Sollte dies der Fall sein, ist der zu Eugenius’ Lebzeiten wahrscheinlichste Anlass der Krieg infolge der Rebellion des Froia, nachdem Chindasuinth starb und dessen Sohn und bis dato Mitregent Reccesuinth zum Alleinherrscher des Wisigotenreiches
47
Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 5,7–9 (CCL 114,211 ALBERTO): Eugeni, miselle plora: languor instat improbus, / uita transit, finis urget, ira pendit caelitus, / ianuam pulsat ut intret mortis ecce nuntius. 48 Soweit erkennbar, beginnt jede Strophe des Hymnus mit dem jeweils nächsten Buchstaben des Alphabets; vgl. zur Tradition abecedarischer Hymnen THRAEDE 2001. 49 Allgemein war die liturgische Begleitung auch politischer Begebenheiten und Vorgänge im wisigotischen Spanien nicht unüblich; bereits BRUNHÖLZL 1975, 112 bemerkt die Anlassbezogenheit vieler hispanischer Hymnen, so sind etwa Hymn. hispan. 205–206 (CCL 167,720–723 CASTRO SÁNCHEZ) zwei Hymnen in tempore belli mit ähnlich klagendem Charakter wie carm. 5b. Auch der Auszug des Königs ebenso wie seine triumphale Heimkehr wurde liturgisch begangen; vgl. dazu MCCORMICK 1986, 297–326.
4.4 carm. 5–5b: Klage aus Sünde und Leid
157
aufstieg.50 Da Saragossa, wohin Eugenius enge Freundschaften pflegte, während dieser Rebellion belagert wurde, dürfte diese Krise ihn auch in besonders persönlicher Weise getroffen haben.51 In den noch erhaltenen Teilen, wozu leider weder der Anfang noch das oft aufschlussreiche Ende gehören, sind zwei große Themen zu bemerken, die sich durch den Hymnus ziehen: Einerseits die Bitte um das Ende der Leiden und die Wiederherstellung des Friedens und der Ruhe (diese erscheint auch hier als das Gegenstück zu den Widrigkeiten),52 andererseits die Bußthematik, innerhalb derer einige Themen aus carm. 5, wie die Tränen, das Aufrufen zur Armenfürsorge und das Anflehen Gottes um Vergebung, aufgegriffen werden. Wie nahe beides oft beieinander steht, kann eine beispielhafte Strophe verdeutlichen: Lux angelorum, iam benignus accipe: compesce bella, redde pacis gaudia, contrita corda sanet indulgentia.
parce redemptor.53
Du Licht der Engel, hör uns nun wohlwollend an: Die Kriege zähme, gib des Friedens Freud’ zurück, es heile Vergebung die zerknirschten Herzen.
Verschone, Erlöser.
Natürlicherweise wird also die Frage aufgeworfen, inwiefern die beklagten Sünden und der Krieg, unter dem die betende Gemeinschaft zu leiden hat, als miteinander zusammenhängend gesehen werden. Wird der Krieg hier als göttliche Strafe für die Sünde des Volkes betrachtet? An einigen Stellen drängt sich dieser Eindruck in der Tat auf: Non ira duret, sed medella proximet, qua deleantur praua, quae commisimus, et finiantur dura, quae pauescimus.
parce redemptor.54
Nicht andauern möge der Zorn, es nahe die Heilung, durch die das Schändliche getilgt werde, das wir begangen, und es ende das Harte, wovor wir in Angst sind. Verschone, Erlöser.
Die medella, die hier von Gott erbeten wird, hat hier den doppelten Effekt, dass dadurch sowohl die Sünden als auch die Widrigkeiten, denen sich die Betenden ausgesetzt sehen, beseitigt werden. Dass im Denken Eugenius’ grundsätzlich mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass diesseitiges Leid die Sünde tilgen (und daher vielleicht auch, weitergedacht, von Gott als Strafe ‚verhängt‘ werden) 50
Als Hintergrund dieses Gedichtes identifiziert auch ALBERTO 2005b, 109–122 die Froia-Rebellion. Vgl. zu den historischen Hintergründen STOCKING 2000, 1–4. 51 Vgl. die Schilderung der Belagerung Saragossas in Taio von Saragossa, ep. Quir. (197– 200 AGUILAR MIQUEL). 52 Vgl. carm. 5b,36: concede, Christe, iam quieta tempora, 5b,42: fauore pacis gens quiescat barbara und 5b,45: bellum pauentes iam quietos effice (CCL 114,214 ALBERTO). 53 Eugenius von Toledo, carm. 5b,31–33 (CCL 114,214 ALBERTO). 54 Eugenius von Toledo, carm. 5b,37–39 (CCL 114,214 ALBERTO).
158
4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
kann, wurde schon in carm. 5 deutlich, in der das lyrische Ich sogar darum bittet, bereits in diesem Leben seine Schuld ‚begleichen‘ zu dürfen, auch wenn freilich hier wie dort keine Aussagen über Gottes Handeln oder seine damit verbundenen Intentionen getroffen werden. Dies ist nicht das Hauptinteresse: Entscheidend ist für die Betenden das Ende sowohl des Leides als auch der Sünde.
4.5 carm. 6–7: Moralisierende Gedichte 4.5 carm. 6–7: Moralisierende Gedichte
Ein ‚Gedichtpaar‘ stellen zwei moralisierende Gedichte über das Laster der Trunkenheit und der Völlerei dar, die in der Rezeption als Teil des 5. Buches der Pseudo-Catonischen Disticha eine ganz eigene Richtung nahmen. Beiden Gedichten ist dabei zu eigen, dass sie fast völlig ohne religiöse Bezüge auskommen, sondern vom jeweiligen Laster mit rein innerweltlichen Argumenten abschrecken wollen. Carm. 6 mahnt an, den Wein zu meiden „wie den Gefährten des Todes“. 55 Diese Charakterisierung ist durchaus kein rhetorischer Schmuck, sondern das inhaltliche Strukturprinzip des gesamten Gedichtes:56 In einer langen Reihe werden die körperlichen Auswirkungen der Trunksucht dargestellt, etwa das Zittern, Sinnestäuschungen, das Taumeln und das Lallen. Sinnigerweise geschieht dies in teils frappierender Ähnlichkeit zu den Schilderungen des körperlichen Verfalls im Greisenalter und dem Zugrunderichten des Körpers durch den Tod, wie wir es in carm. 14 lesen: carm. 6
carm. 14
3: Nulla febris hominum maior quam uiteus humor 7: inde tremor membris 9: Surdescunt aures 13: aegra quies oculos letali pondere clausit
21: febres minaris 20: tremore foedo corpus omne discutis 45: surdescunt patulae […] aures 44: clauduntur oculi
Folgerichtig endet die Polemik gegen die Trunksucht mit einer rhetorischen Frage an den Betrunkenen, ob dieser wohl schon gestorben sei (da es in der Tat so aussehe), sowie der abschließenden Feststellung: „Dadurch nur unterscheidest du dich von einem, der im Todesschicksal begraben ist, dass ein dünnes Keuchen deine armen Glieder hebt.“57
55
Eugenius von Toledo, carm. 6,2 (CCL 114,215 ALBERTO): ut mortis socium sic mordax effuge uinum. 56 Deshalb hält BLOOMER 2015, 358 das Gedicht für eine Schulübung, entstanden aus einer Sentenz: „To judge from ancient theorists this is a typical expansion of a sententia. The Magister sets a theme and the Discipulus must take that as his promythium or epimythium and write a poem, often a fable to illustrate the general truth.“ 57 Eugenius von Toledo, carm. 6,15–16 (CCL 114,216 ALBERTO): Hoc tantum distas a fati sorte sepulto, / quod tenuis miseros suppungit anhelitus artus.
4.6 carm. 8: Ein Bibel-titulus
159
Ein ähnliches Vorgehen zeigt carm. 7 über die Völlerei, es ist jedoch nicht auf einen einzigen Vergleich ausgelegt. Auch hier finden wir Bezüge zu Krankheitsschilderungen des Eugenius, diesmal insbesondere zu carm. 13. carm. 7
carm. 13
2: uiscera crassa uehit, sed macra corda gerit 4: membra caduca ferens 7: marcescunt ossa
6: uiscera laesa gerit 2: languida membra traho 4: dolor ossa terit
Das Gedicht endet mit einer etwas überraschenden ‚Moral‘ am Ende, die unserem Aphorismus plenus venter non studet libenter entspricht und daher an eine bischöfliche Schule als Entstehungsort oder bevorzugtes Publikum des Gedichtes denken lässt: Qui cupit ergo suam doctrinis crescere mentem, castiget uentrum, tunc homo doctus erit.58 Wer also wünscht, dass sein Geist an Gelehrsamkeit zunimmt, züchtige seinen Bauch, dann wird ein Gelehrter er sein.
4.6 carm. 8: Ein Bibel-titulus 4.6 carm. 8: Ein Bibel-titulus
Der folgende Bibel-titulus, der keine biblischen Inhalte versifiziert, sondern eine Bibel einleiten und ihrem Besitzer widmen soll,59 schließt assoziativ an das Thema der Gelehrsamkeit (am Ende von carm. 7) an, indem es eine Art Curriculum der Schriften vorgibt, die es zu kennen gilt:60 „Die Bücher, die die Glaubensregel zu kennen empfiehlt, die hält unsere Bibliothek bereit.“61 Nach diesem einleitenden Distichon enthält der titulus drei Teile: Zunächst werden 58
Eugenius von Toledo, carm. 7,9–10 (CCL 114,217 ALBERTO). Unter einem Bibel-titulus wird meist eine epigrammähnliche Versifizierung biblischer Inhalte verstanden, wie etwa Prudentius’ Dittochaeon es darstellt. Dieser titulus für eine Bibel des Johannes von Saragossa steht dagegen in der Tradition sowohl der Bibliotheksverse des Isidor von Sevilla, mit denen er die in seiner Bibliothek vorhandenen Autoren angibt und preist, aber insbesondere in der des Buch-titulus, für den etwa das Epigramm, mit dem Taio von Saragossa seine Sententiae einleitet, ein Beispiel ist. Ferner standen Bibelkataloge, wie wir sie etwa in Avitus von Viennes carm. 6,379–408 (MHG.AA 6,2,286–287 PEIPER) finden, sowohl formal als auch sprachlich Pate; vgl. dazu MONDIN 2016, 223–225. Gleichzeitig hat es auch den Charakter eines Widmungsgedichtes, da die Bibel einer speziellen Person zugeeignet werden soll, die im Gedicht auch rühmend erwähnt wird: Johannes von Saragossa, dem Bruder Braulios. In dieser besonderen Mischung erweist sich Eugenius innovativ und prägend, wie auch die karolingische Rezeption aufzeigt; vgl. dazu STELLA 2010, 157–158. 60 GARCÍA Y GARCÍA 1927, 6 schreibt dem Gedicht auch den Charakter einer Merkhilfe zu: „Son efectivamente unos versos mnemotécnicos“. 61 Eugenius von Toledo, carm. 8,1–2 (CCL 114,218 ALBERTO): Regula quos fidei commendat noscere libros, / hos nostra praesens bibliotheca tenet. 59
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
die einzelnen Bücher dieser ‚Bibliothek‘, worunter hier die Vollbibel gemeint ist,62 nach Altem und Neuem Testament gegliedert von den fünf uolumina Legis bis zur uisio Iohannis aufgezählt. Auf das ‚Inhaltsverzeichnis‘ folgt ein Lobpreis der Bibel, der auf das einleitende Distichon zurückverweist und begründet, warum es die Bibel genau zu kennen gilt, gefolgt von der abschließenden Widmung des titulus an Johannes von Saragossa, den Besitzer der Bibel. Interessant ist für unsere Fragestellung vor allem der mittlere Teil (V. 27–40), in dem auf den spirituellen Nutzen der Bibel eingegangen wird. Sprachlich ist er durch eine Ringkomposition, gebildet durch anaphorische Wiederholung von haec […] haec sowohl am Anfang als auch am Ende, als eigener Teil abgegrenzt.63 Die Bibel wird eingangs als Trägerin der sacra Dei und der iuris mystica diui bezeichnet (carm. 8,27). Ihre Lektüre ist ein mächtiges Hilfsmittel, um in der Liebe zu Gott zu wachsen und den Verlockungen der Welt zu widerstehen – damit wird das uincere mundum-Thema aus carm. 1 wieder aufgenommen. Ferner schenkt sie die Fähigkeit, das prauum und das rectum zu unterscheiden und dadurch richtig handeln zu können – insofern wirkt sie wie ein Instrument zur Bekämpfung der inneren mutabilitas, als deren Auswirkung in carm. 3 beschrieben wurde, der Mensch folge nunc rectum […] nunc prauum (carm. 3,4). Hochmut, Ausschweifung und List würden durch sie eingeschränkt. Schließlich kehre durch die von der Bibel vermittelte Liebe zur pax, die schon in carm. 4 als wichtiges Gegenbild zu jeglichem Übel erschienen war, auch die Ruhe wieder ein: adquiriturque fouens pacis amore quies. Diese spirituelle Funktion fasst das lyrische Ich noch einmal programmatisch zusammen: Quid iam multa loquar? Virtus hic proficit omnis, haec perimit totum lectio sancta malum. Ecce haec, qui dominum prono uis cernere corde, haec meditare loquens, haec memorare tacens.64 Was soll ich vieles noch sagen? Hier kommt alle Tugend voran, alles Übel nimmt dies heilige Lesen hinweg. Schaue auf dies, der du willigen Herzens den Herren willst sehen, dies bedenke im Reden, erinnere dies im Schweigen.
62 Vgl. BERNT 1968, 136: „Bibliotheca hieß im Mittelalter die einbändige Vollbibel.“ Vgl. auch STELLA 2010, 157. 63 Vgl. MONDIN 2016, 225. Vgl. am Anfang des ‚Mittelteils‘: Haec sunt sacra Dei, iuris haec mystica diui, / haec seruare decet, haec temerare nocet. (carm. 8,27–28 [CCL 114,219 ALBERTO]) und am Ende: Ecce haec […] / haec meditare loquens, haec memorare tacens. (carm. 8,39–40 [CCL 114,220 ALBERTO]). 64 Eugenius von Toledo, carm. 8,37–40 (CCL 114,219–220 ALBERTO).
4.7 carm. 9–12: Basilika-tituli
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4.7 carm. 9–12: Basilika-tituli 4.7 carm. 9–12: Basilika-tituli
Mit den Basilika-Gedichten bleiben wir bei der Gattung des titulus, diesmal des titulus auf Gebäuden. Vier Epigramme des Eugenius sind Basiliken gewidmet, der Basilika der Hl. Encratia und der 18 Märtyrer sowie der Basilika des Hl. Vincentius in Saragossa, der Basilika für den Hl. Aemilian und einer Basilika des Hl. Felix. Das ‚Bau-Epigramm‘ für Kirchen blickt dabei bereits auf eine reiche Topik zurück, die auch Eugenius umfassend in seine Gedichte inkorporiert.65 Die Gedichte beinhalten nicht nur Informationen über das jeweilige Kirchengebäude, im Falle des carm. 12 etwa über das Stifterehepaar Aetherius und Teudesuintha, sondern auch eine Didaktik zur spirituellen Bedeutung des Kirchenraums – etwa als domus domini, die in carm. 12 zudem als ‚Durchgangsraum‘ in den Himmel betrachtet wird.66 Vor allem erscheint eine Basilika in Eugenius’ tituli jedoch als Begegnungsraum mit den Märtyrern, deren Reliquien dort verwahrt und verehrt (und von Eugenius ausführlich beschrieben) werden.67 Neben dem in allen vier Epitaphen enthaltenen Lob der Märtyrer sollen diese auch als spirituelle Vorbilder im Hinblick auf die Loslösung von der Welt dargestellt werden. Wozu die Dichter-persona sich regelmäßig selbst auffordert oder das eigene Scheitern daran beklagt, das haben die Märtyrerinnen und Märtyrer erreicht: fumea caenosi liquerunt gaudia mundi.68 Neben ihrer Vorbildfunktion haben die Märtyrerinnen und Märtyrer jedoch auch eine – noch wichtigere – Rolle als Fürsprecherinnen und Fürsprecher für die Gläubigen inne, die sich an sie wenden.69 Unter anderem treten sie als Bußhelferinnen und Bußhelfer auf. An diesem Ort soll um die Vergebung der Schuld gebetet werden, in der Hoffnung, sie auch zu erlangen: Hic ueniam culpae mereantur, uota fauorem; gaudia summa ferat, qui petit hic ueniam.70
65 Vgl. für einen kurzen Überblick über das Genre und andere Beispiele aus dem wisigotischen Spanien ALBERTO 2014c, 29–31. 66 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 12,1 (CCL 114,225 ALBERTO): Ecce domus domini, quae ducit ad atria caeli. Vgl. ALBERTO 2014c, 30–31. 67 Vgl. ALBERTO 2014c, passim. Dies fügt sich in die Bemühungen des wisigotischen Spaniens ein, den Märtyrerkult zu propagieren und darüber in der Bevölkerung eine gewisse Glaubenseinheit herzustellen; vgl. für die Rolle der Epigraphik in dieser Hinsicht HANDLEY 2003, 153–155. Vgl. für Eugenius’ Beschreibungen der Reliquien v.a. carm. 9,10 (CCL 114,221 ALBERTO) und carm. 10,7–10 (CCL 114,222 ALBERTO), wo den Reliquien des Hl. Vinzent auch eine heilende Wirkung zugesprochen wird. 68 Eugenius von Toledo, carm. 9,5 (CCL 114,221 ALBERTO). Vgl. dazu auch carm. 5,10 (CCL 114,212 ALBERTO): cur, inique, concupiscis falsa mundi gaudia? und 14,32 (CCL 114,229 ALBERTO): abite pessum uana mundi gaudia. Vgl. dazu ALBERTO 2014c, 32–33. 69 Vgl. ALBERTO 2014c, 41–42. 70 Eugenius von Toledo, carm. 10,11–12 (CCL 114,222 ALBERTO).
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Vergebung der Schuld möge hier erlangt werden, Gunst für die Wünsche; höchste Freude möge mitnehmen, wer hier erbittet Vergebung.
Die Verbindung mit dem Ort, dem ‚Hier‘, an dem die Lesenden stehen oder als stehend gedacht werden, wird dabei durch die emphatische Wiederholung von hic hergestellt.71 An anderer Stelle erscheinen sie sogar selbst als diejenigen, die die Vergebung zuteilwerden lassen können: Haec tibi turba potens concedat prospera, lector, et ueniam praestet haec tibi turba potens.72 Diese machtvolle Schar möge dir Günstiges zukommen lassen, o Leser, und es gewähre Vergebung dir hier diese machtvolle Schar.
Die Fürsprache-Funktion ist in carm. 11 besonders deutlich. Der Märtyrer Aemilian, dem schon durch seine von Braulio von Saragossa verfasste Vita besonders Heilungswunder zugeschrieben werden,73 wird selbst nur kurz erwähnt und dann ganz auf seine Funktion als heilender Wundertäter reduziert.74 Dies ist er einerseits in Bezug auf die Sünden – auch denen, die Schuld drückt, wird empfohlen, in seine Basilika zu eilen, und Aemilian die Kraft zugesprochen, die Dämonen aus dem Herzen zu vertreiben –, insbesondere jedoch auch in Bezug auf jede Art von Krankheit und Behinderung: In seiner Basilika (hic) können Gelähmte wieder gehen, den Blinden wird das Augenlicht zurückgegeben, die Lepra kann geheilt werden, ja sogar Toten wird das Leben zurückgegeben. Die hier wiederhergestellte Gesundheit soll freilich den Zweck haben, die Gläubigen gottesfürchtig zu machen: seruit ad obsequium mox reparata salus (carm. 11,12). Der titulus überrascht also durch seinen Fokus auf körperliche Beschwerden. Dieser erklärt sich natürlich aus dem besonderen Charakter des Heiligen, dem die Basilika gewidmet ist; es kann jedoch auch der Eindruck entstehen, der Dichter habe auch sein eigenes (biographisch und in anderen carmina zum Ausdruck gebrachtes) Interesse mit einfließen lassen.75 Insbesondere Eugenius’ Feststellung, dass in dieser Basilika „jegliches Siechtum vertrieben wird“ (carm. 11,11: languor pellitur omnis) resoniert mit seinen eigenen Klagen über den languor […] improbus (carm. 5,7) und seine languida membra (carm. 13,2) sowie mit seiner Bitte am Ende des carm. 101,26: pelle 71 Vgl. die Epanalepsen in carm. 10,7–10 (CCL 114,222 ALBERTO): Hic iacet […] hic iacet […]. Hic tua nunc tunica […] hic tua nunc tunica. 72 Eugenius von Toledo, carm. 9,21–22 (CCL 114,221 ALBERTO). 73 Vgl. Braulio von Saragossa, vita Aemil. 15–24.35–38 (21–26.35–37 VAZQUEZ DE PARGA). 74 Als Vorbild konnte Eugenius Aemilian kaum darstellen: In Braulio von Saragossas vita Aemil. 6 (12 VAZQUEZ DE PARGA) werden Gläubige sogar gewarnt, sie könnten ihn nicht sine sui pernicie nachahmen – worauf sich dies bezieht, wissen wir nicht sicher, wahrscheinlich aber auf seine zeitweilig extreme Askese; vgl. FEAR 2019, 30. 75 Vgl. FEAR 2019, 30–31.
4.8 carm. 13–15: Krankheit, Alter und Tod
163
languorem.76 Die Leserinnen und Leser (des Gedichtbuches), die hier bereits an den Dichter gedacht haben könnten, werden zum Abschluss darin bestätigt, dass sie auch an ‚Eugenius‘ denken und ihn vor allem in ihre Gebete mit aufnehmen sollen: Cumque precum murmur te propter fuderis intus et gemitum toto prompseris ex animo, Eugenium, quaeso, propriis adiunge querellis: sic culpis ueniam promereare tuis.77 Und wenn du das Murmeln der Gebete deiner selbst wegen aus dem Innersten ergossen, und mit ganzem Herz Seufzen hervorgebracht hast, Füge, so bitte ich, auch Eugenius deinen eigenen Klagen hinzu: so erlange Vergebung für deine Schuld!
Zweierlei fällt auf, was auch für das Verständnis späterer Gedichte wichtig sein kann: Erstens kommt hier eine Vorstellung zum Ausdruck, die uns in carm. 25, dem Epitaph für König Chindasuinth, wiederbegegnet: dass die Fürbitte, das Einbeziehen anderer in die eigenen Bitten, auch für die Betenden selbst heilsam ist.78 Zweitens ist bezeichnend, dass sich Eugenius die Bittgebete der Gläubigen in der Basilika als Klage vorstellt, als gemitus und querella. Diese scheint also grundsätzlich einen Platz in der persönlichen Spiritualität der Gläubigen zu haben – ein Kontext, den wir auch für die eigenen Klagegedichte des lyrischen Ichs mitbedenken sollten.
4.8 carm. 13–15: Krankheit, Alter und Tod 4.8 carm. 13–15: Krankheit, Alter und Tod
Bei den carm. 13–14b handelt es sich um die zentralen Klagegedichte des Eugenius, weshalb sie in einer Detailanalyse genauer beleuchtet werden. Ihr Verhältnis zueinander, insbesondere die Abgrenzung von carm. 14 und 14b, ist kontrovers diskutiert worden, weshalb auch auf diese Frage in der Detailanalyse noch einmal eigens eingegangen werden soll. Vorerst ist für das Verständnis des Fortlaufens des Gedichtbuches besonders der je unterschiedliche Charakter dieser Gedichte festzuhalten: Das sehr kurze carm. 13 stellt insofern eine Klage par excellence dar, als dort die ‚Beschwerden‘ des lyrischen Ichs ohne irgendwelche metapoetischen Einleitungen oder weiterführende Reflexionen ungefiltert auf die Leserinnen und Leser (und auf Gott, der im abschließenden Bittgebet angesprochen ist) einprasseln. 76 Vgl. FEAR 2019, 31: „While he does not explicitly say so, the plea implies that Eugenius himself had been or was in need of the saint’s powers.“ 77 Eugenius von Toledo, carm. 11,17–20 (CCL 114,224 ALBERTO). 78 Übrigens bietet Eugenius in einem Brief an Braulio diesem selbst die Fürbitte für dessen Sünden an, vgl. Eugenius von Toledo, ep. Braul. 18–19 (CCL 114,399 ALBERTO): ita soluat Christus culpae uestrae, si tamen est aliqua, nexionem.
164
4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Dem gegenüber weist das (in sich polymetrische) carm. 14 eine komplexe Struktur auf, die durch eine Einleitung für die Leserinnen und Leser auch vorentlastet wird. Das Gedicht, in dem die Klage nacheinander die Themen des Alters, der Furcht vor dem drohenden Tod und dem göttlichen Gericht und schließlich der eigenen Sündhaftigkeit ‚durchläuft‘, zeichnet eine spirituelle Entwicklung des lyrischen Ichs nach, die durch diese Altersleiden angestoßen wird. Die Altersleiden führen dem lyrischen Ich die Vergänglichkeit der Welt und daher die Notwendigkeit, sich von der Welt abzukehren und Buße zu tun, deutlich vor Augen. Die argumentative Struktur erscheint also dem carm. 5 sehr ähnlich. Carm. 14 unterscheidet sich jedoch dadurch, dass hier der lebensweltliche Anlass des Alters konkreter geschildert wird, während in carm. 5 unspezifisch und ohne näher darauf einzugehen von einem Niedergang der Welt und einem baldigen Lebensende die Rede war. Folglich erscheint auch das zeitliche ‚Drängen‘ in carm. 14 erhöht, und die Selbstaufforderung zur Buße beinhaltet keine moralische correctio mehr, sondern nur noch das verzweifelte Flehen um Gottes Vergebung. Carm. 14b schlägt wiederum einen anderen Ton an. Die in carm. 14 aufgebaute Spannung fällt ab, das lyrische Ich blickt auf seine Klagepoesie zurück und beantwortet die Frage der Leserinnen und Leser, warum es derlei Gedichte verfasst habe. Die Antwort ist so banal wie bezeichnend für die Gedichte des Eugenius: weil es eben so sehr zu leiden hatte. Einen anderen Akzent setzt das wiederum sehr kurze, lediglich zwei Distichen umfassende carm. 15. Es wirkt gegenüber den vorherigen Gedichten beinahe ‚nachgeklappt‘, so als müsse der Dichter, der das Alter zuvor heftig und polemisch attackiert hatte, fairerweise auch dessen einzigen Vorzug erwähnen: Nulla bona grataque senilis deuehit aetas, sed dura generat diraque cuncta parat. Hoc solum praestat miseram tetigisse senectam quod luxum carnis iam caro fessa cauet.79 Nichts Gutes und Angenehmes bringt hohes Alter mit sich, sondern erzeugt alles, was hart ist; alles Scheußliche hält es bereit. Dies allein bringt es, das unglückselige Greisenalter erreicht zu haben, dass sich hütet vor der Genusssucht des Fleisches das schon ermüdete Fleisch.
Durch dieses kleine Zugeständnis, das das Greisenalter wieder mit dem Themenkreis Buße und Umkehr in Verbindung bringt und einen in der christlichen Literatur nicht seltenen Topos wiedergibt,80 ändert sich freilich die grundlegend negative Einschätzung des Greisenalters nicht.
79
Eugenius von Toledo, carm. 15 (CCL 114,232 ALBERTO). Vgl. dazu etwa Isidor von Sevilla, sent. 2,39,24–25 (CCL 111,176 CAZIER), der jedoch betont, die Greise dürften sich dieser Art der Enthaltsamkeit nicht rühmen: Quidam in iuuentute luxuriose uiuentes, in senectute continentes fieri delectantur, et tunc eligunt 80
4.9 carm. 16–19: Die Auto-Epitaphe
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4.9 carm. 16–19: Die Auto-Epitaphe 4.9 carm. 16–19: Die Auto-Epitaphe
Dem Zyklus um Krankheit, Alter und Tod folgen vier Gedichte, die in den Handschriften mit dem Titel Epitaphium proprium (carm. 16) bzw. Item aliud (carm. 17–19) überschrieben sind. Tatsächlich fingieren die Gedichte mehr oder weniger deutlich, eine Aufschrift auf einem Grabstein zu sein: carm. 18,2 und carm. 19,2 beziehen sich jeweils auf einen tumulus, carm. 17,4 gibt an, das lyrische Ich liege „hier“ im Grabe (carm. 17,4: occubat istic); dieses nennt sich selbst tumulatus (carm. 17,4). Einen besonderen Weg geht carm. 16, das nach einem ausführlichen Vergebungsgebet den Leserinnen und Lesern ein kleines Rätsel aufgibt: Vis, lector, uno qui sim, dinoscere versV, Signa priora lege, mox ultima nosse ualebiS.81 Willst du, Leser, in einem Vers erkennen, wer ich bin, lies die vorderen Buchstaben, dann wirst du die letzten erkennen.
Die Leserinnen und Leser werden also noch im Gedicht darauf hingestoßen, sich jeweils die ersten und die letzten Buchstaben anzusehen. Diese geben, von oben nach unten gelesen, das Akrostichon EVGENIVS und das Telestichon MISELLVS. Durch diese ‚Grabinschrift‘ ist also der Tote identifiziert. Was für uns heute wie eine gewitzte literarische Spielerei (die man sich vielleicht wirklich nur in einem Auto-Epitaph leisten kann) wirkt, ist jedoch auch für ‚echte‘ Epitaphe belegt.82 Beginnend mit Autoren wie Optatianus haben auch in Eugenius’ Zeit hochgeschätzte Dichter wie Venantius Fortunatus diese Art der Dichtung für sich entdeckt.83 Interessant ist die Entwicklung der ‚Zukunftserwartungen‘, die in diesen Auto-Epitaphen zum Ausdruck kommen. In der ersten Person Singular verfasst und, bis auf carm. 17, mit dem Namen Eugenius versehen, sind sie deutlich als Äußerungen der Dichter-persona verständlich. Diese gibt selbst im imaginierten Tod zunächst ihre Selbstdarstellung als zerknirschter Sünder, die insbesondere in carm. 5 und 14 aufgebaut wurde, nicht auf. In carm. 16 bittet der Dichter im gesamten Gedicht (bis auf das ‚Rätsel‘ am Ende) Christus, seine Seele trotz der großen Schuld aufzunehmen, ihn von der Hölle zu verschonen, seine
seruire castitati quando eos libido seruos habere contemnit. Nequaquam in senectute continentes uocandi sunt, qui in iuuentute luxuriose uixerunt. Vgl. für diese Deutung auch GNILKA 1972, 135–142 und, am Beispiel des Johannes Chrysostomus, DE WET 2018, 49–51. 81 Eugenius von Toledo, carm. 16,7–8 (CCL 114,233 ALBERTO). 82 Vgl. etwa CLE 1968 (40 BUECHELER/LOMMATSCH) aus Aquileia (336 n. Chr.) mit dem Akrostichon ANTONIVS, auf das ebenfalls im letzten Vers hingewiesen wird: Si scire uis, lector, qui pausat, ca[pita] uersorum require. 83 Vgl. für einen Überblick über solcherlei ‚figurale Poesie‘ MULLIGAN 2018, 242–244; vgl. für Venantius Fortunatus GRAVER 1993, passim und BRENNAN 2019, passim.
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Schuld abzuwaschen und ihn nicht aus der Gemeinschaft der Heiligen zu verbannen. Auch das carm. 17, eines von nur drei Gedichten in sapphischen Strophen, steht noch ganz im Zeichen des Sündenbewusstseins. Überraschenderweise setzt es in der dritten Person ein und berichtet von einem toten Sünder, der hier im Grabe liegt und erst in der dritten Strophe als Dichter erscheint (carm. 17,9: Imprecor inde tumulatus ipse). Mit der Charakterisierung dieses Sünders als Mole culparum grauiter onustus schließt das Gedicht an carm. 5,1 (Criminum mole grauatus) an. In den weiteren Selbstbezichtigungen wird mit Superlativen nicht gespart: der Tote sei crimine summus, uitiis abundans (carm. 17,2) und habe an keiner Stelle seines Lebens (nusquam) das Gute geliebt. Der Mittelteil bekommt zudem mit der Erwähnung des Scheiterns am mönchischen Lebensideal einen beinahe persönlichen Ton: Vixit horrendo madidus tepore, tardus ad sanctum, celer ad malignum, ore, non corde, monachi retentans religionem.84 Gelebt hat er triefend von schrecklicher Lauheit, träge beim Heiligen, geschwind bei dem Bösen, mit dem Munde, nicht im Herzen, bewahrte er die mönchische Ehrfurcht.
Dies resoniert mit den biographischen Informationen, die wir über Eugenius haben, der das propositum monachi nach Ildefons gerade „in geziemender Weise“ (decenter) verfolgt habe.85 Im Gegensatz zum Schuldbekenntnis des lyrischen Ichs in carm. 14, das eher eine topische Liste von Sünden bietet, die man dem Bischof wohl nicht alle zutrauen dürfte, enthält dieses Sündenbekenntnis also Elemente, die den Lesenden realistisch erscheinen dürften, zumal durch ore, non corde ein verstecktes, vielleicht ‚nur‘ gedankliches, in jedem Fall aber nach außen hin nicht sichtbares Vorbeileben an der monachi religio insinuiert wird. Wegen dieser Schuld bittet die Dichter-persona in der letzten Strophe in der ersten Person Singular die Leserinnen und Leser, wie schon in carm. 11,19–20, um Fürsprache bei Gott. Die zwei kurzen carm. 18 und 19 sind bis auf die jeweilige Erwähnung eines tumulus, der aber nicht notwendigerweise als Ort des Gedichtes erscheint, weniger deutlich als Epitaphe erkennbar. In erster Linie folgen sie der typischen Gebetsform aus Ansprache (carm. 18,1: conditor alme; carm. 19,1: Spes mihi summa, Deus) und Bitten, während der prädikative Teil gemäß der Kürze der Gedichte beinahe nicht vorhanden ist. Beide Gedichte setzen aber auch insofern einen etwas anderen Akzent, als in ihnen zum ersten Mal für das lyrische 84
Eugenius von Toledo, carm. 17,5–8 (CCL 114,234 ALBERTO). Vgl. Ildefons von Toledo, vir. ill. 13,195 (CCL 114A,614 CODOÑER MERINO): propositum monachi decenter incoluit. 85
4.9 carm. 16–19: Die Auto-Epitaphe
167
Ich, das in beiden Fällen als Eugenius identifiziert wird, eine persönliche Hoffnungsperspektive aufscheint. In carm. 18 ist es vor allem die Hoffnung auf die leibliche Auferstehung, die der ‚verstorbene‘ Eugenius noch hegt: Qui me de nihilo formasti, conditor alme, tu pius in tumulo, tu mea membra foue. En cinis ad cinerem redii uitamque peregi, sed putres cineres tu reparare uales. Ascendat, o Christe potens, post fata peracta Eugenius dextram laetus ad astra uiam.86 Der du mich aus dem Nichts geformt hast, milder Schöpfer, hege du liebevoll im Grab meine Glieder. Siehe, als Asche bin ich zur Asche zurückgekehrt und habe mein Leben vollendet, doch du vermagst, die faule Asche wiederherzustellen. Hinaufsteigen möge, o mächtiger Christus, nachdem er sein Schicksal erfüllt, Eugenius freudig den rechten Weg zu den Sternen.
Das Gedicht stellt gewissermaßen den umgekehrten Prozess zu dem dar, der in carm. 14 geschildert worden war. Dort war der Mensch (nach dem antizipierten Tod) verfault: Sic species hominis fit putrefacta cinis (carm. 14,50). Freilich erscheint auch diese Hoffnung nicht im Tonfall der Gewissheit, sondern im Modus der Bitte. Zusätzlich getrübt wird diese Hoffnung im folgenden carm. 19, dem letzten Auto-Epitaph. Dort erscheint als zusätzliches Hindernis, das die göttliche Hilfe nach dem Tod nötig macht, im Anschluss an die beiden ersten Epitaphe wiederum die persönliche Schuld des lyrischen Ichs, derer sich Gott zuerst erbarmen müsse. So wird schließlich die Hoffnung durch die gleichzeitige Erinnerung an die eigene Sündhaftigkeit ausbalanciert: Spes mihi summa, Deus, quod functus morte resurgo nec iam post tumulum sic moriturus ero. sed quia mortalis numquam sine crimine uixi, Eugenii miseri tu miserere pie.87 Du meine höchste Hoffnung, Gott, dass ich nach dem Tod auferstehe, und so nach dem Grabe nicht mehr werde sterben müssen. Doch weil ich als Sterblicher niemals ohne Verbrechen habe gelebt, erbarme du dich des elenden Eugenius liebevoll.
Will man wiederum die Reihe der Gedichte nicht als zufällig betrachten, könnte man sagen, dass die Sünden- und Bußthematik, die in carm. 14 mit dem drohenden Tod verknüpft wurde, hier sozusagen langsam ausschleift: Mit zwei Gedichten, die noch der Sündenklage gelten, einem Gedicht, in dem das lyrische Ich eine hoffnungsvolle Bitte wagt, und schließlich einem Gedicht, das
86 87
Eugenius von Toledo, carm. 18 (CCL 114,235 ALBERTO). Eugenius von Toledo, carm. 19 (CCL 114,235 ALBERTO).
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
beides integriert und somit – in der Lesereihenfolge – das letzte Wort über ‚den toten Eugenius‘ spricht.
4.10 carm. 21–24: Epitaphe aus Saragossa 4.10 carm. 21–24: Epitaphe aus Saragossa
Auf die Auto-Epitaphe folgen schließlich die ‚Fremd-Epitaphe‘, die Eugenius also nicht für sich selbst, sondern für andere Verstorbene verfasst. Dass sie sich stark von seinen Auto-Epitaphen unterscheiden, zeigt wiederum am besten die Frage auf, wie das Thema Verdienst/Sünde darin behandelt wird: Bis auf das carm. 25 für König Chindasuinth zeigt sich die Dichter-persona für die Verstorbenen jeweils voll des Lobes und zuversichtlich hinsichtlich des Schicksals, das die Verstorbenen im Jenseits erwartet. Die Reihenfolge der Epitaphe scheint dabei weniger sachlich als zeitlich orientiert zu sein. Die ersten zwei kommemorierten Persönlichkeiten, die Eugenius aus seiner Zeit in Saragossa gekannt haben muss, sind Johannes und Basilla, Bruder und Schwester seines Mentors Braulio von Saragossa. Carm. 24, auf das hier wegen seines sehr fragmentarischen Zustandes nicht näher einzugehen ist, gilt einem nicht mehr näher identifizierbaren Leo. Darauf folgen die – extra zu behandelnden – carm. 25 und 26 für Mitglieder der königlichen Familie sowie drei carmina, die Eugenius im Auftrag eines Evantius, den wir eventuell als einen hochrangigen Beamten am Hof Chindasuinths identifizieren können,88 dessen verstorbenem Vater Nicholaus widmet. Besonders ausführlich ist das Epitaph für den verstorbenen Bischof Johannes von Saragossa, den Vorgänger seines Bruders Braulio. Es setzt mit dem typischen Trosttopos ein, dass man über den Verstorbenen nicht lange weinen dürfe, weil er aufgrund seines Glaubens bereits im Himmelreich sei: quem laetum caelis intulit alma fides (carm. 21,4). Es folgt ein langer Tugendkatalog des Johannes, an dem Eugenius übrigens nicht nur die klassischen christlichen Tugenden bewundert, sondern auch sein hohes Bildungsniveau, vor dem sogar „das gelehrte Griechenland“ (carm. 21,10: Graecia docta) weichen müsse. Der Hauptpunkt bleibt aber seine tätige Nächstenliebe und seine innere Unabhängigkeit von der Welt. Der Dichter fasst zusammen: ut breuiter dicam, tenuit sic corpore mundum, ut semper animo cerneret ille Deum.89 um es kurz zu machen, so hat er sich im Körper rein gehalten, dass er im Geiste beständig Gott schaute.
Nach diesem allgemeinen Lob wird ein kurzer Abriss des Lebens des Johannes gegeben. Die letzten, korrupten Distichen könnten möglicherweise noch etwas 88 89
Vgl. GARCÍA MORENO 1974, 48 und bes. Anm. 1. Eugenius von Toledo, carm. 22,15–16 (CCL 114,237 ALBERTO).
4.10 carm. 21–24: Epitaphe aus Saragossa
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zur Situation des Gedichtes verraten – was davon übrig ist, zeigt jedoch, dass Eugenius dem Johannes dieses Gedicht in persona widmet. Er bittet den Angesprochenen nämlich darum, immer seiner zu gedenken: semper ut Eugenii sis mem (carm. 21,28). Die folgenden beiden Gedichte gelten Basilla, der Schwester des Braulio und Johannes, die zunächst verheiratet war, dann aber jung Witwe wurde90 und sich daraufhin dem klösterlichen Leben verschrieb. 91 Beide biographischen Aspekte referiert Eugenius.92 Das erste der beiden Gedichte, carm. 22, ist aus der Sicht der Schwester Pomponia verfasst.93 Es hat dabei zunächst, stärker als im Fall des Johannes, den Charakter der Totenklage, mit Aufforderungen zum Beweinen der Toten und zum Schlagen der Brust als Trauergestus, was bei Johannes mit Verweis auf die Jenseitshoffnung ‚unterbunden‘ wird. Doch auch im Falle der Basilla wandelt sich diese Klage hin zum Jenseitstrost, auf den wiederum die große Tugendhaftigkeit der Verstorbenen hoffen lasse. Den Aufschrift-Charakter konstruiert dagegen carm. 23 deutlicher, indem dort der „heilige Ort“ (carm. 23,2: sacrum […] locum) beschrieben wird, an dem Basilla ruht, und den die Leserinnen und Leser aufgefordert werden, mit Blumen zu verehren. Wie eine Blume erscheine auch Basilla durch ihre Tugendhaftigkeit, die als nachahmenswertes Beispiel dargestellt wird: Sparge rosas, lector, et lilia candida pone Et rite sacrum sic uenerare locum. Hic dilecta Deo recubans Basilla quiescit, clara parentatu, clarior et merito, uirtutum gemmis et morum flore uenusta: hanc imitare uelis, si bonus esse cupis.94 Streue Rosen, Leser, und leuchtende Lilien lege nieder und ehre so den heiligen Ort nach dem Brauch. Hier liegt die von Gott geliebte Basilla darnieder in Ruhe, durch Abstammung berühmt, berühmter noch durch ihr Verdienst, lieblich durch die Edelsteine ihrer Tugenden und die Blüte ihrer Sitten: diese möchtest du nachahmen, so du gut zu sein wünschst.
90
Braulio schreibt seiner Schwester zu diesem Anlass einen Kondolenz- und Konsolationsbrief, vgl. ep. 7 (CCL 114B,48–50 MIGUEL FRANCO). 91 In ep. 10,40–43 (CCL 114B,55 MIGUEL FRANCO) schreibt Braulio seiner zweiten Schwester, der Äbtissin Pomponia, einen Trostbrief zum Anlass des Todes Basillas, und hofft, sie könne die übrigen Schwestern über Basillas Tod hinwegtrösten: et per te consolentur sorores ceterae. 92 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 22,13–14 (CCL 114,239 ALBERTO): Tu priuata uiro primaeuo flore iuuentae / ad Christum celeri religione uenis. 93 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 22,27 (CCL 114,239 ALBERTO): tua supplex Pomponia quaeso. 94 Eugenius von Toledo, carm. 23 (CCL 114,240 ALBERTO).
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
4.11 carm. 25–26: Epitaphe für die Königsfamilie 4.11 carm. 25–26: Epitaphe für die Königsfamilie
Zwei Epitaphe hat Eugenius für Mitglieder der königlichen Familie verfasst: das eine für König Chindasuinth, das andere für dessen Schwiegertochter Recciberga. Die beiden Gedichte könnten jedoch in ihrer Art unterschiedlicher nicht sein. Das Epitaph für Recciberga ist insofern ein ‚klassisches‘ Epitaph, als es die Perspektive eines nahen Angehörigen einnimmt, hier des Reccesuinth, Chindasuinths Sohn und Reccibergas Gemahl,95 und in dessen Namen der Verstorbenen ein Gedicht widmet – ähnlich carm. 22, wo der Dichter Pomponia sprechen ließ. Auffallend ist hier im Vergleich lediglich, dass die verstorbene Recciberga im Gedicht beinahe völlig hinter der Figur ihres Ehemannes zurücktritt. Dessen Sinnieren über das allen Menschen gemeinsame Schicksal des Todes, vor dem er trotz seines Reichtums und seiner Macht seine Frau nicht beschützen konnte, nimmt beinahe die Hälfte des Gedichtes ein. Tugenden der Recciberga werden nur im Vertrauen ihres Gemahls, sie werde „verdientermaßen“ (carm. 26,8: merito) in der Gemeinschaft der Heiligen auferstehen, angedeutet – im starken Kontrast etwa zu den Epitaphen der Basilla. Auch über ihr Leben erfahren wir kaum mehr, als dass sie fast sieben Jahre mit ihrem Mann verheiratet war und ein Alter von 22 Jahren erreichte. Freilich ist anzunehmen, dass, wenn Eugenius dieses Epitaph im Auftrag des Reccesuinth verfasste, dies nur eines von mehreren Epitaphen gewesen war, die der Recciberga gewidmet wurden – auch in den drei folgenden Epitaphen für Nicholaus werden teils sehr unterschiedliche Akzente gesetzt. Das carm. 25 ist dagegen das Gedicht des Eugenius, das insbesondere die historische Forschung am meisten beschäftigt hat. Es ist sicherlich das ungewöhnlichste der Epitaphe, insofern dort der verstorbene (oder als Verstorbener vorgestellte) König selbst es ist, der in der ersten Person Singular spricht. Noch ungewöhnlicher ist allerdings, dass das Gedicht nicht schmeichelhaft ausfällt, 95 Die Identität des Gemahls der Recciberga, für die das vorliegende Epitaph tatsächlich die einzige Quelle darstellt, war aufgrund unterschiedlicher Angaben in den Manuskripten lange umstritten, vgl. noch SCHLIMBACH 2009, 359–361 der – aufgrund eines Missverständnisses, dass der Azagra-Codex den Namen Chindasuinth enthalte, was nicht der Fall ist – von letzterem als Reccibergas Gemahl ausgeht. Die älteste Handschrift, die das Gedicht enthält, der sog. Codex Azagra, gibt als Namen in carm. 26,10 reccesuinthus an, während spätere frühe Editionen des Gedichtes den Namen zu Chindasuinth emendieren. Ein gewisser Zweifel, dass reccesuinthus wirklich die ursprüngliche Variante ist, scheint zunächst durch die Tendenz des Codex gerechtfertigt, Eigennamen zu ‚aktualisieren‘ und an die eigene Zeit anzupassen – freilich wäre die Abänderung von Chindasuinth zu Reccesuinth aber gerade kein großer historischer Sprung. ALBERTO 2006, 769–774 kann schließlich rekonstruieren, an welcher Stelle der Überlieferungsgeschichte und aus welchen Gründen diese Emendierung vorgenommen wurde, und bestätigt dadurch die Lesart reccesuinthus als die ursprünglichere.
4.11 carm. 25–26: Epitaphe für die Königsfamilie
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sondern Chindasuinth sich dort selbst der schlimmsten Sünden bezichtigt. In der Folge wurde es von den meistern Historikern als Dokument eines Hasses gelesen, den entweder Eugenius persönlich oder die bischöfliche Gemeinschaft gegen Chindasuinth hegte und dem der Dichter nach Chindasuinths Tod gefahrlos Luft verschaffen konnte.96 Gerd Kampers etwa sieht darin Eugenius’ „vernichtendes – zweifelsohne nur für einen engen Kreis von Vertrauten bestimmtes – Urteil über Chindasvinth.“97 Daneben ist jedoch gerade durch die philologische bzw. ideengeschichtliche Forschung bereits früh eine andere Lesart insinuiert worden. Schon der erste moderne Herausgeber des Eugenius, Friedrich Vollmer, bezeichnet das Gedicht als senilis paenitentiae documentum98 und geht davon aus, dass das Epitaph vom König selbst in Auftrag gegeben, aber erst postum veröffentlicht wurde.99 Nach ersten Anregungen von Andrew Fear hat insbesondere David Ungvary dafür plädiert, das Gedicht vor dem Hintergrund sowohl der übrigen Gedichte des Eugenius, als auch des gesamten geistesgeschichtlichen Kontextes anders zu interpretieren.100 Der entscheidende Schlüssel, der das Gedicht eben nicht zu einer wüsten Schmähung des Königs macht, ist die Tatsache, dass innerhalb des Gedichtes eben nicht die Dichter-persona das vernichtende Urteil über den König spricht – sondern der König selbst.101 Ähnlich emphatisch, wie Eugenius oft seine eigene Person als Subjekt des Gedichtes betont, wird hier Chindasuinth als der Sprechende eingeführt: Chindasuinthus ego, noxarum semper amicus, patrator scelerum, Chindasuinthus ego.102 Ich, Chindasuinth, war immer ein Freund der Verbrechen, Vollstrecker der Untaten war ich, Chindasuinth.
96 Vgl. zum Verhältnis Eugenius’ und Chindasuinths Kap. 2.1.4. Vgl. für die Lesart als Schmähgedicht noch jüngst ESDERS 2019a, 193, (revidiert in ESDERS 2019b, 113); vgl. unter den jüngeren Historikern COLLINS 2004, 88 und besonders KAMPERS 2008, 199: „ein in der Schwärze seiner Farbe kaum zu überbietendes Bild der sittlich-moralischen Verkommenheit des verstorbenen Königs.“ DIESNER 1980, 478: „der verbleibende Unmut manifestierte sich in dieser ätzenden und verunglimpfenden posthumen ‚Widmung‘, die natürlich zugleich als Paränese für Zeitkommen und Nachkommen gemeint war.“ Letzterer schränkt diese Aussage jedoch bereits selbst ein: „Freilich ist gleichzeitig in Betracht zu ziehen, daß Eugenius in seinen autobiographischen Epitaphien sich selbst als unübertroffenen Sünder darstellt.“ (a.a.O., 479). 97 KAMPERS 2008, 199. 98 VOLLMER 1905, 103. 99 Vgl. VOLLMER 1901, 408. Diese Argumentation akzeptiert HARTMANN 2017, 96–97. 100 Vgl. UNGVARY 2018a, passim und UNGVARY 2018b, 275–315. Vgl. zuvor FEAR 2010, 69–73. 101 Vgl. FEAR 2010, 73. 102 Eugenius von Toledo, carm. 25,9–10 (CCL 114,242 ALBERTO).
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Das carm. 25 ist das einzige ‚Fremd-Epitaph‘, in dem der Verstorbene selbst von sich in der ersten Person spricht. Dieses Charakteristikum weisen sonst nur Eugenius’ Auto-Epitaphe auf. Gerade diese aber ähneln auch sonst in ihrer Machart dem Chindasuinth-Epitaph stark. So werden in beiden Fällen die Lesenden um Fürbitte für den Verstorbenen angefleht. Dieses Motiv, mit dem carm. 25 beginnt, ist im Chindasuinth-Epitaph so breit ausgeführt wie sonst nie in den Gedichten des Eugenius: Plangite me cuncti, quos terrae continet orbis, sic uestra propriis probra lauentur aquis, sic Christus uobis dimittat debita clemens, sic pateat summi fulgida porta poli. Promite funereum contrito pectore fletum et facite luctum conlacrimando pium, suspirate Deo, gemitum producite maestum ac pro me misero dicite „parce precor“.103 Beklagt mich, alle, die euch der Erdkreise umfasst, so sollen eure Vergehen durch eure eigenen Tränen abgewaschen werden. So soll euch Christus milde eure Schuld vergeben, so stehe euch offen die blitzende Pforte des höchsten Himmels. Lasst euer Weinen am Grabe mit zerschundener Brust hören und macht die Trauer fromm, indem ihr mitweint. seufzt zu Gott, gebt trauriges Wehklagen von euch und für mich Elenden sprecht: „Verschone, so bitte ich.“
Zweierlei fällt auf: Im Gegensatz zu Interpretationen, die in dem Gedicht einen halb-privaten emotionalen Ausbruch des Eugenius sehen (was allein schon schwer erklären könnte, warum das Gedicht überhaupt in die Sammlung aufgenommen und sogar später in einer realen Inschrift rezipiert wurde),104 richtet sich das Gedicht bewusst an ein sehr breites Publikum – an „alle, die euch der Erdkreis umfasst“. Darüber hinaus erscheint diese Exposition in ihrem Gehalt und in ihren theologischen Vorstellungen zu ernsthaft und zu sehr in Übereinstimmung mit anderswo zum Ausdruck kommenden Anliegen der Carmina, als dass sie auf eine Parodie der Gattung Epitaph hinweisen könnte. Konstruiert wird hier nämlich die Gebetsgemeinschaft aller Gläubigen, die durch Fürbitte und Klage auch die Vergebung ihrer eigenen Sünden erreichen können (vgl. schon carm. 11,19–20, wo Eugenius mit derselben Argumentation um Fürbitte für sich selbst ersucht). Damit ist bereits der Horizont, in den Chindasuinth gestellt wird, nicht seine persönliche exzeptionelle Schlechtigkeit, sondern die Gemeinschaft der Sündigen, die gemeinschaftlich ihre Schuld vor Gott zu sühnen haben.
103
Eugenius von Toledo, carm. 25,1–8 (CCL 114,241–242 ALBERTO). Vgl. das in CORREA/PEREIRA 1972, 325–328 herausgegebene anonyme Epitaph aus dem 8. Jahrhundert. 104
4.11 carm. 25–26: Epitaphe für die Königsfamilie
173
Die Selbstbezichtigungen des ‚Chindasuinth‘ sind allerdings harsch und superlativisch, weshalb die bislang getätigte Lesart keineswegs verwundert: Impius obscenus probrosus turpis iniquus, optima nulla uolens, pessima cuncta ualens, quidquid agit qui praua cupit, qui noxia quaerit, omnia commisi, peius et inde fui. Nulla fuit culpa, quam non committere uellem, maximus in uitiis et prior ipse fui.105 Gottlos, unsittlich, schmachvoll, schändlich und ungerecht, wollt’ von den besten Dingen ich nichts, von den schlechtesten vermochte ich alles, was immer der tut, der Verdorbenes wünscht, der nach Schädlichem verlangt, alles habe ich begangen, und war noch schlechter als das. Keine Schuld gab es, die ich nicht begehen wollte, der Größte hinsichtlich der Laster und der Anführer war ich selbst.
Ähnlich ‚übertriebene‘ Selbstanklagen lasen wir jedoch auch im Schuldbekenntnis in carm. 14 sowie in carm. 17,2, wo die Dichter-persona sich ebenfalls im Superlativ als crimine summus bezeichnet. Nimmt man beides ernst, kann der Dichter den König jedenfalls nicht schlechter darstellen wollen als sich selbst. Im Gegensatz zu carm. 17,5–8, wo ein (zwar loser) Bezug zur Biographie dies Eugenius hergestellt wird, bleibt der Sündenkatalog Chindasuinths im Übrigen völlig inhaltsleer und vor allem ohne Bezug auf sein Königtum; die Sündigkeit Chindasuinths wird von diesem mehr behauptet als mit konkreten Untaten begründet. Auch dadurch drängt sich der Eindruck auf, dass der entscheidende Punkt nicht die Sündhaftigkeit Chindasuinths ist, sondern die Tatsache, dass dieser sie offen eingesteht und sich als reuiger Sünder in die Schar der Menschen einreiht – wie übrigens auch Reccesuinths Kapitulation vor dem Tod als alle Menschen bedrohende Macht in carm. 26 als Ausdruck königlicher humilitas verstanden werden kann. Nach David Ungvary ist dieses Sündenbekenntnis, ebenso wie die Sündenbekenntnisse des ‚Eugenius‘, ein „restorative, paradoxically dignifying speech-act.“106 Die Sünden des Königs bleiben dann auch nicht das einzige Thema des Gedichtes. Mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit gilt dem Thema der uanitas mundi: Ähnlich wie Reccesuinth angesichts des Todes seiner Frau in carm. 26 klagt der tote König, nun Asche zu sein, obwohl er noch vor kurzem die Szepter der Macht getragen hatte. Sein ganzer Reichtum habe dem König nichts genützt und auch vom Streben nach Ruhm sei er getäuscht worden: Omnis enim luteae deceptrix gloria uitae / et flatus abiit. (carm. 25,23–24). Damit knüpft das Gedicht an die Mahnungen des carm. 2 an, sich auf die Reichtümer nicht zu verlassen: „Magst du auch noch so ansehnlich von Gold und Edelsteinen
105 106
Eugenius von Toledo, carm. 25,11–16 (CCL 114,242 ALBERTO). UNGVARY 2018b, 279.
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
schimmern, arm und gering und nackt wirst du zu den Schatten treten.“107 So dient das Beispiel des Königs auch dazu, ein moralisch-asketisches Statement abzugeben – und gleichzeitig zu zeigen, dass Chindasuinth selbst sich zu diesem bekennt: Felix ille nimis et Christi munere felix, qui terrae fragiles semper abhorret opes.108 Glücklich über die Maße und glücklich durch die Gnade Christi ist der, der immer zurückschreckt vor den vergänglichen Schätzen der Erde.
4.12 carm. 27–29: Epitaphe für Nicholaus 4.12 carm. 27–29: Epitaphe für Nicholaus
Die Epitaphe für Nicholaus heben sich insofern von den anderen bereits vorgestellten ‚Fremd-Epitaphen‘ ab, als ihnen deutlich ein unterschiedlicher gesellschaftlicher Kontext anzumerken ist. Die Gedichte gelten keiner Kirchenperson, sondern einem kriegserprobten Staatsmann. So gibt Eugenius in carm. 27,3–4 eine Art ‚Zielgruppe‘ derjenigen an, die das Grab des Nicholaus gerne besuchen dürften: Si tibi bella placent aut te prudentia mulcet, perfer ad hoc tumulum funeris obsequium.109 Wenn dir Kriege gefallen oder Klugheit dich wohlsein lässt, erweise diesem Grabmal die Gefälligkeit der Totensorge.
Dementsprechend unterscheidet sich auch die Gestaltung. Carm. 27 kommt völlig ohne religiöse Bezüge aus, lobpreist lediglich die Ruhmestaten des Nicholaos – und endet mit einem ganz innerweltlichen Lobpreis des Lebens und einer Beschimpfung des Todes, der diesem Leben ein Ende gesetzt habe: O felix uita! o mortis sententia dira! sic vixisse placet, sic abiisse dolet.110 O glückliches Leben! O grässlicher Schiedsspruch des Todes! so wie es gefällt, zu leben, so schmerzt es, zu gehen.
Carm. 28 ist wiederum mit einem Akrostichon und Telestichon gestaltet, in denen Adressat und Adressierender angegeben werden: NICHOLAO EVANTIVS. Das Epitaph ist demgemäß besonders von der liebevollen Beziehung des Evantius zu Nicholaus geprägt. Hier kommt nun doch ein gewisser religiöser
107
Eugenius von Toledo, carm. 2,11–12 (CCL 114,208 ALBERTO): Quamuis perspicuus auro gemmisque nitescas, / pauper et exiguus ibis et nudus ad umbras. 108 Eugenius von Toledo, carm. 25,25–26 (CCL 114,242 ALBERTO). 109 Eugenius von Toledo, carm. 27,3–4 (CCL 114,244 ALBERTO). 110 Eugenius von Toledo, carm. 27,9–10 (CCL 114,244 ALBERTO).
4.13 carm. 30–34: Nachtigall, Ulmen und Spatzen
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Bezug herein, indem der Sohn den Wunsch ausdrückt, Gott möge dem Verstorbenen seine Schuld nicht vergelten (carm. 28,8: Omnipotensque tuis non reddat debita culpiS). Das letzte Gedicht in dieser Reihe kann hingegen kaum noch ein Epitaph genannt werden, sondern ist ein Widmungsgedicht für ein sacrum templum und eine in honore Dei aula, also wohl eine kleine Kirche, die Evantius errichten ließ und in der die „väterliche Asche“ (carm. 29,5: patrios cineres) ihre letzte Ruhestätte findet. Mit der konsequent epanaleptischen Gestaltung erinnert es auch formal an die Basilika-tituli des Eugenius, etwa das carm. 10.
4.13 carm. 30–34: Nachtigall, Ulmen und Spatzen – lyrische Naturbetrachtung und Poetologie 4.13 carm. 30–34: Nachtigall, Ulmen und Spatzen
Mit den Gedichten über die Nachtigall kommen zum ersten Mal im Gedichtbuch Epigramme mit naturkundlichen Themen vor. Insbesondere das erste, das eine etymologische Herleitung des Namens Nachtigall (philomela) darstellt, entspricht genau dem Typus von Epigrammen, wie es weiter hinten im Epigrammbuch, etwa mit carm. 52 über den Sternengecko, ebenfalls auftritt: Sum noctis socia, sum cantus dulcis amica, nomen ab ambiguo sic philomela gero.111 Ich bin die Gefährtin der Nacht, bin Freundin des süßen Gesanges, so trage ich, Nachtigall, meinen Namen von beidem.
Die Etymologie erklärt sich aus einem Wortspiel, einer zweifachen Herleitung der philomela von den griechischen Wörtern öěõøÏ (Gesang) und öěõëÏ (schwarz, wie die Nacht).112 Gleichzeitig sind damit bereits zwei Aspekte gesetzt, die für die folgenden Gedichte bedeutsam werden: Einerseits der Gesang (was sich bei der Nachtigall von selbst versteht), andererseits das Thema der Nachtwache. Diesem Thema ist auch das zweite Einzeldistichon über die Nachtigall gewidmet: Insomnem philomela trahit dum carmine noctem, nos dormire facit, se uigilare docet.113 Während die Nacht durch ihren Gesang die Nachtigall schlaflos verbringt, lässt sie uns schlafen, unterrichtet uns, dass sie wacht.
111
Eugenius von Toledo, carm. 30 (CCL 114,246 ALBERTO). Vgl. ALBERTO 2005a, 246 und SMOLAK 2012, 97. 113 Eugenius von Toledo, carm. 31 (CCL 114,247 ALBERTO). 112
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Im Schluss des Gedichtes, docet, schwingt das Thema der Belehrung mit.114 Was ist es aber, was die Nachtigall lehrt? Die grammatikalisch wahrscheinlichere Auflösung ist, se uigilare als von docet abhängige Akkusativ-InfinitivKonstruktion zu sehen: Die Nachtigall teilt also durch den Gesang mit, dass sie Wache hält und ‚wir‘ also umso ruhiger schlafen können. Selten kommt docere jedoch auch mit reflexivem se vor: In diesem Fall würde die Nachtigall sich durch den Gesang selbst das Wachen lehren.115 Eine enge Verbindung zwischen dem Gesang und dem Wachenkönnen scheint tatsächlich auch im folgenden Gedicht auf: Dic, philomela, uelis cur noctem uincere cantu? „Ne noceat ouis uis inimica meis“. Dic age, num cantu poteris depellere pestem? „Aut possim aut nequeam, me uigilare iuuat“.116 Sag, Nachtigall, warum willst du singend die Nacht besiegen? „Damit keine feindliche Macht meinen Eiern Schaden bringt.“ Sag, wohlan, wirst du etwa durch deinen Gesang das Verderben vertreiben können? „Mag ich es können oder nicht, ich mag es, zu wachen“.
Mit diesem Gedicht scheint die Figur der Nachtigall zum ersten Mal eine über sich selbst hinausgehende Bedeutung zu erhalten. Wie Kurt Smolak bemerkt, weisen hier einige Ausdrücke auf eine „christlich-allegorische Deutung“117 hin, insbesondere das Thema des Wachens (uigilare), das eine stark monastische, aber auch liturgische Konnotation hat, sowie die uis inimica, die das Nest der Nachtigall bedroht. Der identische Ausdruck bezeichnet bei Juvencus den Dämon, die Schlange der Versuchung, die sich in die Herzen der Menschen einschleicht.118 In Probas Cento ist es das Jüngste Gericht, das als uis inimica erscheint.119 Auch die Junktur depellere pestem finden wir in Paulinus von Petricordias Vita Martini wieder: Martin vermag dort das die Menschen plagende Unglück durch ein Gebet zu Gott um Sündenvergebung abzuwenden.120 Angesichts dessen ist zunächst eine spirituelle Deutung der Nachtigall naheliegend, wie sie etwa ein gutes Jahrhundert später Alkuin von York vorlegt,
114
Vgl. SMOLAK 2012, 97. Vgl. als Beispiel für diese Konstruktion Gregor der Große, ep. 5,44 (CCL 140,330 NORBERG): quod ille, qui ueritatem docet alios, semetipsum docere nec me quoque deprecante consensit. 116 Eugenius von Toledo, carm. 32 (CCL 114,247 ALBERTO). 117 SMOLAK 2012, 97. 118 Juvencus, evang. 2,721–722 (220 OTERO PEREIRA): adsociat septem similes glomerando furores / uis inimica homini penetratque in uiscera serpens. 119 Vgl. Proba, cento 496 (CSEL 16/1,599 SCHENKL): flammarumque dies et uis inimica propinquat. Vgl. dazu Vergil, Aen. 12,150 (397 MYNORS). 120 Vgl. Paulinus von Petricordia, Mart. 5,462–463 (CSEL 16/1,123 PETSCHENIG): ut placare deum studeat ueniamque precari / pro miseris tandemque grauem depellere pestem. 115
4.13 carm. 30–34: Nachtigall, Ulmen und Spatzen
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der die Nachtigall zu einem Bild für den idealen Mönch macht: Mit unscheinbarem Gefieder, ähnlich der Mönchskutte, aber umso schönerem Gesang, was dem Psalmengesang als einer der Hauptaufgaben der Mönche entspricht. 121 Eine so eindeutige Identifizierung mit einem bestimmten geistlichen Stand lässt das Gedicht des Eugenius freilich nicht zu, sondern alle Gläubige, die eine gewisse spirituelle Praxis pflegten, konnten sich wahrscheinlich mit Eugenius’ wachender Nachtigall identifizieren. Eine ebenso naheliegende Identifikationsfigur der Nachtigall wäre jedoch auch der Dichter selbst. Schließlich ist Vogelgesang seit jeher ein Bild für die Dichtung, was nach Michael Roberts insbesondere auf die christliche Dichtung zutrifft.122 So reiht sich etwa Venantius Fortunatus in einen Frühlingschor der Vögel, die Christi Auferstehung preisen, selbst als der „kleinste Spatz“ (minimus passer) ein.123 Paulinus von Nola wünscht sich dagegen in seinem Nat. 7 (= carm. 23 Hartel), selbst durch seine Dichtung der besten Sängerin unter den Vögeln zu gleichen – eben der Nachtigall, die nicht namentlich genannt, aber erkennbar beschrieben wird. 124 Im letzten Nachtigall-Gedicht des Eugenius, carm. 33, erscheint die philomela dann tatsächlich als das Vorbild des Dichters – die Schönheit ihrer Stimme ‚zwingt‘ das lyrische Ich, nun selbst zu dichten und das Lob der Nachtigall zu singen.125 Freilich behauptet die Dichter-persona in affektierter Bescheidenheit, mit ihrer rustica lingua niemals der Nachtigall, die überhaupt menschliches Musizieren übertreffe, gleichkommen zu können: Vox, philomela, tua cantus edicere cogit, inde tui laudem rustica lingua canit. Vox, philomela, tua citharas in carmine uincit et superat miris musica flabra modis.126 Nachtigall, deine Stimme zwingt, Gesänge zu verbreiten, daher singt meine plumpe Stimme das Lob für dich. Nachtigall, deine Stimme besiegt Kitharas im Gesange und überwindet mit wunderlichen Weisen die Flötenmusik.
121 Vgl. Alkuin von York, carm. 61 (MGH Poetae 1,1,274–275 DÜMMLER), vgl. dazu SMOLAK 2012, 91–92. 122 Vgl. ROBERTS 2016a, 383. 123 Venantius Fortunatus, carm. 3,9,46 (101 REYDELLET), vgl. zur Auslegung dieses Gedichtes ROBERTS 2009, 145–147. 124 Vgl. Paulinus von Nola, Nat. 7,27–32 (CCL 21,354 DOLVECK) = carm. 23,27–32 (CSEL 230,195 HARTEL): Annue, fons uerbi, Verbum Deus, et uelut illam / Me modo ueris auem dulci fac uoce canorum, / Quae […] Vnicolor plumis ales sed picta loquellis. Vgl. dazu ROBERTS 2016a, 383. 125 SMOLAK 2012, 97 spricht von einer Art Lehrer-Schüler-Verhältnis, das hier zwischen der Nachtigall und dem Dichter konstituiert wird. 126 Eugenius von Toledo, carm. 33,1–4 (CCL 114,247–248 ALBERTO).
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Wenn Eugenius also die Nachtigall als Vorbild seiner Dichtung darstellt, welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf sein Poesie-Verständnis ziehen? Die Nachtigall ist zunächst in der Antike mit dem traurigen Mythos um die Schwestern Philomela und Prokne besetzt.127 Philomela wird von Tereus, dem Gemahl ihrer Schwester, vergewaltigt, und er schneidet ihr die Zunge heraus, damit sie niemandem von ihrem Leid erzählen kann. Dennoch schafft sie es, sich durch eine Webarbeit ihrer Schwester mitzuteilen. Gemeinsam geben die Schwestern sich der Rache hin, töten Proknes Sohn Itys und setzen sein Fleisch dem verhassten Vater als Mahl vor. Als dieser erkennt, was geschehen ist, und sich rasend auf die Schwestern stürzt, verwandeln sich alle drei in Vögel – Tereus in einen Wiedehopf, Prokne in eine Nachtigall und Philomela in eine Schwalbe. In späteren Versionen des Mythos tauschen die Schwestern freilich die Plätze und Philomela wird zur Nachtigall. Dennoch ist durch diese Aitiologie der Gesang der Nachtigall insbesondere mit der Klage einer trauernden Muter verknüpft – der Trauer der Prokne um ihren Sohn, als sie schließlich erkennt, was sie getan hat. Ob Eugenius diesen Mythos kannte, wird aus seinen Gedichten heraus nicht deutlich; explizit auf ihn zu beziehen scheint er sich an keiner Stelle. Am ehesten erinnert seine Darstellung der sich um ihr Nest sorgenden Nachtigall in carm. 32 an eine Passage aus Vergils Georgica, in der Orpheus’ Trauer um Eurydike mit dem Klagegesang einer Nachtigall um ihre Jungen, die von einem grausamen Pflüger getötet wurden, verglichen wird.128 Auch wenn der Mythos hier nicht erwähnt wird, erscheint die Nachtigall doch mit der Klage assoziiert. Der Unterschied in Eugenius’ Darstellung ist freilich, dass hier die Nachtigall nicht über bereits geschehenes Unglück trauert, sondern aus Sorge um ein zukünftiges Unglück für ihre Jungen: Sie möchte durch ihr Wachen und Singen Schaden von ihrem Nest abwenden. Ihr Gesang ist also kein Klagegesang im eigentlichen Sinne, aber doch Gesang im Angesicht einer Bedrohung.129 Die kritische Rückfrage des lyrischen Ichs, ob sie denn glaube, dass der Gesang etwas nützen könne, um das Verderben zu vertreiben (carm. 32,3: num cantu poteris depellere pestem?), erscheint auf der Sachebene sehr verständlich: Was erhofft sich die Nachtigall davon? Auf die Poesie übertragen repräsentiert dieser Einwurf die Frage nach dem Nutzen der Dichtung. Und ähnlich dem carm. 14b, wo der Dichter die Frage nach dem Warum der Klagepoesie lediglich mit dem Leid beantwortet, das er nun einmal erleide und besingen wolle, beantwortet auch hier die Nachtigall die Frage im Grunde nicht, sondern 127
Vgl. für eine lateinische Version des Mythos Ovid, met. 6,412–674 (167–177 TARin der nicht klar wird, welche Schwester sich in welchen Vogel verwandelt. 128 Vgl. Vergil, georg. 4,511–515 (99 MYNORS): qualis populea maerens philomela sub umbra / amissos queritur fetus, quos durus arator / observans nido inplumis detraxit; at illa / flet noctem ramoque sedens miserabile carmen / integrat et maestis late loca questibus implet. 129 Vgl. SMOLAK 2012, 98.
RANT),
4.14 carm. 35–36: Streit und Versöhnung
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stellt lediglich fest: Ob es etwas nützt oder nicht, sie wache und singe eben gern. Zunächst wird also der Gesang (und damit auch Eugenius’ Poesie?) jeglicher Nützlichkeitserwägung entzogen. Im längeren carm. 33, dem Loblied auf die Nachtigall, scheint freilich doch ein Nutzen des Nachtigall-Gesangs wenigstens für den Menschen auf: Die Stimme der Nachtigall vermag es, Sorgen zu vertreiben und verängstigten Herzen Erholung zu schenken (carm. 33,5: Vox, philomela, tua curarum semina pellit, recreat et blandis anxia corda sonis).130 Diese Eigenschaft und allgemein die Schönheit ihres Gesanges macht den Vogel zu einem besonders kostbaren Geschenk, das der Schöpfer Christus den Menschen bereitet. Abgeschlossen wird der Nachtigall-Zyklus von einem Schöpfungslob bzw. -dank: Gloria summa tibi, laus et benedictio, Christe, qui praestas famulis haec bona grata tuis.131 Höchster Ruhm sei dir, Lob und Segen, Christus, der du deinen Dienern erweist dieses willkommene Gut.
Das carm. 34, das auf diesen Zyklus folgt, lässt schließlich die lyrische Stimmung der Nachtigall-Gedichte ausklingen. Noch einmal wird die Dichter-persona – oder sogar eine Gruppe von Dichtern oder Sängern, da im kurzen Gedicht nur ein ‚wir‘ auftritt – als von Vögeln inspiriert dargestellt. Interessanterweise wird hier zum ersten Mal (anders als bei der Nachtigall) von einem ‚klagenden‘ Vogelgesang gesprochen, der jedoch nichtsdestoweniger ‚süß‘ klingt. Sich an den Vögeln ein Beispiel nehmend, gibt sich die Dichter-persona der Natur hin und dichtet ebenfalls: En per frondisonas herbosi caespitis ulmos concentu pariles dulce queruntur aues: hic fessa gelidis tradamus corpora flabris promentes uerbis carmina dulcifluis.132 Ach, durch die Ulmen auf grasigem Boden, mit klingenden Blättern, klagen, von gleicher Art, Vögel süß uns ihr Leid: hier soll’n wir legen die müden Körper in kühlenden Windhauch, klingen lassen mit süß fließenden Worten das Lied.
4.14 carm. 35–36: Streit und Versöhnung 4.14 carm. 35–36: Streit und Versöhnung
Wiederum deutlich mit Absicht nebeneinandergestellt erscheinen die carm. 35 und 36. Carm. 35 weist auch insofern eine assoziative Verknüpfung mit dem
130
Vgl. zu diesem Topos SCHNOOR 2017, 101.139. Eugenius von Toledo, carm. 33,19–20 (CCL 114,249 ALBERTO). 132 Eugenius von Toledo, carm. 34 (CCL 114,250 ALBERTO). 131
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vorhergehenden Gedicht auf, als dort eine Situation geschildert wird, die, vielleicht in bewusstem Gegensatz zu carm. 34, dem Dichten ganz und gar nicht zuträglich ist. Die Dichter-persona bekennt eingangs ihre Unfähigkeit, sich auszudrücken, sodass dem Dichter sogar Christus (als ‚Musen-Ersatz‘)133 persönlich dabei helfen muss, seine Worte – und seine Tränen – wiederzufinden. Der Anlass des Gedichtes ist nämlich ein schmerzhafter: Non sensus, lector, quaeso, non uerba requiras, scribere nam uersus impulit ecce dolor. Christe, foue segnis torpentia carmina linguae, ut possim questus ipse referre meos. Da guttas oculis, posco, da uerba querellis, nam flere requies, gaudia poena mihi.134 Verlang nicht, o Leser, ich bitt’ dich, nach Sinn oder Worten, denn Verse zu schreiben drängte mich, sieh doch, der Schmerz. Christus, erwärme die fühllosen Lieder meiner trägen Zunge, sodass ich selbst meine Klagen nahezubringen vermag. Gib Tränen den Augen, ich bitte dich, gib Worte den Klagen, denn Weinen bedeutet Ruhe, Freude ist Strafe für mich.
Die Einleitung des Gedichtes bedient sich der typischen Klagesprache des Eugenius, die schon in anderen Kontexten erschien. Insbesondere die Bemerkung, dass nur noch das Weinen dem lyrischen Ich eine gewisse Ruhe verschaffen könne, Freudiges ihm aber vergällt sei – ein abgewandeltes Zitat aus den Elegien des Maximian135 – lasen wir ähnlich schon in carm. 14,16: gaudere taedet, eiulare complacet. Neu an seinen Klageausdrücken ist die Vorstellung, dass ein übergroßer Schmerz, wie er hier beklagt wird, sich der Kommunizierbarkeit entzieht. Im Grunde ist gerade das erste Distichon ein performativer Selbstwiderspruch: Die Leserinnen und Leser sollen keinen Sinn (sensus136) und keine Worte erwarten, da es der Schmerz sei, der dem Dichter diktiere. Gleichzeitig enthält das Gedicht natürlich keine unartikulierten Schreie, sondern durchaus sinnvolle Worte über die Herkunft seines Schmerzes, die wohl, wie wir ergänzen dürfen, Christus dem lyrischen Ich auf seine Bitte hin tatsächlich eingegeben hat. Diese Unfähigkeit scheint auf zweierlei aufzubauen: auf dem Schmerz als Antriebsfeder des Dichtens (die Aussage des ersten Verses wird im zweiten durch nam eingeleitet, der Schmerz ist also der Grund für das Fehlen von Sinn und Worten), andererseits auf der segnis lingua, der trägen Zunge. Auch darin 133
Vgl. DE GIANNI 2016, 97. Eugenius von Toledo, carm. 35,1–6 (CCL 114,250 ALBERTO). 135 Maximian, eleg. 4 = 1,4 (92 SANDQUIST ÖBERG): mors est iam requies, vivere poena mihi. 136 Die Vokabel sensus umfasst, wie DE GIANNI 2016, 98 bemerkt, ein weites semantisches Spektrum und kann Kognitives und Psychologisches, aber auch Physiologisches (vgl. die Gedichte über die fünf Sinne bzw. Sinnesorgane des Menschen) einschließen. 134
4.14 carm. 35–36: Streit und Versöhnung
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besteht ein Widerspruch, um dessen Auflösung Christus gebeten wird: Einerseits drängt der Schmerz zum Ausdruck, andererseits läuft dieses Drängen ins Leere, da dem lyrischen Ich die Worte dafür fehlen. Der Ausdruck seiner Trauer, um die der Dichter bittet, besteht jedoch nicht nur in den Worten, die er in seiner Klagepoesie einfließen lässt, sondern auch in den Tränen, um die – ähnlich der Bitte um die Sünden abwaschenden Tränen in carm. 1,17–18 – das lyrische Ich Christus bittet. Bevor wir also vom Grund seiner Klage erfahren, ist eine größtmögliche Intensität des Schmerzes angezeigt, die sogar das Klagen selbst behindere. Der Klagegrund ist, wie daraufhin erklärt wird, das Zerbrechen einer Freundschaft mit einem sodalis, den das lyrische Ich ‚allzu sehr geliebt‘ habe (carm. 35,7: Iunctus eram nimim dilecto mente sodali). Um diese Freundschaft zu beschreiben, bemüht der Dichter sogar erstmals ein mythologisches Beispiel, dasjenige von Nisus und Euryalus, einem Freundespaar aus Vergils Aeneis, 137 deren Liebe von der Freundschaft des Dichters sogar noch übertroffen werde. 138 Gleichzeitig ist es dem lyrischen Ich wichtig, die Basis dieser Freundschaft anzugeben: Geknüpft hat das Band zwischen beiden die pax in amore Deus (carm. 35,10), wodurch die Freundschaft auch eine stark spirituelle Konnotation erhält.139 Wiederum scheinen, wie in carm. 4, Gott und der Friede quasi gleichgesetzt. Dieser Friede ist jedoch durchtrennt worden: Concordes animos soluens discordia carpsit et cessit duris pax tenuata dolis.140 Die Eintracht der Herzen hat die lösende Zwietracht zerpflückt, und zermürbt von harschen Listen musste der Friede weichen.
Seinen Schmerz über diesen Umstand bringt das lyrische Ich mit einem weiteren Bild zum Ausdruck: Seine Klage gleiche dem der Turteltaube, die über ihren toten Gefährten klagt (carm. 35,13–14). In seinem Schmerz wendet sich der Dichter abschließend sowohl an enge Vertraute als auch an Christus: Labor, io cari, labor, succurrite fratri praebete socio cum pietate manum. Pelle, precor, penitus pungentia iurgia, Christe, ut possim sacris laetus adesse tuis.141 Ich strauchle, ach, ihr Lieben, ich strauchle, kommt eurem Bruder zu Hilfe! leiht eurem Gefährten pflichtschuldig die Hand.
137
Vgl. Vergil, Aen. 9,176–449 (311–320 MYNORS). Vgl. DE GIANNI 2016, 100–101. Euryalus und Nisus als Freundschafts-exemplum haben seit Ovid, trist. 1,5a,23–24 (27 HALL) eine lange Tradition; unter anderem verwendet auch Ausonius, ep. 23,20 (254 GREEN) dieses Beispiel in genanntem Sinne. 139 Vgl. DE GIANNI 2016, 101. 140 Eugenius von Toledo, carm. 35,11–12 (CCL 114,250 ALBERTO). 141 Eugenius von Toledo, carm. 35,15–18 (CCL 114,251 ALBERTO). 138
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Vertreibe, bitte, den Streit, der ins Innerste sticht, o Christus, dass ich froh an deinen Heiligen Feiern teilhaben kann.
Carm. 36, in jeder Hinsicht ein Gegengedicht zu carm. 35, ist von Freude und sogar einem Triumphgefühl gegenüber den Dämonen und sonstigen schädlichen Einflüssen geprägt. Der Friede ist wieder zurück und schenkt dem Geist des lyrischen Ichs Erholung. Somit ist carm. 35 das erste und einzige der Klagegedichte, dessen Bitten – wenigstens in der ‚Leserichtung‘ des Libellus carminum – erhört worden sind und einen guten Ausgang finden. Der genaue Anlass des Gedichtes ist jedoch unterschiedlich angegeben worden. Der Freund aus carm. 35 kommt nicht mehr explizit vor, sondern nur ein unbestimmtes ‚wir‘, das theoretisch auch nur das lyrische Ich meinen oder für eine anderweitige Gemeinschaft stehen könnte. Paulo Alberto sieht im Friedensgedicht tatsächlich ein politisches Ereignis im Hintergrund: die Rückkehr des Friedens nach einer Periode des Krieges – vielleicht sogar die Froia-Rebellion, die Reccesuinth niederschlug –, wobei er eine spirituelle Bedeutung nicht ausschließt oder dazu einen Widerspruch sieht.142 Als Hinweis darauf gilt ihm carm. 36,6 (nam iussit refugos iam stabilire Deus): Die refugi bezeichneten hier als Terminus Technicus ‚Flüchtige‘, die mit ausländischen Mächten paktierten und so eine Bedrohung für das Reich darstellten. Im Rahmen des VII. Toletanum (im Jahr 646) werden sie scharf verurteilt.143 Dafür spricht auch, dass explizit von den sensus bello liteque repressi die Rede ist – wobei der Krieg natürlich auch eine übertriebene Chiffre für den Streit sein kann, wie refugi auch die Menschen bezeichnen kann, die sich vor irgendeinem Leid, vielleicht dem Streit, zu Gott flüchten. Sonst wurde das Gedicht jedoch meistens als Komplementärgedicht zu carm. 35 gelesen.144 Hinweise darauf könnten einige Bezüge zwischen den beiden Gedichten sein, insofern z.B. in carm. 36 die sensus, die in carm. 35 dem lyrischen Ich in seinem Schmerz gefehlt hatten, wiederaufleben: Vivescunt sensus bello liteque repressi. Auch von der Liebe ist die Rede, mit der dann auch das Heil wächst und die Schmerzen verschwinden (carm. 36,5: crescit amore salus: procul, o procul este, dolores) und in der Christus gebeten wird, ‚uns‘ zu bewahren (carm. 36,12: et nos in Christo sic tueatur amor). Auch das Bild des ‚Stiches ins Herz‘ erscheint in beiden Gedichten: carm. 35,17 : Pelle, precor, penitus pungentia iurgia, Christe
142
Vgl. ALBERTO 2005b, 109. Vgl. ALBERTO 2005b, 109–110; vgl. Conc. Tolet. VII, c. 1 (CCH 5,125 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ). 144 Vgl. DE GIANNI 2016, 98.101 Anm. 1 und BERNT 1968, 138–139. 143
4.15 carm. 37–43: Aufzählende Epigramme
183
carm. 36,9–10 : Non tua praeda sumus, quamuis pia pectora rixis punxeris ad modicum, non tua praeda sumus.
Auffällig ähnlich ist hier auch die wiederholte p-Alliteration. Trotz dieser Hinweise wird die Frage nach dem Gedichtanlass letztlich nicht entscheidbar sein. Die Bezüge zwischen den Gedichten können angesichts der Dichte, in der bestimmte Motive im Libellus carminum immer wieder auftreten, kaum als Beweis gelten. Das carm. 36 selbst lässt sich problemlos in beide Richtungen interpretieren. Sollte das Gedicht sich auf die Froia-Rebellion beziehen (und geht man von einer bewussten thematischen Gruppierung im Libellus aus), würde sich zwar die Frage stellen, warum es dann nicht hinter carm. 5b zu stehen kommt, das sich deutlicher auf einen Krieg bezieht – gerade dessen Stellung ist aber ebenfalls umstritten. Und natürlich ist auch denkbar, dass Eugenius das Gedicht zu einem bestimmten Anlass verfasste, er (oder ein posthumer Herausgeber) im Nachhinein aber auch eine gute Passung zu einem anderen Gedicht erkannte. Egal ob der hier beschriebene Friede nun die erneute Eintracht nach einem Streit oder der Friede nach einer Zeit kriegerischer Auseinandersetzungen ist: Der Friede erscheint hier jedenfalls ebenso wie in carm. 4 als das Heilmittel des ‚zerschundenen Geistes‘ (carm. 36,4: mens lacerata) und das Gegenmittel gegen Schmerzen – sowie als die Schutzmacht gegen die versuchende Schlange (carm. 36,7: pestifer anguis), die den Menschen zu schaden und sie zu Fall zu bringen versucht.
4.15 carm. 37–43: Aufzählende Epigramme 4.15 carm. 37–43: Aufzählende Epigramme
Mit den aufzählenden Epigrammen beginnt spürbar die zweite, weniger persönlich-lyrisch geprägte Hälfte des Libellus carminum. Da sie für das Interesse dieser Arbeit kaum Relevantes beitragen, soll hier nicht auf einzelne Gedichte eingegangen werden. Grundlegendes zur Art dieser Epigramme, die besonders gut in einem Schulkontext als ‚Merkverse‘ vorstellbar sind, wurde bereits in Kap. 3.1.3 dargelegt; insbesondere zu carm. 37 über die sieben Tage der Schöpfung, das im Nachhinein zu den Monosticha am Ende der DracontiusRezension des Eugenius ausgearbeitet wurde. Es bleibt zu bemerkten, dass Eugenius sich zwar häufig an Isidors Etymologiae uel origines orientiert, aber gerade für die carm. 41 und 42 – die Tierstimmen und die hybriden Tiere – durchaus eine eigenständige Wertung einbringen kann: Im Unterschied zu Isidor schließt sich Eugenius hinsichtlich der Tierstimmen am Ende des Epigramms eher der Darstellung aus Ausonius’ epigr. 80 an. Dessen Befürchtung, jemand, der diese Stimmen perfekt nachahmen könnte, könne nicht mehr menschlich sprechen, weitet er zu einer ‚moralischen
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Pointe‘ aus, die darauf verweist, dass der Mensch im (vergeblichen) Versuch, die Tierstimmen nachzuahmen, nur seine menschliche Würde beschädige.145 In carm. 42 über die hybriden Tiere (wie etwa Maulesel und Maultier) dagegen macht sich Eugenius Isidors Bewertung dieser Zuchtpraxis als widernatürliches Vergehen des Menschen an der Schöpfung, wodurch die Tiere quasi zum Ehebruch gezwungen würden, gerade nicht zu eigen, sondern bleibt bei der reinen Information über Namen und Entstehungsart dieser Tiere.146
4.16 carm. 44–75: Naturrealien, Gebrauchsgegenstände und poetische Grüße 4.16 carm. 44–75: Naturrealien, Gebrauchsgegenstände und poetische Grüße
Die carm. 44–68 enthalten, thematisch geordnet, hintereinander Gedichte über Naturrealien (zu denen freilich auch Sagenhaftes wie der Vogel Phönix in carm. 44 zählt), aber auch Epigramme, die man sich auf Gegenständen denken kann. Auch aus dieser Gruppe wurden in Kap. 3.1.3 bereits ausreichend Beispiele dargestellt, die den Charakter dieser Gedichte beschreiben. Gesondert betrachtet sollen hier nur einige Gedichte werden, die ohnehin in ihrer Art von den lediglich ein bis zwei Distichen umfassenden Epigrammen abweichen. Ein interessantes Beispiel, in dem wiederum eine Auftragssituation erkennbar ist, ist carm. 69, das das königliche lectum – ein Bett oder eine Liege – zum Thema hat. Es wird als herrlich und golden glänzend beschrieben (carm. 69,1: auro rutilante coruscans), habe aber angeblich auch an einem großen Teil Beschädigungen (carm. 69,3: pars magna sui fusca mutilaque manebat) aufgewiesen, die zudem durch audacia furax entstanden seien. Doch Reccesuinth habe wieder für die völlige Wiederherstellung gesorgt: Sed cuncta reparans, rex Reccesuinthe, reformas, quae laetus habeas et longo tempore cernas.147 Doch alles stellst du, König Reccesuinth, wieder her und erneuerst, was du in Freude besitzen und lange Zeit betrachten mögest.
Angesichts der Wortwahl wird man wohl kaum nur an die Restauration eines edlen Bettgestells, sondern auch an politische Bedrohungen durch die audacia
145
Vgl. CODOÑER 1983, 54 und Eugenius von Toledo, carm. 41,12 (CCL 114,255 ALnon Deus hoc recipit, quod homuncio sanus abhorret. Vgl. dazu auch Ausonius, epigr. 80,7–8 (94 GREEN): omnia cum simules ita vere, ut ficta negentur, / non potes humanae vocis habere sonum. Vgl. dazu – lediglich informierend, nicht moralisierend – Isidor von Sevilla, diff. 1,225 (194 CODOÑER). 146 Vgl. zum Verhältnis des Gedichtes zur Vorlage des Eugenius KNAEPEN 2018, 495–498. Vgl. auch Isidor von Sevilla, orig. 12,1,40.61 und 12,2,28 (o.S. LINDSAY). 147 Eugenius von Toledo, carm. 69,5–6 (CCL 114,264 ALBERTO). BERTO):
4.16 carm. 44–75: Naturrealien, Gebrauchsgegenstände und poetische Grüße 185
furax denken – in den Sinn kommt hier am ehesten die Froia-Rebellion, auf die hin Reccesuinth die Einheit seines Reiches wiederherstellte. Das folgende carm. 70 ist ebenfalls ‚personenbezogen‘ und richtet sich an Johannes, worunter wir wohl wiederum Braulios Bruder verstehen dürfen. Es enthält eine in Eugenius’ Gedichtbuch bislang einmalige dichterische Spielerei: Es bedient sich ausführlich der Tmesis, ein Umstand, auf den Eugenius den Adressaten des Gedichtes auch eingangs sofort hinweist. O IO– uersiculos nexos quia despicis –HANNES, excipe DI– sollers si nosti iungere –VISOS.148 O Jo– weil du verbundne Verse geringschätzest –hannes, vernimm zer– wenn du sie geschickt zu verbinden verstehst –teilte.
Eugenius motiviert also seine besondere Art der Dichtung mit der Geringschätzung, die Johannes sonst den gewöhnlichen, ‚verbundenen‘ Versen entgegenbrachte. Angesichts dessen brauche es diese besondere Herausforderung, die zerteilten Verse geschickt wieder zusammensetzen zu können. Der weitere Inhalt des Gedichtes entspricht weitgehend bukolischen Standardbildern, auch wenn einige nicht ganz klassisch-bukolische Tiere eingeführt werden:149 weidende Kamele, Ferkel, Rinder und Schafe, die sich jeweils an der für sie geeigneten Nahrung gütlich tun. Seine poetische Bildung zeigt der Dichter dabei nicht nur über das ungewöhnliche ‚Stilmittel‘ der Tmesis, sondern auch über ausgesuchtes, seltenes Vokabular – sitibundus, glandifer, laniger – und allgemein über seine Kenntnis der Dichter: So lässt er die ‚Rindviecher‘, die bubulci, sozusagen im selben ‚poetischen Schatten‘ lagern wie Vergil zu Beginn der ersten Ekloge seine Hirten: recubant sub tegmine (carm. 70,6).150 Schließlich verweist er am Ende des Gedichtes auf ein bedeutendes poetisches Vorbild für diese besondere Art der Dichtung, nämlich Lucilius.151 Indem er diesen zitiert, zeigt sich Eugenius wiederum als aufmerksamer Leser des Ausonius, der sich selbst für ein tmetisches Gedicht als imitator des Lucilius darstellt.152
148
Eugenius von Toledo, carm. 70,1–2 (CCL 114,264 ALBERTO). Vgl. dazu ALBERTO 1999a, 304–305. 150 Vgl. Vergil, ecl. 1,1 (1 MYNORS): recubans sub tegmine fagi eine Stelle, die auch sonst viel rezipiert wurde: Vgl. etwa Sidonius Apollinaris, carm. 4,1 (MGH.AA 8,187 LÜTJOHANN) und AL 10,2 (39 RIESE) sowie 719a,1 (189 RIESE). Vgl. dazu ALBERTO 1999a, 304. 151 Vgl. ALBERTO 1999a, 305 Anm. 6. 152 Vgl. Ausonius, ep. 15,37–38 (241 GREEN): rescisso disces componere nomine versum; / Lucili vatis sic imitator eris. 149
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
PRO– tibi ut nostro ueniat ex carmine –FECTVS, instar Lucili cogor disrumpere uersus.153 damit ein Fort– dir aus meinem Gedichte erwachse –schritt, bin ich gezwungen, in Lucilius’ Fußstapfen die Verse zu zerreißen.
Das Gedicht gibt uns auf diese Weise einen Einblick in dichterische Aktivitäten, die im Kontext freundschaftlicher Beziehungen entstanden und ausgetauscht wurden. Mit seinem neckischen Ton zeigt es zugleich auch eine deutlich leichtere, verspieltere Seite der Dichtung des Eugenius. Ebenfalls ‚personenbezogen‘, aber mit heute unklarem Adressaten ist ein kurzes Bittgebet für das Wohl eines Herrschers (carm. 74,1: rector), das, ähnlich den Epitaphen für Nicholaos, Eugenius’ Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen Adressatenkreise zeigt. Die Wünsche, die dem princeps mitgegeben werden, sind zumindest zur Hälfte durchaus martialisch. Das zweite Distichon dagegen enthält das Typische, das die Dichter-persona teilweise für sich, teilweise für seine Leserinnen und Leser erbittet, nämlich den Frieden, der hier durchaus auch politisch aufzufassen scheint: Viuas innumero saeclorum tramite, rector, effracta uobis aemula colla premens; sis regno felix et pacis munere pollens, sis pietatis amans iustitiaeque tenax.154 Mögest in zahllosem Lauf der Jahrhunderte leben du, Lenker, brechen und treten auf deiner Rivalen Genicke; Seiest du glücklich im Herrschen und stark durch die Gabe des Friedens, sei’st du voll Liebe zur Pflicht, hartnäckig haltend das Rechte.
4.17 carm. 76: Conclusio 4.17 carm. 76: Conclusio
Dass das abschließende Gedicht, die Conclusio, sich durch seine sehr parallele Gestaltung zu carm. 1 auszeichnet und sich dadurch besonders als Abschlussgedicht eignet, wurde in Kap. 3.2.1 bereits dargestellt. Auch das Schlusswort des Gedichtes, Deus, schließt in gewissem Sinne den Kreis zum Anfang von carm. 1,1, das mit der Anrede Rex Deus inmense den Libellus carminum eröffnete. Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Gedichte aber durchaus: Carm. 76 stellt ein Fürbittgebet zu Gott um den Schutz des Königs dar, während in carm. 1 das lyrische Ich für sich selbst bat. Folglich verändern sich die Bitten. Ähnlich wie in carm. 74 wird dem König, dessen Heiligkeit betont wird, sowohl Glück in der Schlacht gegen äußere Feinde (carm. 76,3: Porrige uictri-
153 154
Eugenius von Toledo, carm. 70,9–10 (CCL 114,265 ALBERTO). Eugenius von Toledo, carm. 74 (CCL 114,266 ALBERTO).
4.18 carm. 77–79: Bettverse
187
cem pro sacro principe dextram) als auch – im Innenpolitischen – immer ein moralisch hochwertiges Verhalten gegenüber seinen Untertanen gewünscht. Wie so oft (vgl. auch carm. 21,15) wird das zuvor Genannte zusammengefasst und summarisch abgekürzt – worin die Bitte wieder als eine sehr allgemein-menschliche erscheint: Vt multa breuiter paruo sermone perorem: sit bona tota gerens et mala nulla gemens te donante, precor, qui regnans trinus et unus texis in aeternum saecula cuncta Deus.155 Dass ich vieles kurz und in rascher Rede erbitte: haben soll er, was gut, klagen nicht über Schlecht’s, durch dein Geschenk, so bitte ich dich, der du dreieinig herrschend alle Jahrhunderte webst, bis in die Ewigkeit, Gott.
4.18 carm. 77–79: Bettverse 4.18 carm. 77–79: Bettverse
Jenseits der Conclusio folgen – wohl als Anhang eugenianischer Gedichte nach der Redaktion des ursprünglichen Gedichtbuches, sei es noch zu Lebzeiten des Dichters oder posthum – einige weitere kurze Gedichte, von denen die ersten drei ‚Bettverse‘ darstellen, also Verse, die man sich etwa auf oder über einem Bett vorstellen konnte. Im Unterschied zu carm. 69, dem Gedicht auf das königliche Bett oder die königliche Liege, beziehen sie sich nicht auf ein konkretes Bett, sondern auf das nächtliche Schlafen allgemein. Dieses ist insbesondere der Ort des Nachtgebetes, das schon Prudentius poetisch verarbeitet.156 So hat auch das carm. 77 Gebetscharakter und beginnt mit einer Anrede Gottes, auf die die Bitten des lyrischen Ichs folgen: Inclite parentis alme Christe pignus unicum, membra, quae labore fessa nunc repono lectulo, cerne mitis et benignus atque clementissimus; tolle monstra, stringe fibras et soporem tempera, improba ne, dum quiete praegrauantur uiscera, daemonum fraude maligna sentiant piacula.157 Vielgerühmter, milder Christus, des Vaters einziges Unterpfand, auf die von der Mühe matten Glieder, die ich nun auf die Bettstatt leg, blicke sanft und wohlwollend und mild im höchsten Maß; schaff weg die Ungeheuer, zieh die Fasern straff und mäßige den Schlaf, dass nicht die schändlichen Eingeweide, während sie beschwert werden von Ruh’, durch üblen Dämonentrug die Sündenstrafe spüren müssen.
155
Eugenius von Toledo, carm. 76,9–12 (CCL 114,267 ALBERTO). Vgl. als hymnus ante somnum Prudentius, cath. 6 (CCL 126,29–32 CUNNINGHAM). 157 Eugenius von Toledo, carm. 77 (CCL 114,268 ALBERTO). 156
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Das Gebet gilt also insbesondere dem Schutz vor Dämonen, während der Körper des Menschen vom Schlaf beschwert und daher ihren Attacken wehrloser ausgesetzt ist. Die Vorstellung, dass im Schlaf der Widerstand gegen die Sünde sinkt und die Nacht also eine für das eigene Seelenheil besonders gefährliche Zeit ist, begegnet im wisigotischen Spanien insbesondere im monastischen Kontext: So warnt Fructuosus von Braga in seiner Mönchsregel vor den lucifugas daemones, vor denen man sich durch Gebet und Wachen wappnen müsse.158 Auch Isidor widmet in seinen Sententiae, seinem ‚spirituellen Handbuch‘, den Gefahren der Versuchungen und insbesondere den nächtlichen Trugbildern, die im Schlaf lauern und die Menschen erschrecken, sogar ein ganzes Kapitel.159 In seiner eigenen Mönchsregel wird auch deutlich, was besonders im Schlaf gefürchtet wird: der nächtliche Samenerguss, der, wie Isidor betont, als Sünde zu betrachten und dem Ordensoberen mitzuteilen ist, obwohl er unwillentlich geschehe.160 Die Furcht vor derlei nächtlicher Sünde ist auch in den hispanischen Hymnen zur Complet überdeutlich zu bemerken.161 Geradezu apotropäisch sind hier die folgenden beiden, wesentlich kürzeren Gedichte: Imperat omnipotens: procul, o, procul effuge, daemon, ne fraude nostrum possis adire torum. Ne somnos turbes nec mortis uincla ministres nec fallas animam sordibus ipse meam.162 Der Allmächtige befiehlt: weit hinfort, weit hinfort fliehe, Dämon, dass du nicht trügerisch hintreten kannst an mein Bett. Dass du den Schlaf nicht verwirrst, keine Todesfesseln bereithältst, noch persönlich mit Schmutz arglistig täuschst meine Seel’.
Sie erlauben auch ein wenig mehr Aussagen darüber, welche Gefahren denn von den Dämonen im Schlaf ausgehen: Einerseits grundsätzlich die Störung der Nachtruhe und die erwähnte Beschmutzung der Seele durch Sünde, aber auch die mortis uincla drohen – ob diese als plötzlicher Tod in der Nacht zu
158
Vgl. Fructuosus von Braga, reg. 338 (156 CAMPOS RUIZ/ROCA MELIA). Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,6 (CCL 111,215–220 CAZIER). 160 Vgl. Isidor von Sevilla, reg. monach. 13 (111 CAMPOS RUIZ/ROCA MELIA): Qui nocturna inlusione polluitur publicare hoc patri monasterii non moretur culpaeque suae merito hoc tribuat, et occulte paenitentiam agat, sciens quia nisi praecessisset in eo turpis animi cogitatio, non sequeretur fluxus sordide adque inmundae pollutionis. Vgl. zur Entwicklung des Umgangs mit der Problematik ELLIOTT 1999, 14–21. 161 Vgl. Hymn. hispan. 74,17–20 (CCL 167,282 CASTRO SÁNCHEZ): Repelle membris lubricam, / ne polluat, lasciuiam, / ne feda uexet passio / culpetque mentis actio. Vgl. auch Hymn. hispan. 75,9–12 (CCL 167,284 CASTRO SÁNCHEZ): Ne grauis somnus inruat, / hostis nobis subripiat, / caro illi consentiat, / nos tibi reos statuat. 162 Eugenius von Toledo, carm. 78 (CCL 114,268 ALBERTO). 159
4.19 carm. 80–96: Sprichwörter
189
begreifen sind oder als Sünden, vor denen man sich fürchtet, ist hier kaum zu entscheiden. Auf das Äußerte kondensiert – vielleicht für Betten, bei denen eine Feinarbeit nicht möglich ist und der Platz daher rar – erscheint die ‚Dämonenabwehr‘ im letzten der Bettverse: Crucis almae fero signum: fuge, daemon.163 Des milden Kreuzes Zeichen trag’ ich: fliehe, Dämon!
4.19 carm. 80–96: Sprichwörter 4.19 carm. 80–96: Sprichwörter
Es folgt eine Reihe von Sprichwörtern, die meist nur jeweils ein Distichon umfassen, im Falle des carm. 94 sogar nur einen einzigen Vers. Auch die Sprichwörter sind thematisch geordnet: Die carm. 80–89 (letzteres, carm. 89, ist eine ganze Reihe von Einzeilern) sind nicht-religiöse Sprichwörter, die vor allem Alltagsweisheiten darstellen. So wird in carm. 84 und 85 in zwei verschiedenen Varianten die Beobachtung wiedergegeben, dass die Hausherren als letzte von den Fehlern und Vergehen der anderen Mitglieder des Haushaltes erfahren, wenn schon längst die ganze Gemeinde davon ‚ein Lied singt‘ (carm. 85,2: cantica uulgus habet, nos tamen ista latent). Darauf folgen religiös gefärbte Sprichwörter, zum göttlichen Zorn bzw. Gericht und zur moralischen Lebensführung (carm. 90–95). Ein wenig aus der Reihe fällt hingegen noch das carm. 96 über Zeiteinteilungen, das thematisch besser zu den ‚Merkversen‘ passen würde, wie wir sie in carm. 37–43 und vereinzelt (vgl. z.B. carm. 53) auch weiter hinten im Libellus noch vorfinden.
4.20 carm. 97–100: Briefgedichte an Eusychius 4.20 carm. 97–100: Briefgedichte an Eusychius
Zum Abschluss dieses zunächst objektiv-epigrammatischen ‚Anhanges‘ des Libellus carminum kommt noch einmal, mit den Briefgedichten an Eusychius und carm. 101 über die Sommerleiden, die persönliche Dichtung zum Tragen. Carm. 97–100 stellen wiederum eine Gruppe thematisch zusammengehöriger Gedichte dar und bedienen sich einer Form, die im Libellus bislang nicht vorgekommen war: der Versepistel, eines sowohl in der Kaiserzeit als auch Spätantike beliebten poetischen Spiels zwischen der Form des Prosabriefes und der elegischen und epigrammatischen Dichtung. 164 Eine Versepistel im eigentlichen Sinn ist dabei nur carm. 97, während die anderen Gedichte aufgrund ihrer 163
Eugenius von Toledo, carm. 79 (CCL 114,269 ALBERTO). Als ‚Archeget‘ der persönlichen Versepistel gilt in der lateinischen Dichtung Ovid, der diese Form in ganz unterschiedliche Kontexte einpasst: Sowohl seine eigenen Epistulae 164
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Kürze (carm. 98 und 99 nur zwei Distichen, carm. 100 nur eines) lediglich einen kurzen poetischen Gruß mit im Grunde austauschbarem Absender und Adressaten darstellen. In carm. 97 ist der Adressat Eusychius dagegen persönlich angesprochen. Schon die traditionelle Grußformel ist in das Gedicht inkorporiert:165 Sanctorum meritis claro semperque beato Eusychio Eugenius uilis et exiguus. Accipe conscriptos plebeio carmine uersus, quos dat, dilecte, pagina maesta tibi.166 Dem durch heiligenmäßige Verdienste berühmten und immer seligen Eusychius schreibt hier Eugenius, ohne Wert und gering. Nimm an meine pöbeldichterisch verfassten Verse, die dir, Geschätzter, eine traurige Seite bringt.
Diese Art der Bescheidenheitstopik ist uns mittlerweile (vgl. carm. praef. 12 und carm. 33,2) hinreichend bekannt.167 Auch der Anlass des Gedichtes wird uns bereits angedeutet: Eine traurige Seite ist es, die ‚Eugenius‘ dem Eusychius schreibt. Der Grund für die Traurigkeit ist wiederum der Brief, den Eusychius zuvor geschrieben habe – eine dem lyrischen Ich cara […] epistula, wie es betont – und auf den das vorliegende Gedicht nun antworte. Eusychius habe geklagt, dass Eugenius ihn und die Freundschaft, die sie verbunden hatte, vergessen habe: inque meo uultum corde perisse tuum (carm. 97,7–8). Was der Grund für diese Klage des Eusychius sein könnte, verrät das Gedicht nicht – klassisch wäre in Versepisteln aber die Klage, dass das Gegenüber so nachlässig mit seiner Korrespondenz gewesen sei.168 Dieser Befürchtung des Eusychius will die Dichter-persona mit dem Gedicht das Fundament entziehen. Gleichzeitig weiß das lyrische Ich, dass seine Beteuerungen nichtsdestoweniger auf den Glauben des Gegenübers angewiesen sind. Der Glaube – bei dem sofort auch die religiöse Konnotation des Wortes credere mitschwingt – wird daher als notwendige Tugend beschworen:
ex Ponto (elegische Klagen über sein Exil) als auch die Heroidenbriefe, die an der epischen und der elegischen Tradition partizipieren, bedienen sich der Briefform. Vgl. für einen Überblick über diese Gattung WULFRAM 2008. In der Spätantike bleibt die Versepistel beliebt und erhält mit Ausonius und Paulinus als ‚Korrespondenzpaar‘ einflussreiche Vertreter. 165 Vgl. für eine detaillierte Analyse des carm. 97, insbesondere der intertextuellen Verbindungen DE GIANNI 2016, 103–110. Vgl. zur Analyse des Aufbaus, der der klassischen Briefstruktur entspricht, a.a.O., 104. 166 Eugenius von Toledo, carm. 97,1–4 (CCL 114,274 ALBERTO). 167 Vgl. zur Bescheidenheitstopik speziell in carm. 97 DE GIANNI 2016, 105. 168 Vgl. zu diesem Topos KNIGHT 2005, 365–366.
4.20 carm. 97–100: Briefgedichte an Eusychius
191
Crede meis uerbis, nam fas est credere nobis; credere nempe licet, cum dubitare nocet. Testor namque Deum, sanctorum nomina testor affectum uestri non tepuisse mihi.169 Glaub meinen Worten, denn zu glauben ist göttliches Recht, denn es ist doch gestattet zu glauben, wenn der Zweifel nur schadet. Gott ruf’ ich nämlich zum Zeugen, der Heiligen Namen ruf’ ich, dass meine Liebe zu dir nicht lau geworden ist.
Die besondere Glaubwürdigkeit seiner Beteuerungen werden dann durch ein Adynaton zum Ausdruck gebracht: Eher werden gewisse Naturgesetze sich umkehren – hier Sonne und Mond ihr Licht verlieren (vgl. carm. 97,13–14) – als dass das lyrische Ich seinen angesprochenen Freund vergessen werde. Es müsse schon sterben, damit dies geschehen könne; auch dies ein klassischer Topos der Versepistel, der auch in Ovids Epistulae ex Ponto und bei Paulinus von Nola bereits auftritt.170 Ja, nicht einmal das kontinuierliche Verfließen der Augenblicke und Jahre, das in carm. 3 noch Inbegriff der Wankelmütigkeit des Menschen war, der in jedem dieser Momente seine Meinung ändere, könne an der Liebe des Dichters etwas ändern: Voluent puncta dies, uoluentur mensibus anni: Semper in ore meo nomen amorque tuus.171 Die Momente wälzen die Tage, von Monaten werden Jahre gewälzt: Immer führ’ ich im Mund deinen Namen und die Liebe zu dir.
Das gesamte Gedicht bedient sich folglich einer Sprache, die literargeschichtlich von der Liebeselegie herstammt. Deren Herzlichkeit, etwa mit den wiederkehrenden Schlüsselbegriffen amicitia, amor und schließlich diligere (das lyrische Ich bittet in carm. 97,20, dass auch der Adressat es lieben möge: dilige me nimium, dilige me nimium), kann jedoch genauso Element der Prosa-Korrespondenz sein, wie der Brief des Eugenius an Protasius (vgl. dazu Kap. 2.2.4) zeigt. Dort wird ebenfalls der Versicherung der gegenseitigen Liebe und Hochschätzung viel Raum gegeben, was freilich immer in einen spirituellen Kontext eingebettet wird. Bereits in carm. 35 erschien ja Gott als derjenige, der das Band der Freundschaft zwischen zwei Menschen knüpft. In diesen Kontext wird auch die Freundschaft zu Eusychius im letzten Distichon gestellt, das die Gebetsgemeinschaft zwischen den beiden Korrespondenzpartnern beschwört:
169
Eugenius von Toledo, carm. 97,9–12 (CCL 114,274–275 ALBERTO). Vgl. DE GIANNI 2016, 109. Vgl. carm. 97,15–16 (CCL 114,275 ALBERTO): Ante quoque nostro discedet pectore uita / quam uestrae mentis dulcis amicitia und dazu Ovid, Pont. 3,4,7–8 (72 RICHMOND): et prius hanc animam uacuas reddemus in auras, / quam fiat meriti gratia uana tui und Paulinus von Nola, Vlt. 2,47–48 (CCL 21,554 DOLVECK) = carm. 11,47– 48 (CSEL 230,41 HARTEL): prius ipsa recedet / corpore uita meo quam uester pectore uultus. 171 Eugenius von Toledo, carm. 97,17–18 (CCL 114,275 ALBERTO). 170
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4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
Christus ubique tuis concedat prospera uotis et parcat culpis Christus ubique meis.172 Möge Christus überall deinen Wünschen Erfolg gewähren und meiner Schuld verzeih’n möge Christus überall.
Das Gedichtsende ist ein in der Dichtung des Eugenius überaus gängiger Abschluss (vgl. carm. 9,21–22) mit der Fürbitte und der Bitte um Vergebung der eigenen Schuld. Eine nette Beobachtung können hier Leserinnen und Leser machen, die aus anderen Gedichten des Eugenius bereits die Praxis der Epanalepse kennen: Diese ist hier ‚knapp verfehlt‘, indem Eugenius hier nicht mit tuis vom Anfang des Distichons endet, sondern mit meis. Vergebung der Schuld hat nicht der Adressat Eusychius nötig, sondern das lyrische Ich selbst. Im Unterschied zu anderen Gedichten, etwa den Basilika-Gedichten, wo diese Bitte pauschal gesetzt wird, ohne dass wir von einer konkreten Schuld des lyrischen Ichs erfahren, kann dieses Schuldeingeständnis durchaus auf die Gedichtsituation zurückprojiziert werden: Dass es das lyrische Ich tatsächlich schuldhafterweise soweit kommen ließ, dass der Freund sich vergessen fühlte.
4.21 carm. 101: Sommerleiden 4.21 carm. 101: Sommerleiden
Das letzte Gedicht des Eugenius, über die Sommerhitze, wird nach übereinstimmender Forschungsmeinung als eine seiner originellsten Kompositionen betrachtet, die seine Eigenarten verkörpert wie kaum ein zweites Gedicht.173 Es ist in sapphischen Strophen verfasst, einem Metrum, das Eugenius selbst in carm. 17 für ein threnum, also für ein Klagelied, verwendet, aber auch für das rückblickshafte und resignative carm. 14b. Dass in carm. 101 das Metrum explizit eingangs erwähnt wird, spricht dafür, dass der Aspekt der Traurigkeit von Eugenius als gut zu diesem Metrum passend empfunden wurde, auch wenn die sapphische Strophe im Allgemeinen nicht auf solche Thematiken beschränkt erscheint:174
172
Eugenius von Toledo, carm. 97,23–24 (CCL 114,275 ALBERTO). Vgl. die detaillierte Interpretation des Gedichtes in ALBERTO 2003, passim; vgl. auch FEAR 2010, 58–60, SMOLAK 2010, 85–87 und CODOÑER 1981, 339–341. 174 Vgl. zur sapphischen Strophe bei Eugenius die Ausführungen zu carm. 14b in Kap. 5.5.2. Ausonius, den Eugenius am Anfang des carm. 101 möglicherweise zitiert, fasst die sapphische Strophe als ein ruhiges Versmaß auf: Vgl. Ausonius, ephem. 1,22–24 (7 GREEN): Sapphico suadet modulata uersu; / Lesbiae depelle modum quietis, / acer iambe. Vgl. auch Venantius Fortunatus, carm. 9,7,10 (25 REYDELLET): Sapphico metro modulante plectro. Vgl. dazu ALBERTO 2003, 351. 173
4.21 carm. 101: Sommerleiden
193
Dura quae gignit et amara cunctis tempus aestiuum resonare cogor Sapphico tristis modulante uersu, omnia passus.175 Das Harte und für alle Bittere, was hervorbringt die Sommerzeit, werd’ ich gezwungen, erklingen zu lassen, kummervoll in fließendem sapphischen Verse, der ich alles erlitten.
Gerade durch das strenge Strophensystem ist das carm. 101 sehr klar gegliedert. Die eben zitierte erste Strophe eröffnet das Gedicht, die letzte Strophe schließt es, wie so oft im Libellus carminum, mit einem Bittgebet ab. Dazwischen werden in zwei Strophen (carm. 101,5–12) die Schäden beschrieben, die der Sommer an der Natur und in der Landwirtschaft anrichtet, eine Strophe (carm. 101,13–16) beschreibt das körperliche Leiden des Menschen unter der Hitze, und wiederum zwei Strophen (carm. 101,17–24) zählen die ‚Monster‘ des Sommers auf, Insekten, Schlangen, Skorpione und Geckos, die die Menschen quälen und die zu beseitigen das lyrische Ich in der letzten Strophe Gott anfleht. Eine Übersicht kann die Gleichmäßigkeit der Stropheneinteilung, mit den körperlichen Leiden als ‚Mitte‘ des Gedichtes, verdeutlichen: V. 1–4 5–12 13–16 17–24 15–28
Anzahl Strophen 1 2 1 2 1
Thema Eröffnung, Themenangabe Schäden an der Natur Leiden des Körpers Sommerliche ‚Monster‘ Abschluss: Bittgebet
Worin liegt nun Eugenius’ besondere Originalität bei diesem Gedicht? Für Paulo Alberto wird dies vor dem Hintergrund der dichterischen Tradition deutlich: „[I]t is this relationship between reality and poetic conventions that makes this composition one of the most remarkable pieces of the Visigothic poetry.“176 Der Sommer ist ein beliebtes Thema der Dichtung und ist dort meist, mutatis mutandis, ähnlich konnotiert wie in unserer Kultur: als eine positive Zeit des Überflusses, dem allgemein verhassten Winter entgegengesetzt. 177 Eugenius
175
Eugenius von Toledo, carm. 101,1–4 (CCL 114,277 ALBERTO). ALBERTO 2003, 350. 177 Vgl. JONES 2011, 27 zu Vergils bukolischen Szenerien: „Sometimes, it seems to be summer in the Eclogues, sometimes spring or autumn. In something of the same spirit, we might say that the setting is simply ‚not-winter‘, one season in which the kindly aspects of spring, summer, and autumn coexist.“ 176
194
4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
selbst zeigt sich in einem kurzen Epigramm über die vier Jahreszeiten des Standards, der gewöhnlich für das Sommerthema gilt, durchaus bewusst.178 Selbst dort, wo die unerträgliche Hitze ihren Platz hat, ist sie in der Dichtung meist durch die Annehmlichkeiten einer bukolischen Szenerie, mit linderndem Schatten, gemildert.179 Freilich finden wir auch einen ‚negativen Sommer‘ in der Poesie: Bei Venantius und Ennodius etwa ist die negative Beschreibung der Sommerhitze kontextgebunden und fungiert dort als Beschwernis auf einer langen Reise, 180 der Topos hat dort also eine dienende Funktion. Eugenius schließt an Traditionen und Topoi des Sommerthemas zwar durchaus an, elaboriert das Thema jedoch zu einer Kakophonie sui generis. In der eingangs zitierten ersten Strophe wird der Sommer als amara cunctis, als für alle bitteres Leid vorgestellt. Von dieser allgemein-menschlichen Ebene kommt das lyrische Ich jedoch sogleich auf seine persönlichen Erfahrungen zurück: Es werde gezwungen, von diesen Bitternissen zu künden, da es sie alle selbst erfahren habe – omnia passus. Zunächst setzt der Leidenskatalog jedoch nicht mit den persönlichen Erfahrungen des lyrischen Ichs an, sondern beschreibt auf einer allgemeinen Ebene die Schäden an der Natur: die übergroße Hitze, das Austrocknen der Flüsse, Gewitter mit Blitz und Donner und umgekehrt Platzregen und Hagel. Wie Paulo Alberto bemerkt, knüpft diese ‚Katastrophensprache‘ an die epische Tradition an, hat jedoch auch Vorläufer in der christlichen Dichtung, wie etwa Ennodius und Venantius Fortunatus.181 Die Katastrophen des Sommers betreffen jedoch nicht nur die Natur, sondern mittelbar auch die Menschen: Insofern Hagel und Platzregen die Weinberge und „die Hoffnung auf Ernte“ (carm. 101,11: spem […] frugum) vernichten, erscheint der Sommer weit davon entfernt, nur eine kurze, vorübergehende Lästigkeit zu sein, sondern sein Mangel an der rechten Balance zwischen Hitze und Kälte (carm. 101,5: nimio calore – carm. 101,11–12: niuosis grando lapillis), Trockenheit und schädlichem Übermaß an Regen (carm. 101,6: aestifer flagrat fluuiosque siccat – carm. 101,9: ingruit imber inimicus uuis) erschreckt die Menschen und bedroht ihre Lebensgrundlage nachhaltig.182 Man fühlt sich 178 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 54,1 (CCL 114,259 ALBERTO): pinguescit messibus aestas. Vgl. ALBERTO 2003, 356. 179 Vgl. FEAR 2010, 59. Ein spätantikes Beispiel ist Venantius Fortunatus, carm. 7,8 (97– 100 REYDELLET), der die einen Wanderer quälende Sommerhitze beschreibt, dann aber den Wanderer im Schattten sich ausruhen, seinen Durst löschen und ein Lied singen lässt, wie er selbst es kurz darauf an Lupus, den Adressaten des Gedichtes, singt. 180 Vgl. Ennodius, carm. 1,1,1–24 (CSEL 6,507–508 HARTEL) und Venantius Fortunatus, carm. 7,8 (97–100 REYDELLET). 181 Vgl. ALBERTO 2003, 352. 182 Vgl. ALBERTO 2003, 351, der hier vor allem an die Figur des Blitze schleudernden Jupiter in der epischen Tradition, etwa in Ovid, met. 2,308 (42 TARRANT), erinnert. Für das Motiv der landwirtschaftlichen Schäden durch Regen und Hagel vgl. Venantius Fortunatus,
4.21 carm. 101: Sommerleiden
195
an Dracontius’ Aufzählung der positiven wie der negativen Seiten der Naturphänomene erinnert, unter anderem auch der Hitze der Sonne, die sowohl Ernte hervorbringen und den menschlichen Körper stärken als auch, im Übermaß, den Acker verbrennen und den Körper quälen kann.183 Bei Dracontius erscheint Gottes Schöpfung also in sich ambivalent (worin Dracontius auch den Menschen einbezieht, um dessen Sündhaftigkeit – und so auch des Dichters eigene Sünde, für die er um Vergebung bittet – entschuldbarer zu machen).184 Hier, in carm. 101, kann sich das lyrische Ich jedoch nicht zu einer ausgewogenen Darstellung durchringen. Dies entspräche natürlich auch nicht dem größeren Kontext des Sommergedichtes, das mit einer Bitte an Gott um ruhigen Schlaf endet: Wie auch in einem zeitgenössischen Hymnus, in dem um Regen gefleht wird, ist ein Aufwiegen des Leides mit anderen, positiven Gesichtspunkten weder erforderlich noch angebracht. Umgekehrt fehlen in carm. 101 jedoch auch typische Selbstbezichtigungen, die die Leiden als Sündenstrafe interpretieren.185 In der mittleren Strophe des Gedichtes schildert das lyrische Ich schließlich das Leid, das die Sommerhitze dem Körper antut: Nunc sitis ora lacerat anhela; febre tabescunt moribunda membra, corpora sudor madidans acora foetidat unda.186 Nun zerreißt Durst den keuchenden Mund; im Fieber schwinden die sterblichen Glieder, netzender Schweiß schändet den Körper mit saurer Welle.
Leserinnen und Leser des Libellus carminum werden kaum umhinkönnen, sich in andere Kontexte zurückversetzt zu fühlen, in denen die Dichter-persona ihre körperlichen Leiden beklagt hatte: die Krankheit und Alter, im Zuge derer das lyrische Ich erschöpft keucht (carm. 13,1: fessus anhelo; carm. 14,23: anhela tussis) und unter Fieber leidet, das seinen Körper dahinschwinden lässt (carm. 14,21 und bes. carm. 14b,13: Febris incerta terebrabat ossa, / languida morbis caro defluebat). Sogar der Tod wird im Leiden unter der Sommerhitze
Mart. 4,192–193 (80 QUESNEL) und für die Kombination Hitze – Kälte Ennodius, carm. 1,1,13 (CSEL 6,507 HARTEL). 183 Vgl. Dracontius, satisf. 81–86 (180 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 75–80 (CCL 114,380 ALBERTO): Sol dat temperies, species gratissima mundi […] sole perustus ager putris harena iacet. / Corpora sol reficit radiis et corpora uexat, / solibus alternis itque reditque salus. 184 Vgl. GALLI MILIû 2009, 251–252. 185 Vgl. Hymn. hispan. 204 (CCL 167,719 CASTRO SÁNCHEZ): Hanc peccata famem nostra merentur. Vgl. dazu SMOLAK 2010, 85–86. 186 Eugenius von Toledo, carm. 101,13–16 (CCL 114,278 ALBERTO).
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antizipiert: Die eigenen Glieder werden in diesem Leid als moribunda, als sterblich bzw. sogar schon im Sterben begriffen, erfahren.187 Was den Leserinnen und Lesern als Übertreibung erscheinen muss, wird vor dem Hintergrund anderer Gedichte des Eugenius verständlicher, in denen körperliche Leiden als Vorboten des Todes betrachtet wurden (insbesondere in carm. 14) und auch die ganze Welt als aeger, als sich krankend dem Ende zuneigend, geschildert wurde (carm. 5): „In sum, other than the effects caused by summer, this description also recalls pest, sickness and the decomposition of the human body and the universe, as we find in other poems of Eugenius.“188 Die folgenden zwei Strophen bleiben insofern beim menschlichen Körper, als dort in einem langen Katalog die im Sommer besonders aktiven Tiere aufgelistet werden, die den Menschen auf die unterschiedlichste Weise verletzen: Bufo nunc turgens et amica siluis uipera laedit gelidusque serpens, scorpius ictu cruciat paratque stellio pestem. Musca nunc saeua piceaque blatta et culex mordax olidusque cimex, suetus et nocte uigilare pulex corpora pungit.189 Die schwellende Kröte und die Freundin der Wälder, die Viper verwundet nun und die kühle Schlange, der Skorpian quält durch seinen Stich, es bringt der Gecko die Pest. Die Fliege wütet jetzt und die pechschwarze Motte und die stechende Mücke und die stinkende Wanze, und der Floh beißt, zu wachen gewohnt des Nachts, unsere Körper.
Die beeindruckende Aufzählung, die auch einiges an antikem Realienwissen beinhaltet,190 wirkt an mancher Stelle auf heutige Leserinnen und Leser geradezu humoristisch, insbesondere durch das von der Kumulation evozierte Bild einer konzertierten Attacke lästiger Tiere und ihrer grotesken Bezeichnung als monstra, zu denen man wohl kaum Insekten und andere Kleintiere gezählt hat. In Eugenius’ Gedicht erscheinen sie als Symptome einer gefallenen Welt, de-
187 Vgl. auch carm. 14,49 (CCL 114,230 ALBERTO) im Kontext des nahenden Todes: Tabe fluunt carnes. 188 ALBERTO 2003, 353. 189 Eugenius von Toledo, carm. 101,17–24 (CCL 114,278 ALBERTO). 190 Vgl. ALBERTO 2003, 353 sowie die ‚Insektenkapitel‘ in Isidor von Sevilla, orig. 12,4–8 (o.S. LINDSAY).
4.21 carm. 101: Sommerleiden
197
ren Schrecken vielleicht auch teilweise von der Parallelität zu den zehn ägyptischen Plagen evoziert wird, zu denen Frösche, Mücken und Fliegen gehören (vgl. für den culex mordax carm. 38,3). Auffallend ist auch, dass solcherlei Listen von Tieren, die die Menschen gemeinhin als unnütz, widerwärtig und sogar schädlich empfanden, in der patristischen Prosa als Anlass genommen wurden, um über die Güte des göttlichen Schöpfungsplanes zu diskutieren, die natürlich auch gegen solcherlei Infragestellungen verteidigt werden soll. 191 Dabei werden diesen bestiolae unterschiedliche Funktionen zugeschrieben: Hieronymus gelten sie als Erinnerung an die menschliche fragilitas,192 Augustinus sieht den Umstand, dass so kleine Tiere dem Menschen so großen Schaden zufügen können, als Bestrafung der menschlichen superbia, was sich gerade am Beispiel des ägyptischen Pharaos gezeigt habe.193 Überhaupt will er sie (auch wenn er sein Nichtwissen über ihren Nutzen eingesteht) als in sich schön und gut geschaffen verstehen und schreibt die ‚Probleme‘, die die Menschen mit ihnen haben, dem sündigen Zustand des Menschen zu.194 Derartige Spiritualisierungen oder Reflexionen finden sich im Gedicht des Eugenius nicht.195 Ähnlich dem carm. 13 wird die Ebene der Klage innerhalb des Gedichtes nicht verlassen, nach keinem Grund für das Leiden gesucht und keine Konsequenz daraus gezogen. Das einzige, was aus dem Leidenskatalog folgt, ist die Bitte an Gott, die Leiden zu beenden und das lyrische Ich ruhig schlafen zu lassen: Tolle tot monstra, Deus, imprecanti pelle languorem, tribue quietem, ut queam gratas placido sopore carpere noctes.196 Schaff weg all die Monster, o mein Gott, vertreibe, mir Flehendem das Siechtum, und schenke Ruhe, dass ich in sanftem Schlafe genießen möge wohlige Nachtruh’.
In dieser letzten Strophe erhalten wir im Vergleich zur einleitenden Strophe noch einmal einen Einblick in die gedachte Gedichtsituation: Das lyrische Ich 191
Vgl. dazu ALBERTO 2003, 354. Vgl. Hieronymus, in Ioel 2,22 (CCL 76,190 ADRIAEN): et pulices et culices et cimices et huiuscemodi animantia idcirco fecerit deus, ut fracilitatem et imbecillitatem nostrae carnis ostenderet. 193 Vgl. Augustinus, Io. ev. tr. 1,15 (CCL 36,8–9 WILLEMS). 194 Vgl. Augustinus, Gn. adu. Man. 1,16,26 (CSEL 91,92 WEBER): ego uero fateor me nescire mures et ranae quare creatae sint, aut muscae aut uermiculi: uideo tamen omnia in suo genere pulchra esse, quamuis propter peccata nostra multa nobis uideantur aduersa. 195 Vgl. ALBERTO 2003, 354: „[These animals] are simply noxious, and they prevent men from having a peaceful night of sleep.“ 196 Eugenius von Toledo, carm. 101,25–28 (CCL 114,278 ALBERTO). 192
198
4 Die Mesostruktur: Kursorische Lektüre
wird von Schlaflosigkeit gequält – womit die zunächst objektiv geschilderten ‚Sommermonster‘ plötzlich einen viel persönlicheren Bezug zum lyrischen Ich erhalten – und bittet Gott in einer Art Abendgebet um ruhige Nächte. Ein ganz anders gestaltetes Abendgebet lasen wir unter den Gedichten des Eugenius: bereits in carm. 77 und 78, den ‚Bettversen‘, die vielleicht auf oder über einem Bett angebracht werden konnten. Auch hier ruft das lyrische Ich tolle monstra (carm. 77,4) und bittet um ruhige Nächte. Die Ruhe wird dort aber durch Dämonen bedroht, die die Schlafenden im Nachlassen ihrer Wachsamkeit durch fraude maligna (carm. 77,6) zu Fall bringen können. Wie man sich dies vorzustellen hat, wird nicht ganz deutlich; Isidor von Sevilla widmet allerdings ein ganzes Kapitel seiner Sententiae den Anfälligkeiten, denen die Menschen im Schlaf ausgesetzt sind. Er nennt hierbei sowohl seelische Verwirrungen und Angstzustände als auch körperliche Attacken, die die Dämonen den Menschen zufügen können; eine Prüfung, die den Schlechten Strafe sein kann, den Heiligen dagegen zum Ruhm der Duldsamkeit gereicht.197 Sie können aber auch durch Träume und anderweitige nächtliche Illusionen den Grundstock für das Sündigen der Menschen legen198 oder sogar direkt bewirken – mittels des gerade unter Mönchen so gefürchteten nächtlichen Samenergusses. 199 An ähnliche Kontexte müssen wir auch in Eugenius’ ‚Bettversen‘ denken. Im Sommergedicht sind es jedoch keine Dämonen mit ihren sündigen Einflüsterungen, vor denen die Dichter-persona sich fürchtet – die Dämonen, die ihn hier plagen, sind Mücken, Wanzen und Flöhe. Was er durch sein Bittgebet erreichen möchte, ist keine spirituelle Reinhaltung seiner selbst oder Vergebung seiner Sünden, sondern einfach ein paar ruhige Nächte. Selbstverständlich kann das Gedicht als „metaphor for human existence and earthly life“200 gelesen werden oder – liest man es als Gegendarstellung zur bukolischen Naturverherrlichung – als Demaskierung der Welt und als Lehrstück, dass letztlich nur Gott die Ruhe schenken kann.201 Die erhoffte Ruhe wird hier aber ge-
197
Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,6,1 (CCL 111,215–216 CAZIER). Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,25,5 (CCL 111,143 CAZIER): Nam cogitationes inlicitas occurrere, daemonum est; cogitationibus oblectare peruersis, nostrum est. 199 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,6,14 (CCL 111,220 CAZIER): Qui nocturna inlusione polluitur, quamuis etsi extra memoriam turpium cogitationum sese persentiat inquinatum, tamen hoc ut temptaretur culpae suae tribuat, suamque immunditiam statim fletibus tergat. Vgl. auch Isidor von Sevilla, reg. monach. 13 (111 CAMPOS RUIZ/ROCA MELIA). Vgl. zur Entwicklung des Umgangs mit der Problematik ELLIOTT 1999, 14–21. 200 ALBERTO 2003, 356. 201 Vgl. FEAR 2010, 59: „In other words, the poet wishes his readers to see through the meretricious pleasures of this world as represented by the pastoral pleasance and accept that it is only the divine not nature that can bring man solace and peace.“ 198
4.21 carm. 101: Sommerleiden
199
rade innerweltlich verstanden, wie auch das Gedicht zwar durchaus derlei Reflexionen anstoßen kann, doch selbst die Ebene der konkreten, anlassbezogenen Klage nicht verlässt. Das Gedicht erhält seine besondere Originalität gerade durch die Ernstnahme des alltäglichen Lebens auf der Welt, die von der Dichter-persona in der Tat nicht nur hier, sondern auch in carm. 5 als alternd, krank und bedrückend negativ erlebt und geschildert wird.202 Dieses Leid wird nicht generalisiert wie in carm. 5, sondern wird an einer vielleicht nicht besonders bedeutenden, aber „für alle Menschen bitteren“ (amara cunctis) konkreten Erfahrung verdeutlicht. Diesem Leid gibt der Dichter Raum und sogar einen hochpoetischen Ausdruck, ohne es auf eine weiterführende Moral oder spirituelle Lektion hin funktionalisieren zu müssen.
202
Vgl. ALBERTO 2003, 355 und CODOÑER 1981, 340.
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen 5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen 5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
Text: Nescia mens nostri fixum seruare tenorem; nolumus et uolumus, non unum semper amamus. Displicet ante placens atque olim complacet horrens, nunc rectum sequimur, nunc prauum corde tenemus: 5 nunc sancti castique sumus, nunc scorta fouemus; nunc pollent sobria, nunc marcent ebria corda. semper in ambiguo uoluuntur pectora cursu. Quid iam plura loquar? Quot lucent sidera caeli, quot punctis horae, quot currunt saecla momentis, 10 tot nostra faciem mutat sententia formis.
Übersetzung: Unser Geist versteht’s nicht, uns in festem Bestand zu bewahren; wir wollen nicht und wir wollen, nicht nur ein Ding lieben wir immer. Was zuvor gefiel, missfällt [nun], das einstmals Abscheuliche findet Gefallen, bald folgen wir dem Rechten, bald haben wir das Verdorb’ne im Herzen: 5 bald sind wir heilig und keusch, bald umarmen wir Huren; bald sind die Herzen nüchtern und stark, bald trunken und schlaff. Immerzu dreht sich der Sinn in schwankendem Kurse umher. Was soll ich Weit’res noch sagen? Wie viele Sterne am Himmel leuchten, in wie vielen Zeitpunkten die Stunden, in wie vielen Augenblicken die Jahrhunderte eilen, 10 in so vielen Gestalten wandelt unser Meinen und Wollen sein Antlitz.
5.1.1 Theologischer Kommentar zur Überschrift Bereits in den ältesten Manuskripten, die das vorliegende Gedicht komplett wiedergeben, ist das carm. 3 mit dem Titel de mentis humanae mutabilitate, ‚über die Wandelbarkeit des menschlichen Geistes‘, überschrieben.1 Während es fraglich bleiben muss, ob dieser Titel auf Eugenius selbst zurückzuführen 1
Paris, Bibl. Mazarine 515, s. IX überliefert den Titel; es ist das erste Manuskript, das den Text des Gedichtes vollständig enthält, vgl. die Edition von ALBERTO 2005a, 129–130 sowie den textkritischen Apparat in a.a.O., 209.
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
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ist, zeugt er doch davon, dass das Gedicht zumindest in der Rezeption einem gut bekannten literarischen und theologischen Topos zugeordnet wurde. Die Wankelmütigkeit des Menschen ist ein wiederkehrendes – und dabei erstaunlich zentrales – Thema in theologischen Traktaten der patristischen Literatur. Um eine ‚Kontrastfolie‘ für die Einordnung und Beurteilung unseres Gedichtes zu gewinnen, lohnt sich daher ein kurzer Blick auf die in der Zeit des Eugenius gängigsten theologischen Vorstellungen über die mutabilitas, zumal wir einigen dieser Vorstellungen im ‚Haupttext‘ des Gedichtes wiederbegegnen werden. Eine besondere Rolle spielt die Wankelmütigkeit innerhalb des theologischen Denkgerüsts des Augustinus und Gregors des Großen, die zudem – zusammen mit Isidor, in dessen Werken aber vor allem die zentralen Gedanken beider Autoren wiederholt werden 2 – die wohl meistgelesenen Autoren des Toledanischen Wisigotenreiches darstellen. Gregors Moralia in Job dürften zudem dank der Romreise des Taio zur Beschaffung des vollständigen Werkes und über dessen Moralia-Exzerpte, die Sententiae, wie kaum ein zweites Werk theologisches Tagesgespräch zur Zeit des Eugenius gewesen sein. a) Augustinus Für Augustinus 3 markiert die mutabilitas in Anknüpfung an philosophische Traditionen der Antike den entscheidenden ontologischen Unterschied zwischen dem ewigen, unwandelbaren Gott (deus […] inmutabilis) und der vergänglichen, weil wandelbaren Schöpfung.4 Es gibt nach ihm zwei Arten der Wandelbarkeit: diejenige in (1) räumlicher Hinsicht und (2) in zeitlicher Hinsicht.5 Alles Materielle innerhalb der Schöpfung ist sowohl räumlich als auch zeitlich wandelbar. So hat auch die körperliche Existenz des Menschen weder in Raum noch Zeit Bestand, ist zerbrechlich und dem Tod unterworfen.
2
Vgl. Isidor von Sevilla, orig. 7,1,19 (259 LINDSAY): Nam omnis mutabilitas non inconuenienter mortalitas dicitur; secundum quam et anima dicitur mori, non quia in corpus uel in aliquam alteram substantiam mutatur et uertitur, sed in ipsa sua substantia quidquid alio modo nunc est aut fuit, secundum id quod destitit esse quod erat, mortalis utique deprehenditur; ac per hoc solus Deus dicitur inmortalis, quia solus incommutabilis. Vgl. auch sent. 1,11,9–10 (CCL 111,40–41 CAZIER) und sent. 1,12,6a–7 (CCL 111,42–43 CAZIER). 3 Vgl. dazu PIETSCH 2018, 137–138. 4 Vgl. Augustinus, civ. 12,2 (CCL 48,357 DOMBART/KALB): Cum enim Deus summa essentia sit, hoc est summe sit, et ideo inmutabilis sit. Vgl. dazu CARY 2000, 115–117. 5 Vgl. Augustinus, ep. 18,2 (CCL 31,44 DAUR): Est natura per locos et tempora mutabilis ut corpus, et est natura per locos nullo modo, sed tantum per tempora etiam ipsa mutabilis ut anima, et est natura quae nec per locos nec per tempora mutari potest, hoc deus est. Vgl. dazu auch JUNK 2016, 36–37 und TESKE 1999, 808–809.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Doch auch die seelisch-geistige6 Existenz des Menschen, um die es hier ja gehen soll, ist wandelbar – im Unterschied zur unbeseelten Schöpfung jedoch nur in zeitlicher, nicht in räumlicher Hinsicht.7 In der durch die unterschiedlichen Grade der mutabilitas aufgespannten ontologischen Hierarchie zwischen der materiellen Schöpfung und Gott nimmt der Mensch durch seine Geistseele somit eine Art Mittelposition ein, die einerseits durch seine Geschöpflichkeit und andererseits durch seine Ausrichtung auf Gott zustande kommt. In de doctrina Christiana, ein Werk, das für das wisigotische Spanien gut belegt ist,8 drückt Augustinus dies aus – zudem, genau wie Eugenius in unserem Gedicht, über die anaphorische Wiederholung von nunc: ac sic ab specie corporum usque ad humanam mentem perueniens, cum et ipsam mutabilem inuenerit, quod nunc docta, nunc indocta sit, constituta tamen inter incommutabilem supra se ueritatem et mutabilia infra se cetera.9 Und wenn er so vom Aussehen der Körper bis zum menschlichen Geist voranschreitet, wenn er auch diesen selbst als wandelbar vorfindet, da er bald gelehrt, bald ungelehrt ist, aber dennoch zwischen der unveränderlichen Wahrheit über sich und den übrigen wandelbaren Dingen unter sich steht, […].
Die Erklärung, warum die Seele trotz ihrer Unsterblichkeit10 in zeitlicher Hinsicht veränderlich ist, ist wiederum im Phänomen der Zeit selbst zu suchen. Im Unterschied zu Gott lebt die menschliche Seele innerhalb der Zeit und geht in ihr durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hindurch, wogegen Gott, der einzige inmutabilis, die Gesamtheit der Zeitläufte umfasst. Das Sein und die Identität der Geistseele hat nur für den winzigen Augenblick (momentum)11 Bestand, den sie als ihre Gegenwart empfindet und in dem sie durch einen gerade auf sie einwirkenden Impuls von außen geprägt ist: „Die Zeit rauscht ständig am Menschen vorbei, zu schnell und zu atomisiert, um wahrgenommen zu werden. Die menschliche Erfahrung, die nach dem Verständnis Augustins nur 6
Augustinus unterscheidet gelegentlich, aber nicht immer zwischen mens bzw. anima rationalis und dem irrationalen Teil der Seele, die beispielsweise auch Tieren zu eigen ist. Von einer solchen „Antithese zwischen einem rationalen und einem irrationalen Seelenteil“ (HORN 2007, 481) dürfte Augustinus in der Nachfolge des Aristoteles ausgegangen sein. Wenn im Folgenden von der Seele die Rede ist, ist damit immer die spezifisch menschliche Seele mit Betonung ihrer Vernunftbegabtheit und Fähigkeit zur Gotteserkenntnis gemeint. 7 Vgl. Augustinus, Gn. litt. 8,10,23 (CSEL 28/1,247 ZYCHA): homo autem et secundum animam et secundum corpus mutabilis res est. Vgl. dazu auch Isidor von Sevilla, sent. 1,12,6a (CCL 111,42 CAZIER). 8 Vgl. MARTÍN-IGLESIAS 2013, 261. 9 Augustinus, doctr. chr. 2,38,57 (CCL 32,71 MARTIN). 10 Vgl. FUHRER 2004, 95. 11 Vgl. Augustinus, conf. 11,15,48–52 (CCL 27,204 SKUTELLA/VERHEIJEN): si quid intellegitur temporis, quod in nullas iam uel minutissimas momentorum partes diuidi possit, id solum est, quod praesens dicatur; quod tamen ita raptim a futuro in praeteritum transuolat, ut nulla morula extendatur.
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
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in der winzig kurzen Gegenwart stattfindet, zerrinnt dem Menschen unaufhörlich gleichsam wie Sand zwischen den Fingern der Seele.“12 Die ‚Zeitatome‘, die puncta und momenta, begegnen uns ebenfalls im carm. 3 des Eugenius und sind vielleicht als Echo dieser Ätiologie der Wandelbarkeit zu verstehen. Die Unbeständigkeit ist jedoch nicht nur eine ontologische Eigenschaft und ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern in ihren (potentiellen) Auswirkungen auch ein spirituelles und pastorales. Die Klage darüber, aber auch die Suche nach einem Ausweg aus der Haltlosigkeit der ständigen Veränderung des Selbst durchzieht vor allem die Confessiones des Augustinus wie ein roter Faden.13 Gerade in seinem wohl berühmtesten Diktum scheint dies auf: quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.14 Denn Du hast uns auf Dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir.
Stabilitas und inmutabilitas sind dagegen nur in dem zu finden, der selbst inmutabilis ist: Gott. Die menschliche Seele ist auf Gott hingeordnet und kann durch die Partizipation an ihm als dem unwandelbaren Guten (participatione incommutabilis boni)15 Ruhe, Glückseligkeit und Weisheit erfahren. Insofern ist die mutabilitas der menschlichen Seele nicht grundsätzlich negativ, sondern, obgleich sie ein ontologisches Defizit im Vergleich zu Gott darstellt, insofern neutral, als sie auf positive oder negative Weise ‚genutzt‘ werden kann: zur Hinwendung zu Gott (und damit zur Abwendung vom Zeitlichen und Wandelbaren), oder zur Abkehr von Gott.16 In dieser Hinsicht ist freilich im Sündenfall eine Grundentscheidung des Menschengeschlechts an sich getroffen, die dessen weitere Möglichkeiten nicht unberührt lassen: Die erste Ab-
12
FREDERIKSEN 2007, 305. Vgl. STAMMKÖTTER 2004, 25: „Ein zentraler Gedanke, der als Leitmotiv die Bekenntnisse durchzieht, ist das Ideal der Ruhe (requies oder quies). Augustin greift dieses Thema immer wieder auf, variiert es, wobei er auch andere Vokabeln benutzt, etwa Sicherheit (securitas), Beständigkeit (stabilitas) oder Unveränderlichkeit (inmutabilitas) und setzt es vor allem von der Unruhe ab (inquies), die er teils so benennt oder aber in bisweilen drastischen Bildern als eine der großen menschlichen Schwächen und Unvollkommenheiten beschreibt.“ 14 Augustinus, conf. 1,1,6–7 (CCL 27,1 SKUTELLA/VERHEIJEN). 15 Augustinus, ep. 140,31 (CSEL 44,221 GOLDBACHER): animae igitur rationalis mutabilitas admonetur, quo nouerit nisi participatione incommutabilis boni iustam, saluam, sapientem, beatam se esse non posse nec sibi eam bonum esse posse propria uoluntate sed malum. 16 Augustinus, ep. 140,22 (CSEL 44,202 GOLDBACHER): proinde rationalis creatura siue in angelico spiritu siue in anima humana ita facta est, ut sibi ipsa bonum, quo beata fiat, esse non possit, sed mutabilitas eius, si conuertatur ad incommutabile bonum, fiat beata; unde si auertatur, misera est. 13
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
wendung von Gott führt zu einer Beschädigung des freien Willens des Menschen, die ihn faktisch dazu führt, immer wieder dem Irrtum und der Sünde zu verfallen, und macht ihn so ganz von der Gnade Gottes abhängig.17 Das Verhältnis von freiem Willen und der Gnade Gottes im augustinischen Denken zu diskutieren, das komplex und zudem nicht einheitlich ist, würde an dieser Stelle jedoch zu weit führen.18 In jedem Fall bedeutet die mutabilitas unter den Bedingungen des Sündenfalls aber eine Anfälligkeit dafür, das incommutabile bonum nicht zu erkennen und daran vorbeizuleben: „Die Vernunft selbst wird als wandelbar überführt, da sie sich bald müht, die Wahrheit zu erreichen, bald sich nicht müht, und sie manchmal erreicht, manchmal nicht erreicht.“19 In diesem Verfehlen der Wahrheit und Beständigkeit Gottes liegt die Ursache dafür, dass die Menschen der Sünde verfallen, wie Augustinus in de libero arbitrio seinen Gesprächspartner zusammenfassen lässt: est ita ut dicis, et adsentior peccata omnia hoc uno genere contineri, cum quisque auertitur a diuinis uereque manentibus et ad mutabilia atque incerta conuertitur.20 Es ist so, wie du sagst, und ich stimme dir zu, dass alle Sünden von dieser einen Art [der Sünde] umfasst werden, dass jeder sich von dem Göttlichen und wahrhaft Beständigen abwendet und dem Wandelbaren und Ungewissen zuwendet.
Insofern lässt sich die Wankelmütigkeit – als ‚postlapsarische Spielart‘ der mutabilitas – nach Augustinus einerseits als Symptom der (Ur-)Sünde (und damit der Gottferne) begreifen, andererseits aber auch als die Ursache für die individuellen Sünden im Laufe des menschlichen Lebens. Aus dem dadurch
17
Augustinus, ep. 155,2 (CSEL 44,436 GOLDBACHER): quanta est autem uanitas, quanta insania quantumque mendacium hominem mortalem aerumnosam uitam mutabili et spiritu et carne ducentem, tot peccatis oneratum, tot temptationibus subditum, tot corruptionibus obnoxium poenisque iustissimis destinatum se ipso fidere, ut beatus sit, quando ne illud quidem, quod habet in naturae suae dignitate praecipuum, id est mentem atque rationem potest uindicare ab erroribus, nisi deus adsit lux mentium. 18 Einige Grundlinien seien dennoch angedeutet: Die Willensfreiheit des Menschen lässt sich nach Augustinus auf unterschiedliche Art und Weise verstehen: als eine gnadenhafte Freiheit, die Gott dem Menschen durch die Erinnerung an die Hinordnung auf ihn auch nach dem Sündenfall grundsätzlich gibt – durch eine ‚zuvorkommende‘ Gnade, eine gratia praeveniens et operans – oder als eine Willensfreiheit (was bei Augustinus im eigentlichen Sinne immer nur Freiheit zum Guten ist), die stärker auf das konkrete Wirken der göttlichen Gnade im Sinne einer gratia subsequens angewiesen ist. Diese letztere Auffassung mit Betonung der Gnade auf allen Ebenen, die nicht gegen die von Augustinus weiterhin betonte Willensfreiheit auszuspielen ist, kennzeichnet vor allem das vom Pelagianismusstreit geprägte und ungleich stärker rezipierte augustinische Spätwerk, vgl. für eine ausführliche Diskussion JUNK 2016, 150–162. 19 Vgl. Augustinus, lib. arb. 2,6,55 (CCL 29,246 GREEN): et ipsa ratio, cum modo ad uerum peruenire nititur modo non nititur et aliquando peruenit aliquando non peruenit, mutabilis profecto esse conuincitur. 20 Augustinus, lib. arb. 1,16,116 (CCL 29,235 GREEN).
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
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entstehenden Teufelskreislauf kann, insbesondere nach den augustinischen Spätschriften, nur Gottes Gnade retten.21 b) Gregor der Große Wie wir gesehen haben, ist die mutabilitas ein Faktor im Schnittfeld von Gottes- und Schöpfungslehre, Anthropologie und Hamartologie. Sie ist auch ein Schlüsselbegriff im Denken Gregors des Großen,22 dessen Werk im wisigotischen Spanien allein schon durch die Bemühungen, sein Werk in vollständiger Form in die spanischen Bibliotheken zu holen, hohe Aufmerksamkeit genoss.23 Seine grundlegenden Aussagen zur mutabilitas unterscheiden sich nicht substantiell von denen des Augustinus, wie dieser generell als Gregors wichtigster Vordenker gelten kann.24 Der Fokus ist jedoch ein anderer: Gregors Schriften sind, im Unterschied zu denen Augustinus’, allesamt pastoraler oder exegetischer Natur.25 So basieren die Moralia in Iob auf Predigten über das Buch Ijob, die Gregor in Konstantinopel hielt. Dementsprechend sind seine Darlegungen oft weniger theoretisch fundiert als vielmehr pastoral zugespitzt, was auch in Bezug auf die mutabilitas erkennbar wird. Interessant für unseren Zweck ist ein Abschnitt, in dem Gregor sozusagen seine eigene Summe des augustinischen Denkens rund um die mutabilitas vorlegt. Es findet sich im 11. Buch der Moralia, eines der Bücher, die vermutlich erst mit der Romreise Taios nach Spanien gelangten (vgl. Kapitel 2.3.4) und vielleicht gerade deshalb besondere Aufmerksamkeit erregten: Auch Taio zitiert in seinen Sententiae die Passage mit geringfügigen Anpassungen beinahe vollständig.26 Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Eugenius die fertigen Sententiae noch zu Gesicht bekam. Der Originalzusammenhang der Passage ist Gregors Auslegung von Ijob 14,2 (Qui quasi flos egreditur et conteritur, et fugit uelut umbra; et numquam
21
Vgl. z.B. Augustinus, retr. 1,22,59–62 (CCL 57,66 MUTZENBECHER): in potestate est quippe hominis mutare in melius uoluntatem; sed ea potestas nulla est, nisi a deo detur, de quo dictum est: dedit eis potestatem filios dei fieri. 22 Vgl. KISIû 2011, 63–69 sowie GRESCHAT 2005, 89–92. 23 Vgl. Kapitel 2.3.4 dieser Arbeit. 24 Vgl. zusammenfassend GRESCHAT 2007, 60 und besonders FIEDROWICZ 1995, 359: „[Er vermochte] ohne direkte textuelle Abhängigkeit aus dessen Geist zu schreiben.“ 25 Gregor selbst sah seine exegetischen Werke als einen Mittelweg „zwischen der Ausübung der nicht länger zu vermeidenden weltlichen Tätigkeiten und dem Streben nach dem Ewigen“ (GRESCHAT 2007, 63). 26 Vgl. Taio von Saragossa, sent. 1,25 (PL 80,755D–756A). Die Änderungen im Vergleich zu Gregor erklären sich beinahe vollständig daraus, dass Taio die Passage auf das Thema der Zeitlichkeit und der Auswirkungen, die diese auf den Menschen hat, zuspitzt.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
in eodem statu permanent)27 – ein Bibelvers, den Eugenius übrigens im vorhergehenden carm. 2 über die Sterblichkeit selbst anzitiert.28 Seine Ausführungen zu diesem biblischen ‚Anker‘ der mutabilitas vertieft Gregor durch einen philosophisch-theologischen Exkurs, in dem sowohl der Ursprung als auch die verschiedenen Dimensionen der Wandelbarkeit ausgeführt werden. Fixum etenim statum hic habere non possumus ubi transituri uenimus; atque hoc ipsum nostrum uiuere, cotidie a uita transire est. Quem uidelicet lapsum primus homo ante culpam habere non potuit quia tempora, eo stante, transiebant. Sed postquam deliquit, in quodam se quasi lubrico temporalitatis posuit; et quia cibum comedit uetitum, status sui protinus inuenit defectum. Quam tamen mutabilitatem non solum exterius, sed interius quoque homo patitur, dum ad meliora exsurgere opera conatur. Mens etenim mutabilitatis suae pondere ad aliud semper impellitur quam est, et nisi in statu suo arcta custodiae disciplina teneatur, semper in deteriora dilabitur. Quae enim semper stantem deseruit, statum quem habere potuit amisit.29 Keinen festen Bestand können wir hier nämlich haben, wohin wir gekommen sind, um hinüberzugehen; und eben dieses unser Leben ist ein tägliches Hinübergehen aus dem Leben. Diesen Verlust freilich konnte der erste Mensch vor seiner Schuld nicht erleiden, weil die Zeiten vorübergingen, während er Bestand hatte. Aber nachdem er gefehlt hatte, stellte er sich gleichsam gewissermaßen in die schlüpfrige Zeitlichkeit hinein; und weil er die verbotene Speise aß, fand die Beständigkeit seiner selbst fortan den Niedergang. Jedoch erleidet der Mensch diese Wandelbarkeit nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich, während er sich bemüht, sich zu besseren Werken aufzuraffen. Denn sein Geist wird durch das Gewicht seiner eigenen Wandelbarkeit immer zu etwas Anderem getrieben als er ist, und wenn er nicht durch die wehrhafte Disziplin der Wachsamkeit in seinem Zustand gehalten wird, gleitet er immer zum Schlechteren ab. Denn er, der den immer Beständigen verlassen hat, hat die Beständigkeit verloren, die er hätte haben können.
Im Vergleich zu Augustinus fällt auf, dass die mutabilitas hier nicht in erster Linie als ontologischer Unterschied zwischen Mensch und Gott aufgefasst wird (auch wenn Gregor an anderer Stelle den Begriff auch in diesem Sinne verwendet),30 sondern im Zustand des Menschen nach dem Sündenfall, wo sie nicht durch die intime Nähe zu Gott ausgeglichen wird, direkt in ihren (negativen) Auswirkungen auf das menschliche Verhalten geschildert wird, ohne dass andere Konzepte wie der freie Wille dazwischengeschaltet wären.31 Obwohl es natürlich schwierig ist, im Vergleich von Poesie und Prosa eindeutige Bezüge zwischen zwei Werken festzustellen, fällt eine sprachliche Parallele zum carm. 3 des Eugenius in dieser Passage auf, die hier schon einmal vorweggenommen werden soll: Der Ausdruck fixum statum habere ähnelt dem 27
Gregor der Große, moral. 11,50,67 (CCL 143A,624 ADRIAEN). Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 2,4 (CCL 114,207 ALBERTO): umbra uelut tenuis ueloci fine recedunt. 29 Gregor der Große, moral. 11,50,68 (CCL 143A,625 ADRIAEN) = Taio von Saragossa, sent. 1,25 (PL 80,755D–756A). 30 Vgl. Gregor der Große, moral. 5,38,68 (CCL 143,267 ADRIAEN). 31 Vgl. zur Zentralität des Konzepts bei Gregor GRESCHAT 2005, 88–89. 28
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
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fixum seruare tenorem aus dem ersten Vers unseres Gedichtes. Ebenso könnte man die Beispiele dafür, dass das lyrische Ich vom Guten zum Schlechten wechselt (vgl. carm. 3,4–6), als poetische Ausführung des semper in deteriora delabi Gregors des Großen interpretieren. Freilich dürfen solche Parallelen nicht überbewertet werden (z.B. finden sich analoge Ausdrücke für fixum seruare tenorem auch bei anderen Autoren, etwa fixum habere cor bei Augustinus);32 die Bedeutung der Passage liegt eher darin, dass sie komprimiert die wichtigsten Aspekte zusammenfasst, die schon bei Augustinus mit der mutabilitas verbunden waren: 1) Die doppelte Hinsicht, in der der Mensch veränderlich ist: Die äußere Veränderlichkeit, die im Tod aufscheint, und „die innere Seite der mutabilitas, die an der infirmitas des menschlichen Willens deutlich wird.“33 2) Die Unterwerfung unter die Zeit als Symptom und Mitursache für die mutabilitas des Menschen. 3) Die Gottferne (die erstmals durch den Sündenfall bewirkt wird) als die tiefste Ursache der negativen Spielart der Wandelbarkeit. Umgekehrt ist das Gegenstück zur Wankelmütigkeit, die heilbringende seelisch-geistige Stabilität, bei Gregor ebenso wie bei Augustinus allein in Gott bzw. in contemplatione […] creatoris34 zu suchen. Diese Aspekte spannen den theologischen Hintergrund auf, vor dem das carm. 3 betrachtet werden muss. Wie sich zeigen wird, lassen sich daraus sowohl einige sprachliche Mittel einordnen, als auch die Art und Weise, wie Eugenius in diesem Gedicht seine poetischen Vorbilder (insbesondere Venantius Fortunatus) rezipiert, besser greifbar wird. 5.1.2 Struktur Die Struktur des kurzen, nur zehn Verse umfassenden Gedichtes ist denkbar einfach. Im ersten Vers wird mit nescia mens das Thema des in Hexametern verfassten Poems angegeben: Die geistige Verfassung des Menschen, durch die er es nicht versteht, Konstanz zu bewahren (nostri fixum seruare tenorem). Diese Wankelmütigkeit wird in fünf Versen (V. 2–6) durch eine lange Reihung von Antithesen ausgedrückt, die in V. 4–6 zudem durch die anaphorische Wiederholung von nunc […] nunc gegliedert werden. V. 7 fasst das zuvor Illustrierte noch einmal programmatisch zusammen: Die Gemüter der Menschen sind immer von Umwälzungen geplagt. Insofern kann man auch von einer Rahmenkomposition in diesem ersten, größeren Teil des Gedichtes sprechen: Die Beispiele der V. 2–6 werden von den konstatierenden Aussagen in V. 1 und 7 ‚flankiert‘.
32
Augustinus, serm. 38,5 (CCL 41,479 LAMBOT). KISIû 2011, 65. 34 Gregor der Große, moral. 26,44,80 (CCL 143B,1326 ADRIAEN). 33
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Der (eigentlich bereits durch die Zusammenfassung in V. 7 abgeschlossene) Gedankengang wird daraufhin durch eine Selbstunterbrechung des lyrischen Ichs abgelöst: Es nütze nichts, noch weitere Beispiele (plura) für die geistige Unbeständigkeit des Menschen anzubringen, denn die Wandlungen der menschlichen Gesinnung seien unendlich. Die Unendlichkeit wiederum wird durch typische, kosmologische Vergleiche mit der Zahl der Sterne am Himmel und der Augenblicke ausgedrückt, aus denen die Stunden und Jahrhunderte bestehen. Gegliedert sind diese Vergleiche wiederum, wie schon die Antithesen in V. 2–6, durch das anaphorisch wiederholte quot, das schließlich im letzten Vers durch das korrespondierende tot und die Angabe des Vergleichsobjektes aufgelöst wird. 5.1.3 Kommentar a) Die Sprechsituation Das Gedicht ist, bis auf den Einschub Quid iam plura loquar? in V. 8, konsequent aus der Perspektive der Ersten Person Plural verfasst (vgl. bereits V. 1: nostri). Dies lässt zunächst zwei verschiedene Schlüsse darüber zu, um wessen Wankelmütigkeit es im Gedicht gehen soll: „Wir“ als Pluralis auctoris bzw. modestiae,35 also ein lyrisches Ich, das evtl. sogar auf die Dichter-persona des Eugenius verweisen soll? Oder ein kollektiv gedachtes „wir“, das sich auf die Gesamtheit der Menschen bezieht? Bereits in der poetischen Praefatio ließ sich beobachten, dass Eugenius recht frei zwischen der Ersten Person Singular und Plural „springen“ und trotzdem mit beidem die Dichter-persona bezeichnen kann. 36 Von der Tendenz her scheint jedoch die Ich-Form zu überwiegen,37 zumal in Gedichten klagend-mo-
35 Die Verwendung der Ersten Person Plural für die Erste Person Singular im Lateinischen ist schwierig zu deuten. Im klassischen Latein ist sie weniger als Pluralis maiestatis als vielmehr als Pluralis modestiae zu begreifen: Der Sprecher tritt hinter ein kollektives Wir zurück; vgl. BURKARD/SCHAUER/MENGE 2012, 96–97. Jedoch weisen HOFFMANN/SZANTYR 1965, 19–21, die auch den Begriff Pluralis auctoris verwenden, auf den oft sehr formelhaften Charakter dieses Plurals hin, der im Einzelnen oft in der Verwendung nicht klar vom ego abgegrenzt werden kann: „der Versuch, die psychologischen Motive, die zweifellos für die Wahl dieser Plur. wesentlich sind (daher auch ‚Plur. affectus‘), für jeden einzelnen Fall zu ergründen, wird stets ein mehr oder weniger subjektives Rätselraten bleiben.“ (a.a.O., 20). 36 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. praef. 8–10 (CCL 114,203 ALBERTO): fac mihi crede, […] nec nobis noceas. 37 Vgl. carm. 13 (nur eine Ausnahme in 13,5), 26 (aus der Sicht Reccesuinths verfasst; nur eine Ausnahme in 26,12), 97 (mit vier Ausnahmen in 97,7.9.15.19 ggü. zwölfmal Erste Person Singular) und 98.
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
209
ralisierenden Charakters.38 Die Wir-Form allein finden wir nur in den carm. 31, 34, 78 und 100, doch tritt in diesen sehr kurzen Gedichten eine Erste Person nur ein einziges Mal auf, was die Interpretation erschwert. In der bereits erwähnten Praefatio dürfte der Grund für die doch recht häufige Verwendung des Plurals die dichterische Konvention sein, in solcherlei ‚ersten Stücken‘ durch die Verwendung des Pluralis auctoris/modestiae eine Beziehung zu den Leserinnen und Lesern aufzubauen.39 In carm. 36 (das den Titel Pacis redintegratio trägt) tritt das ‚Wir‘ für das lyrische Ich zwar nicht ausschließlich auf, überwiegt aber doch gegenüber der Ich-Form. Die Schwierigkeiten der Interpretation des Gedichtes (vgl. die kursorische Lektüre) erschweren jedoch auch die Deutung der Wir-Form. So ist denkbar, dass das Gedicht das Wiedereinkehren des Friedens nach einem Krieg beschreibt und das lyrische Ich so als dankbarer Vertreter des Gemeinwesens auftritt. Liest man das Gedicht als Fortführung von carm. 35, könnten mit ‚wir‘ die Dichter-persona und der Freund, mit dem sich das lyrische Ich in carm. 35 zerstritten hatte, bezeichnet sein. Dass jedoch bis auf die topische Standard-Interjektion Quid iam plura loquar? konsequent der Pluralis auctoris angewandt wird und damit nur das lyrische Ich gemeint ist, wäre in jedem Fall eine absolute Ausnahme innerhalb des Libellus carminum. Demgegenüber ist die generische Verwendung des ‚Wir‘ in der religiösen Literatur sehr gängig. In der im Kontext der Thematik unseres Gedichtes bereits erwähnten, vielleicht berühmtesten Textpassage der gesamten patristischen Literatur wendet Augustinus dieses rhetorische Mittel ebenfalls an: Nachdem er zunächst (eingeflochten in ein dreifaches Lob Gottes) allgemeine Aussagen über den Menschen und seine Stellung zu Gott anbringt, wechselt er in die Wir-Form, die den Sprecher, die Leser und die Menschheit im Allgemeinen umfasst: quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.40 Als weiteres Beispiel aus der theologischen Prosa-Literatur sei
38 Völlig in der Ich-Form verfasst sind carm. 1, 5, 14b, 16, 18, 19, 21 und 24 (obgleich beide Gedichte wegen der Textlücken in dieser Hinsicht nicht unbedingt aussagekräftig sind), 15 (aus der Sicht Chindasuinths verfasst), 35 (das einzige Auftreten von nos ist eine ‚echte‘ Erste Person Plural, da der Freund des lyrischen Ichs inbegriffen ist) und 101. In carm. 14 stehen nur die poetologischen Aussagen des Gedichtes in der Wir-Form, sonst steht auch hier konsequent die Erste Person Singular. 39 Vgl. zum Pluralis modestiae als rhetorisches Mittel des Beziehungsaufbaus MOLINELLI 2015, 71–72. 40 Augustinus, conf. 1,1,6–7 (CCL 27,1 SKUTELLA/VERHEIJEN). O’DONNELL 1992, 11 interpretiert in seinem ausführlichen Kommentar diese Textstelle (auch den Ausdruck homo in conf. 1,1,2) als rein auf Augustinus selbst bezogen: „Augustine means not homo quidam, but speaks directly of himself.“ Die Möglichkeit, homo als kollektiven Ausdruck für das Menschengeschlecht zu begreifen, zieht er dagegen nicht in Betracht; vgl. zu letzterer Interpretation aber KIENZLER 1998, 62–65 und SCHRAMM 2008, 180–181, die homo und das „Wir“ als allgemeine Aussage über den Menschen auffassen. Diese Interpretation besticht
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lediglich ein Zeitgenosse des Eugenius genannt: Auch Ildefons von Toledo wendet in seinem Traktat de itinere deserti dieses Mittel an, wenn er ‚unseren‘ Weg, also den Lebensweg jedes Christen nach der Taufe, beschreibt.41 In der Dichtung kann Prosper von Aquitanien, der mit seinen Epigrammen freilich wiederum Augustinus paraphrasiert, als Beispiel dafür dienen;42 ein solches ist übrigens auch das Geleusuintha-Gedicht des Venantius, dessen Rolle für das vorliegende Gedicht noch aufgezeigt werden wird. 43 Der Sinn und Zweck dieses rhetorischen Mittels ist dabei unmittelbar nachvollziehbar: Das Wir schafft eine Verbindung zwischen dem Sprecher des Gedichtes und den Leserinnen und Lesern (und, wie aus dem Kontext der Gedichte zu schließen ist, überhaupt allen Menschen) und stellt sie auf eine Ebene.44 Ein positiver Nebeneffekt ist sicherlich auch, dass moralisierende Aussagen abgemildert werden und so keine Gefahr laufen, als hochmütiger Vorwurf empfunden zu werden – immerhin nimmt sich das lyrische Ich davon selbst nicht aus. b) V. 1 und 7: Themenangabe – Abwandlung des uarietas-Motivs im Vergleich zu Venantius Nescia mens nostri fixum seruare tenorem; […] semper in ambiguo uoluuntur pectora cursu.
In V. 1 und 7 wird das Thema, das in V. 2–6 durch Beispiele entfaltet und konkretisiert wird, deskriptiv entfaltet. V. 1 beschreibt dabei das Thema negierend, über das Gegenteil: Die Wankelmütigkeit hält uns vom Positiven, nämlich der Beständigkeit, ab. V. 7 stellt dagegen beschreibt das Schwanken und das immer sich drehende Hin und Her der Wankelmütigkeit direkt. Der erste Vers des Gedichtes, der das Thema des gesamten Gedichtes angibt, ist in den beiden Textvarianten Nescia mens nostri, wofür sich Alberto und vor ihm Vollmer entscheiden, und nescit mens nostra überliefert.45 Abgesehen davon, dass die letztere Variante lediglich in einer Manuskriptgruppe überliefert sowohl durch größere Textnähe als sie auch mit einer allgemeinen Aussageabsicht des Augustinus konform geht, der in den Confessiones seine eigene Biographie zum Modellfall des gottsuchenden Menschen stilisiert, vgl. VAN FLETEREN 1999, 228: „His interest in autobiography extends only to the point that his life illustrates a theological anthropology (or anthropological theology): human life is the product of free decisions guided by God’s grace to its proper conclusion.“ Vgl. dazu auch KOTZÉ 2004, 126. 41 Ab Ildefons von Toledo, itin. 6,54 (CCL 114A, 440 YARZA URQUIOLA): postquam reliquimus mundum wird die Wir-Form in seinem Werk immer wieder angewandt. 42 Vgl. Prosper Tiro von Aquitanien, epigr. 22 (CSEL 100,93 HORSTING): Non dubie nostri deus est et rector et auctor. 43 Vgl. Venantius Fortunatus, carm. 6,5 (60–75 REYDELLET). 44 Vgl. zur Funktion des Pluralis auctoris als Mittel der Captatio Benevolentiae HOFFMANN/SZANTYR 1965, 20. 45 Vgl. VOLLMER 1905, 234.
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
211
ist, deren Text auch sonst oft problematisch ist,46 stellt nescia mens nostri die grammatikalische wie inhaltliche lectio difficilior dar: nostri ist als Objektsgenetiv von tenor abhängig.47 Diese spezielle Form des Genetivs findet auch in reflexiver Bedeutung Verwendung, wenn das logische Subjekt aus dem Kontext erschließbar ist.48 Das ist hier der Fall, da mit der mens nichts anderes als die eigene mens gemeint sein kann. Es geht also um das Beständighalten unserer Person (nostri, als Objekt) durch uns selbst bzw. unseren Geist (mens, als Subjekt) – eine erstaunliche inhaltliche Dichte innerhalb nur eines Verses. Der elliptische Ausdruck nescia mens in V. 1 ist – bei Vergil sogar in derselben Versstellung am Anfang des Hexameters – ein oft verwendeter Versbestandteil und wird für vielerlei Arten von menschlichem Unvermögen bzw. menschlicher Unwissenheit gebracht. Dazu zählen natürlich verschiedene Fälle von Unwissenheit in konkreten Situationen,49 aber auch eine grundlegende Unwissenheit bzw. Erkenntnisunfähigkeit im Hinblick auf existentielle Probleme wird mit diesem Ausdruck bezeichnet.50 Schon bei Vergil steht nescia mens für die Unwissenheit um das eigene Schicksal und besonders um den Zeitpunkt des eigenen Todes.51 So auch im carm. 6,5 des Venantius Fortunatus, ein Gedicht auf die verstorbene gotische Königin Geleusuintha: Die prologähnliche Reflexion zu Beginn des Gedichtes,52 in der die Wechselhaftigkeit des Schicksals und die Instabilität des Lebens beklagt wird, scheint in mehrerlei Hinsicht auf das vorliegende Gedicht des Eugenius eingewirkt zu haben. Besonders deutlich wird das anhand der beiden ‚Rahmenverse‘ 1 und 7. Ein kurzer Überblick kann dies verdeutlichen:
46
Vgl. ALBERTO 2005a, 209 und 177–179 für die Diskussion der Manuskriptgruppe Cg. Vgl. BURKARD/SCHAUER/MENGE 2012, 93–94: Die Genetivform des Personalpronomens steht vor allem als Genetivus Obiectivus, während der Genetivus Subiectivus, Possessivus und Auctoris regelmäßig durch das Possessivpronomen ersetzt wird. 48 Vgl. BURKARD/SCHAUER/MENGE 2012, 122. 49 Für situative Unwissenheit vgl. z.B. Proba, cento 612 (CSEL 16/1,605 SCHENKL) und Dracontius, laud. dei 1,398 (171 MOUSSY/CAMUS) = Eugenius von Toledo, Drac. laud. dei 282 (CCL 114,351 ALBERTO). 50 Vgl. z.B. Ps.-Paulinus von Nola, carm. app. 3,46 (CSEL 230,351 HARTEL) und Avitus von Vienne, carm. 1,42 (MGH.AA 6,2,204 PEIPER), wo die mens nescia sich auf eine grundlegende Unfähigkeit des Menschen, Gottes Schöpfung zu verstehen, bezieht. Ähnlich tritt dies auch in Prudentius, c. Symm. 2,875–876 (CCL 126,241 CUNNINGHAM) auf: Der Glaube an viele Götter macht Menschen unfähig, sich des Himmels bewusst zu bleiben. Vgl. für die Unwissenheit des Menschen hinsichtlich des Richtigen (wohl in Glaubens- und Moralfragen verstanden) Ennodius, carm. 2,9,13 (CSEL 6,560 HARTEL). 51 Vgl. schon Vergil, Aen. 10,501 (349 MYNORS): Nescia mens hominum fati sortisque futurae. 52 Vgl. Venantius Fortunatus, carm. 6,5,1–12 (60–61 REYDELLET). 47
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Eugenius, carm. 3
Venantius Fortunatus, carm. 6,5
V. 1: Nescia mens nostri fixum seruare tenorem
V. 2: nec figit stabilem pendula uita pedem V. 9: Nescia mens hominum quid sit necis atque salutis V. 3: Semper in ambiguo saeclum rota lubrica uoluit V. 7: Dum gressu ancipiti trahit ignorantia fallens
V. 7: semper in ambiguo uoluuntur pectora cursu
Die fettgedruckten Passagen stellen lexikalische Parallelen dar, während die unterstrichenen Stellen eher strukturelle und semantische Gemeinsamkeiten aufzeigen. Damit teilen die beiden Gedichte bzw. Gedichtteile nicht nur das Grundthema ‚Instabilität‘, sondern auch eine Reihe sprachlicher Mittel und Bilder. Auffallend ist, dass die Dichtung des Venantius – in diesem Beispiel – viel figürlicher erscheint als die des Eugenius. So ist bei Venantius beispielsweise vom ‚Fuß des Lebens‘ und vom ‚Rad‘ des Schicksals die Rede. Eugenius dagegen benutzt zwar die Bilder vom Laufen und Drehen (vgl. V. 7: uoluuntur und cursu), doch lediglich in dem übertragenen Sinn, der für das verwendete Vokabular ohnehin gängig ist.53 Auch der Ausdruck fixum seruare tenorem, der bei Eugenius die Stelle von stabilem pedem figere einnimmt, ist deutlich abstrakter als das Vorbild Venantius. Carmen Codoñer, die zwei andere ‚Gedichtpaare‘ des Venantius und Eugenius miteinander vergleicht, sieht bei Venantius eine Tendenz, allgemeingültige Wahrheiten und Topoi „mechanisch“54 einzusetzen – als Gemeinplätze, die so auch in anderen Gedichten mit grober thematischer Verwandtschaft stehen könnten. Bei Eugenius sei dies anders: Er ‚individualisiere‘ die Nutzung der Topoi, indem er ihre Anwendung auf einen bestimmten, konkreten Kontext zuschneide. So werde die Reichweite der Topoi bei Eugenius zwar beschränkt, sie erhalten aber durch die Passgenauigkeit, mit der sie eingesetzt werden, eine neue Frische. In gewissem Sinne lässt sich dies auch von unserem Gedichtpaar aussagen. Venantius verwendet den in der Konsolationsliteratur gängigen Topos der uarietas des Schicksals exakt für das, wofür er gängigerweise eingesetzt wird: „als dekoratives Exordialmotiv der Vergänglichkeitsklage“. 55 Und auch die sehr gängigen Metaphern vom Fuß und vom Rad tragen (aus heutiger Sicht) zu dem Eindruck bei, dass hier ein Klischee bedient wird. 53
Vgl. OLD s.v. cursus, 523 und OLD s.v. uoluo, 2317. Vgl. CODOÑER 1981, 329–330 im Vergleich von carm. 26 des Eugenius und carm. 9,4 des Venantius: „By contrast, Venantius’ mechanical use of the topic has led to the loss of its original capacity for universalization, without acquiring the compensatory capacity to represent isolated individuals: Eugenius, by restricting the reach of the topic, has revitalized it.“ 55 VON MOOS 1972, 130 = T 624. 54
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
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Bei Eugenius erscheint das Thema der Instabilität stattdessen vom Äußeren ins Innere des Menschen verlagert, also in einen neuen Kontext eingepasst. Angesichts der parallelen Beispiele, in denen Ausdrücke wie nescia mens sich auf die Unberechenbarkeit des Schicksals und die ständige Bedrohtheit des Lebens insgesamt beziehen, erscheint diese Fokusverschiebung auf das Innere des Menschen zunächst durchaus originell – vor dem Hintergrund der anthropologischen Aussagen Augustinus’ und Gregors zur ‚doppelten‘, nämlich äußerlichen und innerlichen Instabilität des Menschen jedoch nur folgerichtig und naheliegend. Eugenius erweist sich hier also nicht nur als Dichter, sondern auch als Theologe, indem seine Rezeption des Venantius genau den von der Theologie vorgegebenen Linien zur Rolle der mutabilitas in der Anthropologie folgt. Neben dieser ‚Relokalisierung‘ der uarietas löst Eugenius den Topos gleichzeitig auch aus seiner dienenden Funktion, die er bei Venantius innehatte, heraus: Er ist nicht länger ein Prolegomenon zu einem anderen Thema, sondern steht für sich und bildet das alleinige Thema einer poetischen Einheit. Zudem unterscheiden sich die Perspektiven, aus denen heraus die beiden Gedichte bzw. Gedichtteile geschrieben sind, auffallend: Eugenius behandelt das Thema nahezu konsequent aus der Perspektive des kollektiven ‚Wir‘. Die Sicht ‚von uns allen‘, also aller Menschen, aus deren Masse das lyrische Ich lediglich einmal als Sprechender hervortritt, wird vom ersten (nostri) bis zum letzten Vers (nostra) und dazwischen noch viele Male eingenommen. Selbst in V. 7, wo Eugenius eine der wenigen Aussagen in der 3. Person anbringt, ist über den Plural des Subjekts pectora wieder das logische Subjekt ‚alle Menschen‘ bzw. ‚wir alle‘ insinuiert. Bei Venantius dagegen dominieren apodiktische Aussagen in der 3. Person; die kollektive Wir-Form tritt über 12 Verse hinweg nur zweimal auf. Das führt dazu, dass die Erzählhaltung im VenantiusGedicht eine gewisse Distanz zum berichteten Geschehen wahrt, wogegen Eugenius sowohl das lyrische Ich als auch die Leser bzw. Zuhörer stärker involviert. Übrigens entspricht dies auch gut den (zu vermutenden) Intentionen der beiden Gedichte: Venantius schreibt eine Totenklage, die ja immer auch einen konsolatorischen Charakter hat – insofern ist die Einladung an die Leserinnen und Leser, eine distanzierte Meta-Perspektive einzunehmen, didaktisch klug. Bei Eugenius hingegen scheint die Intention, wenn überhaupt eine über die reine Darstellung hinaus erkennbar ist, stärker in Richtung einer Meditation über das Thema zu gehen. Insofern ist es nur folgerichtig, dass die Leserinnen und Leser das Ausgesagte auf sich persönlich beziehen und ihm bei sich selbst nachspüren sollen.
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c) V. 2–6: Entfaltung des Themas – Von der Wankelmütigkeit zur Sünde nolumus et uolumus, non unum semper amamus. Displicet ante placens atque olim complacet horrens, nunc rectum sequimur, nunc prauum corde tenemus: 5 nunc sancti castique sumus, nunc scorta fouemus; nunc pollent sobria, nunc marcent ebria corda.
Die Beispiele für die Wankelmütigkeit in V. 2–6 sind allesamt antithetisch aufgebaut, jedoch nach unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien: Die V. 2–3 drücken das Hin und Her der Wankelmütigkeit durch etymologisch eng verwandte, aber antithetische Begriffe aus (vgl. nolumus – uolumus, displicet – placens – complacet). Die Aneinanderreihung von lautlich sich nur durch Nuancen unterscheidenden Wörtern wirkt beinahe spielerisch. Demgegenüber sind die V. 4–6 durch das anaphorisch wiederholte nunc sehr streng gegliedert. Den einzelnen Gliedern der Antithese ist jeweils ein klarer Platz zugewiesen: Das Positive steht in der ersten Vershälfte, das Negative in der zweiten. Dieses sprachliche Mittel erinnert daran, wie Augustinus im bereits erwähnten Werk de doctrina Christiana die Wankelmütigkeit beschreibt – mit demselben anaphorischen nunc und mit derselben Reihenfolge von positivem und negativem Aspekt.56 Der Wechsel der Ausdrucksmittel vom Spielerischen zum Strengen spiegelt auch eine inhaltliche Progression wider: Während die Antithesen der ersten beiden Verse, die noch nicht durch nunc – nunc gegliedert sind, weitgehend wertneutral bleiben, ist bereits das antithetische Paar rectum und prauum eindeutig moralisch konnotiert. Dasselbe ist der Fall bei den beiden folgenden Beispielen, in denen 1) Keuschheit und Unkeuschheit sowie 2) Nüchternheit und Trunkenheit einander gegenübergestellt werden. Die Reihenfolge, zuerst die Tugend und dann das korrespondierende Laster zu nennen, unterstreicht, dass der Wandel, an den hier gedacht wird, der problematische Wandel vom Guten zum Schlechten ist, obwohl prinzipiell auch das Umgekehrte denkbar wäre. Es ist derselbe Wandel, der für Gregor die mutabilitas entscheidend kennzeichnet: semper in deteriora delabi.57 Damit wird das Problem der Wankelmütigkeit mit dem Problem der Sünde verknüpft und als dessen Ursache oder zumindest Auslöser dargestellt. Für die 56 Vgl. Augustinus, doctr. chr. 2,38,57 (CCL 32,72 MARTIN): cum et ipsam mutabilem inuenerit, quod nunc docta, nunc indocta sit. Vgl. mit ähnlichem sprachlichem Ausdruck auch Augustinus, conf. 7,19,13 (CCL 27,108–109 SKUTELLA/VERHEIJEN): Etenim nunc mouere membra corporis per uoluntatem, nunc non mouere, nunc aliquo affectu affici, nunc non affici, nunc proferre per signa sapientes sententias, nunc esse in silentio propria sunt mutabilitatis animae et mentis. 57 Gregor der Große, moral. 11,50,68 (CCL 143A,625 ADRIAEN).
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Sünde werden zwei überaus gängige Beispiele genannt: Sexual- und Alkoholdelikte. Isidor leitet den Begriff peccator, Sünder, sogar etymologisch von paelex, der Konkubine, ab.58 Dass im Laufe der Spätantike die sexuelle Verfehlung (die oft schon das bloße sexuelle Begehren einschloss) zum deutlichsten Symptom des sündenverfallenen Zustandes des Menschen wird, ist oft bemerkt worden. 59 Bei Eugenius selbst tritt die Unkeuschheit sowohl in ‚seinem‘ Sündenbekenntnis in carm. 14,63 auf, als auch in dem Sündenbekenntnis, das er Chindasuinth in carm. 25,11 in den Mund legt. Der Trunkenheit dagegen widmet er sogar ein eigenes Gedicht, das carm. 6, in dem jedoch der Fokus zunächst nicht auf dem Sündencharakter des (übermäßigen) Alkoholgenusses liegt, sondern auf dessen schlechten Auswirkungen auf Körper und Geist. Allein dem Laster der Trunkenheit (und deren negativen Auswirkungen auf die Keuschheit) ist auch eine kleine pseudo-augustinische Schrift mit dem Titel de sobrietate et castitate gewidmet, die wohl aus dem 5. oder wahrscheinlicher noch aus dem 6. Jahrhundert stammen dürfte, eventuell aus dem Umfeld des Caesarius von Arles. 60 Einige Anklänge an diese Schrift im carm. 6, das die Trunkenheit zum Hauptthema hat, lassen daran denken, dass Eugenius diese Schrift rezipiert.61 Für carm. 3 ist interessant, dass der unbekannte Autor mit dem Wankelmütigkeits-Topos unseres Eugenius-Gedichtes einsteigt: mortalium mutabilis mens vel bonis aliquando vel malis intentionibus delectetur.62 Unter den weiteren Ausführungen zum Lob der Nüchternheit und zur Problematik des Alkoholkonsums finden sich noch zwei weitere Stellen, die entfernt an unser Eugenius-Gedicht erinnern können;63 sie sind allerdings nicht so spezifisch, dass dadurch eine Abhängigkeit plausibel gemacht werden könnte. Dennoch bleibt die Verbindung zwischen der Wechselhaftigkeit der menschlichen mens und dem Alkoholismus eine frappierende Parallele zwischen beiden Texten.
Dass dabei die beiden Sünden der Unkeuschheit und Trunkenheit lediglich als Beispiele für eine Liste an Vergehen zu verstehen sind, die noch hätte fortgesetzt werden können und teils in anderen Gedichten auch fortgesetzt wird (vgl.
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Isidor von Sevilla, orig. 10,228 (418 LINDSAY). Vgl. z.B. HARPER 2016, passim; LUTTERBACH 1995, 217 bemerkt hinsichtlich mittelalterlicher Bußbücher, dass „dieses Deliktfeld[…] in manchen Bußbüchern bis zu 50 Prozent aller Vorschriften umfaßt.“ 60 Vgl. DORFBAUER 2008, 464–465. 61 Vgl. carm. 6,4 (CCL 114,215 ALBERTO): immodice sumptus: uincit letale uenenum und Ps.-Augustinus, sobr. 1,5 (CSEL 99,114 DORFBAUER): plus iusto sumptum venenum esse cognoscitur 62 Ps.-Augustinus, sobr. 1,1 (CSEL 99,111 DORFBAUER). 63 Vgl. Ps.-Augustinus, sobr. 1,1 (CSEL 99,111 DORFBAUER): sobrietas vero praeparatum cor hominis facit und V. 6: nunc pollent sobria, […] corda sowie Pseudo-Augustinus, sobr. 1,7 (CSEL 99, 118 DORFBAUER): multorum membra cibos excusant et vino dedita praecoqua debilitate et cruda senectute marcescunt und V. 6: nunc marcent ebria corda. Abgesehen davon, dass der Trunksucht bei Eugenius nur ein einziger Vers gewidmet ist und die Aussagekraft von Parallelen allein deshalb schon fraglich ist, gibt es noch weitere mögliche Quellen für den Vers, vgl. z.B. für den Ausdruck ebria corda Paulinus von Nola, Nat. 9,105 (CCL 21,385 DOLVECK) = carm. 27,105 (CSEL 230,266 HARTEL). 59
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z.B. carm. 14,61–63),64 ist anhand des Kontextes klar ersichtlich. Indem diese Sünden als Beispiele für die Wankelmütigkeit der Menschen genannt werden, wird das Thema geöffnet und für vielfältige Assoziationen anschlussfähig – gerade auch, wenn der Leser bzw. Zuhörer andere Gedichte des Eugenius wie das bereits genannte carm. 14 kennt, in dem durch die Sündenliste das göttliche Gericht nach dem Tod evoziert wird. Dadurch erhält das Thema auch eine existentielle Dringlichkeit. d) V. 8–9: Die Wankelmütigkeit als Naturgesetz Quid iam plura loquar? Quot lucent sidera caeli, quot punctis horae, quot currunt saecla momentis,
Die durch die Rahmung zusammengehaltene Einheit der ‚deskriptiven‘ Verse 1–7 wird in den letzten drei Versen des Gedichtes noch einmal um einen Gedankengang erweitert. Das lyrische Ich unterbricht sich mit der rhetorischen Frage Quid iam plura loquar? quasi selbst, obwohl im Grunde mit der Zusammenfassung in V. 7 schon ein Abschluss gesetzt war. Plura scheint sich auf die genannten Beispiele der Sündenliste der Verse 2–6 rückzubeziehen, die ja gleichzeitig Fallbeispiele der Wankelmütigkeit waren: Von diesen möchte das lyrische Ich nicht noch weitere aufzählen. Dass dies ohnehin nichts nützte, wird durch die Folgeverse verdeutlicht, die ein vielfach eingesetztes Bild für Unendlichkeit bzw. Unzählbarkeit anbringen: Den Vergleich mit den kosmischen Phänomenen des Sternenhimmels und der Zeitläufte. Auf den Sternenhimmel, der in der poetischen Tradition überaus gängig ist, soll der untenstehende Exkurs noch einmal gesondert eingehen. Festzuhalten ist, dass der Sternenvergleich in der Breite der poetischen Tradition, insbesondere der christlichen, bei positiven Vergleichsobjekten und nicht bei negativen steht. Die einzige signifikante Ausnahme davon sind Ovids Klagegedichte, die jedoch möglicherweise bereits selbst mit dem Topos spielen. Mit Ovid hebt sich also auch Eugenius insofern von der dichterischen Konvention ab, als nichts Positives, sondern die zahllosen Sündengefahren mit dem Sternenhimmel verglichen werden – ob im Anschluss an Ovid oder eigenständig, muss offen bleiben. Weniger gängig in Unendlichkeitsvergleichen sind die Zeitläufte (quot punctis horae, quot currunt saecla momentis). Sie stehen zwar, ähnlich wie der Sternenhimmel, für Größe, Unendlichkeit und Unzählbarkeit. So stellt Jesus Sirach bereits in der Bibel die Frage: harenam maris et pluviae guttas et dies saeculi quis dinumeravit?65 und führt damit alles menschliche Bemühen, die Größe Gottes und seiner Schöpfung zu begreifen, ad absurdum. In Vergleichen, 64
Vgl. zur langen und nicht nur christlichen Geschichte der ‚Sündenlisten‘ als rhetorisches Mittel SIKER 2015, 44–46. 65 Vulg. Sir 1,2 (1029 WEBER/GRYSON).
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die Unendlichkeit ausdrücken sollen, sind Zeitaspekte jedoch längst nicht so häufig anzutreffen wie die ‚handfesteren‘ Naturphänomene, z.B. Sterne, Blätter und Sandkörner.66 Betrachtet man die allgemeinen Assoziationen, die die Ordnung der Zeit in der christlichen Poesie auch jenseits von Vergleichskontexten aufweist, ergibt sich ein differenzierteres Bild als beim Sternenhimmel: Schon in der klassischen Antike stehen nach der Formel ‚ein Augenblick kann alles zunichtemachen‘ vor allem die kleineren und kleinsten Zeiteinheiten oft für Zerbrechlichkeit, Unbeständigkeit und Unberechenbarkeit.67 Bei christlichen Schriftstellern kann einerseits Gottes Kontrolle über jeden einzelnen Augenblick auf die Größe seiner umfassenden providentia hinweisen68 – hierin berührt sich die Verwendungsweise mit der des Sternenhimmels. Auf der anderen Seite wird die antike Assoziation mit der Vergänglichkeit und Schwäche der Menschen von christlichen Autoren beibehalten 69 und sogar dadurch erweitert, dass dies nicht nur im Hinblick auf den Tod, sondern auf sämtliche Aspekte der condicio humana hin ausgesagt wird. Für Augustinus ist die Zeit und ihre Atomisierung nicht nur Ausdruck, sondern Ursache für die seelisch-geistige Instabilität des Menschen (vgl. dazu ausführlicher den Kommentar zur Überschrift des carm. 3). Dass er in dieser Hinsicht rege rezipiert wurde, zeigt sich nicht nur bei Gregor und Taio, die seinen Überlegungen folgen, sondern beispielsweise auch bei Zeno von Verona, der die (rhetorische) Frage stellt, wie der Mensch imago Dei sein könne, wo doch im Unterschied zur Ewigkeit Gottes sich das Antlitz des Menschen in jedem einzelnen Augenblick durch die Einflüsse der Welt ändere – und nicht nur sein Äußeres, sondern
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Das prägnanteste Beispiel ist ein Brief des Ausonius an Theon, in dem innerhalb eines literarischen Versuches die gigantische Zahl der Meerschnecken, selbst ein gängiges Bild für die Unendlichkeit, mit der Zeit und ihren Unterkategorien (Tage, Nächte, Jahre) verglichen wird. Dabei macht der Gegensatz zwischen der kosmischen Bedeutung der Zeit und dem verhältnismäßig alltäglichen, wenn auch ebenso endlosen „Vergleichsobjekt“ der Meeresschnecken gerade das von Ausonius beabsichtigte Satirische, die satirica et ridicula concinnatio, aus. Vgl. Ausonius, ep. 14a (212 GREEN) und 14b,1–18 (212 GREEN). 67 Vgl. z.B. Seneca, dial. 9,11,9 (229 REYNOLDS): Nec magnis ista interuallis diuisa, sed horae momentum interest inter solium et aliena genua. Scito ergo omnem condicionem uersabilem esse. Ebenso Horaz, sat. 1,1,7–8 (161 KLINGNER): horae momento cita mors uenit aut uictoria laeta. 68 So betont Hieronymus, in Hab. 1,1,13.14 (CCL 76A,593 ADRIAEN), dass, wenn Gott schon wisse, per momenta singula quot nascantur culices, seine providentia hinsichtlich der Geschicke des Menschen noch viel größer sein müsse. Vgl. auch Augustinus, Gn. litt. 5,22 (CSEL 28/1,166 ZYCHA): ne puncto quidem temporis deum, a quo est omnis mensurarum modus, omnis parilitas numerorum, omnis ordo ponderum, ab eius gubernatione cessare. 69 Vgl. Hieronymus, in psalm. 145,2 (CCL 72,245 MORIN): nolite in principibus confidere: quia cum sint homines atque mortales, puncto horae pereunt, et omnis spes quam in eis habebamus, cum ipsis repente praeciditur.
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auch seine geistigen Regungen, wie Zeno betont.70 Bei Zeno (momentis omnibus),71 Augustinus (punctumque ipsum temporis)72 und Gregor bzw. Taio (per momenta temporum)73 ist also die Veränderlichkeit ebenso mit den kleinsten Zeitintervallen verknüpft wie bei Eugenius. Ebenso wie der Tod eines Menschen in einem kurzen Moment geschieht, bedarf es nach den christlichen Autoren nur eines einzigen Augenblickes, dass der Mensch in Sünde fällt – diesem oft trügerisch angenehmen Augenblick, in dem der Mensch seiner uoluptas folgt, steht die Ewigkeit der Verdammnis gegenüber. So schreibt Arnobius der Jüngere: Vnius horae, immo unius puncti delectamentum est, sed et aeternae mortis interitus.74 Glücklicherweise trifft diese Kürze der benötigten Zeit jedoch auch auf die vergebende Gerechtmachung Gottes zu, sei diese durch das Sakrament der Taufe vermittelt75 oder sei sie Gottes Antwort auf die ehrliche Reue eines Menschen.76 Ganz natürlich folgt aus diesen Gedanken – dass die Sünde in jedem Augenblick lauert, aber auch ihre Vergebung in jedem Moment möglich und nötig ist – die spirituelle Anforderung an die Christinnen und Christen, sich ihrer eigenen Sündhaf-
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Vgl. Zeno von Verona, tract. 1,27 (CCL 22,78 LÖFSTEDT): homo quemadmodum dei imaginem portat, cuius uultus passibilis, omni conuersioni subiectus momentis omnibus demutatur labore, aetate, languore, ira, gaudio, tristitudine totque induat uultus, quot animi fuerint motus, nullusque prorsus dies, quo iugiter sibi similis esse uideatur? 71 Natürlich hat Eugenius wohl kaum Zeno zum Vorbild genommen, da nichts auf eine Präsenz der Werke Zenos im geographischen und zeitlichen Raum des Eugenius hinweist, vgl. das Fehlen Zenos in der Aufstellung bei MARTÍN-IGLESIAS 2013 sowie im Index Fontium der Edition ALBERTO 2005a. Überhaupt scheint Zenos Werk erst im Mittelalter eine nennenswerte Verbreitung erfahren zu haben, vgl. LÖFSTEDT 1971, 11* in der Einleitung zu seiner Edition: „Es ist bezeichnend, dass wir die ersten Zitate aus Zeno erst im 10. Jh., in den Werken des Ratherius finden.“ 72 Vgl. Augustinus, conf. 8,11,11–17 (CCL 27,129 SKUTELLA/VERHEIJEN): et item conabar et paulo minus ibi eram et paulo minus, iam iamque attingebam et tenebam: et non ibi eram nec attingebam nec tenebam, haesitans mori morti et uitae uiuere, plusque in me ualebat deterius inolitum, quam melius insolitum, punctumque ipsum temporis, quo aliud futurus eram, quanto propius admouebatur, tanto ampliorem incutiebat horrorem; sed non recutiebat retro nec auertebat, sed suspendebat. 73 Vgl. Gregor der Große, moral. 18,50,82 (CCL 143A,946 ADRIAEN) = Taio von Saragossa, sent. 1,1 (PL 80,732C): Omne quod modo sic, modo aliter est, juxta non esse est. Permanere enim in statu suo non potest. Atque aliquomodo ad non esse itur, dum ab eo quod fuerat ad aliud per momenta temporum ducitur. 74 Arnobius der Jüngere, in psalm. 139,93–94 (CCL 25,236 DAUR). 75 Vgl. Augustinus, trin. 14,17,23 (CCL 50A,454 MOUNTAIN/GLORIE): sicut momento uno fit illa in baptismo renouatio remissione omnium peccatorum. 76 Vgl. Johannes Cassian, conl. 13,13 (CSEL 213,383 PETSCHENIG): rursum quod peccatum suum humiliatus agnoscit, suum est: quod uero sub breuissimo temporis puncto indulgentiam tantorum criminum promeretur, domini miserentis est donum.
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tigkeit jederzeit bewusst zu sein.77 Diese Verschiebung des VergänglichkeitsTopos, der bei christlichen Autoren im Vergleich zu den paganen antiken Autoren sichtbar wird, ist einmal mehr ein Symptom dafür, welchen Stellenwert das Konzept der Sünde im Laufe der Spätantike im christlichen Westen erhält.78 Diese beiden sehr gegensätzlichen Assoziationen der Momente und Augenblicke, die für unseren Kontext relevant sind, fließen in der ersten Conlatio des Johannes Cassian zusammen:79 Ein schöpfungstheologischer Lobpreis Gottes, im Zuge dessen die bereits erwähnten saeculorum dies et horas aus Sir 1,2 zitiert werden, wird parallelisiert durch einen soteriologischen Lobpreis: Johannes Cassian rühmt die unaussprechliche Milde Gottes, mit der er die zahllosen Sünden der Menschen, die singulis quibusque momentis vor seinen Augen begangen werden, langmütig erdulde. Ähnlich klagt auch der – Eugenius wahrscheinlich bekannte – Hymnus auf den Hl. Aemilian: Momenta nulla transuolant in tempora, que labe non sint sordidata criminis.80 Keine Augenblicke verfliegen im Laufe der Zeit, die nicht beschmutzt sind durch den Fall der Schuld.
Was jedoch der Sternenvergleich und der Vergleich mit den kleinsten Zeitintervallen trotz ihrer unterschiedlichen Konnotationen gemeinsam haben, ist, dass beide Bestandteil der unveränderlichen Ordnung des Kosmos sind. Der ‚Rahmen‘, in den die Wandlungen des menschlichen Geistes eingeordnet werden, ist also die Schöpfung selbst – vielleicht, so dürfen wir aus der Theologiegeschichte heraus ergänzen, die Schöpfung im Zustand der Gefallenheit. (Im Falle der Zeitintervalle ist es sogar so, dass christliche Autoren, um die Omnipräsenz der Sünde auszudrücken, diese mit den Momenten und Augenblicken ‚Schritt halten‘ lassen.) Die Wankelmütigkeit der Menschen, die zur Sünde führt, erscheint vor diesem Hintergrund ebenso wie der Lauf der Sterne und 77 Vgl. Victor von Cartenna, paenit. 2 (PL 17,973): Nullum voluit esse temporis punctum, nullum momenti momentum, quo in pectus tuum irrepat oblivio peccatorum. 78 BROWN 1997, 1260 hat für diesen Prozess den Begriff „péccatisation du monde“ geprägt und das Gemeinte in BROWN 2015 für den gallischen Raum während der Franken- und Merowingerherrschaft herausgearbeitet. 79 Vgl. Johannes Cassian, conl. 1,15 (CSEL 213,25 PETSCHENIG): cum harenam maris undarumque numerum dimensum ei et cognitum cogitamus, cum pluuiarum guttas, cum saeculorum dies et horas, cum praeterita futuraue uniuersa obstupescentes scientiae eius adsistere contemplamur: cum ineffabilem clementiam eius, qua innumera flagitia, quae singulis quibusque momentis sub ipsius committuntur aspectu, indefessa longanimitate sustentat, cum uocationem, qua nos nullis praecedentibus meritis gratia suae miserationis adsciuit, cum denique quot occasiones salutis tribuit adoptandis cum quodam admirationis intuemur excessu. 80 Braulio von Saragossa, hymn. 11,1–2 = Hymn. Hispan. 87,51–52 (CCL 167,329 CASTRO SÁNCHEZ).
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Zeiten als ein Naturgesetz, das zumindest innerhalb der gefallenen Schöpfung und der gefallenen Menschheit universelle Gültigkeit hat. Exkurs: Assoziationen des Sternenhimmels in der antiken und christlichen Literatur Der Vergleich mit der Zahl der Sterne ist in der Antike kulturübergreifend: Er tritt bereits in der Bibel in Gen 15,5 auf, wo Abraham eine Nachkommenschaft verheißen wird, „so zahlreich“ wie die Sterne des Himmels. In späteren Stellen (Gen 22,17; Jer 33,22; Dan 3,36) wird das Bild bisweilen um die Unzählbarkeit der Sandkörner des Meeres erweitert. So auch in Hebr 11,12, wo in der Vulgata-Variante sogar der von Eugenius verwendete Ausdruck sidera caeli benutzt wird: tamquam sidera caeli in multitudinem et sicut harena quae est ad oram maris innumerabilis.81 Der Ausdruck sidera caeli, vor allem am Ende des Hexameters, ist jedoch in der Dichtung allgemein weit verbreitet,82 weshalb es sich hier nicht zwangsläufig um ein Bibelzitat handeln muss. Aber auch in der klassischen Antike ist das Bild präsent: Schon Ovid vergleicht in der Ars Amatoria die Zahl der eroberbaren Damen in Rom mit den Sternen des Himmels – allerdings auch, mit deutlich ironischem Unterton, seine Leiden im Exil in Tomi.83 Obwohl auch die biblische Kombination ‚Sterne und Sand‘ bereits in vorchristlicher Zeit bei Ovid verwendet wird,84 ist ihr gehäuftes Auftreten in der christlichen Dichtung (sowie Prosa) ein Hinweis darauf, dass christliche Schriftsteller sich stärker an der biblischen Variante des Topos orientieren.85 Betrachtet man die Kontexte, in denen die Unendlichkeit der Sterne bei christlichen Schriftstellern auftritt, so scheinen für die Erhellung unseres Gedichtes vor allem zwei Aspekte von Bedeutung:86 Augustinus verwendet die rhetorische Frage, „wie viele Sterne es
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Vulg. Hebr 11,12 (1854 WEBER/GRYSON). Vgl. z.B. Vergil, Aen. 1,259 (111 MYNORS); Ovid, met. 7,580 (203 TARRANT); (Ps.-) Tertullian, adv. Marc. 3,254 (CCL 2,1441 WILLEMS); Cyprianus Gallus, hept. Ex 1191 (CSEL 23,98 PEIPER). 83 Vgl. Ovid, ars 1,59 (123 KENNEY): quot caelum stellas, tot habet tua Roma puellas und Ovid, trist. 1,5b,2–3 (28 HALL): tot mala sum passus quot in aethere sidera lucent, / paruaque quot siccus corpora puluis habet. 84 Vgl. Ovid, trist. 1,5b,2–3 (28 HALL): tot mala sum passus quot in aethere sidera lucent, paruaque quot siccus corpora puluis habet. Für das gesonderte Auftreten des Sandvergleiches vgl. Homer, Il. 9,385 (269 WEST): ľûëĀĄöëùĻÏüïôĻ÷óÏüï. 85 Vgl. z.B. Paulinus von Nola, Nat. 9,221 (CCL 21,390 DOLVECK) = carm. 27,221 (CSEL 230,272 HARTEL), Marius Claudius Victorius, aleth. 2,187 (CSEL 16/1,391 SCHENKL) und Augustinus, conf. 5,3,3 (CCL 27,58 SKUTELLA/VERHEIJEN). 86 Weniger interessant sind für unseren Zweck die Texte, in denen nicht nur das sprachliche Mittel aus der Abrahamsverheißung verwendet, sondern diese direkt rezipiert wird. Für die poetische Verarbeitung vgl. z.B. Cyprianus Gallus, hept. Gen 512 (CSEL 23,20 PEIPER) und hept. Ex 1191 (CSEL 23,98 PEIPER). Theologiegeschichtlich interessant ist dabei, dass die Sterne des Himmels und die Sandkörner des Meeres in der patristischen Auslegung auch ein ‚getrenntes Schicksal‘ erfahren können: Die Nachfahren aus der Abrahamsverheißung werden dabei in die Sterne und in die Sandkörner eingeteilt, wobei die Sterne die Gerechten symbolisieren, die Sandkörner dagegen die Schwachen, die durch Versuchung und Anfechtung zu Fall kommen. Wichtig ist dafür, dass die Zahl der Sterne zwar als hoch, aber doch 82
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gebe“ (quot sint stellae), um die Unzulänglichkeit menschlichen Wissens und Forschens bloßzustellen – v.a. als Spitze gegen heidnische Philosophen. Bereits diese Frage kann aber auch mit anderer Stoßrichtung gelesen werden: Dass der Mensch schon die Sterne des Himmels, eines Teils von Gottes Schöpfung, nicht zählen kann, bedeutet umgekehrt, dass Gott zu groß für menschliches Begreifen ist. In der Größe und Unermesslichkeit des Kosmos, repräsentiert durch die Vielzahl der Sterne, lässt sich Gottes Größe und Herrlichkeit erahnen. In der christlichen Dichtung sowie in anderen theologischen Schriften tritt letzterer Aspekt weitaus häufiger auf: Der Sternenvergleich baut die Grandiosität der göttlichen Schöpfung als eine Art Blaupause für ein zu vergleichendes, ebenso großartiges Objekt auf. Dieses zweite Objekt besteht dann oft in anderweitigen Macht- und Wohltaten Gottes. Z.B. sind in Boethius’ Consolatio Philosophiae die Gaben Gottes an die Menschen so zahlreich wie Sterne und Sand.87 Besonders deutlich wird dies auch im Carmen Paschale des Sedulius: Centenosque sonos humanum pectus anhelet, Cuncta quis expediet, quorum nec lucida caeli Sidera nec bibulae numeris aequantur harenae?88 Mag auch eine menschliche Brust je hundert Klänge aushauchen können, wer wird all diese [Zeichen] darstellen können, an deren Zahl weder die leuchtenden Sterne des Himmels noch die wasserziehenden Sandkörner heranreichen? Sedulius, der wohl im 5. Jahrhundert in Gallien dichtete und dessen carmen paschale im Wisigotenreich durchaus verbreitet war,89 entschuldigt sich zu Beginn seiner Dichtung dafür, dass er darin unmöglich allen großen Taten Gottes gerecht werden könne – denn diese seien ebenso zahlreich wie die Sterne des Himmel und der Sand des Meeres. Unter den theologischen Prosa-Schriften nutzt der im Wisigotenreich gern gelesene Gregor der Große dieses Bild, indem er die zahlreichen Gerechten mit den Sternen vergleicht, die in der ‚Finsternis der Sünder‘ als moralische Vorbilder Licht und Weisung geben.90 Auch wenn der Sternenhimmel bei Gregor nicht direkt auf Gott bezogen erscheint, so stellt er doch etwas Positives dar. Dass der Sternenhimmel für das Große und Faszinierende im positiven Sinne steht, ist auch dort überwiegend der Fall, wo er nicht im Rahmen eines Vergleichs auftaucht, sondern für sich allein steht. Im klassischen Mythos sind die Sterne mit der göttlichen Sphäre assoziiert, sodass eine Apotheose von Menschen und Heroen meist in Gestalt einer Verstirnung,
bedeutend geringer als die Zahl der Sandkörner angesehen wird; vgl. Augustinus, ep. 93,30 (CCL 31A,189 DAUR). 87 Vgl. Boethius, cons. 2,2,1–6 (33 MORESCHINI): Si quantas rapidis flatibus incites / pontus uersat harenas / aut quot stelliferis edita noctibus / caelo sidera fulgent / tantas fundat opes nec retrahat manum / pleno Copia cornu. 88 Sedulius, carm. pasch. 1,100–103 (CSEL 210,23 HUEMER). 89 Vgl. MARTÍN-IGLESIAS 2013, 275. 90 Vgl. Gregor der Große, moral. praef. 6,13 (CCL 143,19 ADRIAEN), wörtlich rezipiert in Taio von Saragossa, sent. 1,31 (PL 80,761): Nam cognitioni hominum diuina dispensatio quot iustos exhibuit, quasi tot astra super peccantium tenebras caelum misit, quousque uerus lucifer surgeret.
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einer Auffahrt zu den Sternen, erscheint.91 Dieses Bild ist auch in der christlichen Dichtung92 ohne Weiteres für das Eingehen ins Reich Gottes rezipierbar,93 wie die Dichtung des Eugenius selbst an anderer Stelle (carm. 18,6) zeigt. Wie schon Cicero in der Majestät der unzähligen Sterne das ordnende Wirken des Göttlichen erkennen will,94 ist auch für Augustinus, wie bereits angedeutet, der Sternenhimmel zusammen mit anderen Naturwundern ein Ort der Gotteserkenntnis.95 Hieronymus sieht im unterschiedlichen Helligkeitsgrad der Sterne ein Bild für die Vielfalt der Glieder der Kirche und die Unterschiede in ihren Tugenden, die zugleich in sich vollkommen und doch im Vergleich zu anderen Tugenden ‚weniger strahlend‘ sein können.96 Diesem positiven Bild des Sternenhimmels steht aber auch eine gewisse christliche Skepsis gegenüber. Christliche Autoren verwehren sich immer wieder gegen naturreligiöse oder abergläubische Vorstellungen, die in den Sternen höhere Mächte sehen wollen.97 Vielleicht spiegelt sich diese Skepsis auch bei Cyprianus Gallus wider, bei dem ein Sternenglanz um die verbotene Frucht herum Adam und Eva dazu verlockt, vom verbotenen Baum zu essen.98 Es wird betont, dass die Gestirne ebenso der Vergänglichkeit unterworfen sind wie alles andere, was oberflächlich den Anschein der Ewigkeit erweckt. Juvencus schreibt:
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Vgl. z.B. die Prophezeiung der Apotheose des Aeneas in Vergil, Aen. 1,259–260 (111 MYNORS): sublimemque feres ad sidera caeli / magnanimum Aenean. Man beachte die identische Formulierung des Eugenius, ebenfalls am Versende des Hexameters. 92 Vgl. z.B. Prudentius, cath. 3,205 (CCL 126,18 CUNNINGHAM) und 10,89 (CCL 126,92 CUNNINGHAM). 93 So wird das Bild lange Zeit sowohl in der heidnischen als auch der christlichen Grabepigraphik verwendet, vgl. die Studie von SELTER 2006 über die Carmina Latina Epigraphica der Stadt Rom. 94 Vgl. Cicero, nat. deor. 2,5,15 (54 AX): quartam causam esse eamque vel maximam aequabilitatem motus conversionem caeli, solis lunae siderumque omnium distinctionem utilitatem pulchritudinem ordinem, quarum rerum aspectus ipse satis indicaret non esse ea fortuita. 95 Vgl. Augustinus, mag. 10,32 (CCL 29,191–192 DAUR): Quid enim dubitemus oro te? Nam ut hominum omittam innumerabilia spectacula in omnibus theatris sine signo ipsis rebus exhibentium solem certe istum lucemque haec omnia perfundentem atque uestientem, lunam et cetera sidera, terras et maria quaeque in his innumerabiliter gignuntur, nonne per se ipsa exhibet atque ostendit deus et natura cernentibus? 96 Vgl. Hieronymus, adv. Pelag. 1,17 (CCL 80,22 MORESCHINI): stella a stella differt in gloria, et in uno ecclesiae corpore membra diuersa sunt. habet sol fulgorem suum, luna quoque noctis tenebras temperat, et quinque alia sidera, quae uocantur errantia, diuersis et cursibus et luminibus caelum peragrant, innumerabiles aliae stellae, quas micare in firmamento cernimus. in singulis diuersa sunt lumina, et tamen in suo unaquaeque perfecta est, ita dumtaxat ut comparatione maioris perfectione careat. 97 Vgl. z.B. Augustinus, ep. 95,11 (CCL 31,242 DAUR): Non ideo tamen putare debent stulti, qui nolunt in melius commutari, adoranda esse ista luminaria, quia ducitur ex eis aliquando similitudo ad diuina mysteria figuranda; ex omni enim creatura ducitur. 98 Vgl. Cyprianus Gallus, hept. Gen 98–100 (CSEL 23,5 PEIPER): Tradidit haec mulier, dum dicit lumina promptim / candenti perfusa die liquidumque serenum / adfulsisse sibi solemque et sidera caeli.
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
223
Inmortale nihil mundi conpage tenetur. non orbis, non regna hominum, non aurea Roma, non mare, non tellus, non ignea sidera caeli.99 Nichts wird unsterblich durch das Weltgefüge gehalten, nicht der Erdkreis, nicht die Königreiche der Menschen, nicht das goldene Rom, nicht das Meer, nicht die Erde, nicht die feurigen Sterne des Himmels. Natürlich wird auch hier der Effekt gerade über die Erhabenheit der Sterne erzielt: Dass nicht einmal diese vom Untergang ausgenommen sind, verleiht der Aussage erst ihre Totalität. Während Juvencus und anderen christlichen Autoren vor allem an der Relativierung der Gestirne im Vergleich zu Gott und an der Betonung ihrer Geschöpflichkeit gelegen ist, geht Dracontius noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er die Gestirne (wie auch die gesamte Schöpfung) als in sich ambivalent beschreibt. Er stellt darin sicherlich unter den christlichen Dichtern die Ausnahme und nicht die Regel dar, verdient aber sowohl deshalb Erwähnung, weil Eugenius aufgrund seiner Tätigkeit als Revisor genaue Kenntnis seines Werkes hatte (und von welchem anderen Dichter könnte man das sonst mit Sicherheit sagen?), als auch, weil der inhaltliche Kontext erstaunlich gut zum mutabilitas- und SündenThema passt: In seiner Satisfactio, einem Werk, das wohl während eines Gefängnisaufenthalts entstand, versucht sein lyrisches Ich, sich sowohl vor dem Vandalenkönig Gunthamund, den er durch sein Dichten beleidigt habe, als auch vor Gott zu exkulpieren.100 Es handelt sich also zunächst um eine ‚Rechtfertigung‘ vor einem weltlichen Herrscher, die sich jedoch durchwegs religiöser Sprache bedient. Seine Selbstverteidigung setzt dann auch nicht bei seinen Taten – die nicht geleugnet werden – an, sondern bei Gott, der selbst nullo mutabilis aeuo, aber im Bezug auf seine Schöpfung omnia permutans ist.101 Er habe aus Zorn über die vergangenen Sünden des lyrischen Ichs dessen Herz verstockt wie das des Pharao, sodass es die Schmähung gegen den König beging. Nach theologischer Mehrheitsmeinung (damals wie heute) ist es sicherlich ein anstößiger Gedanke, Gott selbst zum Urheber einer Sünde zu erklären102 – und dieser Meinung dürfte auch der Revisor Eugenius gewesen sein, in dessen Version die Stelle auffällig geglättet erscheint und per Subjektänderung nicht mehr Gott, sondern die (Ur-)Sünde selbst als Urheber dieser Tat ausgewiesen ist.103 99 Juvencus, evang. praef. 1–3 (12 OTEIRO PEREIRA). Die Bedeutung des Juvencus und die Präsenz seines Werkes in Spanien bezeugt Isidor von Sevilla, carm. 11,6 (CCL 113A,223 SÁNCHEZ MARTÍN). Vgl. auch MARTÍN-IGLESIAS 2013, 272. 100 Vgl. zu den historischen Umständen MERRILLS 2004; vgl. zu den dargestellten Rechtfertigungsstrategien FALCONE 2020, 237–239 sowie GALLI MILIû 2009, passim. 101 Vgl. Dracontius, satisf. 7 (176 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 5 (CCL 114,375 ALBERTO): omnia permutans, nullo mutabilis aeuo, / noster semper eris, qui es modo uel fueris. 102 Vgl. zum theologischen Abgleich dieser Passage mit den Schriften Augustins S CHETTER 1990, 96–105. 103 Vgl. Dracontius, satisf. 19–20 (177 MOUSSY): Sic mea corda Deus, nostro peccante reatu / temporis immodici, pellit ad illicita. // Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 19–20 (CCL 114,376 ALBERTO): Sic mea corda, Deus, lingua patrante reatum / noxia culpa ligans traxit ad illicita. Freilich ist es methodisch schwierig, diese Änderung als Glättung zu interpretieren, da wir nicht wissen, welche Textvariante im Eugenius vorliegenden Manuskript stand, vgl. TIZZONI 2012, 162–166. Jedoch fügt sich diese Interpretation gut in einen größeren Texteingriff des Eugenius ein, der in dieselbe Richtung weist, vgl. SCHETTER 1990, Anm. 37 und TIZZONI 2012, 210.
224
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Nach der ‚konkreten‘ Rückführung seiner Verstockung auf Gottes Zorn über frühere Sünden setzt Dracontius in der Ursachenforschung noch früher an und geht auf die condicio humana ein: Sünde sei der Vergebung würdig, weil ja niemals ein Mensch ohne Sünde gelebt habe. Auch dies wird in einem schöpfungstheologischen Argument letztlich Gott angelastet: „Denn der allmächtige Gott hätte, als er den Erdkreis begründete, allein das Beste ohne das Traurige geben können.“104 Es folgt ein langer Katalog von Naturphänomenen, die allesamt sowohl gute als auch schlechte Seiten haben, wie Schlangengift, das sowohl töten als auch heilen kann, oder – und hier tun sich interessante Parallelen mit dem Sommer-Gedicht (carm. 101) des Eugenius auf – die Sonne, die mal angenehm wärmt, mal quälend heiß ist. Schließlich tauchen die Sterne in der Aufzählung auf, in derselben Endposition von sidera caeli innerhalb des Hexameters: Omnia nec mala sunt nec sunt bona sidera caeli: Lucifer hoc docuit, Sirius hoc docuit.105 Weder sind sämtliche Sterne gut noch schlecht: Das lehrt der Morgenstern, das lehrt der Hundsstern. Diese Aussage widerspricht für Dracontius übrigens keineswegs seiner ebenfalls in der Satisfactio getätigten poetisch wie patristisch etablierten Aussage, dass „die Sterne, das Feuer, der Tag, die Sonne, die Nacht und der Mond“ von Gott als ihrem Schöpfer künden.106 Theologisch ist der Vorwurf, Gott habe nicht nur das Gute, sondern auch das Schlechte im Menschen und der Schöpfung grundgelegt, sicher nicht weniger anstößig, doch sind in dieser Passage keine sinnverändernden Texteingriffe des Eugenius feststellbar, die – etwa durch die Einfügung des Sündenfalls – die Härte der Aussage relativieren könnten. Davon auf die schöpfungstheologische Haltung des Eugenius rückschließen zu wollen, wäre natürlich Spekulation. Doch gerade wenn man die auffällig negative Sommerschilderung des Eugenius in carm. 101 mit in Betracht zieht, anhand der Carmen Codoñer Eugenius „a negative vision of nature“107 attestiert, ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Dracontius’ ambivalente Schilderung der Natur bei Eugenius resoniert hat – was natürlich nicht heißt, dass Eugenius diese Ambivalenz ebenfalls direkt Gottes Schöpfungstätigkeit zuschrieb.
Insgesamt lässt sich also festhalten, dass in der christlichen Literatur die Sterne grundsätzlich ihre Assoziation mit der göttlichen Sphäre, die bereits von der klassischen Literatur vorgegeben ist, behalten. Relativiert wird im Christlichen diese Assoziation allerdings dadurch, dass die Sterne klar dem Bereich des Vergänglichen und nicht des Ewigen zugeordnet werden, weshalb natürlich jede Verehrung der Sterne strikt abgelehnt wird. Diese Relativierung verbindet sich bei Dracontius – der dies sicherlich auf die Spitze treibt, mit dem Eugenius 104
Vgl. Dracontius, satisf. 55–56 (179 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 49–50 (CCL 114,378 ALBERTO): Nam Deus omnipotens potuit, dum conderet orbem, / tristibus amotis optima sola dare. 105 Dracontius, satisf. 87–88 (180 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 81–82 (CCL 114,380 ALBERTO). 106 Dracontius, satisf. 3–4 (176 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 3–4 (CCL 114,375 ALBERTO): sidera flamma dies quem sol nox luna fatentur / auctorem. 107 CODOÑER 1981, 340.
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
225
aber besonders vertraut war – mit einer grundsätzlich ambivalenten Sicht der Schöpfung und lässt die Sterne als sowohl positiv als auch negativ erscheinen. Speziell die Sterne in der Vergleichskonstruktion sind jedoch durch die biblische Herkunft des Vergleichs im Kontext der Abrahamsverheißung vor allem als Bild für die Unendlichkeit positiver Dinge in den christlichen Sprachschatz eingegangen, wie am Beispiel von Sedulius’ carmen paschale deutlich geworden ist. Hiervon hebt sich die Verwendungsweise bei Eugenius deutlich ab: Nichts Positives und Grandioses wird mit der Zahl der Sterne und den Augenblicken der Jahrhunderte verglichen, sondern die ständigen Wandlungen des menschlichen Geistes und damit die Gefahren, in die Sünde und ins Verderben zu geraten. Das Verglichene ist also etwas Negatives, was natürlich auch die Vergleichspunkte, die kosmischen Bilder vom Sternenhimmel und den Zeitläuften, negativ färbt und ihnen etwas Bedrohliches verleiht. Die Sterne sind damit nicht mehr Bild für das Erhabene und Stabile, sondern für das Chaotische, für die ‚unzählbaren‘ Irrungen und Wirrungen des menschlichen Geistes. Der gängige Topos des Sternenvergleichs erscheint hier also geradezu umgekehrt. Damit findet sich in carm. 3, neben der Abwandlung des uarietasMotivs im Vergleich zu Venantius, ein zweiter Aspekt, der Codoñers Beobachtung von der Re-Individualisierung der Topoi bei Eugenius bestätigt. Während wir in der christlichen Dichtung also kein paralleles Beispiel für diese Verwendung des Sternenvergleichs finden, könnten Ovids Klagegedichte aus dem Tomitaner Exil ein Vorbild für diese Umkehrung sein. Die sprachliche Figur an sich – über quot und tot gebildete Vergleiche, wodurch die Unendlichkeit der vom lyrischen Ich zu beklagenden Übel ausgedrückt werden soll – tritt in Ovids Exilliteratur überaus häufig auf,108 wie auch (jedoch unter positiven Vorzeichen) in der übrigen Dichtung Ovids. Der Sternenvergleich (trist. 1,5b,3–4 und trist. 4,10,107) ist dabei einer von vielen Naturvergleichen, deren ‚Items‘ (wie etwa liebliche Rosen) erstaunlich oft positiv konnotiert scheinen, obwohl damit die unendliche Zahl der Leiden von Ovids lyrischem Ich verglichen wird.109 Dass Ovid mit diesem Gegensatz spielt, wird besonders in der Elegie 5,1 deutlich, wo die Vergleichsobjekte Na-
108 Vgl., streng in dieser Form, Ovid, trist. 4,1,55–56 (136 HALL), trist. 5,1,31–33 (173– 174 HALL), trist. 5,2a,23–27 (177–178 HALL); ähnlich, wenn auch in Bezug auf die amoris dolores und nicht auf den Kummer des Exils ars 2,517–519 (175 KENNEY). Der Sternenvergleich tritt in trist. 1,5b,3–4 (28 HALL) sowie trist. 4,10,107 (170 HALL) auf. 109 Vgl. z.B. Ovid, trist. 5,2a,23–27 (177–178 HALL): litora quot conchas, quot amoena rosaria flores, / quotue soporiferum grana papauer habet, / silua feras quot alit, quot piscibus unda natatur, / quot tenerum pinnis aera pulsat auis, / tot premor aduersis. Dass gerade die bestaunenswerten Schätze der Natur aufgezählt werden, wird bei den Blumen besonders gut ersichtlich. Vgl. zu den textkritischen Problemen der Stelle LUCK 1977, 286.
226
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
turphänomene der geliebten, schmerzlich vermissten Heimat Rom sind: 110 quot frutices siluae, quot flauas Thybris harenas, / mollia quot Martis gramina campus habet, / tot mala pertulimus. 111 Hinsichtlich des Sternenvergleichs rechtfertigt insbesondere die sprachliche Ähnlichkeit zwischen unserem Gedicht und trist. 1,5b einen genaueren Blick: tot mala sum passus quot in aethere sidera lucent, paruaque quot siccus corpora puluis habet.112 Ovid und Eugenius teilen hier nicht nur die Strukturierung des Satzes über quot und tot, sondern mit sidera lucent auch dieselbe Subjekt-Prädikat-Kombination. Können wir also Ovid als Vorbild für diese Topos-Umkehrung annehmen? Eine Antwort auf diese Frage würde uns viel über die Originalität des Eugenius sagen. Sie ist jedoch beinahe unmöglich zu treffen. Das weitere Werk des Eugenius gibt uns keine Hinweise darauf, dass er die Tristia rezipiert haben könnte.113 Dass Werke Ovids zumindest teilweise im wisigotischen Spanien verfügbar waren, legen Isidors berühmte Bibliotheksverse nahe,114 jedoch lässt sich daraus keine Aussage über die Präsenz des einzelnen Werkes ableiten. In der Ars grammatica des Julian von Toledo werden zwar die Metamorphosen und die Ars Amatoria Ovids zitiert und im Werk des Isidor die Metamorphosen und die Fasti, nicht jedoch die Tristia.115 Zwar gibt es wenigstens eine Parallelstelle zwischen den Versen Isidors und den Tristia,116 die jedoch nicht mehr beweist, als dass einzelne Verse oder Abschnitte über Florilegien zugänglich waren.117 Hinweise für eine hohe Beliebtheit der Tristien, wie sie in der karolingischen Zeit aufkommt,118 finden sich im wisigotischen Spanien also nicht.
110 Vgl. zur Romzentrierung der Tristia Ovids SEIBERT 2014, 231–238. LÜTKEMEYER 2005,102–105 betont, dass Rom in den Tristia die Stelle des (normalerweise ländlich gedachten) locus amoenus aus der bukolischen Tradition einnimmt. 111 Ovid, trist. 5,1,31–33 (173–174 HALL). 112 Ovid, trist. 1,5b,3–4 (28 HALL). 113 Die in der Edition von ALBERTO 2005a, 430 im Index Fontium genannten Parallelen aus den Tristia sind allesamt unspezifisch und beziehen sich auf Motive, die Eugenius auch anderweitig entlehnt haben kann bzw. die als poetisches Allgemeingut gelten können. 114 Vgl. Isidor von Sevilla, carm. 11,1 (CCL 113A,223 SÁNCHEZ MARTÍN), der unter seiner Aufzählung paganer und christlicher Dichter auch Ovid nennt. Da seine Verse mit hoher Wahrscheinlichkeit Aufschriften auf Bücherkästen waren, lässt sich – mit einiger Vorsicht – ableiten, dass zumindest Exzerpte aus den Dichtungen Ovids zu den in seiner Bibliothek vorhandenen Werken gehörten, vgl. das Vorwort zu der Edition von SÁNCHEZ MARTÍN 2000, 18 sowie, in dieser Position vorsichtiger, ALBERTO 2014a, 172. 115 Vgl. zur Auswertung der Ars grammatica für die Ovid-Rezeption GATTI 2014, 209–225. 116 Vgl. Isidor von Sevilla, carm. 4,1 (CCL 113A,215 SÁNCHEZ MARTÍN): Ille ego Origines doctor uerissimus olim und Ovid, trist. 4,10,1 (41 HALL): Ille ego qui fuerim, tenerorum lusor amorum. 117 Vgl. ALBERTO 2014a, 146, bes. Anm. 116. 118 Vgl. WHEELER 2004, 14–15. WALTHER 1928 liefert zudem einen interessanten Überblick über die Rezeption der „quot-tot-formel [sic]“ (a.a.O., 260), deren wichtigsten Ur-
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
227
Ferner scheint der Ton in Eugenius’ Gedicht ein ganz anderer zu sein als in den Tristia. Ovid spielt mit dem Gegensatz zu seinen früheren Werken, wo beispielsweise noch die Vielzahl der Damen, die Rom zu bieten hat, mit den Sternen verglichen werden, und erzeugt durch dieses Spiel mit den Gattungstraditionen Ironie. 119 Wenn man eine solche Ironie im carm. 3 annehmen möchte, wäre sie zumindest nicht sehr auffällig. Wahrscheinlicher dürfte sein, dass seine Umkehrung des Topos von der ambivalenten Behandlung der Sterne (außerhalb des Sternenvergleichs) durch einige christliche Dichter, allen voran Dracontius, vorgeprägt wurde. e) V. 10: Reformulierung des Themas – was wandelt sich eigentlich? 10
tot nostra faciem mutat sententia formis.
Zuletzt verdient der letzte Vers, der das Vergleichobjekt der quot-tot-Konstruktion angibt, einen besonderen Blick. In ihm wird noch einmal reformuliert und präzisiert, was das Thema des gesamten Gedichtes ist: So viele Sterne und Augenblicke es gibt, „in so vielen Formen wandelt unsere sententia ihr Antlitz.“ Interessant ist hierbei die Bedeutung des vielschichtigen Wortes sententia, da es uns einen Hinweis darauf geben kann, welches ‚Modell‘ der Wankelmütigkeit dem Gedicht des Eugenius zugrundeliegt. Was genau ist es, was sich ständig wandelt? Die Meinung? Das sittliche Urteil?120 Die Grundbedeutungen des Wortes haben zunächst gemeinsam, dass sie der Sphäre des Geistes entstammen – was für die theologische Frage nach dem Ursprung der Sünde im Menschen bereits viel aussagt. Näherhin lässt sich bei den Bedeutungen, die für unseren Kontext sinnvoll sind, zwischen einer bloß inhaltlichen sententia (z.B. im Sinne eines Gedankens, einer Lehrmeinung oder der Beurteilung eines Sachverhaltes) und einer sententia unterscheiden, die auch handlungswirksam wird. So gibt das Oxford Latin Dictionary auch die Bedeutungsgruppe „[o]ne’s thinking in respect of future action, purpose, intention“121 an – im Deutschen ließe sich dies vielleicht am besten als Absicht oder Wille122 wiedergeben, schließlich auch als Beschluss, wofür sententia gerade auch im amtlich-richterlichen Bereich zum terminus technicus geworden ist. Dass die sententia für christliche Autoren nie beim reinen Denken stehen bleibt, sondern stets Auswirkungen auf das ganze Leben hat, können zwei Beispiele anschaulich illustrieren: sprung er in Ovids Exildichtung sieht, in Liebesgrüßen der Karolingerzeit. Interessanterweise kann diese Formel in dieser Zeit in einer unserem Gedicht ähnlichen Umkehr auch für die Zahllosigkeit der menschlichen Sünden stehen (vgl. a.a.O., 277). 119 Vgl. WILLIAMS 1994, 65–67. 120 Vgl. OLD s.v. sententia, 1913–1914. 121 OLD s.v. sententia, 1913. 122 Diese Übersetzung gibt auch GEORGES s.v. sententia, 4351 an und prägt darüber hinaus den Doppelbegriff „Willensmeinung“, um diese Bedeutungsnuance auszudrücken.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Augustinus, de libero arbitrio 2,10,115: quid? eam uitam quae nullis aduersitatibus de certa et honesta sententia demouetur, dubitabit aliquis esse meliorem quam eam quae facile incommodis temporalibus frangitur atque subuertitur?123 Was denn? Wird jemand zweifeln, dass ein solches Leben, das sich durch keinerlei Widrigkeiten von der sicheren und ehrbaren sententia abbringen lässt, besser ist als eines, welches leicht von den Beschwerlichkeiten der Zeitlichkeit zerbricht und zugrundegeht?
In der christlichen Poesie finden wir im sogenannten Romanus-Hymnus (perist. 10) des Prudentius, den Eugenius höchstwahrscheinlich rezipiert,124 ein Beispiel für diese Verwendung des Begriffes sententia, das gleichzeitig ein positives Gegenbild zur mutabilitas im Verhalten der Märtyrer zeichnet: Conspirat uno foederatus spiritu grex Christianus […] fixa et statuta est omnibus sententia fidem tueri uel libenter emori.125 Von einem Geist geeint verschwört sich die Christenschar […]. Fest steht bei allen der Entschluss den Glauben zu wahren und freudig zu sterben.
Den Aspekt der Handlungswirksamkeit, der so auch bei den Kirchenschriftstellern gut belegt ist, müssen wir angesichts der im Gedicht genannten Tatsünden der V. 4–6, die als Beispiele für die Auswirkungen der Wankelmütigkeit angeführt werden, in unserem Kontext ebenfalls als mit sententia mitgemeint annehmen. Sententia drückt hier also den Komplex aus dem Denken und Fühlen des Geistes und dem sich daraus ergebenden handlungswirksamen Willen aus. Ihre Unbeständigkeit ist der Grund, warum sich sowohl die Meinungen und Neigungen (vgl. V. 2–3) als auch die Handlungen des Menschen (vgl. V. 4–6) immer wieder verändern. 5.1.4 Fazit Letztlich ist carm. 3 eine schlichte, im Detail jedoch durchaus kunstvoll und originell gestaltete poetische Ausarbeitung eines in der theologischen Prosaliteratur verbreiteten Allgemeinplatzes. Das ‚Neue‘ sind weniger die Gedanken zur Wankelmütigkeit selbst als das poetische Gewand, in das Eugenius den Topos kleidet, sowie die Tatsache, dass dieser eine bis dato nicht dagewesene ‚poetische Aufmerksamkeit‘ erhält: Er ist kein schmückendes Beiwerk, son-
123
Augustinus, lib. arb. 2,10,115 (CCL 29,256 GREEN). Vgl. ALBERTO 2014a, 130 sowie speziell zum Romanus-Hymnus die Ausführungen zu carm. 14. 125 Prudentius, perist. 10,56–60 (CCL 126,332 CUNNINGHAM). 124
5.1 carm. 3: Die Wankelmütigkeit des Menschen
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dern das alleinige Thema eines beschreibenden Epigramms, einer poetischen Gattung, deren wichtigstes Kennzeichen die inhaltliche Geschlossenheit ist.126 Im Vergleich mit dem freilich ganz anders gearteten, aber durch viele Referenzen mit carm. 3 verbundenen Geleusuintha-Gedicht des Venantius ist dies besonders deutlich geworden. Eugenius’ Rezeption des uarietas-Motivs in der Geleusuintha-Elegie zeigt zugleich in besonders eindrücklicher Form poetische Eigenheiten des Eugenius auf: Seine Neigung, Topoi nicht nach strengen, vorgegebenen Schemata zu platzieren, sondern sie in neue Kontexte einzupassen. Die Art und Weise, wie er das im carm. 3 tut, scheint zudem von einem theologisch informierten Blick auf den ‚Quellentext‘ Venantius geleitet, da die hier vorgenommene Relokalisierung des Topos der in der patristischen ProsaLiteratur gängigen Auffasssung entspricht, dass der Sterblichkeit als Instabilität des äußeren Menschen die Wankelmütigkeit als Instabilität des inneren Menschen entspreche.127 Zudem berührt das Thema weiterführende existentielle Fragen wie die nach der Aitiologie der Sünde. Diese Fragen gewähren uns auch einen Blick auf gewisse anthropologische Grundannahmen – diejenigen des Eugenius selbst oder auch nur solche, die er bei seinen Leserinnen und Lesern voraussetzen konnte. Als Ursprungsort der Sünde erscheint in carm. 3 die mens des Menschen, die geistige Sphäre, deren Unbeständigkeit auf das Ganze des Menschen rückwirkt (dieses Ganze ist vielleicht mit den umschreibenden Begriffen corda und pectora bezeichnet). Gerade die Analyse des Begriffs sententia hat dies gezeigt. Sicherlich lässt sich gerade vor dem Hintergrund der theologischen Prosa-Literatur bei dieser Suche nach dem Ursprung noch tiefer schürfen, als das vorliegende Gedicht es tut: Woher kommt die Wankelmütigkeit selbst? Ist sie Ausdruck der Distanz zu Gott und Folge des Sündenfalls und der Verstrickung des Menschen in die gefallene Welt, wie Augustinus und Gregor dem Großen die mutabilitas konzipieren? Letzteres wird in carm. 3 nicht mehr verhandelt. Das vor dem Hintergrund der dichterischen Tradition auffällige sprachliche Mittel, die Wandelbarkeit des menschlichen Geistes (und damit seine Sündenanfälligkeit!) mit den kosmischen Phänomenen des Sternenhimmels und der Zeitläufte zu vergleichen, bringt hier jedoch eine gewisse Färbung mit sich. Gerade im Fall des Sternenhimmels wird ein Naturphänomen, das sonst in der Literatur als Horizont für Grandioses und Staunenswertes fungiert, in einen negativen Kontext gestellt. Vor allem wenn man sich andere Darstellungen der Schöpfung in den Gedichten des Eugenius (so etwa carm. 101) vor Augen hält, ist der Schritt nicht mehr weit, den Kosmos in Eugenius’ ‚Diagnose‘ vom Zustand des Menschen mit einzubeziehen: Er erscheint als fragil, widrig und unberechenbar.
126 127
Vgl. CITRONI 2019, 40. Vgl. ausführlicher zu dieser Art der Rezeption PILARSKI 2020.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Dieser Zustand des Menschen und der Welt wird in carm. 3 – anders als in anderen Gedichten, in denen durchaus ‚Heilswege‘ aufgezeigt werden – dann auch nicht mehr paränetisch gewendet, etwa durch die Betonung der Notwendigkeit, beständig das Herz durch Buße zu reinigen oder in der Kontemplation Gottes zu festigen. So ist das Gedicht auch hinsichtlich seiner Aussageabsicht nicht klar einzuordnen. Didaktisch kann das Gedicht nur insofern genannt werden, als es über einen theologisch-anthropologischen Umstand neutral informiert – allerdings ohne inhaltlich allzu weit in die Tiefe zu gehen. Emotionaler Ausdruck, der das Gedicht zu einer Klage machen könnte, fehlt ebenfalls völlig. Der Ton ist am ehesten als fatalistisch-resignativ zu beschreiben, wird jedoch auch nicht allzu gravitätisch. So erscheint das Gedicht als beinahe zweckfreies Stück auf eine in ihren Auswirkungen sicherlich als tiefgreifend empfundene Grundkonstante der condicio humana.
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße 5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
Text: Criminum mole grauatus et reatu saucius carmen insonare nitor luctuosis questibus: lacrimis ora madescant, uerberentur pectora. 5
Mundus ecce nutat aeger et ruinam nuntiat, tempora grata fugantur, ingeruntur pessima, omnia mala propinquant et bona praeteruolant. Eugeni miselle plora: languor instat improbus, uita transit, finis urget, ira pendit caelitus, ianuam pulsat ut intret mortis ecce nuntius.
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Cur, inique, concupiscis falsa mundi gaudia? Cur caduca non relinquis, curris ad perennia? Dum petis tantilla lucra, dona perdis maxima.
Dic, miser, carne soluta quid tibi solacium? Nil boni portabis illic quo recedat ultio, 15 poena te cremabit ardens, anxiabit spiritus. Nemo te, miselle, crede, nemo consolabitur, non parentes aut propinqui, non sodales optimi; cuncta te procul abibunt, quae amasti dulciter. 20
Corrige, crudelis, actus, terge noxam fletibus, sit tibi pro pane luctus, lacrimae pro gaudio, pande Christo probra cordis eiulando fletibus.
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
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O Deus, bonum perenne, semper exorabilis, cerne fletum profluentem de medullis intimis, uincla criminum resolue, pone finem lacrimis. 25
Nolo me, pater, Auerni mancipes incendio, flamma quo iugis adurat membra citra terminum; hic repende quod meremur, sit quies post transitum.
O genus mortale, mecum lacrimas effundite, pauperi praebete uictum, „parce“ Christo dicite; 30 forsitan iram refrenat, donat indulgentiam.
Übersetzung: Beschwert von der Last der Verbrechen und verwundet von Schuld mühe ich mich, mit trauervollen Klagen ein Lied anzustimmen: Das Gesicht soll von Tränen triefen, geschlagen werden soll die Brust. 5
Siehe, die kranke Welt neigt sich und kündet von Niedergang, die lieblichen Zeiten fliehen, es kommen die schlimmsten, alles Üble nähert sich und das Gute fliegt vorbei. Weine, du armer Eugenius: Das schändliche Siechtum droht, das Leben geht vorüber, das Ende naht drängend, der Zorn dräut vom Himmel her. es pocht an die Tür, um Eintritt zu erlangen, siehe, der Bote des Todes.
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Warum, du Ungerechter, begehrst du die falschen Freuden der Welt? Warum lässt du das dem Verfall geweihte nicht hinter dir und eilst zum Ewigen? Während du nach so einem bisschen Gewinn strebst, vergeudest du die größten Gaben.
Sag, du Armer, wenn dein Fleisch sich aufgelöst hat, was bleibt dir noch als Trost? Nichts Gutes wirst du dorthin mitnehmen, wohin die Rache kommt, 15 die Strafe wird dich glühend verbrennen, dein Geist wird sich ängstigen. Niemand, glaube mir, du Armer, niemand wird dich trösten, nicht die Eltern oder Verwandten, nicht deine besten Gefährten; alles wird fern von dir entschwinden, was du innig geliebt hast. 20
Berichtige, Grausamer, deine Taten, wische deine Schuld mit Weinen ab, dein Brot sei Trauer, Tränen deine Freude, breite vor Christus deines Herzens Schandtaten aus, indem du unter Weinen jammerst. O Gott, du ewiges Gut, immer durch Bitten erreichbar, schau auf das Weinen, das aus dem Innersten der Eingeweide hervorfließt, löse die Fesseln der Verbrechen, setz’ ein Ende den Tränen.
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Ich will nicht, Vater, dass du mich dem Brand der Unterwelt übereignest, wo eine beständige Flamme die Glieder versengt ohne Ende; hier erlege auf, was wir verdienen, nach dem Übergang soll Ruhe herrschen.
O sterbliches Geschlecht, vergießt mit mir gemeinsam Tränen, gewährt dem Armen den Lebensunterhalt, sagt zu Christus: „Verschone!“; 30 vielleicht zügelt er seinen Zorn und schenkt seine Nachsicht.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
5.2.1 Struktur Das carm. 5 besteht aus 10 Dreierstrophen im trochäischen Septenar, die deutlich voneinander abgegrenzt sind: Sprachlich werden die Stropheneinschnitte oft durch eine Anrede im ersten Vers der Strophe markiert, mit lediglich der ersten Strophe als Ausnahme und einem Ersatz durch den Ausruf ecce zu Beginn der zweiten Strophe. Auch inhaltlich bilden die Strophen eine eng umgrenzte Einheit, innerhalb derer das jeweils Ausgesagte oft lediglich synonymisch variiert wird. Obgleich das Gedicht in den meisten Manuskripten die Überschrift „über die Kürze des Lebens“ trägt,128 beginnt es zunächst in der ersten Strophe mit dem Eingeständnis der eigenen Sündhaftigkeit, die gleichzeitig der Kontext ist, in den die in der ersten Strophe ebenfalls angekündigte traurige Klage (V. 2: luctuosis questibus) eingebettet ist. Erst ab der zweiten Strophe wird in einer Art digressio von der Sündhaftigkeit als ursprünglich genanntem Thema zunächst die Vergänglichkeit der Welt insgesamt und dann die Vergänglichkeit der ganz persönlichen Welt des lyrischen Ichs beschrieben. Letztere ist sogar ein unmittelbar drängendes Übel, da das Lebensende bereits am Horizont ersichtlich scheint: uita transit, finis urget, ira pendet caelitus (V. 8). Mit der letzten beiläufigen Bemerkung über den göttlichen Zorn, der nach dem Lebensende wartet, wird deutlich, was für die Leserinnen und Leser seiner Zeit völlig offenkundig gewesen sein dürfte: Das Eingehen auf die Vergänglichkeit von Welt und Leben ist eben keine digressio vom Thema der Sündhaftigkeit, sondern vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit wird das sündige Festhalten am Irdischen zum einen absurd und zum anderen zu einem existentiell besonders dringlichen Problem: Der Moment, wo sie bestraft wird, naht, die noch verbleibende Zeit, in der die Sünden korrigiert, bereut und beweint werden können, schwindet. Daher fordert sich zunächst das lyrische Ich selbst dazu auf, dies zu tun (V. 19–21), und bittet Gott drängend, auf sein Weinen zu schauen und ihm zumindest die ewige Strafe zu ersparen – womöglich sogar, indem er das lyrische Ich noch in diesem Leben straft. Die letzte Strophe öffnet schließlich das Gedicht, das zunächst sehr persönlich anmutete (monologisch angesprochen war zunächst Eugeni miselle, V. 7), für das ganze Menschengeschlecht: Alle Menschen werden aufgefordert, mit dem lyrischen Ich (mecum, V. 28) mitzuweinen und die übrigen beschriebenen Bußhandlungen mit ihm zu vollziehen. Die Bußpraktiken (und die Hoffnung auf ihre Wirksamkeit) rechtfertigen es, das Gedicht mit einem verhaltenen Hoffnungsschimmer enden zu lassen: „Vielleicht zügelt er seinen Zorn und schenkt seine Nachsicht.“ (V. 30). 128 Vgl. ALBERTO 2005a, 134: DE BREVITATE HVIVS VITAE. Die einzige Ausnahme, die davon völlig abweicht, ist das Manuskript Bruxellensis 8860–8867 aus dem 9. Jahrhundert (von Alberto mit Br abgekürzt), wo das Gedicht mit dem Titel de annuntiatione ruinae überschrieben ist.
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
233
5.2.2 Metrik Der Trochäische Septenar ist eines der selteneren Versmaße des Eugenius, das sonst nur in den carm. 39 und 77 sowie dem ‚Teilgedicht‘ carm. 89,5 vorkommt.129 Wiederum ist bei Eugenius keine thematische Schwerpunktsetzung für dieses Versmaß erkennbar.130 Grundsätzlich jedoch ist der trochäische Septenar eines der vielen Versmaße, das in der christlichen Dichtung für Hymnen verwendet wird;131 sein ursprünglichster ‚Einsatzort‘ in lateinischer Sprache ist jedoch die römische Komödie. Er gilt als kolloquialer, rezitativer Vers,132 dem besonders durch die Möglichkeit, ihm über die Mitteldiärese hinaus einen zweiten Einschnitt zu verleihen, auch eine gewisse Schwere zu eigen ist. Eugenius nutzt wie die meisten christlichen Dichter der Spätantike diese zweite Diärese relativ selten,133 an einigen Stellen ist aber trotzdem zu beobachten, wie er sie zur Unterstützung der Abgrenzung von inhaltlichen Sinnabschnitten verwendet. Ein Beispiel ist V. 8: uita transit, || finis urget, || ira pendet caelitus. 5.2.3 Kommentar a) V. 1–3: Die Klage des Sünders Criminum mole grauatus et reatu saucius carmen insonare nitor luctuosis questibus: lacrimis ora madescant, uerberentur pectora.
Das Gedicht beginnt mit einer Selbstcharakterisierung des lyrischen Ichs als criminum mole grauatus und reatu saucius. Die Selbstbeschreibung mittels Adjektiven oder Partizipien ist eine eher seltene Art, wie Eugenius seine Gedichte beginnt (meist tut er dies mit einer Anrede an Gott oder die Leserinnen
129
So auch identifiziert von NORBERG 1984, 67. Carm. 89 ist ein Gedicht, das lediglich einzelne sprichwortartige Verse aneinanderreiht, die sonst nicht miteinander zusammenhängen – davon ist V. 5 ein einzelner trochäischer Septenar. 130 Carm. 39 ist ein Lehrgedicht zur Memorierung der Erfinder des Alphabets, carm. 77 stellt apotropäische, Dämonen abwehrende ‚Bettverse‘ dar und carm. 89,5 ist eine Art versifiziertes Sprichwort. 131 So sind in der hispanischen Hymnensammlung immerhin 31 von 210 Hymnen im trochäischen Septenar verfasst, was ihn dort zum zweithäufigsten Versmaß nach dem jambischen Dimeter macht; vgl. CASTRO SÁNCHEZ 2010, 37. 132 Vgl. HEIKKINEN 2014, 244: „This is largely due to the high ratio of accent-ictus coincidence in the Latin septenarius, unparalleled by any other Latin metre.“ Dadurch wird bei diesem Versmaß auch oft die Abgrenzung erschwert, ob es sich noch um quantitierende oder schon um rhythmische Dichtung handelt, deren auch Eugenius bereits aufgrund einiger metrischer Freiheiten, die er sich nimmt, ‚verdächtigt‘ wurde; vgl. BRUNHÖLZL 1975, 99 und, ihn widerlegend, NORBERG 2004, 64–67. 133 Vgl. NORBERG 2004, 69.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
und Leser).134 Neben dem vorliegenden Gedicht ist ein Beispiel dafür carm. 17, das dem sowohl inhaltlich als auch sprachlich sehr nahekommt: Dort ist der Anfang des Gedichtes mit der Selbstbezeichnung Mole culparum grauiter onustus lediglich eine synonyme Variation des Anfangsverses von carm. 5. Für die Formulierungen gibt es ausreichend Vorbilder in der christlichen Poesie,135 auch im Kontext der Sünde und des nahen Endes.136 Die zweite Selbstbeschreibung, reatu saucius, ist ungewöhnlicher und auch etwas doppeldeutiger. Reatus kann sowohl den Zustand des Angeklagtseins als auch metonymisch für die Schandtat selbst stehen, die die Anklage rechtfertigt.137 Selbst für die Sünde im Abstrakten kann das Wort ohne weiteres verwendet werden; bei Augustinus steht es sogar im Kontext der Erbsünde synonym zu peccatum.138 Demnach wäre das lyrische Ich entweder durch die Sünde selbst „verwundet“ (was eine der grundlegenden Metaphern für die Sünde ist)139 oder durch die Tatsache, dass die Sünde zur Anklage vor Gott führt. Beides scheint für Eugenius ohnehin nicht voneinander zu trennen zu sein: So umfasst auch am Ende von carm. 14 die Bitte um Vergebung sowohl den ‚juristischen‘ Aspekt (das Fallenlassen der Anklage: dimitte reatum) als auch den ‚existentiellen Aspekt‘, der den Zustand der Seele im Blick hat (vgl. carm. 14,76: effice post lapsum, post mala tanta bonum). Im Zustand der Sünde kündigt das lyrische Ich an, ein carmen […] luctuosis questibus erklingen zu lassen. Auch diese Art der Ankündigung, die gleichzeitig eine Aussage über den Charakter des Gedichtes trifft, ist für Eugenius nicht untypisch und erscheint ähnlich in carm. 14, carm. 35 und carm. 101. In carm. 14 folgt auch, ebenso wie hier, auf die Ankündigung der Trauergesänge 134 Mit einer Anrede (jeglicher Art) beginnt das carm. praef. sowie die carm. 1, 2, 4, 6, 10, 14b, 18, 19, 21, 22, 23, 25, 27, 28, 32, 33, 35, 70, 74, 76 und 77. 135 Vgl. etwa Juvencus, evang. 2,786 (228 OTEIRO PEREIRA): curarum mole grauatis; Verecundus von Junca, satisfact. 74 (CCL 93,209 DEMEULENAERE): mens oppressa iacet membrorum mole grauata. 136 Vgl. am deutlichsten Prosper Tiro von Aquitanien, epigr. 91,3 (CSEL 100,144 HORSTING): vitiorum mole gravatis. Die Hauptaussage des Epigramms (das eine Paraphrase einer Augustinus-Sentenz darstellt) ist die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, die eigenen Sünden noch durch Gebet zu „heilen, solange im kranken Körper noch Leben ist“ (epigr. 91,2: cura medendi, / donec in aegroto corpore vita manet). Vgl. für die Prosa Augustinus, Io. ev. tr. 49,19 (CCL 36,429 WILLEMS): tanta mole peccati grauaris et premeris. 137 Vgl. BLAISE s.v. reatus, 698. 138 Vgl. etwa Augustinus, ep. 98,6 (CCL 31A,231 DAUR): reatus uinculum ex Adam tractum. Vgl. parallel dazu Augustinus, conf. 5,9,16 (CCL 27,66 SKUTELLA/VERHEIJEN): originalis peccati uinculum. 139 Vgl. für eine eingehende Untersuchung der Wunden-Metaphorik für die Sünde und ihrer Implikationen UPSON-SAIA 2017, passim, die sich allerdings vor allem auf den christlichen Osten bezieht. Für den Westen gilt Entsprechendes; so verweist etwa HACK 2012, 158–163 auf die spirituelle Bedeutung medizinischer Metaphern, auch der Verwundung, bei Gregor dem Großen.
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
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ein erster konkreter Audruck dieser Trauer: dort Tränen und Wehklagen gen Himmel, hier Tränen und das Schlagen der Brust als Trauergestus.140 Ein kleiner Unterschied fällt jedoch auf: Während in carm. 14 dies im Indikativ berichtet wird,141 steht hier der Konjunktiv: „Das Gesicht soll von Tränen triefen (madescant),142 geschlagen werden soll (uerberentur) die Brust.“ Bereits die einleitende Formulierung carmen insonare nitor kann so verstanden werden, dass bei der Dichtung dieses Liedes auch ein gewisses Maß an willentlicher Anstrengung enthalten ist,143 wogegen sonst der Dichter-persona die Klage nie schwerzufallen scheint.144 Im Fortgang des Gedichtes wird – durch die Aufforderung an sich selbst und alle Menschen zur Klage sowie durch die suasorischen Passagen – der Eindruck bestätigt, dass das Gedicht auch den Charakter einer exhortatio lamentationis bzw. einer exhortatio paenitentiae hat. b) V. 4–6: Niedergang der äußeren Welt 5
Mundus ecce nutat aeger et ruinam nuntiat, tempora grata fugantur, ingeruntur pessima, omnia mala propinquant et bona praeteruolant.
Wie erwähnt wird das Thema der Sündenklage erst einmal ‚suspendiert‘, jedoch durch die Darstellung des nahenden Endes auch intensiviert. Zunächst wird das Ende auf eine sehr apokalyptisch anmutende Weise von der Welt an sich ausgesagt. Interessanterweise wirkt V. 4 beinahe wie ein wörtliches Zitat aus Cyprian von Karthagos de mortalitate – einem ganz anderen ‚Genre‘, nämlich einem theologischen Traktat über die Sterblichkeit. Ein so offenkundiges Zitat aus der Prosa ist in der Poesie sehr selten, wird aber hier durch das trochäische Versmaß erleichtert, das, wie erwähnt, dem ‚natürlichen‘ Sprechen besonders nahekommt. Dementsprechend hoch kann hier die wörtliche Übereinstimmung sein:
140 Vgl. für diesen Trauergestus auch in der christlichen Literatur Sedulius, op. pasch. 2,10 (CSEL 210,210 HUEMER). 141 Vgl. carm. 14,3 (CCL 114,227 ALBERTO): Fletibus ecce rigo […] / et lacrimosa petunt murmura nostra polum. 142 Vgl. für die Formulierung schon Statius, Theb. 11,475 (425 KLOTZ) sowie insbesondere Paulinus von Petricordia, Mart. 6,356–357 (CSEL 16/1,153 PETSCHENIG): ora madescunt / fletibus. 143 Diese Bedeutung liegt vor allem in Kombination mit dem Infinitiv vor, vgl. OLD s.v. nitor, 1300. 144 Vgl. den Beginn von carm. 35,2 (CCL 114,250 ALBERTO): scribere nam uersus impulit ecce dolor und 101,2 (CCL 114,277 ALBERTO), die den Zwang zur Klage betonen: resonare cogor.
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Mundus ecce nutat et labitur et ruinam sui non iam senectute rerum sed fine testatur: et tu non Deo gratias agis, non tibi gratularis quod exitu maturiore subtractus ruinis et naufragiis et plagis imminentibus exuaris?145 Siehe, die Welt neigt sich und gleitet hinab und bezeugt ihren Niedergang schon nicht mehr durch das Greisenalter, sondern durch das Ende der Dinge: Und du dankst Gott nicht und beglückwünschst dich nicht selbst, dass du durch einen früheren Tod dem drohenden Niedergang, Schiffbruch und den Plagen entzogen bist und entgehst?
Cyprian schreibt diesen Traktat um das Jahr 252, im Angesicht einer Epidemie,146 und ermahnt darin seine Gläubigen, den Auferstehungsglauben ernstzunehmen und den Tod daher als unbedeutend zu betrachten.147 Das Werk hat, da Julian von Toledo es in seinem prognosticon ausgiebig zitiert (darunter auch die oben zitierte Stelle),148 in Toledo sicherlich vorgelegen und offenbar einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt.149 Hier wie dort, in unserem Gedicht wie bei Cyprian und den wisigotischen Autoren, die ihn zitieren, dient die Darstellung der Hinfälligkeit der gesamten Welt dazu, jegliche Hoffnung auf irdisches Glück ad absurdum zu führen. Der höhere Zweck dessen ist jedoch ein je anderer: Cyprian will dem Tod (genauer dem durch die Epidemie drohenden verfrühten Tod) seinen Schrecken nehmen und erreicht dies, indem er die Welt als vergänglich abwertet und ihr ein schreckliches Ende prophezeit, womit die Gläubigen in der Welt also nichts zu verlieren haben. In Eugenius’ Gedicht ist der Tod (als universales Schicksal sowohl der Welt als auch des Individuums) hingegen gerade das ‚Schreckgespenst‘, das eine Änderung der Lebenshaltung motivieren soll. Die Grundaussage der Strophe, mundus ecce nutat, wird ferner in V. 5–6 von einer sprachlichen Figur gestützt und entfaltet, die wir bei Eugenius – stärker auf das Individuum bezogen – auch in carm. 14 lesen:150 der ‚Tausch‘ von Gutem und Schlechtem im Zuge des Niedergangs, der natürlich immer ein schlechter Tausch ist. „Die lieblichen Zeiten fliehen, es kommen die schlimmsten, / alles Üble nähert sich und das Gute fliegt vorbei.“ (tempora grata 151 fugantur, ingeruntur pessima / omnia mala propinquant et bona praeteruolant). 145
Cyprian von Karthago, mort. 25 (CCL 3A,30–31 SIMONETTI). Vgl. zu dieser Epidemie HARPER 2015, passim. 147 Vgl. für den historischen Kontext der Schrift und die inhaltlichen Hauptlinien SCOURFIELD 1996, passim. 148 Vgl. vor allem Julian von Toledo, progn. 1,14–16 (CCL 115,28–34 HILLGARTH); vgl. für Cyprians oben zitiertes mort. 25 die Rezeption in progn. 1,15 (CCL 115,32 HILLGARTH). 149 Vgl. auch das Echo in einem Brief Braulios von Saragossa an Bischof Valentinus: nutante et senescente, ut ita dicam, mundo; Braulio von Saragossa, ep. 15,6 (CCL 114B,67 MIGUEL FRANCO). 150 Vgl. carm. 14,13 (CCL 14,228 ALBERTO): salus recedit, aegritudo prouenit und 14,42 (CCL 114,229 ALBERTO): umbra pauenda uenit, lux radiata fugit. 151 Vgl. für die Junktur tempora grata Ausonius, Ad patrem de suscepto filio 32 (16 GREEN). 146
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Einmal tritt dieser Tausch in chiastischer, dann in paralleler Stellung auf. Beide Bilder, das Fliehen der Zeit und das Kommen des Schlechten bzw. Fortgehen des Guten, finden wir auch in einem Brief Braulios von Saragossa an seine Schwester, die Äbtissin Pomponia, in dem er seine Trauer über den Tod der gemeinsamen Schwester Basilla und eines engen Freundes, des Bischofs Nunnitus von Gerona, zum Ausdruck bringt. 152 Im Zuge dessen beweint er das grausame Schicksal der Hinterbliebenen, die noch in dieser vergänglichen Welt ausharren und Verluste erleiden müssen: Transeunt bona, succedunt mala et adsiduo cursu transimus, et nos nescio qua ebrietate mentis permansuros putamus: insensibiliter enim fugiunt tempora et mors propinquat futura et nobis spes praesentium imaginatur gaudia temporum.153 Das Gute vergeht, das Schlechte rückt nach und in beständigem Lauf vergehen wir [selbst], und glauben [doch] durch ich weiß nicht welche Trunkenheit des Geistes, dass wir Bestand haben werden: Denn fühllos fliehen die Zeiten und der zukünftige Tod nähert sich und uns lässt die Hoffnung von Freuden der gegenwärtigen Zeit träumen.
Das Epitaph, das Eugenius – wohl im Auftrag der Pomponia – für Basilla verfasste (carm. 22), bezeugt die enge Involvierung des Eugenius in die Trauer um diesen Todesfall, was das in den Texten zu spürende bemerkenswert ähnliche ‚geistige Klima‘ verständlich macht. Eugenius’ Tonfall ist jedoch einen Hauch apokalyptischer. Die tempora pessima erinnern an die Vorstellung, dass das Ende der Zeiten von einer besonders schlimmen Zeit der Katastrophen eingeläutet wird. So wird etwa in 2 Tim 3,1 angekündigt: scito quod in novissimis diebus instabunt tempora periculosa.154 Exkurs: senectus mundi – apokalyptische Naherwartung im wisigotischen Spanien? Freilich spielt das Ende der Welt im weiteren Verlauf des Gedichtes keine signifikante Rolle mehr, sondern bildet eher den Hintergrund für das Drohen des individuellen Todesschicksals. Dennoch ist die Frage interessant, ob sich in dieser Strophe eine – vielleicht auch durch die historischen Umstände evozierte – apokalyptische Grundstimmung oder sogar Naherwartung niederschlägt. Ist der Vers tempora grata fugantur, ingeruntur pessima eine Gegenwartsbeschreibung, bezieht er sich sogar auf konkrete historische Ereignisse? Oder handelt es sich um eine allgemeine Aussage über die Welt, die sich ‚immer‘ neigt und immer schon auf ein in näherer oder fernerer Zukunft liegendes Ende zugeht? Wie virulent die Endzeiterwartung im wisigotischen Spanien war, ist bis heute Teil einer Forschungsdebatte, in der mittlerweile jedoch sehr maßvoll differenziert wird – durchaus dem Quellenbefund entsprechend: Einerseits war es dem kulturellen Umfeld des Eugenius
152
Vgl. zu diesem Brief FERREIRO 2019, 172–174. Braulio von Saragossa, ep. 10,31–34 (CCL 114B,55 MIGUEL FRANCO). 154 Die tempora periculosa in 2 Tim 3,1 werden übrigens einmal, in Hieronymus’ Zefanja-Kommentar, mit tempora pessima wiedergegeben; vgl. Hieronymus, in Soph. 2 (CCL 76A,692 ADRIAEN). 153
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nicht fremd, historische Ereignisse in apokalyptischem Lichte zu interpretieren.155 So beschreibt Taio in einem Brief an Quiricus die Belagerung seiner Stadt Saragossa im Zuge der Froia-Rebellion ab dem Jahr 653, einer der vielen (erfolglosen oder erfolgreichen) Usurpationsversuche, die das wisigotische Königtum erschütterten, in apokalyptischen Bildern. Zur Zeit dieser Rebellion war Eugenius bereits Erzbischof von Toledo; dass die politische Lage ihn bewegte, versteht sich nicht nur von selbst, sondern auch sein (unvollständig überlieferter) Hymnus carm. 5b (=carm. 20 Vollmer), in dem sich das Leiden unter Plünderungen und Verschleppungen sowie die Furcht vor dem drohenden Krieg niederschlägt, ist ein beredtes Zeugnis dafür.156 Doch Äußerungen von Eugenius’ Zeitgenossen, die darauf hinweisen, dass in absehbarer Zeit das Ende der Welt erwartetet wurde, finden sich bereits vor der Froia-Rebellion, etwa beiläufig eingestreut in Briefe,157 und scheinen so umgekehrt auch nicht an das Auf und Ab der politischen Großwetterlage gebunden. Freilich müssen weder solche Äußerungen noch die Verwendung apokalyptischer Bilder zwangsläufig als Hinweise auf eine unmittelbare eschatologische Naherwartung interpretiert werden. Schließlich finden sie sich in der patristischen Literatur nicht selten und könnten – unabhängig davon, ob die den Topos begründenden Autoren tatsächlich in Naherwartung lebten und schrieben oder nicht – eine etablierte Art und Weise geworden sein, über den Zustand der Welt zu sprechen. Eine Spielart des Sprechens vom mehr oder weniger nahen Ende, die in der Spätantike sehr häufig wird, ist der Topos von der senectus mundi, der in carm. 5 zwar nicht expressis uerbis vorkommt, aber im Cyprian-Zitat mitschwingt (zumal Eugenius auch die senectus des Menschen in carm. 14 mit ähnlicher Terminologie beschreibt).158 Der Topos hat seine Wurzeln bereits in der vorchristlichen Antike und deren Vorstellung von einem notwendigen Altern und Vergehen aller Dinge, die sich etwa im Dekadenzdenken ausdrückt, das spätestens um die Endzeit der römischen Republik und den Beginn des Prinzipats den politischen Diskurs prägt und ein Gegennarrativ zur Ewigkeit Roms bildet.159 Die Vorstellung war insofern, als auch die Christinnen und Christen auf ein Ende der Welt vorausblickten, schon für Tertullian rhetorisch anschlussfähig.160 Besonders nachhaltig wirkt Cyprians Behandlung des Topos (die von Eugenius zitierte Passage enthält in ihrer vollständigen Form den Begriff senectus rerum). Wie Zocca zeigt, setzt Cyprian den Topos jedoch weniger im christlichen Binnendiskurs als vielmehr in Auseinandersetzung mit paganen Kritikern ein. 161 Vollends ins Christentum integriert ist die
155 Vgl. WOOD 2009, 76: „[T]here is considerable evidence that the elite of Visigothic Spain were interested in eschatology and were predisposed to interpret and describe events in such terms.“ 156 Vgl. ALBERTO 2005b, 109–122, der die Froia-Rebellion als historischen Hintergrund von carm. 5b und carm. 36 identifiziert; vgl. allgemein zur Rebellion STOCKING 2000, 1–4. Die Belagerung von Saragossa, wo Eugenius viele Freunde hatte, im Zuge der Rebellion schildert Taio von Saragossa, ep. Quir. (197–200 AGUILAR MIQUEL). 157 Vgl. Fructuosus von Braga, ep. Braul. 18 = Braulio von Saragossa, ep. 36,18 (CCL 114B,114 MIGUEL FRANCO): mundi iam termino propinquante. Der Brief wird grob auf das Jahr 650 datiert; vgl. MIGUEL FRANCO 2018a, 68*. 158 Vgl. carm. 14,35 (CCL 114,229 ALBERTO): iam finis instat et ruina proximat. 159 Vgl. zur paganen Vorgeschichte des senectus mundi-Topos ZOCCA 1995, 651–662. 160 Vgl. Tertullian, spect. 30,2 (CCL 1,252 DEKKERS): tanta saeculi uetustas. 161 Vgl. ZOCCA 1995, 644–647: Cyprian argumentiert damit gegenüber Kritikern des Christentums, dass an den Wechselfällen seiner Zeit nicht die Christen durch ihre Verwei-
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senectus mundi-Vorstellung hingegen bei Augustinus, der zudem das ‚Alter der Welt‘, gemäß einer Einteilung des menschlichen Lebens in sechs Altersstufen, mit dem (aus der jüdischen Apokalyptik stammenden) Sechsten Zeitalter gleichsetzt, in dem auch das Kommen des Messias, des Christus, verortet wird.162 Eugenius’ Schüler Julian begründet in seinem schmalen Traktat de comprobatione sextae aetatis gegen jüdische Kritik, man befinde sich erst im Fünften Zeitalter und der Messias sei noch gar nicht erschienen, dass das Sechste Zeitalter sehr wohl bereits angebrochen sei, und vergleicht die sechs Zeitalter ebenfalls mit den sechs Altersstufen des Menschen, von denen die senectus die sechste und letzte ist.163 Wann dieses Zeitalter aber endet, darüber lässt sich nicht spekulieren – was patristischer Konsens ist.164 Wird die senectus mundi mit dem sechsten Zeitalter gleichgesetzt, das mit der Inkarnation Christi beginnt, wird ohnehin deutlich, dass diese Vorstellung, auch wenn sie etwa bei Gregor dem Großen durchaus mit einem stärkeren Gefühl eschatologischer Dringlichkeit verbunden ist,165 durchaus auch ein breiteres, unbestimmteres apokalyptisches Bewusstsein ermöglicht, das zwar die apokalyptische Interpretation von Unglücken und politischen Krisen erlaubt, aber nicht mit einer akuten Naherwartung einhergehen muss. Ein solches Bewusstsein auch für Eugenius’ Zeit anzunehmen, erscheint sinnvoll. So wendet sich sowohl Isidor von Sevilla als auch Julian von Toledo explizit gegen apokalyptische Spekulationen, die einen genauen Zeitpunkt des Endes der Welt errechnen oder erschließen wollen: Residuum saeculi tempus humanae inuestigationis incertum est. […] Vnus quisque ergo de suo cogitet transitu, sicut sacra scriptura ait: „in omnibus operibus tuis memorare nouissima tua, et in aeternum non peccabis“. Quando enim quisque de saeculo migrat, tunc illi consummatio saeculi est.166 Von der verbleibenden Zeit dieser Welt kann menschliches Forschen nichts wissen. […] Ein jeder soll also über seinen Hinübergang so denken, wie es die Heilige Schrift sagt: „In allen deinen Werken denke an dein Ende, und du wirst in Ewigkeit nicht sündigen.“
gerung des Staatskultes und der Erzürnung der Götter schuld seien, sondern diese Katastrophen durch das ‚Alter der Welt‘ erklärbar seien, an das die Heiden ja selbst glaubten. Für die ‚Binnenkommunikation‘ unter Christen verwendet er für das Ende der Welt aber nahezu immer andere, biblisch inspirierte Sprach- und Denkfiguren. 162 Vgl. am deutlichsten Augustinus, diu. qu. 58,2 (CCL 44A,105–106 MUTZENBECHER): Finis autem saeculorum tamquam senectus ueteris hominis, cum totum genus humanum tamquam unum hominem constitueris, sexta aetate signatur, qua dominus uenit. Sunt enim aetates sex etiam in uno homine: infantia, pueritia, adolescentia, iuuentus, grauitas et senectus. […] Sexta ab aduentu domini usque ad finem saeculi speranda est, qua exterior homo tamquam senectute corrumpitur, qui etiam uetus dicitur, et interior renouatur de die in diem. Vgl. dazu ZOCCA 1995, 674–675. 163 Vgl. Julian von Toledo, comprob. 3,3,3 (CCL 115,193 HILLGARTH ): Secundum hos igitur sex dierum rationes et numeros sex quoque aetates in unoquoque homine praenoscuntur, in quibus uita ipsa perficitur, id est, infantia, pueritia, adolescentia, iuuentus, grauitas et senectus. 164 Vgl. z.B. Augustinus, ep. 199,34–35 (CSEL 57,273–275 GOLDBACHER) sowie Gregor der Große, in euang. 1,12,6 (CCL 141,86–87 ÉTAIX). 165 Vgl. KISIû 2011, 55–57 und bes. KISIû 2013, passim. 166 Isidor von Sevilla, chron. 418 (CCL 112,207.209 MARTIN). Vgl. einen ähnlichen Appell von Julian von Toledo, comprob. 3,10,34 (CCL 115,211 HILLGARTH).
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(Sir 7,40). Wann nämlich ein jeder aus dieser Welt fortgeht, dann ist für jenen das Ende der Welt. Damit könnte Isidor natürlich implizit bezeugen, dass es solche apokalyptischen Spekulationen seinerzeit gab. Interessanter ist jedoch, auf welche Weise er die Frage aus der Welt zu schaffen versucht: Indem er das kollektive Eschaton mit dem individuellen, persönlichen Eschaton in eins setzt. Mit anderen Worten: Der Tod des Menschen ist sein persönlicher Weltuntergang, sein eigenes Eschaton, das zudem (mit dem Sirach-Zitat) das Individuum vor allem in ethischer Hinsicht interessieren und sich auf seine Lebensführung auswirken sollte. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass apokalyptische Rede nicht nur die Funktion hat, eine ‚Zukunftsprognose‘ zu erstellen, sondern immer schon auf (persönliche oder gemeinschaftliche, innere oder äußere) Reform abhebt.167 Die Konzentration auf das Individuum, seinen Tod und das Schicksal seiner Seele ist auch Julian von Toledos monumentalem eschatologischem Werk, dem prognosticon, deutlich anzumerken: „It may be too much to describe Julian’s eschatology as ‚anti-apocalyptic‘ on account of this emphasis […]. At the same time, in the work as a whole, he had chosen to emphasise the practical side of individual salvation over the catastrophism of uncertain collective doom.“168 Die Verbindung von persönlicher und kollektiver Eschatologie mit moralisch-ethischer Sinnspitze sieht James Palmer als die bedeutsamste Entwicklung im eschatologischen Denken, die das siebte Jahrhundert in Spanien wie in Irland gebracht habe.169 Sie spiegelt sich auch in Eugenius’ carm. 5, wenn die Beschreibung des Weltuntergangs in der zuletzt untersuchten Strophe ohne weiteres ‚fallengelassen‘ wird und scheinbar nahtlos auf die individuelle Ebene übergeht: den Tod des Menschen, sein Vorausschauen auf das drohende Gericht, und nicht zuletzt die Notwendigkeit, aus diesem nahenden Ende die eigenen Prioritäten zu überdenken, ethische Konsequenzen daraus zu ziehen und die bereits begangenen Fehler in der Buße ‚aufzuarbeiten‘ und zu tilgen.
c) V. 7–9: Niedergang der persönlichen Welt Eugeni miselle plora: languor instat improbus, uita transit, finis urget, ira pendit caelitus, ianuam pulsat ut intret mortis ecce nuntius.
Die Vermischung vom Ende der äußeren mit dem der persönlichen Welt drückt sich in der Folgestrophe auch durch die Mischung der Dinge aus, die beklagt werden. Die Dichter-persona, die sich wie so oft als Eugenius misellus, als elend und unglücklich bezeichnet,170 fordert sich selbst dazu auf, zu weinen 167
Vgl. z.B. KISIû 2013, 165 über die apokalyptischen Predigten Gregors: „Gregors Anliegen bei der Verkündigung der letzten Dinge ist also nicht die Verbreitung des Schreckens sondern die Abkehr von der Diesseitigkeit und die Umkehr zur patria caelestis.“ 168 PALMER 2014, 91. 169 Vgl. PALMER 2014, 80–81: „Indeed, this multifronted pursuit to understand the End from both personal and collective perspectives is arguably the most radical contribution to apocalyptic thought in the period from the Gregorys and Bede. […] The seventh century witnessed not the triumph of a non-apocalyptic eschatology, but the development of a wider reconceptualisation of humanity’s endings and its duties to act.“ 170 Vgl. carm. 1,2 (CCL 114,205 ALBERTO), carm. 14,80 (CCL 114,231 ALBERTO), carm. 16 (CCL 114,233 ALBERTO) und carm. 19,4 (CCL 114,235 ALBERTO).
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und begründet diese Aufforderung mit einer langen asyndetischen Reihe an Übeln. Die ersten beiden, languor instat improbus und uita transit sind dabei klar auf den persönlichen Bereich bezogen. Languor spielt dabei auf die Krankheiten oder, allgemeiner, auf die Mattigkeit an, die den Menschen am Ende seines Lebens befällt; der Ausdruck ist geradezu ein ‚Lieblingswort‘ des Eugenius.171 Die anderen beiden, finis urget und ira pendit172 caelitus sind dagegen einerseits individuell zu verstehen, knüpfen aber auch ohne weiteres an die apokalyptisch gefärbten Bilder der vorhergehenden Strophe an.173 Das Anklopfen des Todesboten174 verweist dann wieder auf den individuellen Bereich. Allgemein haben die Vergänglichkeitsklagen dieser Strophe sprachlich überraschend viel mit einem anderen Gedicht des Eugenius, nämlich carm. 14, gemeinsam: carm. 5,8–9
carm. 14,35–36
uita transit, finis urget, ira pendit caelitus ianuam pulsat ut intret mortis ecce nuntius.
Iam finis instat et ruina proximat, iam mors cruenta nostra pulsat limina
Auch der weiterführende Gedankengang des carm. 14 (Bevorstehen des Gerichts, Notwendigkeit, die Sünden zu beweinen und um Vergebung zu bitten) stimmt sehr genau mit dem des carm. 5 überein, nur, dass durch das nahende Greisenalter der Tod dort noch unmittelbarer bevorsteht. Grundsätzlich ist die Vergänglichkeitsklage ein prominenter Bestandteil christlicher Dichtung und erscheint dort in vielfältigen Kontexten, wie das Beispiel des Venantius Fortunatus zeigt. Im Rahmen der Totenklage stellt die allgemeine Vergänglichkeit den Konsolationstopos des geteilten Schicksals aller
171
Vgl. FEAR 2019, 31: „a particularly Eugenian theme“. Languor oder das zugehörige Adjektiv languidus kommen im Libellus carminum insgesamt siebenmal vor. In einem Brief an Protasius von Tarragona klagt er selbst darüber, von languor befallen zu sein, vgl. Eugenius von Toledo, ep. Prot. 24–25 (CCL 114,406 ALBERTO). 172 Pendit ist die übereinstimmende Variante der Manuskripte mit Ausnahme zweier Manuskripte, die pendet haben, jedoch sonst meist die schlechteren Varianten überliefern. Nach dem Kontext zu urteilen, liegt sicher die intransitive Verwendung des Wortes vor (im Sinne von „am Himmel schweben, dräuen“); und in der Tat scheint die in der Antike noch gängigere Unterscheidung zwischen dem intransitiven pendere (2. Konjugation: pendeo) und dem transitiven pendere (3. Konjugation: pendo) zu verwischen; vgl. THLL s.v. pendeo, X/1,1,1028–1029, wo bereits Beispiele für ein intransitives pendere/pendo bei Venantius Fortunatus und Isidor aufgeführt sind. 173 So verwendet Gregor der Große, dial. 3,37,22 (SC 260,426 DE VOGÜÉ) und ep. 4,23 (CCL 140,241 NORBERG) die Junktur finis urguet für das Ende der Welt. 174 Vgl. für den Topos des klopfenden Todes neben carm. 14 auch carm. 5b,34 (CCL 114,214 ALBERTO): Mors ecce dira nostra pulsat pectora. Das Bild ist jedoch älter, vgl. schon Horaz, carm. 1,4,13–14 (7 KLINGNER): pallida Mors aequo pulsat pede pauperum tabernas / regumque turris und Ovid, epist. 21,48 (277 DÖRRIE) – dort klopft freilich Persephone, die Gattin des Unterweltsgottes, an die Tür.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
dar;175 doch auch im moralisierenden Sinne wird er verwendet – teils panegyrisch, um diejenigen zu loben, die der Vergänglichkeit gemäß ihr Leben auf das Unvergängliche setzen,176 teils exhortativ, um zu einer solchen Lebensführung anzuregen.177 In letzterem steht die Vergänglichkeitsklage letztlich auch hier: Sie soll einerseits zu einer correctio des eigenen Lebens führen, aber auch zur Buße der vergangenen Sünden. Vorbereitet wird dies durch eine Vertiefung der Vergänglichkeitsklage, die noch einmal genauer ‚durchspielt‘, was die Konzentration auf weltliche, vergängliche Güter für das lyrische Ich bedeutet. d) V. 10–18: Persuasio: Entlarvung der Nichtigkeit der Welt 10
Cur, inique, concupiscis falsa mundi gaudia? Cur caduca non relinquis, curris ad perennia? Dum petis tantilla lucra, dona perdis maxima.
Dic, miser, carne soluta quid tibi solacium? Nil boni portabis illic quo recedat ultio, 15 poena te cremabit ardens, anxiabit spiritus. Nemo te, miselle, crede, nemo consolabitur, non parentes aut propinqui, non sodales optimi; cuncta te procul abibunt, quae amasti dulciter.
Auf die Vergänglichkeitsklage folgt ein langes, vier Strophen umfassendes ‚Selbstgespräch‘ des lyrischen Ichs, das erkennt, dass nichts, worauf es in der Welt seine Hoffnung setzte, ihm bleiben wird. Im Zuge dieses Selbstgespräches redet es sich immer wieder mit Nachdruck selbst an – so, als müsse es sich selbst von dieser Wahrheit erst überzeugen und sozusagen gegen die ebrietas mentis, von der Braulio in seinem Brief an Pomponia sprach, ankämpfen (vgl. V. 10: Cur, inique? V. 13: Dic, miser […] quid tibi solacium? V. 16: Nemo te, miselle, crede, nemo consolabitur). Die Selbstüberzeugung geschieht mal in einem offensiven, mal in einem einfühlsamen, aber nichtsdestoweniger bestimmten Ton, worauf schon die wechselnden Selbstbezeichnungen (iniquus und crudelis bzw. miser und misellus) verweisen.
175 Vgl. zum Topos VON MOOS 1971, 49 = C 92. Bei Venantius ist er oft der Exordialtopos der Totenklage, vgl. Venantius Fortunatus, carm. 4,10,1 (142 REYDELLET): Omne bonum uelox fugitiuaque gaudia mundi, aber auch carm. 4,17,1–2 (148 REYDELLET), sehr ähnlich zu carm. 4,10, sowie carm. 4,24,1–4 (153 REYDELLET). 176 Vgl. im Gedicht zum Lob der Berthichilde: Venantius Fortunatus, carm. 6,4,27–28 (60 REYDELLET): Quicquid habet mundus fugitiuo tramite transit. / Tempore tu modico semper habenda facis.das 177 Vgl. ein Gedicht über die hohe Stellung der Jungfrauen: Praesens uita nimis fugitiuo tempore transit: / uirginis integritas glorificanda manet; Venantius Fortunatus, carm. 8,4,27 (148 REYDELLET).
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
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Während somit in erster Linie ‚Eugenius selbst‘ der zu überzeugende Gesprächspartner ist, ist es ein Leichtes, sich auch die Leserinnen und Leser angesprochen zu denken – dies begünstigt die Du-Anrede zudem stärker als ein innerer Monolog in der Ich-Form. Dass die rhetorischen Fragen, die Aufforderungen nach Selbstrechtfertigung, nach Buße und nach einer Änderung des Lebenswandels genauso an die Leserinnen und Leser gerichtet sind, wird spätestens in der letzten Strophe deutlich, in der das lyrische Ich das gesamte Menschengeschlecht dazu auffordert zu weinen (V. 28). Der Kommunikation mit den Leserinnen und Lesern ist jedoch dadurch, dass Eugenius selbst an forderster Front der persuasio steht, die Schärfe direkter Kritik genommen. Das Publikum steht erst an zweiter Stelle und wird in die Position verwiesen, am ‚Modell Eugenius‘ zu lernen, was – das versäumt Eugenius nicht zu betonen – für das ganze Menschengeschlecht (genus mortale) Gültigkeit hat. Die erste Strophe erweist vor dem Hintergrund der Vergänglichkeitsklage die Absurdität des Strebens nach den falsa mundi gaudia. Schon die Anrede (Cur, inique?) verrät den scharfen, leicht polemischen Ton, der die Strophe prägt. Auch die Vokabel concupiscis, mit der das Streben bezeichnet wird, ist vor dem Hintergrund der augustinischen Theologie zur concupiscentia carnis stark negativ konnotiert; auch die falsa mundi gaudia sind ein häufiger Gegenstand christlicher Ermahnung und christlicher Polemik gegen die Diesseitsorienierung. Mit der Formulierung verwendet Eugenius beinahe schon eine Standardklausel der christlichen Dichtung (im Hexameter in der Reihenfolge gaudia mundi), die bei Commodianus, Prudentius, Paulinus von Petricordia und Venantius vorkommt.178 Es ist aber auch ein Motiv, das allein schon innerhalb seines Gedichtbuches vielfältige Bezüge herstellen lässt: In carm. 2,3 (uanarum gaudia rerum) war bereits im Zuge der Ermahnung, an das eigene Ende zu denken, vor diesen Freuden gewarnt worden – allerdings in einer noch prospektiven Weise, während in diesem Gedicht durch das ‚Klopfen des Todesboten‘ die Mahnung eine noch größere Dringlichkeit erhält. Die größte Ähnlichkeit besteht jedoch zu carm. 14,32 (uana mundi gaudia), im Gedicht über das Greisenalter, in dem der Tod als mindestens ebenso unmittelbar, wenn nicht noch unmittelbarer bevorstehend gedacht wird. Zudem teilen carm. 5 und carm. 14 im Kontext der Polemik gegen die falsa/uana mundi gaudia auch das Bild der Abkehr vom Irdischen und Hinkehr zum Himmlischen als ‚Gegenbewegung‘:
178 Vgl. Commodianus, instr. 1,26,3 (CCL 128,21 MARTIN): Perdunt te luxuriae et breuia gaudia mundi; Prudentius, ham. 375–377 (CCL 126,129 CUNNINGHAM): Mille alia stolidi bacchantia gaudia mundi, / percensere piget. Vgl. nicht als Versklausel, aber ähnlich auch Sedulius, carm. pasch. 2,281–284 (CSEL 210,63 HUEMER): nam quisquis retia mundi / Deliciosa sequens luxus et gaudia blandae / Perditionis amat, Deus hunc, uirtutis amator, / Linquit, et ingreditur qua se temptatio ducit.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
carm. 5,11–12
carm. 14,35–36
Cur caduca non relinquis, curris ad perennia? Dum petis tantilla lucra, dona perdis maxima.
libet, relictis omnibus quae transeunt, Deum timere, sempiterna quaerere terrena lucra deputare puluerem
In carm. 5 ist diese Gegenbewegung anschaulich durch die chiastische Wortstellung der Satzglieder, die den Gegensatz tragen, dargestellt (caduca […] relinquis × curris […] perennia; tantilla lucra × dona […] maxima). Das Bild der Gegenbewegung zeigt dabei auf, was für Eugenius und andere christliche Autoren die entscheidende Problematik der falsa mundi gaudia ist: Ihnen anzuhängen ist mit einer Ewigkeitsorientierung, also einem Festhalten an Gott, nicht vereinbar. Das Streben nach tantilla lucra führt unweigerlich zum Verlust dessen, wonach zu streben eigentlich vernünftig wäre: nach den dona maxima, die in der Ewigkeit warten und dem Fluss der vergänglichen Zeit nicht unterworfen sind. Das irdische Streben muss daher aufgegeben werden. Andere Autoren, durchaus auch Poeten, führen diesen Zusammenhang, den Eugenius als selbstverständlich nimmt, breiter aus und begründen ihn, wie etwa Prudentius in seiner Hamartigenia, das sich unter anderem als Lehrgedicht über die Entstehung der Sünde versteht:179 Mille alia stolidi bacchantia gaudia mundi percensere piget, quae ueri oblita tonantis humanum miseris uoluunt erroribus aeuum. Nemo animum summi memorem genitoris in altum excitat, […] Sed mentem grauidis contentam stertere curis indigno subdit domino perituraque pronus diligit et curuo quaerit terrestria sensu.180 Leidig ist es, die tausend andren bacchantischen Freuden törichter Welt zu erzählen, die im Vergessen des wahren Donnerers menschliche Zeit in kläglichem Irrtum verbringen. Niemand richtet sein Herz, des höchsten Vaters gedenkend, auf in die Höhe, […] sondern er setzt seinen Geist, zufrieden, trotz drückender Sorgen fest zu schlafen, auf einen falschen Herrn, und, sich beugend, liebt er, was ohne Bestand ist, und sucht gekrümmt auf der Erde.181
In der folgenden Strophe, beginnend mit V. 13, wird der Ton dagegen einfühlsamer: Die Frage nach dem solacium, das nach dem Tod bzw. ‚der Auflösung des Fleisches‘ (carne soluta) noch bleibt, verlagert den Vergänglichkeitsdiskurs bereits auf eine subjektivere, persönlichere Ebene und geht von dem Be179 Vgl. DYKES 2011, 25–30, der didaktische, satirische und pastorale Anteile in der Hamartigenia erkennt. 180 Prudentius, ham. 375–384 (CCL 126,129 CUNNINGHAM). 181 Übersetzung von FELS 2011, 105.
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
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dürfnis der menschlichen Seele nach einem ‚Trost‘ in der Bedrängnis der zu erwartenden Strafe aus. Die Antwort auf diese (wiederum rhetorische) Frage ist natürlich nichtsdestoweniger realistisch, desillusioniert und bestimmt: Nichts Gutes, nil boni, nimmt man dorthin mit, wo einen die Vergeltung erwartet.182 Die Vergeltung wird dabei nicht nur, wie es typisch ist, im Bild des Höllenfeuers beschrieben (poena te cremabit ardens), sondern auch auf der emotionalen Ebene, in der inneren Pein, die das lyrische Ich erleiden werde (anxiabit spiritus). Die folgende Strophe (V. 16–18) nimmt das solacium-Thema der vorhergehenden Strophe noch einmal auf und ‚widerlegt‘ eine spezielle Möglichkeit des Trostes: menschliche Beziehungen, wie zu den beispielhaft genannten parentes, propinqui und sodales optimi. „Niemand, glaube mir, du Armer, niemand wird dich trösten.“ Dass nahestehende Personen als ‚Trost‘ in jeder Lebenslage gelten, ist sicher nicht ungewöhnlich: So bezeichnet etwa Paulinus von Nola einen guten Freund als medicina cordis.183 Da sich die Strophe V. 16–18 ebenso wie die vorhergehende als Weiterführung und Vertiefung der Polemik gegen die falsa mundi gaudia lesen lässt, überrascht es, dass gerade ein mundi gaudium von so hoher Dignität wie die zwischenmenschliche Beziehung als konkretes Beispiel dafür gewählt ist. In carm. 14,33–34 stehen an dieser Stelle ‚Klassiker‘ der Vergänglichkeitspolemik: „dem Verfall geweihte Schätze, schmutzige Güter, schädliche Ämter, Ehrungen und Schmeicheleien.“184 Die Wahl eines so grundmenschlichen Beispiels dessen, was die Welt uns bieten kann, erhöht natürlich einerseits die Sympathie der Leserinnen und Leser mit dem lyrischen Ich, dessen warmes Gefühl für die ihm nahestehenden Personen gerade in der letzten Strophe (amasti dulciter) deutlich wird. Wer noch einen persönlichen Zugang zu Eugenius hatte, konnte sich unter seinen parentes, propinqui und sodales optimi vielleicht sogar konkrete Personen vorstellen, etwa Eugenius’ Freunde in Saragossa. Die Wahl des Beispiels untermauert aber auch Eugenius’ Argument besonders stark: Selbst das, was man kaum als per se schlecht betrachten kann, näm182 Die Charakterisierung dieses Ortes, ‚wohin die Strafe sich zurückzieht‘ (quo recedat ultio) erscheint sprachlich merkwürdig: Wie ist recedat zu verstehen? Die Manuskripttradition überliefert noch eine weitere, inhaltlich unbefriedigende Lösung: tecum portabis illic quod recipias im Bruxellensis 8860–8867 aus dem 9. Jahrhundert (von Alberto mit Br abgekürzt); vgl. ALBERTO 2005a, 212. Hier überzeugt vor allem die Doppelung von tecum und tibi im vorhergehenden Vers nicht. Dagegen könnte recedat so verstanden werden, dass die Strafe für das Fehlverhalten vom diesseitigen Leben ins Jenseits ‚aufgeschoben‘ wird und sich daher ins Jenseits ‚zurückzieht‘. Vgl. auch die Bitte des lyrischen Ichs in V. 27: hic repende, quod meremur, sit quies post transitum. 183 Paulinus von Nola, ep. 18,2 (CSEL 29,130 HARTEL). 184 Eugenius von Toledo, carm. 14,33–34 (CCL 114,229 ALBERTO): opes caducae, lutulenta praedia, / fasces, honores, blandimenta noxia.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
lich die Beziehung zu Menschen, die einem viel bedeuten, trägt letztlich nicht. Dies ist freilich eine Einsicht, die christliche Theologen schon vor Eugenius hatten: So sieht sich Augustinus, der im 4. Buch der Confessiones den Verlust eines namenlosen, ihm aber sehr teuren Freundes beklagt, sich zunächst vom Versprechen der Freundschaft getäuscht – und lässt sich doch wieder täuschen und fälschlicherweise von anderen Freunden über den Verlust des Freundes hinwegtrösten, anstatt das tiefere Problem der Vergänglichkeit zu begreifen und sich an den zu halten, der als einziger unverlierbar ist: Gott. So kann auch eine Freundschaft nur dann eine wahre und keine illusorische Freundschaft sein, wenn Gott ihr gemeinsamer Grund ist.185 Auch Isidor von Sevilla formuliert in seinen Sententiae als entscheidendes Gütekriterium für die Freundschaft die Liebe zum Freund non pro se, sed pro Deo.186 Keinesfalls darf eine Freundschaft zum Ersatz für das Festhalten an Gott werden oder den Menschen sogar daran hindern, Gott zu suchen. 187 Demgemäß betont auch Eugenius in carm. 35,10, dass es Gott ist, der das Band der Freundschaft zwischen ihm und seinem sodalis geknüpft hat.188 Dass auch Eltern, Verwandte und Freunde zu den caduca, den vergänglichen und verlierbaren Dingen zählen, ist somit ganz natürlich. Die im carm. 5 vorgestellte Situation, in der das lyrische Ich der poena ardens verfallen zu sein glaubt, widerspricht auch der christlichen, von Cyprian formulierten und wiederum eins zu eins in Julian von Toledos Prognosticon zitierten Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Liebsten nicht, da dies eine Hoffnung ist, die explizit im Kontext der Vorstellung von der Gemeinschaft der Heiligen formuliert wird.189 Gemeinschaft – oder der Ausschluss davon – ist in Eugenius’ Carmina 185 Vgl. Augustinus, conf. 4,8,13 (CCL 27,47 SKUTELLA/VERHEIJEN): Maxime quippe me reparabant atque recreabant aliorum amicorum solacia, cum quibus amabam quod pro te amabam, et hoc erat ingens fabula et longum mendacium, cuius adulterina confricatione corrumpebatur mens nostra pruriens in auribus. Vgl. auch conf. 4,9,14 (CCL 27,47 SKUTELLA/VERHEIJEN): Beatus qui amat te et amicum in te et inimicum propter te. Solus enim nullum carum amittit, cui omnes in illo cari sunt, qui non amittitur. Et quis est iste nisi deus noster, deus, qui fecit caelum et terram et implet ea, quia implendo ea fecit ea? Te nemo amittit, nisi qui dimittit, et quia dimittit, quo it aut quo fugit nisi a te placido ad te iratum? Vgl. zu Augustinus’ Warnungen vor negativen Auswirkungen der Freundschaft NAWAR 2015, passim. 186 Isidor von Sevilla, sent. 3,28,5a (CCL 111,266 CAZIER). 187 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,28,5b (CCL 111,266 CAZIER): Multum in terra demersus est qui carnaliter hominem moriturum plus diligit quam oportet. […] Quantum ergo bonum est qui pro Deo fratrem diligit, tanto perniciosium qui eum pro seipso amplectit. 188 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 35,10 (CCL 114,250 ALBERTO): nectebat ut nos pax in amore Deus. 189 Vgl. Cyprian von Karthago, mort. 26 (CCL 3A,31 SIMONETTI) = Julian von Toledo, progn. 1,15 (CCL 115,33 HILLGARTH): Magnus illic nos carorum numerus expectat, parentum, fratrum, filiorum frequens nos et copiosa turba desiderat. […] Illic apostolorum gloriosus chorus, illic prophetarum exultantium numerus, illic martyrum innumerabilis populus.
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nicht selten ein wichtiger Bestandteil der Jenseitsvorstellung. In carm. 16 bittet das lyrische Ich: non sim pro meritis sanctorum coetibus exul. Der verstorbenen Königin Recciberga wird in carm. 26,8 verheißen: coetibus ipsorum merito sociata resurgas. Auffallend, originell und menschlich sympathisch ist hier jedoch, dass die Gemeinschaft ebenso konkret mit nahestehenden Menschen (und nicht ‚abstrakten Heiligen‘) gefüllt wird wie etwa bei Cyprian in der theologischen Prosa und bei Paulinus von Nola in der christlichen Poesie190 – nur, dass es sich hier nicht um ein positives Hoffnungsbild handelt, sondern um die Trauer um einen Verlust, der dem lyrischen Ich aufgrund seiner Sündhaftigkeit bevorsteht. e) V. 19–21: Aufruf zur Buße 20
Corrige, crudelis, actus, terge noxam fletibus, sit tibi pro pane luctus, lacrimae pro gaudio, pande Christo probra cordis eiulando fletibus.
Die düsteren Zukunftsschilderungen des lyrischen Ichs motivieren es schließlich zu einem Selbstaufruf zur Buße. Der Aufruf beinhaltet die wichtigsten (spirituellen) Akte der christlichen Buße, die wir kennen: Am Anfang steht die Besserung in Bezug auf die eigenen Handlungen (V. 19: Corrige, crudelis actus), was nach Isidor der Prüfstein für die Ehrlichkeit jeder Buße ist.191 Bereits in carm. 1,4 hatte sich das lyrische Ich, ohne dass dort bereits von dessen Sündhaftigkeit die Rede war, die morum correctio praesens von Gott erbeten, also eine Besserung, die noch in diesem Leben stattfindet.192 Ebenso ergeht im von Braulio von Saragossa verfassten Hymnus für den Heiligen Aemilian, dessen Text Eugenius bekannt gewesen sein muss (so er nicht sogar daran mitgewirkt hat), die Bitte des Volkes an Gott: acta nostra corrigas.193 Hier fordert sich das lyrische Ich freilich selbst dazu auf; wie auch bei den anderen heilsbedeutsamen Bußakten dürfte trotzdem das zugrundeliegende Verständnis gewesen sein, dass diese ohne die Hilfe Gottes (seine ‚Operation‘ in der Seele des Menschen) nicht wirksam sein können. Weiterhin werden in vorliegender Strophe als Bußakte das reinigende Beweinen der Sünden (V. 19: terge noxam fletibus) genannt und schließlich das Bekenntnis, das hier als intimes Geschehen zwischen Christus und dem lyri190 Vgl. Paulinus von Nola, Nic. 278 (CCL 21,641 DOLVECK) = carm. 17,278 (CSEL 30,94 HARTEL). 191 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,13,7 (CCL 111,121 CAZIER): Ille paenitentiam digne agit, qui sic praeterita mala deplorat ut futura iterum non committat. Nam qui plangit peccatum, et iterum admittit peccatum, quasi si quis lauet laterem crudum, quem quanto magis elauerit, tanto amplius lutum facit. 192 Eugenius von Toledo, carm. 1,4 (CCL 114,205 ALBERTO). 193 Braulio von Saragossa, hymn. 3,4 = Hymn. Hispan. 87,14 (CCL 167,328 CASTRO SÁNCHEZ). 2
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schen Ich gezeichnet wird: „Breite vor Christus die Schandtaten deines Herzens aus“ (V. 21).194 Augustinus gilt das Bekenntnis, die confessio, als initium iustitiae, als der erste Schritt, der den Menschen durch die Anerkenntnis seines Zustandes in die richtige Disposition für eine wirksame Buße bringt.195 Im Unterschied zu etwa carm. 14 erfolgt in carm. 5 jedoch kein tatsächliches Sündenbekenntnis des lyrischen Ichs. Das vorherrschende Thema ist freilich das Weinen, dem hier wie auch in anderen Gedichten (sowie allgemein in der christlichen Theologie der Zeit) die Kraft zugesprochen wird, die Sünden ‚abzuwaschen‘ wie ein tertium baptismum, wie etwa Isidor die Tränen nennt (nach der zweiten Taufe, die die Bluttaufe der Märtyrer ist).196 In Eugenius’ Gedichten drückt sich dieser Glaube am deutlichsten in carm. 1,17–18 aus, in dem er Gott um einen „Regen“ (imbrem) von Tränen bittet, „dass ich so durch meine Tränen die Last meiner Schuld zu lösen vermag.“ 197 Hier wird sogar, wenn fletibus am Versende nicht nur in V. 23, sondern auch in V. 21 die korrekte Lesart ist,198 mit den Tränen sprachlich eine (nach heutigem Geschmack durch die Wortwiederholung ästhetisch irritierende) Klammer um die gesamte Strophe gebaut, die die anderen Akte der Buße begleitet. Die Mitte der Strophe bildet mit dem Ausdruck „Trauer sei dein Brot“ (V. 20: pro pane luctus) eine Reminiszenz an Ps 41,4, was ein in der Patristik häufig rezipierter sprachlicher Ausdruck ist. 199 Als poetischer
194 Wiederum finden wir einen inhaltlich parallelen Vers in Braulio von Saragossa, hymn. 5,1 = Hymn. Hispan. 87,21 (CCL 167,327 CASTRO SÁNCHEZ): Culpas gementes pandimus miserrimi. 195 Vgl. Augustinus, ep. Io. tr. 4,3 (PL 35,2006): initium iustitiae nostrae confessio peccatorum. coepisti non defendere peccatum tuum; iam incohasti iustitiam. Vgl. zu diesem Gedanken bei Augustinus und auch Ambrosius FITZGERALD 2000, passim, sowie zur Rezeption Isidor von Sevilla, sent. 2,13,1 (CCL 111,120 CAZIER): Ex eo unusquisque iustus esse incipit, ex quo sui accusator extiterit. 196 Isidor von Sevilla, eccl. off. 2,25,3 (CCL 113,103 LAWSON). Vgl. auch Isidor von Sevilla, synon. 1,56 (CCL 111B,46–47 ELFASSI): Quae praue gessisti fletibus dele, quae inclite commisisti lacrimis ablue, ploratu scelera dilui solent. 197 Eugenius von Toledo, carm. 1,17–18 (CCL 114,206 ALBERTO): Da, pater altitonans, undosum fletibus imbrem, / quo ualeam lacrimis culparum soluere moles. 198 Das Manuskript Augustodunensis S 37 (33), f. 1 überliefert als einziges für fletibus in V. 21 planctibus. 199 Sprachlich noch näher als Ps 41,4 kommt dem Ausdruck eigentlich Hos 9,4, was noch Hieronymus, in Os. 2,9.3.4 (CCL 76,92 ADRIAEN) mit dem Ausdruck panis luctus (statt Vulgata: lugentium) wiedergibt. Der Ausdruck wird jedoch vor allem im Kontext der Häresien angewandt (als Brot, das alle befleckt, die von ihm essen) und nicht als Ausdruck individueller, persönlicher Betrübnis, weshalb es sich hier wahrscheinlicher um eine lexikalische Variante zu Ps 41,4 (fuerunt mihi lacrimae meae panis) handelt. Vgl. für dessen Rezeption in der Patristik im Kontext von Sünde und Buße z.B. Johannes Cassian, conl. 20,7 (CSEL 2 13,560 PETSCHENIG).
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Ausdruck zur Buß-exhortatio tritt er bereits am Anfang von Verecundus’ Carmen de satisfactione paenitentiae auf: „Klagen seien die wünschenswerte Speise, auf die ich hoffe.“200 f) V. 22–27: Oratio um Sündenvergebung O Deus, bonum perenne, semper exorabilis, cerne fletum profluentem de medullis intimis, uincla criminum resolue, pone finem lacrimis. 25
Nolo me, pater, Auerni mancipes incendio, flamma quo iugis adurat membra citra terminum; hic repende quod meremur, sit quies post transitum.
Ein weiteres Element der spirituellen Buße, das Gebet, wird mittels des Gedichtes direkt durchgeführt: Das Gebet um Sündenvergebung. In Gebetsmanier beginnt es mit einer Anrede Gottes; der dreifache Reim in der ersten ‚Gebetsstrophe‘ verleiht dem Text Schwere, aber auch Eingängigkeit. Gleich in der Anrede Gottes als bonum perenne wird die Klage, das lyrische Ich werde nil boni ins Jenseits und in die Höllenstrafe mitnehmen, wiederaufgenommen und den vergänglichen Gütern der Welt wird Gott als das einzige unvergängliche Gut gegenübergestellt. Die Sprache, in der die Bitten an Gott formuliert werden, ist in der patristischen Prosa, Poesie wie Liturgie sehr gängig: Im zweiten Epithet semper exorabilis spiegelt sich die Hoffnung, dass für den reuigen Sünder die Buße nicht vergeblich sein wird; sich immer bitten zu lassen, ist eine Eigenschaft Gottes, die in Ps 89,13 und bei Prudentius erscheint und auch in der Liturgie auftaucht.201 Gott wird gebeten, auf das Weinen des lyrischen Ichs zu schauen (der Imperativ cerne ist eine überaus gängige Gebetsformel),202 dessen ehrliche, tiefe Erschütterung mit dem patristisch gängigen Ausdruck de medullis intimis ausgedrückt wird,203 und dem lyrischen Ich die „Fesseln der Verbrechen“ (V. 24: uincla criminum resolue) zu lösen. Letztere Bitte tritt in anderer Formulierung auch in carm. 5b,53 auf und ist wiederum ein überaus gängiger Ausdruck für das Erlösungshandeln Gottes, der besonders oft in den hispanischen Hymnen 200
Verecundus von Junca, satisfact. 5 (CCL 93,207 DEMEULENAERE): Sint epulum optanti mihi desiderabile planctus. 201 Vgl. Prudentius, cath. 8,99 (CCL 126,38 CUNNINGHAM). Vgl. für die liturgische Verwendung die Oratio super penitentem an Sonntagen im Liber Ordinum XXIIII (96 FÉROTIN): exorabilis esto super hunc famulum tuum. 202 Allein zweimal tritt es in Verecundus von Juncas Carmen de satisfactione paenitentiae auf; vgl. satisfact. 102 (CCL 93,210 DEMEULENAERE) und 117 (CCL 93,211 DEMEULENAERE). Vgl. für die liturgische Dichtung etwa Hymn. Hispan. 189,4–5 (CCL 167,678 CASTRO SÁNCHEZ). 203 Vgl. etwa Augustinus, civ. 22,21 (CCL 48,841 DOMBART): de intimis ardentis sancti amoris medullis.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
auftritt.204 Die Strophe endet schließlich mit der Bitte, den Tränen ein Ende zu setzen. Der Kontext dessen ist etwas schwer verständlich: Sind es die Tränen der Reue, denen Gott durch seine Vergebung ein Ende setzen, also obsolet machen soll? Ähnlich bittet Verecundus: „Vielleicht […] wird Er einmal deinem Weinen irgendeinen Trost spenden.“205 Hier wie dort bleibt es aber offen, ob das in diesem Leben bereits der Fall sein soll oder im Eschaton – Verecundus betrachtet freilich (aus der Position eines Büßers, der sich seiner Rettung nicht sicher sein kann, heraus) eine ohne Tränen verbrachte Zeit als verschwendete Zeit.206 Die folgende Strophe ist jedenfalls ebenfalls dem Gedanken gewidmet, dass das Leid des Büßers ein Ende haben möge. Das lyrische Ich bittet, von der Höllenstrafe – hier als incendium Auerni umschrieben – verschont zu bleiben. Der Ausdruck ‚Averner Brand‘, der auf den aufgrund seiner übelriechenden Dämpfe in der Antike als Tor zur Unterwelt betrachteten Averner See bei Cumae zurückgeht, ist zu Eugenius’ Zeiten und besonders im wisigotischen Spanien bereits völlig in den christlichen Sprachgebrauch übergegangen.207 Der Schrecken des Höllenfeuers besteht für Eugenius gerade darin, dass eine flamma iugis die membra (die Höllenstrafe ist also, übereinstimmend etwa mit Julian von Toledo, im weitesten Sinne körperlich gedacht)208 citra terminum, also ohne Ende, verbrennt. Demgegenüber bittet der Sprecher, seine Verfehlungen schon hic, in diesem Leben, bezahlen zu dürfen – ähnlich der Bitte um die morum correctio praesens in carm. 1,4. Es bleibt jedoch die Frage offen, was dieses „Vergelten“ (hic repende) der Schuld im Hier und Jetzt konkret 204
Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 5b,53 (CCL 114,215 ALBERTO): solue culpae uincula. Vgl. für die patristische Prosa z.B. Sedulius, op. pasch. 5,10 (CSEL 210,281 HUEMER), für die christliche Poesie Prudentius, cath. 9,96 (CCL 126,51 CUNNINGHAM) und schließlich drei hispanische Hymnen: Hymn. Hispan. 17,9–11 (CCL 167,166 CASTRO SÁNCHEZ); 80,45–46 (CCL 167,300 CASTRO SÁNCHEZ) und 146,41 (CCL 167,542 CASTRO SÁNCHEZ). Bei letzterem hat PÉREZ DE URBEL 1926, 219 aufgrund seiner inhaltlichen und sprachlichen Nähe (das Metrum ist ebenfalls ein trochäischer Septenar) sogar mit Eugenius in Verbindung gebracht; dass er aber der Verfasser sein könnte, erscheint mir aufgrund der vielen Elisionen, die der Hymnus aufweist (was Eugenius stark vermeidet, vgl. NORBERG 2004, 26) eher unwahrscheinlich. 205 Verecundus von Junca, satisfact. 36–37 (CCL 93,208 DEMEULENAERE): Forsan […] / et dabit ulla tuis solacia fletibus umquam. 206 Vgl. Verecundus von Junca, satisfact. 31 (CCL 93,208 DEMEULENAERE): Quid iuuat a lacrimis uacuum te perdere tempus? 207 Vgl. Emer. 2,27 (CCL 116,15 SANCHÉZ), sogar in Kombination mit mancipare: antris Auerni Tartareis mancipari magis magisque festinabat. Auch in den hispanischen Hymnen kommt der Ausdruck vor, vgl. Hymn. Hispan. 161,16 (CCL 167,590 CASTRO SÁNCHEZ): portasque auerni obstruat. 208 Vgl. Julian von Toledo, progn. 3,40 (CCL 115,112 HILLGARTH), im Anschluss an Augustinus: Sanctus Augustinus […] id pro certo asseuerasse dinoscitur, quod impiorum corpora absque sui consumptione et sempiternis ignibus ardeant.
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
251
bedeuten kann. Ist damit die Buße, also das Weinen und Klagen des lyrischen Ichs gemeint? Das verträgt sich zunächst schlecht mit Gott als aktiv Handelndem, der ‚vergilt‘, bezahlen lässt – auf der anderen Seite schreibt Eugenius in carm. 1,17 Gott die Kraft zu, den „Regen der Tränen“ zur Abwaschung der Sünden selbst zu spenden. Oder ist damit die Vorstellung gemeint, dass durch flagella wie Krankheiten oder Leiden aller Art die Strafe schon im Diesseits abgebüßt werden kann?209 (Hier stellt sich auch die Frage, als wie unmittelbar drohend der languor in V. 7 gedacht werden muss: Ist das lyrische Ich schon krank oder sieht es die Krankheit eher als notwendiges Altersübel in der Zukunft auf sich zukommen? Kann der languor schon Teil dieser Strafe sein?) Doch in anderen Gedichten, in denen die Dichter-persona durchaus von Krankheit, Leid und Unbill gequält wird und darüber klagt, wird das Leid nie explizit als Strafe Gottes interpretiert; lediglich in carm. 5b, wo das Leid aber ein kollektives Leid des ganzen Volkes ist, scheint diese Interpretation naheliegend. So müssen wir wohl hinsichtlich der Frage, wie diese Vergeltung auszusehen hat, ähnlich agnostisch bleiben wie das lyrische Ich selbst. Der Hauptfokus scheint ohnehin darauf zu liegen, dass nach dem Übergang (transitus) ins Jenseits sich das lyrische Ich Ruhe (quies) wünscht – für Eugenius oft ein positives Gegenbild zu den Stürmen und Anfechtungen der Welt, wie er etwa in carm. 4,7 den Frieden (pax) unter anderem als fessis requies, iam denique certa laboris beschreibt. g) V. 28–30: Ausweitung – mecum lacrimas effundite O genus mortale, mecum lacrimas effundite, pauperi praebete uictum, „parce“ Christo dicite; 30 forsitan iram refrenat, donat indulgentiam.
Nachdem das lyrische Ich seine eigene Bitte abgeschlossen hat, spricht es in der letzten Strophe des Gedichtes das gesamte Menschengeschlecht (O genus mortale) an. Während freilich schon zuvor die Leserinnen und Leser alles für das lyrische Ich Ausgesagte auch auf sich selbst beziehen konnten, werden sie nun explizit aufgefordert, den ‚Weg der Buße‘ mit dem lyrischen Ich (mecum) mitzugehen. Exemplarisch werden noch einmal die Bußvollzüge des Weinens (lacrimas effundite) und des Gebetes an Gott genannt. Das Gebet an Gott bzw. Christus um Schonung („parce“ Christo dicite) vollzieht die Dichter-persona selbst an mehreren Stellen, schon in den zwei vorhergehenden Strophen des carm. 5, aber auch im carm. 5b mit dem Refrain parce redemptor und in carm. 14,77. Was hier hinzukommt und bislang in carm. 5 nicht genannt war, ist das Almosengeben (pauperi praebete uictum), das auch in carm. 5b,50 als Bußakt 209
Vgl. zu dieser Vorstellung etwa Isidor von Sevilla, sent. 3,1,13 (CCL 111,196 CAZIER): Electos uitae istius aduersitate probari, ut, secundum Petrum, iudicium a domo Dei incipiat, dum in hac uita electos suos Deus iudicii flagello castigat.
252
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
genannt wird.210 Können wir es als eine exemplarische Konkretisierung der correctio der Taten, zu denen die Dichter-persona sich in V. 19 selbst mit dem Ausruf Corrige, crudelis, actus aufgerufen hat, interpretieren? In carm. 14 listet Eugenius in der Tat die die Taubheit ggü. der Stimme des Armen als eine der Sünden seiner Dichter-persona auf.211 Die Versorgung der Armen ist nicht nur eine von vielen möglichen guten Taten, sondern, basierend auf der Selbstidentifikation Christi mit den Armen (vgl. Mt 25,40), eine grundlegende Verpflichtung jedes Christen und jeder Christin – sogar unabhängig davon, ob sie wohlhabend sind oder nicht.212 Daher kann selbstverständlich das Unterlassen dieser Pflicht als Sünde angeführt werden, wie es in carm. 14 geschieht. Die Bedeutung des Almosengebens erschöpft sich jedoch nicht in der Vermeidung einer Unterlassungssünde, sondern ist darüber hinaus in vielfältige religiöse Diskurse eingebettet.213 Gerade in der Spätantike wird es auch zu einer Praxis, die im Besonderen eine Buße begleiten soll und der die Kraft zugesprochen wird, gerade lässliche Sünden zu tilgen,214 was auch im Kontext unseres Gedichtes eine durchaus naheliegende Auffassung wäre. Auch bei Isidor von Sevilla wird kenntlich, dass er das Almosengeben und die moralische correctio als zwei distinkte Kategorien sehen konnte, mehr noch, er kritisiert, dass das Almosengeben unter gewissen Umständen zu einem ‚faulen Ersatz‘ für die moralische Besserung werden konnte: Nulla scelera elemosinis posse redimi, si in peccatis quisque permanserit. Tunc autem fructu elemosinarum indulgentia conceditur, quando ab scelerum opere desinitur. Verum est quod peccata omnia misericordiae operibus expurgentur, sed iam caueat peccare qui misericordiam inpertitur. Ceterum nulla est delicti uenia, quando sic praecedit misericordia ut eam sequantur peccata.215
210
Eugenius von Toledo, carm. 5b,50 (CCL 114,215 ALBERTO): panem petenti porrigamus pauperi. 211 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 14,62 (CCL 114,230 ALBERTO): pauperis ad uocem mens mea surda fuit. 212 Vgl. RAMSEY 1982, 226–30 sowie a.a.O., 230–241 für die universelle Verpflichtung aller, Almosen zu geben, die aber im Falle der Armen noch nicht in materieller Form gegeben werden mussten. Vgl. zur Praxis des christlichen Almosengebens in den unterschiedlichen Gruppen FINN 2006. 213 FINN 2006, 178 zählt die allein schon biblisch gegebenen Zwecke, die das Almosengeben haben konnte, auf: „to ensure prosperity in this life (Proverbs 28: 27), as a matter of justice (Psalms 36: 21, 111: 9), as a means to win God’s favour in general by securing the prayers of the poor (Sirach 35: 21), as a way to escape in particular the ever-present threat of death in a violent world (Tobit 4: 10), as expiation for sin (Daniel 4: 24; Sirach 3: 30, Tobit 12: 9), as a way to secure treasure in heaven (Matthew 6: 19–20, Luke 18: 22), as wealth lent to God to be repaid with interest of a spiritual kind (Proverbs 19: 17), as an act of kindness towards Christ in the person of the poor (Matthew 25: 31–46).“ 214 Vgl. zur Etablierung des Almosengebens als christliche Praxis und zu ihrer Bedeutung für die Tilgung von (gerade lässlichen) Sünden BROWN 2015, 83–114. 215 Isidor von Sevilla, sent. 3,60,6 (CCL 111,322 CAZIER).
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
253
Keine Vergehen können durch Almosen beglichen werden, wenn jemand in den Sünden verblieben ist. Nachsicht wird aber dann als Ertrag der Almosen zugestanden, wenn vom Tun der Vergehen abgelassen wird. Es ist wahr, dass alle Sünden durch Werke der Barmherzigkeit gesühnt werden, aber noch hüten zu sündigen soll sich, wer Barmherzigkeit zuteilwerden lässt. Ferner gibt es keine Vergebung für eine Tat, wenn die Barmherzigkeit so vorausgeht, dass die Sünden auf sie folgen.
Der Kontext unseres Gedichtes (dass die Aufforderung zur Buße unterschiedslos an alle Menschen geht, deren Sünden in diesem Gedicht ebensowenig konkretisiert sind wie diejenigen des lyrischen Ichs selbst, und deren correctio folglich je anders aussehen muss) lässt in der Tat eher an Letzteres denken: an das Almosengeben als Kompensation für begangene Sünden jeder Art. Das Gedicht schließt mit der Hoffnung auf die Wirksamkeit der Bußpraktiken: mit der zarten Hoffnung, Gott bzw. Christus werde dann „vielleicht“ (forsitan) seinen Zorn zügeln (iram refrenat)216 und stattdessen Vergebung (indulgentia) schenken. 5.2.4 Fazit a) Exhortatio lamentationis – exhortatio paenitentiae Mit carm. 5 verfasst Eugenius ein Gedicht, in dem sich Vergänglichkeitsklage und Exhortatio paenitentiae miteinander eng verbinden und einander bedingen. Mit der Sündhaftigkeit, die das lyrische Ich bereits in der ersten Strophe sich selbst zuschreibt, wird die Vergänglichkeit der Welt, an die sich (wie implizit deutlich wird) das lyrische Ich zu sehr geklammert hat, zu einem großen Schrecken. Umgekehrt entlarvt der drohende Niedergang eben diese Freuden der Welt als wertlos und mahnt dazu, sich von der Diesseitsorientierung loszulösen und das Ewige zu suchen. Das Vergänglichkeitsthema setzt sich bis in die Beschreibung der Höllenstrafe fort: Sie wird nicht nur (‚positiv‘) als Anwesenheit des grausam brennenden Feuers geschildert, sondern auch ‚negativ‘ als Abwesenheit eines solacium, von jedwedem Guten und schließlich der Menschen, die einem lieb und teuer sind – all den falsa mundi gaudia, denen das lyrische Ich die Priorität eingeräumt hatte. Dem steht Gott als das einzige bonum perenne gegenüber, das es zu suchen gilt. Die durch die Vergänglichkeit notwendige Umkehr zu Gott wird in ihren Modalitäten klar als Buße beschrieben: Das Mittel, Gottes Vergebung zu gewinnen, sind die Bußpraktiken der correctio, des reinigenden Weinens, des Sündenbekenntnisses vor Christus, zu der das lyrische Ich sich zunächst selbst
216
Ira und indulgentia bzw. uenia erscheinen übrigens auch in carm. 14 als zwei widerstreitende Prinzipien, die das Verhältnis des lyrischen Ichs zu seinen Mitmenschen prägt. Vgl. zur sprachlichen Figur auch Braulio von Saragossa, hymn. 5,5 = Hymn. Hispan. 87,25 (CCL 167,327 CASTRO SÁNCHEZ): qui flectat iram und Verecundus von Junca, satisfact. 20 (CCL 93,207 DEMEULENAERE): submissisque Dei precibus deflecte furorem.
254
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
aufruft, und des Gebetes, das bereits innerhalb des Gedichtes poetisch vollzogen wird. Tränen, Bekenntnis und Gebet sind als Bußformen in carm. 14 deutlich präsenter; deren religiöse Signifikanz und Interaktion mit dem Genre der Dichtung werden dort ausführlich dargestellt. Was in carm. 14 – verständlicherweise, befindet sich dort das lyrische Ich doch im hohen Alter und im Angesicht des Todes – in der Buße fehlt, ist die correctio. Sie fehlt übrigens auch in Verecundus’ carmen de satisfactione poenitentiae. Eugenius dagegen bittet schon in seiner ‚großen‘ Oratio in carm. 1 um die morum correctio praesens,217 also um eine moralische Besserung, die noch „gegenwärtig“, also zu Lebzeiten, geschehen solle. Wir erfahren aus diesem Gedicht auch, was sich Eugenius unter ‚korrektem‘ moralischem Verhalten vorgestellt haben mochte: die rechte Verschwiegenheit und das Hüten der Zunge (carm. 1,6: secreti tacitus et linguae fulmine cautus), Treue und Beständigkeit in der Freundschaft (carm. 1,7: Da fidum socium, da fixum semper amicum), Nüchternheit, rechte Enthaltsamkeit und Sparsamkeit (carm. 1,8: da blandum sobrium parcumque ministrum) und natürlich die Abwesenheit von besonderen Schandtaten (carm. 1,13: Crimine nec laedam quemquam). All dies umfasst die Ebenen des Wollens, der Tat und des Wortes: „Nichts Schändliches möge ich je wünschen, tun oder aussprechen.“218 Freilich gehört auch die rechte Gottesbeziehung dazu. Eugenius schließt seine Auflistung des richtigen Verhaltens mit dem Wunsch: „Dich möge mein Geist ersehnen, meine Zunge besingen, mein Handeln sichtbar machen.“219 All dies ist in carm. 5 nicht ausgeführt, sondern muss ergänzt werden – wie dargelegt, liegt der Fokus auf den von Sünden reinigenden Tränen, der Klage und dem Gebet, nicht auf einem ‚Besserungsprogramm‘ als Ausweg aus der Sünde. Als ein solches können wir wohl nicht einmal die kollektive Aufforderung zur Armenfürsorge begreifen, sondern müssen sie mehr als Versuch der Kompensation der Sünden interpretieren – auch wenn beide Aspekte hier sicherlich nicht so trennscharf unterschieden werden wie etwa in der zitierten Passage aus Isidors Sententiae. Die nur kurze Erwähnung der correctio ist dabei auch der Kürze des Gedichtes, der größere Fokus auf den Tränen und der Sündenklage dem Genre des Gedichtes geschuldet, das als carmen luctuosis questibus angegeben wird. Dennoch ist beispielsweise fast das gesamte zweite
217
Eugenius von Toledo, carm. 1,4 (CCL 114,205 ALBERTO). Eugenius von Toledo, carm. 1,15 (CCL 114,206 ALBERTO): nil turpe cupiam, faciam uel proloquar umquam. 219 Eugenius von Toledo, carm. 1,16 (CCL 114,206 ALBERTO): Te mens desideret, lingua canat, actio promat. 218
5.2 carm. 5: Eine Exhortatio zu Klage und Buße
255
Buch von Isidors Synonyma, das von Ildefons als librum lamentationis220 bezeichnet wird, der moralischen Besserung der sündigen Seele gewidmet,221 wie auch in seinem spirituellen Lehrbuch der Sententiae das Ablassen von der Sünde die Grundbedingung für die Wirksamkeit einer jeden Bußpraktik darstellt.222 Auch wenn Eugenius dies in carm. 5 nicht so stark macht (vgl. aber carm. 1 im Kontext der allgemeinen Lebensführung), bleibt festzuhalten, dass die Buße bei Eugenius auch hier nicht auf der rein spirituellen Ebene stehenbleibt, sondern sich auch im Handeln nach außen hin erweisen muss. b) Zwischen persönlicher Klage und Pastoral Interessant ist in carm. 5 auch die Dichtungshaltung: Das Gedicht präsentiert sich selbst als ein von einem lyrischen Ich vorgetragenes carmen luctuosis questibus, als ein persönliches Klagegedicht. Beklagt wird zunächst vor allem die Hinfälligkeit der Welt und des eigenen menschlichen Lebens, im Kontext dessen wird die Klage aber auch zu einer Selbst-persuasio und einer Selbstanklage des lyrischen Ichs. Sie hat also zunächst einen autodidaktischen Effekt, der in der Rezeption durch die Leserinnen und Leser freilich zu einem allgemeinen didaktischen Effekt werden kann. Es steht den Leserinnen und Lesern natürlich immer und grundsätzlich frei, sich mit der persona Eugenius zu identifizieren und sich Klage wie Selbstanklage auch selbst zu eigen zu machen. Insbesondere die Form des inneren Dialogs ab der dritten Strophe, in der sich das lyrische Ich selbst mit Du anspricht, erleichtert es, sich angesprochen zu fühlen, auch wenn die Leserinnen und Leser streng genommen immer nur dem lyrischen Ich zuhören, wie es sich selbst anredet. Dieser Effekt wird von der letzten Strophe untermauert, wenn durch die Aufforderung, mecum zu weinen, die Armen zu speisen und Christus um Schonung zu bitten, die Illusion des inneren Monologs aufgebrochen wird und die Leserinnen und Leser explizit in die Bußaufforderung hineingenommen werden. Das carm. 5 wird dadurch zu einer Exhortatio paenitentiae, bei der die persona Eugenius die Führung übernimmt und als nachahmenswertes Beispiel vorangeht. Das ist nicht nur ein didaktischer Kniff, sondern konstituiert im Bußakt gleichzeitig auch ein soziales Element (was umso bedeutender scheint, da auch die kanonische Buße sowohl 220
Ildefons von Toledo, vir. ill. 8,135 (CCL 114A,611 CODOÑER MERINO). Vgl. ELFASSI 2009, VIII, der allerdings auf den sehr unterschiedlichen Charakter der beiden Bücher der Synonyma verweist: „Les deux livres sont donc très différants, non seulement par leur contenu, mais plus encore par leur tonalité: le premier est plus lyrique et le second est nettement plus normatif.“ 222 Vgl. für das Almosengeben die oben zitierte Stelle; für das Beklagen der Sünde Isidor von Sevilla, sent. 2,13,7 (CCL 111,121 CAZIER): Nam qui plangit peccatum, et iterum admittit peccatum, quasi si quis lauet laterem crudum, quem quanto magis elauerit, tanto amplius lutum facit. Vgl. für das Beweinen (freilich von der Klage kaum zu trennen) sent. 2,16,4a (CCL 111,129 CAZIER): Quisquis ergo culpas praeteritas plorat, hunc necesse est modum teneat, ut sic admissa defleat, ne iterum flenda committat. 221
256
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Elemente des Ausschlusses aus der Gemeinschaft, aber auch gemeinschaftliche Buße und die Bildung von Sündergruppen kennt).223 Der zunächst für sich allein klagende Sünder sieht sich nun in eine Gemeinschaft der Sündigen gestellt, die durch die Universalität der Sünde ebenso geeint ist wie durch die universelle Notwendigkeit der Buße – und zu der selbstverständlich auch der ranghöchste Bischof Hispaniens gehörte.
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit 5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
Text: Vae mihi, uae misero, qui semper fessus anhelo et fractus animo languida membra traho. Morbus adest iugis, desunt fomenta salutis: hinc dolor ossa terit, cor pauor inde quatit. 5 Omnia quae prosunt ualidis, sunt noxia nobis, dum stomachus tenuis uiscera laesa gerit. Frigida me laedunt nec semper feruida prosunt: dum male corpus habet, nec mea uita placet. Da, Christe, quaeso, ueniam, da, Christe, medellam, nam taedet animum tot mala ferre simul. 10
Übersetzung: Wehe mir, wehe mir Armem, der ich immer vor Erschöpfung keuche und, gebrochen im Geiste, matte Glieder mit mir herumschleppe. Ununterbrochen ist Krankheit bei mir, fehlt der Gesundheit Linderung: hier reibt der Schmerz meine Knochen auf, dort erschüttert Angst das Herz. 5 Alles, was den Gesunden nützt, ist schädlich für mich, solange mein dürrer Bauch wunde Eingeweide in sich trägt. Kälte verletzt mich, nicht immer ist Hitze von Nutzen: solange es dem Körper schlecht geht, gefällt mir mein Leben auch nicht. Schenke, ich bitte dich, Christus, Vergebung, schenke, Christus, Heilung, 10 denn meinen Geist widert es an, so viele Übel auf einmal zu tragen.
223 Vgl. dazu MEENS 2014, 18 sowie HILLNER 2015, 70–71 für den Ausschluss von Teilen der Messe und a.a.O. 289–300 für die Buße in der Abgeschiedenheit eines Klosters, was Gregor freilich mit spirituell-asketischen Vorzügen einer solchen Buße begründet, was aber auch ein Schutz vor der öffentlichen Gerichtsbarkeit sein konnte; vgl. diesbezüglich auch CAVERO DOMÍNGUEZ 2017, passim speziell für das wisigotische Spanien; zur zeitlichen Entwicklung der öffentlichen Buße sowie zu deren Forschungsgeschichte vgl. DE JONG 2000, passim.
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
257
5.3.1 Vorbemerkungen: Ein Prolog zu carm. 14–14b? Das kurze, in elegischen Distichen verfasste Gedicht über die Krankheit wird aufgrund der thematischen Ähnlichkeit meist in Bezug zum direkt folgenden carm. 14 gelesen,224 das das längste Gedicht in der Sammlung des Eugenius ist und vom Alter handelt, ein Thema, in dem allerdings auch Krankheit und Tod als Manifestation und Folge des Alters miteingeschlossen sind. Wie bereits bemerkt (vgl. Kap. 3.2.3), ist es innerhalb des Libellus carminum nicht ungewöhnlich, dass themenähnliche Gedichte nebeneinander gruppiert werden; ein Beispiel dafür sind die vier aufeinanderfolgenden Nachtigall-Gedichte (carm. 30–33). Für carm. 13 hat Kurt Smolak sogar vorgeschlagen, das Gedicht als Auftakt eines die carm. 13, 14 und 14b umfassenden Themenkomplexes zu betrachten, den er mit den Stichworten „Krankheit, Alter, Beinahe-Tod und Genesung“ beschreibt.225 Innerhalb dessen bilde carm. 13 zusammen mit dem ‚rückblickhaften‘ carm. 14b einen Rahmen: Das vorliegende Gedicht stelle die Krankheit des Eugenius (als lyrisches Ich zu verstehen)226 vor und gebe damit das Thema und den Anlass des Gedichtkomplexes an. Von Anfang an führe Eugenius seine Krankheit auf seine eigene Sündhaftigkeit zurück; deshalb bitte er auch am Ende von carm. 13 um uenia, um Vergebung für seine Sünden. Carm. 14b, das Smolak im Gegensatz zu Alberto nicht als eigenständiges Gedicht, sondern als Teil des metrisch heterogenen und daher ohnehin bereits in sich stark gegliederten carm. 14 sieht, informiere dann über den Erfolg dieser Bitte, nämlich über die – geistige wie körperliche – Genesung des Eugenius, und schließe den Themenkomplex ab.227 So legitim es aufgrund der inhaltlichen Nähe ist, die Gruppierung von carm. 13–14b in der Abfolge Krankheit – Alter – Tod nicht als zufällig zu betrachten, so problematisch erscheint mir Smolaks Annahme, das Gedicht sei als Teil einer von vornherein bewusst gestalteten, über Gedichtgrenzen hinaus-
224
Z.B. spricht FEAR 2010, 63 vom „similar purpose“ der beiden Gedichte. Vgl. SMOLAK 2010, 83. 226 Leider wird diese Differenzierung gerade bei den Gedichten über Krankheit und Alter, die aufgrund der möglichen Anknüpfungspunkte an die Biographie des selbst krankheitsgeplagten Eugenius oft biographisch gelesen werden, oft unterlassen. Dennoch bewahrt sie meines Erachtens vor übereilten Rückschlüssen einerseits auf die Biographie des Eugenius, andererseits auf seine Aussageabsicht. Denn selbst wenn die Gedichte des Eugenius sich aus seinem eigenen Leben speisen (was sie auf die eine oder andere Weise sicher tun), ist es doch im Einzelnen unmöglich, nachzuvollziehen, auf welche Weise sich eigenes Erleben und künstlerische Gestaltung durchdringen. Auch dass Eugenius in vielen Gedichten unter eigenem Namen auftritt, muss nicht heißen, dass er Aussagen zu seiner eigenen Person macht, vgl. die Ausführungen von HOLZBERG 2006, 51–68 zu Ovid. 227 Vgl. SMOLAK 2010, 83. 225
258
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
gehenden inhaltlichen Einheit228 mit einer fortlaufenden Handlung zu betrachten. Eine solche müsste jedoch vorliegen, wenn man, wie Smolak, davon ausgehen möchte, dass wir in carm. 14b von der Heilung der in carm. 13 vorgestellten Krankheit erfahren, die Gott dem lyrischen Ich aufgrund seines Sündenbekenntnisses in carm. 14 zuteilwerden lasse. Ein Argument gegen die Annahme einer solchen Rahmenkomposition ist bereits, dass die weitaus offensichtlichere Rahmung durch den Beginn von carm. 14 und das Ende von carm. 14b (vgl. carm. 14,2: carmina maesta cano und carm. 14b,20: carmine planxi) gebildet wird: durch die Ankündigung der Trauergesänge und schlussendlich durch die Feststellung, dass diese nun abgeschlossen sind. Überhaupt liest sich der Beginn von carm. 14, in dem im Unterschied zu carm. 13 die eigene Dichtung reflektiert und ein Ausblick auf die zu erwartenden Inhalte gegeben wird (vgl. die Ausführungen zu carm. 14 in Kap. 5.4.1), wie ein typischer Gedichtbeginn einer eigenen, größeren Einheit und nicht als Teil einer Einheit, die bereits zuvor begonnen hat. Im Zuge dessen ist übrigens von einem dolor nouus als Anlass von carm. 14 die Rede, den man sicherlich mit Kurt Smolak als ‚nie gekannten‘ und insofern neuen Schmerz auffassen muss,229 der aber vielleicht auch als neuer Schmerz im Verhältnis zu anderen, zuvor beschriebenen Leiden verstanden werden kann. Die Formulierung würde jedenfalls wenig sinnvoll wirken, wenn es um denselben Schmerz ginge, der bereits in carm. 13 beschrieben wurde. Umgekehrt weist nichts darauf hin, dass carm. 14 als direkte Fortsetzung von carm. 13 zu verstehen ist. Aber insbesondere inhaltliche Gründe sprechen gegen diese Auffassung: Der „zum Teil […] deutliche[…] Rückgriff auf die Krankheitsschilderung von carm. 13“,230 den Smolak in carm. 14b sieht, ist keinesfalls eindeutig und funktioniert ebenso gut als Rückgriff auf carm. 14, wie zu zeigen sein wird. Vor allem aber ist die von Smolak genannte Progression von der Krankheit über das Alter zur Todesfurcht und abschließenden Genesung bei genauer Betrachtung eine zu grobe Vereinfachung der inhaltlichen Linien. So wird in carm. 14b an keiner Stelle deutlich, dass von einer Genesung die Rede sein kann, sondern es wird dort lediglich auf die Klagepoesie, die das lyrische Ich über Krankheit und Alter verfasst hat, zurückgeblickt – was verschiedene Deutungen zulässt (vgl. die Detailanalyse von carm. 14b).231 Ebenfalls bleibt dabei unberücksichtigt, dass auch in carm. 14 noch einmal gesondert auf das Thema Krankheit, diesmal als Begleiterscheinung oder Manifestation des Alters, eingegangen 228
SMOLAK 2010, 83 spricht hier von einer „Fünfereinheit mit Rahmung“, bestehend aus 1) carm. 13, 2) dem Anfang von carm. 14 im elegischen Distichon, 3) dem Antihymnus auf das Greisenalter im jambischen Versmaß, 4) dem Antihymnus auf den Tod, wiederum im elegischen Distichon, sowie 5) carm. 14b in sapphischen Strophen, das Smolak gegen den Herausgeber Paulo Alberto als Teil von carm. 14 betrachtet. 229 Vgl. SMOLAK 2010, 81. 230 SMOLAK 2010, 83. 231 Vgl. CODOÑER 1981, 338.
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
259
wird. Dies wird zu Beginn des Gedichtes explizit angekündigt: ante tamen nostris ipsa [sc. senecta] pandetur iambis / quam noceat morbis intoleranda suis (carm. 14,5–6). Behält man die Sichtweise Smolaks bei, müsste man hier von einer inhaltlichen Doppelung ausgehen: Das Thema der Krankheit würde zweimal behandelt. Der Unterschied zwischen den beiden Gedichten besteht freilich darin, dass in carm. 14 das Thema Krankheit nicht eigenständig, sondern als Begleiterscheinung des Alters behandelt wird und der angekündigte jambische ‚Anti-Hymnus‘ sich explizit an die crudelis aetas, o senectus improba (carm. 14,7) richtet, nicht an die Krankheit. Dasselbe ist aber auch in carm. 14b der Fall, in dem zwar die Krankheit als Ereignis hervortritt (carm. 14b,9: accidit lasso grauis aegritudo), jedoch ebenfalls mit dem Alter in Verbindung gebracht wird (vgl. carm. 14b,7: dumque me pigra peteret senectus). Das geschieht in carm. 13 nicht, sondern die Krankheit wird überhaupt nicht kontextualisiert oder reflektiert. Es erscheint daher wesentlich plausibler, carm. 13 als eine zunächst von carm. 14 und 14b unabhängige Komposition zu betrachten, die sicherlich im Nachhinein aufgrund der thematischen Nähe mit diesen zusammengestellt wurde, aber nicht von vornherein eine Funktion für den Aufbau eines gedichtübergreifenden Narrativs erfüllt. 5.3.2 Struktur Ein Gliederungsprinzip ist in carm. 13 nicht unmittelbar erkennbar. Am ehesten noch bietet sich eine Dreiteilung in den anfänglichen Weheruf (V. 1a), die Begründung des Weherufes durch die Beschreibung der bzw. Klage über die Krankheit (V. 1b–8) und das abschließende Bittgebet an Christus (V. 9–10) an. Doch auch dieses Schema geht nicht ganz auf, da bereits die mit nam nachgeschobene Begründung für das Bittgebet eigentlich wieder der Klage zuzurechnen ist. Innerhalb der Beschreibung der Krankheit ließe sich noch die allgemeine Beschreibung der Krankheit (V. 1b–4) und der anhand mehrerer Beispiele ausgeführte Gedanke, dass Gutes sich beim Kranken in Schädliches verkehrt (V. 5–8), unterscheiden. Trotz dieser Möglichkeiten der Einteilung ist der Gedankengang insgesamt wenig stringent. Beispielsweise wird die Aussage, dass kalte und warme Dinge einem Kranken nicht zuträglich sind, im selben Distichon damit verbunden, dass der Sprecher sogar des Lebens überdrüssig ist – zwei Aussagen, die in keinem einleuchtenden logischen Verhältnis zueinander stehen. So wirkt die logische Struktur stellenweise wie ein assoziatives gedankliches Springen, das sich aus oft nicht erkennbaren Gründen mal dem einen, mal dem anderen Aspekt der Krankheit zuwendet. Es könnte fast der Eindruck entstehen, die Leserinnen und Leser sollten dadurch eine Ahnung vom geistigen Zustand des lyrischen Ichs erhalten – denn der Geist wird, wie noch zu zeigen ist, als ebenso von der Krankheit beeinträchtigt vorgestellt wie der Körper.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
5.3.3 Metrik Das kurze Gedicht ist, dem Thema der Klage gemäß, in elegischen Distichen verfasst.232 Auffällig ist, wie in zahlreichen anderen Gedichten, die Tendenz zum Binnenreim: Die Wortendungen vor der Penthemimeres oder Hephthemimeres im Hexameter bzw. vor der Mittelzäsur im Pentameter und die Wortendungen am Versende sind durchweg gleich. Ausnahmen bilden hier nur die Verse 6 und 10. 5.3.4 Kommentar a) V. 1–4: Einführung ins Thema – Krankheit als körperlich-geistiges Phänomen Vae mihi, uae misero, qui semper fessus anhelo et fractus animo languida membra traho. Morbus adest iugis, desunt fomenta salutis: hinc dolor ossa terit, cor pauor inde quatit.
Das Gedicht beginnt mit einem Weheruf über die eigene Person, die im selben Zug als miser charakterisiert wird. Dieses sprachliche Mittel kommt sowohl bei Eugenius selbst als auch in seinem literarischen und kulturellen Umfeld durchaus häufig vor, steht dort allerdings meist in einem anderen thematischen Kontext: im Diskurs um Sünde und Buße.233 Es lassen sich unzählige Beispiele finden, die dies gerade für das wisigotische Spanien belegen. So definiert zwar Isidor das uae neutral als interiectio dolentis,234 verwendet es selbst aber durchweg im Kontext der Sünde.235 Ein weiteres Beispiel für diese Verwendung –
232
Dies ist zu seiner Zeit nach wie vor geltende metrische Theorie, vgl. Isidor von Sevilla, orig. 1,39,14 (78 LINDSAY): Elegiacus autem dictus eo, quod modulatio eiusdem carminis conveniat miseris und, ihn zitierend, Julian von Toledo, gramm. 22,29 (227 MAESTRE YENES). 233 Ich verwende den Ausdruck im selben Sinne wie UNGVARY 2018a, 330 („discourse of penance“), der sich wiederum auf BROWN 2015, 124–149 bezieht. Peter Brown verwendet diesen Begriff als Reflexionsbegriff für eine Sprache aus dem Feld von Sünde, Sühne und Konversion, die auch Auswirkungen auf die Konstitution und Aufrechterhaltung politischer und religiöser Hierarchien hat, und bezieht sich dabei auf Entwicklungen des 4. und 5. Jahrhunderts in Gallien. 234 Isidor von Sevilla, diff. 1,408 (593) (268 CODOÑER). 235 Das prägnanteste Beispiel, das auch den Bezug auf die eigene Person hat, ist Isidor, sent. 2,16,4b (CCL 111,129 CAZIER): Vae mihi, misero Isidoro, qui et paenitere retro acta neglego, et adhuc paenitenda committo! Vgl. auch sent. 3,32,11 (CCL 111,272 CAZIER). Die übrigen bei Isidor zu findenden Belege für uae sind Bibelzitaten entnommen, die aber meist ebenfalls im Kontext von Sünde und Buße auftreten. Interessant ist auch, dass Isidor das uae benutzt, um die Etymologie des Namens Eua (als Anagramm zu uae) zu erklären: So sei Eva, zunächst der Ursprung des Lebens, aufgrund ihrer „Pflichtverletzung“ (praeuaricatio) auch die Ursache für die Todesverfallenheit des Menschen und daher dessen Unglück geworden
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
261
zumal in Kombination mit der ersten Person Singular – ist Verecundus von Junca, dessen carmen de satisfactione paenitentiae Eugenius bekannt gewesen sein dürfte:236 Vae plangendo mihi lacrimarum fonte diurno.237 Dass das Adjektiv miser auch den armen Sünder bezeichnen kann, belegt Eugenius selbst zu Genüge (vgl. carm. 14,80 und carm. 19,4). Er verwendet es aber auch als unspezifische Bezeichnung für etwas Unglückliches oder sogar Unglück bringendes (vgl. carm. 21,14 und carm. 15,3). Den Grund für das Unglück beschreibt Eugenius zunächst indirekt, indem er in einem Relativsatz über die Mattigkeit des lyrischen Ichs das Thema des Gedichtes bereits andeutet. Explizit genannt wird dieses erst im dritten Vers: Morbus […] iugis, anhaltende Krankheit, und im Umkehrschluss die Abwesenheit von salus (hier wie auch in carm. 1 aufgrund des Kontextes zumindest in erster Linie als ‚Gesundheit‘ zu verstehen). Die salus wird dadurch wie bereits in carm. 1,10 als hohes Gut charakterisiert. In den anderthalb Versen über die Mattigkeit des lyrischen Ichs, die der Themenangabe vorausgehen, lässt sich zudem eine interessante Beobachtung machen: Die Mattigkeit umfasst einerseits ganz klar den Körper. Sie äußert sich in Schweratmigkeit (anhelo) und in der Abgeschlagenheit der Glieder (languida membra). Andererseits ist auch der animus von dieser Mattigkeit betroffen: „Gebrochen im animus“ schleift das lyrische Ich seine matten Glieder mit sich. Dieselbe doppelte Betroffenheit zeigt sich auch im vierten Vers, der durch seine chiastische Struktur (dolor ossa […] cor pauor), aber auch durch seine parallelen Elemente (hinc […] inde; Positionierung der Verben terit und quatit jeweils am Ende des Teilsatzes) diese Balance auch sprachlich sehr gelungen ins Bild bringt: Während der Schmerz die Knochen aufreibt, erschüttert Furcht das Herz. Diese Beobachtungen decken sich in gewisser Weise auch damit, dass die interiectio dolentis aus V. 1 (Vae) vor allem dem seelisch-geistlichen Bereich der Sündenklage entlehnt zu sein scheint: Krankheit betrifft bei Eugenius nicht nur den Körper, sondern auch den Geist.238 Diese zwischen körperlicher und geistiger Ebene alternierende Sprache, in der die Krankheit des lyrischen Ichs beschrieben wird, erscheint dabei, blickt man in den weiteren kulturellen Kontext des Eugenius, kaum idiosynkratisch, sondern sehr gängig, wie bereits die Einordnung der Korrespondenz des Eugenius vor dem Hintergrund der Gepflogenheit der Zeit in Kap. 2.2.3 und 2.2.4 gezeigt hat. Besonders erinnert die Krankheitsschilderung aber an diejenige (vgl. Isidor, orig. 7,6,5 [o.S. LINDSAY]). Die Stelle weist indirekt auf einen Konnex von (Todes-)Leid des Menschen und dessen Sündhaftigkeit hin. 236 Vgl. die im Index der Edition von ALBERTO 2005a, 437 genannten Parallelstellen bei Eugenius; vgl. zur Bekanntheit des Verecundus in Spanien MARTÍN-IGLESIAS 2013, 276. 237 Verecundus von Junca, satisfact. 47 (CCL 93,208 DEMEULENAERE). 238 Dies wurde bereits von CODOÑER 1981, 337 anhand dieses Gedichtes bemerkt: „It is interesting that in a poem about illness the vocabulary referring to spiritual aspects is almost as abundant as that which refers to the physical.“
262
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Gregors des Großen, mit der er sich im Widmungsbrief an Leander von Sevilla, der die Moralia in Iob begleitete, für eventuelle Mängel seines Werkes entschuldigt: Nam dum molestia corpus atteritur, afflicta mente etiam dicendi studia languescunt. Multa quippe annorum iam curricula deuoluuntur, quod crebris uiscerum doloribus crucior, horis momentisque omnibus fracta stomachi uirtute lassesco, lentis quidem, sed tamen continuis febribus anhelo.239 Denn während Beschwernis den Körper aufreibt, liegen, da mein Geist davon mitgenommen ist, auch die rhetorischen Bemühungen darnieder. Denn schon viele Jahre lang ist es so, dass ich von häufigen Organschmerzen gequält werde, zu jeder Stunde und in jedem Augenblick wegen der gebrochenen Kraft meines Magens erschöpft bin und in zwar leichtem, aber doch nicht endendem Fieber keuche.
Auch Gregors Geist ist von seiner Krankheit mitgenommen, was seine Studien nicht unerheblich behindert. Freilich schreibt Gregor einen Brief, in dem die Klage nur am Rande seinen Platz hat; sein Ausdruck geistigen Übels (afflicta mente) scheint somit gedämpfter als Eugenius’ absolute Aussage, im Geist geradezu zerstört zu sein: fractus animo. Doch auch im körperlichen Ausdruck der Krankheit erkennen wir – aufgrund des begrenzten Wortschatzes zur Krankheit freilich nicht überzubewertende – Parallelen, etwa das Keuchen (anhelo), die Abgeschlagenheit (fessus; languida membra traho – lassesco) die Betonung der Dauer der Leiden (semper – continuis febribus), das ‚Aufreiben‘ des Körpers (dolor ossa terit – molestia corpus atteritur). Die konkreteste Parallele ist jedoch die Beschreibung der Schädigung des Magens (vgl. unten, V. 6: dum stomachus tenuis uiscera laesa gerit), die wiederum bei Gregor (fracta stomachi uirtute) absoluter beschrieben wird als bei Eugenius, der lediglich von einer Schwäche des Magens spricht. Bis auf das Fieber finden wir sämtliche Symptome Gregors auch in carm. 13 wieder. Der große Unterschied zwischen Eugenius und Gregor liegt jedoch in der Umgangsweise mit dieser Litanei der Schmerzen. Im unmittelbaren Anschluss an die Schilderungen äußert Gregor Leander gegenüber, dass er das Leid, das er zu ertragen hat, durchaus als heilsbedeutsam begreifen kann: Interque haec dum sollicitus penso, quia scriptura teste: Omnis filius, qui a Deo recipitur, flagellatur, quo malis praesentibus durius deprimor, eo de aeterna certius praesumptione respiro.240 Und während ich unterdessen dies sorgfältig überdenke, bin ich, weil die Schrift bezeugt: Jeder Sohn, der von Gott angenommen wird, wird gezüchtigt (Hebr 12,6), je härter ich durch die gegenwärtigen Übel niedergedrückt werde, desto sicherer hinsichtlich der Vorahnung des Ewigen erleichtert.
239 240
Gregor der Große, moral. epist. 5 (CCL 143,6 ADRIAEN). Gregor der Große, moral. epist. 5 (CCL 143,6 ADRIAEN).
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
263
Auf eine solche Wendung warten wir in Eugenius’ carm. 13 jedoch vergeblich, auch wenn die abschließende Bitte des lyrischen Ichs um uenia eine Deutung der Krankheit mit Bezug auf die Sündhaftigkeit der Dichter-persona nicht ausschließt – entfaltet wird dies jedoch nicht.
b) V. 5–8: Auswirkungen der Krankheit – Gutes wird schädlich 5
Omnia quae prosunt ualidis, sunt noxia nobis, dum stomachus tenuis uiscera laesa gerit. Frigida me laedunt nec semper feruida prosunt: dum male corpus habet, nec mea uita placet.
Als weiteres ‚Symptom‘ der Krankheit wird daraufhin der Gedanke eingeführt, dass Dinge, die für gesunde Menschen gut sind, beim Kranken eine negative Wirkung entfalten: Omnia quae prosunt ualidis, sunt noxia nobis. Wir finden diesen medizinischen Allgemeinplatz übrigens auch bei Isidor belegt, der ihn allerdings verwendet, um anhand dessen eine spirituelle Aussage zu tätigen: Item sol inluminat et exurit et opaco tempore confouet sanos, febricitantes uero flagrantia geminati caloris incendit. Ita et Christus credentes fidei spiritu uegetante inluminat, negantes se aeterni ignis ardore torrebit.241 Ebenso erleuchtet die Sonne und brennt, und hegt die Gesunden in dunkler Zeit, die Fieberkranken aber lässt sie mit dem Brand doppelter Hitze erglühen. So erleuchtet auch Christus die Glaubenden mit dem stärkenden Geist des Glaubens, die ihn aber verleugnen, wird er mit der Glut des ewigen Feuers versengen.
In Eugenius’ Variante des Topos (der hier seinen ursprünglichen ‚Ort‘, nämlich die Krankheit, nicht verlässt) wird auch ein zweites deutlich, das sowohl Carmen Codoñer als auch Kurt Smolak zu einem Prinzip der Dichtung des Eugenius erklärt haben:242 Die stark persönlich gefärbte, dem Konkreten eher als dem Abstrakten verpflichtete Haltung des Dichters. Eine eigentlich allgemeingültige Binsenweisheit wird auf das lyrische Ich bezogen und der abstrakten Gruppe der ualidi, der Gesunden, steht eben keine abstrakte Gruppe der Kranken, sondern das lyrische Ich selbst gegenüber (sunt noxia nobis). Das gesamte Gedicht hindurch, vom mihi des ersten Verses bis zum Bittgebet des letzten Distichons, ist immer ein persönlicher Sprecher vorausgesetzt, vermittelt durch die großzügige Verwendung der ersten Person. Ebenso werden die Symptome der Krankheit konkretisiert: Der auf den oben zitierten Vers 5 folgende Nebensatz lässt an ein Magenleiden denken (stomachus tenuis) und führt zugleich geschickt den Gedanken der Schädlichkeit eigentlich zuträglicher Dinge weiter. Essen und Trinken werden, anders als die V. 7 erwähnten Gegensätze Kälte
241 242
Vgl. Isidor von Sevilla, nat. 15,3 (229 FONTAINE). Vgl. CODOÑER 1981, 337 sowie SMOLAK 2010, 87.
264
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
und Wärme,243 zwar nicht konkret als Beispiele genannt, doch die Erwähnung des schwächelnden Magens ermöglicht dem Leser, die Lücke aus der eigenen Erfahrung heraus zu ergänzen. Die Aussage gipfelt schließlich darin, dass selbst das (nach weltlichen Maßstäben) wichtigste Gut, das Leben selbst, dem lyrischen Ich zuwider geworden ist. Exkurs: Das taedium uitae in der patristischen Literatur Die Feststellung, des Lebens überdrüssig geworden zu sein, ist ein starker Ausdruck tiefer seelischer Verzweiflung, der sowohl in der klassischen Prosa und Dichtung244 als auch in der Bibel245 und in der patristischen Prosa auftritt.246 Besonders nahe scheint unserem Gedicht ein Zitat aus dem Buch Ijob zu kommen: taedet animam meam uitae meae (Ijob 10,1).247 Inhaltlich scheint es in V. 8 (nec mea uita placet) eingelöst, aber auch im letzten Vers des carm. 13, V. 10, erscheint mit der Formulierung taedet animum tot mala ferre simul der Begriff des taedium explizit. Allgemein ist das Buch Ijob dasjenige biblische Buch, auf das Eugenius am häufigsten anspielt,248 was aus zwei Gründen wenig verwundert: Erstens ist es das biblische Buch, das sich am tiefgründigsten und ausschließlichsten mit der Frage nach Ursprung und Sinn des Leides auseinandersetzt und damit den natürlichen biblischen Referenzpunkt für Eugenius darstellt. Zweitens dürfte es im wisigotischen Spanien durch den 243 Die Nennung der Wärme als etwas eigentlich Gutem entspricht antiken und spätantiken Sichtweisen. Dementsprechend schränkt Eugenius die Beschreibung ihrer Schädlichkeit ein und spricht lediglich von ihrer Nichtnützlichkeit: nec semper […] prosunt. Demgegenüber erscheint die Erwähnung der Kälte, die grundsätzlich eher negativ gesehen wurde, eher erklärungsbedürftig; vgl. z.B. Laktanz, inst. 2,9,10 (164 HECK/WLOSOK), wo das Leben mit der Wärme, der Tod mit der Kälte assoziiert wird, und für die Zeit des Eugenius Isidor, sent. 3,22,5 (CCL 111,254 CAZIER), der die Gottesliebe mit Wärme und deren Gegenteil mit Kälte vergleicht: A bono in deterius lapsos, supra carbones frigidos fieri nigriores, quia per torporem mentis ab igne caritatis Dei extincti sunt. Allerdings erscheint die Abwertung der Kälte bei Isidor längst nicht so eindeutig. So nimmt er für das Paradies einen Zustand der Ausgeglichenheit von Wärme und Kälte an; vgl. Isidor, orig. 14,3,2 (o.S. LINDSAY). Ebenso – und hier schließt sich der Kreis zum vorliegenden Gedicht – hat die Kälte zu dieser Zeit bereits ihren festen Platz in der medizinischen Theorie; vgl. z.B. Isidor, orig. 4,9,6 (o.S. LINDSAY). Diese wird seit der Spätantike von der galenischen Theorie der Körpersäfte dominiert; vgl. MENÉNDEZ BUEYES 2013, 22. Dort wird die Kälte mit dem Phlegma assoziiert (vgl. Isidor, orig. 4,5,7 [o.S. LINDSAY]) und in gewissen Phasen des Lebens durchaus als der Gesundheit zuträglich betrachtet; vgl. Isidor, orig. 20,2,37 (o.S. LINDSAY). 244 Vgl. z.B. Cicero, Att. 2,24,4 (I,90 SHACKLETON BAILEY) und Ovid, Pont. 1,9,31 (25 RICHMOND). 245 Vgl. Gen 27,46, Ijob 10,1, Koh 2,17 und Weish 2,1. 246 Vgl. neben den unten zitierten Belegen bei Gregor dem Großen z.B. Ambrosius von Mailand, exc. Sat. 2,124 (CSEL 73,319 FALLER), ein im wisigotischen Spanien vielgelesener Text; vgl. MARTÍN-IGLESIAS 2013, 264. 247 Vulg. Ijob 10,1 (740 WEBER/GRYSON). 248 Vgl. TIZZONI 2012, 240, der sich dabei auf den Index Locorum Sacrae Scripturae der Edition von ALBERTO 2005a, 411–412 stützt. Dort führt das Buch Ijob mit 8 loci similes zahlenmäßig noch vor dem Matthäus-Evangelium mit 7 loci similes. In carm. 13,8–10 sieht Alberto jedoch keinen Anklang an das Buch Ijob.
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
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Ijob-Kommentar Gregors des Großen, der nicht zuletzt durch seine Freundschaft zu Leander von Sevilla (dem die Moralia in Iob gewidmet sind) in Spanien hoch angesehen war, auch allgemein in theologischen Diskursen eine hohe Aufmerksamkeit genossen haben – zumal die Romreise des Taio von Saragossa, der von dort möglicherweise letzte fehlende Bücher der Endfassung der Moralia erst mitbringen musste, in Eugenius’ Lebenszeit fiel und er auch rege daran Anteil nahm, wie wir aus seiner Korrespondenz mit Taio ersehen können.249 Gregor selbst benutzt dieses Ijob-Zitat in einer Homilie über das Buch Ezechiel,250 um seinen Schmerz und seine Betroffenheit über die Schrecken des Krieges zum Ausdruck zu bringen – ein Schmerz, der ihn sogar daran hindere, seine Auslegungen der Bibelstelle weiterzuführen: Iam cogor linguam ab expositione retinere, quia taedet animam meam uitae meae. Iam nullus in me sacri eloquii studium requirat, quia uersa est in luctum cithara mea, et organum meum in uocem flentium. Iam cordis oculus in mysteriorum discussione non uigilat, quia dormitauit anima mea prae taedio.251 Schon bin ich gezwungen, die Zunge von der Auslegung zurückzuhalten, weil mein Leben mir zum Ekel geworden ist (vgl. Ijob 10,1). Schon soll keiner mehr mich um das Studium der heiligen Worte ersuchen, weil meine Kithara sich der Trauer zugewandt hat, und mein Instrument sich in die Stimme Weinender verwandelt hat. Schon ist das Auge meines Herzens bei der Erforschung der Mysterien nicht mehr wach, weil meine Seele schläfrig vor Ekel ist. Freilich legt Gregor diese Stelle auch in seinem Ijob-Kommentar aus und vermag dort durchaus ‚Erbaulicheres‘ aus dem Vers zu ziehen: Das taedium vor dem Leben ist dort ein notwendiger Bestandteil des Lebens des Gerechten und sozusagen die Gegenbewegung zur Liebe zu Gott und zur himmlischen Heimat: Je stärker diese Liebe brennt, desto mehr schwindet jede Sehnsucht nach den Dingen des irdischen Lebens; und diese Sehnsucht jemals empfunden zu haben, löst selbst wiederum Ekel und Überdruss aus.252 Insofern ist das taedium am Leben auch ein Symptom und Bestandteil einer eigentlich heilsamen spirituellen Transformation, weshalb auch Isidor von Sevilla in seinen Sententiae im Kapitel über die conpunctio cordis (der ‚Stich ins Herz‘, die innere Zerknirschung) vom taedium salubre spricht, das die innere Wandlung des Menschen, seine Abkehr vom Irdischen und seine Hinwendung zu Gott, begleitet. Dabei bleibt das taedium, auch wenn es ein wichtiger Baustein in der Spiritualität der Gläubigen sein kann, ein grundsätzlich negativer emotionaler Zustand. Und auch in spiritueller Hinsicht kann es gefährlich werden, wie bereits das obige Zitat angedeutet hat: Das taedium kann den Geist für die Einsicht in den Sinn der Schrift verschließen, es kann die mit einer geistlichen Leitungsaufgabe Betrauten davon abhalten, ihren Schutzbefohlenen mit der
249
Vgl. dazu Kap. 2.3.4 dieser Arbeit. Die Homilie in Ezech. 2,10 wird in den Sententiae Taios (sent. 2,24 [PL 80,810D– 811A]) zitiert, war also spätestens nach seiner Romreise ebenfalls in Spanien verfügbar. 251 Gregor der Große, in Ezech. 2,10,24 (CCL 142,397 ADRIAEN). 252 Vgl. Gregor der Große, moral. 9,41,64–42,65 (CCL 143,503 ADRIAEN): Sed cum menti nostrae eius dulcedinis amor accenditur, omne desiderium praesentis uitae leuigatur, in taedium dilectio uertitur atque hanc cum maerore mens tolerat, cui uicta prius reprobo amore seruiebat. Vnde et apte subditur: taedet animam meam uitae meae. 250
266
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
nötigen Strenge zu begegnen253 und schließlich denjenigen, der über seine Kräfte hinaus davon belastet wird, zur Ungeduld und zum Aufbegehren gegen Gott verleiten, wie Gregor selbst in einem Brief einmal befürchtet – übrigens ebenfalls im Angesicht einer Erkrankung: Proinde, frater sanctissime, diuinae pro me pietatis misericordiam deprecare, ut percussionis suae erga me flagella propitius mitiget et patientiam tolerandi concedat, ne nimio, quod absit, taedio in impatientiam cor erumpat et ea quae decurari per plagam poterat culpa crescat ex murmure.254 Ferner, heiligster Bruder, erbitte für mich die Barmherzigkeit der göttlichen Liebe, dass sie die Züchtigungen ihres Schlagens gegen mich mildere und die Geduld gewähre, sie zu ertragen, damit nicht mein Herz, was fern sei, durch allzu großen Ekel in Ungeduld ausbricht und die Schuld, die durch die Heimsuchung hätte geheilt werden können, nicht durch Murren noch anwächst. Wo ist nun Eugenius in dieser Spanne der ambivalenten Bewertungen des taedium und des Lebensüberdrusses einzuordnen? Zumindest für das carm. 13 bleibt festzuhalten, dass hier keine Hinweise auf spirituelle Vorteile des taedium gelegt werden (anders als etwa in carm. 14). Im Gegenteil wird im abschließenden Bittgebet eher die Argumentationsstruktur aus Gregors oben zitiertem Brief deutlich: Das Leiden und das daraus resultierende taedium wird nicht als ‚heilsam‘ willkommen geheißen, sondern ist die Begründung dafür, Christus um die Linderung dieser Leiden zu bitten, weil, wie wir wohl ergänzen dürfen, das so große und so zahlreiche Leid (tot mala) über die die Kräfte des lyrischen Ichs hinausgeht.
c) V. 9–10: Abschließendes Bittgebet 10
Da, Christe, quaeso, ueniam, da, Christe, medellam, nam taedet animum tot mala ferre simul.
Ein Gedicht mit einem Bittgebet abzuschließen, ist für Eugenius überaus typisch; das abschließende Gebet scheint manchmal geradezu das Ziel seiner Gedichte zu sein. 255 Durch die emphatische Wiederholung des da, Christe erscheint dieses Gebet jedoch besonders nachdrücklich und emotional. Überraschend erscheint innerhalb der Bitte, dass noch vor der medella, der Heilung, zuerst um uenia gebeten wird – was meist so gedeutet wird, dass die eigene Sünde für die Krankheit verantwortlich gemacht und die Heilung daher in der Sündenvergebung zu suchen ist.256 Zwar kann uenia an sich nicht nur die Vergebung und den Strafnachlass, sondern auch ganz allgemein die gütige Gesinnung bedeuten.257 Allerdings erscheint die Bedeutung ‚Strafnachlass‘ bei 253 Vgl. Gregor der Große, reg. 3,4 (SC 382,278 ROMMEL): Non autem dormire, sed dormitare est, quae quidem reprehendenda sunt cognoscere, sed tamen propter mentis taedium dignis ea increpationibus non emendare. 254 Gregor der Große, ep. 11,20 (CCL 140A,890 NORBERG). 255 Vgl. ALBERTO 1999a, 311. 256 Vgl. SMOLAK 2010, 80–81, angedeutet auch von FEAR 2010, 63. Auch CODOÑER 1981, 335 übersetzt in diese Richtung: „Christ, please, pardon me, Christ, cure me.“ 257 Vgl. OLD s.v. uenia, 2235–2236, wo jedoch keine Belegstellen bei christlichen Autoren angeführt werden.
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Eugenius – wie auch bei anderen Autoren seiner Zeit258 – zumindest sehr präsent zu sein; eindeutige Beispiele dafür finden sich in carm. 1,22, carm. 9,22, carm. 10,11, carm. 11,20 sowie auch zahlreichen Stellen der Dracontius-Rezension.259 Einige wenige Beispiele gibt es, die weniger klar zu klassifizieren sind und eine weiter gefasste Bedeutung ‚Güte‘ zumindest einschließen könnten. So wird in carm. 14,65 die uenia als eine menschliche Tugend dem Laster des Zorns gegenübergestellt. Sehr schwer zu fassen ist die Bedeutung der uenia im Brief des Eugenius an Protasius. Eugenius verspricht dort, dem Wunsch seines Korrespondenzpartners gemäß, eine Messe für den Hl. Hippolytus zu verfassen, si tamen uestrae orationis obtentu et uita nostra meruerit ueniam et lingua facundiam.260 In einigen kurzen Bemerkungen im Brief deutet Eugenius an, dass körperliche Schwäche ihn von der Erfüllung dieser Bitte abhalten könnten (vgl. dazu Kap. 2.2.4). In diesem Kontext würde es durchaus Sinn ergeben, uenia ganz diesseitig als die Gnade der ausreichenden körperlichen Kraft zu verstehen – aber auch hier wäre dann ein Konnex zwischen der körperlichen Schwäche und Sünden, die erst vergeben werden müssten, denkbar. Gleichzeitig ist es nicht ungewöhnlich, in Briefen vom Korrespondenzpartner das Gebet für die eigenen Sünden zu erbitten, was Eugenius übrigens einmal dem Braulio von sich aus anbietet.261
So scheint das Bedeutungsfeld Sündenvergebung und Strafnachlass im kulturellen Umfeld des Eugenius zu überwiegen. Wenn diese Bedeutung auch auf die vorliegende Stelle zutrifft, ergibt sich daraus eine gewisse Leerstelle im Text, der ja sonst nicht von Sünde und Strafe handelt. Diese Leerstelle zu füllen stellt eine interessante interpretatorische Aufgabe dar, für die es bereits einige – noch darzustellende – Lösungsvorschläge gibt. Man könnte meinen oder sogar erwarten, dass durch dieses abschließende Bittgebet das Gedicht mit einem positiven Akzent, mit einem zumindest zaghaft nach vorne gerichteten Blick endet. Und selbstverständlich impliziert eine 258 Isidor von Sevilla verwendet – in den in der LLT-A vertretenen Texten – das Wort nahezu immer im Kontext der Sündenvergebung; Ausnahmen sind Isidor, eccl. off. 2,18 (CCL 113,87 LAWSON): uelaminis uenia im Sinne von „Dispens“ (vgl. dazu auch BLAISE s.v. uenia, 840), sowie eccl. off. 1,15 (CCL 113,17 LAWSON), wo die uenia zwar für die Toten im Rahmen einer Fürbitte erbeten wird, der Kontext der Sündenvergebung aber nicht klar erkennbar ist. Bei Ildefons von Toledo findet es ausnahmslos im Kontext der Sündenvergebung Verwendung. Bei Julian von Toledo steht das Wort darüber hinaus – bedingt durch das politischere Thema der Historia Wambae – oft im Sinne der Schonung des Siegers (hier: des Königs) seinen Feinden gegenüber, vgl. Julian von Toledo, Wamb. 21 (CCL 115,236–237 LEVISON/HILLGARTH), wo diese uenia aber auch explizit als Reaktion auf sündhaftes Verhalten gegen Gott und den König gedeutet wird. 259 Vgl. z.B. Eugenius von Toledo, Drac. praef. 8 (CCL 114,327 ALBERTO); Drac. satisf. 47 (CCL 114,378 ALBERTO); Drac. satisf. 93 (CCL 114,381 ALBERTO); Drac. satisf. 102 (CCL 114,381 ALBERTO) und weitere. 260 Eugenius von Toledo, ep. Prot. 21–22 (CCL 114,406 ALBERTO). 261 Eugenius von Toledo, ep. Braul. 18–19 (CCL 114,399 ALBERTO): ita soluat Christus culpae uestrae, si tamen est aliqua, nexionem.
268
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Bitte immer die Hoffnung auf deren Erfüllung, in diesem Fall auf uenia und medella durch Christus. Doch diese Hoffnung wird durch eine seltsam anmutende ‚Begründung‘ für die Bitte gestört: Christus möge helfen, weil der animus des lyrischen Ichs die vielen Übel schlicht nicht mehr ertragen könne (tot mala ferre simul) – die Klage über die ‚vielen Übel‘ ist eine übliche Junktur innerhalb der klassischen elegischen Dichtung.262 Interessanterweise liegt hier der Fokus wiederum auf den geistigen Auswirkungen der Krankheit, nicht auf den körperlichen.263 Doch die Begründung steht allgemein vielem entgegen, was in einem religiösen Stück zu erwarten wäre: Kein Wort von Gottes Größe, Allmacht, Gerechtigkeit oder Güte fällt, auch kein Wort über die Sünden des lyrischen Ichs, die es vergebungsbedürftig machten. Vor allem letzteres wäre nach der Bitte um Vergebung, wenn dies denn mit uenia gemeint ist, eigentlich zu erwarten gewesen; im wesentlich elaborierteren carm. 14 und in den AutoEpitaphen (vgl. etwa carm. 19,3) erscheint der Verweis auf die eigene Sündhaftigkeit regelmäßig. Doch hier ist die einzige Begründung für die Bitte das schiere Ausmaß des Leides, das die Kräfte der Dichter-persona übersteige. So endet das Gedicht mit einem ‚Rückfall‘ auf die Ebene der Klage. 5.3.5 Fazit a) Didaktik des Leidens oder „a simple cry for help“? – Stimmen der Forschung Dieses etwas unerwartete Ende wirft bereits die Frage auf, die Interpreten bei diesem Gedicht besonders beschäftigt: Was ‚ist‘ dieses Gedicht? Ist es eine rein künstlerisch gestaltete Klage oder transportiert es eine didaktische Absicht? Im Hinblick auf die Fragestellung dieser Studie wäre dies umzuformulieren: Wie geht der Dichter Eugenius in diesem Gedicht mit dem existentiellen Problem der Krankheit um? Carmen Codoñer liest das Gedicht tatsächlich als eine reine Klage und lobt dabei die schlichte, einfache, aber gerade dadurch effektvolle Art des Gedichtes: It is not a question of anything grandiose; he is a sick man, and he is complaining about his illness. There is no symbolism at all. He brings the everyday and ordinary into the category of poetry, but with no desire to inflate it into something pretentious.264
Andere Interpretationen, die in dem kurzen elegischen Gedicht doch mehr als eine schlichte Klage sehen wollen, haben sich zumeist am bereits ausführlicher besprochenen V. 9, an der Bitte um uenia, abgearbeitet. Deutlich positioniert
262 Vgl. an derselben Versposition Tibull, carm. 1,6,82 (27 LUCK): Commemorant merito tot mala ferre senem. Vgl. auch Ovid, trist. 1,5b,3 (28 HALL) und trist. 5,1,29 (174 HALL). 263 Vgl. CODOÑER 1981, 337. 264 CODOÑER 1981, 337.
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
269
sich hier Kurt Smolak. Wie bereits dargelegt, sieht er carm. 13 im engen Kontext zu carm. 14 und 14b und interpretiert die genannten Gedichte als ein fortlaufendes Narrativ. Entsprechend der Gerichtsschilderung aus carm. 14, in der das lyrische Ich ein umfassendes Sündenbekenntnis ablegt und um Vergebung fleht, interpretiert er auch die uenia-Bitte aus carm. 13 als indirektes SündenGeständnis: „Der Dichter bringt dieses sein körperliches Gebrechen mit seiner ‚sündigen‘ Lebensführung in Zusammenhang.“265 Der Gedanke, Krankheit als mit den eigenen Sünden verbunden zu betrachten, hat nach Smolak einerseits einen biblischen Hintergrund (Mt 9,2–7, wo der körperlichen Heilung des Gelähmten durch Jesus die Vergebung der Sünden vorausgeht). Aber auch allgemein sei dies eine weit verbreitete Theorie für die Entstehung von Krankheiten. Dass dies auch für die Zeit des Eugenius gilt, bestätigt wiederum Isidor in seinen sententiae: Quosdam uidens Deus nolle proprio uoto corrigi, aduersitatum tangit stimulis. Quosdam etiam praesciens multum peccare posse, in salutem flagellat eos corporis infirmitate, ne peccent, ut eis utilius sit frangi languoribus ad salutem, quam manere incolumes ad damnationem.266 Einige, bei denen Gott sieht, dass sie nicht aus eigenem Wunsch sich bessern wollen, berührt er mit den Stacheln der Widrigkeiten. Einige, von denen er bereits im Vornherein weiß, dass sie viel sündigen können, schlägt er durch die Schwäche des Körpers zur Gesundheit, sodass es für sie nützlicher ist, von Krankheiten für das Heil gebrochen zu werden, als unbeschadet zu bleiben für die Verdamnis.
Andrew Fear sieht die Bitte um uenia ebenfalls als Schuldeingeständnis des lyrischen Ichs, elaboriert diesen Gedanken aber im Lichte eines spirituellen Konzepts der Zeit des Eugenius. Er sieht im dichterisch dargestellten Leiden an der Krankheit „a form of conpunctio which leads to his [des Dichters, AP] self-realisation and recognition of his sinfulness.“267 Dies trifft nach Fear nicht nur auf carm. 13, sondern auch die carm. 5 und 14 zu. Die Gedichte verfolgen damit einerseits den Zweck, das lyrische Ich selbst einen Sinn in seinem Leiden sehen zu lassen: „Through [conpunctio] he could see that God far from being his sadistic tormenter was rather helping him to see the path to salvation.“268 Das lyrische Ich soll damit aber auch als Beispiel für die Leserinnen und Leser fungieren, die den durch das Leiden angestoßenen Erkenntnisprozess mitvollziehen sollen. Das Leid führt zur – schmerzhaften – Vergegenwärtigung der uanitas mundi und damit zu einer Reinigung der Seele durch Abkehr von der Welt und durch das reuige Eingeständnis der eigenen Sündhaftigkeit. Für Fear ‚lehren‘ die Klagegedichte des Eugenius also eine spirituelle Praxis, die sowohl in der patristischen Tradition als auch besonders im monastischen 265
SMOLAK 2010, 80. Isidor von Sevilla, sent. 3,3,2 (CCL 111,201 CAZIER). Vgl. auch FEAR 2019, 35. 267 FEAR 2010, 63. 268 FEAR 2010, 63. 266
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Bereich verankert ist.269 Die Präsenz dieses Konzepts in der Zeit des Eugenius zeigt auch die inhaltlich prägnante Definition des Isidor auf, der es damit als allgemein verbreitetes ‚Handbuchwissen‘ erweist: Conpunctio cordis est humilitas mentis cum lacrimis, exoriens de recordatione peccati et timore iudicii. Illa est conuersis perfectior conpunctionis affectio, quae omnes a se carnalium desideriorum affectus repellit, et intentionem suam toto mentis studio in Dei contemplationem defigit. […] Quattuor esse qualitates affectionum quibus mens iusti taedio salubri conpungitur, hoc est memoria praeteritorum facinorum, recordatio futurarum poenarum, consideratio peregrinationis suae in huius uitae longinquitate, desiderium supernae patriae, quatenus ad eam quantocius ualeat peruenire.270 Zerknirschung des Herzens ist Demut des Geistes unter Tränen, die aus der Vergegenwärtigung der Sünde und der Furcht vor dem Gericht entsteht. Jenes ist für die Bekehrten die vollkommenere Betroffenheit von der Zerknirschung, die alle Affekte fleischlicher Begierden von sich fortweist und ihre Aufmerksamkeit mit ganzem geistigen Eifer an die Kontemplation Gottes heftet. […] Vier Arten von Betroffenheit gibt es, durch die der Geist des Gerechten von heilsamem Ekel zerknirscht wird, nämlich die Erinnerung an vergangene Untaten, das Denken an zukünftige Strafen, das Bedenken der eigenen Pilgerschaft in der langen Dauer dieses Lebens, die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, nämlich zu ihr zu gelangen, so schnell es möglich ist.
Die didaktische Absicht, genau dies beim Leser bzw. Hörer auszulösen, zeigt Fear vor allem anhand der carmina 5 und 14 und der Epitaphe überzeugend auf. Für carm. 13 nimmt er ihn zwar ebenfalls an und verweist dabei auf die Bitte um uenia, formuliert allerdings deutlich vorsichtiger und räumt auch die Möglichkeit ein, das Gedicht als „a simple cry for help“271 zu lesen, was der Position Carmen Codoñers entspricht, die Fear später sogar noch deutlicher vertritt.272 In der Tat finden wir jedoch mit der Bemerkung des lyrischen Ichs, das Leben werde ihm durch die Krankheit widerwärtig (V. 10: taedet animum), ein Signal im Text, das auf das taedium salubre verweisen kann, das nach Isidor ein Motor der conpunctio ist. Dafür spricht nicht zuletzt, dass wiederum in carm. 14 mit einer ähnlichen Formulierung (carm. 14,27: taediosa mente) eine Klage über körperliches Leid zu einem Überdenken des eigenen Lebens und der eigenen Prioritäten führt: Haec taediosa mente dum recogito, libet, relictis omnibus quae transeunt, 269 Vgl. FEAR 2010, 62, mit Verweis auf Ambrosius, Augustinus, Cassian, Benedikt von Nursia, Gregor den Großen sowie Isidor von Sevilla. Vgl. zum Konzept der conpunctio cordis für den christlichen Osten beispielhaft HAUSHERR 1982, passim. 270 Isidor von Sevilla, sent. 2,12,1–4 (CCL 111,118 CAZIER). 271 FEAR 2010, 63. 272 Vgl. FEAR 2019, 35: „The despondency of poem thirteen […] and its failure to make a link between earthly suffering and heavenly reward must lead the reader to wonder if although the bishop’s own sufferings had led him to a theoretical acceptance of this doctrine, it was one which at times still left him overwhelmed by his own experience of pain.“
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
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Deum timere, sempiterna quaerere, terrena lucra deputare puluerem. (carm. 14,27–29) So ich im Geiste angewidert das bedenke, gefällt es mir, nachdem alles Vergängliche fahren gelassen, Gott zu fürchten, das Ewige zu suchen, irdischen Gewinn zu werten wie Staub.
Dieser Gedankengang deckt sich genau mit dem conpunctio cordis-Motiv, das Fear an den Gedichten des Eugenius, besonders auch an carm. 14, herausgearbeitet hat.273 b) Eine vierte Hypothese: Der metaphorische Konnex274 von Krankheit und Sünde In der Darstellung der Positionen dürfte deutlich geworden sein, dass sich die vorgestellten Interpretationen nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen. Insbesondere die Interpretationen von Fear und Smolak scheinen gut kompatibel und das Gedicht lediglich mit unterschiedlichen Konzepten zu interpretieren. Ein Ergebnis der vorgelegten Analyse scheint zudem Codoñers These, das Gedicht komme völlig ohne Symbolismus aus, infrage zu stellen: zunächst die auffällige Verquickung von körperlicher und seelischer Sphäre in den Gedichten, aber auch Aspekte der sprachlichen und rhetorischen Gestaltung, wie Vae misero als zu Eugenius’ Zeit beinahe ausschließlich im Sündenkontext vorkommende interiectio dolentis und etwa der Gedanke, dass eigentlich Gutes dem ‚Kranken‘ schade – was in auffälliger Weise auch in Diskurse um Sünde und Buße übertragen werden kann. Manches, wie das taedium oder den pauor, finden wir sogar bei Eugenius selbst in eben diesem Diskurs wieder. Ist dahinter (in Ergänzung zu den Thesen von Fear und Smolak, die eine reale Kausalität zwischen Krankheit und Sünde, sei es als Strafe Gottes oder als Hilfe zur spirituellen Vervollkommnung, annehmen) vielleicht sogar eine ‚doppelte Valenz‘ des Gedichtes zu sehen, sodass hinter der beschriebenen körperlichen Krankheit auch bereits die seelische Krankheit, die Sünde, zu erahnen ist? Damit wäre freilich eine befriedigende Lösung für die Bitte um uenia und medella gefunden: Vergebung (uenia) wäre somit die (erhoffte) Antwort Gottes auf die seelische Krankheit des lyrischen Ichs, die Heilung (medella) die Antwort auf die körperliche. Die ‚geteilte Sprache‘ des Krankheits- und des Sündendiskurses verweist jedoch zunächst auf einen ganz anderen Zusammenhang zwischen der Sünde und der Krankheit, der nicht notwendig auf der sachlichen, sondern auf der sprachlichen und kognitiven Ebene liegt: Sünde und Krankheit sind insofern 273
Vgl. FEAR 2010, 63–64. Vgl. zu diesem metaphorischen Konnex vor dem Hintergrund der Conceptual Metaphor Theory ausführlicher PILARSKI 2021. 274
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
metaphorisch miteinander verknüpft, als Krankheit (oder auch die Wunde als weitere Variante einer körperlichen Disruption) eine der grundlegenden Metaphern für die Sünde darstellt.275 Metaphern, insbesondere, wenn sie Diskurse nicht nur punktuell, sondern nachhaltig prägen, werden heute zunehmend nicht mehr als bloßer rhetorischer Schmuck verstanden, der auf einer Analogie zweier distinkter Bereiche basiert, sondern als Mittel, mit denen Menschen sich insbesondere von Abstrakta ein kognitives Konzept machen, das umgekehrt das Denken der Menschen über dieses Abstrakte tief prägt.276 Eine solche ‚konzeptuelle Metapher‘ ist gekennzeichnet von einer Übertragung von einer ‚source domain‘, der eine Metapher entlehnt wird, in eine ‚target domain‘, zu der hin die Übertragung stattfindet. Dabei ist die ‚source domain‘ oft ein Element der konkreten, greifbaren Welt, dessen Struktur und inhärente Logik benutzt wird, um die abstraktere ‚target domain‘ kognitiv greifbarer zu machen.277 Dass gerade der medizinische Bereich, der mit seinem Bezug auf den Körper und damit auf etwas dem Menschen sehr konkret Gegenwärtiges eine klassische ‚source domain‘ für die Übertragung auf religiöse und spirituelle Diskurse darstellt, ist lange bemerkt worden278 und zieht gerade in der jüngeren Forschung erhöhte Aufmerksamkeit auf sich.279 So überrascht es nicht, dass auch das Abstraktum ‚Sünde‘ oft mittels körperlich-medizinischer Metaphern konzeptualisiert wird: Sünde kann als die Krankheit der Seele gefasst werden,280 Buße bzw. Sündenvergebung als Heilung,281 Christus als der Arzt, der manchmal schmerzhafte Therapien verordnen muss etc.282 c) Versuch einer Synthese: Eigenwert der Klage und Öffnung für weitere Reflexion Vor diesem Hintergrund scheint es ganz natürlich und sogar in gewissem Sinne unvermeidbar, dass sich die Diskurse um Krankheit und Sünde derselben Sprachspiele bedienen. Die auffällige sprachliche Gestaltung sollte daher nicht
275
Vgl. dazu schon RÖHSER 1987, 73–77; vgl. auch MAYER 2015, 337–351. Vgl. für eine Einführung in die Theorie der sog. ‚conceptual metaphors‘ KÖVECSES 2010, 4–15. 277 Vgl. KÖVECSES 2010, 18. 278 Vgl. bereits HARNACK 1892. 279 Vgl. für einen Überblick MAYER 2018, passim. 280 Vgl. MAYER 2015, 337–351. Vgl. auch Isidor, sent. 3,3,8 (CCL 111,202 CAZIER): Languor animae, id est peccatorum infirmitas, perniciosa est. 281 Vgl. z.B. Augustinus, doctr. chr. 1,14,13 (CCL 32,13 MARTIN): Sicut autem curatio uia est ad sanitatem, sic ista curatio peccatores sanandos reficiendosque suscepit. Vgl. auch LUTTERBACH 1995, 123, der von einem „medizinalen Bußverständnis“ spricht. 282 Vgl. für einen Überblick zur Forschung über das Christus medicus-Motiv EMMENEGGER 2014, 2–3. 276
5.3 carm. 13: Der Mensch im Angesicht der Krankheit
273
überbewertet und vorschnell als Argument für eine (bewusst evozierte) Doppelbödigkeit des Gedichtes gewertet werden. Schließlich finden wir im Gedicht nichts, was eine solche symbolische Lesart bestätigen würde. Für die auffällige ‚doppelte Betroffenheit‘ von Körper und Seele von der Krankheit ist die einfachste und daher zu präferierende Lösung, dahinter einen Allgemeinplatz zur engen Verbindung des menschlichen Körpers und Geistes bzw. der Seele zu begreifen: Körperliches Leid ergreift so ganz natürlich auch den animus. Durch das übergroße Leid ist das lyrische Ich auch geistig gebrochen. Dies wird nirgends eindrücklicher deutlich als im Schlussdistichon, in dem das lyrische Ich die hoffnungsvolle spirituelle Erhebung in der Bitte nur einen einzigen Vers lang ‚durchhält‘ und danach wieder in der Klage versinkt. Insofern ließe sich die genannte Beobachtung problemlos auflösen, ohne dass das Gedicht als mehr als ‚nur‘ eine Klage über die Krankheit interpretiert werden muss – wie auch Carmen Codoñer, der diese besondere sprachliche Gestaltung durchaus auffällt, dies tut.283 Die Bitte des lyrischen Ichs um uenia, die als einziges eine rein auf die Krankheitsklage bezogene Lesart infragestellt, lässt sich wiederum durchaus mit impliziten Theorien zur Entstehung oder zum Sinn der Krankheit erklären, die zu Eugenius’ Zeit gängig waren. Jedoch bleibt festzuhalten, dass auf einen solchen kausalen Zusammenhang weder in carm. 13 noch in den folgenden Gedichten weiter eingegangen wird. Dem scheint also zumindest kein tieferes Interesse zu gelten; es bleibt im Gedicht bei dieser eingestreuten Nebenbemerkung. Dagegen ist in den anderen Gedichten, insbesondere carm. 14, aber auch schon in carm. 5, durchaus ein Interesse zu spüren, welche spirituellen Entwicklungen das körperliche Leid des Menschen auslösen kann. Einiges davon deutet sich auch in carm. 13 bereits an, etwa im Lebensüberdruss des lyrischen Ichs (der in carm. 14 zu einer Abwendung vom Irdischen führt), oder in der Furcht, die das lyrische Ich aufgrund der Krankheit quält und die in carm. 14 – sprachlich sehr ähnlich – als Furcht vor dem göttlichen Gericht, das nach dem Tod erwartet, wiedererscheint. Diese Weiterentwicklung des Themas zur conpunctio cordis im Sinne Fears weist das vorliegende Gedicht jedoch noch nicht auf, es sei denn, man wollte unzulässige interpretatorische Rückschlüsse von carm. 14 auf carm. 13 tätigen. Unzulässig sind sie erstens deshalb, weil sie implizieren, dass ein Dichter dasselbe Thema immer auf dieselbe Weise behandeln müsse, und zweitens, weil, wie gezeigt, carm. 13, 14 und 14b nicht als inhaltliche Einheit, sondern lediglich als thematische Gruppe gelesen werden sollten. Will man die offenen Stellen, die über eine reine Klage hinausverweisen, in eine Interpretation einbeziehen, macht es meines Erachtens am ehesten Sinn, sie als angelegte Spuren zu verstehen, die in carm. 14 wieder aufgegriffen und 283
Vgl. CODOÑER 1981, 337–338.
274
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
auf eine andere Reflexionsebene geführt werden, in carm. 13 aber eben offenbleiben. Insofern wird, jeglichen didaktischen Absichten vorgelagert, in diesem Gedicht der Klage über das eigene Elend Raum gegeben.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer 5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
Text:
5
Impia iam miserum captat curuare senecta, inde dolore nouo carmina maesta cano. Fletibus ecce rigo roranti uertice malas et lacrimosa petunt murmura nostra polum. Ante tamen nostris ipsa pandetur iambis, quam noceat morbis intoleranda suis.
Crudelis aetas, o senectus improba, quae cuncta pulchra fauce saeua deuoras, rictu uoraci nigra pandis guttura, 10 mortale germen ut nouerca saucias et sauciatum mortis ense perforas. Te proximante robur omne deficit, salus recedit, aegritudo prouenit, sensus hebescunt, pulchritudo deperit, 15 tabescit aegrum pectus in suspiriis, gaudere taedet, eiulare complacet. Tu frangis ossa, membra rugis asperas, comas recidis atque canos inseris, dentes retundis, mucculentos efficis, 20 tremore foedo corpus omne discutis, febres minaris et dolores ingeris. Per te podagra dura gignit tubera, anhela tussis expuit putriflua, cutem perurit uulnerum profusio, 25 potus cibique nulla delectatio: lamenta sola conferunt solacium. Haec taediosa mente dum recogito, libet, relictis omnibus quae transeunt, Deum timere, sempiterna quaerere, 30 terrena lucra deputare puluerem, orare semper atque flendo dicere: „abite pessum uana mundi gaudia, opes caducae, lutulenta praedia, fasces, honores, blandimenta noxia“.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer 35
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Iam finis instat et ruina proximat, iam mors cruenta nostra pulsat limina. O mors omniuorax, ad te nunc uerto querellam: cur miserum sequeris? cur properata uenis? Tu facis ut rapido uoluantur tempora cursu adcelerentque suos fata cruenta gradus. Cum tu deproperas, tunc uitae gaudia cessant, umbra pauenda uenit, lux radiata fugit. Omnia uitali priuantur uiscera motu, clauduntur oculi, garrula lingua tacet, surdescunt patulae trusis anfractibus aures, naribus obclusis non odor ullus adest, non spirat pulmo flabris uitalibus auras, frigida membra rigent nec cruor ipse calet. Tabe fluunt carnes, conrodunt omnia uermes, sic species hominis fit putrefacta cinis. Multa pauenda quidem cecini multaque tremenda, sed mage quid uerear, nunc lacrimando loquar. Iudicis altithroni iam tristis cerno tribunal, cuius ad intuitum cuncta creata tremunt. Substernit niueas caelorum turba coronas et titubante genu proruit ante thronum; cernere sic ambit dominum, sic semper amare, ut pulset animum mixtus amore timor. Quid faciet ergo uermis, putredo, fauilla, si Christi faciem corda beata pauent? Oppressi, rapui, nudaui, crimina finxi, pauperis ad uocem mens mea surda fuit, corrupi proprium lasciuo uulnere corpus: hinc miser, hinc pauidus, hinc tremulentus eo. Nulla meas umquam uenia compescuit iras nec sine felle furens nec sine caede fui. Inde pauet animus, similes ne perferat ictus aut poena laceret, quae sine fine nocet. Nam licet hic modico patrentur tempore probra, longa tamen animam post male flamma cremat. Talia dum rite paueo, dum corde tremesco, te te, summe Deus, pro pietate peto (te sine nemo ualet peccati tollere labem aut mentem uitiis emaculare suis): dimitte culpam misero, dimitte reatum, effice post lapsum, post mala tanta bonum. Parce, precor, animae pulsanti, parce petenti, quae flammas metuit, dum sua facta gemit. Gaudia tu sanctis, tu reddis praemia iustis, Eugenii miseri sit rogo poena leuis.
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Übersetzung: Schon ergreift, [mich] Elenden zu beugen, das lieblose Greisenalter, so singe ich nun traurige Lieder aus neuem Schmerz. Siehe, vom triefenden Haupt benetz’ ich weinend die Wangen und mein tränenersticktes Murmeln wendet sich himmelwärts. 5 Zuvor jedoch wird [das Greisenalter] selbst in meinen Jamben dargelegt werden, wie viel Schaden es anrichtet, unerträglich durch seine Krankheiten. Grausame Zeit, o schändliches Greisenalter, du, das du alles Schöne mit wilder Kehle verschlingst, in gierigem Klaffen den schwarzen Schlund aufreißt, 10 das Menschengeschlecht einer Stiefmutter gleich verletzt und, ist es verletzt, mit dem Schwert des Todes durchbohrst. Näherst du dich, fällt jegliche Kraft ab, die Gesundheit zieht sich zurück, die Krankheit schreitet voran, die Sinne werden stumpf, die Schönheit geht zugrunde, 15 die kranke Brust schwindet in Seufzern dahin, die Freude widert an, Gefallen findet lautes Jammern. Du brichst die Knochen, die Glieder machst du von Runzeln rau, die Haare stutzt du zurück und streust weiße Strähnen ein, die Zähne stumpfst du ab, machst sie schleimig, 20 mit abscheulichem Zittern erschütterst du den ganzen Körper, drohst Fieber an und fügst Schmerzen zu. Durch dich bringt die Fußgicht harte Geschwulste hervor, speit der Keuchhusten eitertriefend aus, verbrennt der Ausfluss der Wunden die Haut, 25 gibt es keine Freude an Speis und Trank: Allein die Klagen bringen Trost. So ich im Geiste angewidert das bedenke, gefällt es mir, nachdem alles Vergängliche fahren gelassen, Gott zu fürchten, das Ewige zu suchen, 30 irdischen Gewinn zu werten wie Staub, stets zu beten und weinend zu sprechen: „Geht zugrunde, ihr leeren Freuden der Welt, ihr dem Verfall geweihten Schätze, ihr schmutzigen Güter, schädlichen Ämter, Ehrungen und Schmeicheleien.“ 35 Schon droht das Ende und naht der Niedergang, schon klopft der blutige Tod an unsere Tür. O alles verschlingender Tod, an dich wende ich nun meine Klage: Warum verfolgst du [mich] Elenden? Warum kommst du so eilends? Du machst, dass die Zeiten in rasendem Laufe verfliegen 40 und das blutige Schicksal seine Schritte beschleunigt. Wenn du heraneilst, dann weichen die Freuden des Lebens, der furchteinflößende Schatten kommt, das strahlende Licht entflieht. Alle Eingeweide werden ihrer lebendigen Bewegtheit beraubt, die Augen schließen sich, die geschwätzige Zunge schweigt,
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die offenen Ohren werden taub, da ihre Windungen zerschunden sind, in der verschlossenen Nase ist kein Geruch, die Lunge atmet keinen Atemhauch mit lebensspendendem Luftstrom, die erkalteten Glieder sind starr und selbst das Blut ist nicht warm. Durch Zersetzung zerfällt das Fleisch, alles zernagen die Würmer, so wird das Antlitz des Menschen zu fauliger Asche. Viel Furchterregendes zwar habe ich gesungen und viel, vor dem zu zittern ist, doch was ich noch mehr fürchte, davon will ich nun unter Tränen sprechen. Des hochthronenden Richters Stuhl sehe ich schon voller Kummer, vor dessen Anblick alle Geschöpfe erzittern. Die Schar der Himmel legt [ihm] die schneeweißen Kränze zu Füßen, und wirft sich mit bebendem Knie nieder vor seinem Thron; in solcher Weise strebt sie, den Herrn zu sehen, ihn immer zu lieben, dass Furcht, mit Liebe vermengt, den Geist erschüttert. Was wird also der Wurm tun, die Fäulnis, die Asche, wenn schon die seligen Herzen vor Christi Angesicht schaudern? Ich habe bedrängt, geraubt, geplündert, falsche Vorwürfe hab’ ich erdacht, für die Stimme des Armen war mein Geist taub, Ich habe meinen eigenen Körper mit der Wunde der Zügellosigkeit verdorben: Deshalb gehe ich elend, deshalb ängstlich, deshalb zitternd einher. Keine Vergebung hat jemals meinen Zorn in die Schranken gewiesen, weder ohne Gift und Galle noch ohne Gewalt blieb ich, wenn ich in Wut war. Daher fürchtet mein Geist, dass er ähnliche Hiebe ertragen muss, oder ihn Strafe zerfleischt, die ohne Ende Leid zufügt. Denn werden auch hier die Schandtaten in kurzer Zeit nur begangen, eine lange Flamme verbrennt doch später die Seele schwer. Während zu Recht ich solches fürchte, während ich im Herzen erzittere, bitte ich dich, dich, höchster Gott, bei deiner Liebe (Ohne dich vermag niemand den Schandfleck der Sünde zu tilgen oder den Geist von seinen Fehlern zu reinigen): Erlasse mir Elendem die Schuld, lass die Anklage fallen, mach mich nach meinem Fallen, nach so vielem Schlechten gut. Verschone, ich bitte dich, die Seele, die anklopft und bittet, die die Flammen fürchtet, während sie ihre Taten beklagt. Du gibst den Heiligen Freude, du den Gerechten den Lohn, des armen Eugenius Strafe sei, so bitt’ ich dich, leicht.
5.4.1 Struktur a) Metrische Struktur: Die Polymetrie und die Frage nach der Zugehörigkeit von carm. 14b Alberto Carm. 14 ist das umfangreichste Gedicht im gesamten Libellus carminum. Wie umfangreich es jedoch genau ist, ist nicht mit letzter Sicherheit zu bestimmen, da es durch seine Polymetrie stärker in sich unterteilt ist als andere Gedichte.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Die unterschiedlichen Metren grenzen distinkte Abschnitte innerhalb des Gedichtes ab:284 A. Einleitung (6 Verse) B. Anti-Hymnus an die senectus improba (30 Verse) C. Lamentatio über die Furcht vor Tod und Gericht, Gebet zur Sündenvergebung (44 Verse) D. Rückblick auf Krankheit, Alter und deren poetische Bewältigung (20 Verse) = carm. 14b Alberto
Elegisches Distichon Jambischer Trimeter Elegisches Distichon
Sapphische Strophe
Tab. 2: Metrische Struktur carm. 14 und 14b Alberto
In einem Teil der Manuskripttradition, nämlich den Gruppen M und Ú, die beide spanischer Provenienz sind, ist der Abschnitt D durch ein besonderes Zeichen vom Vorhergehenden abgesetzt, das die übrigen Teile B und C nicht tragen; zusätzlich ist D in der Manuskriptgruppe M mit einem eigenen Titel, METRO SAFICO, überschrieben. Zusammen mit inhaltlichen Gründen hat dies Paulo Alberto dazu bewogen, in seiner Edition gegen den früheren Herausgeber Friedrich Vollmer D als eigenes Gedicht, das er carm. 14b nennt, zu betrachten – eine Ansicht, die er mittlerweile jedoch nicht mehr mit derselben Überzeugung vertritt.285 Zu Recht gesteht er ein, dass die Hinweise der Manuskripte auch Ergebnis späterer Bearbeitungen sein können,286 wie es ohnehin nicht als sicher gelten kann, dass die Gedichtsammlung, wie sie uns in den Manuskripten vorliegt, in dieser Form auf den Autor zurückgeht. Insofern haben wir es möglicherweise in den zwei verschiedenen Manuskripttraditionen bereits mit zwei unterschiedlichen Rezeptionen des Gedichtes bzw. der Gedichte zu tun, die verraten, wie lose oder eng der Inhalt des Teiles D auf carm. 14 bezogen wurde. Von daher sind es vor allem inhaltliche Gründe, die für eine Entscheidung (die genau das ist: keine Beweisführung, sondern eine Entscheidung) über die Zuordnung von Teil D geltend gemacht werden müssen. Alberto bringt für seine Ansicht drei solcher Argumente vor: Zunächst erkennt er in carm. 14b eine andere poetische Haltung als in carm. 14. Während 284
Vgl. zur dargestellten Einteilung WASYL 2014, 142 und ALBERTO 1999a, 310, die jedoch beide den zweiten, jambischen Teil ebenfalls als Lamentatio bezeichnen. 285 Seine Gründe für die Abspaltung von carm. 14 sind in ALBERTO 1999a, 310–311 dargelegt. In ALBERTO 2018, 10 Anm. 23 drückt er eine stärkere Zurückhaltung hinsichtlich der Frage aus: „Oggi sarei meno sicuro di separare le stanze saffiche del carm. 14.“ 286 So argumentiert SMOLAK 2010, 83 Anm. 27, der sich für die Zählung VOLLMERs ausspricht und die von ALBERTO 1999a vorgebrachten Argumente für nicht ausreichend für eine Trennung der Gedichte erachtet. WASYL 2014, 142 Anm. 15 bleibt in dieser Frage neutral.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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letzteres einen deutlich paränetischen Charakter habe, fehle dieser in 14b völlig. Dies ist zutreffend, da in diesem Abschnitt die Rückschau dominiert: Im Vergangenheitstempus referiert die Dichter-persona noch einmal ihre Leiden und reflektiert deren poetische Bewältigung.287 Moralische Implikationen, wie die Notwendigkeit der Abkehr von der Welt, der Buße und des Gebetes um Sündenvergebung fehlen hier genauso wie die hochemotionalen Schilderungen der körperlichen Leiden und der Furcht vor Tod und Gericht (im Präsens!), die carm. 14 seinen eigenen Charakter geben. Zum viel gesetzteren, eher resignativen Ton des carm. 14b trägt auch die sapphische Strophe bei, die als Versmaß der Ruhe gilt.288 Zweitens sei ein Bittgebet, wie es am Ende von Teil C steht, im Corpus des Eugenius eine sehr häufige Art, ein Gedicht zu beschließen,289 wogegen wir kein Beispiel finden, in dem es inmitten des Gedichtkomplexes steht. Im Übrigen steht auch der Name Eugenius überaus häufig am Ende eines Gedichtes.290 Einschränkend ist hierzu zu sagen, dass es lediglich zwei weitere polymetri-
287
Vgl. die Detailanalyse zu carm. 14b. Vgl. z.B. Ausonius, ephem. 1,21–24 (7 GREEN): fors et haec somnum tibi cantilena / Sapphico suadet modulata versu; / Lesbiae depelle modum quietis, / acer iambe. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Eugenius in carm. 101,3 (CCL 114,277 ALBERTO): Sapphico tristis modulante uersu diese Strophe des Ausonius rezipiert und sich daher der gängigen Verwendungsweise der sapphischen Strophe wohl bewusst war, vgl. auch SMOLAK 2010, 85 Anm. 35. A.a.O., 83 Anm. 27 argumentiert Kurt Smolak mit dieser Tatsache gegen eine Abtrennung von 14b: „[Die fünf sapphischen Strophen] korrespondieren mit dem im Trauervers der elegischen Distichen abgefassten Einleitungsteil, indem sie die Ruhe nach überstandener Krankheit (die ich in diesem Gedicht nicht sehe) mit ihrem sapphischen Versmaß andeuten, das ja als ‚ruhig‘ galt“. Dieses Argument lässt sich jedoch ebenso gut umkehren: Gerade der harte Gegensatz zwischen emphatischer Klage und verzweifeltem Bittgebet am (mutmaßlichen) Ende von carm. 14 und der resignativen Ruhe in carm. 14b, ohne dass dieser mit Begründungen (etwa der Information, dass das Gebet erhört wurde) überspielt wird, könnte für eine Abtrennung der sapphischen Strophen sprechen. Dass diese einen inhaltlichen Bezug zu carm. 14 haben, ist damit natürlich nicht bestritten: Schließlich sind Gedichtzyklen mit inhaltlichem Bezug der Gedichte zueinander bei Eugenius keine Seltenheit, wie z.B. das Gedichtpaar um Streit und Versöhnung mit einem Freund (carm. 35 und 36) zeigt. 289 Allgemeine Gebetswünsche, auch für andere, stehen am Ende von carm. praef., carm. 4, carm. 9, carm. 10, carm. 12, carm. 28 (für den verstorbenen Nicholaus), carm. 36 und carm. 76, ein persönliches Bittgebet des lyrischen Ichs für sich selbst am Ende von carm. 2 (das natürlich ein einziges Bittgebet ist, aber mit der Bitte um Sündenvergebung im Angesicht des Todes schließt wie der Teil D von carm. 14), carm. 11 (mit der Bitte an den Leser, Eugenius ins Gebet einzuschließen), carm. 13, carm. 17, carm. 18, carm. 19, carm. 21 (im vorletzten Distichon), carm. 24, carm. 35, carm. 97 (ein Doppelgebet für den Freund und für sich selbst) und schließlich carm. 101. 290 Vgl. carm. 11, carm. 18, carm. 19 und carm. 24. 288
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
sche Gedicht gibt,291 aber kein einziges, das eine ähnliche Länge und vergleichbar komplexe Komposition hätte wie carm. 14, was die Vergleichbarkeit dieses Gedichtes mit anderen Gedichten des Corpus grundsätzlich infragestellt. Dennoch lässt sich der Eindruck schwer vermeiden, dass Eugenius am Ende von Teil C eine seiner typischen Klauseln anwendet, wie sie ähnlich in carm. 19,4 (Eugenii miseri tu miserere pie) und wohl auch im leider lakunösen carm. 24,11–12 (nunc pius Eugenius poscit ****** / est tibi sors felix, sit mihi )292 auftreten. Sie scheint fast ein Signal dafür zu sein, dass ein carmen sein ‚Ziel‘ erreicht hat: „Sometimes, the poems seem to be composed simply to reach this final point.“293 Drittens lassen sich Textsignale erkennen, die die Teile A, B und C zu einer Einheit verbinden. Alberto nennt Überleitungen zwischen A und B durch die Ankündigung des Wechsels des Metrums (carm. 14,5: Ante tamen nostris ipsa pandetur iambis) sowie zwischen B und C über die Erwähnung der mors am Ende von B. (carm. 14,36: iam mors cruenta) und am Anfang von C (carm. 14,37: O mors omniuorax). Dieses Argument lässt sich jedoch noch stärker machen, wenn man Teil A, die sechs einleitenden Verse, als Schlüssel zum Verständnis des ganzen Gedichtes heranzieht. Was Eugenius dort nämlich ankündigt, entspricht exakt den Teilen A bis C von carm. 14. Nach der Themenangabe in V. 1 gibt er an, carmina maesta zu singen: Traurige Gedichte, Klagegedichte, die der ursprünglichste Ort des elegischen Versmaßes sind,294 in dem die Teile A und C verfasst sind. Wir können das als Angabe des Genres begreifen, um das es sich bei carm. 14 grundsätzlich handelt: um eine Elegie. Dieselbe Art von Ankündigung finden wir übrigens auch in carm. 22, im Epitaph für die verstorbene Basilla, in dem noch deutlicher auf das elegische Versmaß hingewiesen wird als in unserem Gedicht: Incipe luctificos […] modos.295 Das unmittelbar folgende Distichon lässt sich dann auch inhaltlich als Programm dieses Klagegedichtes lesen:
291
Nämlich carm. 8, ein titulus für eine Bibelausgabe, und carm. 9, wo das Metrum für eine Auflistung von Märtyrernamen unterbrochen wird. 292 Eugenius von Toledo, carm. 24,11–12 (CCL 114,241 ALBERTO). Poena leuis konjiziert Alberto aus einigen schwer leserlichen Buchstaben, aber auch aus der Parallele zu carm. 14,80. VOLLMER 1905, 250 liest uita leuis. 293 ALBERTO 1999a, 311. 294 Dieses Wissen bewahrt auch Isidor, orig. 1,39,14 (78 LINDSAY): Elegiacus autem dictus eo, quod modulatio eiusdem carminis conveniat miseris. Terentianus hos elegos dicere solet, quod clausula talis tristibus, ut tradunt, aptior esset modis. 295 Eugenius von Toledo, carm. 22,1–4 (CCL 114,238 ALBERTO). Auch in diesem Gedicht untermalt Eugenius im Distichon, das auf die Angabe des Genres folgt, das Klagethema durch typische Klagegestik: Concute singultu pectus, dic funus amarum / et salso geminas perlue rore genas.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
281
Fletibus ecce rigo roranti uertice malas et lacrimosa petunt murmura nostra polum. (carm. 14,3–4) Siehe, vom tropfenden Haupt benetz’ ich mit Weinen die Wangen und mein tränenersticktes Murmeln wendet sich himmelwärts.
Die Klage und die Hinwendung ‚himmelwärts‘, also das Bittgebet, sind also die Hauptinhalte der Elegie, die wir so auch in carm. 14 wiederfinden (nicht aber in 14b Alberto!). Während die Klage – über wechselnde Leiden körperlicher und seelischer Art, wie z.B. auch die Furcht vor dem Tod – sich durch das ganze Gedicht zieht, wird der Gebetsaspekt in den V. 71–80 eingelöst, in denen das lyrische Ich um Milde und insbesondere um die Vergebung seiner Sünden bittet. Dem gegenüber liest sich die mit ante eingeschobene Überleitung zum jambischen Teil des Gedichtes – „Zuerst jedoch wird [das Greisenalter] selbst in meinen Jamben dargelegt werden“ – als eine Unterbrechung des zuvor skizzierten Klage-Gebet-Programms. Zwar rechtfertigt der Inhalt dieses Abschnittes ebenfalls die Bezeichnung Lamentatio,296 der aggressive acer iambus gibt diesem ‚Anti-Hymnus‘ aber auch den Charakter einer Invektive. Wäre also nur der einleitende Teil A des carm. 14 erhalten, würden wir vom Gesamtgedicht daraus folgendes Bild gewinnen: Eine Elegie klagend-bittenden Charakters, in die eine jambische Invektive gegen die senectus improba eingeschoben ist.297 Die sapphischen Strophen in Teil D werden dagegen weder innerhalb des Textes angekündigt, wie dies beim jambischen Teil der Fall ist, noch finden wir auf der inhaltlichen Ebene Vorverweise oder Überleitungen, die den harten Schnitt zwischen dem verzweifelten Bittgebet am Ende von Teil C und der ruhigen Resignation von Teil D abmildern würden, während die übrigen Teile des Gedichtes allesamt durch entsprechende Textsignale in die Gesamtkomposition integriert sind. So scheint die Textstruktur selbst dafür zu sprechen, dass mit Teil D ein Neueinsatz stattfindet, der eine Abtrennung von carm. 14b Alberto rechtfertigt – was freilich nicht heißt, carm. 14b könne nicht inhaltlich auf carm. 14 bezogen werden. b) Inhaltliche Struktur Die metrische Struktur des Gedichtes, das hier als mit V. 80 endend angenommen wird, ist selbstverständlich nicht unabhängig von der inhaltlichen Struktur,
296
So charakterisiert den Abschnitt ALBERTO 1999a, 310. Die Praxis in polymetrischen Gedichten, den Wechsel des Metrums anzukündigen, sehen wir z.B. bei Paulinus von Nola, Vlt. 1,13–18 (CCL 21,529–530 DOLVECK) = carm. 10,13–18 (CSEL 230,24 HARTEL) und in Nat. 13,56–59.100–104 (CCL 21,465–466 DOLVECK) = carm. 21,56–59.100–104 (CSEL 230,160–161 HARTEL). In beiden polymetrischen Gedichten ist jeglicher Wechsel des Metrums angekündigt. 297
282
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
letztere gestaltet sich jedoch noch einmal um einiges komplexer. Folgender Überblick soll bei ihrer Erfassung helfen: A. Eleg. B. Jambischer Distichon Trimeter 1–6: 7–36: Einleitung Anti-Hymnus an die senectus
7–26: Vergehen der senectus
C. Elegisches Distichon 37–50: 51–70: Querella Pauor vor dem Gericht an die mors
27–36: Reflexion: Absage an die Welt
51f: Einleitung – pauor
53–60: iam cerno – Vision des Gerichts
61–66: Sündenbekenntnis
71–80: Oratio um Sündenvergebung 67–70: Rückbezug auf den pauor
Tab. 3: Inhaltsübersicht carm. 14 Alberto
Es ist leicht zu erkennen, dass die ‚metrischen Grenzen‘ des Gedichtes auch mit wichtigen Sinnabschnitten zusammenfallen. Gerade der elegische Teil C jedoch ist noch einmal stärker in sich untergliedert. Die in der ersten Zeile der Tabelle vorgenommene Unterteilung (in Querella an die mors – Klage über den pauor – Oratio um Sündenvergebung) ist dabei nicht allein nach inhaltlichen Kriterien gewonnen, sondern die Einschnitte werden auch durch poetologische Aussagen innerhalb des Gedichtes signalisiert. Dies ist sowohl bei Sinnabschnitten der Fall, die mit einem metrischen Einschnitt einhergehen, als auch bei metrisch nicht distinkten Abschnitten: Übergang
Art des Übergangs
Vers
Einleitung – Antihymnus an senectus
Ankündigung
Anti-Hymnus an senectus – Querella an mors
Überleitung
V. 5–6: Ante tamen nostris ipsa pandetur iambis, / quam noceat… V. 37: iam mors cruenta nostra pulsat limina V. 38: O mors omniuorax, ad te nunc uerto querellam V. 51–52: Multa pauenda quidem cecini… / sed mage quid uerear, nunc lacrimando loquar. V. 71–72: Talia dum rite paueo,… / te te summe Deus, pro pietate peto
Ankündigung Querella an mors – Pauor vor dem Gericht
Rückblick und Ankündigung
Pauor vor dem Gericht – Oratio um Sündenvergebung
Rückblick und Ankündigung
Tab. 4: Überleitungen in carm. 14
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
283
Typisch für diese Art der ‚Gliederung mit poetischen Mitteln‘ sind, betrachtet man die einzelnen Übergänge, die Erwähnung des Metrums, zeitliche Aussagen wie ante und nunc sowie Aussagen in der ersten Person Singular, die eine ‚dichterische Handlung‘ anzeigen (uerto, cecini, loquar, peto). Ähnliches lässt sich auch im polymetrischen Nat. 13 Dolveck (= carm. 21 Hartel) des Paulinus von Nola beobachten.298 Der am undeutlichsten markierte Übergang ist sicherlich der letzte: Mit Talia dum rite paueo ist zwar der gesamte Inhalt des vorherigen Abschnitts zusammengefasst, und das peto lässt sich auch als Hinweis verstehen, dass Eugenius jetzt ‚ein Gebet dichtet‘ (und nicht nur, dass das lyrische Ich auf der rein inhaltlichen Ebene zu beten beginnt). Das überleitende Distichon ist jedoch in seiner Struktur durchaus mit dem Einschnitt ähnlich, der innerhalb des jambischen Anti-Hymnus an die senectus den reflektierenden zweiten Teil abtrennt (hier bereits in der zweiten Zeile von Tab. 3 dargestellt, deren Unterteilungen lediglich inhaltliche Kriterien zugrundeliegen): Haec taediosa mente dum recogito. Was jedoch darauf folgt, ist weniger als ein distinkter Teil des Gedichtes verstehbar, sondern vielmehr eine Reflexion über die Konsequenzen, die das lyrische Ich aus den zuvor beschriebenen Gräueltaten der senectus für sein Leben ziehen möchte: Deum timere, sempiterna quaerere, / terrena lucra deputare […], / orare semper atque flendo dicere: / „abite pessum uana mundi gaudia […]“. Zwei Begriffe lassen sich auch als poetologische Meta-Begriffe auffassen (orare und dicere), dies wird aber, anders als am Ende von Teil C, nicht unmittelbar eingelöst. Lediglich die Absage an die Welt (abite pessum) kann als angekündigt verstanden werden, doch ob diese lediglich zwei Verse lange Absage wirklich als eigens angekündigter Abschnitt des Gedichtes aufgefasst werden soll, ist mehr als fraglich. Die genannten Ähnlichkeiten weisen aber auch darauf hin, dass es strukturelle Parallelen zwischen dem jambischen Teil B und dem großen elegischen Teil C gibt, die in der vorgestellten Strukturübersicht nicht darstellbar sind. Nach Smolak sind beide Teile, nicht nur der jambische, nach dem formalen Schema des antiken Hymnus299 aufgebaut, der typischerweise dreigeteilt ist: 298 Vgl. Paulinus von Nola, Nat. 13,269–270 (CCL 21,472 DOLVECK) = carm. 21,269– 270 (CSEL 230,167 HARTEL): His nunc […] dedico und Nat. 13,344–346 (CCL 21,474 DOLVECK) = carm. 21,344–346 (CSEL 230,169 HARTEL): Nunc ad te […] referam […] loquelas. 299 Der Begriff ‚Hymnus‘ ist als Gattungsbegriff umstritten, da der Begriff in der Antike v.a. die Verwendung eines Gedichtes im liturgischen Gesang meinte; vgl. z.B. Augustinus, en. Ps. 72,1 (CCL 39,986 DEKKERS/FRAIPONT): si sit laus et non sit dei, non est hymnus; si sit laus et dei laus et non cantetur, non est hymnus. In der wissenschaftlichen Diskussion kann der Begriff Hymnus daher nach wie vor inhaltlich unterschiedlich gefüllt sein; hier ist er im Sinne einer Literatur gemeint, die einem „festen Formelstile literarischer Hymnenpoesie“ folgt, den zuerst NORDEN 1974/11913, bes. 143–176 [Zitat a.a.O., 157], beschrieben hat und der in der oben skizzierten Dreiteilung aus Epiklese, Aretalogie und abschließendem Dank oder Bittgebet besteht. Problematisch ist dabei, dass diese Merkmale nicht auf alles
284
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Nach einer Anrede der Gottheit (oder höheren Entität) folgt eine Prädikation bzw. Aretalogie (oft im Du- bzw. Er-Stil oder in Relativsätzen), mittels derer der oder die Adressierte gepriesen wird und seine oder ihre Taten gelobt werden. Den Abschluss bildet eine Art Grußformel, in die ein Dank- oder Bittgebet eingebaut wird.300 Die genannten formalen Elemente finden wir mutatis mutandis nicht nur im jambischen Anti-Hymnus, sondern auch im elegischen Teil. Beide beginnen sozusagen mit einer Epiklese, nämlich damit, dass sie eine existentielle Krise personifizieren und ansprechen: V. 7–8: Crudelis aetas, o senectus improba quae cuncta pulchra fauce saeua deuoras, … V. 37–39: O mors omniuorax, ad te nunc uerto querellam: cur miserum sequeris? cur properata uenis? Tu facis ut rapido uoluantur tempora cursu…
Auf die Anrede folgt jeweils – als ins Negative gekehrte ‚Aretalogie‘ – eine Auflistung der Gräueltaten der senecuts und der mors in der 2. Person Singular (quae […] deuoras // Tu facis…). Sogar inhaltlich sind diese ‚Vergehen‘ erstaunlich ähnlich: Zunächst wird ganz allgemein beschrieben, wie sie das Schöne am Leben zerstören (V. 8: cuncta pulchra […] deuoras // V. 41–42: uitae gaudia cessant, / umbra pauenda uenit, lux radiata fugit), dann folgt ein Katalog an Schädigungen, den Alter und Tod dem menschlichen Körper zufügen. Im abschließenden Gruß bzw. Gebet wiederum findet in beiden Teilen insofern ein Bruch mit dem Hymnen-Schema statt, als die ‚Adressaten‘ wechseln. Der jambische Teil B endet mit einer Reflexion über die Konsequenzen, die aus den Betrachtungen des Alters zu ziehen sind (V. 26: Haec taediosa mente dum recogito). Angesprochen ist dann nicht mehr die senectus, sondern die uana mundi gaudia, die das lyrische Ich verwünscht und von denen es sich abwendet. Im elegischen Teil C ist an dieser Stelle das Thema des pauor vor dem, was nach dem Tod kommt, eingeschoben – wiederum als Konsequenz der
zutreffen, was man als Hymnus bezeichnet, und umgekehrt die Abgrenzung zum Gebet im Allgemeinen schwer möglich ist; vgl. THRAEDE 1994, 927–930. Ein gewisser Beleg dafür, dass der Hymnenstil bereits im antiken Bewusstsein existierte, ist jedoch die Tatsache, dass er unter Zuhilfenahme der genannten Merkmale auch parodiert werden konnte – was auch im vorliegenden ‚Hymnus‘ auf die senectus geschieht. Ein weiteres schönes Beispiel aus dem (noch paganen) spätantiken Bereich ist Tiberian, carm. 2 (56–57 MATTIACI); ein AntiHymnus auf das Gold, das die Menschen verderbe. Vgl. THRAEDE 1994, 933 und zu Tiberian SMOLAK 1989, 263–267. 300 Vgl. im Anschluss an NORDEN 1974/11913 THRAEDE 1994, 930.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
285
Betrachtungen des nahenden Todes. Wie oben in der Strukturübersicht angezeigt, bildet das pauor-Thema eine inhaltliche Klammer um eine Vision des Richterstuhls und ein dadurch motiviertes Sündenbekenntnis des lyrischen Ichs. Erst dieses führt schließlich zur abschließenden Oratio, die man als Parallele zur Absage an die uana mundi gaudia im jambischen Teil sehen kann. Beide werden, wie bereits erwähnt, ähnlich eingeleitet: V. 27–29: Haec taediosa mente dum recogito libet, relictis omnibus quae transeunt, Deum timere, sempiterna quaerere…
V. 71–76: Talia dum rite paueo, dum corde tremesco, te te, summe Deus, pro pietate peto [...] dimitte culpam misero, dimitte reatum effice post lapsum, post mala tanta bonum.
Und natürlich enthält auch die Oratio einen Adressatenwechsel weg von der mors und hin zu Gott, dem das Bittgebet gilt. Insofern wird am Ende des Gedichtes aus dem Anti-Hymnus ein ‚echter‘ Hymnus mit dem korrekten Adressaten, den in einem christlichen Kontext ein Hymnus zu haben hat. Gleichzeitig löst das Sündenbekenntnis mit der flehenden Bitte genau das ein, was das lyrische Ich in seiner Absage an die weltlichen Freuden versprochen hatte: Deum timere, sempiterna quaerere. Das Verhältnis des jambischen Teiles B und des elegischen Teiles C lässt sich also nicht nur als Abfolge von logischen Schritten (Alter – Tod – Gericht) begreifen, sondern auch als eine wiederholende Tiefführung. Teil C übernimmt mutatis mutandis die Aussagen über das Alter für den Tod, führt sie aber weiter, indem schließlich die schrecklichste Konsequenz (V. 52: sed mage quid uerear) des ‚Doppelunglücks‘, das Alter und Tod darstellen, aufgezeigt wird: das Gericht Gottes nach dem Tod. Wie zuvor die Schrecken des Alters die Absage an die vergängliche und nichtige Welt motivierten, motiviert die Gerichtsvision und die Bewusstwerdung der eigenen Sünden schließlich die Erkenntnis der eigenen Schwäche und die Hinwendung an Gott im Gebet. Anders ausgedrückt: Die Meditation über das Alter bewirkt Welterkenntnis in Form der Demaskierung der uana mundi gaudia (V. 32), die Meditation über den Tod (der natürlich nicht vom Alter zu trennen ist) bewirkt die Selbsterkenntnis des lyrischen Ichs als Eugenius miser – auch dies eine Tieferführung im Vergleich zu Teil B. c) Zusammenschau von Inhalt und Metrum: Interpretativer Wert der Wahl des Metrums Die Polymetrie im engeren Sinne, nämlich der Wechsel des Metrums innerhalb eines Gedichtes, ist ein dezidiert spätantikes Phänomen der lateinischen Dichtung. Man spekuliert, ob es bereits durch die sogenannten poetae novelli des 2. bis 3. Jahrhunderts eingeführt wurde.301 Sowohl die Existenz dieser Gruppe als 301
Vgl. CONSOLINO 2016, 103 und MATTIACI 1982, 39–40.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
eigene literarische Bewegung ist jedoch angezweifelt worden als auch auch der fragmentarische Charakter ihrer überlieferten Schriften keine definitiven Schlüsse über die Art ihres Dichtens zulässt.302 Dennoch dürfte eine gewisse Vorliebe für poetische Kleinformen in ausgefalleneren Metren, die einige Dichter des 2. und 3. Jahrhunderts an den Tag legten, die nachfolgenden Generationen in dieser Hinsicht beeinflusst haben.303 Der erste Dichter, von dem wir nachweislich polymetrische Gedichte erhalten haben, ist Ausonius; ebenfalls fündig werden wir bei Paulinus von Nola, Cyprianus Gallus und Ennodius. Andere Dichter, wie etwa Sidonius Apollinaris und Venantius Fortunatus, setzen dieses besondere literarische Mittel nur ein einziges Mal ein. Überhaupt scheint es ein hauptsächlich gallisches Phänomen zu sein.304 Hinsichtlich der Frage, welchen Status die Polymetrie innerhalb von Gedichten hat und welche rhetorischen Zwecke sie erfüllt, steht eine umfassende Studie dieses Phänomens bislang noch aus. Einen schon recht tiefgehenden Einblick gibt jedoch Francesca Ela Consolino, die theoretische Aussagen zur Polymetrie sowie ihre Verwendung in repräsentativen Gedichten analysiert.305 Ihre Ergebnisse machen deutlich, dass die Frage nicht pauschal zu beantworten ist, sondern jeder Fall für sich betrachtet werden muss. Der kleinste gemeinsame Nenner ist vielleicht, dass Dichter durch einen Wechsel des Metrums versuchen, nach dem ästhetischen Ideal der uariatio ein Gedicht durch besondere Virtuosität aufzuwerten. Zumal wenn es sich um ein längeres Gedicht handelt, kann dadurch ein Teilaspekt als besonders bedeutsam, aber auch als besonders allgemeingültig betont werden: „The change of metres can also underline the exemplary nature of an existential situation“.306 An eine solche Verwendungsweise lässt auch unser carm. 14 denken, wo der metrisch hervorgehobene Teil B, der Anti-Hymnus an die senectus improba im jambischen Trimeter, das Greisenalter als ein alle Menschen betreffendes Phänomen mit weitreichenden existentiellen Folgen betrachtet. Ein genauer Blick auf die Korrespondenz von Metrum und Inhalt kann uns also möglicherweise wertvolle Hinweise auf das Verständnis des gesamten 302
Die Fragmente der poetae novelli sammelt, ediert und kommentiert MATTIACI 1982. CAMERON 1980 spricht sich aufgrund kritischer Quellensichtung gegen die These aus, dass die poetae novelli bereits in der spätantiken Literaturkritik als distinkte Gruppe wahrgenommen wurden, und betrachtet diese Dichter (die persönlich und stilistisch oft wenig miteinander verbindet) nicht als poetische Bewegung, sondern ihre Dichtung als gewöhnliche Verschiebung des literarischen Geschmacks im Laufe der Zeit. Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung poetae novelli als ein von der modernen Forschung geprägter Begriff zu verstehen. 303 Möglicherweise wurde Ausonius von den poetae novelli beeinflusst, wie etwa VON ALBRECHT 32012, 1128 annimmt. 304 Vgl. CONSOLINO 2016, 124. 305 Vgl. CONSOLINO 2016, passim. 306 CONSOLINO 2016, 124.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
287
carmen geben. Wie bereits dargelegt, ist die Einleitung hier programmatisch: Sie definiert das Gesamtgedicht als eine Klage und den Anti-Hymnus an die senectus als einen Einschub innerhalb dieser Klage. Der Dichter braucht somit das elegische Versmaß gar nicht zu erwähnen, da es durch diese Charakterisierung hinlänglich bezeichnet ist: Zwar ist es nicht auf ‚Klagegesänge‘ (carmina maesta, V. 2) beschränkt, doch nach den etymologischen Definitionen der Antike und Spätantike, die Eugenius vertraut sein konnten, ist eine Elegie im ursprünglichsten Sinn ein Klagegedicht307 – und erst im weiteren Sinn ein Gedicht, das verschiedene persönlich gefärbte Inhalte ausdrücken kann308 oder ein Epigramm darstellt, dessen häufigstes, wenn auch besonders in der Spätantike nicht ausschließliches Metrum ebenfalls das elegische Distichon ist.309 Teil A: Elegisches Distichon Dass dieser erste, einleitende Teil elegisch ist, ist also dadurch leicht erklärt, dass das Gedicht grundsätzlich ein Klagegedicht ist.310 Der elegische Charakter wird auch inhaltlich in diesem einleitenden Teil sofort eingelöst: Schon der erste Vers spricht vom miser, der vom Greisenalter ergriffen und gebeugt wird; der Folgevers identifiziert diesen miser dann als das lyrische Ich. Teil B: Jambischer Trimeter Interessanter ist hier der folgende, in der Einleitung mit ante tamen nostris pandetur iambis angekündigte jambische Teil. Genau genommen handelt es sich um 30 Verse im jambischen Trimeter (oder: jambischen Senar), der sich zu sechs Fünferstrophen gruppieren lässt. Der Jambus, der als das einfachste und dem natürlichen Sprechen am nächsten kommende Versmaß gilt, hat sei-
307
Isidor von Sevilla, orig. 1,39,14 (78 LINDSAY): Elegiacus autem dictus eo, quod modulatio eiusdem carminis conveniat miseris. Diese Grunddefinition der Elegie beruht letztlich auf der Etymologie von Ģõěñïó÷, „weherufen“, die Euripides prägt, vgl. Euripides, Iph. Taur. 144–147.1091 (249.287 DIGGLE); Troad. 119 (186 DIGGLE); Hel. 185 (12 DIGGLE). Vgl. auch Julian von Toledo, gramm. 22,29 (227 MAESTRE YENES), der Isidors Definition direkt zitiert. 308 Vgl. ALFONSI 1959, 1028: „Eine andere Eigentümlichkeit der Elegie ist die Mannigfaltigkeit des Inhalts, der aber stets durch das persönliche und unmittelbare Interesse, das subjektive Beteiligtsein des Dichters gekennzeichnet wird“. 309 Vgl. MORGAN 2019, 133–136. Gerade in der Spätantike wird jedoch auch der fortlaufende Hexameter als Metrum ‚epigramm-fähig‘; vgl. a.a.O., 141. 310 Die Wahl des elegischen Distichons koinzidiert auch mit einer von ROBERTS 2016b, 342 bemerkten Tendenz, einleitende Gedichte in diesem Versmaß zu verfassen, jedoch ist dieser Trend bei Eugenius selbst, der die Praefatio zu seinem Gedichtband im elegischen Distichon, zu seiner Rezension der Dracontius-Werke aber im Hexameter verfasst, nicht eindeutig.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
nen ursprünglichsten Platz in Invektiven, ist aber – wie prinzipiell alle Versmaße – nicht darauf beschränkt.311 Eugenius dürfte diese ‚Färbung‘ des Jambus aufgrund seiner klassischen Bildung bewusst gewesen sein; 312 in der Praxis wird er ihn aber vor allem aus Hymnen gekannt haben, deren bedeutendste Form der von Ambrosius von Mailand geprägte Ambrosianus, der jambische Dimeter, ist.313 Auch für das wisigotische Spanien lässt sich dies anhand der Hymnodia Hispanica aufzeigen, der wichtigsten hispanischen Sammlung von Hymnen, bei denen freilich im einzelnen nicht nachvollziehbar ist, ob sie aus der wisigotischen oder der mozarabischen Zeit stammen: Von den 210 Hymnen sind allein 109 im jambischen Dimeter verfasst. Mit 22 Hymnen (davon 20 in Fünferstrophen, wie sie in diesem Gedicht vorliegen) ist der jambische Trimeter ein selteneres, aber immer noch gängiges Versmaß des Hymnus.314 Indem er also eine Invektive auf die senectus dichtet, die zwar alle formalsprachlichen Charakteristika des Hymnus erfüllt (Genaueres unten ab S. 317), diesen aber inhaltlich ins Negative verkehrt, vereint Eugenius die beiden klassischen Orte des Jambus.315 Ein passenderes Versmaß hätte er kaum wählen können. Ein Blick auf Beispiele der dichterischen Tradition, in denen gerade der jambische Trimeter zum Einsatz kommt, kann uns darüber hinaus Hinweise an die Hand geben, was wichtige Referenztexte für Eugenius’ carm. 14 sein könnten. Ein besonders prominentes Beispiel ist der Romanus-Hymnus des Prudentius (perist. 10), der wohl erst nachträglich in den Liber Peristephanon eingefügt wurde316 und der auf den ersten Blick nicht viel mit unserem polymetrischen Gedicht gemein zu haben scheint. Der 1140 Verse umfassende Hymnus ist sehr komplex gebaut, weist eine Binneneinleitung auf und erzählt die Geschichte seines Märtyrers und Helden in verschiedenen Akten und mit ausgiebigen Redeanteilen der beteiligten Personen, weshalb er heute oft auch als „Lesedrama“ bzw. „christliche Tragödie“ charakterisiert wird.317 Auch der dort 311
Vgl. HARRISON 2005, 190. Vgl. Ausonius’ bereits zitierte Charakterisierung des Jambus als acer (Ausonius, ephem. 1,24 [7 GREEN]) sowie die Herleitung in Isidor von Sevilla, orig. 1,17,4 (42 LINDSAY): Iambus dictus est eo, quod ūëöìĻāïó÷ Graeci detrahere dixerunt. Huiusmodi enim carmine omnes invectiones uel detractiones inplere poetae sunt soliti. 313 Vgl. NORBERG 2004, 63. Zur Autorität des Ambrosius in Bezug auf Hymnen vgl. Isidor von Sevilla, eccl. off. 1,6,2 (CCL 113,7 LAWSON). 314 Vgl. die Zusammenstellung von CASTRO SÁNCHEZ 2010, 35–37 in seiner Edition der Hymnodia Hispanica. 315 Dies beobachtete bereits SMOLAK 2006, 129. 316 Vgl. FUX 2013, 7. 317 LUDWIG 1977, 336–337. Tatsächlich lässt Prudentius das Stichwort tragoedia selbst in seinem Romanus-Hymnus fallen (perist. 10,1113 [CCL 126,368 CUNNINGHAM]), was FUX 2005, 90–91 und DERS. 2013, 239–240 als Anknüpfung und Abgrenzung zugleich auffasst: Die durch ihre Anbindung an das (durchaus nicht religiös neutrale, sondern pagansakrale) Theater verpönte Tragödie wird zu einem christlichen Drama (mit den typischen 312
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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verwendete jambische Trimeter wird mit dieser Eigenart des Gedichtes in Verbindung gebracht, da er das Sprechversmaß u.a. der senecäischen Tragödie sei.318 Prudentius’ perist. 10 ist allein schon aufgrund seiner Länge, aber auch seiner Struktur wegen ein eher untypisches Beispiel für einen Hymnus – wie Prudentius generell die Gattung des Hymnus auf eine neue poetische Stufe stellt.319 Inhaltlich ist er im Hinblick auf carm. 14 allerdings durchaus interessant: Denn als der Märtyrer Romanus auf den Richterspruch hin gefoltert wird, damit er dem christlichen Glauben abschwöre, und alle Leiden so ruhig erträgt, dass die Folterknechte mehr unter ihren Anstrengungen zu leiden scheinen als der christliche heros selbst,320 wendet dieser sich mit einer apologetischen Rede an die Umstehenden und relativiert die Bedeutung körperlicher Leiden, indem er auf das ganz alltägliche, aber ebenso große Leid verweist, das Krankheiten über die Menschen bringen: Was seien schon die Klauen der Folterwerkzeuge gegen eine gestandene pleurisis?321 Oder gegen Arthritis und Fußgicht?322 Mit üppigen Beschreibungen, die mehr als nur einmal an die Schilderungen der körperlichen Auswirkungen des Alters in unserem Gedicht denken lassen, führt Prudentius durch den Mund des Romanus den Leserinnen und Lesern die Vergänglichkeit des Körpers vor Augen und begründet so den absoluten Vorrang des seelischen Heils vor dem körperlichen Heil – da letzteres ohnehin für niemanden von Dauer sein könne.323 Im liber peristephanon ist der jambische Trimeter einmalig, für die Einleitungsgedichte zu seinen allegorischen Epen Hamartigenia und Psychomachia ist es jedoch Prudentius’ Standardversmaß. Noch ein weiteres Mal taucht es im cathemerinon (cath. 7) auf, in einem Fastenhymnus. Auch wenn der Fokus hier nicht auf der Vergänglichkeit des Körpers liegt, trifft der Hymnus doch eine fünf Akten) transformiert und so akzeptabel gemacht, was aber natürlich die traditionelle Tragödie durch die Gegenüberstellung zu ihrem „gereinigten“ christlichen Pendant auch abwertet. 318 Vgl. schon HENKE 1985, 135 und FUX 2003, 52–53, dessen grundsätzlicher Ansatz es zudem ist, die Prudentius-Hymnen auch als Passionen zu betrachten – es fließen also mehr als nur zwei Genres im Romanus-Hymnus zusammen. 319 Vgl. FUX 2005, 88. 320 Vgl. Prudentius, perist. 10,456–457 (CCL 126,345 CUNNINGHAM): Nitendo anhelant, diffluunt sudoribus, / cum sit quietus heros in quem saeuiunt. 321 Vgl. Prudentius, perist. 10,484–485 (CCL 126,346 CUNNINGHAM): Non ungularum tanta uis latus fodit, / mucrone quanto dira pulsat pleurisis. Unter einer pleurisis/pleuritis, heute der Fachbegriff für die Rippenfellentzündung, verstand Isidor einen „scharfen/akuten Schmerz in der Seite, mit Fieber und blutigem Auswurf“, vgl. Isidor von Sevilla, orig. 4,6,8 (168 LINDSAY): Pleurisis est dolor lateris acutus cum febre et sputo sanguinolento. 322 Vgl. Prudentius, perist. 10,494–495 (CCL 126,347 CUNNINGHAM): Sic heiulantes ossa clamant diuidi, / nodosa torquet quos podagra et artrisis. 323 Vgl. Prudentius, perist. 10,478–479 (CCL 126,346 CUNNINGHAM): nam membra parui pendo quo pacto cadant / casura certe lege naturae suae.
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ähnliche Aussage wie perist. 10, dass nämlich der Körper die Seele nicht mit seinen Gelüsten beschweren dürfe und daher – eben durch Fasten – in die Schranken zu weisen sei.324 Freilich sind solcherlei asketische (bzw. im entferntesten Sinne ‚körperpolemische‘)325 Inhalte keine Seltenheit im Werk des Prudentius und erscheinen auch in anderen Versmaßen.326 Vielleicht ließ jedoch der Krankheitsexkurs innerhalb des Romanus-Hymnus, der, wie zu zeigen sein wird, noch weitere Gemeinsamkeiten mit carm. 14 und insbesondere dem Anti-Hymnus aufweist, gerade den jambischen Trimeter als besonders geeignet erscheinen. Teil C: Elegisches Distichon Vor dem Hintergrund der Einleitung lässt sich der elegische Teil C, der gleichzeitig der längste Part des Gedichtes ist, am einfachsten als eine Rückkehr zum ‚Grundmetrum‘ des Gedichtes begreifen. Erstaunlich ist dabei jedoch, dass die auf den jambischen Teil folgende Querella an die mors inhaltlich und strukturell fast dieselben Merkmale aufweist wie der jambische Anti-Hymnus.327 Wiederum wird eine ‚existentielle Krise‘ im ersten Vers des Abschnitts direkt adressiert: O mors omniuorax, ad te nunc uerto querellam (V. 37). Ebenso wie im Fall der senectus werden der personifizierten mors in der 2. Person Singular ihre Vergehen an der menschlichen Existenz vorgeworfen, ohne dass auf das lyrische Ich persönlich Bezug genommen wird – abgesehen vom diesen Teil einleitenden Distichon, in dem das lyrische Ich als Klagender auftritt, und der Überleitung zur Furcht vor dem Richterstuhl Gottes (V. 51: Multa pauenda quidem cecini multaque tremenda, / sed mage quid uerear, nunc lacrimando loquar). Da der Teil C inhaltlich stärker untergliedert ist und sich grob die Teile Querella an die mors (37–50) – Pauor vor dem Gericht (51–70) – abschließende Oratio (71–80) unterscheiden lassen, wäre es also auch durchaus denkbar gewesen, die Querella, die inhaltlich dem Anti-Hymnus an die senectus stark ähnelt, ebenfalls im jambischen Trimeter zu dichten oder ihr ein eigenes Versmaß zu geben. Wiederum lässt sich über die Gründe natürlich nur spekulieren. Denn gerade das elegische Versmaß, das sich schon in der klassischen Antike kaum 324
Vgl. Prudentius, cath. 7,21–25 (CCL 126,35 CUNNINGHAM): Frenentur ergo corporum cupidines / detersa et intus emicet prudentia; / sic excitato perspicax acumine / liberque flatu laxiore spiritus / rerum parentem rectius precabitur. 325 Vgl. die Charakterisierung von cath. 7 in O’DALY 2012, 207: „As in much moralizing literature in the traditions of satire and diatribe, there is a vivid depiction of what is to be avoided: fat, sweat, drunkenness that strangles and chokes, gluttony, sloth, lust, dirty jokes, wallowing in excess, the soul snoring.“ 326 So etwa im Jambischen Dimeter in perist. 2,205–232 (CCL 126,264–265 CUNNINGHAM). 327 Vgl. SMOLAK 2006, 132, der auch den elegischen Teil als einen Anti-Hymnus charakterisiert.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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präziser als über die Opposition zum daktylischen Hexameter, dem heroischen Versmaß, fassen lässt,328 nimmt die Position eines ‚Allrounders‘ ein, der für unterschiedlichste literarische Zwecke verwendet werden kann. 329 Warum sollte Eugenius nicht eine Invektive im Jambischen Trimeter und eine im elegischen Distichon dichten können? Ein weiteres Erklärungsmodell wäre dagegen die schon erwähnte ‚spirituelle Tiefführung‘ der Klage über Alter und Tod. Schon die Invektive gegen das Greisenalter endet als spirituelle Konsequenz mit der Absage an die irdischen Freuden, deren Vergänglichkeit das Greisenalter aufzeige. Dieser letzte Teil entfaltet sich bei der zweiten Invektive gegen die mors omniuorax stärker und erhält über die oben aufgeführten gliedernden Elemente ein eigenes Gewicht; er mündet in eine Gerichtsvision, die wiederum zu einem Sündenbekenntnis und einem Gebet um Vergebung führt. Kurt Smolak sieht dementsprechend auch im elegischen Teil die Struktur Hymnus bzw. Anti-Hymnus als gegeben an und charakterisiert die Gerichtsvision, das Sündenbekenntnis und das Gebet als den – ausgeweiteten – dritten Part des typischen Hymnus, nämlich der Hinwendung zum Göttlichen.330 Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, den elegischen Teil C als eine Einheit zu sehen, die parallel zum jambischen Teil aufgebaut ist, deren Charakter sich aber von der Anklage (vgl. die polemische Charakterisierung der senectus mit ihrem gierigen Schlund und als böse Stiefmutter des Menschengeschlechts) hin zur Klage verlagert,331 was vielleicht mit der Bezeichnung als querella auch textimmanent angedeutet ist. So entspräche der metrischen Einheit ebenso eine inhaltliche Einheit wie in den Abschnitten zuvor. 5.4.2 Kommentar a) V. 1–6: Die Einleitung Impia iam miserum captat curuare senecta, inde dolore nouo carmina maesta cano. Fletibus ecce rigo roranti uertice malas et lacrimosa petunt murmura nostra polum. 5 Ante tamen nostris ipsa pandetur iambis, quam noceat morbis intoleranda suis.
328 Vgl. KENNEY/HINDS 42012, 518: „To some extent, as in Greek, the elegiac couplet is an all-purpose metre, save that its sphere of operation can often be defined negatively as ‘not epic’.“ Vgl. Auch ALFONSI 1959, 1050 über die Elegie bei Ausonius: „die Elegie behält zwar ihre wesentliche Bedeutung als dichterische Totenklage und Widmungsgedicht, aber sie kann darüber hinaus auf jedes beliebige Thema angewendet werden.“ 329 Vgl. für einen Überblick über spätantike Verwendungsweisen ROBERTS 2016b, 341–343. 330 Vgl. SMOLAK 2006, 132. 331 Diesen Charakter des elegischen Teils betont auch SMOLAK 2006, 132.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Wie bereits im Abschnitt über die Struktur des Gesamtgedichtes herausgearbeitet, erfüllt die Einleitung die Funktion, auf das gesamte Gedicht und seine verschiedenen Bestandteile einzustimmen. Dies geschieht bereits im ersten Distichon, in dem zunächst das Thema angegeben wird: Die impia senecta tritt auf und wird bereits ähnlich eindrücklich personifiziert wie im jambischen Teil des Gedichtes, wo sie zur blutrünstigen Stiefmutter wird: Sie ergreift den miser, der im folgenden Vers als das lyrische Ich identifiziert wird, und krümmt bzw. beugt ihn (curuare). Wenn diese Lesart zutrifft,332 verbalisiert Eugenius ein Epitheton, das dem Greisenalter überaus häufig beigefügt wird: Bereits Ovid spricht von der curua senecta, dem ‚gekrümmten Greisenalter‘, das tacito pede angeschlichen kommt333 und das sich so die Leserinnen und Leser vielleicht personifiziert als buckelige alte Frau vorstellen konnten. Dasselbe Attribut trägt die senecta/senectus auch in Inschriften,334 bei Venantius Fortunatus und bei Augustinus.335 Auch bei Maximian, dessen Elegien ebenfalls das Greisenalter zum Hauptthema haben, fehlt es nicht.336 Im Attribut impia, das die senecta bei Eugenius erhält, wird darüber hinaus bereits der schmähende Charakter des Gedichtes vorweggenommen. Im Folgevers dagegen steht die Trauer im Fokus, wenn das lyrische Ich ankündigt, aufgrund von dolore nouo traurige Gedichte, carmina maesta zu singen – eine poetologische Charakterisierung des eigenen Gedichtes, die Eugenius auch für carm. 35 (an derselben Versposition) aufnimmt.337 Mit der Angabe der Art des Gedichtes folgt Eugenius einer in der lateinischen Dichtung weit verbreiteten Praxis; 338 die Art und Weise, wie er dies formuliert, könnte speziell von
332 Die Lesart impia iam miserum captat curuare senecta steht nur in den Handschriften Ú und Mb, während P und F impia iam miserum me captat curua senecta überliefern. 333 Ovid, ars 2,670 (181 KENNEY): iam ueniet tacito curua senecta pede. 334 Vgl. CLE 509,2 (243 BUECHELER) und CLE 2075,1 (80 BUECHELER/LOMMATZSCH); vgl. den Apparat der Edition ALBERTO 2005a, 227. 335 Vgl. Venantius Fortunatus, carm. 5,3,3 (17 REYDELLET) und Augustinus, serm. 242,3 (PL 38,1140): Non enim credituri sumus etiam senectam resurrecturam anhelam et curuam. 336 Vgl. Maximian, eleg. 1,261 (108 SANDQUIST ÖBERG) Hic veniens onerata malis incurva senectus / cedere ponderibus se docet ipsa suis. 337 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 35,8 (CCL 114,250 ALBERTO): cuius ab affectu carmina maesta canunt. Übrigens folgt auch dieser Vers, wie in carm. 14, unmittelbar auf die Angabe des Trauergrundes; hier ein Streit mit einem geliebten Freund, der erst nach drei Distichen allgemeinen Trauerausdrucks erwähnt wird. 338 Vgl. für die Junktur carmina maesta schon Catull, carm. 65,12 (99 BARDON); allerdings im Hinblick auf zukünftige Gedichte. Besonders oft charakterisiert Ausonius seine Gedichte als Trauergedichte, vgl. parent. 21,6 (41 GREEN); comm. prof. Burdigal. 21,2–3 (62 GREEN) und 26,9 (66 GREEN) sowie ep. 24,102 (259 GREEN).
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Corippus herrühren, bei dem er sich sprachlich auch sonst öfters zu bedienen scheint.339 Interessant für das Verständnis des Gedichtes und seine Einordnung in den Gesamtzusammenhang des Gedichtbuches ist die Interpretation des dolor nouus, den Kurt Smolak treffend als ‚neuartig, noch nie gekannt‘ auffasst, womit Eugenius – ebenfalls nach antiker Manier – mit dem Versprechen auf etwas Neues für sein Gedicht werben wolle.340 Es ist aber auch denkbar, diese Formulierung als Bezugnahme auf andere, evtl. zeitlich früher verfasste oder im Gedichtbuch vorausgehende (oder folgende?) Gedichte zu verstehen. Der „neue Schmerz“ wäre demnach einfach ein weiterer in der Reihe der Schmerzen, die das lyrische Ich bereits erlitten hat. Für die Rezipienten des Gedichtbuches in seiner heute durch Vollmer und Alberto rekonstruierten Form bietet sich als augenscheinlichster Bezugspunkt das direkt vorausgehende Gedicht an, carm. 13, in dem das lyrische Ich über seine Krankheit klagt. Doch obwohl es als sehr sicher gelten kann, dass die carm. 13–14b (und wahrscheinlich auch 15) in der ursprünglichen Anthologie der Eugenius-Gedichte aufeinander folgten,341 wissen wir dadurch noch nicht, ob Eugenius seine Gedichte bereits mit Blick auf eine bestimmte Anordnung verfasste. Daher sind grundsätzlich natürlich auch andere Gedichte als Bezugspunkte denkbar, die einen klagenden
339 Corippus setzt in der Praefatio zu seiner Iohannis insgesamt dreimal die Verbindung von carmina + Adjektiv + canere in unterschiedlich konjugierter Form, wobei alle in derselben Versposition stehen wie hier bei Eugenius, vgl. Corippus, Ioh. praef. 2 (1 DIGGLE/GOODYEAR); Ioh. praef. 16 (1 DIGGLE/GOODYEAR) und Ioh. praef. 40 (2 DIGGLE/GOODYEAR). Auch sonst gibt es einige solcher ‚Versbausteine‘, die Eugenius und Corippus teilen; vgl. etwa mente benignus in Eugenius, carm. 21,7 (CCL 114,236 ALBERTO) sowie Drac. praef. 10 (CCL 114,327 ALBERTO) und Corippus, Ioh. 1,267 (13 DIGGLE/GOODYEAR) sowie Ioh. 4,250 (76 DIGGLE/GOODYEAR); vgl. aber als mögliche Quelle dafür auch Venantius Fortunatus, carm. 6,3,17 (58 REYDELLET). 340 Vgl. SMOLAK 2010, 81 und SMOLAK 2006, 129. Vgl. für die antike Dichtung Horaz, carm. 3,1,2–4 (65 KLINGNER): carmina non prius / audita Musarum sacerdos / virginibus puerisque canto. Die von Smolak zum canticum nouum (bspw. Ps 33,3; 39,4; 95,1) gezogene Verbindung erschließt sich mir dagegen weniger, da sich nouus ja explizit auf dolor und nicht auf carmen bezieht, und das canticum nouum ja, wie Smolak selbst bemerkt, ein „Loblied Gottes“ ist. Auch wenn unser carm. 14 einen religiösen Bezug aufweist und einige Abschnitte durchaus – allerdings immer im Rahmen des Bittgebetes! – Gott rühmen, liegt der Schwerpunkt des Gedichtes doch nicht auf dem Lobpreis. Zwar kann bei Augustinus das neue Lied, das nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit Herz und Tat gesungen werden soll, auch das Bekenntnis der eigenen Schuld umfassen, doch steht der Lobpreis Gottes insgesamt im Vordergrund; vgl. MANS 1992, passim. 341 Von den Manuskripten, die Teile der (anzunehmenden) ursprünglichen Anthologie überliefern, enthalten fünf carm. 13 und vier davon unmittelbar darauffolgend carm. 14–14b (lediglich in Ma [der erste Teil des Manuskripts Madrid 10029] fehlt carm. 14 zwischen 13 und 15); vgl. für eine Übersicht die Edition von ALBERTO 2005a, 166–168. Für eine Rekonstruktion des Manuskripts Ú, Léon fragm. 8 vgl. ALBERTO 2004a, passim.
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Charakter haben, wie carm. 5, in dem die Dichter-persona allgemein die Vergänglichkeit des Menschen beklagt, 342 der (leider unvollständig erhaltene) Hymnus carm. 5b, dessen Hauptinhalt der Schrecken des Krieges zu sein scheint, carm. 35 über einen Streit in der Freundschaft und carm. 101 über die Sommerleiden. Schließlich müssen sich die beiden Interpretationen des dolor nouus keineswegs ausschließen, sondern lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Auch wenn er auf andere Gedichte verweist, will Eugenius die Leiden des Alters sicherlich als neu und nie gekannt darstellen343 – was er im Laufe des Gedichtes besonders durch die von ihm beschriebene ‚Akkumulation‘ an Leiden einlöst, die das Alter kennzeichnet: Im Unterschied zu einer Krankheit sind hier nicht nur einige, sondern sämtliche Bereiche des Körpers, von den Haaren bis zu den Füßen, betroffen. So hebt sich das Alter durch seine Totalität von anderen Leiden ab, sei es im menschlichen Leben ganz allgemein oder im modellhaften Leben der Dichter-persona Eugenius, das uns in den Gedichten vor Augen gestellt wird. Nachdem so das Thema der Klage angekündigt wurde, illustriert ein weiteres Distichon die Trauer des lyrischen Ichs in Bildern, die für Klagegedichte, besonders im Rahmen der Totenklage,344 gängig sind: die über die Wangen strömenden Tränen345 und das laute Klagen (murmura) gen Himmel,346 wobei letzteres bereits auf das Ende des Gedichtes verweist, wo sich die Klagen des lyrischen Ichs nicht mehr an Greisenalter und Tod, sondern an Gott wenden, der um Vergebung angefleht wird. Beide genannten Bilder vereint finden wir auch in der Geleusuintha-Elegie des Venantius, deren Einfluss auf Eugenius bereits anhand des carm. 3 sehr gut 342
Vgl. die Selbstaufforderung in carm. 5,7: Eugeni miselle plora: languor instat improbus, / uita transit, finis urget, ira pendit caelitus. 343 In ähnlicher Weise wird der Ausdruck dolor nouus vielleicht in Prudentius, cath. 7,141–142 (CCL 126,39 CUNNINGHAM) für die Bewohner Ninives verwendet, denen der Prophet Jona das göttliche Strafgericht androht. Die Reaktion der Nineviten wird mit den Worten ciuitas uulnus noui / hausit doloris beschrieben, was sich einerseits als „Schmerz ungekannten Ausmaßes“ erklären lässt, aber auch ein Seitenhieb darauf sein könnte, dass die Nineviten den Schmerz der Furcht vor dem göttlichen Gericht zuvor nicht kannten. 344 Vgl. für die strömenden Tränen bei Eugenius selbst das Epitaph für Basilla, carm. 22,4 (CCL 114,238 ALBERTO): et salso geminas perlue rore genas. 345 Schon bei antiken Dichtern tritt es häufig auf: Vgl. z.B. Vergil, Aen. 6,699 (249 MYNORS), Ovid, met. 11,419 (329 TARRANT) und Pont. 2,11,9 = 3,5,9 (72 RICHMOND). Vgl. für christliche Dichter wiederum z.B. Corippus, Ioh. 1,342–343 (17 DIGGLE/GOODYEAR) und Dracontius, Romul. 2,132–133 (7 ZWIERLEIN), das freilich seinem Charakter nach ein profanes Gedicht ist. Interessant als Parallele für die etwas seltenere Vokabel mala ist Paulinus von Petricordia, Mart. 4,274 (CSEL 16/1,92 PETSCHENIG): pallentesque rigans lacrimarum flumine malas. Auch biblisch ist das Trauerbild vertreten, so in Ps 6,7, aber auch Lk 7,38, wo die sündige Frau Jesu Füße mit Tränen benetzt. 346 Vgl. dazu Lukrez, nat. 5,1221 (234 DEUFERT).
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sichtbar wurde.347 Interessant ist die Frage, ob wir auch Parallelen zum ersten Gedicht der Consolatio Philosophiae des Boethius, das ebenfalls eine elegische Klage über das Alter darstellt, erkennen können. Aufgrund des gemeinsamen Themas wäre dieses Gedicht ein wichtiger Referenztext; es weist jedoch bislang nichts darauf hin, dass die Consolatio überhaupt im wisigotischen Spanien verfügbar war. 348 Die loci similes bei Eugenius, die Alberto anführt, 349 entstammen ausschließlich dem ersten Gedicht der Consolatio (was daran denken lässt, dass zumindest dieses erste Gedicht über ein Florilegium etc. verfügbar war) und finden sich nur in carm. 14. In Bezug auf die Einleitung unseres Gedichtes fallen auch nicht in erster Linie präzise wörtliche Übereinstimmungen auf, sondern mehr eine strukturelle Ähnlichkeit: Beide beginnen mit der Charakterisierung der Gedichte als traurig (man beachte auch, dass beide dabei einen Binnenreim setzen: maestos – modos // nouo – cano) und führen dies mit einem Ecce-Satz, in dessen Verlauf die strömenden Tränen erwähnt werden, weiter aus. Boethius, cons. 1 m. 1,1–4
Eugenius, carm. 14,1–4
Carmina qui quondam studio florente peregi, flebilis heu maestos cogor inire modos. Ecce mihi lacerae dictant scribenda Camenae et veris elegi fletibus ora rigant.
Impia iam miserum captat curuare senecta, inde dolore nouo carmina maesta cano. Fletibus ecce rigo roranti uertice malas et lacrimosa petunt murmura nostra polum.
Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die aufgezeigten Parallelen auch ebenso gut Zufall oder dem gemeinsamen Thema geschuldet sein können.350 Die Wendung fletibus ora rigant, die deutlichste Parallele, ist jedenfalls wenig beweiskräftig, da sie identisch auch bei Prudentius vorkommt.351 Ähnliches gilt auch für den zweiten locus similis, den Alberto angibt.352 347 Vgl. Venantius Fortunatus, carm. 6,5,203 (68 REYDELLET): Fletibus ora rigans, lamentis sidera pulsans. 348 Vgl. BRIESEMEISTER 1990, 61: „Boethian works generally remained unknown in Spain until Carolingian times.“ MARTÍN-IGLESIAS 2013, 265 erwähnt in seiner Auflistung der zu vermutenden Bibliothek der spanischen Kirchenväter nur einige Prosaschriften des Boethius, nicht aber die Consolatio. 349 Vgl. die Edition ALBERTO 2005a, 415. 350 Optimistischer ist hier FEAR 2019, 38: „This is the only time we find echoes of Boethius in Eugenius’s work and we are meant to note the parallel.“ 351 Vgl. Prudentius, perist. 11,194 (CCL 126,376 CUNNINGHAM). 352 Nämlich carm. 14,38 (CCL 114,229 ALBERTO): cur properata uenis und Boethius, cons. 1,1,9 (4 MORESCHINI): uenit enim properata malis inopina senectus. Den Ausdruck properatus uenire finden wir auch bei Ausonius, Ad patrem de suscepto filio 23 (16 GREEN), übrigens auch im Kontext des Alters, und als allgemeine Parallele, deren Aussage Eugenius aber ins Gegenteil kehrt, bietet sich Maximian, eleg. 1,1–2 (92 SANDQUIST ÖBERG) an: Aemula quid cessas finem properare, senectus? / Cur et in hoc fesso corpore tarda [venis]? (Christina Sandquist Öberg konjiziert statt venis, was der weitgehende Konsens der Handschriften und daher die für Rezeptionsfragen zu berücksichtigende Variante ist, quies).
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Schließlich gibt es auch deutliche Unterschiede, die natürlich nicht gegen eine Benutzung des Boethius sprechen, uns aber etwas über die Eigenart der Dichtung des Eugenius sagen können: Boethius strukturiert seinen Gedichtbeginn nach dem Topos der Inspiration durch die Musen, der hier, ähnlich wie bei Ovid durch den Gott Cupido,353 als Zwang daherkommt, ganz andere Gedichte zu schreiben, als es der Dichter früher tat oder tun wollte: nämlich traurige Gedichte. Der Topos wird bei Boethius durchaus nicht standardmäßig gesetzt, sondern weiterentwickelt, wenn im folgenden Prosa-Abschnitt die Trauer-Musen durch die Erscheinung der personifizierten Philosophia ‚exorziert‘ werden. Eugenius dagegen verzichtet auf solcherlei poetologischen Schmuck; ihm genügen der dolor nouus und der Verweis auf das grausame Handeln der senectus, die er im Unterschied zu Boethius sofort als Trauergrund angibt, völlig als Begründung für seine carmina maesta. Das letzte Distichon der Einleitung unterbricht diese Ankündigung der Trauergesänge jedoch (ante tamen) und schiebt einen Zwischenschritt ein, in dem ein Wechsel des Metrums angekündigt wird. Die Thematisierung des Metrums ist allgemein eine durchaus verbreitete Praxis;354 besonders bei längeren polymetrischen Gedichten mit komplexer Struktur haben wir Vorbilder, in denen der Wechsel in derselben Weise für die Leserinnen und Leser vorentlastet wird.355 Dem metrischen Wechsel entspricht dabei auch eine inhaltliche Unterbrechung – oder besser: Fundierung – des Klagethemas: In den Jamben solle zunächst erst einmal das Greisenalter selbst (ipsa) thematisiert und aufgezeigt werden, wie viel Schaden es anrichte (V. 5–6). Dabei wird noch vor dem Beginn des eigentlichen Anti-Hymnus deutlich, dass der inhaltliche Schwerpunkt der Invektive auf den Krankheiten (morbis […] suis) liegen wird, die das Greisenalter begleiten und es unerträglich (intoleranda) machen.
353
Vgl. Ovid, am. 1,1–4 (5 KENNEY). Vgl. SMOLAK 2010, 81 und bes. Anm. 17 für dementsprechende Belege. Eugenius selbst nennt auch in carm. 101,3 (CCL 114,277 ALBERTO) – kein polymetrisches Gedicht, sondern ausschließlich in sapphischen Strophen verfasst – sein Versmaß. 355 Hervorzuheben ist hier Paulinus von Nola, Vlt. 1,13–18 (CCL 21,529–530 DOLVECK) = carm. 10,13–18 (CSEL 230,24 HARTEL), in denen er – ebenfalls am Ende eines einleitenden Parts – einen Überblick über die gesamte metrische Struktur des Gedichtes gibt. Auch in Nat. 13,56–59.100–104 (CCL 21,465–466 DOLVECK) = carm. 21,56–59.100–104 (CSEL 2 30,160–161) ist jedweder Wechsel des Metrums angekündigt. Vgl. auch Julian von Toledo, Mod. 3,1 (CCL 115,259 BISCHOFF). 354
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b) V. 7–11: Anrede der senectus – Beginn der Anti-Aretalogie – Personifizierung als nouerca Crudelis aetas, o senectus improba, quae cuncta pulchra fauce saeua deuoras, rictu uoraci nigra pandis guttura, 10 mortale germen ut nouerca saucias et sauciatum mortis ense perforas.
Wie Smolak bemerkt hat, ist die Hymnenstruktur ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis des jambischen Parts, aber auch des dritten, wiederum elegischen Teils. 356 Dementsprechend beginnt die erste Fünferstrophe im jambischen Trimeter dort, wo üblicherweise eine Gottheit angerufen würde, mit einer ‚Appellation‘ der senectus als der ‚grausamen Lebensphase‘ (crudelis aetas), die gleichzeitig, vergleichbar mit dem ersten Vers, das Epitheton improba erhält, mit dem Prudentius in der Hamartigenia den Tod anspricht.357 Daraufhin beginnt die ins Negative gekehrte Aretalogie: Relativsätze führen ihre Untaten auf, während sie durch die 2. Person Plural (quae […] deuoras) weiterhin angesprochen bleibt. Alle vier sprachlichen Mittel – die Anrede, das Beifügen von Epitheta, der Relativstil und der Du-Stil – sind typische formale Merkmale des Hymnus.358 Die erste Strophe bietet dabei eine beeindruckende Gesamtschau des Wirkens der senectus von der Wegnahme der Schönheit (V. 8: cuncta pulchra […] deuoras) über die Schädigung bzw. Verwundung der Menschen (V. 10: mortale germen […] saucias) bis hin zum ‚Schwert des Todes‘, mit dem sie den Menschen den ‚letzten Stoß‘ gibt (V. 11: mortis ense perforas). Gleichzeitig gelingt durch diese ‚Aretalogie‘ in Kurzform eine eindrückliche bildliche Darstellung des personifizierten Greisenalters,359 die auf wohlbekannten Motiven fußt: Eugenius stellt uns den wilden Schlund der senectus vor, den sie gierig aufsperrt, um alles Schöne (cuncta pulchra) zu verschlingen. Ähnlich charakterisierten schon Catull die Finsternis des Orcus und Silius Italicus den Tod;360 Venantius Fortunatus schließlich in der bereits erwähnten Geleusuintha-Elegie das Schicksal der Menschen (womit er ebenfalls die Sterblichkeit meint), das er auf eine ebenso verkehrt-hymnenartige Weise anspricht wie Eugenius die 356
Vgl. SMOLAK 2006, 129–132. Prudentius, ham. 149 (CCL 126,122 CUNNINGHAM): Inproba mors, quid non mortalia pectora cogis? 358 Vgl. im Anschluss an NORDEN 1974/11913 zusammenfassend THRAEDE 1994, 928. 359 Vgl. WASYL 2014, 142 in Bezug auf die aktuelle Stelle: „Eugenius’s metaphorics is very visual.“ 360 Catulls carm. 3,13–14 (4 BARDON) folgt dabei, wie Venantius Fortunatus, carm. 6,5,249–250 (70 REYDELLET) und das Epit. Antonin. 25 (48 DÍAZ Y DÍAZ), dem Schema von V. 8 in der Anklage, während Silius Italicus, Pun. 2,548 (48 DELZ) vor allem als Parallele zu V. 9 interessant ist: Mors graditur vasto cava pandens guttura rictu. Auffällig ist die identische Junktur rictu guttura pandere. 357
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senectus – sogar mit demselben Epitheton: Improba sors hominum, quae improuiso abdita lapsu / tot bona tam subito, morte uolante, uoras.361 Speziell das Bild des gierigen Schlundes begegnet bei ihm oft: „In Fortunatus’ epitaphs death is […] all mouth.“362 Ein weiteres Beispiel dieser Art, das dem historischen und sozio-kulturellen Kontext des Eugenius sehr nahesteht, ist das anonym überlieferte Epitaphion Antoninae, als dessen Verfasser sogar zeitweilig Eugenius vermutet wurde.363 Es beginnt die Anrede an den Tod ebenfalls mit einer stattlichen Reihe an Epitheta, fährt im Du-Stil fort364 und beschreibt schließlich, etwas elaborierter als im vorliegenden Gedicht, den gierigen Schlund, mit dem alles Gute verschlungen wird: Faucibus mortificis piceos cum pandis hiatos […] Claude cadaveribus avidum rabiosa baratrum, / insatiata fremens obtima cuncta rapis.365 Das Bild scheint hier nur durch Synonyme variiert (fauce saeua // faucibus mortificis; nigra guttura pandere // piceos hiatos pandere; cuncta pulchra // obtima cuncta). Gerade dieses Beispiel zeigt auf, wie sehr Eugenius sich hier im Rahmen einer dichterischen Tradition der Todes- bzw. Vergänglichkeitsklage bewegt. Die letzten zwei Verse zeigen schließlich die senectus im Bezug auf das Menschengeschlecht, den ‚sterblichen Spross‘. Germen, die Bezeichnung für das Menschengeschlecht, evoziert dabei mit seiner etymologischen Verbindung zu bspw. germanitas eine verwandschaftliche Beziehung.366 Diese wird aber – über den Vergleich der senectus mit einer Stiefmutter – sofort negativ geprägt. Die Stiefmutter war in der Antike nicht positiver besetzt als in unseren Volksmärchen: Das literarische Klischee unterstellte ihr, ihre Stiefkinder zu hassen und ihnen womöglich sogar nach dem Leben zu trachten. Vor diesem Hintergrund wird die Beiläufigkeit des Vergleichs – ‚wie eine Stiefmutter verwunden‘ – verständlich und nachvollziehbar, da bereits das Wort nouerca für Hinterhältigkeit und Mordlust steht. 367 Die Stiefmutter (oder im weitesten
361
Venantius Fortunatus, carm. 6,5,249–250 (70 REYDELLET). ROBERTS 2009, 156. 363 Vgl. PÉREZ DE URBEL 1933, 368 Anm. 1. DÍAZ Y DÍAZ 1958, der das Epitaph auch textkritisch herausgegeben hat, hält die Frage für unentscheidbar, sieht aber tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Stil des Eugenius und dem Epitaph, die allerdings auch allgemeine Charakteristika der Sprache dieser Zeit sein können oder den thematischen Überschneidungen geschuldet sind. 364 Vgl. Epit. Antonin. 23–25 (48 DÍAZ Y DÍAZ): O saeva, damnosa, nocens, crudelis, amara, / improba, dira, rapax, dura, cruenta, vorax. / Tu prava, genetrix morbi, cognata doloris… 365 Epit. Antonin. 29–32 (48 DÍAZ Y DÍAZ). 366 So liest auch WASYL 2014, 142 den Vers: „the old age is […] compared even to a bloody stepmother killing her offspring [Kursivierung von mir]“. 367 Vgl. für einen Überblick über die Assoziationen der Stiefmutter in der römischen Literatur GRAY–FOW 1988, bes. 742–744. 362
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Sinne stiefmütterliches Handeln) ist übrigens ein typischer Stoff der Tragödie, deren Versmaß ebenfalls klassischerweise der Jambus ist.368 Das Handeln dieser ‚bösen Stiefmutter‘ selbst stellt Eugenius in den Stufen einer Klimax dar,369 die auch die logischen Schritte des Alterns abbildet: Zunächst wird das Menschengeschlecht verwundet (saucias), also dem körperlichen Verfall preisgegeben; ist dies geschehen, erfolgt der ‚Todesstoß‘ (sauciatum […] mortis ense perforas). Die bildliche Darstellung dieses letzten Schrittes durch ein Schwert, das das Greisenalter trägt, das ‚Schwert des Todes‘,370 trägt zum Fortführen der Personifikation bis zum letzten Vers der Strophe hin bei. c) V. 12–26: Fortführung der Anti-Aretalogie im Du-Stil – physische und psychische Auswirkungen der senectus Die erste ‚Kurzfassung‘ der negativen Aretalogie des Greisenalters in der ersten Strophe des jambischen Teils wird in den drei folgenden Fünferstrophen 368 WASYL 2014, 142 Anm. 16 sieht in carm. 14 eine Anspielung auf Dracontius, Romul. 10,22 (70 ZWIERLEIN): quando cruentatam fecit de matre nouercam. Die Hypothese hat etwas für sich, da bei Dracontius das Subjekt des Satzes Melpomene ist, die Muse der tragischen Dichtung, die nach Dracontius tragicis […] iambis singt – ihren angestammten Stoff, das tragische Schicksal der Medea, die zur Stiefmutter, d.h. Mörderin ihrer eigenen Kinder wird, macht sich Dracontius hier zu eigen. Die Parallele wird später (Romul. 10,547 [89 ZWIERLEIN]) noch deutlicher, wenn Medea dann, ähnlich der senectus bei Eugenius, das Schwert in der Hand hält: geminos uno simul ense nouerca / transegit pueros. In diesem Sinne könnte man den nouerca-Vergleich des Eugenius auch als eine dezente Hommage an die Tragödie als ursprünglichen Ort des jambischen Versmaßes begreifen. Gleichzeitig ist Anna Maria Wasyl natürlich darin Recht zu geben, dass der Stiefmutter-Vergleich in der lateinischen Literatur auch sonst verbreitet ist, was die Identifikation einer (einzigen) Quelle unmöglich macht. 369 Eine Klimax haben wir hier sowohl nach der modernen Auffassung (im Sinne einer Steigerung des Ausdrucks vom weniger Ausgeprägten zum Ausgeprägteren) als auch nach der antiken, wie sie Quintilian definiert: Gradatio, quae dicitur ôõŦöëÿ, apertiorem habet artem et magis adfectatam, ideoque esse rarior debet. est autem ipsa quoque adiectionis: repetit enim quae dicta sunt, et priusquam ad aliud escendat, in prioribus resistit. (Quintilian, inst. 9,3,54–55 [II,184 RADERMACHER/BUCHHEIT]). Demgemäß muss jeweils die vorherige ‚Stufe‘ noch einmal wiederholt werden, bevor die nächste gesetzt wird, wie es hier die Wiederholung von saucias – sauciatum einlöst. Leicht anders definiert Isidor, orig. 2,21,4 (97 LINDSAY) die Klimax, zeigt aber durch das Beispiel, dass seine Auffassung nicht von der Quintilians abweicht: Climax est gradatio, cum ab eo, quo sensus superior terminatur, inferior incipit, ac dehinc quasi per gradus dicendi ordo seruatur, ut est illud Africani: ‚ex innocentia nascitur dignitas, ex dignitate honor, ex honore imperium, ex imperio libertas‘. 370 Das Schwert des Todes – allerdings als reales Schwert gedacht – erscheint mit identischer Wortwahl auch in Silius Italicus, Pun. 15,806 (419 DELZ); möglicherweise ist der Ausdruck auch durch den berühmten, von Ovid am Grabstein der Dido gedachten Vers inspiriert: Praebuit Aeneas et causam mortis et ensem. (Ovid, epist. 7,197 [115 DÖRRIE] bzw. fast. 3,549 [71 ALTON]).
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
konkretisiert und entfaltet. Gemeinsam ist diesen drei Strophen, dass der Relativstil verlassen, der Du-Stil aber beibehalten wird: Die emphatische Betonung des Personalpronomens am Versanfang unterstützt dabei gleichzeitig die Gliederung in Fünferstrophen, indem es am Anfang jeder Strophe wiederholt wird (Te – Tu – Per te). Die Entfaltung des in der ersten Strophe Zusammengefassten erfolgt aber nicht in der Weise, dass die dortige klare Stufung der Schädigungen, die das Alter hervorruft (Wegnahme der Schönheit – ‚Verwundung‘ – Tod) beibehalten bliebe: In der Schilderung der körperlichen Auswirkungen des Alters werden bloß ‚kosmetische‘ Auswirkungen, wie die runzelig werdende Haut, ohne erkennbare Unterscheidung neben die ‚gefährlichen‘ Auswirkungen, wie Knochenbruch und Husten, gestellt. Der letzte Schritt, der Tod, wird dagegen hier noch kaum antizipiert, sondern auf die letzten beiden Fünferstrophen des AntiHymnus, der die Reflexion auf diese ‚Aretalogie‘ darstellt, verschoben. Im zweiten elegischen Teil erhält er dann freilich noch einmal ein eigenes Gewicht. V. 12–16: Überblick über die Symptombereiche Te proximante robur omne deficit, salus recedit, aegritudo prouenit, sensus hebescunt, pulchritudo deperit, 15 tabescit aegrum pectus in suspiriis, gaudere taedet, eiulare complacet.
In der zweiten jambischen Strophe werden – in monoton wirkender Aufzählung von kurzen Subjekt-Prädikat-Paaren – der Reihe nach als Symptome des nahenden Greisenalters (Te proximante) körperliche Schwäche (robur omne deficit), abnehmende Gesundheit und zunehmende Krankheit (salus recedit, aegritudo prouenit), das Abstumpfen der Sinnesorgane (sensus hebescunt) und das Schwinden der äußeren Schönheit (pulchritudo deperit) genannt. In diesen drei ersten Versen ist also zwar die Stufung der ersten Strophe aufgegeben, doch liest auch dies sich wie ein vollständiger Überblick über die Bereiche, in denen das Alter dem menschlichen Körper zusetzt. Dieselben Kategorien finden wir auch in anderen bekannten Darstellungen des Greisenalters; so vor allem in den Elegien des Maximian, die das Thema des Alters lang und breit ausführen, und (kürzer) in der 10. Satire Juvenals. Ein kurzer Überblick – der mehr auf inhaltliche als auf sprachliche Entsprechung ausgerichtet ist – kann das verdeutlichen:
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301
Eugenius, carm. 14
Maximian, eleg. 1–2
Juvenal, sat. 10
12: robur omne deficit
1,257:371 Vincimur infirmi defectu corporis
227: ille umero, hic lumbis, hic coxa debilis
13: salus recedit, aegri- 1,246: continuos gemitus aegra tudo prouenit senectus habet.
219: morborum omne genus
14: sensus hebescunt
1,119: Iam minor auditus, gustus 215: clamore opus est ut sentiat auris; minor; ipsa caligant / lumina, 218: perdidit ille oculos vix tactu noscere certa queo.
14: pulchritude deperit
2,21: periit quicquid fuit ante decoris
191: deformem et taetrum ante omnia vultum
Wasyl spricht davon, dass Eugenius gewissermaßen eine Kurzfassung der bei Maximian dargestellten Symptome liefert.372 Zwei Ausnahmen fallen freilich auf: Während die beiden anderen Dichter ausgiebig das Nachlassen der Libido im Alter beklagen, 373 fehlt dieser Aspekt bei Eugenius nicht nur unter den ‚Schandtaten‘ des Greisenalters, er wird sogar in einem eigenen Gedicht (carm. 15) zu dessen einzigem Verdienst gekürt.374 In diesem Punkt ist Eugenius ganz auf einer Linie mit christlichen Denkern vor ihm, die dem Alter deshalb einen gewissen Vorzug einräumen, weil im Alter die hinderlichen Begierden den Geist weniger beschweren und verführen als in der Jugendzeit.375 Für
371 ALBERTO 2005a, 228 gibt hier eleg. 1,269 (Deficiunt validi longaevo tempore tauri) als locus similis an, was sich mir weder sprachlich noch inhaltlich erschließt. Schließlich steht der Vers bei Maximian in einer Aufzählung von Tieren, deren scheinbar unzähmbare Stärke/Schönheit/Energie dem Greisenalter ebensowenig standhalten kann. 372 Vgl. WASYL 2014, 142. 373 Vgl. Juvenal, sat. 10,204–206 (142 WILLIS): nam coitus iam longa oblivio. Bei Maximian stellt dieses Thema den Höhepunkt seines Elegien-Zyklus, der 5. Elegie bzw. des fünften Abschnitts der Elegie (Maximian, eleg. 521–686 = 5,1–6,10 [126–136 SANDQUIST ÖBERG]) dar: In einer liebestrunkenen Situation versagt die Potenz des lyrischen Ichs; seine Scham und die Wut der unbefriedigten Graia puella werden geschildert, bevor letztere mit einem Trauergesang auf die mentula, kontrastiert mit einem Lob der Sexualität, die Elegie beschließt. Dem lyrischen Ich bleibt daraufhin nur noch der Wunsch, endlich sterben und seinen schmachvollen Zustand beenden zu dürfen. 374 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 15,3–4 (CCL 114,232 ALBERTO): Hoc solum praestat […] / quod luxum carnis iam caro fessa cauet. Der Sexualtrieb ist sicherlich unter luxus carnis zumindest mitgemeint, wenn nicht sogar schlechthin identisch damit: Immerhin ist die mangelnde Lust an anderen fleischlichen Genüssen wie Essen und Trinken in carm. 14 dem lyrischen Ich durchaus eine Klage wert. 375 Vgl. zur positiven Deutung des Greisenalters als ‚Hilfe‘ zur sexuellen Enthaltsamkeit bei Johannes Chrysostomus DE WET 2018, 49–51. Vgl. dazu auch GNILKA 1972, 135–140 und COKAYNE 2003, 116–117. Isidor sieht diesen Vorzug des Greisenalters, betont aber, dass sich dieser Art von Enthaltsamkeit niemand rühmen dürfe: Quidam in iuuentute luxuriose uiuentes, in senectute continentes fieri delectantur, et tunc eligunt seruire castitati quando eos libido seruos habere contemnit. Nequaquam in senectute continentes uocandi sunt, qui in iuuentute luxuriose uixerunt. (sent. 2,39,24–25 [CCL 111,176 CAZIER]).
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Eugenius ist das freilich kein hinreichender Grund, das Alter insgesamt positiv zu werten. Ebenfalls vergeblich suchen wir bei Eugenius nach Beeinträchtigungen des Soziallebens, die sowohl bei Juvenal als auch bei Maximian ein bedeutendes Leid des Greisenalters sind: Juvenal schildert, wie die Greise optisch, da die Runzeln und die hängende Haut jede Individualität überdecken, schon gar nicht mehr unterscheidbar seien und dass die ausgefallenen Zähne dazu führten, dass die Alten beinahe gefüttert werden müssten und so ihren Frauen und Kindern zum Gräuel würden, abgesehen davon, dass sie so lächerlich aussähen wie Schwalbenjungen, die ihren Schnabel aufsperren, um gefüttert zu werden.376 Bei Maximian führt – angesichts des Themas der Elegien, der Liebe im Alter – natürlich die Impotenz zu Zerwürfnissen mit den jeweils angebeteten Damen. Aber auch die ‚Flausen‘, die Besserwisserei und Geschwätzigkeit, die er alten Leuten zuschreibt, führen dazu, dass sich die (noch) junge Welt von den Alten abwendet und sie verlacht, während doch in seinen Jugendjahren noch alle dem lyrischen Ich als erfolgreichem Rhetor zujubelten.377 Mit dieser Schilderung einer Art Demenz, in der sich die Alten befinden, bricht Maximian zugleich die strenge Perspektive des aus Alterserfahrung sprechenden lyrischen Ichs und nimmt selbst eine Außenperspektive ein. Das ‚alte Ego‘ des Eugenius wird dagegen nirgends lächerlich gemacht. Überhaupt sind die Alterssymptome nur insofern mit dem lyrischen Ich verbunden, als es sich in der Einleitung als ‚Schmerzenssänger‘ vorgestellt hat und daher von den Leserinnen und Lesern als persönlich betroffen mitgedacht werden kann. Der Fokus liegt jedoch auf der senectus als Subjekt bzw. Verursacherin dieser Schädigungen, weniger auf dem lyrischen Ich, das als erleidendes Objekt kaum hervortritt und damit austauschbar erscheint. Das gibt den dargestellten Leiden eine Allgemeingültigkeit, die es jeder und jedem erlaubt, sich mit dem Geschilderten zu identifizieren, da das Alter, wie Eugenius über die Verallgemeinerung mortale germen einspielt, jedem Menschen einmal bevorsteht. Gleichzeitig bleibt die Anklage an die senectus, die von Ich-Aussagen eingeleitet (und in V. 27 auch vom lyrischen Ich reflektiert) wird, als persönlicher Cri de Coeur eines gepeinigten Menschen vorstellbar. Der vorletzte Vers der Strophe (V. 15), in der die kranke Brust in suspiriis dahinschwindet, scheint zunächst ein erstes konkretes Alterssymptom zu sein. Suspirium ist ein doppeldeutiger Begriff und kann sowohl das Seufzen als körperlichen Ausdruck eines seelischen Schmerzes meinen, als auch – im Sinne
376 Vgl. Juvenal, sat. 10,199–202 (142 WILLIS): una senum facies […] usque adeo gravis uxori natisque sibique und sat. 10,228–233: huius / pallida labra cibum accipiunt digitis alienis […] hiat tantum ceu pullus hirundinis, ad quem / ore volat pleno mater ieiuna. 377 Vgl. Maximian, eleg. 195–208 = 1,195–208 (104–106 SANDQUIST ÖBERG). Das positive Gegenbild, das lyrische Ich in seiner jugendlichen Kraft, finden wir in eleg. 9–44 = 1,9–44 (92–94 SANDQUIST ÖBERG).
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des asthmatischen Atmens – ein medizinisches Symptom. Im direkten kulturellen Umfeld des Eugenius finden wir ebenso beide Bedeutungen. Das asthmatische suspirium wird von Isidor in seiner Enzyklopädie sowohl selbst als inspirationis difficultas definiert als auch in Symptomlisten von Krankheiten geführt.378 Für denselben Isidor sind suspiria jedoch auch Teil einer bußfertigen Lebenshaltung und signalisieren Reue und Einsicht: So formuliert er etwa in der Regula monachorum die Erwartung an die Mönche, den Ermahnungen ihres Ordensoberen aufmerksam zu lauschen und diese „aufmerksame Anspannung der Seele“ (intentionem animorum) mit „Seufzen und Klagen“ (suspiriis et gemitibus) kundzutun.379 Einen ähnlichen Befund haben wir aus dem gesamten Gedichtcorpus des Eugenius, in dem die Vokabel sonst im Kontext des Bittgebetes oder der Totenklage steht.380 In unserem Gedicht ist – da von der „kranken Brust“ die Rede ist – freilich noch nicht in erster Linie an eine asketisch-spirituelle Übung zu denken, sondern an etwas körperlich Verursachtes, ob es nun um eine organisch bedingte Kurzatmigkeit geht oder um das Seufzen als Reaktion auf körperliche Schmerzen (falls die Spätantike dies überhaupt sauber voneinander unterschied). Als Ausdruck von Bedrängnis jeder Art ist das Seufzen, das aus der Brust dringt, auch in der klassischen wie christlichen Dichtung gut belegt.381 Da Sündenbekenntnis, Reue bzw. conpunctio cordis und Vergebungsbitte jedoch das letzte Ziel des Gedichtes darstellen und gleichzeitig die ‚Lektion‘ sind, die aus dem Leiden an Krankheit und Alter gelernt werden soll, können mit den Sprachspielen asketischer Diskurse vertraute Leserinnen und Leser vielleicht bereits hier die Konvergenz zwischen dem Verhalten der körperlich Leidenden und dem erwarteten Verhalten der reuigen Büßer bemerken. Im letzten Vers der Strophe verlagert sich die Beschreibung dann jedoch ganz auf die psychische Ebene, mit einem Paradoxon, das uns in der Klagedichtung in unterschiedlichen Formen immer wieder begegnet: die Umwertung von Positivem wie Negativem im Angesicht der Trauer. Wo beides genannt wird, ‚tauschen‘ sie im Wertungsgefüge ‚die Plätze‘. Hier ist dem lyrischen Ich die Freude zuwider und nur an der Trauer findet es noch Gefallen (gaudere 378 Vgl. Isidor von Sevilla, orig. 4,7,14 (170 LINDSAY): Suspirium nomen sumpsit, quia inspirationis difficultas est. Vgl. auch orig. 4,6,9 (168 LINDSAY) als Symptom der Peripleumonia. 379 Vgl. Isidor von Sevilla, reg. monach. 7 (102 CAMPOS RUIZ/ROCA MELIA): audiant patrem et studio summo et silentio intentionem animorum suorum suspiriis et gemitibus demonstrantes. 380 Vgl. für das Bittgebet carm. 5b,29 (CCL 114,214 ALBERTO) und 25,7 (CCL 114,242 ALBERTO) sowie für den Kontext der Totenklage carm. 21,1 (CCL 114,236 ALBERTO). 381 Sehr oft verwendet Ovid den Ausdruck, vgl. met. 1,656–657 (26 TARRANT); 2,125 (35 TARRANT) und 10,401–402 (298 TARRANT). Aber auch in der christlichen Literatur begegnet er uns in einem ebenfalls von Eugenius rezipierten Text, nämlich Paulinus von Petricordia, Mart. 5,39 (CSEL 16/1,108 PETSCHENIG): ex imo suspiria pectore ducens.
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taedet, eiulare complacet). Bei Maximian findet bereits zu Beginn seiner Elegien die größtmögliche dieser Umwertungen statt, nämlich von Tod und Leben: mors est iam requies, vivere poena mihi, 382 eine Aussage, die wir in abgeschwächter Form bereits in carm. 13 lasen, wo dem lyrischen Ich unter all den Leiden nicht einmal das Leben selbst mehr gefiel. Zu einer positiven Wertung des Todes kann sich Eugenius freilich an keiner Stelle seiner Gedichte durchringen; so wird auch in carm. 35,6, das den zitierten Vers am deutlichsten rezipiert, aus dem Gegensatz mors – uiuere der Gegensatz flere – gaudia.383 Beide Aspekte finden wir im Epitaphion Antoninae, wo der Tod der geliebten Ehefrau dem lyrischen Ich sowohl jede Freude nimmt als auch Tod und Leben umwertet: At nunc nulla mici sine te iam gaudia prosunt, vita perosa nocet, mortis imago placet.384 Doch nun, ohne dich, sind mir keine Freuden mehr zuträglich, das verhasste Leben schadet, die Vorstellung des Todes gefällt.
V. 17–26: Konkretisierung der Symptome Tu frangis ossa, membra rugis asperas, comas recidis atque canos inseris, dentes retundis, mucculentos efficis, 20 tremore foedo corpus omne discutis, febres minaris et dolores ingeris. Per te podagra dura gignit tubera, anhela tussis expuit putriflua, cutem perurit uulnerum profusio, 25 potus cibique nulla delectatio: lamenta sola conferunt solacium.
Die dritte und vierte jambische Strophe (V. 17–26) stehen zunächst wiederum ganz im Zeichen des körperlichen Leides. Die in der zweiten Strophe genannten ‚Leidenskategorien‘ werden in einer beeindruckenden Liste an konkreten Einzelsymptomen entfaltet, jedoch ohne, dass noch ein starres Ordnungsprinzip (etwa die Reihenfolge der erwähnten Kategorien) erkennbar wäre. So wird das Schwinden der sensus im Rest des Anti-Hymnus überhaupt nicht mehr erwähnt, sondern erst nach der Apostrophe an die mors omniuorax beschrieben. Eine gewisse Tendenz scheint erkennbar zu sein, von größtenteils optischen Veränderungen (den Runzeln und dem Haarausfall bzw. dem Weißwerden der
382
Maximian, eleg. 4 = 1,4 (92 SANDQUIST ÖBERG). Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 35,6 (CCL 114,250 ALBERTO) rezipiert: nam flere requies, gaudia poena mihi, vgl. zu diesem locus similis SCHNEIDER 2003, 62. 384 Epit. Antonin. 17–18 (47 DÍAZ Y DÍAZ). 383
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Haare; V. 17–18) zu ‚medizinisch relevanteren‘ Beschwernissen wie Zahnproblemen und Tremor (V. 19–20) und schließlich zu den richtiggehenden Krankheiten, dem Fieber und den allgemeinen Schmerzen (V. 20–21), der Fußgicht, dem Husten mit schleimigem Auswurf und den Geschwüren (V. 22–23) überzugehen. Zu einer solchen Steigerungslinie passen allerdings der Knochenbruch (tu frangis ossa, V. 17) als Anfang und der mangelnde Appetit (potus cibique nulla delectatio) als Abschluss der Symptomliste nicht und wirken antiklimaktisch ‚fehl am Platz‘. Jedenfalls spart Eugenius in seiner Beschreibung der Altersbeschwerden nicht an Plastizität und verschont die Leserinnen und Leser auch nicht mit ekelerregenden Details, wie den schleimig werdenden Zähnen (dentes […] mucculentos) oder dem eitrigen Auswurf beim Husten (anhela tussis expuit putriflua). Besonders im Falle der Fußgicht, die „harte Knoten“ (dura tubera), nämlich die typischen Gichtknoten, hervorruft, zeigt sich zudem eine gewisse medizinische Präzision.385 Auch die konkretisierten Altersbeschwerden sind typisch für Schilderungen des Alters, wie Tabelle 5 auf der folgenden Seite durch einen Vergleich zentraler Intertexte für die Altersschilderungen zeigen soll. Der letzte dort angeführte Vergleichstext, Prudentius’ Romanus-Hymnus perist. 10, ist dabei freilich nicht im eigentlichen Sinne ein Text über das Alter. In der Rede, in der Prudentius den Romanus eine Apologie auf das Martyrium halten lässt, sind aber durchaus Krankheiten als das beschrieben, womit die körperliche Existenz eines jeden Menschen früher oder später endet; insofern liegt der Bezug auf das Alter nur einen Gedankenschritt weiter. Die Leiden an den beschriebenen Krankheiten werden dabei mit den Leiden unter der Folter, die Romanus erduldet, parallelisiert und als nicht geringer, eher noch größer erwiesen: Nec distat ignis et fidiculae saeuiant an corpus aegrum languor asper torqueat, cum saepe morbos maior armet saeuia.386 Und keinen Unterschied macht’s, ob Feuer und Riemen wüten oder hartes Siechen den kranken Körper quält, wo oft doch größeres Wüten die Krankheiten bewehrt.
385
Vgl. WASYL 2014, 142: „dura tubera refers probably to tophi, which is a very typical symptom of the gout.“ 386 Prudentius, perist. 10,481–483 (CCL 126,346 CUNNINGHAM).
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Eugenius, carm. 14
Maximian, eleg. 1–2
17: Tu frangis ossa
1,216: diminui nostri corporis ossa putes. 1,226: rugato […] ore 2,25: nivei circumdant tempora cani
17: membra rugis asperas 18: comas recidis atque canos inseris 19: dentes retundis
20: tremore foedo
1,195: Stat dubius tremulusque senex
21: febres minaris 22: podagra dura gignit tubera 23: anhela tussis387 24: cutem perurit uulnerum profusio
25: potus cibique nulla delectatio
Juvenal, sat. 10
494: sic heiulantes ossa clamant diuidi 193: aspice rugas 199: iam leue caput 200: frangendus misero gingiva panis inermi 198: cum voce trementia membra 218: febre calet sola
1,245: tussis anhela fatigat 1,245: Hinc miseros scabies388
1,154: iam dulces epulae deliciaeque nocent
Prudentius, perist. 10
487: ut febris [...] uenas exedit 347: nodosa torquet quos podagra
488: uel summa pellis ignis obductus coquit / papulasque feruor aestuosus excitat. 203–204: non eadem vini atque cibi […] gaudia
Tab. 5: Altersbeschwerden bei lateinischen Dichtern, ausgehend von carm. 14
Einige Bilder dieser von Prudentius geschilderten Krankheiten scheinen sich tatsächlich stärker mit den Krankheitsbildern des Eugenius zu berühren als diejenigen Maximians und Juvenals, vor allem diejenigen, die nicht im engen Sinne auf das Alter beschränkt sind. Dies fällt besonders beim Bild der gebrochenen Knochen auf: Maximian bemerkt lediglich, dass alte Menschen kleiner werden, und spricht dementsprechend auch von einer ‚Verkleinerung‘ (diminui […] ossa) der Knochen. Im Romanushymnus ist es der Schmerz von Arthritis 387 Die anhela tussis wird auch in AL 159,4 (116 SHACKLETON BAILEY), in dem es um die heilende Wirkung der Zitrusfrucht geht, als typisches Alterssymptom dargestellt: Cum quatit incuruos tussis anhela senes. 388 Dies wird von ALBERTO 2005a, 228 als locus similis angegeben, ob allerdings unter Eugenius’ uulnerum profusio und der scabies dasselbe gemeint ist, ist nicht ganz eindeutig: Isidor definiert scabies als quasi leichte Form der Lepra und als asperitas cutis cum pruritu et squamatione; Isidor von Sevilla, orig. 4,8,10 (173 LINDSAY). Der Juckreiz und das Schuppigwerden der Haut ist also im Vordergrund, wie auch ein anderer Vers Maximians bestätigt: Aret sicca cutis, rigidi stant undique nervi, / et lacerant uncae scabida membra manus. Maximian, eleg. 135 = 1,135 (100 SANDQUIST ÖBERG).
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und Fußgicht, der die Knochen gleichsam bersten lässt. Die Fußgicht, eine Krankheit, über die schon Gregor der Große und Leander von Sevilla klagten,389 fehlt bei Maximian ebenfalls, Prudentius beschreibt sie und betont ebenfalls, dass sie Knoten bildet (nodosa). Auch die Beschreibung einer (wie auch immer gearteten) Hauterkrankung bleibt bei Eugenius und Prudentius im selben Bild des „Brennens“ (peruret/ignis coquit) und der Wunden- bzw. Blasenbildung: (uulnerum profusio/papulasque feruor excitat). Eine weitere Übereinstimmung zwischen Prudentius und Eugenius finden wir darüber hinaus in der letzten Strophe, in der Eugenius zum Tod überleitet: finis instat et ruina proximat. Prudentius schickt diesen Gedanken seinen Ausführungen dagegen voraus: Instat ruina; quod resoluendum est ruat.390 Beide Autoren teilen damit in je unterschiedlichen imaginierten Kontexten (Martyrium und Greisenalter) dasselbe Argument: Da der Körper ohnehin dem Untergang geweiht ist, ist es das nicht vergehende Heil der Seele, worauf es ankommt. Diese Erkenntnis, die das lyrische Ich in der Reflexion am Ende des Anti-Hymnus erlangt, steht letztlich auch am Ende von Eugenius’ Ausführungen über die Krankheiten des Alters. Das vorerst letzte körperliche Symptom, keinen Lustgewinn aus Speise und Trank ziehen zu können, das am Ende dieser Reihe relativ harmlos und antiklimaktisch wirkt, hat eine zum Ende der Strophe überleitende Funktion inne, da es gewissermaßen im Schnittfeld zwischen Körper und Psyche liegt: Übliche Stärkungen für Körper und Seele (deren exzessive Nutzung übrigens in den carm. 6 und 7 aufs Korn genommen wird), bringen keine Aufmunterung mehr (nulla delectatio). 391 Da das Alter selbst solcherlei kleine Freuden vergällt, bleibt dem lyrischen Ich nur noch die Klage als Zufluchtsort. Denn neben der zweiten schließt auch die vierte jambische Strophe mit einer psychischen Reaktion auf das Alter: lamenta sola conferunt solacium.392 Die Feststellung liest sich einerseits wie eine Wiederholung des eiulare complacet am Ende der zweiten Strophe, lenkt aber den Blick stärker auf eine der wichtigsten Funktionen, die nach der antiken (und dann auch spätantik-christlichen)
389
Vgl. Gregors Brief an Leander; Gregor der Große, ep. 9,228 (CCL 140A,804 NORBERG): De podagrae uero molestia sanctitas uestra, ut scribit, affligitur, cuius dolore assiduo et ipse uehementer attritus sum. Vgl. zu Gregors Gicht HACK 2012, 59–72; zur Korrespondenz Gregors und Leanders vgl. a.a.O., 90–91. 390 Prudentius, perist. 10,480 (CCL 126,346 CUNNINGHAM). 391 Wir können uns wiederum an carm. 13 erinnert fühlen, wo zwar die Nahrung nicht direkt als etwas unter Krankheitsbedingungen Schädliches geführt wurde, die Erwähnung des stomachus tenuis aber durchaus daran denken ließ. 392 Vgl. Maximian, eleg. 331 = 2,39 (114 SANDQUIST ÖBERG): sed solus miseris superest post omnia luctus, was jedoch in einem anderen Kontext steht: Nachdem das lyrische Ich im Alter von einer Geliebten verlassen wurde, ist jeder Trost dahin.
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Konsolationstheorie die Klage hat:393 „Der Ausdruck des Affekts hat befreiende Wirkung.“394 Das gilt im Übrigen schon für den kurzen Satz selbst, der zugleich selbst Ausdruck einer tiefen und hoffnungslosen Trauer ist und paradoxerweise gleichzeitig die Möglichkeit eines solacium einspielt – eines solacium, das gerade durch die Klage entsteht. Im christlichen Kontext besteht das solacium jedoch gerade nicht nur im kathartischen ‚Ablassen‘ und damit der Abschwächung der Affekte, sondern die Trauer kann ein für die Seele real heilsbedeutsamer Trost sein: 395 „Darin erfährt der Trauernde aber nicht nur eine gewisse ‚süße Lust‘ und ‚Beruhigung‘, sondern macht sich die Hilflosigkeit und Verlorenheit in einer Weise bewußt, die das Herz erst für die Nähe Gottes aufschließt“.396 Einen ersten Schritt in diese Richtung geht das lyrische Ich bereits in der Absage an die Freuden dieser Welt in den verbleibenden zwei jambischen Strophen; am Ende des Gedichtes wird diese Öffnung bzw. ReOrientierung auf Gott hin dann in der Vergebungsbitte vollständig vollzogen. Vielleicht schwingt hier also ebenfalls eine Auffassung des Klagens als spirituell heilsame Praxis mit. Und sicherlich dürfen wir unter den lamenta, die zum solacium führen, nicht nur das Klagen des lyrischen Ichs auf der ‚Handlungsebene‘ des Gedichtes verstehen, sondern auch das Klagegedicht selbst, das gleichzeitig Ausdruck der Trauer ist und den Leserinnen und Lesern ermöglicht, durch die Einfühlung in das lyrische Ich dessen spirituellen Weg mitbeschreiten zu können, selbst wenn ihnen das Erleben des eigenen Alterns als Erfahrungsgrundlage (noch) fehlt.
393
Überhaupt sind, wie VON MOOS 1971, 84 = C 190 dargelegt, die Klage und der Trost sowohl als grundlegende anthropologische Ausdrucksformen als auch als literarische Gattungen schwer voneinander zu trennen: „Es ist wohl vom psychologisch-ethnologischen Standpunkt aus mit Recht gesagt worden, jede Totenklage gehe (zum Teil oder in der Hauptsache) aus dem ‚archetypischen‘ Willen zur Katharsis hervor, aus dem unbewußten Bedürfnis, die unerträgliche Krise der Verlassenheit durch die reinigende Äußerung zu überwinden und die Lebensfähigkeit wiederzuerlangen“. Was für die Totenklage zutrifft, darf sicherlich auch für die Sterblichkeitsklage, wie wir sie hier vorliegen haben, gelten. Vgl. zum Gattungsproblem der Klage Kap. 7 dieser Arbeit. 394 VON MOOS 1971, 68 = C 148. 395 Die ‚konkrete Hilfe‘ liegt übrigens innerhalb des Bedeutungsspektrums des Wortes solacium, das nach LEVISON 1951, 633 im merovingischen Latein fast ausschließlich ein Synonym zu auxilium ist. Die Bedeutung wird auch von REYDELLET 2004, 93 Anm. 186, dem Herausgeber der Gedichte des für Eugenius einflussreichen Venantius, für seinen Autor geltend gemacht; belegt ist es freilich schon früher, vgl. S OUTER s.v. solacium, 380. 396 VON MOOS 1971, 68 = C 148.
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d) V. 27–36: Haec dum recogito – Reflexion und Absage an die weltlichen Güter Haec taediosa mente dum recogito, libet, relictis omnibus quae transeunt, Deum timere, sempiterna quaerere, 30 terrena lucra deputare puluerem, orare semper atque flendo dicere: „abite pessum uana mundi gaudia, opes caducae, lutulenta praedia, fasces, honores, blandimenta noxia“. 35 Iam finis instat et ruina proximat, iam mors cruenta nostra pulsat limina.
Aus der Schilderung der Auswirkungen des Greisenalters erwächst schließlich eine Reflexion, die das lyrische Ich zu einer Geringschätzung der irdischen, vergänglichen Welt führt und seine Loslösung von den irdischen Freuden vorbereitet. Denselben Aufbau finden wir innerhalb der christlichen Poesie auch im Romanus-Hymnus des Prudentius, wo nach der Beschreibung der irgendwann jeden Menschen betreffenden Leiden des körperlichen Verfalls zunächst der Märtyrer Romanus für sich daraus die Konsequenz zieht, dass er seinen Körper ohne Sorge dem Martyrium preisgeben könne, ja sogar müsse,397 aber auch für die Umstehenden (und die Leserinnen und Leser des Hymnus, die sich ja kaum noch mit der Notwendigkeit des Martyriums konfrontiert sehen dürften) eine allgemeingültige Aufforderung ableitet: „Besiege die Welt und die Zeitlichkeit!“398 Der die Reflexion in carm. 14 einleitende Nebensatz der fünften jambischen Strophe, haec taediosa mente dum recogito, ist dabei in intertextueller Hinsicht sehr interessant und zeigt, wie Eugenius andere Gedichte bzw. liturgische Texte anklingen lässt und zugleich eigene Akzente setzt. Sprachlich gesehen dürfte der höchstwahrscheinlich von Eugenius’ Freund und Lehrer Braulio verfasste Hymnus an den Hl. Aemilian am nächsten kommen, der mit dem AntiHymnus an die senectus das Metrum, den jambischen Trimeter bzw. Senar, teilt und zudem ebenso wie carm. 14 mit einer libet-Konstruktion fortfährt: Eugenius von Toledo, carm. 14,27–29:
Braulio von Saragossa, hymn. 7,1–2 = Hymn. Hispan. 87,31–32:
Haec taediosa mente dum recogito, libet, relictis omnibus quae transeunt, Deum timere […]
Hec mente rite fixa dum reuolbimus, libet dicatum predicare seruulum […]
397
Vgl. Prudentius, perist. 10,522 (CCL 126, 348 CUNNINGHAM): Hoc perdo solum quod peribit omnibus. 398 Prudentius, perist. 10,545 (CCL 126,349 CUNNINGHAM): uince mundum et saeculum!
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Über die Autorschaft dieses Hymnus sind wir nur deshalb mit relativer Sicherheit im Bilde, weil Braulio im Widmungsbrief zu seiner Vita S. Aemiliani, an seinen Bruder Frunimianus, auch die Verfasserschaft eines Hymnus für denselben Heiligen erwähnt; beide Texte sah er nämlich für den liturgischen Gebrauch im Rahmen einer Heiligenmesse vor. Eine Nebenbemerkung im selben Brief zeigt uns, dass auch Eugenius (damals noch Diakon Braulios in Saragossa) in die Entstehung dieser Messe involviert war. Braulio habe nämlich ihm, seinem filio […] Eugenio diacono,399 hinsichtlich der Messe einige literarische Aufträge erteilt, deren genauen Umfang wir heute allerdings nicht mehr nachvollziehen können – ob die im Liber Sacramentorum erhaltene Messe für den heiligen Aemilian 400 ganz oder teilweise aus der Feder des Eugenius stammt, muss daher offenbleiben.401 Der Brief belegt jedoch, dass Eugenius sicherlich gute Kenntnis des Hymnus hatte, wenn er nicht sogar bei dessen Verfassen mithalf. Einen weiteren Bezugstext stellt der Auftakt von Boethius’ Consolatio Philosophiae dar. Mit der Bemerkung Haec dum mecum tacitus ipse reputarem beginnt Boethius nach der (poetischen) elegischen Klage über das Alter den Prosa-Part, in dem ihm die personifizierte Philosophia erscheint und mit ihrem Trost die elegischen Musen vertreibt – es leitet bei ihm also einen Wendepunkt ein. Diese Wende geschieht allerdings nicht durch die Reflexion selbst, sondern entsteht aus dem plötzlichen und unvermittelten Erscheinen der Philosophia, das beinahe Offenbarungscharakter hat:402 visa est mulier reverendi admodum vultus.403 Die größten inhaltlichen Berührungspunkte finden sich allerdings im Brief Gregors des Großen an Bischof Leander von Sevilla, den älteren Bruder Isidors. Der Brief, der als ein Widmungsschreiben die nach Spanien gesandten Moralia 399
Braulio von Saragossa, ep. Frunim. I,3 (6 VAZQUEZ DE PARGA). Liber Mozarabicus Sacramentorum CXLIX (603–608 FÉROTIN). 401 Eugenius als Autor dieser Messe identifizieren möchte PÉREZ DE URBEL 1926, 233– 234. Der Brief Braulios an Frunimianus, der die Basis für diese Identifizierung liefert, ist in dieser Hinsicht jedoch schwer verständlich und wurde unterschiedlich interpretiert; die Interpretationen fast VALCÁRCEL 1997, 255–258 zusammen und widerlegt sie teilweise. Ein Minimalkonsens ist, dass Braulio Eugenius bat, zumindest Teile einer missa propria für Aemilian zu verfassen – ob Eugenius dem nachkam und ob es sich um Teile oder um die gesamte Messe aus dem Liber Mozarabicus Sacramentorum handelt, ist kaum entscheidbar; vgl. VALCÁRCEL 1997, 259 Anm. 31. Das dort zum Ausdruck gebrachte Gedankengut – die Notwendigkeit der Buße, die Aufmerksamkeit für körperliche Askese, körperliche Heilung und Vergebung der Sünden – verträgt sich jedenfalls gut mit den in den Carmina zum Ausdruck kommenden Schwerpunkten des Eugenius, ergibt sich aber ebenso organisch aus der Lebensbeschreibung des Heiligen und dürfte überhaupt zum damaligen theologischen ‚common sense‘ gehört haben. 402 Vgl. GRUBER 22006, 62: „Die Philosophie, die ganz in der Topik der Epiphanien beschrieben wird, erscheint und vertreibt die Musen der Dichtkunst“. 403 Boethius, cons. 1,1,1 (4 MORESCHINI). 400
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in Iob begleitete, dürfte in den dortigen intellektuellen Kreisen beinahe ebenso bekannt gewesen sein wie dessen Hauptwerk selbst,404 zumal der Brief inhaltlich als sicherlich sehr bedeutend wahrgenommen wurde: Er enthält – in knappen Zügen – eine Art spirituelle Kurzbiographie Gregors.405 In seinen Schilderungen, wie er unverhofft der klösterlichen Ruhe und Beschaulichkeit entrissen und zum Bischofsamt berufen wurde, dürfte gerade Eugenius Parallelen zu seiner eigenen Situation gesehen haben (oder seine eigene Situation im Lichte des ‚gregorianischen Biographie-Schemas‘ gedeutet bzw. stilisiert haben).406 Und auch die Klage über die körperliche Schwäche ist etwas, was Gregor und Eugenius (bzw. dessen Dichter-persona in den Carmina) miteinander verbindet. Im Brief entschuldigt sich Gregor bei Leander für etwaige stilistische Mängel oder fehlenden Esprit seiner Schrift (ein klassischer Bescheidenheitstopos) und begründet dies damit, dass er schon lange unter Krankheit leide: Nam dum molestia corpus atteritur, afflicta mente etiam dicendi studia languescunt. Multa quippe annorum iam curricula deuoluuntur, quod crebris uiscerum doloribus crucior, horis momentisque omnibus fracta stomachi uirtute lassesco, lentis quidem, sed tamen continuis febribus anhelo.407 Denn während Beschwernis den Körper aufreibt, liegen, da mein Geist davon mitgenommen ist, auch die rhetorischen Bemühungen darnieder. Denn schon viele Jahre lang ist es so, dass ich von häufigen Organschmerzen gequält werde, zu jeder Stunde und in jedem Augenblick wegen der gebrochenen Kraft meines Magens erschöpft bin und in zwar leichtem, aber doch nicht endendem Fieber keuche.
Nicht nur benutzt Eugenius in einem Brief an Protasius dasselbe Argument, dass körperliche (und damit auch geistige) Beschwernisse literarische Arbeiten behindern oder deren Qualität einschränken,408 auch die Krankheitsschilderungen Gregors erkannten wir vor allem in carm. 13 wieder.409 Wenn auch einige Symptome (wie Fieber, Mattheit, Keuchen und allgemein Schmerzen) in 404
In der sogenannten Laus Gregorii, einem ‚verselbständigten‘ Ausschnitt aus Isidor von Sevillas de uiris illustribus (= vir. ill. 23 [149 CODOÑER MERINO]), der oft den Sententiae Taios von Saragossa vorangestellt wird, wird der Brief in der Werkliste Gregors eigens erwähnt und (im Sinne einer Praefatio) als zum Hauptwerk zugehörig gekennzeichnet: Scripsit etiam quasdam epistolas ad praedictum Leandrum, e quibus una in eisdem libris Iob titulo praefationis adnectitur. 405 Vgl. GRESCHAT 2016, 113. 406 Dies vermutet mit Verweis auf FEAR 2010 WOOD 2016, 32: „Figures from Isidore to Eugenius of Toledo engaged with, and sometimes sought to replicate, Gregory’s self-presentation as monk, reluctant leader, theologian, and even hypochondriac.“ 407 Gregor der Große, moral. epist. 5 (CCL 143,6 ADRIAEN). 408 Vgl. Eugenius von Toledo, ep. Prot. 22–25 (CCL 114,406 ALBERTO) in Bezug auf eine von Protasius in Auftrag gegebene Messe für den Hl. Hippolyt: Nam etsi est in nobis, ut tu, domine, reputas, uenula tantilla sermonis, nunc inutilitate morum, nunc adsidui languoris adgestu quotidie intercluditur et siccatur. 409 Vgl. die Ausführungen zu carm. 13 in den Detailanalysen.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
carm. 14 wiederholt werden, so fehlen in Gregors Krankheitsschilderung freilich die altersspezifischen Beschwerden. Was die Stelle jedoch vor allem mit dem Anti-Hymnus in carm. 14 verbindet, ist die inhaltliche Grundstruktur: Auf eine Beschreibung von Symptomen körperlichen Leidens folgt eine Reflexion, die zu einer heilsamen spirituellen Einsicht führt. Wiederum wird sie mit einem ähnlich gebauten Nebensatz eingeleitet: Interque haec dum sollicitus penso, quia scriptura teste: Omnis filius, qui a Deo recipitur, flagellatur, quo malis praesentibus durius deprimor, eo de aeterna certius praesumptione respiro. Et fortasse hoc diuinae prouidentiae consilium fuit, ut percussum Iob percussus exponerem, et flagellati mentem melius per flagella sentirem.410 Und während ich unterdessen dies sorgfältig überdenke, bin ich, weil die Schrift bezeugt: Jeder Sohn, der von Gott angenommen wird, wird gezüchtigt (Hebr 12,6), je härter ich durch die gegenwärtigen Übel niedergedrückt werde, desto sicherer hinsichtlich der Vorahnung des Ewigen erleichtert. Und vielleicht war dies der Plan der göttlichen Vorsehung, dass ich als Geschlagener den geschlagenen Iob darlege, und den Geist des Gezüchtigten durch Züchtigungen besser erfühle.
Die Einsicht Gregors in den (heilsbedeutsamen) Sinn seines Leidens ist hier lediglich in Hebr 12,6 verankert, über ein dahinterstehendes theoretisches Gerüst, warum Gott diejenigen züchtigt, die er liebt, schweigt er sich an dieser Stelle jedoch aus – wir finden es in den Moralia in Iob jedoch quasi omnipräsent wieder. Im Brief wird sein Leid eher im Hinblick auf sein Werk, den durch den Brief eingeleiteten Ijob-Kommentar, gedeutet: Seine zunächst als Nachteil eingeführte Krankheit wird zum Vorteil, da ihn das durch eine ähnliche Erfahrung autorisierte Mitfühlen mit der Hauptfigur zum idealen Exegeten des IjobBuches mache. Eugenius dagegen verknüpft die spirituelle Einsicht, die aus dem körperlichen Leiden erfolgen kann, mit einem Schlagwort, das carm. 14 mit dem gregorianischen und isidorianischen Denken verbindet: Dem taedium als den geistigen Zustand (V. 27: taediosa mente), in dem die Reflexion geschieht. Das taedium erschien innerhalb von carm. 14 schon in V. 16 und darüber hinaus bereits in carm. 13,10 (nam taedet animum tot mala ferre simul), wo es vor allem an Ijob 10,1 (taedet animam meam uitae meae) erinnerte. Konvergierend mit der Auslegung dieser Bibelstelle in den Moralia in Iob Gregors des Großen prägt Isidor in seinen Sententiae die Junktur taedium salubre,411 was dort quasi synonym zur conpunctio cordis verwendet wird und die Emotion bezeichnet, die 1) aus der Bewusstwerdung der eigenen Sündhaftigkeit, 2) der Angst vor dem Gericht, 3) dem Bedenken der Mühsal des irdischen Lebens und 4) der Sehnsucht nacht dem ewigen Leben folgt.412 Diese 410
Gregor der Große, moral. epist. 5 (CCL 143,6 ADRIAEN). Vgl. FEAR 2019, 41. 412 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,12,4 (CCL 111,118 CAZIER): Quattuor esse qualitates affectionum quibus mens iusti taedio salubri conpungitur, hoc est memoria praeteritorum 411
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Auffächerung der conpunctio fand Isidor bereits in Gregors Moralia vor, der die genannten vier ‚Aspekte‘ als das Nachdenken des Menschen darüber, 1) ubi fuit, 2) ubi erit, 3) ubi est und 4) ubi non est umschreibt.413 Aus der Meditation dieser vier Aspekte des Lebens entsteht ein Überdruss am ‚alten Leben‘, dessen Glück in den irdischen Dingen gesucht wurde – dieser Überdruss wird wiederum sowohl zum Katalysator der Umkehr des Menschen als er auch die vergebende und den Menschen umgestaltende Zuwendung Gottes provoziert.414 Was die Reflexion nämlich auslöst, ist ein ‚freudiges‘ (libet) Zurücklassen des Vergänglichen (relictis omnibus quae transeunt, was ebenfalls an eine Junktur aus Gregors Widmungsbrief an Leander erinnert),415 wodurch die Gegenbewegung der Seele erst ermöglicht wird: Gott zu fürchten und das Ewige zu suchen (Deum timere, sempiterna quaerere). Dieselbe Gegenbewegung fort vom Irdischen und hin zum Ewigen finden wir im ebenfalls im jambischen Trimeter verfassten carm. 5 des Eugenius (Cur caduca non relinquis, curris ad perennia?).416 Im jambischen Teil von carm. 14 wird jedoch die ‚positive‘ Bewegung zu Gott hin wenig ausgeführt, sondern vor allem gegen das Negative polemisiert: Das lyrische Ich wolle jedes irdische Gewinnstreben geringschätzen wie Staub (terrena lucra deputare puluerem)417 – theologisch gesprochen also überhaupt erst eine realistische Einstellung zur Welt gewinnen. Die Gleichsetzung von Irdischem (inklusive dem Menschen selbst) und Staub ist ein Allgemeinplatz in der patristischen Literatur, durch den eine ungebührliche Wertschätzung der Welt angeprangert wird.418 Der Topos baut auf einer breiten biblischen Basis auf;419 besonders wichtig ist hier Gen 3,19, das in der Vulgatafacinorum, recordation futurarum poenarum, consideration peregrinationis suae in huius uitae longinquitate, desiderium supernae patriae. 413 Vgl. Gregor der Große, moral. 23,21,41 (CCL 143B,1175 ADRIAEN). Vgl. zur conpunctio cordis das Fazit dieses Kapitels und, vertieft, Kap. 8.2 dieser Arbeit. 414 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,12,6 (CCL 111,119 CAZIER): Gressus Dei sunt, in cor hominis, interior uis, qua bona desideria surgunt ut calcentur mala. 415 Vgl. Gregor der Große, moral. epist. 1 (CCL 143,1 ADRIAEN): relictis quae mundi sunt. Vgl. jedoch auch Orientius, comm. 1,13 (CSEL 16/1,205 ELLIS): omnibus his, raptim quae sunt moritura, relictis. 416 Eugenius von Toledo, carm. 5,11 (CCL 114,212 ALBERTO). 417 Das Verb deputare finden wir übrigens im Romanus-Hymnus des Prudentius an derselben Versposition wieder; vgl. Prudentius, perist. 10,530 (CCL 126,348 CUNNINGHAM): Legale damnum deputemus praemiis. 418 Vgl. etwa die ‚Synonymsammlung‘ in Augustinus, serm. 301 (PL 38,1382): istas, inquam, istas cogitationes terrenas, puluereas, fumeas, uaporeas, carnales, mortales nondum transisti. Vgl. auch Isidor von Sevilla, sent. 2,10,5 (CCL 111,114 CAZIER): accedente uero progressu, dum inmoderate terrenis rebus incumbunt, puluere infimi appetitus obscurantur. 419 Vgl. Vulg. Ps 1,4 iuxta hebr. (771 ROGER/GRYSON): non sic impii sed tamquam pulvis quem proicit ventus; Vulg. Ps 43,25 iuxta hebr. (825 ROGER/GRYSON): quoniam incurvata est in pulvere anima nostra; Vulg. Mt 10,14 (1540 ROGER/GRYSON): excutite puluerem de
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Übersetzung die Vokabel puluis enthält: revertaris in terram de qua sumptus es quia pulvis es et in pulverem reverteris.420 Der letzte Vers der fünften jambischen Strophe führt die (in der libet-Konstruktion aufgelisteten) Konsequenzen aus der Reflexion über das Irdische weiter: Das lyrische Ich wolle ‚immer beten‘ (vgl. Lk 18,1), was auf die Notwendigkeit beständiger spiritueller Einübung verweist, und ‚unter Tränen sprechen‘ (flendo dicere), was das Verlassen der Reflexionsebene ankündigt und die Absage an die irdischen Freuden in der sechsten und letzten jambischen Strophe einleitet. Beides, das Gebet und die Absage an die Welt, stehen dabei nicht unverbunden nebeneinander, sondern nach Isidor ist die Abkehr von der Welt notwendig, um überhaupt in rechter Weise beten zu können: „Unser Geist ist dem Himmel zugehörig und kontempliert Gott im Gebet dann auf gute Weise, wenn er von keinen irdischen Sorgen oder Irrtümern gehindert wird. […] Daher muss der Geist zuerst gereinigt und von Gedanken an zeitliche Dinge getrennt werden“.421 Und auch das Weinen (flendo) als Ausdruck der Trauer ist nach Isidor Bestandteil eines jeden Gebetes, da jedes Gebet, das wahrhaft im Angesicht Gottes stattfindet, von der Erinnerung an die eigene Sündhaftigkeit und das bevorstehende Gericht getragen sein müsse.422 Diese beiden Aspekte, die Sündhaftigkeit und das drohende Gericht, nennt Eugenius im jambischen Teil noch nicht explizit, auch wenn die negative Charakterisierung der weltlichen Freuden (sowie die erschließbare Tatsache, dass das lyrische Ich ihnen wohl einmal anhing) dies natürlich implizieren. Mit einem emphatischen Abite pessum wünscht der Sprecher die „nichtigen Freuden pedibus uestris. Die beiden letzteren Stellen bringt Hieronymus miteinander in Verbindung, vgl. in Is. 14,52,2.3 (CCL 73A,576 ADRIAEN): Animae quoque dicitur, quae uitiorum polluta sordibus, candorem pristinae conuersationis amiserat, ut excutiat puluerem cum apostolis, qui adhaesit pedibus eius. Neque enim fieri poterat, ut quae prostrata subiecerat ceruices suas foris transeuntibus. et media terrae sociauerat, dixeratque: Humiliata est in puluere anima mea, adhaesit terrae uenter meus, non imaginem terreni acceperit. 420 Vulg. Gen 3,19 (8 ROGER/GRYSON). Die zunächst gängigere Übersetzung lautete terra es et in terram ibis, worauf Gregor der Große, moral. 12,5,6 (CCL 143A,631 ADRIAEN) explizit aufmerksam macht: terra es, et in terram ibis, uel certe, sicut habet nostra translatio: puluis es, et in puluerem reuerteris. Doch schon Augustinus rezipierte die Stelle mit der Vokabel puluis, vgl. Augustinus, conf. 10,31,45 (CCL 27,179 SKUTELLA/VERHEIJEN): sed memento, domine, quia puluis sumus, et de puluere fecisti hominem, et perierat et inuentus est. Vgl. auch, ähnlich zu Gen 3,19, Vulg. Ps 102,14 iuxta hebr. (899 ROGER/GRYSON): recordatus est quia pulvis sumus. 421 Isidor von Sevilla, sent. 3,7,7–10 (CCL 111,222 CAZIER): Mens nostra caelestis est, et tunc orando Deum bene contemplatur, quando nullis terrenis curis aut erroribus inpeditur […] Purgandus est itaque primum animus, atque a temporalium rerum cogitationibus segregandus. 422 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,7,5 (CCL 111,221 CAZIER): Ideoque, dum Deo adsistimus, gemere et flere debemus, reminiscentes quam grauia sint scelera quae commisimus, quamque dira inferni supplicia quae timemus.
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der Welt“ weit fort. Ähnliche Worte legt Hieronymus in seiner Schrift Adversus Iovinianum dem Philosophen Krates von Theben in den Mund, als dieser aufgrund der Last an Gold, die sein Schiff geladen hat, Schiffbruch erleidet: abite, inquit, pessum malae cupiditates.423 Die Polemik gegen die uana mundi gaudia findet sich dabei – natürlicherweise – in zahllosen Texten der christlichen Prosa424 und Dichtung.425 Sie hat ihren Ort sowohl in der Totenklage,426 als auch in paränetischen Texten. So meint Ennodius, die Freude der christlichen Welt über den Geburtstag des Papstes Epiphanius klar von solchen gaudia abgrenzen zu müssen: Quo gaudet mundus, cum non sint gaudia mundi.427 Denn die weltlichen Freuden sind es, die den Geist des Menschen von Gott entfernen;428 der Mensch kann sozusagen ‚nicht beides haben‘ und hat Höllenstrafen zu fürchten, sollte er sich für diese Freuden entscheiden.429 Die uana mundi gaudia werden innerhalb derselben Strophe in einer Reihe von Synonymen variiert, die im Kleinen an die Synonymtechnik erinnern, die später als der „isidorianische Stil“ beschrieben werden wird:430 Über die reine Anzahl an Synonymen hinaus finden wir eine hohe Dichte an Homoioteleuta vor (gaudia, praedia, noxia an den Versenden; fasces und honores; lutulenta und blandimenta). Die Synonyme selbst stellen teils typische Wortverbindungen dar.431 Besonders auffällig sind die Parallelen zu zwei christlichen Hymnen,
423 Hieronymus, adv. Iovin. 2,8 (PL 23,311). Vgl. zur Rezeption dieser Schrift in Spanien MARTÍN-IGLESIAS 2013, 270. 424 Vgl. etwa die exakt gleiche Junktur in Caesarius von Arles, serm. 151,4 (CCL 104,619 MORIN): diabolus ingerit vana gaudia mundi, Christus veram beatitudinem paradisi. 425 Vgl. Juvencus, evang. 4,32 (348 OTERO PEREIRA): non thalamos nouit, non terrae gaudia uana. 426 Vgl. das Epitaph für den Bischof Leontius in Venantius Fortunatus, carm. 4,10,1 (142 REYDELLET): omne bonum uelox fugitiuaque gaudia mundi. 427 Ennodius, carm. 1,9,40 (CSEL 6,534 HARTEL). 428 Vgl. Prudentius, ham. 375–377 (CCL 126,129 CUNNINGHAM): Mille alia stolidi bacchantia gaudia mundi, / percensere piget, quae ueri oblita tonantis / humanum miseris uluunt erroribus aeuum. Vgl. auch Sedulius, carm. pasch. 2,281–284 (CSEL 210,63 HUEMER): nam quisquis retia mundi / Deliciosa sequens luxus et gaudia blandae / Perditionis amat, Deus hunc, uirtutis amator, Linquit, et ingreditur qua se temptatio ducit. 429 Vgl. z.B. Commodianus, instr. 1,26,3–4 (CCL 128,21 MARTIN): Perdunt te luxuriae et breuia gaudia mundi, / Vnde sub inferno cruciaberis tempore toto. 430 Vgl. zur Rezeption dieses Stils im angelsächsischen England DI SCIACCA 2008. Sie beschreibt den Stil im Anschluss an mittelalterliche Quellen als „a style where synonyms and homoeoteleuta are systematically employed and where sentences are broken into short cola et commata.“ (a.a.O., 24). 431 Vgl. für die opes caducae Laktanz, inst. 4,16,2 (372 HECK) und für die blandimenta noxia Cassiodor, inst. 1,32,4 (81 MYNORS).
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die nicht hispanischer, sondern ‚ausländischer‘ Provenienz und unter den ambrosianischen Hymnen überliefert sind, von denen zumindest der eine, Deus tuorum militum, wahrscheinlich in Spanien bekannt war:432 Eugenius von Toledo, carm. 14,32–34
Deus, tuorum militum: AH 51,114a
Iesu corona celsior: AH 51,116
Hic nempe mundi gaudia Hic vana terrae gaudia abite pessum uana mundi gaudia, opes caducae, lutulenta praedia, Et blandimenta noxia et luculenta praedia fasces, honores, blandimenta noxia. Caduca rite deputans Polluta sorde deputans Pervenit ad caelestia. Ovans tenet caelestia.
Vor diesem Hintergrund wirkt diese Strophe beinahe wie ein Mosaik aus Hymnenbestandteilen – zudem aus Hymnen, die beide der Kommemorierung der Märtyrer dienen. Ähnlich der Parallelen zum Romanus-Hymnus des Prudentius wird also auch hier die Rhetorik der Absage an die Welt aus dem Martyriumsdiskurs entnommen und auf das Thema der Altersvergegenwärtigung übertragen. Einige Aspekte der Beschreibung dieser zu meidenden weltlichen Freuden begegneten uns darüber hinaus bereits im carm. 5 des Eugenius, ebenfalls als Versklausel (Cur, inique, concupiscis falsa mundi gaudia?).433 Auch das Adjektiv caducus finden wir dort vor; die tantilla lucra am Versbeginn erinnern stark an die terrena lucra, das Synonym, das schon in der fünften jambischen Strophe auftrat. Die deutlichsten Parallelen zwischen den beiden jambischen Gedichten bzw. Gedichtteilen werden allerdings in der Einleitung der Todesangst sichtbar, die zum elegischen Teil von carm. 14 und zur Anrede an die mors omniuorax überleitet: carm. 14, 35–36
carm. 5,4.8–9
Iam finis instat et ruina proximat, iam mors cruenta nostra pulsat limina
Mundus ecce nutat aeger et ruinam nuntiat [...] uita transit, finis urget, ira pendit caelitus ianuam pulsat ut intret mortis ecce nuntius.
Der zunächst für den (individuellen) Tod merkwürdig erscheinende Ausdruck ruina proximat erklärt sich dabei leicht durch Spr 12,13,434 aber auch durch 432 Vgl. zu Deus tuorum militum als wohl noch vor der arabischen Eroberung in Spanien bekannter Hymnus PÉREZ DE URBEL 1926, 19–20. Für Iesu corona celsior ist eine Aussage hier schwerer zu treffen – freilich könnte Eugenius’ ‚Zitat‘ wohl bereits als Beleg dafür gelten. Da Iesu corona celsior wahrscheinlich Deus tuorum militum imitiert (vgl. BLUME 1908, 133), erscheint es unwahrscheinlich, dass der Hymnus sowohl einen anderen Hymnus als auch das – thematisch eher abwegige – Gedicht des Eugenius rezipiert. Von daher dürfte es umgekehrt sein: Eugenius rezipiert diesen Hymnus oder eine verlorene gemeinsame Vorlage. 433 Eugenius von Toledo, carm. 5,10 (CCL 114,212 ALBERTO). 434 Vgl. Vulg. Spr 12,13 (967 ROGER/GRYSON): propter peccata labiorum ruina proximat malo effugiet autem iustus de angustia
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Parallelen wie den Krankheitsexkurs in Prudentius’ perist. 10, der mit der allgemeinen Vergänglichkeit und dem notwendigen Niedergang des menschlichen Körpers einsetzt: Instat ruina; quod resoluendum est ruat.435 Das Bild vom Tod, der anklopft, leitet dabei durch die Personifikation des Todes besonders geschickt zur im elegischen Teil folgenden Anrede an die mors omniuorax über. Das Bild scheint Eugenius überhaupt stark beeindruckt zu haben; neben den beiden gegenübergestellten Gedichten tritt es nämlich noch in carm. 5b,34 auf.436 Die größten Ähnlichkeiten zu anderen Dichtern finden sich im carm. 1,4 des Horaz, wo freilich der Fokus ein anderer ist: Der Tod klopft an die Türen der Armen ebenso wie an die der Reichen.437 Einer ähnlichen Ausdrucksweise bedient sich auch Venantius Fortunatus im Eugenius wahrscheinlich wohlbekannten carm. 6,5, der Geleusuintha-Elegie, die der Dichter auch in carm. 3 rege rezipiert.438 Ebenso ist das von Eugenius verwendete Todes-Epitheton cruenta, ‚blutverschmiert‘, poetisches Allgemeingut, das Eugenius vor allem aus der Satisfactio des Dracontius gekannt haben dürfte.439 e) Zusammenfassung: Der Anti-Hymnus auf die senectus (V. 7–36) Wie bereits Kurt Smolak ausführlich dargelegt hat,440 weist Teil b) in jeder Hinsicht die formal-sprachlichen Charakteristika eines Hymnus auf, dessen Struktur üblicherweise dreigeteilt ist:441 eine Anrufung der Gottheit oder höheren Entität, ein Lobpreis, der darin bestehen kann, Wohl- und Heldentaten aufzuzählen, die Gottheit zu beschreiben oder ihre Geschichte zu erzählen, und schließlich ein abschließendes Gebet. Es versteht sich von selbst, dass in unserem ‚Hymnus‘ an die senectus die erwähnten Teile ins Negative verkehrt werden: Die mit den Epitheta crudelis und improbus ausgeschmückte Invokation ist eher eine Beschimpfung, die Auflistung ihrer ‚Heldentaten‘ ein Katalog von allen denkbaren Übeln. Selbst das Schlussgebet findet eine gewisse Entsprechung in der ‚apotropäischen‘ Absage des lyrischen Ichs – nicht an die senectus
435 Prudentius, perist. 10,480 (CCL 126,346 CUNNINGHAM); vgl. auch perist. 10,1096 (CCL 126,368 CUNNINGHAM): finis instat debitus. 436 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 5b,34 (CCL 114,214 ALBERTO): Mors ecce dira nostra pulsat pectora. 437 Vgl. Horaz, carm. 1,4,13–14 (7 KLINGNER): pallida Mors aequo pulsat pede pauperum tabernas / regumque turris. Vgl. auch Ovid, epist. 21,48 (277 DÖRRIE), wo es Persephone ist, die Gattin des Unterweltsgottes, die an die Tür klopft. 438 Vgl. Venantius Fortunatus, carm. 6,5,317 (73 REYDELLET): mors altera pulsat. 439 Vgl. Dracontius, satisf. 131 (182 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 111 (CCL 114, ALBERTO): Nemo cadet sub iure tuo sub morte cruenta. Vgl. auch Dracontius, Romul. 9,103 (64 ZWIERLEIN), Marius Claudius Victorius, aleth. 2,98 (CSEL 16/1,387 SCHENKL) und das Epit. Antonin. 24 (48 DÍAZ Y DÍAZ). 440 Vgl. SMOLAK 2006, 129–131. 441 Vgl. dazu BRUCKER 2014, 4; vgl. auch THRAEDE 1994, 928.
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freilich, sondern an Freuden der Welt, die vom Greisenalter als nichtig entlarvt wurden. Einen ähnlichen Gedankengang fanden wir auch im ‚Krankheitsexkurs‘ des Romanus-Hymnus des Prudentius vor (perist. 10). Der Sprecher Romanus benutzt hier dieselbe didaktische Absicht, aus der Gebrechlichkeit des Körpers die Notwendigkeit abzuleiten, das Heil der Seele radikal zu priorisieren. In einer Situation, in der die Sorge um die körperliche Unversehrtheit den Menschen von der Entscheidung für Gott (i.e. vom Martyrium) abhalten könnte, führt er vor Augen, was der Körper eigentlich ist: ohnehin, ob früher, ob später, vom Gesetz der Natur zu einem schmerzhaften Verfall bestimmt. Daher ist es nur sinnig, ihn um des höheren Gutes willen aufzugeben. Das carm. 14 und innerhalb dessen vor allem der Anti-Hymnus an die senectus imaginiert eine Situation, in der dieser unvermeidliche leidvolle Verfall bereits voll im Gange ist. Mit dem letzten gedanklichen Schritt, der Reflexion über die genannten Leiden (haec taediosa mente dum recogito), zeigt Eugenius einen spirituellen Weg auf, wie die Klage über körperliche Leiden des Alters und das plastische VorAugen-Führen dessen, wie es um den Körper des lyrischen Ichs (und früher oder später um jeden Körper, auch den der Leserinnen und Leser) bestellt ist, zu einer Einsicht in die vergängliche Natur der Welt und des Lebens an sich führen kann. Diese Einsicht führt zu einer scharfen Zurückweisung (abite pessum) der letztlich den Menschen nicht tragenden weltlichen Freuden – und umgekehrt zu einer ‚Flucht zu Gott‘, die im jambischen Abschnitt noch sehr allgemein bleibt (Deum timere, sempiterna quaerere) und nicht näher konkretisiert wird. In der isidorianischen Systematik der conpunctio cordis repräsentiert der Anti-Hymnus an die senectus also die consideratio peregrinationis […] in huius uitae longinquitate (in der gregorianischen Systematik: ubi est) und, wenn auch nur zaghaft und mit wenig Leidenschaft ex negativo angedeutet, das desiderium supernae patriae – ubi non est, wie Gregor es ausdrückt. f) V. 37–42: Querella an die mors omniuorax – ‚Kleiner Anti-Hymnus‘ O mors omniuorax, ad te nunc uerto querellam: cur miserum sequeris? cur properata uenis? Tu facis ut rapido uoluantur tempora cursu 40 adcelerentque suos fata cruenta gradus. Cum tu deproperas, tunc uitae gaudia cessant, umbra pauenda uenit, lux radiata fugit.
Der zweite elegische Teil beginnt, nachdem schon die letzten Verse des jambischen Teils dazu übergeleitet haben, mit einer Anrede der mors omniuorax – des ‚Allesverschlingers Tod‘. Während uorax ein gängiges Epitheton für den
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Tod darstellt,442 ist die steigernde Verabsolutierung omniuorax zumindest ein sehr seltenes Wort, wenn nicht gar ein von Eugenius geschaffener Neologismus.443 Eugenius’ generell beobachtete Neigung, seltene uerba composita zu verwenden, konnte im carm. 14 schon anhand der Wortschöpfung putriflua, „eitertriefend“ (V. 23), beobachtet werden.444 Das analog zum Gottestitel omnipotens gebildete omniuorax kann dabei als besonders gravitätisches, wenn auch nicht positives Epitheton den ebenfalls hymnenähnlichen Charakter des elegischen Teils noch unterstreichen. Mit dieser Anrede und der Ankündigung ad te nunc uerto querellam beginnt wiederum eine im Du-Stil gehaltene (Anti-)Aretalogie an die mors. Im Unterschied zur senectus wird die mors dabei deutlich weniger bildlich personifiziert. Die ‚visuellste‘ Beschreibung als cruenta und die plastischste Handlung, die der mors zugeschrieben wird (pulsare limina), finden wir noch am Ende des jambischen Teils (V. 36). Hier jedoch verbleiben die der mors zugeschriebenen Handlungen bei Verben der Fortbewegung (sequi, uenire, deproperare) sowie beim sehr allgemeinen Tu facis ut. Generell fällt auf, dass der Tod im Vergleich zur senectus im jambischen Teil (die z.B. ‚selbst‘ die Zähne alter Menschen ‚abrieb‘) als weit weniger aktiv handelnd dargestellt wird: Ab V. 40 ist der Zusammenhang zwischen dem Tod und den ‚Unglücken‘ des Menschen nur noch ein lose temporaler (Cum tu deproperas, tunc uitae gaudia cessant); der Tod wird danach in der Liste der ‚Schandtaten‘ nicht mehr mit tu angesprochen oder überhaupt nur erwähnt. Auch Vermenschlichungen, wie etwa den nouerca-Vergleich bei der senectus, finden wir nicht, was den elegischen Teil im Vergleich zum jambischen Teil weniger polemisch und mehr klagend erscheinen lässt – dem Metrum gemäß. Dementsprechend beginnt die Auflistung der Schandtaten des Todes auch mit den zwei klagend-rhetorischen Fragen cur miserum sequeris? cur properata uenis? Damit wird sofort deutlich, dass der Tod im Gedicht des Eugenius nicht, wie in den Elegien des Maximian, der erlösende Tod ist, der die Schmerzen des Alters beendet: Maximian wirft dem Alter vor, mit dem Ende allzu sehr zu zögern, und fragt ebenfalls mit einem klagenden Cur-Fragesatz im Pentameter, der mit uenis endet, warum es nur so schleichend komme: Aemula quid cessas finem properare, senectus? Cur et in hoc fesso corpore tarda [venis]?
442
Vgl. Venantius Fortunatus, carm. 9,2,9 (15 REYDELLET) und das Epit. Antonin. 24 (48 DÍAZ Y DÍAZ). 443 Vgl. schon MANITIUS 1889, 552 und ALBERTO 2008a, 423, die keine weiteren Beispiele für die Vokabel kennen; auch der Thesaurus Linguae Latinae kennt lediglich den (ausschließlich zoologisch verwendeten) Begriff omniuorus. Wie Paulo Alberto jedoch zurecht anmahnt, verbietet die schwierige Quellenlage ein Urteil darüber, ob der Begriff wirklich eine ‚Erfindung‘ des Eugenius ist. 444 Vgl. ALBERTO 2008a, 422.
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Solve, precor, miseram tali de carcere vitam! Mors est iam requies, vivere poena mihi.445 Was zögerst du, missgünstiges Alter, das Ende zu beschleunigen? Und warum kommst die Ruhe in diesem müden Körper so spät? Löse, ich bitte dich, aus einem solchen Kerker das unglückselige Leben, schon bedeutet der Tod die Ruh’, zu leben Strafe für mich.
Es scheint jedoch unwahrscheinlich, dass Eugenius hier ein bewusstes Echo von Maximian einbringt.446 Sprachlich wie inhaltlich näher ist hier nämlich wiederum das erste Gedicht der Consolatio Philosophiae, wo Boethius’ IchSprecher das ‚zu schnelle, unerwartete‘ (uenit enim properata) Eintreffen der senectus beklagt447 – unerwartet sicherlich in dem Sinne, dass er aufgrund seines gedankenlosen Lebens vor seiner ‚Bekehrung‘ zur Philosophie nicht darauf vorbereitet war. In carm. 14b kommt auch bei Eugenius das Alter praepete cursu, „in übereiltem Lauf“.448 Wie der Tod im carm. 14 also ähnlich dargestellt wird wie das Greisenalter und quasi dessen logische ‚Weiterführung‘ ist, so ähnelt auch die negative Aretalogie des Todes inhaltlich in weiten Zügen der (polemischer gestalteten) Aretalogie des Greisenalters, indem seine Auswirkungen auf das Leben insgesamt und besonders auf den menschlichen Körper geschildert werden. Solange der Tod noch mit Du angeredet wird, bleiben diese Auswirkungen sehr allgemein, abstrakt und beinahe metaphysisch, aber nicht weniger eindrücklich: 1. Das Dahinrasen der Zeit (Tu facis ut rapido uoluantur tempora cursu): Diese nicht unmittelbar einleuchtende Auswirkung des Todes wird einerseits im Kontext des properata verständlich; das lyrische Ich beklagt (wie schon in carm. 5,8: uita transit, finis urget) die Kürze des Lebens. Das bestätigt auch der Folgevers (V. 40), der vom raschen Kommen des Todesschicksals handelt. Die Aussage lässt sich jedoch auch kontextunabhängig als allgemeingültiger ‚Lehrsatz‘ über das Wesen der Welt und der Zeit verstehen. Der zitierte Vers findet sein Echo in einem ähnlich gebauten Vers aus carm. 3: semper in ambiguo uoluuntur pectora cursu. Die vielen Veränderungen und Umwälzungen, die das menschliche Herz erleidet, werden später im carm. 3 mit den Zeiten 445 Maximian, eleg. 4 = 1,4 (92 SANDQUIST ÖBERG). An einer Stelle wurde hier vom Text der Editorin abgewichen: Christina Sandquist Öberg konjiziert quies statt venis (was der weitgehende Konsens der Handschriften ist), da sie die Variante aus grammatikalischen und inhaltlichen Gründen, die ich für plausibel, aber nicht zwingend halte, ablehnt; vgl. SANDQUIST ÖBERG 1999, 138–139. Hier soll trotzdem venis stehen bleiben, da es um Fragen der Rezeption geht, und Eugenius (falls er die Elegien las) diese Variante vorgefunden haben dürfte. 446 Dies sieht allerdings WASYL 2014, 143 als gegeben an. ALBERTO 2005a, 229 gibt sowohl Boethius’ als auch Maximians zitierte Stellen als loci similes an. 447 Boethius, cons. 1 m. 1,9 (4 MORESCHINI): Venit enim properata malis inopina senectus. 448 Eugenius von Toledo, carm. 14b,8 (CCL 114,231 ALBERTO).
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und Zeitatomen verglichen (quot punctis horae, quot currunt saecla momentis), ein Vergleich, der vor dem patristischen Hintergrund der mutabilitas aller Dinge nicht zufällig gewählt scheint, sondern auf den inneren Zusammenhang zwischen der Wandelbarkeit, der Zeit (die Produkt und Ursache der Wandelbarkeit ist) und der Vergänglichkeit aller Dinge und des Menschen in seiner körperlichen wie seelisch-geistigen Dimension verweisen kann. 449 So ist es auch hier möglich, dass theologisch geschulte Leserinnen und Leser eine über die Bedeutung des Verses innerhalb des Kontextes hinausgehende Verbindung zwischen dem Tod als dem ‚radikalsten Veränderer‘ und dem Phänomen der Zeit erkannt haben. 2. Das eilende Kommen der fata: Auch dieser Vers nimmt noch einmal das Thema der Eile der mors auf. Merkwürdigerweise sind diesmal jedoch die fata cruenta,450 die dasselbe Epitheton erhalten wie am Ende des jambischen Teils die mors selbst, das Subjekt der Eile. Die mors dagegen ist, da der Nebensatz weiterhin vom einleitenden Tu facis ut abhängt, in der Rolle der Verursacherin. Verständlich wird die Aussage, wenn man die mors hier als den abstrakten, überpersönlichen Tod auffasst, also den Tod ‚an und für sich‘ (wozu das hier benutzte Epitheton omniuorax auch gut passt), die fata dagegen als die individuellen Todesschicksale der einzelnen Menschen. 451 Indem ihre „Schritte“ (suos […] gradus) imaginiert werden, wird die Personifizierung der fata wiederum ähnlich bildlich wie die der an die Tür klopfenden mors im jambischen Teil. 3. uitae gaudia452 cessant: Hier spiegelt sich die Aussage gaudere taedet, eiulare complacet aus dem Anti-Hymnus auf das Greisenalter (bzw. auch das nec mihi uita placet aus carm. 13,8), wenngleich dieses Ende der Lebensfreuden natürlich radikaler ist, weil das Leben selbst, als Möglichkeitsbedingung dieser Freuden, ein Ende findet. Gleichzeitig fühlen wir uns an den V. 32 erinnert, wo das lyrische Ich die uana mundi gaudia vollmundig verwünscht hatte (vgl. ähnlich carm. 5,10). Der polemische Ton fehlt hier; die Bemerkung soll die Hauptaussage unterstreichen, der Tod vernichte alles, was das Leben ausmacht. Freilich ist das notwendige Ende der Lebensfreuden durch den Tod gerade die Basis für deren Abwertung – im Gegensatz zu den Freuden des ewigen Lebens, von denen in der patristischen Literatur meist dort die Rede ist, wo es
449 Vgl. für einen Überblick über die patristische Behandlung der mutabilitas die Ausführungen zu carm. 3 in Kap. 5.1.1 sowie Kap. 6.2.2. 450 Vgl. an derselben Versposition Ovid, ars 2,130 (159 KENNEY): exigit Odrysii fata cruenta ducis; vgl. auch Ausonius, parent. 11,11–12 (36 GREEN): manus illa cruenti / certa fuit fati. 451 Vgl. THLL s.v. fatum, VI/1,359–360: fatum kann Synonym zu mors bzw. interitus sein und sowohl von einzelnen Menschen ausgesagt werden als auch als personifizierter Tod auftreten. 452 Vgl. in derselben Versposition Vergil, Aen. 11,180 (368 MYNORS).
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um tatsächliche Freuden geht,453 wie es auch am Ende des carm. 14 (V. 79: gaudia tu sanctis, tu reddis praemia iustis) der Fall ist. Auch in der christlichen Dichtung werden die Freuden des diesseitigen Lebens gerne mit den Freuden des ewigen Lebens kontrastiert.454 Das heißt jedoch nicht, dass die Klage um den Verlust der gaudia uitae sich schlichtweg verbietet: So hält Augustinus in seiner nicht mehr vollendeten Schrift gegen Julian fest, dass auch diejenigen, die ihre Hoffnung gerade eben auf die futurae uitae gaudia setzen, mit der Furcht vor dem Tod zu kämpfen hätten, „denn sie wollen nicht beraubt, sondern überreich ausgestattet werden, sodass, was ihren Willen anbelangt, nicht dieses Leben durch den Tod beendet wird, sondern das Todverfallene vom Leben fortgesogen wird.“455 In diesem Kontext ist vielleicht auch ein weiterer Beleg für den Ausdruck gaudia uitae in den sog. Disticha Catonis interessant, die seit der Zeit Martins von Braga in Spanien ein beliebter Schultext waren – und mit denen Eugenius in Verbindung gebracht wurde, da seine moralisierenden carm. 6, 2 und 7 in einigen karolingischen Manuskripten als fünftes Buch der Disticha geführt wurden.456 Das fragliche Distichon verrät den stoischen Hintergrund der Disticha, insofern die Furcht vor dem Tod als unsinnig erklärt wird: Linque metum leti, nam stultum est tempore in omni, Dum mortem metuas, amittere gaudia uitae.457 Lass sein die Furcht vor dem Tod, denn töricht ist es zu jeder Zeit, während den Tod du fürchtest, des Lebens Freuden zu lassen.
Ob in bewusster Abgrenzung oder nicht, Eugenius vertritt in carm. 14 eine andere Position: Der Tod ist durchaus zu fürchten, eben weil er den uitae gaudia notwendigerweise ein Ende macht (und, wie noch dargelegt wird, das Durchgangstor zum göttlichen Gericht ist).
453
Vgl. z.B. Cassiodor, in psalm. 29,56–58 (CCL 97,256 ADRIAEN): carnem fragilitatis nostrae resurgendo in aeternae uitae gaudia collocauit. Vgl. auch Gregor der Große, in Ezech. 2,1,17 (CCL 142,222–223 ADRIAEN): quia et habitacula carnis relinquere et ad illa aeternae uitae gaudia quae audiunt progredi conantur. 454 Vgl. Prudentius, c. Symm. 2,908–909 (CCL 126,242 CUNNINGHAM): fruimurque futuris / ad quae non ueniunt praesentis gaudia uitae. Vgl. auch Commodianus, instr. 1,35,16 (CCL 128,29 MARTIN): qui deos adorat uetitos, mala gaudia uitae. 455 Augustinus, c. Iul. imp. 6,14 (CSEL 85/2,332 ZELZER): nolunt enim spoliari, sed supervestiri, ut, quantum ad eorum attinet voluntatem, non morte finiatur haec vita, sed mortale absorbeatur a vita. Die Schrift ist für das wisigotische Spanien durch Julian von Toledos Antikeimena, aber auch durch seine (leider verlorene) Exzerptesammlung der antijulianischen Schriften Augustins, von der uns Felix von Toledo berichtet, belegt; vgl. MARTÍNIGLESIAS 2013, 260 und Felix von Toledo, vita Iul. 7 (CCL 115B,13–14 YARZA URQUIOLA). 456 Vgl. BLOOMER 2015, passim. Zu den Zitaten der Disticha Catonis in Julian von Toledos Grammatik vgl. schon BOAS 1930. 457 Ps.-Cato, dist. 2,3 (99 BOAS/BOTSCHUYVER).
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4. Licht und Schatten (umbra pauenda uenit, lux radiata fugit): Indem der Schatten, den wir als Todesschatten auffassen dürfen, als pauenda gekennzeichnet wird, bestätigt sich das oben bereits Angedeutete. Der Vers ist wiederum an einem Schema ausgerichtet, das wir bereits im jambischen Teil aufgeführt vorfanden: „Gutes zieht sich zurück, Schlechtes kommt.“ (vgl. V. 13: salus recedit, aegritudo prouenit, oder auch carm. 5,5–6). Das hier gewählte Gegensatzpaar umbra pauenda – lux radiata hat dabei eine starke Symbolik, wie wir sie in Eugenius’ Dichtung sonst selten vorfinden. Eine solche Symbolik dürfte Eugenius in beeindruckender Weise in den von ihm überarbeiteten Laudes Dei des Dracontius vorgefunden haben,458 wo das Schöpfungshandeln Gottes am ersten Tag ganz auf die Erschaffung des Lichtes als Grundlage aller anderen geschaffenen Dinge zugespitzt wird (lux fulgor caeli, lux et primordia mundi).459 Das Licht ist auch die allen Dinge innewohnende und sie belebende Wärme (lux genitis factisque calor),460 die, wie Eugenius weiter unten unter den ‚körperlichen Auswirkungen‘ beschreibt, mit dem Tod verloren geht. Der aber wohl bekannteste biblische Beleg für die Assoziation von Schatten und Licht mit Tod und Leben ist Jes 9,1 (habitantibus in regione umbrae mortis lux orta est eis),461 ein Vers, der oft etwa auf das Licht des Evangeliums (als Spender des ewigen Lebens) und den Todesschatten des Heidentums oder Unglaubens hin spiritualisiert wurde, dabei aber nie seine grundlegende Symbolik verloren hat.462 Gemäß dem Zweck des Abschnitts, die Schrecken des Todes vor Augen zu führen, wird hier jedoch auf jede spirituelle Umdeutung (etwa, dass der Todesschatten wiederum vom Licht Christi oder des ewigen Lebens vertrieben werden könne) verzichtet.
458
Dracontius, laud. dei 1,118–129 (156 MOUSSY/CAMUS) = Eugenius von Toledo, Drac. laud. dei 1–12 (CCL 114,331–332 ALBERTO). Der gesamte Abschnitt ist durch die anaphorische Wiederholung von lux aufgebaut, eine Technik, die Eugenius identisch in carm. 4 mit der pax durchführt. SELENT 2011, 207–212 und bes. 209 betont, dass die Parallelisierung von Feuer bzw. Licht und Gott ein allgemeines Charakteristikum der Dichtung des Dracontius ist. 459 Dracontius, laud. dei 1,124 (156 MOUSSY/CAMUS) = Eugenius von Toledo, Drac. laud. dei 7 (CCL 114,331 ALBERTO). 460 Dracontius, laud. dei 1,122 (156 MOUSSY/CAMUS) = Eugenius von Toledo, Drac. laud. dei 5 (CCL 114,331 ALBERTO). 461 Vulg. Jes 9,2 (1105 ROGER/GRYSON). 462 Vgl. unter den wisigotischen Theologen beispielsweise Ildefons von Toledo, itin. 13 (CCL 114A,443 YARZA URQUIOLA): Inlucescit nobis sedentibus in tenebris et umbra mortis lumen euangelicum, quod inluminat omnem hominem uenientem in hunc mundum: quod iam non nobis occidat inter occursus tentationum, sed luceat semper conlatione miserationum inlapsum.
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g) V. 43–50: Der Tod als Ende der Körperfunktionen Omnia uitali priuantur uiscera motu, clauduntur oculi, garrula lingua tacet, 45 surdescunt patulae trusis anfractibus aures, naribus obclusis non odor ullus adest, non spirat pulmo flabris uitalibus auras, frigida membra rigent nec cruor ipse calet. Tabe fluunt carnes, conrodunt omnia uermes, 50 sic species hominis fit putrefacta cinis.
Ab V. 43 geht die ‚Auswirkungsliste‘ vom Allgemeinen zum konkreten und speziell körperlichen Bereich über. Gleichzeitig verselbstständigt sich dieser Bereich von der negativen Aretalogie, indem die mors nicht mehr als Handelnde erwähnt wird (auch wenn die Liste formal weiterhin das beschreibt, was passiert, „wenn du, [Tod], heraneilst“). Stattdessen sind die Verben entweder intransitiv oder stehen im Passiv. Nach einer zusammenfassenden Einleitung (V. 43: „Alle Organe werden ihrer lebendigen Bewegtheit beraubt“) wird eines nach dem anderen beschrieben, wie einzelne Organe und Körperfunktionen ihren Dienst aufgeben. Sie sind sozusagen progressiv angeordnet: Vor den lebensnotwendigen Körperfunktionen steht zuerst das Wegfallen der Sinnes- und Äußerungsorgane, das Eugenius übrigens auch im moralisierenden carm. 6 über die Trunkenheit beschreibt, um zu zeigen, wie durch übermäßigen Weingenuss der Körper beinahe einem Leichnam gleicht. 463 Die Augen „schließen sich“ (clauduntur), die Zunge „schweigt“ (tacet), die Ohren „werden taub“ (surdescunt), der Geruchsinn ist nicht mehr da, da die Nase verschlossen ist (naribus obclusis). Gerade dort, wo die Körperteile nicht nur erwähnt, sondern auch beschrieben werden, lehnt sich Eugenius zudem an typischen lexikalischen Verbindungen der lateinischen Dichtung an: die lingua wird als garrula bestimmt,464 die aures als patulae.465 Ähnliche Einschränkungen zählt auch Maximian als Konsequenzen des Greisenalters auf, während Eugenius dies im Kontext des Greisenalters lediglich summarisch erwähnt (sensus hebescunt; V. 14). Maximian unterscheidet sich inhaltlich lediglich darin, dass er zusätzlich den Tastsinn aufführt und statt der sprechenden Zunge den Geschmackssinn betont: Er zählt systematisch die fünf Sinnesorgane des Menschen auf, dieselbe Fünfzahl an Sinnen, die Euge-
463
Vgl. carm. 6,9 (CCL 114,216 ALBERTO): Surdescunt aures, balbuttit denique lingua. Vgl. für garrula lingua, zudem an derselben Versposition: (Ps.-)Tibull, carm. 4,13 (3,19),20 (106 LUCK); Ovid, am. 2,2,44 (40 KENNEY) und Martial, epigr. 13,71,2 (444 SHACKLETON BAILEY). 465 Vgl. an derselben Versposition Horaz, epist. 2,18,70 (271 KLINGNER), sowie, wenn auch in einem anderen Kasus, (Ps.-)Prosper Tiro von Aquitanien, carm. de prov. 591 (40 MARCOVICH), der die Sinnesorgane ebenfalls vollzählig aufzählt. Vgl. auch Prudentius, ham. 318 (CCL 126,127 CUNNINGHAM). 464
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nius übrigens in deutlichem Rückgriff auf das Handbuchwissen der Etymologiae Isidors im carm. 53 bringt.466 Hier jedoch geht es nicht um Vollständigkeit oder Systematik, sondern wichtige Körperfunktionen und ihr Ende durch den Tod werden exemplarisch dargestellt. Im Distichon V. 47–48 sind es dann die Atmung und die Körperwärme, die der Tod hinwegnimmt. Mit den flabris uitalibus wird der uitalis motus aus dem zusammenfassenden Vers 43 noch einmal aufgenommen und so ein gewisser Bogen geschlagen. Gleichzeitig leitet das Distichon schon zum endgültigen Ende des Körpers über, nämlich zu Zerfall und Verwesung, da wir mit diesen beiden grundlegenden und lebenswichtigen Körperfunktionen diesmal, um beim Vergleich mit carm. 6 zu bleiben, ein eindeutiges Indiz für den Tod haben: Dort war es nämlich ein tenuis […] anhelitus, der den Körper eines Betrunkenen noch von einem Leichnam unterschied.467 Auch die Kälte des Körpers (frigida membra rigent), dem die lebensspendene Wärme fehlt, weist darauf hin. Der Halbvers flabris uitalibus468 auras ist dabei ein relativ eindeutiges Zitat aus Sedulius’ Paschale Carmen, aus einem Abschnitt, in dem Sedulius das Leben des Verräters Judas betrachtet, der sich gegen seinen Schöpfer gewandt hatte. Sedulius kommt zu dem Schluss: Atque utinam sterili damnatus uentre nequisset Natalem sentire diem, nec luminis huius Hausisset placidas flabris uitalibus auras Aeterno torpore latens, miseroque fuisset Sors melior nescire datam quam perdere uitam.469 Und hätte der Verdammte doch, wegen eines unfruchtbaren Leibes, nicht den Tag der Geburt erleben können, und hätte nicht dieses Lichtes süße Luft in lebensspendenem Atem geschöpft, verborgen in ewiger Lähmung, und dem Elenden wär’ es ein besseres Schicksal gewesen, das Leben nicht als Geschenk zu erhalten, als es zu verlieren.
Das Argument, das Sedulius benutzt, gleicht der Argumentationsstruktur des carm. 14 auffallend: Das, was man verliert, seien es die Freuden dieser Welt oder das Leben insgesamt, ist im Grunde wertlos – deshalb wäre es auch für 466 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 53 (CCL 114,259 ALBERTO): Auditus, uisus, gustus, olfactio, tactus, / aure, oculis, ore, nare cute corporis extant. Vgl. dazu Isidor von Sevilla, orig. 11,1,18–24 (o.S. LINDSAY): Sensus corporis quinque sunt: visus, auditus, odoratus, gustus, et tactus. […] Nam quod videndum est, oculis capitur, quod audiendum est, auribus: mollia et dura tactu aestimantur, sapor gustu, odor naribus ducitur. 467 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 6,16 (CCL 114,216 ALBERTO). Vgl. dazu die kursorische Lektüre in Kap. 4.5. 468 Vgl. für die Junktur uitalibus flabris auch Venantius Fortunatus, carm. app. 1,167 (140 REYDELLET). 469 Sedulius, carm. pasch. 5,50–54 (CSEL 210,117–118 HUEMER).
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Judas besser gewesen, gar nicht erst zu leben als durch seine Tat das (wahre, weil ewige) Leben zu verspielen. Eugenius stellt diesen Verlust des Lebens nicht nur für Judas, sondern, am Beispiel seiner Dichter-persona, für grundsätzlich jeden Menschen als unvermeidlichen, schaudernswerten Teil des menschlichen Daseins dar. Auch der Aspekt der Sündhaftigkeit, der für Sedulius ja der entscheidende Faktor für perdere uitam ist, wird im carm. 14 im noch folgenden Abschnitt über die Angst vor dem Gericht dem lyrischen Ich (und damit potentiell jedem Menschen) zugeeignet. Den Zusammenhang von Leben, Schuld und Tod, den Sedulius am Extrembeispiel des Judas aufzeigt, macht also Eugenius für jeden Menschen geltend. Die Schilderung des Aufhörens der Körperfunktionen wird schließlich mit der Darstellung des endgültigen Verfalls des Körpers beendet: Das Fleisch „zerfließt“, alles wird von Würmern zerfressen und „die Gestalt des Menschen“ (species hominis) wird nach dem Prozess des Verfaulens zu Asche (putrefacta cinis). Der Vers stellt in verkürzter Form den typischerweise so vorgestellten Ablauf der Verwesung dar,470 bedient sich aber gleichzeitig an einem gewissen ‚Kanon‘ an Ausdrücken für die Sterblichkeit und Vergänglichkeit des Menschen, für den Ildefons von Toledo (im isidorianischen Synonymstil)471 ein schönes Beispiel darstellt: Ego enim cinis sum, ego terra, ego corruptio, ego putredo, ego esca uermis, ego inexoptatae sed non euadendae consors mortalis hereditatis, cuius habitatio effossa tellus, cuius requies tumulus, cuius domus sepulcrum, cuius mansio monumentum.472 Denn Asche bin ich, Erde bin ich, Verfall bin ich, Fäulnis bin ich, Wurmfutter bin ich, ein Teilhaber bin ich am nicht erwünschten aber nicht entfliehbaren sterblichen Erbe, dessen Wohnstatt aufgegrabener Boden, dessen Ruhe der Erdhügel, dessen Haus das Grab, dessen Bleibe das Denkmal ist.
Der für heutige Leserinnen und Leser des carm. 14 befremdlich anmutende Ausdruck tabe fluunt carnes ist dabei eine bereits in der antiken Dichtung gängige Ausdrucksweise;473 speziell für caro als Subjekt lassen sich auch biblische Belege, nämlich Ijob 33,21 und Sach 14,12 anbringen.474 Gerade auch in den 470
Vgl. z.B. Augustinus, serm. 277,11 (PL 38,1263): uidetur integrum recens cadauer, in putredinem soluitur; et ad ipsam resolutionem necessaria sunt tempora, donec in tabem defluat, siccetur in cinere. 471 Vgl. TIZZONI 2020, 413. 472 Ildefons von Toledo, virg. 1481–1485 (CCL 114A,239–240 YARZA URQUIOLA). 473 Vgl. z.B. Ovid, met. 9,174–175 (257 TARRANT): medullis / tabe liquefactis und mit der Wortverbindung tabe fluunt Lukan, bell. civ. 2,166 (30 BAILEY). Vgl. für die christliche Dichtung Prudentius, perist. 2,153 (CCL 126,262 CUNNINGHAM): qui tabe corrupta fluat. 474 Ijob 33,21; Bibla Sacra iuxta Vulgatam Versionem (758 WEBER/GRYSON): tabescet caro eius et ossa quae texta fuerant nudabuntur; Sach 14,12; Bibla Sacra iuxta Vulgatam Versionem (758 WEBER/GRYSON): tabescet caro uniuscuiusque stantis super pedes suos. Letzteres ergänzt Hieronymus in seinem Sacharja-Kommentar zu et caro eorum tabescet et defluet (Hieronymus, in Zach. 3,14,12 [CCL 76A,889 ADRIAEN]).
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Ausdrücken, die Würmer und Fäulnis betreffen, fließt viel biblisches Material zusammen, v.a. aus dem Buch Ijob (vgl. z.B. Ijob 25,6: quanto magis homo putredo et filius hominis vermis). Der Bezug zu Ijob wird freilich unten, in V. 59, noch deutlicher werden, wenn das lyrische Ich sich selbst als Wurm bezeichnet. Das vorliegende Distichon ist in gewissem Sinne eine schwächere Reformulierung von Gen 3,19 (donec revertaris in terram de qua sumptus es, quia pulvis es et in pulverem reuerteris) mit dem Synonym cinis für puluis bzw. terra, die Eugenius klarer noch in carm. 18,3 vornimmt: En cinis ad cinerem redii. 475 Auf den Verfallsprozess als Umkehr des Schöpfungshandelns kann auch die Wortverbindung species hominis verweisen, die in den Laudes Dei des Dracontius, die Eugenius selbst bearbeitete, eben im Kontext der Formung des Menschen „aus Lehm“ durch Gott steht.476 g) V. 51–52: sed mage quid uerear – Einleitung des pauor-Themas Multa pauenda quidem cecini multaque tremenda, sed mage quid uerear, nunc lacrimando loquar.
Nach dem ‚Anti-Hymnus‘ bzw. der Klage an den Tod wird zum zweiten großen Thema des elegischen Teils, dem pauor vor dem göttlichen Gericht, übergeleitet. Das Verb pauere ist dabei ein Schlüsselwort in diesem Teil, das insgesamt viermal auftritt (sowie einmal in Form des verwandten Adjektivs pauidus und einmal schon zuvor im Anti-Hymnus an den Tod) und gleichzeitig auch gliedernde Funktion hat: Die einzelnen Unterthemen (Gerichtsvision und Sündenbekenntnis) werden vom pauor-Thema auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, gerahmt und miteinander verbunden, ebenso wie die abschließende Vergebungsbitte ab V. 71 davon eingeleitet wird (Talia dum rite paueo, dum corde tremesco). Oft wird das Verb pauere von seinem Synonym tremere bzw. tremescere begleitet (vgl. V. 51: pauenda und tremenda, V. 64: pauidus und tremulentus sowie V. 71: paueo und tremesco). Pauere hat dabei ein weites Bedeutungsspektrum, bezeichnet sowohl die innere Seite der Furcht als auch körperliche Äußerungen derselben, wie etwa das Erstarren.477 Im religiösen Kontext kann es auch im Kontext göttlicher Präsenz und Verehrung stehen. 478 Tremere
475
Eugenius von Toledo, carm. 18,3 (CCL 114,235 ALBERTO). Dracontius, laud. dei 1,337 (168 MOUSSY/CAMUS) = Eugenius von Toledo, Drac. laud. dei 221–222 (CCL 114,347 ALBERTO): Limus adhuc deformis erat, membratur in artus / corporea species hominis, caelestis imago. 477 Vgl. THLL s.v. paueo, X,1,1,807–808: respicitur afflictio animi, quae efficitur a quolibet terrore […] respicitur afflictio corporis, sc. rigor, praeclusio. 478 Vgl. THLL s.v. paueo, X,1,1,809: ad affectum reuerentis, uenerantis refferi. 476
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
scheint sich eher auf die körperliche Sphäre (zittern, beben) zu beschränken, kann aber – als Äußerung von Furcht479 – auch für diese selbst stehen. Das Begriffspaar ist an sich natürlich nicht ungewöhnlich, 480 die Konsequenz, mit der es in diesem Abschnitt auftritt, überrascht jedoch. Als biblische Basis dafür könnten wiederum das Buch Ijob (4,14: pavor tenuit me et tremor), aber auch Dan 6,26 (tremescant et paveant Deum) oder Mk 16,8 (invaserat enim eas tremor et pavor), jeweils in der Hieronymus-Übersetzung, herangezogen werden. Den drei Bibelstellen gemeinsam ist, dass sie Reaktionen auf eine (reale oder vorgestellte) Gottesbegegnung darstellen: Tremescere und pauere ist im Buch Daniel die von König Dareios geforderte Haltung gegenüber Gott. Im Markus-Evangelium ist es die Begegnung der Emmaus-Jünger mit dem Auferstandenen, die tremor und pauor auslöst. In einem ähnlichen Kontext wie im carm. 14 finden wir das ‚Synonympaar‘ (das freilich unterschiedliche Aspekte der Furcht betont) in Ijob 4,14. Elifas berichtet dort von einem Traum, der ihm den genannten pauor und tremor einjagt: Eine Stimme spricht zu ihm und flüstert die Frage, wie denn ein Mensch vor Gottes Angesicht bestehen könne, wo doch nicht einmal die Engel und die, die ihm dienen, diesem Vergleich standhalten können. Derselbe Gedankengang wird sich in den Folgeversen durch die Gerichtsvision im carm. 14 ziehen. Ein weiterer interessanter Beleg ist auch die alttestamentliche apokrpyhe Schrift Oratio Manasse, die im wisigotischen Spanien zwar wohl nicht als kanonisch galt, aber sogar in der Liturgie gelesen werden konnte und vor allem im Kontext der Buße Bedeutung hatte:481 omnes pauent et tremunt a vultu virtutis tuae (OrMan 4).482 Eine strukturelle wie inhaltliche Ähnlichkeit fällt hier vor allem zu V. 54 (cuius ad intuitum cuncta creata tremunt) auf. So ist es nicht verwunderlich, dass in vielen patristischen Texten es gerade die ‚richterliche‘, eschatologische Gottesbegegnung ist, wie man sie in Ijob 4,14 angedeutet sah,483 die pauor und tremor auslöst.484 Auch Eugenius’ Schüler Julian von Toledo wird später in seinem Prognosticon den wiederkehrenden
479
Vgl. OLD s.v. tremo, 2171: „show fright at“. Vgl. z.B Ovid, met. 9,214 (259 TARRANT): tremit ille pauetque. Vgl. für die christliche Dichtung Prudentius, apoth. 100 (CCL 126,80 CUNNINGHAM): ille pauet mortis faciem, tremit ille dolorem. 481 Vgl. den Ordo de missa unius penitentis im Liber Ordinum XXIIII (351 FÉROTIN). Der kurze Text gehört auch zu den Gesängen der Quadragesima, vgl. FÉROTIN 1996/11904, 351 Anm. 2. 482 Vulg. OrMan 4 (1909 WEBER/GRYSON). 483 Vgl. dazu die Auslegungen Gregors des Großen, moral. 5,32,56 (CCL 143,258–259 ADRIAEN) bzgl. Ijob 4,14. 484 Vgl. z.B. Augustinus, en. Ps. 96,10 (CCL 39,1361 DEKKERS/FRAIPONT): Intonat de illis Deus iudicii sui terrorem; et tremit qui infidelis erat, et pauescit, et credit. 480
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Christus, der kommt, um die Welt zu richten, als Tremendus igitur ualde et pauendus beschreiben.485 Gerade angesichts der großen lexikalischen Einheitlichkeit der Schilderung der Furcht – nur einmal wird statt pauere/tremere in V. 52 die Vokabel uereri und in V. 58 timor verwendet – überrascht es, wie unterschiedlich die Konstellationen sind, in denen die beiden Verben auftreten. Einmal ist es der Anblick bzw. Blick des Richters, auf den hin „alles Geschaffene“ (cuncta creata) zittert. Nach der Schilderung, wie die himmlische Schar sich dem Richter nähert, wird auch von den „seligen Herzen“ ausgesagt, dass sie sich vor dem „Angesicht Christi fürchten“ (V. 60: si Christi faciem corda beata pauent). Diese Aussage wird jedoch gleich zum Aufhänger dafür, zur Furcht des lyrischen Ichs überzuleiten: Wenn schon die Seligen zittern, wie mag es da diesem „Wurm“ (uermis) erst ergehen? Es folgt das Sündenbekenntnis, das in der Mitte durch den Verweis auf die Furcht unterbrochen wird: hinc miser, hinc pauidus, hinc tremulentus eo. Am Ende wird noch einmal präzisiert, dass es die Strafen für diese aufgezählten Sünden sind, die der Geist des lyrischen Ichs fürchtet: Inde pauet animus, similes ne perferat ictus. Schließlich bilden pauere und tremere (V. 71) den Kontext (dum), aus dem heraus das lyrische Ich die Vergebungsbitte spricht. Pauere und tremere haben also in diesem Abschnitt verschiedene Subjekte und Objekte. Bzgl. der Subjekte des Fürchtens wird es zuerst von allem Geschaffenen ausgesagt, dann – im Anschluss an Ijob 4,14 – von den Seligen, denen, wie man meinen möchte, im Gericht doch nichts geschehen kann, und schließlich vom lyrischen Ich, das sich selbst als sündig bekennt. Objekt der Furcht ist zuerst der Tod: Schon im Anti-Hymnus an den Tod war von der umbra pauenda die Rede. Zu Beginn der Gerichtsvision wird diese Furcht jedoch relativiert und übersteigert: Was Eugenius zuvor beschrieben hatte, Alter und Tod, wird „zwar“ (quidem) als Multa pauenda […] multaque tremenda bezeichnet, im folgenden sed-Satz verweist Eugenius allerdings auf etwas, was sein lyrisches Ich noch mehr fürchtet (sed mage quid uerear). Die Überleitungsfunktion des Distichons wird auch dadurch gestützt, dass die Verben, das rückblickende cecini und das vorausschauende loquar, das Distichon auf eine poetologische Meta-Ebene heben. Dadurch ‚pausiert‘ der Gedankengang nach den drastischen Schilderungen von Tod und Zerfall; die Leserinnen und Leser können wieder Distanz zum vorher Berichteten gewinnen und gleichzeitig ihre Gedanken auf das Folgende, das ‚noch Fürchterlichere‘, richten. Das zweite Objekt, mit dem das mage quid uerear erläutert wird, ist die Gerichtssituation insgesamt sowie – als Objekt der Furcht der Seligen und aller geschaffenen Dinge – der Anblick und das Antlitz Christi, des Richters. Das 485 Julian von Toledo, progn. 3,4 (CCL 115,84 HILLGARTH): Tremendus igitur ualde et pauendus adueniet in die examinationis suae.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
letzte Objekt sind schließlich die Sündenstrafen, die das lyrische Ich aufgrund der Erinnerung an seine Schandtaten fürchtet – letztere Furcht wird freilich nur dem lyrischen Ich selbst zugeschrieben. Begrifflich wird nicht zwischen den verschiedenen Arten bzw. Situationen der Furcht unterschieden, wie es etwa das Deutsche in der Unterscheidung von Furcht und Ehrfurcht heute an dieser Stelle tun könnte – das Bedeutungsspektrum von pauere ist jedoch groß genug, um all diese Konstellationen zu umgreifen. Für die Interpretation kann dennoch geltend gemacht werden, dass die von der Gerichtsvision provozierte Furcht nicht nur eine Furcht vor der drohenden Strafe ist, sondern bereits durch die göttliche Präsenz an sich entsteht, vor der das lyrische Ich sich selbst als nichtigen Wurm erkennt. (Vgl. auch den untenstehenden Exkurs zu amor und timor). h) V. 53–60: iam cerno – Vision des Gerichts Iudicis altithroni iam tristis cerno tribunal, cuius ad intuitum cuncta creata tremunt. 55 Substernit niueas caelorum turba coronas et titubante genu proruit ante thronum; cernere sic ambit dominum, sic semper amare, ut pulset animum mixtus amore timor. Quid faciet ergo uermis, putredo, fauilla, 60 si Christi faciem corda beata pauent?
Durch ein mit iam verstärktes präsentisches cerno holt das Gedicht die – eigentlich in der Zukunft liegende – Begegnung mit dem Richter, der in V. 60 als Christus identifiziert wird, in die Gegenwart des Sprechers. Er sieht das iudicis altithroni […] tribunal, den „Richterstuhl des hochthronenden Richters“, was freilich zunächst kein erhebender Anblick ist, sondern ihn tristis, bedrückt macht. Altithronus ist ein Epithet, das sich in der christlichen Dichtung neben aus dem Paganen überkommenen Epitheta wie tonans486 für Gott entwickelt487 und zum ersten Mal bei Juvencus488 und dann auch bei Venantius Fortunatus erscheint.489 Mit dem Nebensatz cuius ad intuitum cuncta creata
486 Das Epithethon tonans verwendet Eugenius in der Variante altitonans in carm. 1,17 (CCL 114,206 ALBERTO), ein Epitheton, das Cicero in einem von Laktanz zitierten Gedichtfragment für Jupiter verwendet, vgl. Laktanz, inst. 3,17,14 (114 HECK/WLOSOK): nam pater altitonans stellanti nixus Olympo. 487 Vgl. THLL s.v. altithronus, I,1764, der nur christliche Belegstellen angibt. 488 Vgl. OTERO PEREIRA 2009, XLI. Die Belege finden sich in Juvencus, evang. praef. 24 (14 OTERO PEREIRA); evang. 2,62 (132 OTEIRO PEREIRA) und 3,409 (OTERO PEREIRA). 489 Vgl. an derselben Versposition Venantius Fortunatus, carm. 10,6,1 (71 REYDELLET): Emicat altithroni cultu uenerabile templum; vgl. auch carm. 10,10,26 (87 REYDELLET) und Mart. 1,1 (6 QUESNEL).
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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tremunt, der Anklänge an Prudentius und Dracontius enthält490 und strukturell an den genannten Vers aus der Oratio Manasse erinnert (OrMan 4: omnes pauent et tremunt a vultu virtutis tuae), wird noch einmal das Thema der Furcht aufgenommen und gleichzeitig der Aspekt der Vision vertieft: intuitus ist eine Vokabel, die in der patristischen Prosa oft die geistige Schau bzw. die Schau des Göttlichen bezeichnet.491 Gleichzeitig ist der Ausdruck doppeldeutig, je nachdem, ob man cuius als Subjekts- oder Objektsgenitiv verstehen will: Es ist denkbar, intuitus als den prüfenden Blick des göttlichen Richters zu begreifen (so verwendet Apringius von Beja in seinem Apokalypse-Kommentar den Ausdruck),492 obgleich der Kontext, in dem vom Antlitz Christi die Rede ist und der Richter Christus an keiner Stelle zum aktiv Handelnden wird, dies nicht unbedingt nahelegt. Der Fokus liegt auf dem reinen ‚Sehen‘ Christi, und so ist auch das Wortfeld allgemein, mit der zweifachen Wiederholung der Vokabel cernere in V. 53 und 57 und der Imagination der Christi facies in V. 60, in diesem Abschnitt stark vertreten. Gleichzeitig leitet der Nebensatz den Hauptgedankengang der gesamten Gerichtsvision ein, der auch dem breiteren Kontext von Ijob 4,14, der oben im Hinblick auf V. 51 dargelegten Reminiszenz, entspricht: Alles Geschaffene fürchtet Gott, selbst die Himmelsschar, und wie sollte da der Mensch, der ein vergänglicher Wurm ist, sich nicht fürchten? Die caelorum turba wird dabei nicht näher bestimmt. Lediglich in V. 60 werden sie als corda beata charakterisiert, weshalb wir wohl die Seligen (Apostel, Märtyrer, Väter etc.) darunter verstehen dürfen; freilich ist auch für 490
Vgl. für cuncta creata an derselben Versposition Dracontius, satisf. 82 (180 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 76 (CCL 114,380 ALBERTO): cuncta creanda parans, cuncta creata fouens; für ad intuitum vgl. an derselben Versposition Prudentius, ham. 913 (CCL 126,147 CUNNINGHAM): liber ad intuitum sensuque oculisque peragrans. 491 Besonders häufig verwendet Johannes Cassian den Begriff in diesem Sinne, vgl. conl. 3,7 (CSEL 213,74 PETSCHENIG): omnem mentis intuitum ad caelestia deflectemus. In einem ähnlichen Kontext wie in carm. 14 steht der Ausdruck in conl. 23,4 (CSEL 213,644 PETSCHENIG): cuius intuitu etiam ipsi apostoli […] mali esse dicuntur. Dass es nicht um Gottes prüfenden Blick, sondern um das ‚vergleichende Anschauen‘ Gottes geht, vor dessen Hintergrund selbst die Apostel als unzulänglich erscheinen, wird aus dem unmittelbaren Kontext deutlich: si respiciamus ad bonitatem dei, nullus eorum pronuntiabitur bonus. 492 Vgl. Apringius von Beja, in apoc. 1,2,18 (CCL 107,53 GRYSON): cuius intuitus uniuersa discernit. Die kurze Schrift wurde von Isidor von Sevilla, vir. ill. 17 (143 CODOÑER MERINO) lobend als subtili sensu verfasst hervorgehoben; allgemein scheint im 7. Jahrhundert ein Interesse für diese Schrift geherrscht zu haben, vgl. WOOD 2009, 76. Dennoch scheint sie nicht leicht zugänglich gewesen zu sein: Braulio bittet in ep. 17,32–34 (CCL 114B,76 MIGUEL FRANCO) den Abt Aemilian, ihm die Schrift, die er sonst nicht finden könne, zur Abschrift zu übersenden; eine Bitte, die dieser trotz aller Bemühungen nicht erfüllen kann, wie er im Antwortbrief ep. 18,11–17 (CCL 114B,77 MIGUEL FRANCO) erläutert. Der Briefwechsel wird von MIGUEL FRANCO 2018a, 68* ungefähr auf die Jahre 640–650 datiert, terminus post ist das Jahr des Regierungsantritts Chindasuinths.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Engel das Epithet beatus nicht undenkbar.493 Für Julian von Toledo werden „alle Heiligen, die in Vollkommenheit die Welt verlassen haben“,494 mit Christus Gericht halten, doch auch die Engel und Erzengel werden Christus vorausschreiten.495 Die Reaktion der caelorum turba auf die Ankunft des Richters wird im Distichon V. 55–56 beschrieben. Sie erweist dem thronenden Richter die Ehre, indem sie schneeweiße Kränze (niueas […] coronas) vor ihn hinstreut und „mit zitterndem Knie“ (titubante genu) vor seinem Thron niederfällt. Die beiden Ehrerweisungen entsprechen klar denen der 24 Ältesten in der Johannes-Offenbarung (Offb 4,10), die dort den Thronenden umgeben: procident viginti quattuor seniores ante sedentem in throno […] et mittent coronas suas ante thronum. Eugenius kehrt die Reihenfolge um, und auch ein Detail ist auffallend anders: Die Kränze sind „schneeweiß“ (niueas)496 – ein Textzeuge überliefert auch uineas, „aus Weinlaub“ –, während sie in Offb 4,4 als golden beschrieben werden. Wenn auch die Variante uineas zwar botanisch sinnvoller erscheint als niueas, hat letztere Variante einerseits für sich, dass sie der in der JohannesOffenbarung doch wichtigen weißen Farbsymbolik entspricht: Wenn auch nicht die Kränze, so sind doch die Gewänder der 24 Ältesten weiß (vgl. Offb 4,4). Die weiße Farbe wird von den Kirchenvätern zumeist als Zeichen der Reinheit gedeutet.497 Wahrscheinlicher ist aber, dass die Farbe weiß aus einem anderen Kontext in das eschatologische ‚Setting‘ der Offenbarung eingeführt wurde: Der Siegeskranz (corona) ist auch ein wichtiges Element des – oft metaphorisch als ‚athletischer Sieg‘ wie in einem antiken Agon beschriebenen – Martyriums. Dieselbe Metaphorik finden wir in carm. 1 wieder, wo das lyrische Ich sich einen guten Lauf durch das uitae stadium wünscht und zugleich befürchtet, die Sünde werde ihm „den Siegeskranz entreißen“.498 Er repräsentiert den Sieg des Märtyrers oder der Märtyrerin, das treue Beharren auf dem Glauben und die Überwindung der Schwierigkeiten, die ihn oder sie zu Fall zu bringen drohten. Freilich konnte dies kein Modell für alle Christen sein: Bereits Cyprian von 493
Vgl. Augustinus, ep. 73,3 (CCL 31A,48–49 DAUR): in sanctis et beatis angelis. Julian von Toledo, progn. 3,12 (CCL 115,89 LAWSON): omnes sancti qui perfecte mundum reliquerunt. 495 Vgl. Julian von Toledo, progn. 3,4 (CCL 115,84 LAWSON): Tremendus igitur ualde et pauendus adueniet in die examinationis […] cum angelis et archangelis. 496 Vgl. den textkritischen Apparat der Edition von ALBERTO 2005a, 230. 497 Vgl. Apringius von Beja, in apoc. 2,4,4 (CCL 107,61 GRYSON): Circumamictos albis, iustificationibus et puritate uestitos. Vgl. für diese Assoziation mit Reinheit auch Isidor von Sevilla, eccl. off. 2,8,4 (CCL 113,68 LAWSON): Quique propterea altario albis induti adsistunt, ut caelestem uitam habeant, candidique ad hostias et immaculati accedant, mundi scilicet corpore, incorrupti pudore. 498 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 1,22 (CCL 114,207 ALBERTO): cui tollit culpa coronam. Vgl. zu dieser Metaphorik ausführlicher Kap. 6.1. 494
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Karthago bemühte sich, auch anderen, insbesondere karitativen Bemühungen seiner Gläubigen eine ähnliche Würde zu verleihen, wie sie dem Martyrium zukam. In diesem Kontext etabliert er die Unterscheidung in einen ‚weißen‘ und einen ‚roten‘ Kranz des Martyriums: nusquam dominus meritis nostris ad praemium deerit, in pace uincentibus coronam candidam pro operibus dabit, in persecutione purpuream pro passione geminabit.499 Nirgends wird der Herr es daran fehlen lassen, unsere Verdienste zu belohnen; den Siegern im Frieden wird er den weißen Kranz für ihre Werke, denen in der Verfolgung zusätzlich den purpurroten Kranz für ihr Leiden geben.
Dieser Unterscheidung entspricht auch der später von Gregor dem Großen übernommenen Konzeption eines spirituellen Martyriums in mente.500 Die auch poetische Rezeption, die Cyprians Unterscheidung in der christlichen Poesie erfahren hat, scheint auch in Paulinus von Nolas Nat. 6 Dolveck (carm. 18 Hartel) auf, wo der gerühmte Felix sowohl eine niuea […] corona als auch eine rote (rosea) erhält – gemäß Cyprians Aussage, dass der (blutige) Märtyrer beide Kränze tragen darf.501 Dieselbe Doppelung betrifft in Paulinus’ Natalicium auch die zwei Gewänder des Felix – worin wir den Ausdruck einer allgemeinen Tendenz sehen können, die ‚Ausstattung‘ dieser Seligen zu erweitern.502 Ein weiteres interessantes Beispiel dafür ist das eschatologische Carmen ad Flavium Felicem, das ebenfalls eine Epiphanie Christi, des Richters unter Rückgriff auf Offb 4,10 beschreibt: beatisque suis comitatus vatibus extat [sc. Dominus], clara quibus niveis effulgent tempora taenis. iamque sacerdotes nitidis in vestibus adsunt gestantes rutilas praemia vitae coronas submissique omnes genibusque reflexis adorant.503 499
Cyprian von Karthago, eleem. 26 (CCL 3A,72 SIMONETTI). Vgl. dazu DUNN 2004. Gregor der Große, in euang. 2,35,7 (CCL 141,327 ÉTAIX): Duo quippe sunt martyrii genera, unum in mente, aliud in mente simul et actione. Vgl. zum spirituellen Martyrium bei Gregor dem Großen RUSH 1962 und, darauf aufbauend und vertiefend, HOEL 2020. 501 Vgl. Paulinus von Nola, Nat. 6,145–148 (CCL 21,339 DOLVECK) = carm. 18,145–148 (CSEL 230,104 HARTEL): Tum niuea sacrum caput ornauere corona, / Sed tamen et roseam Pater addidit indice Christo / Purpureoque habitu niueos duplicauit amictus. Strenggenommen handelt es beim von Paulinus gerühmten Felix von Nola (wenn die Lebensbeschreibung durch Paulinus stimmt) nicht um einen Märtyrer, sondern um einen Confessor, der zwar unter der Verfolgung zu leiden hatte, aber erst in hohem Alter friedlich starb. GRIG 2004, 104–110 schreibt ihm daher sogar eine gewisse Brückenfunktion zwischen dem blutigen und dem unblutigen asketischen Märtyrermodell zu. 502 Vgl. für diese Tendenz auch Hymn. Hispan. 37,29–30 (CCL 167,213 CASTRO SÁNCHEZ), wo die 24 Ältesten zusätzlich zur weißen Kleidung und den goldenen Kränzen goldene Duftphiolen und Musikinstrumente tragen. 503 Carmen ad Flavium Felicem 180–184 (FlorPatr.S 1,79–80 WASZINK) 500
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und in Begleitung seiner seligen Schauer tritt [der Herr] auf, denen die hellen Schläfen von schneeweißen Binden blitzen. Schon sind die Priester in ihren weißen Gewändern zugegen, die goldrote Kränze tragen, den Preis des Lebens, und mit gebeugten Knien am Boden beten sie an.
Hier finden wir nicht nur mit den weißen Schläfenbinden (was ein Vergilzitat darstellt)504 eine gewisse Ähnlichkeit zu den weißen Kränzen, sondern auch die Kombination mit dem Niederfallen und Beugen der Knie der seligen Gemeinschaft. Die Versposition der Junktur niueas […] coronas in carm. 14 ist eine zusätzliche Reminiszenz an das anonyme Carmen. Allerdings fehlt auch dort mit rutilas […] coronas („rötlich golden“, ein interessanter Kompromiss zwischen Cyprians roter und der goldenen corona aus Offb) der rote Kranz letztlich nicht. Ganz anders bei Eugenius: Hier scheint das blutige Martyrium, ob bewusst oder unbewusst, für die Konzeption der Seligen keine entscheidende Rolle mehr zu spielen. Freilich muss dabei eingeschränkt werden, dass Eugenius sich für deren Beschreibung im Unterschied zu den anderen zitierten Beispielen gerade einmal ein Distichon gestattet und eine wie auch immer geartete ‚Vollständigkeit‘ daher kaum zu erwarten ist. Exkurs: Amor und timor – Furcht, Liebe und die conpunctio cordis Das beschriebene äußere Verhalten der caelorum turba wird im folgenden Distichon (V. 57– 58) auf ihre innere Seite hin reflektiert: cernere sic ambit dominum, sic semper amare. Das Verb ambire ist ein schillerndes Verb, dessen Bedeutung vom wörtlichen ‚herumgehen‘ bis zum übertragenen ‚bitten‘ reicht.505 Gerade mit der Infinitivkonstruktion scheint es jedoch, ähnlich petere und quaerere, auch die Bedeutung ‚erstreben‘ haben zu können.506 Das von der caelorum turba angestrebte ideale Verhalten dem göttlichen Richter gegenüber besteht also in einer Mischung aus furchtsamer und liebevoller Ehrerbietung, wie es das Niederknien, das Zittern, aber auch das Niederlegen von Kränzen zuvor bereits äußerlich ausgedrück hat. Der Aspekt des timor greift dabei das pauor-Thema wieder auf – wie wir gesehen haben, umfasst pauor im Kontext unseres Gedichtes vieles, von der Furcht der Seligen im Angesicht Gottes bis hin zur Furcht des lyrischen Ichs vor Sündenstrafen. Die Vokabel, die hier als beinahe einzige lexikalische Abwechslung zu pauere/tremere gesetzt wird, sowie die verallgemeinernde Aussage (semper) verweisen allerdings auf eine grundlegendere, nicht nur situative Aussage. In dieser wird die Furcht durch einen zweiten Affekt, amor, ausbalanciert.
504 Vgl. Vergil, Aen. 5,269 (207 MYNORS). Vgl. für eine Aufarbeitung der Vergilzitate im Carmen ad Flavium Felicem ISETTA 1983. 505 Vgl. THLL s. v. ambio I, 1846–1851. 506 Vgl. etwa in Augustinus, conf. 8,6,15 (CCL 27,122 SKUTELLA/VERHEIJEN): Dic, quaeso te, omnibus istis laboribus nostris quo ambimus peruenire? quid quaerimus? cuius rei causa militamus? Vgl. auch OLD s.v. ambio I,126: „to seek to obtain, strive for, aim at“, wofür als Beispiel auch eine Belegstelle mit Infinitivkonstruktion, nämlich Statius, silv. 1,2,254 (13 MARASTONI): ambissent laudare diem angegeben wird. Vgl. für diese Bedeutung auch Sedulius, op. pasch. 2,7 (CSEL 210,204–205 HUEMER): ut ipsum Dominum Christum […] tuis ambias dolis interfici?
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Amor und timor sind dabei zwei Affekte, die in der römischen elegischen Dichtung, besonders der Liebeselegie, oft als widerstreitend dargestellt wurden; Seneca bezeichnet sie gar als ‚unvermischbar‘: non potest amor cum timore misceri.507 Eugenius’ Halbvers mixtus amore timor erinnert beispielsweise an Ovids Heroidenbrief der Sappho an Phaon, dem ebenfalls die Vorstellung der Unvereinbarkeit zugrundeliegt: sit procul insano victus amore timor.508 In der christlichen Literatur werden sie dagegen dort beiläufig und wie selbstverständlich nebeneinandergestellt, wo es die christliche religio in ihrer Gesamtheit zu umschreiben gilt.509 Laktanz sieht dabei vor allem die Notwendigkeit, die Angemessenheit der Furcht zu begründen, und sieht dies in Gottes Rolle als Schöpfer des Menschen und seiner umfassenden Macht über ihn begründet: „Er hat gegen uns nicht nur wie ein Vater, sondern auch wie ein Herr die unumschränkte Freiheit, uns zu züchtigen, und die Macht über Leben und Tod, weshalb jenem vom Menschen eine zweifache Ehrerbietung, nämlich Liebe mit Furcht gebührt (amor cum timore debetur).“510 Eugenius’ Formulierung ist also keineswegs ungewöhnlich. Sie fällt eher im größeren Kontext des Gedichtes auf, in dem das Thema der Furcht beherrschend ist. Und selbst in diesem Distichon scheint die Notwendigkeit der Furcht, ähnlich wie im Laktanz-Zitat, die Sinnspitze der Aussage zu sein: amare ist die ‚Ausgangslage‘, die aber „so“ (sic) beschaffen sein soll, dass auch die Furcht „den Geist anschlägt“ (ut pulset animum). Eine ähnliche Sinnspitze lesen wir auch in Cassiodors Auslegung von Ps 5,8 (adorabo ad templum sanctum tuum in timore tuo). Auch hier ist das Hinzugesellen der Furcht zur Liebe die Sinnspitze, die hier interessanterweise mit der conpunctio cordis verbunden erscheint: Sequitur: in timore tuo. Vt cordis compunctionem declararet, timoris intulit mentionem; quia tunc fides solida est, quando amori casto formido diuinitatis adhibetur.511 Es folgt: in Furcht vor dir. Um die Zerknirschung des Herzens anzuzeigen, hat er die Furcht erwähnt; denn der Glaube ist dann fest, wenn der keuschen Liebe die Furcht vor dem Göttlichen hinzugefügt wird. Tatsächlich sind amor und timor auch zwei Reflexionsbegriffe, die auch bei Gregor dem Großen, dem ‚Vater der conpunctio‘, bestimmend sind. In seiner stärker systematisierten Sichtweise der compunctio ist jedoch nicht an ein Miteinander von Gottesfurcht und Gottes-
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Seneca, epist. 47,18 (123 REYNOLDS). Ovid, epist. 25,176 (323 DÖRRIE). 509 Vgl. für die Dichtung Paulinus von Nola, Nat. 6,11 (CCL 21,332 DOLVECK) = carm. 18,11 (CSEL 230,97 HARTEL): cui Christus amorque timorque est; sowie für die Prosa etwa Caesarius von Arles, serm. 74,3 (CCL 103,311): vos, quibus deus et timorem et amorem suum conferre dignatus est. 510 Vgl. Laktanz, epit. 54,4 (82 HECK): habet in nos non modo ut pater, uerum etiam ut dominus licentiam uerberandi et uitae ac necis potestatem, unde illi ab homine duplex honos, id est amor cum timore debetur. 511 Cassiodor, in psalm. 5,183–186 (CCL 97,67 ADRIAEN). Sprachlich noch näher kommt dem Eugenius-Vers Cassiodors Definition der reuerentia, die zudem ebenfalls im Bußkontext verankert ist: Reuerentia est enim Domini timor cum amore permixtus; quod illis prouenit qui uoluntate sincerissima confessionis munera consequuntur. (Cassiodor, in psalm. 34,479 [CCL 97,316 ADRIAEN]). 508
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liebe gedacht wie bei Cassiodor, sondern es handelt sich um zwei distinkte Stufen der compunctio, in denen die Furcht von der Liebe abgelöst wird. In einer Kurzfassung, die an zwei Stellen seines Werkes auftritt, fasst er dies kurz und bündig zusammen: Principaliter uero conpunctionis genera duo sunt, quia Deum sitiens anima prius timore conpungitur, post amore. Prius enim sese in lacrimis afficit, quia, dum malorum suorum recolit, pro his perpeti supplicia aeterna pertimescit. At uero cum longa moeroris anxietudine fuerit formido consumpta, quaedam iam de praesumptione ueniae securitas nascitur et in amore caelestium gaudiorum animus inflammatur […]. Sicque fit, ut perfecta conpunctio formidinis tradat animum conpunctioni dilectionis.512 Grundsätzlich aber gibt es zwei Arten der Zerknirschung, weil die Seele, die nach Gott dürstet, zuerst von Furcht zerknirscht wird, dann von Liebe. Denn erst quält sie sich in Tränen, weil sie, während sie sich an ihr Schlechtes erinnert, in Furcht gerät, dafür ewige Strafen zu erdulden. Wenn aber die Angst durch das lange kummervolle Bangen aufgebraucht ist, entsteht schon aus der Vorwegnahme der Vergebung eine gewisse Sicherheit und der Geist wird in der Liebe zu den himmlischen Freuden entflammt […]. Und so kommt es, dass die Zerknirschung der Angst, wenn sie vollendet ist, den Geist an die Zerknirschung der Liebe übergibt. Die beiden genannten Aspekte der conpunctio formidinis werden im Gedicht mustergültig ‚durchgeführt‘, besonders im unmittelbar folgenden Sündenbekenntnis des lyrischen Ichs. Die conpunctio dilectionis dagegen, die aus der Gewissheit der Barmherzigkeit Gottes und der Sehnsucht nach dem Ewigen entsteht, wird weder an dieser noch an anderer Stelle des carm. 14 eingelöst, in dem das lyrische Ich bis zuletzt in der Rolle des ängstlichen Sünders bleibt. Indem der vorliegende Vers allerdings die Liebe als die (trotz der beschriebenen allseits herrschenden Furcht wie selbstverständlich geltende) Basis der Beziehung zum Herrn angibt, wird deutlich, dass es sich nicht um eine ‚sklavische‘ Furcht handeln soll, die im Gegensatz zur Liebe steht, wie etwa Cassiodor die Gottesfurcht nicht missverstanden sehen will,513 und bei der nach ihrer Konversion stehenzubleiben Isidor seine Leser warnt.514 Diese ausgewogene Haltung wird hier allerdings nur von den himmlischen Scharen ausgesagt und damit als Ideal dargestellt. Dem lyrischen Ich wird sie nicht explizit zugeschrieben, was wohl auch schlecht zum Tenor des elegischen Teils passen würde, in dem sich das lyrische Ich klein macht und seine Sündhaftigkeit betont.
512
Vgl. Gregor der Große, dial. 3,34,2 (SC 260,400 DE VOGÜÉ). Vgl. auch die beinahe identischen Ausführungen in ep. 7,23 (CCL 140,475–476 NORBERG). 513 Vgl. Cassiodor, in psalm. 118,1095–1099 (CCL 98,1085 ADRIAEN): ne illos debuisses aduertere qui Domini iudicia seruili timore formidant, addidit et custodientium mandata tua, qui deuotissimi comprobantur timore castissimo et amore reuerendo. 514 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,8,4 (CCL 111,109 CAZIER): Necesse est omni conuerso ut post timorem consurgere ad caritatem Dei debeat quasi filius, ne semper sub timore iaceat quasi seruus.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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i) V. 59–60: Der Mensch als Wurm – Überleitung zum Sündenbekenntnis 60
Quid faciet ergo uermis, putredo, fauilla, si Christi faciem corda beata pauent?
Zum Schluss der Gerichtsvision wird der Blick weg von der himmlischen Schar und wieder hin zum das Gericht fürchtenden Menschen und zum lyrischen Ich gelenkt. Den „seligen Herzen“ wird „der Wurm, die Fäulnis, die Asche“ gegenübergestellt, von der allerdings in der dritten Person gesprochen wird (Quid faciet ergo uermis), womit die Aussage auch verallgemeinerbar wird: Natürlich ist das lyrische Ich, das ja im Folgenden ein Sündenbekenntnis ablegt, ‚mitgemeint‘, die Aussage ist aber eine, die grundsätzlich jeden Menschen betrifft. Die Bildsprache ebenso wie die Stoßrichtung der Aussage entstammt wiederum dem Buch Ijob, in dem der Mensch als putredo und der Wurm als filius hominis vorgestellt wird (vgl. Ijob 25,6), wohinter die antike Vorstellung sich verbirgt, dass Würmer (und wurmähnliche Tiere wie Maden oder sogar Schnecken) gleichsam aus dem Leichnam entstehen. 515 Noch deutlicher ist die Selbstidentifizierung des Menschen mit dem Wurm in Ps 21,7 nach der Vulgata (ego autem sum vermis et non homo) vorgeprägt, dem Passionspsalm. So umschreibt die asyndetische Reihung uermis, putredo, fauilla den vergänglichen Menschen, von dem letztlich nichts weiter als das Genannte übrig bleibt. Gerade in Ijob 25,6 spielt aber nicht nur die Vergänglichkeit, sondern auch die Reinheit eine Rolle, da die Umschreibung des Menschen als putredo die (rhetorische) Frage beantwortet: numquid iustificari potest homo conparatus Deo aut apparere mundus – „Kann denn der Mensch im Vergleich zu Gott gerechtfertigt werden oder als rein erscheinen?“ Insofern leitet der Vers auch zum folgenden Sündenbekenntnis über. k) V. 61–70: Sündenbekenntnis und Furcht vor den Sündenstrafen Oppressi, rapui, nudaui, crimina finxi, pauperis ad uocem mens mea surda fuit, corrupi proprium lasciuo uulnere corpus: hinc miser, hinc pauidus, hinc tremulentus eo. 65 Nulla meas umquam uenia compescuit iras nec sine felle furens nec sine caede fui. Inde pauet animus, similes ne perferat ictus aut poena laceret, quae sine fine nocet. Nam licet hic modico patrentur tempore probra, 70 longa tamen animam post male flamma cremat.
Das Sündenbekenntis wird vollständig in der ersten Person gesprochen und setzt mit einer asyndetischen Reihung von Verben im Perfekt ein: oppressi, rapui, nudaui, crimina finxi. Fortgesetzt wird das Bekenntnis, das hier zunächst 515 Vgl. Isidor von Sevilla, orig. 12,5,18 (o.S. LINDSAY): Proprie autem uermis in carne putre nascitur.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Schädigungen eines anderen Menschen umfasst, von der Beschreibung der mangelnden Barmherzigkeit des lyrischen Ichs den Armen gegenüber: „Für die Stimme des Armen war mein Geist taub.“ Das Bild der Taubheit des Geistes (oder des Fehlens eines anderen Sinnesorgans) ist generell häufig für Verfehlungen jeder Art;516 speziell für den Kontext der Mildtätigkeit den Armen gegenüber finden wir bei Gaudentius von Bresica die Klage: Egreditur de ecclesia Christianus – si tamen Christianus – et surdis auribus precantem pauperem praeterit.517 Der Christ verlässt die Kirche – wenn er überhaupt ein Christ ist – und geht mit tauben Ohren an dem bittenden Armen vorbei.
Die dritte Kategorie ist die fleischliche Verfehlung, mit der das lyrische Ich seinen eigenen Körper geschändet habe: corrupi proprium lasciuo uulnere corpus. Das Adjektiv lasciuus kann sich dabei zunächst auf Ausschweifungen jeder Art beziehen: So verwendet beispielsweise Isidor in seiner Mönchsregel das Adjektiv im Kontext der Gefräßigkeit, der übertriebenen Sorge um das eigene Äußere und für unanständiges Sprechen.518 Das widerspricht auch dem hier gewählten Bild der Selbstschädigung nicht, da Eugenius gerade in den carm. 6 und 7 die Gefräßigkeit und die Trunksucht nicht nur in ihren geistigen Auswirkungen, sondern auch in ihrer zerstörerischen Wirkung auf den Körper darstellt.519 Insbesondere die sexuelle Ausschweifung jedoch scheint darin inbegriffen zu sein. Das Bild der Wunde erinnert an Augustinus’ Rede vom uulnus oculi, von der Wunde des Auges, das das Einfallstor für die concupiscentia carnis werden kann.520 Die Wunde ist jedoch auch eine beinahe grundlegende Metapher für die Sünde,521 was Ambrosius sogar in Bezug auf den Körper, nicht auf die Seele hin aussagt:
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Vgl. für die Wortverbindung auch Julian von Toledo, comprob. 1,17,36 (CCL 115,164 HILLGARTH): surdibus auribus et mentibus. Vgl. auch Gregor der Große, moral. 4,13,24 (CCL 143,180 ADRIAEN): caecitas mentis […] per quam se homo patitur in culpae perpetratione prosterni. 517 Gaudentius von Brescia, serm. 13,21 (CSEL 68,120 GLÜCK). Gaudentius ist eine der Quellen Isidors von Sevilla, weshalb zumindest Teile seiner Tractatus im Wisigotenreich bekannt gewesen sein dürften, vgl. MARTÍN-IGLESIAS 2013, 268. 518 Vgl. Isidor von Sevilla, reg. monach. 9 (104–107 CAMPOS RUIZ/ROCA MELIA), 12 (109–110 CAMPOS RUIZ/ROCA MELIA) und 17 (114–116 CAMPOS RUIZ/ROCA MELIA). 519 Vgl. die kursorische Lektüre in Kap. 4.5. 520 Vgl. Augustinus, serm. 25D,4 (250 DOLBEAU): Nostis autem quod Adam peccauit, et inde originem concupiscentiae carnalis trahit quisquis mortaliter nascitur. Gerit se cum ergo uulnus oculi, et quamdiu homo est, quamdiu inest illud quod laesum est et primo peccato turbatum. 521 Vgl. für eine eingehende Untersuchung der Wunden-Metaphorik und ihrer Implikationen UPSON-SAIA 2017, die sich allerdings vor allem auf den christlichen Osten bezieht. Für
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Contra autem si oculus tuus uidit mulierem ad concupiscendum eam, aperuisti uulnus, inpressisti telum corpori tuo: membra tua arma peccati sunt.522 Wenn aber im Gegenzug dein Auge eine Frau gesehen hat, um sie zu begehren, und du hast die Wunde geöffnet, hast den Stachel in deinen Körper gedrückt: Dann sind deine Glieder die Waffen der Sünde.
Im Vergleich zu anderen Bekenntnissen in den Gedichten, wie dem in Eugenius’ Epitaphium proprium (carm. 17) und dem Chindasuinth-Epitaph, in dem vage von einer Neigung zum Schlechten und einer Abneigung vom Guten die Rede ist, erscheint das Sündenbekenntnis damit erstaunlich konkret.523 Gleichzeitig ist es, wie auch positive ethische Forderungen in anderen Gedichten des Eugenius, stark von biblischer Sprache geprägt.524 Insbesondere liest sich die Sündenliste des Distichons V. 61–62 gleichsam als Negativfolie der Tugendliste des uir iustus in Ez 18,5–8: Et vir si fuerit iustus [...] et hominem non contristaverit pignus debitori reddiderit per vim nihil rapuerit panem suum esurienti dederit et nudum operuerit vestimento. Zu dieser Stelle gibt Hieronymus in seinem Ezechiel-Kommentar auch eine nicht aus dem Hebräischen, sondern aus der Septuaginta übersetzte lateinische Variante opprimere, der von Eugenius in carm. 14,61 verwendeten Vokabel, anstelle von contristare an.525 Allein aufgrund des topischen Charakters liegt es also nicht nahe, das Sündenbekenntnis als eine persönliche Lebensbeichte des Eugenius zu lesen, was auch Kurt Smolak spätestens nach der Erwähnung der caedes in V. 66 (was mindestens physische Gewalttätigkeit, wenn nicht sogar einen Mord impliziert) für ausgeschlossen hält.526 Das lyrische Ich spricht deutlich in der Rolle des sündigen Menschen an sich, nicht eines konkreten Menschen, der konkrete Taten zu bereuen hat. Nach diesen drei Sündenkategorien folgt ein erster Einschub, in dem die Sünden als die Ursache für die Furcht (die wiederum mit dem Begriffspaar pauere/tremere ausgedrückt wird) des lyrischen Ichs gekennzeichnet werden: hinc miser, hinc pauidus, hinc tremulentus eo. Zwar wirkt die darauffolgende erneute Selbstbezichtigung des lyrischen Ichs lediglich wie eine Fortführung
den Westen gilt Entsprechendes; vgl. z.B. HACK 2012, 158–163, der die spirituelle Bedeutung medizinischer Metaphern, auch der Verwundung, bei Gregor herausarbeitet. 522 Ambrosius von Mailand, Iac. 1,3,10 (CSEL 32/2,11 SCHENKL). 523 Vgl. Kap. 4.9 für carm. 17 und Kap. 4.11 für carm. 25. 524 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 2,7 (CCL 114,208 ALBERTO): Porrige poscenti uictum uel contege nudum und Tob 4,17: panem tuum cum esurientibus et egenis comede et de vestimentis tuis nudos tege. 525 Vgl. Hieronymus, in Ezech. 6,18 (CCL 75,231 GLORIE). 526 Vgl. SMOLAK 2010, 82: „[Das Sündenbekenntnis] ist in seinen Übertreibungen rein literarischer Natur. Man wird Eugenius keinen Mord (66: nec sine caede fui) zutrauen, es sei denn, er gebraucht das Wort in rein etymologischem Sinn für ‚Schläge‘, um irgendwelche Handgreiflichkeiten zu beschreiben.“
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
des Sündenbekenntnisses, sie bringt jedoch eine zusätzliche, nämlich die innere Seite der Sünden, mit hinein: Nulla meas umquam uenia compescuit iras / nec sine felle furens nec sine caede fui527 – „Keine Vergebung hat jemals meinen Zorn in die Schranken gewiesen, weder ohne Gift und Galle noch ohne Gewalt blieb ich, war ich in Wut.“ Suchen wir wiederum nach biblischen Ankerpunkten für diese ungewöhnliche Formulierung, gibt möglicherweise Jesu Radikalisierung der alttestamentlichen Gebote innerhalb der Bergpredigt (Mt 5,21–22) einen Schlüssel für das Verständnis:528 Dort wird der Mord nämlich auf seine ‚seelische Vorbedingung‘, den Zorn, zurückgeführt und verdeutlicht, dass schon der Zorn eine Anklage vor dem Gericht verdient: audistis quia dictum est antiquis non occides […] ego autem dico vobis quia omnis qui irascitur fratri suo reus erit iudicio (Mt 5,22). Noch radikaler wird dies in 1 Joh 3,15 über den Hass ausgesagt: omnis qui odit fratrem suum homicida est. In Isidor von Sevillas Wiedergabe werden beide Stellen miteinander ‚vermischt‘ und der Zorn nimmt den Platz des Hasses in 1 Joh 3,15 ein, wodurch er nicht nur mit dem Mord parallelisiert (vgl. Mt 5,22), sondern mit ihm identifiziert wird: omnis qui irascitur fratri suo homicida est – „Jeder, der seinem Bruder zürnt, ist ein Mörder.“529 Noch eine weitere biblische Argumentationsstruktur schwingt jedoch mit: Die uenia (als Antagonistin der ira), die dem lyrischen Ich gefehlt hat, erbittet es in anderen Gedichten und unterschiedlichen Kontexten selbst wortreich von Gott.530 Besonders im Vergleich zum Schlussvers des carm. 5, wo ebenfalls das Motiv vom gezügelten Zorn erscheint (dort ist es die indulgentia, die das Gegengewicht zu Gottes Zorn bildet), erscheint das Verhalten des lyrischen Ichs in carm. 14 geradezu als Umkehrung dessen, was von Gott erhofft wird: Forsitan iram refrenat, donat indulgentiam. Gleichzeitig verlangt das Herrengebet gerade eine Entsprechung zwischen der Hoffnung auf Gottes Vergebung und eigener Vergebungsbereitschaft. Wenn also das lyrische Ich selbst im Leben nie verzeihen konnte oder wollte, ist die Furcht vor Gottes Zorn begründet. Deshalb schließt die Furcht vor der Strafe auch mit inde an: Inde pauet animus, similes ne perferat ictus. Die Vorstellung einer Entsprechung des eigenen Handelns im Diesseits und des Ergehens im Jenseits zeigt sich auch im Ausdruck similes […] ictus, also der „ähnlichen Schläge“, die das lyrische Ich fürchtet: dass es also ein Äquivalent zu 527 Ein sehr ähnlich gebautes Distichon finden wir bei Isidor von Sevilla, carm. 4,7–8 (CCL 113A,215 SÁNCHEZ MARTÍN): Nulla meos umquam tetigit blasphemia sensus, / sed uigil et prudens tutus ab hoste fui. Das dort sprechende lyrische Ich, das auf diese Weise gelobt wird, ist Origenes. 528 Vgl. FEAR 2019, 37. 529 Isidor von Sevilla, expos. in Jos. 9,3 (PL 83,375). 530 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 1,22 (CCL 114,207 ALBERTO); carm. 9,22 (CCL 114,221 ALBERTO); carm. 10,11–12 (CCL 114,222 ALBERTO) und carm. 13,9 (CCL 114,226 ALBERTO).
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dem, was es begangen habe, selbst erleiden müsse. Was das konkret bedeutet, bleibt natürlich ebenso offen wie in den eschatologischen Lehrtexten, in denen von einer Differenzierung der Strafen ausgegangen wird. So übernimmt Julian von Toledo in seinem Prognosticon einen Abschnitt aus den Dialogi Gregors des Großen: Vnus quidem est gehennae ignis, sed non uno modo omnes cruciat peccatores. Vniuscuiusque etenim quantum exigit culpa, tantum illic sentietur et poena.531 Denn es gibt zwar nur ein Höllenfeuer, aber es quält nicht alle Sünder auf dieselbe Art. Denn wie sehr es eines jeden Schuld erfordert, so sehr wird man dort auch die Strafe spüren.
Nicht nur eine zu den eigenen Sünden äquivalente Strafe ist es jedoch, die das lyrische Ich fürchtet, sondern auch eine lange Dauer dieser Strafen. Im zweiten Vers des Distichons wird eine poena […] quae sine fine nocet vorgestellt. Damit können wir auch gewiss sein, dass nicht an Strafen im Sinne eines zeitlich begrenzten purgatorius ignis gedacht ist (die sich nach Auffassung Julian von Toledos auch vor dem Gericht, nicht nach dem Gericht, abspielen),532 sondern tatsächlich die ewige Verdammnis, der die Furcht des lyrischen Ichs gilt. Die Ewigkeit der Strafe ist es auch erst, was sie so fürchtenswert macht, wie das lyrische Ich im folgenden, das Sündenbekenntnis abschließenden Distichon sinniert: Im Unterschied zur vergleichweise kurzen Zeitspanne (V. 69: modico […] tempore), in der die Sünden begangen werden, verbrennt eine longa […] flamma (V. 70) im Gericht die Seele. Wir finden hier unter anderen Vorzeichen noch einmal den Gegensatz zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen wieder, der schon im Anti-Hymnus an das Greisenalter verhandelt wurde (vgl. auch V. 27–28: quae transeunt/sempiterna). Das Ewige ist in jedem Falle – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne – das Entscheidende. Konsequenterweise bittet das lyrische Ich auch in carm. 5, dem Mahngedicht über die Kürze des Lebens, die Sündenstrafen schon in diesem Leben erdulden zu dürfen, um nur der flamma […] iugis zu entgehen. In der in carm. 14 vorgestellten Situation, in der das hohe Alter den Tod noch unmittelbarer „an die Tür klopfen“ lässt als im allgemeiner gehaltenen carm. 5, ist an eine Sühne der Sünden durch Leiden in diesem Leben freilich nicht mehr denkbar. Allein das Bittgebet bleibt also übrig.
531 Julian von Toledo, progn. 2,18 (CCL 115,55 HILLGARTH) = Gregor der Große, dial. 4,45 (SC 265,160 DE VOGÜÉ). 532 Vgl. zur Entstehung der Vorstellung des Fegefeuers MERKT 2005, passim, sowie MOREIRA 2010, für die weitere Entwicklung und bes. 81–112 für das 6. und 7. Jahrhundert. Zum Zeitpunkt des Fegefeuers zwischen individuellem Tod und Gericht vgl. Julian von Toledo, progn. 2,21 (CCL 115,58–59 HILLGARTH).
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
l) V. 71–80: Oratio Talia dum rite paueo, dum corde tremesco, te te, summe Deus, pro pietate peto (te sine nemo ualet peccati tollere labem aut mentem uitiis emaculare suis): 75 dimitte culpam misero, dimitte reatum, effice post lapsum, post mala tanta bonum. Parce, precor, animae pulsanti, parce petenti, quae flammas metuit, dum sua facta gemit. Gaudia tu sanctis, tu reddis praemia iustis, 80 Eugenii miseri sit rogo poena leuis.
Das abschließende Bittgebet setzt mit einer letzten Wiederholung des pauere/tremere-Themas ein, wodurch die Furcht vor dem Gericht als der spirituelle Kontext (vgl. das wiederholte dum) des Gebetes gekennzeichnet wird. Wiederholungen, vor allem anaphorische am Beginn eines Verses oder Teilsatzes, sind dabei generell das dominierende Stilmittel des Bittgebetes, was dem eindringlichen, flehenden Charakter des Gebetes entspricht. Wiederholt werden besonders die tu-Anrede (V. 72–73 und V. 79) sowie die Imperative, durch die um Vergebung und Schonung gebeten wird (V. 75: dimitte und V. 77 parce). Auch Alliterationen fallen auf, insbesondere in V. 72 (pro pietate peto) und 77 (Parce, precor, animae pulsanti, parce petenti). Viele Gedichte des Eugenius enden mit einer kurzen Oratio, diese hier ist jedoch (abgesehen von den Gedichten, die eine einzige Oratio darstellen) mit Abstand die elaborierteste. Ihre Struktur entspricht wieder – grob und sehr verkürzt – der Struktur des Hymnus. Sie beginnt mit einer Anrede an Gott, summe Deus, und schließt eine kleine Aretalogie an, die gleichzeitig die Notwendigkeit der Bitte begründet: „Ohne dich vermag niemand den Schandfleck der Sünde zu sühnen oder den Geist von Fehlern zu reinigen.“ Die eigentliche Bitte erfolgt dann in zwei Distichen mit zwei Imperativen: dimitte und parce. Abgeschlossen wird das Bittgebet noch einmal von einer tu-Anrede, in dem Gott als der Spender der ewigen Freuden der Gerechten erwiesen wird – demgegenüber traut sich das lyrische Ich, das hier auch zum ersten und einzigen Mal innerhalb des Gedichtes Eugenius genannt wird, jedoch nur, um eine milde Strafe zu bitten. Christine Ratkowitsch und Anna Maria Wasyl erkennen intertextuelle Bezüge zwischen der Oratio und Maximians Bittgebet an Mutter Erde gegen Ende seiner ersten Elegie, in der er die Erde bittet, seinen vom Alter geschundenen Körper aufzunehmen und seinen Qualen ein Ende zu setzen. Die Argumente für einen intertextuellen Bezug, der den Leserinnen und Lesern auffallen soll, erscheinen jedoch eher mager.533 Wasyl gesteht dies ein und sieht in Eugenius’ 533 RATKOWITSCH 1986, 30 Anm. 63 führt dafür die geteilten Worte pulsare, petere und (als Maximians synonymer Ersatz von Eugenius’ parce) misereri an, was allesamt keine
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Ausführungen nicht aus sprachlichen Gründen eine Kontrastimitation Maximians, sondern weil sie carm. 14 insgesamt als Rezeption Maximians liest: The vocabulary employed in [carm. 14,44–50] is, of course, typical of supplications. Nonetheless, a careful reader should find here another – and now very subtle – allusion to Maximianus, and precisely to the prayer to Mother Earth. In a discreet way, and hence the one that activates all our reading skills, Eugenius provides a ‚corrective‘ to his model. Maximianus, (an agnostic?) in his quasi-chthonic prayer begged in truth only for death, for a dematerialization of his worn-out body. Eugenius, however conscious of his own sins, dares to pray for salvation.534
Die Anspielung wäre freilich so subtil und diskret, dass eigentlich nur die geteilte Wahl des Grobthemas (das Alter) und die literarische Form (des Gebetes) die Leserinnen und Leser auf Maximians Elegien verweisen kann. Die Abschnitte an sich sind kaum vergleichbar; weder sprachlich noch strukturell ähneln sie sich. Die Adressaten und das, worum gebeten wird, sind unterschiedlich und schließlich auch die Position des Bittgebetes: Bei Maximian ist es ein Zwischenspiel, das zu einer erneuten Klage über die Mühen des Alters überleitet, bei Eugenius ist es der Abschluss der Elegie, auf den alles zuläuft.535 Wenn Eugenius ein Kontrastprogramm zu Maximian dichtet, dann eher in dem Sinne, dass er völlig neu ansetzt und das Alter aus einer anderen Perspektive betrachtet. Dass er dies tut, darin ist Wasyl natürlich zuzustimmen; wir haben es schon an vielen anderen Stellen bemerkt: Während der Tod in Maximians Elegien der süße Erlöser ist, der dem schon fast verfallenen Körper den Gnadenstoß gibt, so ist er bei Eugenius das Durchgangstor zu der größten Krise des Menschen, an der sich Wohl und Wehe entscheidet: dem göttlichen Gericht. Diesem gilt konsequenterweise auch Eugenius’ Bittgebet. So sind es eher andere Bittgebete aus der christlichen Dichtung und Liturgie, von denen Eugenius sprachlich inspiriert scheint: Einige übereinstimmende Versbestandteile zeigen Verbindungen zu Dracontius’ Satisfactio,536 begonnen
seltenen Vokabeln sind, zumal in Gebetstexten. WASYL 2014, 143–144 behauptet die „allusion“ lediglich, ohne sprachliche Argumente dafür zu nennen. Vgl. auch SCHNEIDER 2003, 63: „[D]ie wenigen gemeinsamen Elemente sind auf die Gebetsformeln beschränkt, und dafür bestehen Formtraditionen, die beide Dichter prägen.“ 534 WASYL 2014, 143–144. 535 Vgl. ALBERTO 1999a, 311. 536 Vgl. Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 94 (CCL 114,381 ALBERTO): post mala facta an derselben Versposition wie post mala in carm. 14,76 und facta in carm. 14,78. Hier finden wir in der Rezension des Eugenius sogar eine Variante, die in der von Eugenius unabhängigen Dracontius-Überlieferung nicht erscheint (dort: si sceleris facti mens rea paeniteat; Dracontius, satisf. 100 [181 MOUSSY]). Im Einzelfall ist kaum entscheidbar, ob Eugenius diese Variante vorfand oder selbst konjizierte. Und freilich ist trotz der kleinen Übereinstimmungen auch für Dracontius’ Bittgebet festzuhalten, dass es ganz anders strukturiert als das des Eugenius: Nur ein kleiner Teil davon ist an Gott selbst gerichtet, der zweite Adressat der Vergebungsbitte ist der König, den Dracontius durch sein früheres Dichten gekränkt habe.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
bereits bei der Anrede te, summe Deus.537 Als Hauptinhalt des Gebets wird noch im ersten Distichon die Bitte charakterisiert (peto), die durch einen Appell an die pietas begleitet wird (pro pietate). Gemeint ist damit tatsächlich die pietas Gottes, nicht des lyrischen Ichs, allein schon, da ein solches Selbstlob im Kontext von Sündenbekenntnis und Vergebungsbitte nicht stimmig wäre. Zudem ist die Rede von der göttlichen pietas, die ihren Ursprung wohl in der Kaiserpanegyrik hat und von dort auf Gott als dem väterlich-gnädigen Herrscher der ganzen Welt übertragen wurde,538 tatsächlich ein häufiges Motiv aus poetischen wie liturgischen Gebeten.539 Ganz dem Bittgebet untergeordnet ist auch die lediglich kurz eingeschobene Prädikation bzw. Aretalogie Gottes, deren einziger Inhalt die Hilflosigkeit des Menschen angesichts der Sünde und seine völlige seelisch-geistige Abhängigkeit von Gott ist: te sine nemo ualet peccati tollere labem / aut mentem uitiis emaculare suis. Die ‚doppelte‘, also synonyme Ausdrucksweise ist wiederum typisch für (auch liturgische) Orationen, wie ein Vergleich mit einer wisigotischen bzw. mozarabischen Oratio für den Sünder (zu beten am Herrentag) zeigt: Petimus ut ab his famulis tuis peccata delere uel facinora abluere digneris.540 Zugleich zeigt das Distichon, dass es Eugenius nicht um das reine Erlassen der Sündenstrafen geht: Dem soll auch eine Reinigung des Geistes (mentem emaculare)541 zugrundeliegen, was noch einmal eine stärker verinnerlichte Auffassung verrät als das oben zitierte neutrale facinora abluere. So spricht das lyrische Ich dann auch bei der eigentlichen Bitte (V. 75–78: dimitte – effice – parce) den Wunsch aus, trotz aller Schuld „gut zu werden“ (effice […] bonum), ebenfalls eine Bitte, die wir aus der wisigotisch-mozarabischen Liturgie kennen.542
Gott wird dort vor allem als Vorbild für den König bemüht, dessen Barmherzigkeit gleichzukommen der König angeregt werden soll; vgl. dazu F ILOSINI 2018, 333–335. 537 Vgl. für diese Anrede am Versbeginn Dracontius, satisf. 107 (181 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 101 (CCL 114,381 ALBERTO): Post te, summe Deus, regi dominoque reus sum. Vgl. auch Prudentius, cath. 4,81 (CCL 126,22 CUNNINGHAM). 538 Dies wurde erstmals nachgewiesen von DÜRIG 1958, 169–187. Vgl. dazu auch SCHULZ 1983, 699–700. 539 Vgl. zur pietas als Gottestugend in Orationen SCHULZ 1983, 699–700. Vgl. für die christliche Poesie z.B. Prudentius, cath. 5,106 (CCL 126,26 CUNNINGHAM) und Sedulius, carm. pasch. 2,260 (CSEL 210,61 HUEMER): Sed qui cuncta fouet plena pietate redundans, woran wiederum Eugenius von Toledo, carm. 16,3 (CCL 114,233 ALBERTO): grandis inest culpa, sed tu pietate redundas einen Anklang darstellt. 540 Liber Sacramentorum XXXIIII (96 FÉROTIN). 541 Emaculare ist eine seltene Vokabel, wo es um die Reinigung der Seele geht, sie erscheint aber im hispanischen Hymnus für die Reinigung, die das Blut Christi auslöst: Xristi quos placidus sanguis emaculat (Hymn. Hispan. 115,4 [CCL 167,422 CASTRO SÁNCHEZ]). 542 Vgl. eine Oratio aus einer Missa quam sacerdos pro se dicere debet, Liber Ordinum IIII (249 FÉROTIN): tuam humiliter obsecro inmensam pietatem, ut me ex indigno dignum
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Dass das nur Gott bewirken kann, erscheint zumal in der imaginierten Situation des (nahenden) Todes nur natürlich. Es entspricht jedoch auch der von Augustinus gegen die Pelagianer formulierten und seither allgemein gültigen Auffassung, dass der Mensch zu moralischer und geistiger Vollkommenheit nicht fähig ist und daher ganz grundlegend auf Gottes Gnade angewiesen ist: sic itaque dei gratia cogitetur, ut ab initio bonae mutationis suae usque in finem consummationis qui gloriatur in domino glorietur, quia, sicut nemo potest bonum perficere sine domino, sic nemo incipere sine domino.543 So soll daher die Gnade Gottes gedacht werden, dass vom Anfang seiner Verwandlung zum Guten an bis zum Ende ihres Vollzuges derjenige, der sich rühmt, sich in Gott rühmen soll, weil, so wie niemand das Gute ohne den Herrn vollenden kann, so niemand ohne den Herrn beginnen kann.
Die Vergebungsbitten selbst (dimitte – effice – parce) sind ebenso Standard. Die Junktur parce, precor ist aufgrund ihrer metrischen Eigenschaften schon in der Antike vielfach für Versanfänge belegt,544 ebenso auch bei christlichen Dichtern.545 In Eugenius’ carm. 25,8 steht es sogar stellvertretend für jegliche Vergebungsbitte.546 Bei Prudentius lesen wir am Schluss der Hamartigenia: Confiteor, dimitte libens et parce fatenti! 547 Vom aktiven Partizip im Dativ macht Eugenius ebenfalls regen Gebrauch (V. 77: animae pulsanti […] petenti).548 Die Beziehung zu Prudentius’ Abschlussgebet am Ende der Hamartigenia wird jedoch im Schlussdistichon (der Oratio, aber auch des gesamten carm. 14) am deutlichsten. Kurz nur, und zum einzigen Mal in diesem Gedicht, kommt die Sprache auf das, was die Toten, freilich nur die sancti und iusti,
clementer efficias. Die Oratio findet sich im sogannten Silos-Manuskript von 1059, das besonders mit der wisigotischen Liturgie Toledos verbunden zu sein scheint, auch wenn dies von einzelnen Texten leider nicht mehr nachvollziehbar ist, vgl. F ÉROTIN 1996/11904, XX–XXIV. 543 Augustinus, c. ep. Pel. 2,10,23 (CSEL 60,485 ZYCHA). Die Schrift wird auch von Isidor von Sevilla und Julian von Toledo benutzt, dürfte also im Wisigotenreich zumindest teilweise bekannt gewesen sein, vgl. MARTÍN-IGLESIAS 2013, 260. 544 Vgl. etwa Ovid, met. 2,361–362 (44 TARRANT), Martial, epigr. 7,68,2 (234 SHACKLETON BAILEY) und Juvenal, sat. 6,172 (66 WILLIS). 545 Vgl. Paulinus von Nola, Vlt. 2,6 (CCL 21,552 DOLVECK) = carm. 11,6 (CSEL 230,39 HARTEL). Vgl. für den Kontext der Sündenvergebung Cyprianus Gallus, hept. Num 303 (CSEL 23,127 PEIPER). 546 Vgl. die Aufforderung an die Leserinnen und Leser in Eugenius von Toledo, carm. 25,8 (CCL 114,242 ALBERTO): ac pro me misero dicite „parce precor“. 547 Prudentius, ham. 937 (CCL 126,147 CUNNINGHAM). 548 In Endstellung auch bei Dracontius, satisf. 119 (182 MOUSSY): precanti, wofür Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 109 (CCL 114,382 ALBERTO) fatenti schreibt.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Positives erwarten können: Gaudia tu sanctis, tu reddis praemia iustis.549 Darum wagt der Sprecher, noch vom Bewusstsein der eigenen Sünden geprägt, jedoch nicht zu bitten: Eine leichte Strafe ist für ihn das Höchste, was er erhoffen kann. Eugenii miseri sit rogo poena leuis. Das Distichon liest sich wie eine kurze Zusammenfassung der finalen Bitte der Hamartigenia: Ausgehend von Mt 19,12, der Vorstellung von den vielen Wohnungen im Haus des Vaters, erklärt dort das lyrische Ich, sich keine Wohnstatt beata in regione zu wünschen,550 die den Seligen und Keuschen vorbehalten sind. Stattdessen sei es ihm genug, nicht von der Höllenflamme verschlungen zu werden. Die Hamartigenia schließt: Lux inmensa alios et tempora uincta coronis glorificent, me poena leuis clementer adurat.551 Das unermessliche Licht und die umkränzten Schläfen mögen anderen Ruhm sein, mich soll leichte Strafe milde brennen.
m) Zusammenfassung: Elegischer Teil Der zweite, elegische Teil beginnt zunächst mit einer Art wiederholenden Tiefführung, indem auf den Anti-Hymnus an die senectus ein zweiter Anti-Hymnus an den Tod folgt, der jedoch im Unterschied zum ersten Anti-Hymnus eher klagenden als anklagenden Charakter hat. Das Thema der Vergänglichkeit alles irdischen und insbesondere des menschlichen Körpers wird dort abgeschlossen: Während im jambischen Anti-Hymnus die Schädigungen des Körpers durch das Alter, quasi durch den ‚Zahn der Zeit‘, dargestellt wurden, wird im zweiten Anti-Hymnus dessen endgültige Vernichtung durch das Aufhören der Körperfunktionen und schließlich auch den Prozess der Verwesung dargestellt. So bleibt nur noch Asche von dem, was einst „wie ein Mensch aussah“: sic species hominis fit putrefacta cinis. Die Erkenntnis der Hinfälligkeit alles Irdischen, was eine Stufe der von Gregor und Isidor systematisierten conpunctio cordis darstellt, wird also vertieft, sie ist jedoch nicht das Ende. Für sich genommen wäre die Vergänglichkeit aller Dinge lediglich ein Grund zur Klage und nichts, was eine Reaktion des lyrischen Ichs und aller Menschen erfordern würde. Die Darstellung des Todes erlaubt dagegen, noch eine zweite Stufe der ‚Erkenntnis der eigenen Lage‘ zu erklimmen: Mit dem Tod ist eben nicht alles zu Ende, sondern das Gericht erwartet den Menschen. In einer antizipierenden inneren Vision (iam cerno) beschreibt das lyrische Ich das erfürchtige Schaudern bereits der himmlischen 549
Vgl. für die Klausel praemia iustis (Ps.-?)Paulinus von Nola, carm. 6,281 (CSEL 30,16 HARTEL): proponisque malis poenas et praemia iustis. 550 Vgl. Prudentius, ham. 953–954 (CCL 126,148 CUNNINGHAM): non posco beata / in regione domum. 551 Prudentius, ham. 965–966 (CCL 126,148 CUNNINGHAM).
2
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Heerscharen. Wie mag es da erst ihm selbst, dem Wurm, ergehen? Die Furcht ist das beherrschende Thema des Abschnitts. Sie motiviert sowohl das Sündenbekenntnis als auch die das Gedicht beschließende Vergebungsbitte, auf die das gesamte Gedicht zuläuft und sozusagen ‚abzielt‘. 5.4.3 Fazit a) Die Darstellung des Alters vor dem Hintergrund antiker Alterstopoi Das carm. 14 trägt in den wichtigsten Handschriften den Titel Lamentum de adventu propriae senectutis,552 und auch wenn das Gedicht spätestens ab dem Beginn des zweiten elegischen Teils von der Thematik des Alters fortschreitet und sich dem Tod und dem göttlichen Gericht zuwendet, bleibt das Alter der Anlass dieser Betrachtungen. So hat auch die Forschung, die sich mit dem carm. 14 beschäftigt hat, auf dieses Thema das Hauptaugenmerk gelegt: Wie stellt Eugenius das Alter dar? Worin stimmt er überein, worin unterscheidet er sich von anderen Autoren, die über das Alter schrieben?553 Diese Fragen stellen sich umso nachdrücklicher, als die Wertungen des Alters eine nahezu grenzenlose Bandbreite aufweisen können. Auch für die Antike und Spätantike gilt: „So reicht die Reihe antinomischer Begriffe, mit denen [...] der letzte Lebensabschnitt des Menschen charakterisiert wird, von Geistesschwäche und Weisheit über Lüsternheit und Lustfeindlichkeit bis zu Geiz und Fürsorge oder Völlerei und Askese.“554 Das eigene Altern ist ein nicht eben gängiges Thema der lateinischen Poesie.555 Eine ähnlich prominente Position hat es lediglich in den Elegien des Maximian, der in Anknüpfung, aber wohl noch stärkerer Abgrenzung gegen die römische Liebeselegie den bedauerlich-lächerlichen Zustand eines Greises schildert, der aus falscher Tugendhaftigkeit in der Jugend keusch geblieben ist 552
Vgl. den Apparat der Edition von ALBERTO 2005a, 227. Vgl. zu einem Gesamtüberblick über die Behandlung des Alters in Antike und Spätantike nicht nur aus literarischer, sondern auch sozialer Perspektive GNILKA 1983 und BRANDT 2002. Vgl. für die literarische Darstellung den Sammelband von FALKNER/DE LUCE 1989. 554 ELM/FITZON/LIESS/LINDEN 2009, 2. 555 In der griechischen Poesie ist für eine intensive und ebenso subjektiv auf die Dichterpersona bezogene Behandlung des Greisenalters die leider nicht einmal nach heutigem Standard edierte Dichtung Gregors von Nazianz zu nennen, der sein Leid aufgrund seines Alters sogar als einen von vier Gründen für seine Dichtung angibt und sich selbst mit einem greisen Schwan vergleicht; vgl. Gregor von Nazianz, carm. 2,1,39,54–57 (PG 37,1333): âƽüëúüø÷ ïźúø÷ üIJ ÷ǁûŏ ø÷øǂöï÷øÏ Þëúòñǁúòöë üøŶüø ôǂô÷øÏ ŇÏ ñƽúþ÷ ÚëõïŦ÷ ĠöëýüŒ üą üïúņ÷ ûýúǀñöëüëÝŻ ùúĦ÷ø÷ ċõõŸö÷ø÷ üó÷ Ġÿóüƿúóø÷ Vgl. dazu SIMELIDIS 2009, 24–25 und MILOVANOVIû-BARHAM 1997, 504–510. Dass Eugenius jedoch Gregors Gedichte kannte, muss als extrem unwahrscheinlich gelten, da die Schriften Gregors von Nazianz im wisigotischen Spanien nur in Übersetzung belegt sind und dies auch nur im Fall der Orationes; vgl. MARTÍN-IGLESIAS 2013, 278. 553
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
und erst auf seine alten Tage das Liebesglück sucht. Die Verbindung zwischen beiden Autoren wird bereits in mittelalterlichen Handschriften gezogen, wenn etwa die beiden Dichter in derselben Anthologie angeführt werden.556 Einmal wird der Anfang der Elegien Maximians sogar fälschlicherweise Eugenius ‚untergeschoben‘.557 Dies und sprachliche Ähnlichkeiten beider Dichter haben unter anderem die Frage angeregt, welcher der beiden Dichter zuerst schrieb, da die zeitliche Einordnung Maximians große Probleme bereitet. Die These Christine Ratkowitschs, dass die Art und Weise, wie Maximian sowohl Venantius Fortunatus als auch Eugenius zitiere, für eine Datierung in die Karolingerzeit spreche,558 hat in der Forschung jedoch wenig Anklang gefunden. So legen nach Wolfgang Schneider schon textimmanente Gründe eine Datierung der Elegien vor 553 nahe.559 Dementsprechend gilt Eugenius heute allgemein als der Epigon, wie ihn etwa Wolfgang Schneider, Anna Maria Wasyl und Andrew Fear explizit lesen.560 Und in der Tat sprechen einige Anklänge dafür, dass Eugenius zumindest Ausschnitte von Maximian gekannt haben könnte. Der deutlichste Bezug zu Maximian findet sich allerdings sogar in carm. 35,6, was inhaltlich weder mit Alter noch mit Krankheit etwas zu tun hat.561 Ähnlichkeiten zu carm. 14 sind vorhanden, diese sind aber – v.a. bei den Symptomschilderungen – meist nicht sprachlicher, sondern inhaltlicher Art und können sich daher genauso gut aus poetisch-rhetorischen Allgemeinplätzen (wie wir sie in Juvenals sat. 10 lesen) oder schlicht aus Beobachtungswissen über das Greisenalter speisen. Gerade bei den weniger ‚banalen‘ Symptomen des Greisenalters, wie etwa spezifischen Krankheiten, scheinen dagegen die Schilderungen im Krankheitsexkurs von Prudentius’ Romanus-Hymnus (perist. 10) einen größeren Einfluss auf Eugenius gehabt zu haben. Eine Parallelität zwischen dem Gebet an die Mutter bei Maximian und Eugenius’ abschließendem Bittgebet lässt sich schon mit Schneider nicht erkennen.562 Dort ist Eugenius ganz von der christlichen dichterischen und liturgischen Tradition geprägt; als ein wichtiger Bezugstext hat sich hier das Ende von Prudentius’ Hamartigenia erwiesen. Die Analyse hat keinen Berührungspunkt aufzeigen können, in dem Eugenius deutlich auf
556
Vgl. den Codex Paris, BnF lat. 8319. Nämlich im Codex Paris, BnF lat. 2832 aus dem 9. Jahrhundert, wo die ersten sechs Verse unter dem Titel Eugenii de sene wiedergegeben sind; vgl. zur Beschreibung dieser Handschrift die Edition von ALBERTO 2005a, 61–65. 558 Vgl. RATKOWITSCH 1986, 7–58. 559 Vgl. SCHNEIDER 2003, 50–52. 560 Vgl. SCHNEIDER 2003, 62–63, WASYL 2014, 141–144 und FEAR 2019, 39. 561 Vgl. Maximian, eleg. 4 = 1,4 (92 SANDQUIST ÖBERG): mors est iam requies, vivere poena mihi. Vgl. dazu carm. 35,6 (CCL 114,250 ALBERTO): nam flere requies, gaudia poena mihi. 562 Vgl. SCHNEIDER 2003, 63. 557
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Maximian rekurriert oder sich bewusst von ihm absetzt; immer scheint Eugenius ‚unbeeindruckt‘ von seinem Vorgänger sein eigenes Programm zu verfolgen. Allgemein würde ich einer Interpretation widersprechen, die das carm. 14 in erster Linie als Reprise von paganen Darstellungen von Alter und Tod auffasst. Dies deutet etwa Fear an, wenn er die intertextuellen Bezüge des carmen zu klassischen Autoren stark betont: „the bulk of the intertextual references in the poem, and even its metrical virtuosity, point not to an engagement primarily with the Biblical, but rather the Classical, world.“563 Dem ist entgegenzuhalten, dass metrische Virtuosität seit Paulinus von Nola, Prudentius und auch Dracontius längst kein Proprium der klassischen Welt mehr ist. Ferner hat sich gezeigt, dass intertextuelle Bezüge auf pagane Autoren selten klar auf eine einzige Quelle zurückzuführen sind (also beispielsweise entweder auf Maximian oder Juvenal) oder ein so deutliches Zitat darstellen, dass der Bezugstext im carmen eindeutig erkennbar würde.564 Selbstverständlich integriert Eugenius poetische Ausdrucksmittel der klassischen Welt in seine Dichtung – doch dies trifft in mindestens ebenso großer Ausprägung auch auf christliche (biblische, liturgische und poetische) Ausdrucksformen zu. Zu den Bezugstexten, die bis in die Struktur des carmen hineinwirkten und dem Text nicht nur einzelne Bausteine liehen, zählten gerade das Buch Ijob (für die Deutung der Vergänglichkeit, der Gerichtsvision und des Sündenbekenntnisses) und die Hamartigenia (für das abschließende Bittgebet). Insofern erscheint es mir nicht richtig, im carm. 14 einen „quarrel with pagans“565 zu sehen, auch wenn Fear zuzustimmen ist, dass Eugenius’ Sichtweise des Alters sich stark von seinen paganen Vorgängern unterschied. Seine Gegner im Streit werden jedoch kaum im Text erkennbar – im Unterschied zu den Stimmen, die seine Denkstrukturen teilen. So wirkt das Gedicht eher wie eine in sich geschlossene Darstellung der eigenen Sichtweise des Greisenalters. Sie als Gegendarstellung zu anderen Positionen zu lesen, ist selbstverständlich möglich, wird vom Text jedoch kaum angeregt und bleibt daher den Leserinnen und Lesern selbst überlassen.
Dennoch kann diese Lesart natürlich interessant sein und dabei helfen, Eugenius’ Position innerhalb der Tradition klarer hervortreten zu lassen. Dafür kann Maximian nach wie vor ein hilfreicher Ausgangspunkt sein, da er und Eugenius 563
FEAR 2019, 37–38. Dies ist selbst bei Eugenius’ deutlichster Parallele zu Maximian der Fall: Vgl. eleg. 1,1–2 (92 SANDQUIST ÖBERG): Aemula quid cessas finem properare, senectus? Cur et in hoc fesso corpore tarda [venis; Sandquist Öberg: quies]? und Eugenius von Toledo, carm. 14,38 (CCL 114,229 ALBERTO): cur miserum sequeris? cur properata uenis? Hier ist die metrische Übereinstimmung zwar groß, der Ausdruck properata uenire findet sich jedoch genauer in Boethius, cons. 1 m. 1,9 (4 MORESCHINI): Venit enim properata malis inopina senectus. 565 FEAR 2019, 40. Er bezieht dies unter anderem auf einen Gegensatz zu Lukrez, nat. 3,830–1094 (126–136 DEUFERT), wo Lukrez die epikureische Todesauffassung, nach der der Tod kein Übel ist, vertritt. Der inhaltliche Gegensatz ist freilich vorhanden und es ist nicht auszuschließen, dass Eugenius eine derartige, vielleicht in seinem Umfeld sich ‚gefährlich‘ ausbreitende Auffassung widerlegen wollte. Nur gibt es keine intertextuellen Bezüge zwischen den beiden Texten; vgl. den Index Fontium von ALBERTO 2005a, 428, der zwar für carm. 14 zwei loci similes angibt (allerdings nicht zu genanntem Abschnitt aus dem 3. Buch de rerum natura), die jedoch rein sprachlicher Natur sind: Sie beziehen sich auf carm. 14,4: et lacrimosa petunt murmura nostra polum. 564
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
zumindest eine gewisse gemeinsame Basis in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung des Greisenalters haben. Die größte inhaltliche Übereinstimmung zwischen Eugenius und Maximian ist ihre beinahe uneingeschränkt negative Sichtweise des Greisenalters. Damit stehen sie im Gegensatz zur hellenistisch-römischen Philosophie, die in der Regel um eine Apologie des Alters bemüht ist. Deren grundlegende Argumentation ist dieselbe, die auch auf andere (aus philosophischer Sicht nur vermeintliche) Übel, wie körperliche Leiden und Tod, angewandt wird: Die Unannehmlichkeiten, die das Alter mit sich bringt, sind für den Weisen kein Übel und daher auch nicht zu fürchten. So werden in Ciceros Dialog Cato Maior de senectute vier typische Vorwürfe an das Greisenalter entweder als nicht zutreffend, als von einem anderen Gut, das das Alter mit sich bringt, ausgeglichen oder als nicht relevant für ein glückliches Leben erwiesen: 1) Die Untätigkeit, 2) die Schwächung des Körpers, 3) das Verblassen von Freuden und 4) die Nähe des Todes.566 Krankheiten, die bei Eugenius einen starken Ausschlag in Richtung einer negativen Bewertung des Alters geben, erwähnt Cicero freilich nicht: „Cicero/Cato’s primary concern is with the negative aspects of old age as seen by a Roman aristocratic male who enjoys tolerably good health.“567 Eine parallele Schrift eines Kirchenvaters, die sich spezifisch mit dem Problem des Alters beschäftigt, liegt uns heute leider nicht vor. Wie Christian Gnilka aber nachweist, waren die christlichen Autoren sich dieser Vorwürfe an das Alter nach wie vor bewusst, und sie antworteten darauf, wenn sie auch manches an das christliche Weltbild anpassten und andere Schwerpunkte setzten, insgesamt doch in ähnlicher Weise wie die antiken Philosophen.568 Sie argumentierten, dass die Untätigkeit und nachlassende Fähigkeit zu körperlicher Askese durch den (im Laufe eines tugendhaften Lebens gereiften) Glauben wettgemacht werden könne, und auf diesen komme es schließlich an. Die Schwäche des Körpers und das Leiden an Krankheiten sei nicht von Belang, weil der Mensch allein Gott zu seinem Glück brauche, wie es etwa Ambrosius am Beispiel des senex beatus Jakob aufzeigt. 569 Die nachlassende Empfindungsfähigkeit gegenüber sinnlichen Genüssen stelle für den Christen oder die Christin nicht nur keinerlei Grund zur Klage dar, sondern im Gegenteil einen
566
Vgl. Cicero, Cato 6,15; 11,34–36; 12,39; 19,66 (61; 69–70; 71; 82 POWELL). PARKIN 2005, 62. 568 Vgl. zum Folgenden GNILKA 1971, 9–17. 569 Vgl. dazu Ambrosius, Iac. 2,9,37 (CSEL 32/2,54 SCHENKL); vgl. GNILKA 1971, 12. Ambrosius’ Umgang mit den körperlichen Aspekten des Alterns fasst KREUTZER 2021, 259 zusammen: „Die körperlichen Belange spielen im ambrosianischen Denken kaum eine Rolle, sondern scheinen vielmehr als von Gott bestimmte und naturgegebene Notwendigkeit zu gelten, die man nicht durch Klagen oder Bedauern zu hinterfragen oder explizit zu thematisieren brauchte.“ 567
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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entscheidenden Vorteil des Alters vor der Jugend, denn es helfe bei der Befreiung „von der einen, schlimmsten Zwingherrin: der bösen Leidenschaft.“570 Die Furcht vor dem nahenden Tod schließlich könnten die christlichen Autoren theoretisch noch deutlich entschiedener ablehnen als der nur vorsichtig mit einem Weiterleben der Seele rechnende Cicero: Steht für einen Christen oder eine Christin doch nach dem Tod die Erwartung der Gegenwart Gottes im Jenseits, nach dem man sich geradezu sehnen dürfe und solle. So kann Ambrosius von Mailand sogar einen ganzen Traktat mit der Aussage betiteln, der Tod sei eigentlich ein Gut: de bono mortis. Das patristische Erbe ist hier jedoch bedeutend vielstimmiger: Wie Éric Rebillard aufgezeigt hat, beginnt gleichzeitig mit Augustinus, einem Zeitgenossen des Ambrosius, eine Traditionslinie im christlichen Umgang mit der Todesfurcht, in der sie als legitim erscheint. Die Basis dafür ist die Lehre von der Ursünde und des Todes als Sündenstrafe, die der ursprünglichen menschlichen Natur fremd sei. Diese Linie ist es, die sich am stärksten durchsetzen und eine Symbiose mit der am Ausgang der Spätantike sich ebenfalls ausprägenden „spiritualité pénitentielle“ eingehen sollte.571 In der theologischen Reflexion des wisigotischen Spaniens ist diese Spannung u.a. im Werk Julians von Toledo zu spüren, der in seiner ‚patristischen Synthese‘ zur Eschatologie zunächst mit Augustinus festhält, dass die mors als Widersacherin des Lebens grundsätzlich kein Gut sei, aber durch die Gnade Gottes der Weg zum ewigen Leben und daher „für die Guten gut“ (bonis bona) sein könne.572 In der Tat scheint sich Julian auch der postmortalen Schrecken, die auf die mit Sünden beladene Seele warten, genau bewusst gewesen zu sein und widmet lange Teile des Prognosticon der Fegefeuer-Lehre. Gleichzeitig verfolgt er in seiner Schrift jedoch dezidiert das pastorale Anliegen, Argumente zur Linderung der Todesfurcht zu sammeln, wofür er lange und ausführlich aus Cyprians sich gegen die Todesfurcht wendender Schrift de mortalitate zitiert. Noch auffälliger ist diese Spannung am Ende der Sententiae Isidors, wenn er das Verhalten der Auserwählten im Augenblick ihres Todes beschreibt. Für Isidor ist die Furcht im Angesicht des Todes – die eigentlich eine Furcht davor ist, im Gericht nicht bestehen zu können – geradezu ein
570
GNILKA 1971, 14. Vgl. dazu v.a. die Arbeit von Éric REBILLARD 1994, bes. 229–230, der diese ‚Wende‘ im pastoralen Umgang mit der Todesfurcht zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert festmacht. Seine Anregungen zur Entstehung einer „spiritualité pénitentielle“ werden schließlich von Peter BROWN 1997 aufgegriffen und in seiner Idee einer „‚peccatisation‘ du monde“ (a.a.O., 1260), die sich in der spätantiken Kultur- und Christentumsgeschichte ereignet habe, aufgenommen und verfeinert. Die Mechanismen dieses Prozesses und die damit verbundenen Paradigmenwechsel zeichnet er u.a. in BROWN 2015 für den gallischen Raum im Übergang von der Spätantike bis zum Mittelalter detaillierter nach. 572 Julian von Toledo, progn. 1,8 (CCL 115,22–23 HILLGARTH). Julian zitiert dort Augustinus, civ. 13,4 (CCL 48,388 DOMBART/KALB). 571
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Kennzeichen der Auserwählten, da sich niemand seiner Rettung und seines Bestehens vor dem Gericht sicher sein könne. Beinahe verlegen wirkt dann sein Eingeständnis, dass es nicht nur dieses eine Verhaltensmodell für die electi gibt, sondern auch das (sozusagen ambrosianisch-cyprianische) Modell der freudigen Begrüßung des Todes und der dahinter wartenden Ewigkeit, das ihm spürbar fremder ist als das erste Modell: In exitu uitae animae electorum nimio terrentur metu, incerti utrum ad praemium an ad supplicium transeant. – Quidam autem electi in fine suo purgantur a leuibus quibusdam peccatis; quidam uero in ipso suo fine hilarescunt aeternorum contemplatione bonorum. – Quamuis enim quisque in hac uita sit iustus, tamen dum ex corpore isto egreditur, pertimescit ne dignus supplicio sit. Nullus est enim homo absque peccato; nec quisquam potest de Dei securus esse iudicio, cum etiam et de otiosis uerbis reddenda sit ratio.573 Am Lebensende erschrecken die Seelen der Auserwählten vor allzu großer Furcht, im Ungewissen, ob sie zur Belohnung oder zur Strafe hinübergehen. – Manche Auserwählte aber werden bei ihrem Tod von manchen leichten Sünden gereinigt; manche aber werden gerade an ihrem Ende froh in der Betrachtung der ewigen Güter. – Wie gerecht einer nämlich in diesem Leben auch gewesen sein mag, so fürchtet er sich doch, wenn er diesen Körper verlässt, dass er die Strafe verdienen könne. Denn kein Mensch ist fern von der Sünde; und keiner kann bezüglich des göttlichen Gerichtes sicher sein, da ja auch über hasserfüllte Worte Rechenschaft abgelegt werden muss.
Doch auch für Cicero und andere altersapologetische Autoren geht jeder positiven Wertung des Alters die Notwendigkeit voraus, mit ihm umzugehen. Es ist daher zunächst eine Widrigkeit, deren Schrecken man hofft, durch die Philosophie beseitigen zu können574 – wie auch bei Boethius die personifizierte Philosophie auf das bittere Klagen des Sprechers angesichts des Alters hin erscheint und ihren Trost spendet. Einer solchen philosophischen Bewältigung des Alters gegenüber sperren sich sowohl Maximians als auch Eugenius’ elegische Dichtungen – was unter anderem dem Genre geschuldet sein dürfte: Geht es doch beiden Autoren nicht um eine philosophisch-kognitive, sondern um eine subjektive Auseinandersetzung mit dem Alter. Übrigens können dieselben Kirchenväter, die sonst der Altersschelte argumentativ den Boden entziehen, sich längst nicht immer der Klage enthalten, wo sie über ihr eigenes Altern sprechen, wie Christian Gnilka sowohl anhand von Hieronymus’ Briefen und anderen persönlicheren Äußerungen als auch anhand der ebenfalls lyrisch-subjektiven Dichtung des Gregor von Nazianz aufzeigt.575 Ähnliches gilt 573
Isidor von Sevilla, sent. 3,62,7–9 (CCL 111,329–330 CAZIER). Vgl. HARLOW/LAURENCE 2011, 12 über Ciceros Cato maior de senectute und ähnliche Schriften: „[The elderly] wrote as consolation for themselves in old age facing death and it is this format that produces much of what we today associate with a stoic philosophy of survival in adversity. That adversity was old age.“ 575 Vgl. GNILKA 1971, 19–23, der treffend und begrifflich präzise zwischen der (philosophisch-abstrakten) Altersschelte, die im christlichen Kontext auch der vituperatio vitae bzw. dem ĀĻñøÏāþĦÏ dient, und der (subjektiven) Altersklage unterscheidet. 574
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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für den wisigotischen Bischof. Doch seine Darstellung der Altersleiden im carm. 14 erschöpft sich nicht in der Wiedergabe subjektiver Befindlichkeiten, sondern zielt auf mehr ab: „for Eugenius suffering can not be so easily dismissed. Rather than being a marker of disequilibrium which can be overcome by the learning process, the suffering of old age is an integral part of the learning process.“576 Wie wir im Folgenden noch sehen werden, ist der Bewältigungsprozess bei Eugenius kein philosophisch-kognitiver, sondern ein spiritueller und zielt nicht auf die Negation der Altersleiden als unbedeutsam ab, sondern auf ihre Indienstnahme für den spirituell heilsamen Prozess der conpunctio cordis. Dies wird besonders im Umgang mit dem ‚Altersleiden‘ der Todesfurcht deutlich. Bis auf die Untätigkeit erscheinen alle genannten Vorwürfe an das Alter auch in Eugenius’ Anti-Hymnus, die Nähe des Todes wird jedoch zum quantitativ wie qualititativ wichtigsten Aspekt. In seinem Umgang damit unterscheidet sich Eugenius deutlich sowohl von den paganen Philosophen und denjenigen Theologen, für die der Tod kein Übel und vielleicht sogar ein Gut ist, als auch von Maximian, der den Tod als Erlösung von den Altersleiden ersehnt. Für Eugenius ist der Tod (als mors omniuorax) allein schon durch seinen Antagonismus zum Leben als grausamer Feind des Menschen erwiesen. Und obwohl der körperliche Tod zunächst der Seele nichts anhaben kann, erwartet diese nach dem Tod das göttliche Gericht, das für das lyrische Ich ein noch viel größerer Schrecken ist als sämtliche Altersleiden davor (obwohl diese durchaus zur Geltung kommen). Damit reiht er sich in carm. 14 in die oben skizzierte Traditionslinie ein, für die der Tod als Sündenstrafe der Natur des Menschen widerspricht und zudem durch das postmortale Gericht für die vielen non valde boni und non valde mali einen kritischen Punkt darstellt – aber auch einen Anlass zum Überdenken des eigenen Lebens und zur Läuterung von den vielen kleinen Sünden, von denen niemand frei bleiben kann. Umgekehrt konnten dem Alter in der paganen Philosophie und der theologischen Literatur jedoch auch manche genuin positiven Eigenschaften abgewonnen werden, nach denen man schon in der Jugend streben sollte; insbesondere ist das Alter mit Weisheit assoziiert.577 So beschreibt der beliebte LobesTopos des puer senex einen jungen Menschen, der sowohl Tatkraft und Mut
576
FEAR 2019, 38. Das Verhältnis von Alter und Weisheit im christlichen Kontext untersucht die jüngst erschienene Studie von KREUTZER 2021 für die christlichen Autoren Ambrosius von Mailand und Paulinus von Nola. Vgl. für einen Überblick über das Motiv der Altersweisheit in der griechisch-römischen Tradition a.a.O., 22–102 und für die biblischen Grundlagen des Motivs a.a.O., 103–135. 577
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der Jugend als auch die Weisheit und Ernsthaftigkeit des Alters auf sich vereint.578 Umgekehrt sollte jedoch auch das Alter sich gute Aspekte der Jugend bewahren. Letztlich kommt es also nicht auf die Altersstufe selbst an, sondern darauf, ob sie gut gelebt wird – worin sowohl die (biologisch) Jungen als auch die Alten Erfolg haben, aber auch scheitern können.579 Christian Gnilka hat diese Vorstellung einer Transzendierung der Altersstufen umfassender beschrieben und auf deren philosophische Voraussetzung aufmerksam gemacht, nämlich die Vorstellung von der Bedeutungslosigkeit der Zeit im stoischen und epikureischen Denken: „Es waren Stoa und Kepos, die mit Nachdruck für die Unabhängigkeit der Eudaimonie von der Zeit eintraten, und aus solcher Abwertung der Zeit heraus ließ sich auch die frühe Vollendung eines jungen Menschen begründen.“580 Im frühen und spätantiken Christentum sieht er das Ideal einer Bedeutungslosigkeit des realen Alters mit solcher Intensität aufgenommen und ausgearbeitet, dass er sich nicht scheut, dieses Ideal als christlich zu bezeichnen, auch wenn es freilich nicht nur christlich ist.581 Geistiges Alter wie auch geistige Kindlichkeit – was sogar oft austauschbar erscheint – werden zu einem asketischen Ideal der Überwindung von Natur und Zeit, das in jedem Alter angestrebt werden kann und muss: Sei es der Kampf gegen den Überschwang der Begierden in der Jugendzeit, bevor diese im Alter natürlicherweise schwinden, oder der Kampf um die Aufrechterhaltung strenger Askese trotz körperlicher Schwäche im Alter. In der Hagiographie führt dieses Ideal zu einer eigenen Begriffsprägung im Osten wie im Westen: ëóîëúóøñěúþ÷ bzw. puer senilis, ein Begriff, der sich im Westen ebenso in den Dialogi Gregors des Großen findet wie bei Venantius Fortunatus.582 Es dürfte deutlich geworden sein, dass es bei diesem Ideal weniger um das tatsächliche Alter geht – dieses soll gerade keine Rolle spielen. Das Alter ist hier eine Chiffre für (spirituelle) Eigenschaften, die mit ihm assoziiert sind, die 578 Vgl. den grundlegenden Aufsatz von CURTIUS 21954. Dass dieser Lobestopos jedoch dem dezidiert spätantiken Denken entstammte, wie Curtius behauptete, kann als widerlegt gelten, vgl. dazu GNILKA 1972, 49–55. 579 So sieht HEIL 2000 im Auftakt der Consolatio Philosophiae des Boethius das Ideal des puer senex verkehrt: Der Sprecher beschreibt sich als ein senex puer, also als alter Mann, dem aber ‚kindischerweise‘ die Weisheit fehlt, mit seiner Situation angemessen umzugehen – im Gegensatz zur als altersweise und zugleich jugendlich stark beschriebenen Dame Philosophia. 580 GNILKA 1972, 206. Seine These zur Alterstranszendenz wird von KREUTZER 2021, 276–284 insofern ergänzt und präzisiert, als sie aufzeigt, dass auch die christliche Deutung der Taufe als zweite Geburt und damit als Verjüngung des Menschen im Denken des Ambrosius ein Motiv der Alterstranszendenz ist (mit diesmal umgekehrten Vorzeichen: Übertragung einer positiven Eigenschaft der Kindheit auf ein höheres Lebensalter). 581 Vgl. GNILKA 1972, 210. 582 Vgl. GNILKA 1972, 141–145. Vgl. z.B. Gregor der Große, dial. 2, praef. (SC 260,126 DE VOGÜÉ): Fuit uir uitae uenerabilis, gratia benedictus et nomine, ab ipso pueritiae suae tempore cor gerens senile (über Benedikt von Nursia).
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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aber das Alter nicht ‚automatisch‘ begleiten und über diese Lebensphase hinaus ganz grundlegend erstrebenswert sind. Insofern verwundert es nicht, dass sowohl Eugenius als auch Maximian das Alter abseits dieses Ideals beschreiben, geht es doch um ein konkretes, von einem lyrischen Ich subjektiv erlebtes und beschriebenes Greisenalter, das nicht der hagiographischen Erhöhung einer Persönlichkeit oder der allgemeinen christlichen Paränese dient. Letztlich sind es oft die genre-typischen Konventionen, die entscheiden, wie das Alter dargestellt wird. Tim Parkin bemerkt zu Recht: „There is no easy or proper way to sift through the literature in order to present a coherent and legitimate picture of the literary depiction of old age in antiquity.“583 So wird speziell in der stoischen Tradition das Greisenalter entidealisiert.584 Bei Maximian fällt besonders auf, dass er sich sehr bewusst gegen eine moralische Überhöhung des Greisenalters zu stellen scheint, wie er sie in seiner Umwelt vorgefunden haben dürfte: Er beschreibt das Alter nicht nur in physischer, sondern auch in moralisch-geistiger Hinsicht als der Jugend unterlegen.585 Der typische senex ist für ihn credulus und stultus, hält alles Vergangene für gut und alles Heutige für schlecht und glaubt, als einziger alles zu wissen, was ihn umso dümmer macht – kurz, er ist geradezu das Gegenteil eines sapiens im sokratischen Sinne.586 Dies geht soweit, dass der Greis vor Maximians lyrischem Ich schon gar nicht mehr als vernunftbegabter Mensch anzusehen ist: iam pavor est vidisse senem, nec credere possis hunc hominem, humana qui ratione caret. Ein Schreckbild ist schon der Anblick eines Greises, kaum glaubhaft, daß dieser, der menschlicher Vernunft entbehrt, ein Mensch sei.587
Eugenius dagegen tritt gar nicht erst in den Diskurs um eine (positive oder negative) moralisch-geistliche Wertung des Greisenalters oder der mit ihm assoziierten Eigenschaften ein. Lediglich im nur zwei Distichen umfassenden carm. 15 deutet er das von der christlichen Tradition als Vorteil des Alters angeführte Nachlassen der fleischlichen Lüste als einziges Verdienst der senilis
583 PARKIN 2005, 59. Tim Parkin behandelt die literarische Darstellung des Alters freilich nur als ein Thema unter vielen und leistet in erster Linie eine sozial- und kulturhistorische Betrachtung des Alters im römischen Reich. 584 WASYL 2014, 138–139 liest Maximian vor dem Hintergrund von Horaz’ Ars Poetica und der ersten Satire, sieht das Thema bei Maximian aber noch einmal pessimistischer interpretiert. 585 Vgl. WASYL 2014, 137–138. 586 Maximian, eleg. 195–200 = 1,195–200 (104 SANDQUIST ÖBERG). 587 Maximian, eleg. 143–144 = 1,143–144 (100 SANDQUIST ÖBERG); Übersetzung SCHNEIDER 2003, 168. Vgl. zu dieser Textstelle WASYL 2014, 138–139.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
aetas, das freilich am negativen Gesamtbild nicht rütteln kann.588 Wenn jedoch im carm. 14 eine wie auch immer geartete spirituelle Qualität des Alters aufscheint, dann besteht sie darin, dass das Alter und die damit verbundene Gebrechlichkeit des Körpers dem Menschen die wahre Beschaffenheit seiner selbst und der Welt aufzeigt und so eine ‚späte Umkehr‘ des Menschen auslösen kann. Das Alter steht allerdings nicht symbolisch für diese Erkenntnis, sondern ganz praktisch im Dienst dieser Erkenntnis, wie auch im Romanus-Hymnus des Prudentius die Krankheitsschilderungen zum Ziel haben, die Zuhörenden von der Vernünftigkeit des Strebens nach einem höheren Lohn zu überzeugen. Auf dem von dieser Erkenntnis ausgehenden spirituellen Prozess, der Klage, Sündenbekenntnis und Bittgebet umfasst, liegt der Fokus des Gedichts. Der Diskurs, in den das Alter hier gestellt wird, ist also derjenige von Sünde, Reue und Umkehr. Dementsprechend wird das Greisenalter auch nicht, wie bei Maximian oder in der satirischen Tradition, als geistig defizitärer Zustand lächerlich gemacht, der mit Demenz, Selbstüberschätzung und Dummschwätzigkeit einhergeht. Dort entbehrt dies, da ja das lyrische Ich sich selbst als greisen Mann vorstellt, nicht einer gewissen Selbstironie und daher auch Selbstdistanzierung. Maximian bricht mit solcherlei Schilderungen die strenge Perspektive des aus (eigener) Alterserfahrung Sprechenden und blickt von außen auf das Geschehen: So spricht er an den fraglichen Stellen dann auch vom senex in der dritten Person und gibt an, dieser könne die Schande seines eigenen Verhaltens nicht einmal erkennen (und freue sich im Gegenteil darüber, wenn er ausgelacht werde).589 Maximians lyrisches Ich erkennt dies natürlich sehr wohl, sonst wären diese Beschreibungen nicht möglich. Eugenius dagegen spart den Bereich der geistig-sittlichen Fähigkeiten konsequent aus und vermag es, durch die Beschränkung auf körperliche Symptome und ausgewählte seelische Reaktionen wie die Furcht und das taedium, die IchPerspektive im Gedicht konsequenter durchzuhalten und gewissermaßen realistischer zu gestalten. Keine Selbstdistanzierung ironischer oder anderweitiger Natur bricht die poetische Illusion eines authentischen Cri de Coeur eines gepeinigten Menschen, der diese Leiden im vollen Bewusstsein erlebt und poetisch verarbeitet. Die Dichtungshaltung ist also eine ganz andere, eine ernsthafte und einheitliche (im Unterschied zur Doppelbödigkeit Maximians). Gleichzeitig bleiben die Ich-Aussagen und das Geschilderte allgemein und weit genug, dass alle Leserinnen und Leser, denen das Altersschicksal (oder
588 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 15 (CCL 114,232 ALBERTO): Nulla bona grataque senilis deuehit aetas [...] Hoc solum praestet miseram tetigisse senectam / quod luxum carnis iam caro fessa cauet. 589 Vgl. Maximian, eleg. 207–208 = 1,207–208 (106 SANDQUIST ÖBERG): Arridet de se ridentibus, ac sibi plaudens / incipit opprobrio laetior esse suo. SCHNEIDER 2003, 120–128 untersucht Maximians Ironie besonders im intertextuellen Spiel mit anderen Texten.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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zumindest der Tod) ja ebenfalls bevorsteht, sich mit diesen Aussagen identifizieren können. So sind die Symptombeschreibungen, so plastisch sie auch sind, nie konkret auf das lyrische Ich bezogen, sondern immer auf das Alter im Allgemeinen. Auch das Sündenbekenntnis ist erkennbar kein persönliches, sondern ein von biblischen Topoi getragener Rekurs auf die typischsten Kategorien der Sünden. Durch den Vergleich mit Maximian wird also deutlich, dass Eugenius sich sowohl im Diskurs, in dem sich sein Altersgedicht bewegt, als auch in der Dichtungshaltung deutlich von ihm abhebt. Der Blickwinkel auf das Alter, den Eugenius einnimmt, ist ein ganz anderer. Mit den Worten Anna Maria Wasyls: „the experience of old age and death is seen from the perspective of eternity.“590 Durch die species aeternitatis erklären sich auch inhaltliche Unterschiede und unterschiedliche Gewichtungen von selbst. Besonders deutlich wurde dies anhand der Wertung des Todes. Während der Tod für Maximian die ersehnte Erlösung vom Siechtum des Alters bringt, erlaubt Eugenius’ Ewigkeitsperspektive ihm eine solche Wertung des Todes nicht. Nicht nur ist der Tod ebenso wie das Alter mit dem beklagenswerten Verlust des körperlichen Lebens und der gaudia uitae verbunden. Er ist eben nicht das Ende, sondern führt den Menschen direkt zum eigentlich ‚kritischen‘ Augenblick seiner (seelischen) Existenz, der über ewiges Glück oder ewiges Unglück entscheidet: das göttliche Gericht. b) Eine Didaktik der conpunctio cordis? Die religiös-spirituelle Ausrichtung des Gedichtes wurde bereits bei der Untersuchung seiner Intertextualität deutlich: Nicht nur sind typische, explizit christliche poetische Texte wie Prudentius’ Peristephanon 10 oder die Hamartigenia wichtige Bezugstexte, auch biblische Bezüge treten in erstaunlicher Dichte auf und reichen von ‚Erwartbarem‘ wie der Verwendung von Offb für die Schilderung der Gerichtsvision bis hin zum Buch Ijob, das wir sowohl hinter bestimmten Sprachspielen (z.B. der Selbstbezeichnung des Menschen als Wurm) als auch in inhaltlichen Strukturen (z.B. der Gegenüberstellung der caelorum turba und des Menschen) als Quelle erkennen können.591 In der Forschung wurde diesem Schwerpunkt des Gedichtes Rechnung getragen. Bereits der Herausgeber Paulo Alberto verweist in seinem textkritischen Apparat explizit auf die conpunctionis gradus nach Gregors Moralia in Iob und Isidors Sententiae,592 ein Hinweis, den Andrew Fear aufnimmt, indem 590
WASYL 2014, 143. Vgl. auch FEAR 2019, 33: „It comes as no surprise that Job appears to be Eugenius’s favourite book of the Bible and produces the largest number of loci similes in his poetry.“ 592 Vgl. ALBERTO 2005a, 228. Die von ihm angegebenen fraglichen Stellen sind Gregor der Große, moral. 23,21,41 (CCL 143B,1175–1176 ADRIAEN) und Isidor von Sevilla, sent. 2,12 (CCL 111,118–119 CAZIER). 591
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
er das carm. 14 zusammen mit anderen Gedichten als Didaktik der conpunctio cordis liest.593 In carm. 14 sieht er dies mustergültig verwirklicht, da das Gedicht, „Eugenius’s masterpiece of misery“,594 viele der in den früheren Gedichten des Libellus behandelten Themen aufgreife und miteinander verwebe: das körperliche Leid, die Kürze des Lebens, der Tod, die eigene Sündhaftigkeit, das drohende Gericht.595 In der Tat gibt uns die conpunctio, obwohl Eugenius den Begriff selbst nie verwendet, einen treffenden Verständnisrahmen für die Deutung, die diese Themen in carm. 14 erfahren. Sie werden innerhalb des Gedichtes zu Auslösern für spirituelle Veränderungen des lyrischen Ichs. Wir treffen zumindest drei von vier Aspekten der Systematisierung von Gregors und Isidors vierfacher Auffächerung der conpunctio im Gedicht an: Der Anti-Hymnus an das Greisenalter mit seiner Aufzählung der Altersleiden verkörpert in erster Linie die consideratio peregrinationis suae in huius uitae longinquitate596 – bzw., in den Worten Gregors, die mala praesentis uitae. Derselben Sprache bedient sich Eugenius übrigens im carm. 14b, wo er im Rückblick auf seine Dichtung davon spricht, er habe die huius […] uitae mala ‚zu Grabe getragen‘. Eugenius setzt also zuerst beim Irdisch-Diesseitigen an und schildert das Übel, das alle Menschen trifft, auch wenn sie von sonstigen Übeln völlig verschont geblieben sein sollten: Den körperlich wie seelisch schmerzhaften Verfall des eigenen Körpers. Die Betrachtung dessen führt beim lyrischen Ich zu einer taediosa mens, die von allem Vergänglichen angewidert ist, es für nicht mehr wert als Staub erachtet und plötzlich – als Gegenbewegung – „gerne“ (libenter) nach dem Ewigen strebt und Gott fürchtet. Isidor spricht im Zusammenhang mit der conpunctio vom taedium salubre,597 das den Menschen befällt. Dem Effekt dieses Überdrusses entspricht die von Gregor und Isidor gewünschte heilsame Wirkung der conpunctio: das Zurückweisen irdischer Begierden,598 das das lyrische Ich mit dem Ausruf abite pessum uana mundi gaudia am Ende des Anti-Hymnus vollzieht. Der elegische Teil beginnt in der Anrede des Todes zunächst mit einer Wiederholung und Vertiefung desselben Themas. Der Tod vollendet, was das Alter bereits begonnen hat: Viel zu rasch beendet er das Leben, setzt den Körperfunktionen ein Ende. So wird auch der Mensch als das erwiesen, was die ganze 593
Vgl. FEAR 2010 und 2019. FEAR 2019, 36. 595 Vgl. FEAR 2019, 36. 596 Isidor von Sevilla, sent. 2,12,4 (CCL 11,118 CAZIER). 597 Isidor von Sevilla, sent. 2,12,4 (CCL 11,118 CAZIER). 598 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,12,2 (CCL 11,118 CAZIER): Illa est conuersis perfectior conpunctione affectio, quae omnes a se carnalium desideriorum affectus repellit, et intentionem suam toto mentis studio in Dei contemplatione defigit. Vgl. Gregor der Große, moral. 4,19 (CCL 143,185–186 ADRIAEN): cum uis compunctionis ualida mentes nostras huic mundo, quasi mari deditas, salubri terrore confundit. 594
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Welt ist: nichts weiter als Staub und Fäulnis. Die Abkehr vom Irdischen, die eigentlich schon am Ende des jambischen Teils vollzogen war, wird hier noch einmal untermauert und bestätigt. Der Fokus liegt nun jedoch weniger auf dem Leid, das den Menschen in diesem Leben heimsucht, sondern auf der Vergänglichkeit seines Lebens und insbesondere seines Körpers. Diese Art der conpunctio, die aus der Betrachtung irdischen Leides und irdischer Vergänglichkeit entsteht, wird also schon von den Textanteilen her stark gewichtet. Gleichzeitig können sich über den Tod die anderen beiden ‚Anlässe‘ der conpunctio wie die Glieder einer Kette aneinanderreihen: Die Antizipation des Todes führt zu einer Antizipation des göttlichen Gerichtes, angesichts dessen das lyrische Ich in pauor verfällt. Hier ist der timor iudicii verwirklicht, den Isidor sogar in seine Kurzdefinition der conpunctio aufnimmt: Conpunctio cordis est humilitas mentis cum lacrimis, exoriens de recordatione peccati et timore iudicii.599 Zerknirschung des Herzens ist Demut des Geistes unter Tränen, die aus der Erinnerung an die Sünde und der Furcht vor dem Gericht entsteht.
Die innere Vision des göttlichen Gerichts führt selbst wiederum zum dritten Anlass der conpunctio, zur recordatio peccati, die das lyrische Ich im Angesicht des Richters überfällt und es zur Formulierung eines Sündenbekenntnisses und einer leidenschaftlichen Bitte um Vergebung nötigt. Unter didaktischen Gesichtspunkten hat die im carm. 14 dargelegte spirituelle (Selbst-?)Führung damit etwas durchaus Bezwingendes. Sie setzt – sehr basal – bei derjenigen Erfahrung an, die sich dem Menschen von selbst als etwas zu Bewältigendes aufdrängt: der Erfahrung eigenen Leidens und eigener Vergänglichkeit, die der Mensch spätestens im Alter macht. Diese Erfahrung wird nirgends abgeschwächt, relativiert, sondern schonungslos dargestellt und vor allem bis in ihre letzte Konsequenz, der Notwendigkeit, sich vor dem göttlichen Gericht zu verantworten, durchbuchstabiert. Gleichzeitig ist das carm. 14 sicherlich nicht als poetischer Traktat zur conpunctio misszuverstehen, da es unabhängig von gängigen Systematisierungen bleibt. Das zeigt schon die Tatsache, dass der vierte Anlass, die Vorwegnahme der Vergebung und innere Schau des himmlischen Reiches, die zu einer schmerzhaften, von Gregor als conpunctio dilectionis bezeichneten Sehnsucht nach Gott führt, völlig fehlt und höchstens in der Schilderung der Mischung aus Furcht und Liebe, mit der die Seligen Gott begegnen, anklingt – jedoch als Ideal und nicht als etwas, was das lyrische Ich selbst erlebte. Vielmehr stellt das Gedicht einen konkreten conpunctio-Prozess poetisch dar: Das lyrische Ich durchlebt im Gedicht der conpunctio zugeordnete Emotionen (den dolor, die Furcht und das taedium) und vollzieht die kognitiven Akte, wie das Nachsinnen über den Zustand des Menschen und das Gedenken der eigenen Sünden. Ein 599
Isidor von Sevilla, sent. 2,12,1 (CCL 11,118 CAZIER).
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
weiterer wichtiger Vollzug der conpunctio, der schon in Isidors Grunddefinition humilitas mentis cum lacrimis angelegt ist, ist das Vergießen von Tränen, das Eugenius bereits in der kurzen elegischen Einleitung, aber auch später an wichtigen Einschnitten (V. 31 bei der Absage an die weltlichen Freuden und V. 52 bei der Schilderung der Gerichtsvision) einspielt. Der dargestellte Prozess bleibt dabei jedoch nicht schematisch (sonst würde er eben den gängigen Systematisierungen folgen), sondern wird ausgehend von einer bestimmten Lebenssituation, dem Nahen des Greisenalters, betrachtet. Dies entspricht Gregors Anforderung an den Prediger, eine zu erteilende religiöse Belehrung sowohl so zu gestalten, dass sie die Zuhörenden gemäß ihren eigenen Voraussetzungen unmittelbar anzusprechen vermag, als auch thematisch zu variieren: „Daher muss ein jeder Lehrer, um alle in derselben Tugend der Liebe wachsen zu lassen, aus einer Lehre heraus, aber nicht durch ein und dieselbe Ermahnung die Herzen der Hörenden berühren. Denn auf die eine Weise müssen Männer, auf die andere Weise Frauen ermahnt werden; auf die eine Weise die Jungen; auf eine andere Weise die Alten.“600 In diesem Sinne können wir schon die poetische Form als ein Sich-Einlassen des Predigers Eugenius auf einen bestimmten Adressatenkreis begreifen, nämlich eine Schicht Gebildeter, die kunstvolle metrische Dichtung genießt.601 Das Greisenalter als ‚Aufhänger‘ und Thema hat dabei zusätzlich für sich, dass es nicht nur diejenigen zu schrecken vermag, die es unmittelbar betrifft, sondern auch von den Jungen antizipiert werden kann, die die eigene Gesundheit leichtsinnig machen könnte.602 Das unterstützt auch die sehr offene Schilderung des Greisenalters. Es wird zwar in der kurzen Einleitung als Übel, das das lyrische Ich persönlich betrifft, gekennzeichnet, aber der ‚Leidenskatalog‘ wird dadurch, dass er eher mit der senectus als Täterin als mit dem lyrischen Ich als Opfer verbunden ist, auf alle Menschen anwendbar: Nicht nur der Sprecher leidet unter dem Alter, sondern es „verwundet das Menschengeschlecht“ (V. 10: mortale germen […] saucias) ganz grundsätzlich. Entsprechendes gilt natürlich auch für die beiden folgenden Krisen von Tod und Gericht, die ohnehin nur antizipiert werden können. Auf diese Weise bestehen (bis auf die Einleitung) sämtliche Teile des Gedichtes aus Worten, die prinzipiell jeder Mensch mit dem lyrischen Ich mit-
600 Gregor der Große, moral. 30,3,12–13 (CCL 143B,1499 ADRIAEN): Vnde et doctor quisque, ut in una cunctos uirtute caritatis aedificet, ex una doctrina, non una eademque exhortatione tangere corda audientium debet. Aliter namque uiri, aliter admonendae sunt feminae; aliter iuuenes, aliter senes. Vgl. dazu auch FEAR 2019, 35. 601 Vgl. FEAR 2019, 43. 602 Vgl. FEAR 2019, 35: „But even in the seventh century there were many who did not fall severely ill. Eugenius, like Gregory, also wants to confront these individuals, who perhaps saw their good health as a sign of God’s approval of their lives, with his message of repentance.“
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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sprechen kann. An anderer Stelle fordert Eugenius, nachdem ein gesamtes Gedicht in einer Klage des lyrischen Ichs bestanden hat, die Leserinnen und Leser sogar explizit dazu auf, in den Tenor des Gedichtes einzustimmen: „Vergießt mit mir Tränen, gewährt dem Armen den Lebensunterhalt, sagt zu Christus: ‚Verschone!‘“ (carm. 5,28–30). Dies dürfte sich Eugenius auch für dieses Gedicht und besonders für dessen spirituell heilsamste Sprechakte, nämlich die Absage an die Welt, das Sündenbekenntnis und das flehende Bittgebet, gewünscht haben. Gerade beim Sündenbekenntnis hatte wiederum die sehr schematische, biblisch inspirierte Formulierung nahegelegt, dass hier weniger Eugenius ‚persönlich‘ spricht (auch wenn er durch die Nennung seines Namens am Ende des Gedichtes vielleicht diesen Eindruck erwecken wollte), sondern der sündige, reuige Mensch an sich, in dessen Rolle sich Eugenius hineinbegibt, um andere dazu einzuladen, dasselbe zu tun: „[T]he personal form is intended to make the reader to empathise all the more with the plight that is outlined to him and hence be led himself to heaven via conpunctio.“603 c) Poesie als kleine Buße? Bereits die inneren Prozesse der conpunctio sind bei Gregor nicht nur ein Geschehen, das sich tief im menschlichen Herzen ereignet, sondern stellen – in ihrer Schmerzhaftigkeit – direkt die Strafe dar, mit denen der Mensch seine Vergehen sühnen kann. Gregor beschreibt dies im Bild der Wunde, was auch der bildlich-wörtlichen Bedeutung der conpunctio entspricht: Plagae uero in secretioribus uentris sunt interna mentis uulnera, quae per compunctionem fiunt. […] Abstergunt igitur mala et liuor uulneris et plagae in secretioribus uentris, quia et disciplina exterior culpas diluit et extensam mentem compunctio paenitentiae ultione transfigit.604 Schläge im Verborgenen des Bauches (vgl. Spr 20,30) aber bedeuten innere Wunden des Geistes, die durch die Zerknirschung geschehen. […] Es reinigen also sowohl blutige Wunden als auch die Schläge im Verborgenen des Bauches von Übeln, weil sowohl die äußere Askese Schuld abwäscht als auch die Zerknirschung den aufgeblasenen Geist mit der Strafe der Buße durchbohrt.
Noch deutlicher formuliert Isidor: Wen die conpunctio des Gedenkens der Sünden ergreift, der „bestraft sie schon durch sein eigenes Urteil, indem er Buße tut.“605 Denselben Effekt haben auch die Tränen um der eigenen Sünden willen, denen in der christlichen Spiritualität die Kraft zugeschrieben wird, eben diese
603
FEAR 2010, 63. Gregor der Große, moral. 23,21,40 (CCL 143B,1174–1175 ADRIAEN). 605 Isidor von Sevilla, sent. 12,5 (CCL 111,119 CAZIER): quando ex id quod admisisse recolit interius erubescit, suoque iudicio paenitendo iam punit. 604
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Sünden abzuwaschen.606 Sie werden über das gemeinsame Element des Wassers und derselben zugeschriebenen Wirkung mit der Taufe parallelisiert: Nach Isidor sind diese Tränen nach der eigentlichen Taufe und der Bluttaufe der Märtyrer das tertium baptismum.607 Auch Eugenius drückt seinen Glauben an die von Sünden reinigende Wirkung der Tränen in carm. 1,17–18 aus, indem er selbst um einen wahren „Regen“ (imbrem) von Tränen bittet, „dass ich so durch meine Tränen die Last meiner Schuld zu lösen vermag.“608 Doch auch drei im Gedicht getätigte, von der conpunctio motivierte Sprechakte sind unverzichtbare Bestandteile der Buße bzw. der Bußspiritualität: die Absage an die Welt, das Sündenbekenntnis und das Gebet. Allen dreien wird, ähnlich den Tränen, eine heilsame, von Sünden reinigende Wirkung zugesprochen. Beim Bittgebet ist dies offenkundig, denn sein ganzer Zweck ist es ja, Gott zu helfendem Eingreifen zu bewegen. Ohne Gottes Handeln ist eine wirkungsvolle Buße nicht denkbar, schließlich muss er vergeben und bei der Besserung helfen: te sine nemo ualet peccati tollere labem (V. 73). Es hat aber auch insofern eine reinigende Wirkung, als es den Geist durch die Konzentration auf Gott vor den weltlichen und fleischlichen Versuchungen schützt.609 Die Abkehr von der Welt, die in den patristischen Schriften zur conpunctio als innerer Prozess beschrieben wird,610 wird in carm. 14 als ‚Ansage‘ inszeniert (vgl. die Einleitung in V. 31–32: flendo dicere: / abite pessum uana mundi gaudia). Was freilich lediglich ein literarisches Mittel zum Zweck der Variation sein kann, erzeugt nichtsdestoweniger die Wirkung, es handle sich um einen Sprechakt, der diese Abkehr zementieren soll – sei es, dass auf der Gedichtebene der homo interior nur zu sich selbst oder zu Gott spricht, oder sei es, dass Eugenius’ persona dies mehr oder weniger ‚öffentlich‘ kundtut. (Und selbst wenn es als Selbstgespräch auf Gedichtebene zu verstehen ist, hat jedes Gedicht doch in den Leserinnen und Lesern eine gewisse Öffentlichkeit). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die Abkehr von der Welt auch in der im Wisigotenreich nach wie vor öffentlich stattfindenden kanonischen Buße eine wichtige Rolle spielte und auch ritualisiert vollzogen wurde. So die kanonische Buße nicht mit sofortiger Rekonziliation am Ende des Lebens in 606
Dieses Motiv ist in v.a. in den Psalmen bereits biblisch verankert, vgl. Ps 6,6; 51,2;
102,9. 607
Isidor von Sevilla, eccl. off. 2,25,3 (CCL 113,103 LAWSON). Eugenius von Toledo, carm. 1,17–18 (CCL 114,206 ALBERTO): Da, pater altitonans, undosum fletibus imbrem, / quo ualeam lacrimis culparum soluere moles. Vgl. auch carm. 5,19 (CCL 114,212 ALBERTO): terge noxam fletibus. Vgl. zu den Tränen als Mittel der Buße detaillierter Kap. 8.3.1 dieser Arbeit. 609 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,7,1 (CCL 111,220 CAZIER): Hoc [sc. oratio] est remedium eius qui uitiorum temptamentis exaestuat. 610 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,12,2 (CCL 111,118 CAZIER): Illa est conuersis perfectior conpunctionis affectio, quae omnes a se carnalium desideriorum affectus repellit, et intentionem suam toto mentis studio in Dei contemplationem defigit. 608
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
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Form des Viaticums erteilt wurde, ging ihr Empfang einher mit der Tonsur oder dem Anlegen des Habits. Von da an wurde ein Leben in klösterlicher oder häuslicher Askese verlangt.611 In den Büßerstand eingetreten zu sein war unvereinbar mit der Ausübung einer hervorgehobenen weltlichen Tätigkeit, wofür die Buße König Wambas, die mit seiner Abdankung einherging, das beredteste historische Zeugnis ist.612 Nun ist das carm. 14 freilich kein Protokoll einer kanonischen Buße. Doch die prononcierte Absage an die Welt, die fast an ein Abschwören denken lässt, könnte als Vollzug eines Teilprozesses der Buße verstanden werden, der in der Gedichtform abgeleistet wird – was gut zu David Ungvarys These passt, Eugenius experimentiere in einer Zeit, in der im Feld zwischen öffentlicher und privater Buße noch nach angemessenen Formen gesucht werde, „with the power of a penitential poetics“.613 Dem zweiten Sprechakt, dem Bekenntnis der Sünden, wird ebenso bereits in sich eine heilende, sündentilgende Wirkung zugesprochen, wie Isidor in den Synonyma beinahe schon in Form einer Litanei zusammenfasst: Confessio sanat, confessio iustificat, confessio peccati ueniam donat.614 Sie ist ebenfalls nicht nur ein zentraler Bestandteil der öffentlichen kanonischen Buße, sondern auch des spirituellen Vollzuges der Buße. Isidor, der sich in den Sententiae ganz auf die spirituellen Aspekte beschränkt und Fragen des kanonischen Prozesses ausklammert, definiert als grundlegendes Moment der Buße, ‚sein eigener Ankläger zu werden‘, was Selbsterkenntnis (seipsum nosse […] quod prauus est) umfasst und so – ein Gedanke, der bei Ambrosius und Augustinus stark ist – den „Beginn der Gerechtigkeit“ (initium iustitiae) darstellt.615 Denn erst das Anerkennen der eigenen Sündhaftigkeit reißt die innere Verteidigung, die der Mensch vor sich und seinen Sünden aufbaut, ein und öffnet ihn so für die vergebende und verbessernde Gnade Gottes.616 Betont wird wiederum, dass dies noch in diesem Leben geschehen sollte, um dem göttlichen Gericht zuvorzukommen – denn im Jenseits gebe es keine Möglichkeit zur correctio mehr.617 611
Vgl. dazu PERALES 1991, passim. Vgl. zur Bußpraxis im wisigotischen Spanien detaillierter Kap. 8.3.1. 612 Vgl. zur Buße Wambas und den Diskussionen darüber, inwiefern diese Buße bewusst als Machtmittel eingesetzt wurde MURPHY 1952, passim und MARTÍNEZ PIZARRO 2005, 67–74. 613 UNGVARY 2018b, 304. 614 Isidor von Sevilla, synon. 1,53 (CCL 111B,43 ELFASSI). 615 Isidor von Sevilla, sent. 2,13,2 (CCL 111,120 CAZIER): Ex eo unusquisque iustus esse incipit, ex quo sui accusator exstiterit. Augustinus entfaltet seine Vorstellung von der confessio als Beginn der Gerechtigkeit vor allem in seiner Auslegung des ersten Johannesbriefes; vgl. dazu FITZGERALD 2000, passim, der zudem auf den Einfluss des Ambrosius auf Augustinus’ confessio-Vorstellung eingeht. 616 Augustinus, ep. Io tr. 4,3 (PL 35,2006): initiium iustitiae nostrae confessio peccatorum. coepisti non defendere peccatum tuum; iam incohasti iustitiam. 617 Isidor von Sevilla, sent. 2,13,10 (CCL 111,121 CAZIER): In hac uita tantundem paenitentiae patet libertas; post mortem uero nullam correctionis esse licentiam.
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Ist im Sinne der hier zitierten Kirchenväter von confessio die Rede, ist oft weniger an den ritualisierten Akt des Aussprechens der Sünde (etwa vor einem Priester oder der Gemeinde) gedacht, sondern es geht in erster Linie um den homo interior, darum also, dass der Mensch sich selbst seine Sündhaftigkeit eingestehen kann. Ein solcher Kontext liegt auch für das carm. 14 nahe, wo das Sündenbekenntnis ohne weiteres als ein innerer Monolog verständlich wird: Es wird nicht, wie die Absage an die weltlichen Freuden, durch ein Verb des Sprechens eingeleitet, sondern ergibt sich organisch aus dem Schrecken, der vom Anblick des Richters und der himmlischen Scharen ausgelöst wird. Von den Seligen, die Gott mit Furcht und Liebe begegnen, fühlt das lyrische Ich sich ausgeschlossen und ihnen gegenüber wie ein Wurm – denn es erinnert sich seiner Sünden. Dennoch ist das Sündenbekenntnis im carm. 14 insofern kein ‚echter‘ innerer Monolog, als er in den Leserinnen und Lesern des Gedichtes doch Zuhörer hat. Zumindest die ersten Rezipienten unter ihnen, wie Ildefons, der das Gedichtbüchlein kannte, dürften das Bekenntnis zudem nicht als das einer historisch fernen oder sogar fiktiven Person aufgefasst haben: Schließlich ist das Gedicht am Ende mit dem Namen „Eugenius“, des ihnen zumindest entfernt bekannten Erzdiakons in Saragossa und späteren Erzbischofs von Toledo, ‚unterschrieben‘ – des damals höchsten kirchlichen Würdenträgers der iberischen Halbinsel. Und das carm. 14 ist hierin keine Ausnahme. Diese Art der ‚Unterschrift‘ ist in Eugenius’ Gedichten nicht selten und findet sich besonders oft in Gedichten mit ‚Bußcharakter‘.618 Allgemein ist es für Bischöfe seiner Zeit nicht unüblich, sich selbst als Sünder zu bezeichnen; so schiebt etwa Isidor in seinen Sententiae nach seinen sonst allgemein gehaltenen Ausführungen an zwei Stellen einen klagenden Ausruf über den eigenen sündigen Zustand ein.619 Auch dies lässt sich teils durch pastorale und didaktische Anliegen als ein Sich-Einlassen auf die zu unterweisenden Gläubigen verstehen: Indem der Bischof Eugenius nicht nur die sündigen Menschen ermahnt, sondern selbst vor ihnen den spirituellen Weg von Buße und Bekenntnis beschreitet und sich folglich selbst als Sünder bezichtigt, wird er einerseits für die Gläubigen selbst zum exemplum – sogar zu einem exemplum von besonderer Würde, was wiederum die Würde des Bußaktes unterstreicht. Andererseits präsentiert er sich sicherlich nicht als unerreichbares exemplum, sondern schildert seine conpunctio-Erfahrung in einer Weise, die ohne mystische Erhebungen der Seele auskommt, 618 Über die Hälfte aller Gedichte, in denen der Name erscheint (insgesamt zehnmal), stellen die Namensnennung explizit in einen Kontext von Sünde und Vergebung, nämlich carm. 1, 5, 11, 14, 16, 19; in carm. 21 und 24 ist aufgrund größerer Lakunen der Kontext nicht mehr zweifelsfrei rekonstruierbar. 619 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,16,4b (CCL 111,129 CAZIER): Vae mihi, misero Isidoro, qui et paenitere retro acta neglego, et adhuc paenitenda committo! und sent. 3,1,1b (CCL 111,194 CAZIER): Miserere, Domine, misero Isidoro indigna agenti.
5.4 carm. 14: Alter, Tod und Höllenfeuer
365
sondern bei einer basalen menschlichen Erfahrung ansetzt, der der Mensch nicht entrinnen kann und so geradezu gezwungen ist, sich der Tatsache der eigenen Sündhaftigkeit zu stellen. Gezwungen wirkt auch das lyrische Ich Eugenius im carm. 14: Von einem Unglück zum nächsten getrieben setzt es keinen einzigen der dargestellten spirituellen Akte von sich aus, sondern reagiert jeweils auf die Schrecken, die es im Greisenalter erfährt oder sich in Tod und Gericht ausmalt. Vielleicht war es gerade diese völlig voraussetzungslose Buße, die den dargestellten Büßer zur idealen Identifikationsfigur machte, in dem viele Menschen sich selbst erkennen konnten. Fear sieht in diesem und anderen Gedichten „the use of condescensio in which the pastor should create an imaginative sympathy with his audience allowing the two to unite in feeling“.620 Diese didaktische Logik greift allerdings nur, wenn das exemplum auch tatsächlich als Büßer wahrgenommen wurde. Und es scheint nicht undenkbar, dass dies auch aus anderen, nicht-didaktischen Gründen gewollt war, wie gerade der Vergleich mit dem – heute übereinstimmend als Ausdruck königlicher Demut und Bußhaltung gelesenen – carm. 25, das in der persona König Chindasuinths verfasst ist, zeigen kann.621 Vor dem Hintergrund dieses und anderer literarischer Zeugnisse, die etwa die Dignität der Buße selbst für Könige erweisen und sie (sowie die ihr zugrundeliegende Haltung, die Demut) zu einer Tugend erheben,622 wird das Bekenntnis der Sünde nicht nur vor Gott, sondern auch vor der Gemeinschaft, zu einem „restorative, paradoxically dignifying speech-act“,623 wie David Ungvary es formuliert. Abgesehen davon, dass bibelfesten Leserinnen und Lesern der schematische, an biblischen Allgemeinplätzen angelehnte Charakter des Sündenbekenntnisses in carm. 14 aufgefallen sein muss, dürfte es Eugenius also nicht kompromittiert haben, sondern ganz im Gegenteil: Es dürfte zu seinem öffentlichen Bild als demütigem und streng mit sich selbst ins Gericht gehendem Sünder – und gerade deshalb tugendhaftem Erzdiakon und Bischof – beigetragen haben.
620
FEAR 2019, 43 mit Verweis auf Gregor der Große, moral. 6,35,54 (CCL 143,322–323 ADRIAEN), der diese Art der condescensio des Predigers v.a. an 1 Kor 9,20–22 festmacht. 621 Vgl. für carm. 25 die kursorische Lektüre in Kap. 4.11; vgl. auch UNGVARY 2018a, passim und FEAR 2010, 69–71. 622 Vgl. die Beschwörung des Königsvorbildes David am eindrücklichsten durch Ambrosius, apol. Dav. 4,15 (SC 239,92 HADOT): Peccauit Dauid, quod solent reges, sed paenitentiam gessit, fleuit, ingemuit, quod non solent reges, confessus est culpam, obsecrauit indulgentiam, humi stratus deplorauit aerumnam, ieiunauit, orauit, confessionis suae testimonium in perpetua saecula uulgato dolore transmisit. Vgl. auch Isidor von Sevilla, sent. 3,49,1 (CCL 111,299 CAZIER): quanto magis honoris celsitudine claret, tanto semetipsum mente humiliet, praeponens sibi exemplum humilitatis Dauid, qui de suis meritis non tumuit, sed humiliter sese deiciens dixit: Vilis incedam et uilis apparebo ante Deum qui elegit me. 623 UNGVARY 2018b, 279.
366
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters 5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
Text: Nosse quicumque cupis aut requiris, quae mei causa fuerit laboris, huius ut uitae mala funerarem, disce benigne. 5
10
Dum quaterdenos simul et nouenos uita non felix agitaret annos dumque me pigra peteret senectus praepete cursu, accidit lasso grauis aegritudo, quae ferae mortis minitaret ictum ac diu fessa cruciaret acri membra dolore.
Febris incerta terebrabat ossa, languida morbis caro defluebat, 15 nulla quassatum recreabat esca, potio nulla. Tanta me crebro mala dum ferirent, mortis horrendae trepidus pauore labilem cursum fugientis aeui 20 carmine planxi.
Übersetzung: Wer auch immer du sein magst, der zu erfahren wünscht oder verlangt, was der Grund meiner Bemühung gewesen ist, die Übel dieses Lebens feierlich zu bestatten, lern es mit Wohlwollen. 5
10
Als schon neunundvierzig Jahre ein nicht glückliches Leben durchhetzte und als mich das träge Alter bedrängte in schnellem Laufe, traf mich Schwachen eine schwere Krankheit, die den Stoß des wilden Todes androhte und die schon lang erschöpften Glieder quälte mit heftigem Schmerze.
Fieberschübe durchbohrten die Knochen, das von Krankheit matte Fleisch zerging, 15 keine Speise konnte den Zerschundenen erquicken, und auch kein Trank.
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
367
Solang mich so große Übel häufig schlugen, habe ich, bebend aus Furcht vor dem schrecklichen Tode, den unbeständigen Lauf der flüchtigen Zeit 20 im Liede betrauert.
5.5.1 Struktur Carm. 14b, das hier nach Alberto als eigenständiges, von carm. 14 nicht inhaltlich, aber formal unabhängiges Gedicht betrachtet wird (vgl. zur Begründung die Analyse zu carm. 14), besteht aus fünf sapphischen Strophen. Die erste Strophe fungiert als eine Art kleine Einleitung, die als den ‚Anlass‘ des Gedichtes die Frage der Leserinnen und Leser angibt, warum das lyrische Ich „die Übel dieses Lebens zu Grabe getragen“ habe, und ankündigt, diese Frage nun beantworten zu wollen. Die zweite Strophe leistet dazu eine zeitliche und situative Kontextualisierung: Das Alter des Sprechers wird angegeben, sein unglückliches Leben benannt sowie auf das zu frühe Eintreffen des Greisenalters angespielt. Innerhalb dieses Kontextes unterrichtet die dritte Strophe dann von dem einschneidenden Erlebnis, das schließlich die eigentliche Antwort auf die Frage der Leserinnen und Leser nach der causa darstellt: Eine schwere Krankheit, die dem lyrischen Ich große körperliche Schmerzen zufügt und es mit der Androhnung des nahen Todes zutiefst erschreckt. Die körperlichen Schmerzen werden in der vierten Strophe in aller Kürze aufgeführt, bevor die fünfte Strophe noch einmal zusammenfassend die Frage aus der ersten Strophe beantwortet: Das Geschlagensein von allen diesen Übeln und die Furcht vor dem Tod waren es, die das lyrische Ich dazu bewegt haben, „den unbeständigen Lauf der flüchtigen Zeit“ zu betrauern. 5.5.2 Metrik Die sapphische Strophe verwendet Eugenius im Libellus carminum insgesamt dreimal (hier, im carm. 17 und carm. 101) – allen drei Gedichten ist gemeinsam, dass es sich um Klagegedichte handelt. Nur einmal deutet er an, wie er dieses Versmaß verstanden wissen möchte: In carm. 101 ist – je nach Manuskripttradition – entweder der Sapphicus uersus selbst „traurig“ (tristis), oder zumindest ist es die Dichter-persona, während sie in diesem Versmaß dichtet.624 Die Äquivalenz der sapphischen Strophe mit der Traurigkeit ist jedoch – blickt man auf die poetische Tradition – nicht zwingend und noch nicht einmal besonders gängig. Julian von Toledo und Isidor von Sevilla, die beiden führen-
624
Die beide zur Lyoneser Manuskripttradition gehörenden Manuskripte Parisinus lat. 8093 und lat. 2832, beide aus dem 9. Jahrhundert und von ALBERTO 2005a mit F und P benannt, überliefern für carm. 101,3 Sapphico tristi modulante uersu statt Sapphico tristis modulante uersu. Sie scheinen jedoch oft eine schlechtere Variante zu überliefern als andere bedeutende Manuskriptgruppen, vgl. etwa ALBERTO 2005a, 78–79.
368
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
den ‚Grammatiker‘ dieser Zeit, schreiben der sapphischen Strophe keinen besonders typischen Inhalt zu.625 Ausonius bringt das Versmaß eher mit der quies, der Ruhe, in Verbindung.626 Venantius Fortunatus gilt es als uenustus, mollis und dulcis sowie lyrisch; er entschuldigt sich sogar für seine „raue Stimme“, die für dieses Versmaß nicht geeignet sei.627 Beide, Venantius und Ausonius, verwenden eine Formulierung, die Eugenius in carm. 101,3 beinahe wörtlich zitiert.628 Mit Inhalt und Tonfall von carm. 14b konvergiert diese Auffassung des Metrums insofern, als es ein Gedicht ex post darstellt, das einen distanzierteren, ruhigeren, aber auch leicht resignativen Blick auf frühere Gedichte und früher beklagtes Leid wirft – im Gegensatz etwa zu carm. 13 und 14, in denen diese Klage noch mit Ferveur und in akuter Verzweiflung vorgetragen wurde. 5.5.3 Kommentar a) V. 1–4: quae mei causa fuerit laboris: Hinführung Nosse quicumque cupis aut requiris, quae mei causa fuerit laboris, huius ut uitae mala funerarem, disce benigne.
Die erste Strophe beginnt mit einer Apostrophe an den Leser, genauer an denjenigen, „wer auch immer du sein magst, der zu erfahren wünscht oder verlangt“. Die Apostrophe an den Leser mit einem Relativsatz in der 2. Person Singular zu Beginn eines Gedichtes (meist mit qui, hier quicumque) findet sich bei Eugenius schon in der Praefatio zum Libellus carminum, aber auch am Beginn von carm. 6. Hier ist es der Wunsch oder die Forderung (cupis aut requiris) der Leserinnen und Leser, in Erfahrung zu bringen, quae […] causa fuerit laboris / huius
625
Vgl. Julian von Toledo, gramm. 20,48 (229–230 MAESTRE YENES). Isidor von Sevilla, orig. 1,39,7 (76 LINDSAY) gibt lediglich die etymologische Herleitung von Sappho als der ‚Erfinderin‘ an. In orig. 6,2,23 (220–221 LINDSAY) schreibt er den biblischen Klageliedern zu, ‚quasi in der sapphischen Strophe verfasst zu sein‘, weil der Aufbau der Strophe ähnlich sei, doch auch der Trimeter (welcher Art auch immer) wird hier als Versmaß genannt. 626 Vgl. Ausonius, ephem. 1,22–24 (7 GREEN): Sapphico suadet modulata uersu; / Lesbiae depelle modum quietis, / acer iambe. 627 Das Gedicht, in dem darüber reflektiert wird, ist Venantius Fortunatus, carm. 9,7, bes. 1–16 (25 REYDELLET). Das Gedicht antwortet auf eine Anfrage des Bischofs Gregor von Tours danach, auch einmal sapphische Strophen zu schreiben, und bezeugt ein gewisses Interesse an diesem als sehr fein und lyrisch geltenden Versmaß. Einen Überblick über die weitere ‚Karriere‘ des Metrums in karolingischer Zeit gibt DAINTREE 2000, passim. 628 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 101,3 (CCL 114,277 ALBERTO): Sapphico tristis modulante uersu. Vgl. dazu Ausonius, ephem. 1,22–24 (7 GREEN): Sapphico suadet modulata uersu und Venantius Fortunatus, carm. 9,7,10 (25 REYDELLET): Sapphico metro modulante plectro. Vgl. dazu ALBERTO 2003, 351.
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
369
ut uitae mala funerarem. Die Struktur erinnert ein wenig an Catulls berühmtes carm. 85: Odi et amo. Quare id faciam fortasse requiris.629 Ich hasse und liebe. Weshalb ich das tue, fragst du vielleicht.
Während bei Catull die Frage sehr beiläufig eingespielt wird, sodass unklar bleibt, wer hier überhaupt fragt (der Leser oder Catulls lyrisches Ich sich selbst?),630 scheint der Leserbezug bei Eugenius stärker: Dieser wird auch am Ende der Strophe noch mit disce benigne angesprochen. Der Dichter scheint also ein gewisses Unverständnis zu antizipieren und es ausräumen zu wollen (was Catull jedenfalls nicht gelingt: Die Antwort ist nescio). Es scheint ihm dabei sogar, ähnlich der Bitte in der Praefatio um eine richtige Aufnahme seiner Gedichte, um das Wohlwollen der Leserinnen und Leser zu gehen (benigne), das er sich erhalten möchte. Ähnlich – und zum Kontext des carm. 14b besser passend als Catull – wendet sich Ovids Dichter-persona in der Elegie 5,1 der Tristia an die Leserinnen und Leser: si tamen e uobis aliquis, quam multa, requiret, unde dolenda canam, multa dolenda tuli.631 Wenn jedoch von euch jemand fragen wird, warum ich so vieles Trauriges besinge, viel Trauriges hab’ ich erlitten.
Catulls fiktiver Leser fragt nach einer Erklärung für eine ungewöhnliche Gefühlsmischung des Dichters, Ovids fiktiver Leser nach dem Grund, warum der Inhalt seiner Dichtung immer so kummervoll sei. Was genau wollen die Leserinnen und Leser in carm. 14b wissen? Die Frage bleibt erstaunlich doppeldeutig. Sie zielt auf die Ursache bzw. den Grund für den labor ab, ein Wort, das sowohl Leid632 als auch Arbeit oder Mühe bedeuten kann. Im Allgemeinen bezeichnet Eugenius das Leid jedoch eher mit Begriffen wie dolor, languor, mala, auch wenn im carm. 4,7, wenn der Friede (nach dem Tod) als fessis requies […] denique certa laboris bezeichnet wird, ebenfalls eine gewisse Doppeldeutigkeit anklingt. Im Kontext des Gedichtbuches wird der Begriff intuitiver Weise Eugenius’ Dichten meinen (dessen wichtigster Inhalt oft eben das Leid war). Das eigene Dichten als labor zu bezeichnen, ist in der poetischen Tradition jedenfalls nicht unüblich.633
629
Catull, carm. 85,1 (127 BARDON). Vgl. GAISSER 2009, 35: „The request of an explanation seems to come out of nowhere, with no clue to the identity of the questioner. Perhaps Catullus is addressing himself, perhaps the reader. It hardly matters“. 631 Ovid, trist. 5,1,25–26 (173 HALL). 632 Vgl. etwa, in sehr ähnlichem Kontext, Prosper Tiro von Aquitanien, epigr. 100,5 (CSEL 100,105 HORSTING): Tutius est duros mundi tolerare labores. 633 Vgl. schon Catulls carm. 1,6–7 (2 BARDON): cartis[…] laboriosis. 630
370
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Der ut-Satz, der den labor im Folgevers näher bestimmt, ist jedoch ebenso interessant. Die Arbeit bestand darin, die ‚Übel dieses Lebens zu Grabe zu tragen.‘ Das Verb funerare ist selten. Es tritt sowohl intransitiv (‚ein Begräbnis veranstalten‘) als auch transitiv (‚begraben‘) auf. Auch eine übertragene Bedeutung im Sinne von ‚töten‘ ist dort, wo es nicht um das Begräbnis einer bereits toten Person geht, gängig.634 Für unsere vorliegende Textstelle gibt der ThLL tatsächlich eine eigene weitere übertragene Bedeutung an, für die es allerdings sonst keine Belege gibt: ‚wie bei einem Begräbnis beklagen‘ (quasi in funere plangerem).635 Das Zustandekommen dieser Bedeutungszuschreibung erklärt sich leicht daraus, dass am Ende des carm. 14b Eugenius’ Dichten ebenfalls als plangere umschrieben wird: labilem cursum fugientis aeui / carmine planxi. Das ergäbe jedoch ein schiefes Bild. ‚Wie in einem Begräbnis‘ beklagt man Dinge, deren Verlust schmerzhaft ist – der Vergleichspunkt wäre der Tod eines Menschen. Auf die huius uitae mala kann das jedoch vernünftigerweise nicht zutreffen, schließlich ist es ihre Existenz, die das lyrische Ich immer wieder beklagt, und nicht ihr Verlust. Es erscheint also plausibler, zunächst von den üblichen übertragenen Bedeutungen des Verbes auszugehen, die allesamt ‚polemischer‘ sind und in die Richtung „töten, vernichten, zugrunde richten“ weisen.636 In irgendeiner Form hätte folglich das lyrische Ich die Übel des Lebens ‚niedergestreckt‘, wäre mit ihnen fertig geworden, hätte mit ihnen abgeschlossen, sodass sie nun im übertragenen Sinne als ‚beerdigt‘ gelten können. Wenn, was wahrscheinlich ist, mit labor das Dichten gemeint ist, wäre dies sicherlich eine unkonventionelle Art und Weise, das eigene Dichten zu konzeptionalisieren: als Aufarbeitung bzw. Bewältigung von Leid. Es würde jedoch zum ruhigen, resignativen Ton des Gesamtgedichtes erstaunlich gut passen, in dem auf das Leid – obwohl nirgends erwähnt wird, dass bzw. wie es geendet hat – als etwas Vergangenes geblickt wird.
634
Vgl. THLL s.v. funero, VI/1,1583: funere sepultura ornare – i.q. occidere necare. THLL s.v. funero, VI/1,1583. 636 So auch die zweite nur einmal belegte übertragene Bedeutung, die der THLL für das Verb angibt: In Petrons Satyricon werden damit Erektionsstörungen umschrieben (vgl. sat. 129,1 [153 MÜLLER]: funerata est illa pars corporis, qua quondam Achilles eram). Auch hier ist die grundlegende übertragene Bedeutung von ‚töten, niederwerfen‘ also gegeben. 635
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
371
b) V. 5–8: Wann beginnt das Greisenalter? 5
Dum quaterdenos simul et nouenos uita non felix agitaret annos dumque me pigra peteret senectus praepete cursu,
Die zweite Strophe besteht lediglich aus zwei Nebensätzen, die mit dum den Kontext für das einschneidende Ereignis der Krankheit (das in der dritten Strophe beschrieben wird) angibt. Das lyrische Ich nennt als Alter, in dem diese Krankheit es trifft, 49 Jahre. Zumindest zu diesem Zeitpunkt empfindet das lyrische Ich seine Lebensjahre nicht mehr als glücklich (uita non felix) – ob dies tatsächlich auf das ganze Leben zutrifft oder nur den Umkreis des Krankheitsereignisses meint, muss offenbleiben. Jedoch scheint die Krankheit nicht ursächlich für das Unglück zu sein, sondern lediglich zu einem bereits bestehenden Unglück ‚hinzuzukommen‘. Denn – so erfahren wir im zweiten dumSatz – auch die pigra senectus greift zum Zeitpunkt der Erkrankung bereits „rasch“ oder „in vorschnellem Lauf“ nach dem lyrischen Ich. Die gesamte zweite Strophe erscheint dabei von inhaltlichen Gegensätzen geprägt, die sprachlich elegant umspielt werden. So wird die senectus einerseits als pigra charakterisiert, was „träge“ oder „träge machend“ bedeuten kann. Die Junktur bedeutet schon in der bisherigen lateinischen Literaturgeschichte beides: Einerseits macht das Greisenalter natürlich die Menschen schlaff und träge (und ‚ist‘ in diesem Sinne ein träges Alter). So stellt Dracontius in der (von Eugenius überarbeiteten) Satisfactio die rhetorische Frage, „ob etwa das träge Greisenalter das Lärmen des Ehebruchs mit sich bringe“.637 Gleichzeitig ist es aber auch insofern träge, indem es den Menschen nur langsam, Stück für Stück, verfallen lässt. So scheltet etwa Maximian das Greisenalter dafür, dass es den erlösenden Tod nur so zögerlich kommen lasse.638 In jedem Fall steht die Trägheit des Greisenalters in ironischem Gegensatz dazu, dass es bei Eugenius praepete cursu kommt639 – die Junktur ist in der Dichtung weit verbreitet.640 Gleichzeitig sind diese gegensätzlichen Begriffe über Alliterationen miteinander verbunden, was dem Gegensatz die Schärfe nimmt (pigra peteret senectus / praepete cursu).
637 Dracontius, satisf. 223–224 (187 MOUSSY) = Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 191– 192 (CCL 114,387 ALBERTO): Numquid adulterii […] fremitus pigra senecta gerit? 638 Vgl. Maximian, eleg. 2 = 1,2 (92 SANDQUIST ÖBERG): Cur et in hoc fesso corpore tarda [venis]? Sandquist Öberg bringt statt venis eine eigene Konjektur quies, der ich aber hier, da es um Fragen der Rezeption geht, nicht folge. 639 Vgl. FEAR 2019, 35–36. 640 Sie steht zumeist am Ende des Hexameters, vgl. schon Statius, Theb. 6,298 (208 KLOTZ); für die christliche Dichtung vgl. Prudentius, ham. 293 (CCL 126,127 CUNNINGHAM) und psych. 270 (CCL 126,160 CUNNINGHAM) sowie Cyprianus Gallus, hept. Ex 1278 (CSEL 23,101 PEIPER).
372
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Gegensätzlichkeiten finden sich jedoch auch auf der inhaltlichen Ebene. Die heute aufkommende Verwunderung darüber, dass Eugenius bei einem Alter von lediglich 49 Jahren bereits vom Greisenalter spricht, ist nur teilweise auf kulturell unterschiedliche Sichtweisen der Altersstufen zurückzuführen. Isidor von Sevilla unterscheidet, wie an anderer Stelle auch Eugenius selbst, stets zwischen sechs Altersstufen, seine Terminologie für die letzten beiden Lebensphasen variiert jedoch leicht. In seinem früheren Werk, den Differentiae, umfasst die senectus die Zeitspanne von 50 bis 77 Jahren, während im Alter von 77 Jahren das senium beginnt, eine Art verschärfte Altersperiode, die schon durch das Nahen des Todes gekennzeichnet ist.641 In den Etymologiae wird die Altersspanne von 50 bis 70 Jahren als grauitas bezeichnet, „die das Hinabgleiten von der Jugend zum Greisenalter ist; sie ist noch kein Greisenalter, aber auch keine Jugend mehr, weil sie das Alter des Seniors ist, das die Griechen úïûìŴüòÏ nennen.“642 Die Unterscheidung beruht bei Isidor auf den lateinisch-griechischen Äquivalenten von senior und úěûìýÏ bzw. úïûìŴüïúøÏ sowie senex und ñěúþ÷. Die (zum senex gehörige) eigentliche senectus beginnt hier erst bei 70 Jahren und wird lose, ohne genauere Zeitdefinition, vom senium abgeschlossen,643 das hier als Teil der senectus gewertet wird und für Isidor in besonderem Maße mit den Übeln des Alters, nämlich den Krankheiten, verbunden ist.644 Bei seinem späteren Ansatz in den Etymologiae dürfte für Isidor auch die antike Praxis eine Rolle gespielt haben, Männer ab 70 Jahren von der Ausübung gewisser Pflichten, besonders solcher, die mit physischer Anstrengung einhergingen, zu entschuldigen.645 Insgesamt sind Isidors Definitionen schematisch und dürften eher aus der Antike überkommenes Wissen als die Auffassungen und Beobachtungen der Zeit widerspiegeln, was schon seine zwei unterschiedlichen Eingrenzungen der senectus zeigen, die sich kaum überschneiden. Es fällt jedoch auf, dass Eugenius’ Auftreten der senectus selbst dem früheren zeitlichen Ansatz Isidors (bei 50 Jahren) noch einmal um ein Jahr zuvorkommt. 646 Das Alter scheint hier nicht nur „rasch“, sondern beinahe 641
Vgl. Isidor von Sevilla, diff. 2,18,76 (CCL 111A,50 ANDRÉS SANZ): Incipit enim haec aetas a quinquagesimo anno et septuagesimo septimo terminatur. 642 Isidor von Sevilla, orig. 11,2,6 (o.S. LINDSAY): grauitas, quae est declinatio a iuuentute in senectutem; nondum senectus sed iam nondum iuuentus, quia senioris aetas est, quam Graeci úïûìŴüò÷ vocant. 643 Vgl. Isidor von Sevilla, orig. 11,2,8 (o.S. LINDSAY): Senium autem pars est ultima senectutis, dicta quod sit terminus sextae aetatis. 644 Vgl. Isidor von Sevilla, orig. 11,2,30 (o.S. LINDSAY): Senectus autem multa secum et bona adfert et mala. […] Mala autem, quia senium miserrimum est debilitate et odio. 645 Vgl. COKAYNE 2003, 66 Anm. 32. Diese Altersgrenze war jedoch nicht starr und je nach dem Bereich der Verpflichtungen konnten unterschiedliche Altersgrenzen gelten, vgl. a.a.O., 94–95. 646 Vgl. FEAR 2019, 35.
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
373
schon verfrüht über das lyrische Ich hereinzubrechen.647 Dies ist in der christlichen Literatur jedoch auch kein singuläres Mittel der Selbstdarstellung: Auf die Spitze getrieben wurde das verfrühte Alter bereits durch Hieronymus, der sich bereits in seinen frühen Dreißigern (wahrscheinlich etwas scherzhaft) als Greis bezeichnete, dann aber offenbar ganz ernsthaft in seinem Psalmenkommentar davon ausgehen kann, der Mensch könne in nur zehn Jahren von einem adulescentulus zu einem in senectute quasi mortuus werden. 648 Christian Gnilka deutet dies teilweise auch als Bescheidenheitstopos.649 c) V. 9–16: Auftreten der Krankheit 10
accidit lasso grauis aegritudo, quae ferae mortis minitaret ictum ac diu fessa cruciaret acri membra dolore.
Febris incerta terebrabat ossa, languida morbis caro defluebat, 15 nulla quassatum recreabat esca, potio nulla.
Sicher ist jedenfalls, dass das lyrische Ich schon vor dem Eintreten der grauis aegritudo (V. 9) – eben aufgrund des Alters – mit seiner Gesundheit und körperlichen Kraft zu kämpfen hat: Es ist bereits lassus, erschöpft oder ermattet, als die Krankheit einschlägt, die freilich keinen klar umgrenzten morbus darstellt, sondern den Krankenstand im weiteren Sinne meinen dürfte. So ist in V. 14 wie bereits in carm. 14,6 von morbis im Plural die Rede. Schließlich bleiben auch die ‚Symptombeschreibungen‘ der vierten Strophe wiederum uneindeutig und rufen eher die sehr diversen Schilderungen aus carm. 13 und 14 noch einmal in Erinnerung, als dass sie eine Auskunft über eine konkrete Krankheit geben wollen.
647
Eine Bedeutung ‚verfrüht‘ von praepes ist, auch wenn die Präposition prae- daran denken lässt, im Lateinischen nicht belegt; vgl. THLL s.v. praepes, X/2,763–765. Das Adjektiv hat seinen ursprünglichen Kontext in der Vogelschau der römischen Auguren und gibt dort den Vogelflug an, der ein gutes Vorzeichen bedeutet, was auch Isidor von Sevilla, orig. 12,7,77 (o.S. LINDSAY) angibt. Seine etymologische Herleitung lässt jedoch in der Tat eine Färbung im Sinne von ‚früher als sonst‘ nicht ausgeschlossen erscheinen: et ideo praepetes, quia omnes aves priora petunt volantes. 648 Vgl. Hieronymus, epist. 7,2 (CSEL 54,27 HILBERG) und tract. in psalm. 89,9–10 (CCL 78,121–123 MORIN). Vgl. dazu und für weitere Beispiele ‚verfrühten Alters‘ bei den Kirchenvätern GNILKA 1971, 19. 649 Vgl. GNILKA 1971, 19 Anm. 67.
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Zwei Dinge sind es, die die Krankheit zunächst grundlegend charakterisieren: Das Androhen des „wilden Todes“ (V. 10: ferae mortis) 650 und die Schmerzen, mit denen sie den Körper des lyrischen Ichs quält (V. 11–12). Das für den ersten Aspekt, den drohenden Tod, gewählte Bild des „Todesstiches“ (V. 10: mortis […] ictum) erinnert dabei an die Schilderung in carm. 14, in dem die senectus die Menschen mit dem „Schwert des Todes“ (carm. 14,11: mortis ense) durchbohrt hatte. Gleichzeitig verrät die Formulierung den Hintergrund der christlichen patristischen Literatur, in der die Formulierung ictus mortis gängig wird: Besonders häufig tritt sie in einer Konstellation auf, in der sie das unmittelbare Bevorstehen des Todes meint.651 Oft ist im Kontext die Buße sub ictu mortis der Moment, in dem den Sünder eine letzte, späte Reue ereilt oder er in die Gemeinde rekonziliiert wird. 652 Doch auch das Todesschicksal ganz allgemein kann so bezeichnet werden.653 Der zweite Aspekt, die körperlichen Leiden der Krankheit, werden breiter ausgeführt und auch in der vierten Strophe beschrieben. Möglicherweise erhalten wir in den diu fessa […] membra wiederum einen Hinweis darauf, dass das körperliche Leiden des lyrischen Ichs schon eine Vorgeschichte im verfrühten Alter hat. Zwar ist aufgrund der Freiheiten, die sich die Poesie in puncto Wortstellung erlaubt, der Bezug von diu nicht klar entscheidbar – sind die Glieder „schon lange matt“ oder quält die Krankheit die Glieder „lange“? Erstere Variante wird zum einen durch die Wortstellung intuitiv gestützt, zum anderen erscheint sie auch innerhalb des Gedichtes, das die senectus schon vor der Krankheit „angreifen“ (V. 7: peteret) lässt, plausibel. Auf der anderen Seite ist in carm. 13 vom morbus […] iugis die Rede und auch in carm. 14b selbst indiziert die konsequent im Imperfekt gehaltene vierte Strophe ein länger anhaltendes (und womöglich nicht abgeschlossenes) Siechtum. Ausgeschlossen ist also keine der beiden Varianten. Inhaltlich und auch in der Wortwahl finden wir wiederum ein dichtes Netz an Bezügen zu anderen Gedichten des Eugenius, allen voran zu den beiden vorhergehenden carm. 13 und 14.654 Bereits die Junktur fessa membra ist ei-
650 Ferus ist sowohl in der antiken als auch in der christlichen Literatur ein nicht untypisches Epithet der mors, vgl. Statius, Theb. 10,317 (373 KLOTZ) und (Ps.-)Tertullian, adv. Marc. 5,227 (CCL 2,1454 WILLEMS). 651 So bezeichnet Laktanz, inst. 6,20,12 (615 HECK) die Todgeweihten der römischen Spiele, die um ihr Leben flehen, als constitutos sub ictu mortis. 652 Vgl. etwa Ambrosius von Mailand, obit. Valent. 10 (73,335 FALLER): Beatus: beatus plane, qui vel in senectute correxit errorem, beatus, qui vel sub ictu mortis animum avertit a vitiis. 653 Vgl. Ambrosius von Mailand, de Hel. 22,85 (CSEL 32/2,464 SCHENKL): reformaris et non dissolueris, ictum mortis non excipis et resurgis. 654 Vgl. SMOLAK 2010, 83, der die drei Gedichtteile daher als in sich geschlossenen Zyklus liest.
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
375
nerseits in der lateinischen Poesie allgemein weit verbreitet,655 greift aber z.B. auch die Selbstbezeichnung des lyrischen Ichs als fessus in carm. 13 auf. Eine Übersicht kann dies verdeutlichen: carm. 14b
carm. 13
11–12: fessa membra
1: fessus anhelo; 2: languida membra
13: Febris incerta656 13: terebrat ossa 14: languida 14: caro defluebat 15: nulla […] recreabat esca, potio nulla 15: quassatum
4: dolor ossa terit 2: languida membra
carm. 14
21: febres minaris 16: Tu frangis ossa 49: tabe fluunt carnes 25: potus cibique nulla delectatio
4: cor pauor inde quatit
Freilich gibt es auch in anderen Gedichten gemeinsame Elemente mit carm. 14b, jedoch nie in derselben Dichte wie in den beiden in die Übersicht aufgenommenen Gedichten.657 Die hier angegebenen Übel der Krankheit wirken beinahe schon wie Exzerpte aus den längeren carm. 13 und 14, und selbst die thematische Anordnung und Gestaltung erinnert daran: So haben wir wiederum die bereits aus carm. 14,23–25 bekannte, auf uns heute antiklimaktisch wirkende Anordnung, dass zuerst körperliche Schädigungen aufgezählt werden und der Leidenskatalog damit abgeschlossen wird, dass nicht einmal Speise und Trank Linderung verschaffen können. Der größte Unterschied, der das carm. 14b nicht als inhaltlich redundante Variation auf carm. 13 und 14 erscheinen lässt, liegt tatsächlich im Tempus, in
655 Vgl. z.B. schon Ovid, met. 4,215–216 (101 TARRANT). Ein dem Kontext unseres Gedichtes besonders nahekommendes Beispiel ist die Beschreibung einer Krankenheilung in Paulinus von Petricordia, Mart. 2,713–714 (SC 581,268 LABARRE): dum membra dolorem / fessa gemunt. Mit der Klausel membra dolore(m), die schon bei Lukrez, nat. 3,495 (112 DEUFERT) und 6,657 (270 DEUFERT) vorkommt (im Unterschied zu Eugenius als Klausel des Hexameters, nicht der sapphischen Strophe), finden wir auch einen sprachlichen Anklang daran vor. 656 Febris incerta dürfte ein medizinischer Fachausdruck für immer wieder, ‚zu unsicheren Zeiten‘, schubweise auftretendes Fieber sein, wie Celsus, med. 3,12 (184 LEDERER) beschreibt: Incertum est enim quando febris ventura sit: ita fieri potest, ut, si subito venerit, summa in eo pernicies sit, quod auxilii causa sit inventum. Celsus betrachtet es als besonders gefährlich, da bei einem unvorhergesehenen Fieberschub eine als Heilmittel gedachte Kur plötzlich nachteilig wirken könne. Vgl. für febris incerta als feststehenden Ausdruck Celsus, med. 2,1 (62 LEDERER). 657 Vgl. etwa zum Fieber auch carm. 101,14 (CCL 114,278 ALBERTO): febre tabescunt moribunda membra sowie carm. 6,3 (CCL 114,215 ALBERTO): Nulla febris hominum maior quam uiteus humor.
376
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
dem geschildert wird. Aus dem Präsens der carm. 13 und 14, das die Leserinnen und Leser Alter und Krankheit ‚miterleben‘ ließ, ist das Perfekt (für das ‚Einschlagen‘ der Krankheit in V. 9: accidit) und das Imperfekt (für die gesamte Krankheitsschilderung) geworden. Wie haben wir diese Tempora aufzufassen? Grundsätzlich zeigen sie als Vergangenheitstempora an, dass auf das Geschilderte zurückgeblickt, es im Nachhinein erzählt wird – die Leserinnen und Leser sind also nicht, wie bei den präsentischen Gedichten, ‚hautnah dabei‘ oder betrachten mit dem lyrischen Ich gemeinsam eine überzeitliche Wahrheit. Stattdessen beginnt mit dem Perfekt accidit eine Narration der Vergangenheit, die durch die Angabe des Alters auch an einem konkreten Zeitpunkt im Leben des lyrischen Ichs verankert wird. Das Perfekt gibt dabei punktuelle, aufeinanderfolgende Ereignisse an; es ist das Tempus, das die Handlung ‚vorantreibt‘.658 Das Imperfekt dagegen setzt keine keine punktuellen Ereignisse, die einen klaren Abschluss haben, sondern beschreibt die Umstände der Haupthandlung (oder, wie hier, diese selbst) und schildert, wie die Krankheit war: Fieberschübe und Schmerzen quälten den Sprecher, sein Körper verfiel vor seinen Augen, weder Speise noch Trank konnten das lyrische Ich kräftigen. Darüber, ob das imperfektisch Geschilderte selbst wiederum im Präsens des Erzählers als bereits abgeschlossen gelten kann (was für die Interpretation des Gedichtes eine wichtige Frage ist: Aus welcher Position heraus spricht das lyrische Ich?), 659 ist rein anhand des Imperfekts jedoch keine Aussage möglich. 660 Dies muss aus dem weiteren Kontext des Geschilderten heraus bestimmt werden – und dieser gibt es nicht her, die Krankheit als abgeschlossen zu betrachten. Durch die verhältnismäßig viel Raum einnehmende imperfektische Beschreibung des Hintergrundes erwartet man anhand des Erzählduktus sogar, dass die durch die beschreibenden Anteile retardierte ‚Haupthandlung‘ (das letzte im Perfekt erzählte Ereignis war accidit lasso grauis aegritudo) fortgeführt wird661 – dass also über den weiteren Fortgang der Krankheit, die ja immerhin „den Todesstich androhte“, informiert wird. In dieser Erwartung werden die Leserinnen und Leser jedoch enttäuscht.
658
Vgl. BURKARD/SCHAUER/MENGE 2012, 185. Vgl. SMOLAK 2010, 83, der die im Imperfekt geschilderte Krankheit tatsächlich als abgeschlossen betrachtet, was seine Interpretation des Gedichtes entscheidend mitbestimmt. 660 Vgl. MELLET 1988, 8–13. 661 Vgl. zum Imperfekt als Hintergrundtempus BURKARD/SCHAUER/MENGE 2012, 185: „Das Perfekt führt die Erzählung weiter, das Imperfekt unterbricht sie für eine kurze Weile.“ In ihrer Analyse der Verwendung des Imperfekts schreibt MELLET 1988, 286–288 dem Imperfekt oft auch einen ‚suspensiven‘ Effekt zu: Das Imperfekt hält Dinge in der Schwebe und erzeugt dadurch Spannung. 659
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
377
d) V. 17–20: carmine planxi – Alles endet in der Klage Tanta me crebro mala dum ferirent, mortis horrendae trepidus pauore labilem cursum fugientis aeui 20 carmine planxi.
Die letzte Strophe bringt gerade nicht die erhoffte Auflösung (positiver oder negativer Art), sondern lässt mehr Fragen offen, als sie beantwortet. Sie unterrichtet uns gerade nicht darüber, dass das lyrische Ich nun von der Krankheit geheilt ist.662 Nicht einmal eine spirituelle Wendung, wie sie nach carm. 14 zu erwarten gewesen wäre, löst die Spannung auf: Wir finden keine Hinweise auf die Buße mehr, keine Hinweise auf eine Selbst- oder Welterkenntnis oder einen geänderten Lebenswandel des lyrischen Ichs, womit Alter und Krankheit doch auch Positives abgerungen würde. Natürlich erfahren wir auch nicht, dass gemäß der Androhung in V. 10 der Tod eingetreten ist, was der Gedichtsituation widerspräche. Stattdessen leistet die letzte Strophe den Rückbezug zur Eingangsfrage: Was war der Grund für das Dichten des lyrischen Ichs? Mit einer weiteren dumKonstruktion werden die beiden Auswirkungen der Krankheit, die in V. 10–12 angegeben waren, noch einmal wiederholt: Einerseits haben die zuvor beschriebenen Übel (die zusammenfassend als tanta mala, was die huius uitae mala aus der ersten Strophe noch einmal aufnimmt, charakterisiert werden) das lyrische Ich „geschlagen“ (V. 17: ferirent). Andererseits erzitterte es vor dem „schauerlichen Tod“ (mortis horrendae).663 Der Ausdruck trepidus pauore erinnert darüber hinaus stark an das pauere/tremere-Schema, das im letzten Teil von carm. 14 fast omnipräsent war. Beide Aspekte sollen, obwohl der Zusammenhang lediglich ein temporaler ist (dum), das Dichten als Reaktion des lyrischen Ichs auf die geschilderten Übel begründen: labilem cursum fugientis aeui / carmine planxi. Damit kann die Eingangsfrage als beantwortet gelten: Der Grund für das klagende Dichten des lyrischen Ichs war die Größe des Leides und die Angst vor dem Tod. Der Verweis auf das eigene Dichten (im Perfekt: carmine planxi)
662
Dies nimmt SMOLAK 2010, 83 ohne nähere Begründung an: „Aus der Position des wieder Genesenen wendet er sich an den Leser und teilt noch einmal Details seiner nun überwundenen Krankheit mit […]. Darüber hinaus muss das poetische Gebilde aber auch als indirektes Lob- und Danklied, als canticum novum, an Gott gewertet werden.“ Ausschlaggebend für seine Lesart dürfte wohl das Vergangenheitstempus in carm. 14b in Kombination mit der Vergebungs- und Heilungsbitte am Ende von carm. 13 gewesen sein. Gerade das Imperfekt gibt jedoch, wie oben dargelegt, für sich die Interpretation nicht her, dass das Bezeichnete als abgeschlossen gelten kann, sondern müsste durch weitere Hinweise des Textes ergänzt werden. 663 Vgl. für das Epithet horrendus für die mors Sedulius, carm. pasch. 5,277 (CSEL 2 10,134 HUEMER).
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5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
ist gleichzeitig das einzige, was die Handlung der ab der zweiten Strophe beginnenden ‚autobiographischen Erzählung‘ fortführt und zum Abschluss bringt. Andere Fragen, die sich anhand der starken biographischen Verankerung des Geschilderten von selbst stellen, wie die Frage nach der weiteren Entwicklung der Krankheit, bleiben offen. Die Frage nach dem Umgang des lyrischen Ichs mit der Krankheit, die sich ebenfalls stellt, wird dagegen durchaus beantwortet – jedoch vor dem Hintergrund der vielfältigen, in den carm. 13 und 14 vorgestellten Umgangsweisen, auf den ersten Blick erstaunlich eindimensional. Wo sonst die Erfahrung des Leides Gebete zu Gott, Abkehr von Welt und Sünde und den Wunsch nach einer Änderung des eigenen Lebenswandels motivierte, steht hier allein die Klage als Reaktion im Vordergrund – die wiederum in erster Linie als Vergänglichkeitsklage (labilem cursum fugientis aeui) charakterisiert wird. 5.5.4 Fazit: Eine kleine (minimalistische?) Poetologie der Klage Mit carm. 14b liegt ein Gedicht vor, das in besonderem Maße das Dichten selbst zum Thema macht. Es ist von der Frage der Leserinnen und Leser motiviert, was der Grund für Eugenius’ dichterische Bemühungen gewesen sei, genauer: für seine Klagedichtung. In der Bitte an die Leserinnen und Leser, sich die Begründung dafür wohlwollend anzuhören (disce benigne), schwingt die sicherlich auch topische Vorwegnahme einer möglichen Irritation mit, die die Klagegedichte bei den Leserinnen und Lesern ausgelöst haben könnten. Das Gedicht wirbt somit um Verständnis für die Klagedichtung – wie auch für deren Dichter. Ein ‚Vorbild‘ dafür finden wir in Ovids Tristia,664 interessanterweise ebenfalls in bereits rückblickender Manier, nämlich zu Beginn des fünften Buches. Dort wirft ein fictus interlocutor ein: „Du hättest doch, besser wär’s gewesen, die Übel schweigend ertragen können, / und stumm dein Schicksal verhehlen.“665 Ovid beantwortet diesen Vorwurf mit einem Katalog der Heldinnen und Helden des Mythos, die ebenfalls zu Recht geklagt, geseufzt und geweint hätten. Ovid macht sehr deutlich, dass der Akt der Klage – und ebenso des Verfassens von Klagegedichten – eine schmerzerleichternde Funktion hat und daher gerechtfertigt ist: „Etwas immerhin ist es, das tödliche Übel durch Worte zu lindern.“ 666 Es wird deutlich, dass seiner ‚Poetologie der 664 Freilich ist es fraglich, ob Eugenius die Tristia in besonderer Weise rezipiert hat. In carm. 3 konnten Ähnlichkeiten festgestellt werden, die ALBERTO 2005a in seiner Edition übergeht, sie können jedoch auch anderweitig erklärt werden oder als gemeinsame poetische Tradition gelten. Es gibt noch nicht einmal Hinweise darauf, dass die Tristia, als unbekannteres Werk Ovids, im wisigotischen Spanien in mehr als nur Florilegien verfügbar waren, vgl. die Detailanalyse zu carm. 3. 665 Ovid, trist. 5,1,49–50 (174 HALL): ‚at poteras‘, inquis ‚melius mala ferre silendo, / et tacitus casus dissimulare tuos.‘ 666 Ovid, trist. 5,1,59 (175 HALL): est aliquid, fatale malum per uerba leuare.
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
379
Klage‘ das zugrunde liegt, was in der Emotionsforschung oft das ‚hydraulische Modell‘ genannt worden ist: 667 Starke Affekte müssen sich – ähnlich dem sprichwörtlichen Dampf, der abgelassen wird – ihre Bahn brechen, wenn sie nicht umso destruktiver werden sollen. So bittet Ovids Dichter-persona um Verzeihung: strangulat inclusus dolor, at mens aestuat intus, cogitur et uires multiplicare suas. da ueniam potius, uel totos tolle libellos, si mihi quod prodest hoc tibi, lector obest.668 Eingeschlossener Schmerz schneidet die Luft ab – innerlich lodert der Geist – und wird gezwungen, seine Kräfte zu verdoppeln. Verzeih doch lieber, oder wirf die Büchlein ganz weg, wenn, was mir nützt, dir zur Last fällt.
Finden wir auch in carm. 14b eine solche Poetologie der Klage nach dem Vorbild Ovids? Die Klagedichtung wird in carm. 14b auf zweiterlei Weise charakterisiert: Als Bemühung, die Übel dieses Lebens zu Grabe zu tragen (V. 2–3: laboris, / huius ut uitae mala funerarem) und als Klage über den unbeständigen Lauf der flüchtigen Zeit (V. 19–20: labilem cursum fugientis aeui / carmine planxi). Beide Formeln setzen bzgl. des Gegenstandes der Klage unterschiedliche Akzente (Leid und Vergänglichkeit), haben aber darin ihre innere Mitte, dass es es bei Eugenius immer wieder die Vergänglichkeit ist, die das Leid auslöst und insofern selbst als das „Übel dieses Lebens“ schlechthin gelten kann. So war etwa in carm. 14 die Beschreibung der Vergänglichkeit des Körpers nur die logische inhaltliche Fortführung der Schilderung der Krankheiten, die das Greisenalter mit sich bringt – und letztere umgekehrt nur das ‚erste Verfallsstadium‘ des Körpers, das an seine Vergänglichkeit erinnert. Da im Unterschied zu Ovids Tristia die Klage keineswegs für alle Gedichte des Eugenius charakteristisch ist, stellt sich auch die Frage nach den Gedichten, die in carm. 14b unter diesem labor bezeichnet sind. Die ‚natürlichen‘ Bezugsgedichte, die über die Angabe von Alter, Krankheit und drohendem Tod als Anlässe der Klage zweifelsohne als solche identifizierbar sind, sind carm. 13 und 14 – gerade letzteres wurde in der Textüberlieferung so stark auf carm. 14b bezogen, dass es praktisch mit ihm verschmolzen ist (vgl. Kap. 5.4.1). Doch es sind nicht die einzigen Gedichte, in denen huius uitae mala und der labilis cursus der Welt thematisiert werden; enger in Betracht kommen hier noch die carm. 2 und 5, die vom Tod handeln. Carm. 3 spricht in anderer Weise von der 667 Vgl. etwa ROSENWEIN 2002, 834–836: Das Modell, das letztlich auf der antiken und mittelalterlichen medizinischen Theorie über die Körperflüssigkeiten basiert, war lange Zeit das vorherrschende kulturelle Konstrukt über Emotionen, das sich bis in unsere heutige Sprache und Ausdrucksweise hinein aktualisiert, in der heutigen Emotionsforschung aber nicht mehr haltbar ist. 668 Ovid, trist. 5,1,63–66 (175 HALL).
380
5 Die Mikrostruktur: Einzelanalysen
Vergänglichkeit, indem es die innere Wankelmütigkeit des Menschen darstellt. Von diesen Gedichten hat jedoch nur carm. 5 einen eindeutig klagenden Charakter (es wird als carmen […] luctuosis questibus [carm. 5,2] vorgestellt), während carm. 2 hauptsächlich moralisierend ist und carm. 3 sich in dieser Hinsicht einer Klassifizierung entzieht. Die beiden anderen eindeutigen Klagegedichte, carm. 35 und carm. 101, können zwar als Klagen über den labilis cursus der Welt verstanden werden, ihre Klageanlässe (Streit mit einem Freund und Leid unter der Sommerhitze) werden in carm. 14b jedoch nicht erwähnt. Es scheint daher sinnvoll, zunächst von carm. 13 und 14 als unmittelbar vorausgehende, die imaginierte Eingangsfrage der Leserinnen und Leser motivierende Gedichte auszugehen; poetologische Aussagen über die Klagedichtung sind jedoch sicherlich verallgemeinerbar und auch auf andere Klagegedichte übertragbar. Was sagt uns das Gedicht aber über Eugenius’ Auffassung der Klagedichtung? Die von den Leserinnen und Lesern fiktiv verlangte Begründung wird von Eugenius ausschließlich über eine (auto-)biographische Verankerung der Klage geleistet – auch diese finden wir bei Ovid ebenfalls,669 sie ist jedoch nicht nur auf eine Begründung der Notwendigkeit der Klage ausgerichtet, sondern soll auch deren Authentizität erweisen.670 Dass letzteres auch von Eugenius beabsichtigt war, ist denkbar, wird aber nirgends explizit.671 Die Argumentation ist geradezu überraschend eindimensional und lässt sich so verknappen: ‚Du fragst, weshalb ich Klagelieder gesungen habe. Als ich 49 Jahre alt war, traf mich eine schwere Krankheit, die mich den Tod fürchten ließ. Ich litt sehr darunter. Da habe ich Klagelieder gesungen.‘ Die Einfachheit der Aussage, die das blanke Leid Grund genug für die Klage sein lässt, erinnert an carm. 13, in dem das lyrische Ich so seine Bitte um uenia und Heilung begründete. Hier wie dort sind auch mögliche spiritualisierte Wendungen des Leides und der Klage über das Leid als Motivator spiritueller Einsichten und Selbsterkenntnisse, wie wir sie in carm. 14 lasen, ausgespart: Nicht nur ist das Leid allein Grund genug für die Klage, die Klage bleibt auch innerhalb der in carm. 14b rudimentär angelegten biographischen Narration die einzige Reaktion des lyrischen Ichs auf das Leid und wird nicht etwa durch Absagen an die Welt und Sündenklage abgelöst. Insofern bleibt das Gedicht, auch wenn die Eingangsfrage beantwortet wird, letztlich unbefriedigend, da ein zweiter, in der biographischen Narration angelegter Konflikt nicht gelöst wird: Wohin führt das Leid? Was bewirkt die 669 Vgl. Ovid, trist. 5,1,25–26 (173 HALL): si tamen e uobis aliquis, tam multa, requiret, / unde dolenda canam, multa dolenda tuli. 670 Vgl. Ovid, trist. 5,1,27–28 (173 HALL): non haec ingenio, non haec conponimus arte: / Musa mea est propriis ingeniosa malis. 671 Etwas deutlicher wird dies in der Bemerkung der Dichter-persona in carm. 101,4, er habe ‚alles erlitten‘ (omnia passus), was er beschreibe – doch auch dort nicht annähernd so explizit wie in den zitierten Stellen aus Ovids trist. 5,1.
5.5 carm. 14b: Der Rückblick des Dichters
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Klage? Die erste Frage bleibt offen; wir erfahren schlichtweg nicht, wie sich die Krankheit weiterentwickelt oder ob es überhaupt eine Entwicklung gibt. Wir wissen schließlich auch nicht, als wie weit zurückliegend der Beginn der Krankheit (‚49 Jahre alt‘) zu denken ist. Wenn das lyrische Ich sich selbst als bereits von der senectus geschlagen darstellt, ist freilich am ehesten daran zu denken, dass die Krankheit in ein Siechtum übergegangen ist, das vielleicht ‚nur‘ noch als chronisch und nicht mehr als akut lebensbedrohlich wahrgenommen wurde. In jedem Fall hat der Sprecher aber mit carm. 14b die Position des unmittelbar Klagenden verlassen und eine Metaperspektive eingenommen. Um Eugenius’ eigene Wortwahl aufzunehmen: Der Sprecher steht am Grab der huius uitae mala und blickt aus einer gewissen Distanz auf sie. Dieser Zustand der Distanz wird jedoch ebenfalls kaum charakterisiert: Wir wissen nicht, ob er als positiv, negativ oder neutral, ob er als ruhig, vertrauend, akzeptierend, fatalistisch oder eskapistisch zu denken ist, ob die Distanzierung dem lyrischen Ich einen gewissen Frieden gebracht oder seine Sichtweise auf das Leid geändert hat. Höchstens in der leicht polemischen Formulierung huius uitae mala funerare ist eine Andeutung zu spüren, dass sich an der Wertung der Übel dieses Lebens nichts geändert hat, das lyrische Ich aber doch – in irgendeiner Form – mit ihnen abgeschlossen hat. Diese Abgeschlossenheit ist auch die einzige Wirkung des labor, der – wollen wir ihn als ‚Bemühung‘ verstehen – in der Dichtung von Klageliedern bestand. Können wir dahinter die antike, bei Ovid klar zugrundeliegende Theorie erkennen, dass der Ausdruck des eigenen Schmerzes oder der Trauer (innerhalb eines ‚hydraulischen Modells‘ der Affekte) kathartisch wirkt und so zumindest eine gewisse Linderung verschafft? In carm. 14 hatte Eugenius geschrieben: Lamenta sola conferunt solacium. Dass Trauer und Schmerz nach einem Ausdruck verlangen, wird auch in carm. 14b deutlich vorausgesetzt. Eine weitere theoretische Begründung, warum das so ist, finden wir jedoch weder in carm. 14 noch in carm. 14b. Und betrachtet man streng allein das carm. 14b, muss wie angedeutet eingeschränkt werden, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass der Sprecher aufgrund seiner Klage überhaupt eine Linderung seines Leides erfahren hat. Lediglich die Position des Klagenden hat er verlassen, die Klage ist gewissermaßen bereits absolviert – im Unterschied zu den Beschreibungen von Schmerz und Krankheit steht carmine planxi im Perfekt. Das bestätigt auch das Folgegedicht in der Lesereihenfolge, carm. 15, wo im Vergleich zu den vorhergehenden Gedichten geradezu heiter-gelassen im Epigramm-Stil über das Nachlassen der fleischlichen Gelüste berichtet wird und dem Greisenalter somit doch zumindest ein kleiner Vorteil zugeschrieben wird.
Dritter Teil
Poesie zwischen Askese und Lebensbewältigung
6 Die condicio humana als Grundperspektive der Carmina 6.1 Vitae stadium: Das Leben als zu bewältigende Aufgabe 6.1 Vitae stadium: Das Leben als zu bewältigende Aufgabe
Sowohl der kursorische Überblick als auch die Einzelanalysen haben aufgezeigt, dass zumindest die spirituell und religiös anschlussfähigen Gedichte des Eugenius von einer gemeinsamen Grundperspektive getragen sind: der Bewältigung des Lebens in seinen leiblichen, seelischen und spirituellen Facetten. Eine besondere Funktion, diese Perspektive aufzubauen, erfüllt dabei das carm. 1, die Oratio des lyrischen Ichs zu Gott, die das Gedichtbuch nach der dichterischen praefatio eröffnet. Die verschiedenen Einzelbitten umfassen Bitten um das Gelingen des Lebens in moralisch-ethischer Hinsicht, aber auch ganz ‚weltliche‘ Bitten darum, von Krankheit und existentiell bedrohlicher Armut verschont zu bleiben. Gleichzeitig wird mit der Bitte um die Tränen der Buße das Verfehlen des Ziels, ein moralisch gutes Leben zu führen, bereits impliziert und vorweggenommen. Die letzten vier Verse des Gedichtes fassen die zuvor geäußerten Bitten summarisch zusammen: da, precor, auxilium possim quo uincere mundum, et uitae stadium placido percurrere passu. Cumque suprema dies mortis patefecerit urnam, concede ueniam, cui tollit culpa coronam.1 Gib, ich bitte dich, Hilfe, durch die ich die Welt besiegen und die Laufbahn des Lebens mit ruhigem Schritt durchmessen kann. Und wenn der letzte Tag die Urne des Todes dann öffnet, gestehe mir deine Vergebung zu, dem die Schuld den Kranz hat genommen.
In diesen letzten vier Versen wird das Leben in der Welt im Bild eines antiken Agon (uitae stadium) dargestellt, eines Laufwettkampfes, bei dem es einen Siegeskranz (corona) zu erringen gibt – dieselbe Bildmetaphorik war in der christlichen Antike für den Kampf und Sieg der Märtyrerinnen und Märtyrer um das Beharren im Glauben angewandt worden.2 Schon in den Paulusbriefen wird diese Metaphorik nicht nur auf das blutige Martyrium, sondern auf jedwede 1
Eugenius von Toledo, carm. 1,19–22 (CCL 114,206–207 ALBERTO). Vgl. für einen Überblick SHAW 1996, passim sowie COBB 2008, 33–59; vgl. für die Anwendung des Modells speziell auf Märtyrerinnen GOLD 2018, 27–45. 2
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6 Die condicio humana als Grundperspektive der Carmina
Art von spiritueller und moralischer Anstrengung angewandt.3 In der späten patristischen Zeit, die für Eugenius’ theologisches und spirituelles Denken prägend war, verbindet sich diese Vorstellung mit der eines spirituellen Martyriums, was etwa in den Homilien Gregors des Großen,4 aber auch schon des Augustinus aufscheint.5 Im Unterschied zum blutigen, ‚roten‘ Martyrium wird es oft als ‚weißes‘ Martyrium bezeichnet, dem nach Cyprian von Karthago ein weißer Siegeskranz entspricht.6 In der Gerichtsvision von carm. 14,55 sind es genau die „schneeweißen Kränze“ (niueas […] coronas), die von der Schar der Seligen getragen und dem Richter Christus ehrerbietig zu Füßen gelegt werden. Was bedeutet ein solches spirituelles Martyrium? Gregor erklärt es mit dem Symbol des Schwertes: Wie dieses den Körper des Märtyrers oder der Märtyrerin durchbohrt, so wird auch die Seele mit einem Schwert durchbohrt, wenn sie die fleischlichen Begierden in sich abtötet.7 Dieser Kampf scheint auch in der Hoffnung der Dichter-persona durch, „die Welt zu besiegen“ (uincere mundum). Die Aufforderung, dies zu tun, richtet übrigens auch der Märtyrer Romanus in Prudentius’ perist. 10 an die Umstehenden (und damit auch an die nicht mehr in der Verfolgungszeit lebenden Rezipientinnen und Rezipienten), damit sie seinem Beispiel folgen – in Worten, die nicht auf das (blutige) Martyrium, das Romanus selbst erleidet, beschränkt scheinen, sondern auch spirituell-asketisch einlösbar sind.8 Das an Martyriumsdiskurse anschlussfähige Bild des uitae stadium, das Eugenius in diesem Kontext verwendet, setzt dabei einen leicht anderen Akzent, der die Verschiebung ins Spirituell-Asketische umso deutlicher werden lässt: 3
Vgl. etwa 1 Kor 9,24–27 und 1 Tim 6,12. Die Literatur zu dieser Motivik scheint beinahe uferlos; vgl. nach PFITZNER 1967 auch GARRISON 1993, passim für 1 Kor 9,24–27 sowie ARNOLD 2014, passim für die antiken philosophischen Vorläufer und historischen Hintergründe sowie die athletische Motivik im Philipperbrief. Es ist davon auszugehen, dass schon in der frühen Umwelt des Christentums auch das zölibatäre Leben Bestandteil des ‚athletischen Ideals‘ war, was die Übertragung des Bildes auf spirituelle und asketische Diskurse erleichtert haben dürfte; vgl. SECORD 2018, passim. 4 Vgl. z.B. Gregor der Große, in euang. 2,35,7 (CCL 141,327 ÉTAIX): Si enim adiuuante nos Domino uirtutem patientiae seruare contendimus, et in pace ecclesiae uiuimus, et tamen martyrii palmam tenemus. Duo quippe sunt martyrii genera, unum in mente, aliud in mente simul et actione. Vgl. zum spirituellen Martyrium bei Gregor dem Großen RUSH 1962 und, darauf aufbauend und vertiefend, HOEL 2020. 5 Vgl. für Augustinus KOTZÉ 2020, 140–143. 6 Vgl. Cyprian von Karthago, eleem. 26 (CCL 3A,72 SIMONETTI): nusquam dominus meritis nostris ad praemium deerit, in pace uincentibus coronam candidam pro operibus dabit, in persecutione purpuream pro passione geminabit. Vgl. dazu DUNN 2004. 7 Vgl. Gregor der Große, in euang. 1,3,4 (CCL 141,25 ÉTAIX): Nam quamuis occasio persecutionis deest, habet tamen et pax nostra martyrium suum, quia etsi carnis colla ferro non subdimus, spiritali tamen gladio carnalia desideria in mente trucidamus. 8 Vgl. Prudentius, perist. 10,541–545 (CCL 126,348–349 CUNNINGHAM): Contemne praesens utile, o prudens homo […] uince mundum et saeculum!
6.1 Vitae stadium: Das Leben als zu bewältigende Aufgabe
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Wo das Leben mit einem Stadion verglichen wird, das man durchlaufen muss, wird der Lauf und das Erringen des Siegeskranzes zu einer nicht nur punktuellen, sondern lebenslangen Aufgabe; mehr noch, das Leben ist diese Aufgabe.9 Der Ausdruck uitae stadium ist schon bei Augustinus eine Junktur, die immer im Kontext des Kampfes gegen Sünde und weltliche Begierden und um die Hinwendung zu Gott als dem ewigen Gut steht.10 Auch Gregor der Große konzeptualisiert das menschliche Leben in diesem Sinne als certamen.11 Diesen Lauf des Lebens wünscht sich der Sprecher, mit „ruhigem“ bzw. „friedlichem“ Schritt (placido […] passu) zu durchschreiten. Obgleich damit natürlich auch der Wunsch gemeint ist, bei diesem Lauf nicht zu Fall zu kommen – also eben nicht den weltlichen Begierden und der Sünde zu verfallen, sondern einen festen Schritt zu bewahren, der nicht ins Straucheln kommt – will dies nicht völlig zu den Kampfesszenerien passen, die bei anderen Autoren oft evoziert werden. Angesichts der zuvor im carm. 1 geäußerten Wünsche nach Gesundheit und einem ausreichenden Lebensunterhalt, aber auch nach der Abwesenheit von Streit wird man hier sinnvollerweise auch den Wunsch nach nicht allzu großen Herausforderungen und Leid während dieses Lebenslaufes, gewissermaßen nach einem ‚komplikationsfreien‘ Ablauf, heraushören. Während die folgenden Gedichte zeigen, dass sich die Hoffnung des lyrischen Ichs auf ein friedliches Leben nicht immer erfüllt, sondern es durchaus zu leiden hat, rechnet es bereits von Anfang an mit seinem (zumindest partiellen) Scheitern an der moralischen Aufgabe, die das Leben darstellt. Der letzte Wunsch vor den oben zitierten vier zusammenfassenden Zeilen fällt insofern aus der Reihe, als er nicht das Vermeiden von Sünde, sondern deren Sühne betrifft: der Wunsch nach reichlichen, heilsamen Tränen, mit denen das lyrische Ich seine Sünden abwaschen könne.12 Während dies eine noch diesseitige Möglichkeit der Befreiung von der Sünde darstellt, bittet das lyrische Ich allerdings auch für die Zeit nach dem Tod (Cumque suprema dies mortis patefecerit urnam) um Gottes Vergebung, um seine uenia.
9 Vgl. für diese Konnotation schon in der antiken Philosophie und bei Paulus ARNOLD 2014, 121–122. 10 Vgl. z.B. Augustinus, uera rel. 38,70 (CCL 32,233 DAUR): uerumtamen quamquam in hac rerum extremitate miseri iaceant, ut uitia sua sibi dominari patiantur uel libidine uel superbia uel curiositate damnati uel duobus horum uel omnibus, quamdiu sunt in hoc stadio uitae humanae, licet eis congredi et uincere, si prius credant, quod intellegere nondum ualent, et non diligant mundum, quoniam omne, quod in mundo est, sicut diuinitus dictum est, concupiscentia carnis est et concupiscentia oculorum et ambitio saeculi. Vgl. auch uera rel. 12,24 (CCL 32,202 DAUR) und en. Ps. 57,19 (CCL 39,725 DEKKERS/FRAIPONT). 11 Vgl. dazu STRAW 2016, 72. 12 Vgl. carm. 1,17–18 (CCL 114,206 ALBERTO): Da, pater altitonans, undosum fletibus imbrem, / quo ualeam lacrimis culparum soluere moles.
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Auffallend, aber vor dem Hintergrund der Zeit kaum überraschend13 ist dabei, dass diese Möglichkeiten der Erlösung von der bereits geschehenen Sünde, die Tränen der Reue im Diesseits und Gottes Vergebung im Jenseits, nicht als bloße ‚Sicherungssysteme‘ gegen die Sünde erscheinen: Sie greifen nicht in dem Fall, dass das lyrische Ich im Zuge seines uitae stadium scheitert, sondern dieses Scheitern wird – bereits aus einer Sprechhaltung heraus, in der dieses Leben noch andauert – als Faktum behandelt. Die Feststellung, dass die Schuld dem ‚Athleten‘ Eugenius den Siegeskranz entreißt, steht im Indikativ: tollit culpa coronam. Weitere Gedichte, in denen das lyrische Ich seine Schuldigkeit bekennt, bestätigen dies, insbesondere carm. 5 und 14 und die Auto-Epitaphe carm. 17 und 19. Auch das ‚erste‘, noch diesseitige Sicherungssystem gegen bereits geschehene Sünde, die Tränen der Reue, wird durch die Notwendigkeit der uenia Gottes nach dem Tod letztlich als unzureichend charakterisiert. Die Aufgabe, die das Leben darstellt, scheint für das lyrische Ich also von vornherein unerfüllbar, selbst wenn man die von Gott erbetene Hilfe mit einrechnet. In späteren Gedichten, in denen das Bild des Laufes wiedererscheint, ist es durchweg negativ geprägt: In carm. 3 erscheint die seelische Entwicklung des lyrischen Ichs als cursus ambiguus, in carm. 14b der Lauf der Welt insgesamt als labilis cursus fugientis aeui.14 Dieser besondere Pessimismus, der an Eugenius immer wieder bemerkt worden ist,15 betrifft in carm. 1 und den folgenden carmina meist das persönliche Leben des lyrischen Ichs, das in Gedichten, in denen das Scheitern am gottgefälligen Leben, aber auch äußere Widrigkeiten wie Krankheit und Schmerz thematisiert werden, überaus oft unter eigenem Namen auftritt. Bereits hier ist jedoch durch die ausreichend allgemeinen und offen gehaltenen Schilderungen, in denen sich jeder Mensch wiedererkennen kann, deutlich, dass die Dichter-persona dies nicht nur als persönliche Situation, sondern als allgemein-menschliche Erfahrung verstanden wissen möchte. Dass der tiefere Grund des geschilderten Leides und der unvermeidbaren Sündhaftigkeit nicht in außergewöhnlichem Unglück oder außergewöhnlicher Schwäche des ‚Eugenius‘, sondern im Menschsein an sich zu suchen ist, zeigen schon die auf das eröffnende carm. 1 folgenden carm. 2 und 3, die bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam haben, dass die Dichter-persona nahezu völlig abwesend ist und in objektivierender Weise allgemeine Aussagen über die condicio humana getroffen werden. Carm. 2, ein Mahngedicht über die Sterblichkeit, spricht explizit den sterblichen Menschen an sich an: O mortalis homo, mortis reminiscere ca-
13 Vgl. dazu die Bemerkungen zur Selbstdarstellung von Bischöfen in Kap. 2.2.3 und 2.2.4. 14 Vgl. das Bild auch bei Paulinus von Pella, euch. 16 (3 LUCARINI): cursu reuolubilis aeui. 15 Vgl. schon RABY 1953/11927, 127, DIESNER 1980, 477, CODOÑER 1981, 330, ALBERTO 2003, 356 und UNGVARY 2018b, 304.
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sus (carm. 2,1). Carm. 3 über die Wankelmütigkeit des Menschen bleibt objektiv-konstatierend. Gerade aus der Analyse des theologischen Hintergrundes des carm. 3 wurde deutlich, dass die beiden Gedichte nicht zufällig nebeneinanderstehen, sondern eine theologisch-anthropologische Grundaussage antizipieren, die in den Carmina natürlich nicht theologisch reflektiert wird, aber in den inhaltlichen Schwerpunkten der persönlichen und religiösen Gedichte des Eugenius immer wieder aufscheint: die condicio humana, die in der gängigen Theologie seiner Zeit als eine ‚doppelte Instabilität‘ des Menschen beschreibbar ist.
6.2 Die doppelte Instabilität des Menschen 6.2 Die doppelte Instabilität des Menschen
Wenn moderne Interpretinnen und Interpreten des Eugenius einen guten Teil seiner Gedichte thematisch mit dem Begriff „human condition“ umreißen,16 verwenden sie damit einen bereits antiken Reflexionsbegriff, den Eugenius zwar selbst nie benutzt, der die Grundperspektive dieses Teils der Gedichte aber außerordentlich gut beschreibt. Selbstverständlich schreibt Eugenius kein Lehrgedicht, dessen Ziel es wäre, christliche anthropologische Aussagen zu kommunizieren; die große thematische Vielfalt der Kontexte und die unterschiedlichen kommunikativen Absichten der einzelnen Gedichte verbieten das Einzwängen der Aussagen in eine strenge Systematik. Dennoch ist das Menschsein insbesondere in seinen unvollkommenen und leidvollen Facetten ein Grundinteresse der Carmina, weshalb im Folgenden einige Grundlinien einer impliziten Anthropologie, die hinter der Vielfalt der Kontexte erkennbar sind, aufgezeigt und vor dem für Eugenius anzunehmenden patristischen Verständnishorizont erläutert werden sollen. Der Begriff condicio humana kann bereits in der Antike synonym zur Sterblichkeit und Vergänglichkeit des Menschen verwendet werden.17 Die antike Philosophie sieht freilich auch Großes und Gutes in der condicio humana angelegt, etwa die Vernunftbegabung des Menschen und seine Fähigkeit, vorausschauend zu denken und zu handeln.18 Auch wenn die christliche Tradition den Begriff sicherlich primär im Kontext der Fragilität und Schwäche des menschlichen Daseins verwendet,19 ist auch hier zunächst von einer optimistischen Anthropologie auszugehen, die
16 Vgl. CODOÑER 1981, 338 (über carm. 13), ALBERTO 2003, 350 über carm. 101 und ALBERTO 2014a, 122 über carm. 2–5 und 13–15. 17 Vgl. zu einem kurzen Überblick über die antike Begriffsgeschichte, die in der Rhetorik beginnt und von dort in die Philosophie übertragen wird, BALMER 2020, 4–7. 18 Vgl. Seneca, epist. 5,8 (9 REYNOLDS): providentia, maximum bonum condicionis humanae. 19 Vgl. BALMER 2020, 11–13.
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den Menschen als auf Gott hin ausgerichtet und daher als Träger einer besonderen Würde betrachtet. Die Patristik (wie auch die heutige Theologie) drückt dies durch die Rede von der Gottesbildlichkeit (imago Dei) der menschlichen Seele aus.20 Diese ist freilich nicht ontologisch oder substantiell, sondern analog zu denken: impar imago humana mens sed tamen imago.21 Nicht umsonst beginnen zwei große theologisch-spirituelle ‚Summen‘ des wisigotischen Spaniens, Isidors und Taios Sententiae, jeweils mit dem entscheidenden ontologischen Unterschied zwischen Gott und dem Menschen sowie jedem anderen Teil der Schöpfung: Gott ist der solus incommutabilis,22 die Menschen und die ganze Schöpfung sind hingegen veränderlich. 23 Dass beide Autoren dies so programmatisch an den Anfang setzen, zeigt, welchen hohen Stellenwert die Unveränderlichkeit und Beständigkeit im Denken ihrer Zeit hatte; christliche Denker sind und bleiben darin Erben der antiken Philosophie, für die Wandel und Veränderung der „ontologische Skandal“ schlechthin war.24 Nach Isidor ist die Unveränderlichkeit exakt die Eigenschaft, die Gott seinen einzigartigen Stellenwert gibt und ihn zum summum bonum macht: Summum bonum Deus est, quia incommutabilis est et corrumpi omnino non potest. Creatura uero bonum, sed non summum est, quia mutabilis est ut, dum sit quidem bonum, non tamen esse potest et summum.25 Das höchste Gut ist Gott, weil er unveränderlich ist und auf keine Weise dem Verfall unterliegen kann. Die Schöpfung ist zwar ein Gut, aber nicht das Höchste, weil sie veränderlich ist, sodass sie, wenn sie auch ein Gut ist, dennoch nicht auch das Höchste sein kann.
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Vgl. dazu MERKI 1959, 459–479; dass die Gottebenbildlichkeit den seelisch-geistigen Aspekt des Menschen, nicht seinen fleischlichen Aspekt betrifft, betont Isidor scharf: Male ergo a quibusdam creditur animam hominis esse corpoream, quae pro id ad Dei imaginem facta est, ut, si non incommutabilis ut Deus esset, tamen incorporea ut Deus existeret (sent. 1,12,2b [CCL 111,41 CAZIER]). Vgl. zur augustinischen imago Dei-Auffassung DREVER 2013, 148–152. 21 Augustinus, trin. 10,12,19 (CCL 50,332 MOUNTAIN/GLORIE). Vgl. auch MERKI 1959, 459–479 und zur Nicht-Göttlichkeit der Seele nach Augustinus O’DALY 1994, 327–328. 22 Vgl. Taio von Saragossa, sent. 1,1 (PL 83,731A): Solus Deus in semetipso incommutabilis est, quia solus habet immortalitatem. 23 Vgl. zur mutabilitas bei Augustinus einführend PIETSCH 2018, passim und CARY 2000, 115–117; für Gregor den Großen KISIû 2011, 63–65 und STRAW 1988, 107–127. Für eine ausführlichere Darstellung der Positionen vgl. die Detailanalyse zu carm. 3 in Kap. 5.1. Auch Isidor macht sich die augustinische Unterscheidung der menschlichen mutabilitas in (1) die räumliche und zeitliche Veränderlichkeit des Körpers und der stofflichen Welt und (2) die bloß zeitliche Veränderlichkeit des Geistes bzw. der Seele ebenfalls zu eigen; vgl. Isidor von Sevilla, sent. 1,12,6a (CCL 111,42 CAZIER): Mutabilis est anima non localiter, sed temporaliter suis affectionibus. Corpus autem et loco, et tempore mutabilis, quia et tempore mutatur, et uariatur loco. 24 Vgl. BYNUM 1995a, 56: „Change was the ontological scandal to ancient philosophers.“ 25 Isidor von Sevilla, sent. 1,1,1 (CCL 111,7 CAZIER).
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Dieser fundamentale Unterschied müsste jedoch einen grundsätzlichen anthropologischen Optimismus noch nicht schwächen; denn dass der Mensch der Möglichkeit nach veränderlich ist, muss nicht heißen, dass er auch tatsächlich der Veränderung unterworfen ist. So gelten auch die Engel als zwar von Natur aus veränderlich, durch ihre Nähe zu Gott partizipieren sie aber an dessen Unveränderlichkeit.26 Dies wäre auch dem Menschen möglich gewesen, wenn er sich nicht durch den Sündenfall von Gott als Quelle der Stabilität abgewandt hätte.27 Erst durch den Sündenfall wird die condicio humana mit all dem assoziiert, was sie (in der faktischen Verwendung des Wortes) oft zu einem Negativ-Begriff macht: mit der körperlichen und seelischen Fragilität und Schwäche, insbesondere mit der Vergänglichkeit,28 aber auch mit der Unbeständigkeit des menschlichen Geistes und der Seele.29 Diese ‚doppelte‘ mutabilitas des homo exterior und homo interior reflektiert insbesondere Gregor der Große, für den die mutabilitas eine zentrale Denkfigur ist, in seiner Auslegung von Ijob 14,2: „Und [der Mensch] flieht wie ein Schatten und bleibt niemals im selben Zustand.“30 6.2.1 Die körperliche Bedrohung des Menschen: Sterblichkeit und Vergänglichkeit Insbesondere äußert sich die mutabilitas des Menschen nach dem Sündenfall in seiner körperlichen Fragilität. Nach patristischem Konsens ist der (körperliche) Tod eine Folge des Sündenfalls und damit der Abwendung von Gott31 – ein Gedanke, mit dem wiederum ein anderer wichtiger Traktat des wisigotischen Spaniens beginnt, der zwar nach dem Tod des Eugenius, aber aus einem gemeinsamen Umfeld heraus entstand: Julian von Toledo eröffnet sein Prog-
26 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 1,10,3 (CCL 111,30 CAZIER): Et dum sint mutabiles natura, non tamen sinit eos contemplatio mutari diuina. 27 Vgl. zu dieser Interpretation auch der augustinischen Sündenfall-Theorie DREVER 2013, 145–146. 28 So analysiert POLLMANN 1996, 87–89 den Begriff der condicio humana in Augustinus’ de doctrina christiana und stellt fest, dass Augustinus den Begriff durchaus als neutralen Reflexionsbegriff verwenden kann, ihn aber auch oft in genanntem negativem Sinne gebraucht. Vgl. auch BALMER 2020, 12–13 und zum Begriff fragilitas bei Augustinus BARTELINK 1991, passim. 29 Vgl. etwa Ambrosius von Mailand, in psalm. 47,8,2 (CSEL 264,352 PETSCHENIG): procliuis enim et mutabilis in utrumque est humana condicio, ut quocumque intenderit eo propendat et uergat uel ad studia uirtutum uel ad inlecebram delictorum. 30 Vulg. Ijob 14,2 (742–743 WEBER/GRYSON): et fugit uelut umbra et numquam in eodem statu permanet. Vgl. Gregor der Große, moral. 11,50,68 (CCL 143,624 ADRIAEN) und zu dieser doppelten Erbsündenfolge bei Gregor GRESCHAT 2005, 89–92 und KISIû 2011, 63– 66. Vgl. auch STRAW 1988, 107–127. 31 Vgl. für Gregor den Großen KISIû 2011, 64 und GRESCHAT 2005, 91.
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nosticon futuri saeculi mit der Frage des Ursprungs des Todes: Mors in hominibus de peccati propagine uenit.32 Diesen Umstand erläutert Julian genauer mit einem Zitat aus den Moralia Gregors des Großen: Sic namque immortalis est conditus, ut tamen si peccaret et mori posset; et sic mortalis est conditus ut si non peccaret, etiam non mori posset.33 [Der Mensch] wurde nämlich auf eine Weise unsterblich erschaffen, dass er, wenn er sündigen würde, dennoch sterben könnte; und er wurde auf eine Weise sterblich erschaffen, dass er, wenn er nicht sündigen würde, auch nicht sterben könnte.
Freilich wird damit nicht nur der erste Mensch, der diese Sünde beging, durch die Sünde sterblich, sondern die Sterblichkeit prägt sich daraufhin dem Menschengeschlecht wie eine Wunde ein. Auch die faktische Notwendigkeit des Todes wird damit dem Menschen zur ‚Natur‘, indem sie ihm gleichsam angeboren ist.34 Die Ursachen für den Tod werden von Eugenius freilich an keiner Stelle hinterfragt. Der Tod wird als Tatsache hingenommen, und wo er nicht leidenschaftlich beklagt wird, gilt das Hauptinteresse den Konsequenzen, die der Mensch daraus zu ziehen hat (vgl. insbesondere carm. 2 und 5). 32
Julian von Toledo, progn. 1,2 (CCL 115,19 HILLGARTH). Es folgt ein langes Zitat aus Augustinus, civ. 13,1 (CCL 48,385 DOMBART/KALB), in dem ausgeführt wird, dass die Menschen ursprünglich den Engeln glichen und somit ebenso ewig und unsterblich gewesen seien, bis schließlich durch den Sündenfall der Tod sie als Sündenstrafe ereilt habe. 33 Gregor der Große, moral. 4,28,54 (CCL 143,198 ADRIAEN); zitiert in Julian von Toledo, progn. 1,3 (CCL 115,20 HILLGARTH). 34 Vgl. Augustinus, civ. 13,3 (CCL 48,386–387 DOMBARTH/KALB): pro magnitudine quippe culpae illius naturam damnatio mutauit in peius, ut, quod poenaliter praecessit in peccantibus hominibus primis, etiam naturaliter sequeretur in nascentibus ceteris. Vgl. für die typische augustinische Erklärung der Weitergabe dieser Sündenstrafe über ein vertragsrechtliches Modell LÖHR 2007, 500–501. Einleuchtender sieht ZIZIOULAS 2019, 209 dies bei den griechischen Vätern erklärt: „If we define the fall as the claim of the human being to be God, i.e. the ultimate point of reference in creation[,] Adam’s disobedience appears to be not a moral problem, but an ontological one. This seems to have been the view of the Greek fathers in particular, who saw in death not a punishment for disobedience but a wound inflicted on our nature, a disease owing to the collapse of our bond with God and creation.“ Der Unterschied zwischen den griechischen und lateinischen Kirchenvätern dürfte jedoch – wenigstens bis Gregor – nicht so groß gewesen sein, wie oft angenommen. Gerade bei Augustinus werden in jüngster Zeit ähnliche anthropologische Strukturen verstärkt wahrgenommen; vgl. ROSENBERG 2017, 106–109. Diese Sichtweise lässt sich noch bei Gregor gut erahnen, der den Tod als eine gleichsam automatische Konsequenz des Verlassens des status constantiae beschreibt: Vanitati quippe creatura non uolens subditur quia homo, qui ingenitae constantiae statum uolens deseruit, pressus iustae mortalitatis pondere, nolens mutabilitatis suae corruptioni seruit (Gregor der Große, moral. 4,34,68 [CCL 143,213 ADRIAEN]), vgl. dazu KISIû 2011, 63–64 und GRESCHAT 2005, 89–91. Mit der mutabilitas ist auch bei Augustinus der Tod assoziiert, vgl. civ. 13,10 (CCL 48,341 DOMBART/KALB): hoc enim agit eius mutabilitas toto tempore uitae huius (si tamen uita dicenda est), ut ueniatur in mortem.
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Auch erscheinen die zum Ausdruck gekommenen Einstellungen gegenüber dem Tod zunächst nicht rundherum negativ: So kann nach dem Tod tatsächlich die so oft ersehnte Ruhe das lyrische Ich erwarten (vgl. carm. 4,7: pax fessis requies, pax denique certa laboris; carm. 5,27: sit quies post transitum). Am deutlichsten kommt dies überraschenderweise ‚außerhalb‘ des Libellus carminum zum Ausdruck, in den Monosticha, in denen Eugenius am Ende seiner Bearbeitung des Dracontius-Werkes den dort fehlenden siebten Schöpfungstag in aller Kürze ergänzt. Er wählt dazu eine Reihe typologischer Deutungen der Sabbatruhe aus, die schließlich auch als Typologie des Todes (als ‚siebtes‘ Alter des Menschen nach den aufgezählten sechs Altersstufen von der Kindheit bis zum Greisenalter) verstanden wird.35 Der Tod ist somit die Sabbatruhe im Leben des Menschen:36 Dicta Dei requies, quod nos post mille labores solus ubique fouens in se requiescere cogit nec datur ulla quies miseris nisi suscipit ipse.37 Man nennt es die Ruhe Gottes, weil uns nach tausenden Mühen er allein, von allen Seiten uns bergend, zur Ruhe in sich zieht und es kein Ruhen gibt für uns Arme, wenn nicht selbst er uns aufnimmt.
Innerhalb des Libellus carminum kehrt die Chiffre des Friedens und der Ruhe als Gegenbild zu jeder Art leidvoller Zustände immer wieder, was auch an Augustinus’ Sehnsucht nach quies in Gott erinnert, die sich insbesondere durch seine persönlicheren Werke zieht.38 Programmatisch ist hier carm. 4, in dem der Friede und seine zahlreichen ‚Definitionen‘, wozu die Ruhe von den irdischen Mühen, aber eben auch das Leben der Seele gehört, letztlich mit dem dreifaltigen Gott gleichgesetzt werden. Damit erscheint Gott letztlich als die einzige Rettung vor den Wechselfällen der menschlichen Existenz. Vor diesem Hintergrund erst kann Eugenius auch in den Epitaphen für geliebte Verstorbene, deren Tugendhaftigkeit gepriesen wird, seine Überzeugung ausdrücken, dass man über deren Tod „nicht lange weinen darf“,39 da sie in Gott leben und auferstehen werden.
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Vgl. Eugenius von Toledo, monost. 27 (CCL 114,390 ALBERTO): sex sunt aetates hominis et septima mors est. Vgl. zu diesen Altersstufen bei Augustinus und der Typologie im Hinblick auf die Weltzeitalter FUHRER 2012, 272–273. 36 Vgl. zur Sabbatruhe, die auch ein augustinisches eschatologisches Motiv ist, MÜLLER 2006, 162–166. 37 Eugenius von Toledo, monost. 19–21 (CCL 114,389–390 ALBERTO). 38 Vgl. STAMMKÖTTER 2004, 25. Vgl. für einen Überblick über westliche patristische Friedenskonzepte (in der sozialen ebenso wie spirituellen Dimension des Begriffs) RENNA 1980, 145–150. 39 Eugenius von Toledo, carm. 21,2 (CCL 114,236 ALBERTO): non iacet in tumulo res lacrimanda diu.
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Bereits in dieser positivsten Beschreibung des Todes ist jedoch eine bedeutende Bedingung eingebaut: non […] nisi suscipit ipse. Der Tod bringt nur dann Ruhe, wenn Gott sie nach dem Tod schenkt. Eigentlich ist diese Ruhe in Gott sogar die Negierung des Todes: die animae uita, wie Ruhe und Frieden in carm. 4 genannt werden, und der Zustand, in dem man dann ‚nicht mehr sterben wird.‘40 Meist vertraut das lyrische Ich (für sich) aber nicht auf diesen guten Ausgang des Todes, sondern sieht ihm mit Schrecken entgegen als dem Punkt, in dem die höchste existentielle Krise wartet: das Gericht, das über postmortales Wohl und Wehe entscheidet. In aller Kürze bringt Eugenius dies in einem ‚theologischen Epigramm‘ auf den Punkt: Mors prima pellit animam, secunda retentat, ut nolens subeat meritam de corpore poenam.41 Der erste Tod vertreibt die Seele, der zweite hält sie zurück, damit sie, ohne zu wollen, gerechte Strafe hinsichtlich des Körpers erleide.
Nach dem ersten, körperlichen Tod droht also noch ein zweiter Tod (vgl. Offb 20,6), der freilich dadurch charakterisiert ist, dass dabei nicht gestorben wird, das Dahinsiechen des Menschen in Höllenqualen aber auch nicht als Leben bezeichnet werden kann.42 Besonders augenscheinlich ist diese Bewertung des Todes im langen carm. 14, in dem die Schrecken des Alters nicht nur im körperlichen Verfall, sondern auch im unausweichlichen Zugehen auf den Tod und das dahinter wartende Gericht bestanden – ganz anders als bei dem parallelen ‚Altersdichter‘ Maximian, der den Tod sogar herbeisehnte und in ihm das Ende seiner Leiden sah.43 Der Tod scheint dem lyrischen Ich jedoch nicht nur aufgrund dessen, was danach zu befürchten ist, verhasst, sondern auch in sich. Wie dem Alter wird in carm. 14 auch dem Tod eine Art ‚Anti-Hymnus‘ gewidmet und die mors omniuorax, der Allesverschlinger Tod, in den schwärzesten Farben geschildert. Der Grund für die Schmähung des Todes ist zunächst, dass er dem Menschen alles nimmt, woran dieser sein Herz hängen konnte (die uitae gaudia und die lux radiata in carm. 14,41–42; auch die Beziehungen zu geliebten Menschen brechen in carm. 5,16–17 durch den Tod ab). In carm. 5,18 wird zusammengefasst: cuncta te procul abibunt, quae amasti dulciter.
40 Vgl. die Gleichsetzungen von Friede = Gott = Ruhe = animae uita in carm. 4,5 (CCL 114,210 ALBERTO), sowie eines von Eugenius’ hoffnungsvolleren Auto-Epitaphen, carm. 19,2 (CCL 114,235 ALBERTO): nec iam post tumulum sic moriturus ero. 41 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 95 (CCL 114,273 ALBERTO). 42 Vgl. Augustinus, serm. 306 (PL 38,1402): et mors secunda, et mors uocatur, et nemo ibi moritur. satius et melius dixerim, nemo ibi uiuit. in doloribus enim uiuere, non est uiuere. Vgl. auch Julian von Toledo, progn. 3,32 (CCL 115,106–107 HILLGARTH). Vgl. zur biblischen Basis Offb 20,6.14. 43 Vgl. dazu das Fazit der Detailanalyse von carm. 14 in Kap. 5.4.3.
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Jedoch hat der Tod auch eine schmerzhaft desillusionierende Wirkung auf das Selbstbild des Menschen. Indem im Anti-Hymnus in carm. 14 geschildert wird, wie sämtliche Körperfunktionen des Menschen, vom Augenlicht bis zur Wärme des Blutes, durch den Tod zunichtegemacht werden, wird der Mensch selbst gewissermaßen demontiert, sodass nur noch das übrigbleibt, was der Mensch nach Gen 3,19 schon immer ist: Erde und Staub – sic species hominis fit putrefacta cinis (carm. 14,50). In Anlehnung an Ijob 25,6 akzeptiert das lyrische Ich dies kurz darauf als Beschreibung seines eigenen Wesens und gibt zu, nichts weiter zu sein als „Wurm, Fäulnis, Asche“: uermis, putredo, fauilla (carm. 14,59). Die bewusst ekelerregenden Bilder repräsentieren dabei den körperlichen Verfall als Inbegriff der existentiellen Bedrohung durch die Veränderlichkeit, die Caroline Walker Bynum als eine zentrale Angst der Spätantike beschrieben hat.44 Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die Schilderungen der Alterskrankheiten und Leiden in carm. 14, in denen Körperteile und Sinnesorgane im Verfall begriffen, aber noch nicht ‚am Ende‘ sind, wie eine logische Verlängerung des Todes nach vorne, ins Leben hinein. In den Schmerzen und Leiden des Körpers wird der Tod gewissermaßen schon gegenwärtig und kündigt sich im Voraus an – obgleich in carm. 2 jeder Mensch, ob leidend oder nicht, aufgerufen wird, ihn beständig zu bedenken. Bereits in carm. 5 klagte das lyrische Ich: languor instat improbus, uita transit, finis urget. Auch darin ist eine Linie patristischer Anthropologie zu erkennen, die nicht nur die grundsätzliche Todesverfallenheit des menschlichen Körpers, sondern auch seine schon zu Lebzeiten immer wieder zu spürende Schwäche als ‚Symptom‘ der mutabilitas und damit seiner Todesneigung betrachten kann. Augustinus etwa geht davon aus, dass vor dem Sündenfall und damit der Korruption der menschlichen Natur der Körper des Menschen keine Krankheit und kein Leid (und keinen Sexualtrieb) kannte.45 Umgekehrt gilt dem Körper die eschatologische Hoffnung, dass er, in der Auferstehung gewandelt, jene Stabilität und Beständigkeit wiedererlangen wird, die er verloren hatte.46 Der Ausdruck dieser Hoffnung ist eines der seltenen explizit theologischen Äußerungen, die uns von Eugenius über den ihn zitierenden Julian erhalten sind: Der Auferstehungsleib, so Eugenius, werde keine deformitas, keine doloris aut laboris aduersitas mehr haben, dafür aber 44
Vgl. BYNUM 1995a, 56–57. Vgl. MANN 2001, 47 und Augustinus, Gn. litt. 11,32 (CSEL 28/1,365 ZYCHA): misso quippe statu mirabili corpus ipsum – qui status etiam de ligno uitae uirtute mystica praebebatur, per quem nec morbo temtari nec mutari aetate potuissent, […] – hoc ergo amisso statu corpus eorum duxit morbidam et mortiferam qualitatem. 46 Vgl. zu Augustinus’ Auffassung des Auferstehungsleibes (der allerdings nicht in allen Eigenschaften mit dem prälapsarischen Leib Adams übereinstimmt) HORN 2020, 192–193 und FUHRER 2009, 488. Vgl. zur körperlichen Auferstehung als Hoffnungsperspektive gerade für die an ihrem Körper leidenden BYNUM 1995a, 19–108. 45
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eine Schönheit, die die Menschen erfreut, ohne sie zur Sünde zu verführen.47 Demgegenüber erscheint der unerlöste Körper der Carmina als das exakte Gegenbild. Die Biographie des Eugenius legt nahe, dass er diesen Aspekt der condicio humana wahrscheinlich in beträchtlichem Maße, in jedem Fall aber sehr bewusst selbst erfuhr und dies nach außen hin kundtat. Auch in den Carmina ist oft eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Körper und seine Befindlichkeiten zu bemerken. Die einschlägigen Gedichte sind hier sicherlich carm. 13 und die bereits genannten Altersschilderungen in carm. 14. Aber auch in Gedichten, in denen man dies nicht ohne Weiteres erwarten würde, tritt eine solche Aufmerksamkeit auf: So etwa in den carm. 6 und 7. Die zwei dargestellten Laster, Trunksucht und Völlerei, werden detailliert in ihren Auswirkungen auf den Körper beschrieben; der Abschreckungseffekt wird gerade durch die starke Ähnlichkeit zu den Krankheitsschilderungen der anderen Gedichte konstituiert.48 Dasselbe gilt für das carm. 101 über die Sommerhitze, das einerseits das Wüten der Sommerinsekten gegen den Körper, aber auch das Leiden unter der Hitze wie unter einem schweren Fieber beschreibt, das die moribunda membra dahinsiechen lässt – auch solcherlei doch relativ ‚alltägliche‘ Plagen, die nicht direkt den Tod fürchten lassen, vergegenwärtigen dem lyrischen Ich also seinen eigenen sterblichen Zustand. 6.2.2 Die seelisch-geistige Bedrohung des Menschen: Leid und Sünde Gerade in solchen Kontexten der Beschreibung körperlichen Leides wird auch deutlich, dass die körperliche Sphäre des lyrischen Ichs nie als von der seelischen Sphäre getrennt verstanden wird. Besonders deutlich wird dies in carm. 13, einem Gedicht, das ausschließlich der Krankheit gewidmet scheint, in dem aber knapp die Hälfte der beschriebenen Leiden nicht körperlicher Natur sind, sondern das ‚sekundäre‘ Leiden der Seele darstellen. Die körperliche Erschöpfung wirkt sich dahingehend aus, dass das lyrische Ich auch innerlich gebrochen ist (carm. 13,2: fractus animo). Körperliche Leiden führen zum Lebenshass: dum male corpus habet, nec mea uita placet. Insbesondere wenn die Leiden überhandnehmen, kann der Geist über seine Grenzen hinaus belastet sein, was beim lyrischen Ich zu verzweifelter Klage führt: Da, Christe, quaeso, ueniam, da, Christe, medellam, nam taedet animum tot mala ferre simul.49 Schenke, ich bitte dich, Christus, Vergebung, schenke, Christus, Heilung, denn meinen Geist widert es an, so viele Übel auf einmal zu ertragen.
47
Vgl. für die Durchsicht der Stellen Kap. 2.2.2. Vgl. die kursorische Lektüre von carm. 6 und 7 in Kap. 4.5. 49 Eugenius von Toledo, carm. 13,9–10 (CCL 114,226 ALBERTO). 48
6.2 Die doppelte Instabilität des Menschen
397
Gerade das taedium am Leben insgesamt oder an anderen Freuden ist auch in carm. 14 noch einmal eine prominente Auswirkung des körperlichen Leidens, die freilich, da sie die Seele in eine gute Bußdisposition zu bringen vermag, auch eine Möglichkeit aufzeigt, das Leid mit einem gewissen Sinn zu füllen (vgl. dazu später Kap. 8.2.2). Die enge, unlösliche Verbindung zwischen dem Körper und dem Geist/der Seele des Menschen und die daher geschehende Vermittlung des Leides durch den Körper an die Seele ist ebenfalls ein patristischer Allgemeinplatz. Bereits das Schmerzempfinden selbst ist nach Augustinus nur in der Verbindung aus Körper und Seele, die er anderswo ein dulce consortium50 nennt, möglich, da der Körper gewissermaßen der Rezeptor des Schmerzes ist, aber erst die Seele als das Prinzip, das dem Körper Leben und Fühlen verleiht, überhaupt dessen Empfinden konstituieren kann – das ja dem leblosen Körper auch nicht zu eigen ist.51 Dass durch die passiones des Körpers auch die Seele beeinflusst wird, ist nach Augustinus sogar eine eigene Form der mutabilitas der Seele.52 Freilich geht es dem Eugenius beim Leid seines animus, seiner anima und seiner mens im Gefolge körperlichen Leides, wie es in carm. 13 beschrieben wird, nicht um das reine Wahrnehmen des körperlichen Schmerzes in der Seele, sondern auch um ‚sekundäre‘ seelisch-geistige Zustände, die sich daraus ergeben. Sehr einfach erscheint dieser Zusammenhang im carm. 7 gegen die Völlerei, die den Körper träge und müde mache und daher geistigen Betätigungen hinderlich sei. In carm. 13 sind die Auswirkungen auf die Seele bzw. den Geist zunächst eine umfassende Gebrochenheit durch das Leid, das der animus nicht mehr bewältigen kann, im Speziellen aber auch Furcht (pauor) und das bereits erwähnte taedium. Letztere beide Aspekte werden in carm. 14 stärker rationalisiert und als Folge der Erkenntnis der Nichtigkeit der diesseitigen Welt und der Furcht vor dem nahen Tod erklärt. Auch diese Prozesse sind aber durch das körperliche Leid zumindest angestoßen. In carm. 5b ist es ebenfalls die Furcht vor den Leiden des drohenden Krieges und dem Tod, die die Menschen erschüttert. Dieser Furcht steht in carm. 5b immer wieder die Chiffre der quies 50
Augustinus, ep. 140,6 (CSEL 44,167 GOLDBACHER). Vgl. dazu HUNTER 2012, 356. Vgl. Augustinus, civ. 21,3 (CCL 48,760 DOMBART/KALB): animae est enim dolere, non corporis, etiam quando ei dolendi causa existit a corpore, cum in eo loco dolet, ubi laeditur corpus. sicut ergo dicimus corpora sentientia et corpora uiuentia, cum ab anima sit corpori sensus et uita: ita corpora dicimus et dolentia, cum dolor corpori nisi ab anima esse non possit. Vgl. auch BYNUM 1995b, 15 zur Frage nach einem Leib-Seele-Dualismus im spätantiken/mittelalterlichen Denken: „[T]hese thinkers would not have understood the question (frequent in modern circles): Is pain in my body or in my mind?“ 52 Vgl. O’DALY 1994, 328–330 und Augustinus, imm. an. 5,7 (CSEL 89,108 HÖRMANN): namque aut secundum corporis passiones, aut secundum suas, anima dicitur immutari. secundum corporis, ut per aetates, per morbos, per dolores, labores, offensiones, per uoluptates. secundum suas autem, ut cupiendo, laetando, metuendo, aegrescendo, studendo, discendo. 51
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bzw. der pax (die in carm. 4 sowohl miteinander als auch mit Gott gleichgesetzt werden) gegenüber, die dort als Gegenstück zu den äußeren Bedrohungen, aber auch zur dadurch ausgelösten seelischen Erschütterung erscheint.53 Darüber hinaus kennt Eugenius auch einen Schmerz, der seinen Ursprung nicht im Körper hat. Insbesondere in carm. 35 beschreibt er einen geradezu unsagbaren Schmerz (der ihn trotzdem dazu drängt, Verse zu schreiben), dessen Ursache das Zerbrechen einer Beziehung ist: das Zerwürfnis mit einem dem lyrischen Ich teuren Freund, was Eugenius wiederum als die Ruptur der pax, die beide Freunde in Gott verbunden hatte, durch die discordia beschreibt. In diesem Gedicht wird nicht völlig klar, ob die Dichter-persona den Streit mit dem Freund als Sünde verstanden wissen will. Wir erfahren nichts über die Gründe des Streites, nur über den „durch harte List schwach gewordenen Frieden.“54 Vor dem Hintergrund einer der Bitten in carm. 1, ein „fester Freund“ (fixum […] amicum) sein zu dürfen, liegt es aber nicht völlig fern, das Scheitern an diesem Anspruch als sündhaft aufzufassen. Im folgenden Gedicht, das von der Versöhnung mit dem Freund berichtet, ist dann auch rückblickend von der List eines „perversen Dämon“ und einer „Verderben bringenden Schlange“ die Rede, die schon in carm. 4 als Antagonistin des Friedens aufgetreten war und natürlich an die biblische Schlange als Verführerin zur Sünde erinnert. Wenn dies der Fall ist, dann beschreiben carm. 35 und 36 tatsächlich auch ein innerweltliches Leiden an der Sünde, das nicht erst aus der Furcht vor postmortaler Strafe entsteht – was in Eugenius’ Gedichten sonst immer der Anlass für das Bedenken der Sünde ist. Die Aufhebung des Streites und das Wiedereintreten des Friedens wird von Eugenius im Bild der ‚Stabilisierung‘ der Betroffenen und der ‚Rückformung‘ des zerschundenen Geistes zum ursprünglichen Zustand hin beschrieben: et uenit ad primum mens lacerata modum.55 Die innere Instabilität, die mit der Schwäche des menschlichen Willens und seiner Neigung zur Sünde einhergeht, ist im patristischen Denken freilich die wichtigste Form und Folge der inneren Instabilität des Menschen, die besonders Gregor beklagt.56 Wie angedeutet, ist die Sünde ein Problem, das Eugenius vor allem in ‚pragmatischer‘ Hinsicht, in Bezug auf die Möglichkeiten ihrer Tilgung und der Vermeidung der Sündenstrafe beschäftigt. An einer Stelle des Gedichtbuches, carm. 3, werden jedoch auch Gedanken zu den Ursachen der Sünde greifbar. In beinahe unmittelbarer Nähe zu carm. 1, in dem das lyrische Ich noch den Wunsch nach moralischer Rechtschaffenheit geäußert hatte, beschreibt der Dichter in objektivierender Manier die Unfähigkeit 53 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 5b,34–36 (CCL 114,214 ALBERTO): Mors ecce dira nostra pulsat pectora, / fames perurget, tela belli concrepant; / concede, Christe, iam quieta tempora. Vgl. auch carm. 5b,44–45 (CCL 114,214 ALBERTO): assiste fessis et iacentes erige, / bellum pauentes iam quietos effice. 54 Eugenius von Toledo, carm. 35,12 (CCL 114,250 ALBERTO): duris pax tenuata dolis. 55 Eugenius von Toledo, carm. 36,4 (CCL 114,251 ALBERTO). 56 Vgl. KISIû 2011, 65–67, GRESCHAT 2005, 90–92 und STRAW 1988, 109–110.
6.2 Die doppelte Instabilität des Menschen
399
des menschlichen Geistes, festen Kurs zu halten: Nescia mens nostri fixum seruare tenorem.57 Die Auswirkungen dieser Unfähigkeit betreffen sowohl den Willen und die Neigungen des Menschen als auch das moralische Urteil, sodass der Mensch zwischen Rechtschaffenheit und Sünde hin- und herschwankt. Eine Theorie dieser Instabilität, wie sie etwa Augustinus detailliert aus den noetischen Bedingungen der Seele entwickelt und wie wir sie andeutungsweise auch bei Gregor vorfinden, legt Eugenius natürlich nicht vor, auch wenn wir Bestandteile solcher Theorien, etwa den Einfluss der Zeit, eventuell in der sprachlichen Gestaltung des Gedichtes wiederfinden können. In den Gedichten mit Bußcharakter hütet sich die Dichter-persona dagegen auffällig davor, in irgendeiner Weise Gründe vorzulegen, die das umfassende Schuldeingeständnis schmälern und um Verständnis für die Sündhaftigkeit des lyrischen Ichs werben könnten – ganz im Unterschied zu Dracontius in seiner Satisfactio, der sich deutlicher auf die condicio humana, also auf die Universalität der Sünde und daher auch die Vergebungswürdigkeit seiner individuellen Verfehlung beruft.58 Eugenius’ Dichter-persona ‚argumentiert‘ nicht mit Gott, sondern ergeht sich in Selbstvorwürfen und appelliert an Gottes Güte und Milde. Diese soll sich jedoch nicht nur auf das Erlassen der Sündenstrafe beziehen, auch wenn die Furcht vor dieser dem lyrischen Ich stets präsent scheint, sondern der Sprecher wünscht sich auch, trotz seines Abgleitens in den sündigen Zustand selbst wieder ‚gut‘ zu werden: effice post lapsum, post mala tanta bonum.59 Auch in carm. 5b bittet die betende Gemeinde nicht nur um das Erlassen der Strafe, sondern auch um die Heilung der zerschundenen Herzen, um die Zerstörung der begangenen Schandtaten und um das Lösen der Fesseln der Schuld.60 6.2.3 Der Kontext der Instabilität: Die verführerische und feindliche Welt Bereits bei Augustinus ist die postlapsarische seelische mutabilitas des Menschen untrennbar mit dem Leben des Menschen in der Welt verknüpft. Mutabilitas beschreibt schließlich nicht nur den ontologischen Unterschied zwischen Gott und Mensch, sondern auch zwischen Gott und der Welt (deren Teil sowohl der individuelle Mensch als auch die menschliche Gesellschaft selbstverständlich sind), die Gott ex nihilo geschaffen hat und die daher immer, wenn nicht Gott sie erhält, zu diesem Nichts zurücktreibt.61 Gemäß dem oben zitierten Anfang der Sententiae Isidors, in denen er augustinisches Gedankengut wiedergibt, ist die Schöpfung zwar gut, aber eben nicht das höchste Gut, das 57
Eugenius von Toledo, carm. 3,1 (CCL 114,209 ALBERTO). Vgl. zu Dracontius’ Rechtfertigungsstrategien FALCONE 2020, 237–239 sowie GALLI MILIû 2009, passim. 59 Eugenius von Toledo, carm. 14,76 (CCL 114,231 ALBERTO). 60 Eugenius von Toledo, carm. 5b,33.38.53 (CCL 114,214–215 ALBERTO). 61 Vgl. DREVER 2013, 144–145 und MAYER 2002, 78–79. 58
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6 Die condicio humana als Grundperspektive der Carmina
Gott allein ist.62 Das ‚Drama‘ des menschlichen Leidens ergibt sich folglich nicht aus der Schlechtigkeit der Welt selbst, sondern daraus, dass der Mensch sich von Gott ab- und dem Veränderlichen zugewandt hat: est ita ut dicis, et adsentior peccata omnia hoc uno genere contineri, cum quisque auertitur a diuinis uereque manentibus et ad mutabilia atque incerta conuertitur.63 Es ist so, wie du sagst, und ich stimme dir zu, dass alle Sünden von dieser einen Art [der Sünde] umfasst werden, dass jeder sich von dem Göttlichen und wahrhaft Beständigen abwendet und dem Wandelbaren und Ungewissen zuwendet.
‚Weltverachtung‘ bedeutet bei Augustinus also nicht, dass die Welt in sich verachtenswert wäre, sondern dass sie nicht anstelle ihres Schöpfers geliebt werden darf.64 Dies gelingt dem Menschen aufgrund seiner durch die Erbsünde initiierten Entfernung von Gott zwar kaum, muss aber dennoch in einem oft langwierigen spirituellen Prozess versucht werden. Diese Auffassung manifestiert sich in einem breiten Konsens monastischer, spiritueller und asketischer Diskurse, dass man sich aus der Diesseitsorientierung, der Verhaftung in das bloß Irdische, lösen müsse – auch wenn die Ansichten, auf welche Weise und in welchen asketischen Formen dies geschehen solle, stark differieren.65 Die grundsätzliche Notwendigkeit sieht auch Eugenius, wie wir bereits aus seinem in carm. 1 ausgedrückten Wunsch, ‚die Welt zu besiegen‘ (carm. 1,19: uincere mundum), heraushören konnten. Sie spricht auch aus seiner wiederkehrenden Polemik gegen die uana/falsa mundi gaudia (vgl. carm. 5,10 und carm. 14,32), denen das lyrische Ich immer wieder zu verfallen droht, die es von sich weisen muss und die gemieden zu haben als großes Verdienst der Märtyrerinnen und Märtyrer dargestellt wird (vgl. carm. 9,5). Freilich finden wir wiederum nur Ansätze einer Klärung der dahinterstehenden Prämissen. Gemäß den kommunikativen Absichten des Eugenius
62
Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 1,1,1 (CCL 111,7 CAZIER) und Augustinus, civ. 12,1 (CCL 48, 356 DOMBART/KALB): dicimus itaque inmutabile bonum non esse nisi unum uerum beatum deum; ea uero, quae fecit, bona quidem esse, quod ab illo, uerum tamen mutabilia, quod non de illo, sed de nihilo facta sunt. Vgl. dazu SEELBACH 2014, 472. 63 Augustinus, lib. arb. 1,16,116 (CCL 29,235 GREEN). 64 Vgl. Augustinus, conf. 2,3,24–26 (CCL 27,20 SKUTELLA/VERHEIJEN): in qua te iste mundus oblitus est creatorem suum et creaturam tuam pro te amauit. Vgl. auch MAYER 1994, 1268–1269 und ALFECHE 1984, 48: „Because of these reasons, it is apparent that the material world is not evil in itself but only in relation to man.“ 65 Vgl. für einen Überblick ALSZEGHY 1964, passim; vgl. für Augustinus MAYER 1994, 1268–1269 und für Gregor den Großen KISIû 2011, 71–73 und 112–115. Vgl. für Isidor sent. 2,41,2 (CCL 111,180 CAZIER): Non potest ad contemplandum Deum mens esse libera, quae desideriis huius mundi et cupiditatibus inhiat. Vgl. zur diesbezüglichen ‚Lösung‘ der Wüstenväter BROWN 1988, 216–218; für Augustinus’ Kritik dieser Lebensweise als spirituell elitaristisch LEYSER 2000, 9–12. Vgl. für das Ideal des Mönch-Bischofs, das Weltflucht und kirchliches Leitungshandeln kombiniert, STERK 2004, passim.
6.2 Die doppelte Instabilität des Menschen
401
ist die Notwendigkeit der Lossagung von weltlichen Freuden weniger theologisch begründend als vielmehr persuasiv dargelegt: Die Adjektive uana und falsa transportieren bereits eine Konnotation von Täuschung, von schönem Schein, hinter dem nur Leere zu finden ist. Ähnliches bewirken auch die Umschreibungen der uana mundi gaudia in carm. 14,33–34 als blandimenta noxia, „schädliche Schmeicheleien“. In carm. 5 versucht dementsprechend das lyrische Ich, sich in einem inneren Monolog selbst ‚Realismus‘ beizubringen und sich die doch offenkundige Vergänglichkeit dieser Freuden, von denen man nichts ins Jenseits mitnehmen könne, begreiflich zu machen. In carm. 14 ist es die Erkenntnis der eigenen körperlichen Hinfälligkeit im Alterungsprozess, die dem lyrischen Ich dies deutlich vor Augen führt. Gerade die hier wiederum als Vergänglichkeit zu verstehende mutabilitas der Welt scheint somit ein Grund, ihr zu misstrauen und von ihr innerlich unabhängig zu bleiben – kurz: sie gering zu schätzen wie den Staub, der sie in gewissem Sinne auch ist (carm. 14,30: terrena lucra deputare puluerem). In beiden Gedichten kommt jedoch auch die Vorstellung einer ‚Gegenbewegung‘ zum Tragen, die verdeutlicht, dass ein Anhängen an Irdischem als unvereinbar mit dem Festhalten am Ewigen, Göttlichen betrachtet wird. In carm. 14 soll „alles Vorübergehende“ (carm. 14,28: omnibus, quae transeunt) dadurch ersetzt werden, „Gott zu fürchten und das Immerwährende zu suchen“ (carm. 14,29: Deum timere, sempiterna quaerere). In carm. 5 stellt sich das lyrische Ich folgende rhetorische Frage, in der die Laufmetapher aus carm. 1 wieder aufgenommen wird: Cur caduca non relinquis, curris ad perennia?66 Warum lässt du das dem Verfall Geweihte nicht hinter dir und eilst zum Ewigen?
Der Weg muss also weg vom Vergänglichen und hin zum Ewigen führen. Wir erkennen dahinter die bereits biblische, von der patristischen Theologie entfaltete Auffassung, dass es nicht möglich ist, zwei Herren zu dienen: Gott und der Welt. Die Welt hält jedoch für die Menschen nicht nur Versuchungen bereit, sondern auch Leid, was ebenso eine Konsequenz der Fragilität des Menschen als Sündenfolge ist. Die Frage, inwieweit auch die nicht-menschliche Schöpfung in den Sündenfall des Menschen miteinbezogen ist, selbst ‚fällt‘ und erlösungsbedürftig wird, beantworten christliche Denker durchaus unterschiedlich; im lateinischen Westen herrscht hier meist ein ausgeprägter Anthropozentrismus vor, der das menschliche Leiden unter der condicio des Sündenfalls in den Mittelpunkt stellt.67 So legt etwa Augustinus den biblischen locus classicus zum Leid und der Erlösungsbedürftigkeit der Schöpfung, Röm 8,19–23, als rein auf 66
Eugenius von Toledo, carm. 5,11 (CCL 114,212 ALBERTO). Vgl. für die diesbezüglichen Positionen des Ambrosiaster und des Augustinus BLOWERS 2012, 216–218. 67
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6 Die condicio humana als Grundperspektive der Carmina
den Menschen bezogen aus, der durch seine Zusammensetzung aus Materiellem und Immateriellem sozusagen die ganze Bandbreite der Schöpfung in sich vereine.68 Dennoch zeigt sich gerade in der Verwendung von Topoi wie dem senectus mundi-Thema, das auch Eugenius rezipiert, eine gewisse Neigung, die Gesamtheit des Kosmos in die Vergänglichkeit und Todesverfallenheit des Menschen miteinzubeziehen und den postlapsarischen Zustand des Menschen auf die Welt ‚abfärben‘ zu lassen69 – wie umgekehrt die Transformation und Vervollkomnung im Eschaton auch die nicht-menschliche Schöpfung umfasst.70 Trotz der grundsätzlichen und nicht verlorengehenden Güte der Schöpfung wird in der christlichen Theologie die Welt also dem gefallenen Menschen zu einer feindlichen Umgebung.71 Ein gutes Beispiel dafür, das zudem einen Bezug zu Eugenius’ carm. 101 aufweist, ist die Diskussion über die animalia minutissima – Fliegen, Mücken und andere Insekten – die für den Menschen offenkundig nur schädlich sind. Hier ist der patristische Konsens, auch diese Tiere als in sich gut geschaffen, aber als Mahnung des Menschen an seinen Zustand in der Welt zu betrachten.72 Eugenius ist oft attestiert worden, dass in seinen Gedichten eine feindliche Welt- und Natursicht zum Ausdruck kommt – a „pessimistic view of nature in
68
Vgl. dazu BLOWERS 2012, 217–218 und für eine Durchsicht der relevanten Stellen AL1984. Vgl. z.B. Augustinus, exp. prop. Rm. 45 (CSEL 84,25 DIVJAK): uanitati enim creatura subiecta est non sponte et cetera usque ad id quod ait: et ipsi in nobismetipsis ingemiscimus adoptionem expectantes redemptionem corporis nostri, sic intelligendum est, ut neque sensum dolendi et gemendi opinemur esse in arboribus et oleribus et lapidibus et ceteris huiuscemodi creaturis – hic enim error manichaeorum est – neque angelos sanctos uanitati subiectos esse arbitremur et de his existimemus, quod liberabuntur a seruitute interitus, cum interituri utique non sint, sed omnem creaturam in ipso homine sine ulla calumnia cogitemus. 69 Vgl. BLOWERS 2012, 239. Das senectus mundi-Motiv findet sich bei Cyprian, Origenes, Laktanz, Ambrosius, Augustinus, Hieronymus, Petrus Chrysologus und Gregor dem Großen; vgl. für die relevanten Stellen den Index in DALEY 1991, 299; für Cyprian ZOCCA 1995 und für Gregor den Großen KISIû 2013. 70 Vgl. BLOWERS 2012, 234–241. Vgl. auch Augustinus, civ. 20,16 (CCL 48,726–727 DOMBART/KALB), was Julian von Toledo in progn. 3,46 (CCL 115,116 HILLGARTH) als ‚patristische Summe‘ zitiert und wo ebenfalls ein primär anthropologisches Interesse aufscheint: Illa itaque, ut dixi, conflagratione mundana elementorum corruptibilium qualitates, quae corporibus nostris corruptibilibus congruebant, ardendo penitus interibunt, atque ipsa substantia eas qualitates habebit, quae corporibus immortalibus mirabili mutatione conueniant; ut scilicet mundus in melius innouatus apte accomodetur hominibus etiam carne in melius innouatis. 71 Vgl. DREVER 2013, 146. 72 Vgl. dazu ALBERTO 2003, 354. Vgl. dazu auch die kursorische Lektüre von carm. 101 in Kap. 4.21.
FECHE
6.3 Die Frage nach dem Konnex von Sünde und Leid
403
accordance with Eugenius’s pessimistic view of the world in general“.73 ‚Ambivalent‘ trifft den Kern jedoch, analog zu den skizzierten patristischen Sichtweisen, vielleicht besser als ‚pessimistisch‘. Eugenius kann auch Gutes an der Schöpfung bemerken; etwa Christus für den wunderschönen Gesang der Nachtigall danken (carm. 33,19–20) oder in carm. 34 über die wohltuende Ruhe in der Umgebung von Ulmen und Vogelgesang sinnieren. Gerade carm. 101 zeigt jedoch, dass er nicht bereit ist, die Natur insgesamt bukolisch zu verklären, sondern auch seinem Unbehagen an und in ihr freien Ausdruck verleiht. Eine theologische Wertung der (nicht-menschlichen) Schöpfung und die Frage nach deren Güte scheint ihn dagegen – zumindest in seinen Gedichten – wenig zu interessieren. So ist für ihn in carm. 33 die wohltuende Wirkung des Nachtigallgesangs auf den Menschen entscheidend, in carm. 101 der Verlust der menschlichen Hoffnung auf Ernte in der Dürre und das Leiden des lyrischen Ichs unter den ‚Sommermonstern‘. Auch wenn er in carm. 5 – im Anschluss an das senectus mundi-Motiv, das er von Cyprian von Karthago und Gregor übernimmt – das Kranken und Altern der Welt andeutet, geht es ihm vor allem um die Auswirkungen auf den Menschen, der unter „allen Übeln“, die sich nähern (carm. 5,6: omnia mala propinquant), zu leiden hat. Ein eigenes Recht der Schöpfung deutet sich lediglich – auch hier ähnlich zum patristischen Befund – in den ‚theologischeren‘ Monosticha am Ende seiner Dracontius-Rezension an, in der eine etwas weitere Perspektive eingenommen wird und das eschatologische Ruheversprechen parallel zum Menschen auch der Schöpfung zugesprochen wird: Dicta quoque requies, mundana quod actio praesens post sex aetates, quas mundus in ordine currit, otia percipiens aeterna pace quiescit.74 Man nennt es auch Ruhe, da das gegenwärtige weltliche Treiben nach sechs Zeitaltern, die die Welt der Reih’ nach durchläuft, Muße genießend in ewigem Frieden ruht.
6.3 Die Frage nach dem Konnex von individueller Sünde und individuellem Leid 6.3 Die Frage nach dem Konnex von Sünde und Leid
Aus der vorangegangenen Darstellung dürfte deutlich geworden sein, dass in der zeitgenössischen Theologie unbestreitbar ein ganz grundsätzlicher Zusammenhang zwischen der Sünde und dem Leid gesehen wurde: Das Leid, das der Mensch in der Welt erfährt, erscheint als Folge der Korruption, die die condicio
73 74
CODOÑER 1981, 340. Eugenius von Toledo, monost. 22–24 (CCL 114,390 ALBERTO).
404
6 Die condicio humana als Grundperspektive der Carmina
humana durch den Sündenfall erfährt und die dadurch dem ganzen Menschengeschlecht anhaftet. Besteht dieser Konnex jedoch auch zwischen dem individuellen Leid eines Menschen und dessen individueller Sünde (im Gegensatz zum peccatum originale, das eher als Zustand beschreibbar ist)? Im Laufe der Theologiegeschichte kommen höchst unterschiedliche Auffassungen zum Tragen. So hat Andrew Crislip herausgearbeitet, wie sich die Gesundheit bzw. Langlebigkeit und die Krankheit bzw. der frühe Tod von berühmten Asketinnen und Asketen der Kirchengeschichte auf deren spirituelle Bewertung ausgewirkt hat, und stellt das Vorhandensein beider Modelle fest: Zum einen wird der gesunde Körpers des Asketen als äußerer Ausdruck seiner spirituellen Vollkommenheit, die ihn auch körperlich sozusagen in den paradiesischen Zustand zurückversetzt, gedeutet; zum anderen konnte der (freiwillig oder unfreiwillig) leidende Körper des Asketen als Erweis besonderer spiritueller Kraft – oder als ‚Trainingsfeld‘ derselben – betrachtet werden.75 Die Anwendung dieser Modelle erfolgt freilich stets kontextgebunden und daher in sehr unterschiedlicher Weise: So kann auch ein und derselbe Autor je nach Einzelfall beide Deutungsfolien verwenden.76 Die Frage nach der diesbezüglichen Deutung der Krankheit ist auch im Hinblick auf die Carmina des Eugenius gestellt worden. Anlass war dabei oft das carm. 13, das zunächst rein von der Krankheit des lyrischen Ichs und seinem körperlichen wie seelischen Leiden handelt, in dem aber in der abschließenden Bitte (carm. 13,10) Gott nicht nur um medella gebeten wird, sondern auch um uenia, was sich bei Eugenius meist eindeutig auf die Vergebung der Sünden bezieht. Nach Kurt Smolak drückt sich hier „das zähe Fortleben der Vorstellung der ‚Strafe Gottes‘ als Erklärung für Unheil“77 aus. Blickt man in die zeitgenössische Theologie, erscheint eine solche Interpretation nicht ausgeschlossen, wenn auch das Straf-Modell zwar vorkommt, aber bei weitem nicht das einzige Modell ist, mittels dessen man das körperliche Leid sinnhaft zu interpretieren versuchte. So scheint bei Isidor eine ‚pädagogische‘ Deutung vorzuherrschen: Quosdam uidens Deus nolle proprio uoto corrigi, aduersitatum tangit stimulis. Quosdam etiam praesciens multum peccare posse, in salutem flagellat eos corporis infirmitate, ne peccent, ut eis utilius sit frangi languoribus ad salutem, quam manere incolumes ad damnationem.78
75
Vgl. CRISLIP 2013, passim. Vgl. insbesondere CRISLIP 2013, 81–84 für das Beispiel des Hieronymus, der in unterschiedlichen Einzelfällen unterschiedlichste Deutungen für Gesundheit oder Krankheit der Asketen tätigen kann: Gesundheit kann für ihn ein Erweis asketischen ‚Erfolges‘ sein, Krankheit ein göttliches Erziehungsmittel oder schlicht im unergründlichen Willen Gottes verankert. 77 SMOLAK 2010, 81. 78 Isidor von Sevilla, sent. 3,3,2 (CCL 111,201 CAZIER). Vgl. auch FEAR 2019, 35. 76
6.3 Die Frage nach dem Konnex von Sünde und Leid
405
Einige, bei denen Gott sieht, dass sie sich nicht aus eigenem Wunsch bessern wollen, berührt er mit den Stacheln der Widrigkeiten. Einige, von denen er bereits im Vornherein weiß, dass sie viel sündigen können, schlägt er durch die Schwäche des Körpers zur Gesundheit, sodass es für sie nützlicher ist, von Krankheiten gebrochen zu werden für das Heil, als unbeschadet zu bleiben für die Verdammnis.
Das Leid hat hier also sowohl eine korrektive Funktion, als auch eine präventive, insofern einer noch nicht geschehenen Sünde durch das vorausschauende Eingreifen Gottes zuvorgekommen werden soll. Gerade Gregor der Große als für das wisigotische Spanien überaus prägende, zudem selbst leidende Figur dürfte ebenfalls den Diskurs in bedeutender Weise beeinflusst haben. In seinen Schriften finden wir ähnliche Ansätze zur Deutung des Leides als korrigierende Strafe.79 So will Gregor im Anschluss an Offb 3,19 in seiner Regula pastoralis die Kranken dazu ermahnt sein lassen, sich gerade in dieser Krankheit als geliebte Kinder Gottes zu verstehen, da Gott eben diejenigen züchtige, die er liebe.80 Dabei ist seine Erklärung jedoch nie eindimensional und auch das Modell der korrektiven Strafe wird etwa um den Aspekt ergänzt, es sei gerade ein Kennzeichen der Gerechten, auf Erden in der Fremde, getrennt von der himmlischen Heimat, zu leiden.81 Als Beispiel hierfür gilt ihm insbesondere Ijob, dessen Leiden er über die gesamten Moralia hinweg in ihrer spirituellen Bedeutung erläutert.82 Und auch sein persönliches Leid vermag Gregor damit zu deuten. So vertraut er in seinem Widmungsbrief zu den Moralia Bischof Leander von Sevilla an: quo malis praesentibus durior deprimor, eo de aeterna certius praesumptione respiro.83 Je härter ich von den gegenwärtigen Übeln niedergedrückt werde, desto sicherer bin ich erleichtert in der Vorwegnahme des Ewigen.
Sicher ist folglich, dass nach Gregor von schwerem körperlichem Leiden, etwa einer Krankheit, nicht automatisch auf eine schwere Sünde rückgeschlossen werden kann – dies fälschlicherweise getan zu haben, wirft Gregor in den Moralia den Freunden Ijobs vor.84 Krankheit kann zwar eine Strafe für die Sünde 79
Vgl. dazu STRAW 1988, 220–221. Vgl. zur umfassenden Aufarbeitung der theologischen Einstellungen Gregors zur Krankheit HACK 2012, 105–139. 80 Vgl. Gregor der Große, reg. 3,12 (SC 382,326 ROMMEL): At contra ammonendi sunt aegri, ut eo se dei filios sentiant, quo illos disciplinae flagella castigant. Nisi enim correctis hereditatem dare disponeret, erudire eos per molestias non curaret. 81 Vgl. Gregor der Große, reg. 3,12 (SC 382,326 ROMMEL): Dicendum est aegris, ut si caelestem patriam suam credunt, necessario in hac labores uelut in aliena patiantur. 82 Vgl. Gregor der Große, reg. 3,12 (SC 382,326 ROMMEL) mit Verweis auf Vulg. Ijob 10,15 (740 WEBER/GRYSON): si iustus fuero, non leuabo caput, saturatus afflictione et miseria. 83 Gregor der Große, moral. epist. 5 (CCL 143,6 ADRIAEN). 84 Vgl. Gregor der Große, moral. praef. 5,12 (CCL 143,18 ADRIAEN): Amici ergo beati Iob, dum percussionum genera distinguere nesciunt, percussum pro culpa crediderunt.
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6 Die condicio humana als Grundperspektive der Carmina
sein, ist aber dann Ausdruck der Gnade Gottes, weil dieser die Betroffenen für würdig erachtet, ‚gebessert‘ zu werden. Sogar der umgekehrte Schluss ist denkbar, Krankheit gerade als ein Zeichen zu sehen, dass die Heimat eines Menschen im Himmel ist und dieses ‚Fremdsein‘ auf der Erde sich im leidvollen Erleben der Welt äußert. Darüber hinaus hat Gregor aber auch Erklärungen für die Krankheit parat, die nicht auf den moralischen Zustand des Menschen rekurrieren: Percussionum quippe diuersa sunt genera. Alia namque est percussio, qua peccator percutitur ut sine retractatione puniatur; alia qua peccator percutitur ut corrigatur; alia qua nonnunquam quisque percutitur, non ut praeterita corrigat, sed ne uentura committat; alia qua plerumque percutitur per quam nec praeterita culpa corrigitur nec futura prohibetur sed ut, dum inopinata salus percussionem sequitur, saluantis uirtus cogitata ardentius ametur; cumque innoxius flagello atteritur ei per patientiam meritorum summa cumuletur.85 Denn es gibt verschiedene Arten von Schlägen. Eine Art des Schlages ist nämlich die, durch die der Sünder geschlagen wird, um ohne Besserung bestraft zu werden; eine andere, durch die der Sünder geschlagen wird, um sich zu bessern; eine andere, durch die manchmal jemand geschlagen wird, nicht, damit er Vergangenes verbessere, sondern damit er Künftiges nicht begehe; eine andere, durch die meistens geschlagen wird, durch die weder vergangene Schuld verbessert noch zukünftige verhindert wird, sondern damit, wenn unverhoffte Rettung folgt, an die Güte des Rettenden gedacht und sie umso glühender geliebt werde; und damit, wenn ein Unschuldiger durch Züchtigung aufgerieben wird, ihm durch seine Geduld das Höchstmaß an Verdiensten zukomme.
Aufgrund dieser Darstellungen könnte man beinahe auf den Gedanken kommen, dass Gregor das Leid als etwas Positives, ja Erstrebenswertes galt – vielleicht sogar als das Erkennungszeichen der Gerechten. Wie seine oben zitierte Korrespondenz mit Leander zeigt, konnte er die Krankheit durchaus als etwas deuten, das ihn selbst in besonderer Weise auszeichnete. Die in Kap. 2.2.4 aufgezeigte beliebte Praxis wisigotischer Bischöfe, in ihrer Korrespondenz auf ihre körperlichen Leiden einzugehen, könnte von Gregor inspiriert sein.86 Doch auch die Klage darüber, dass das Leiden über seine Kräfte gehe (verbunden mit der Sorge, dadurch Gott gegenüber mürrisch zu werden), und die Bitte an Gott, seine Leiden zu mildern, hat in seinen Briefen durchaus Platz. So bittet er in einem Brief an Bischof Marianus: Proinde, frater sanctissime, diuinae pro me pietatis misericordiam deprecare, ut percussionis suae erga me flagella propitius mitiget et patientiam tolerandi concedat, ne nimio, quod absit, taedio in impatientiam cor erumpat et ea quae decurari per plagam poterat culpa crescat ex murmure.87
85 Gregor der Große, moral. praef. 5,12 (CCL 143,17 ADRIAEN). Vgl. auch die Zusammenfassung dieser Stelle in Taio von Saragossa, sent. 5,23 (PL 80,975–977). 86 Vgl. dazu auch WOOD 2016, 32. 87 Gregor der Große, ep. 11,20 (CCL 140A,890 NORBERG).
6.3 Die Frage nach dem Konnex von Sünde und Leid
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Ferner, heiligster Bruder, erbitte für mich die Barmherzigkeit der göttlichen Liebe, dass sie die Geißelschläge gegen mich mildere und die Geduld gewähre, sie zu ertragen, damit nicht mein Herz, was fern sei, durch allzu großen Ekel in Ungeduld ausbreche und die Schuld, die durch die Heimsuchung hätte geheilt werden können, nicht durch Murren noch anwachse.
Auch Gregor bietet also keine Standardformel zur Deutung des Leides, dafür aber eine Vielzahl an kontextgebundenen Deutungsversuchen. Karger erscheint der Befund in den Gedichten des Eugenius. So finden wir gerade zum Ursprung der individuellen Leiden des lyrischen Ichs kaum Anhaltspunkte; lediglich allgemeine Ursachen wie der labilis cursus fugientis aeui (carm. 14b,19), der allgemein mit menschlichem Leid assoziiert ist, werden genannt. In carm. 13 kann die gleichzeitige Bitte um uenia und medella, obwohl im Gedicht lediglich die Krankheit angesprochen war, als Hinweis auf eine solche implizite Theorie einer Verbindung zwischen Krankheit und Sünde gelesen werden; diese scheinbar achtlos eingestreute Nebenbemerkung wird aber nirgends aufgenommen oder genauer erklärt. Einmal, in carm. 5, bittet das lyrische Ich Gott, ihm seine Schuld schon in diesem Leben ‚in Rechnung zu stellen‘ (vgl. carm. 5,27: hic repende quod meremur, sit quies post transitum). Es wird aber nicht deutlich, auf welche Weise dies geschehen solle, ob durch eine Strafe oder durch die Tränen der Buße, als deren Urheber in carm. 1,17–18 ebenfalls Gott auftritt. In jedem Fall gilt der Frage nach den Ursachen des Leides nicht das Hauptinteresse der Gedichte. Ebenso wenig wird dem Leid explizit etwas Positives abgerungen, wie dies bei Gregor geschieht. Wenn auch durchaus heilsame spirituelle Entwicklungen beschrieben werden, die auf das Leid folgen können, erscheint das Leid dadurch jedoch nie gerechtfertigt oder sogar zu diesem Zweck von Gott verhängt. Gerade im Fall der Krankheits- und Altersgedichte folgt eben kein Hinweis, dass das lyrische Ich auf irgendeine Weise seinen Frieden mit dem Leiden gemacht oder Gottes Gerechtigkeit erkannt habe, sondern im rückblickhaften carm. 14b wird schlicht festgestellt: „Ich habe geklagt“ (carm. 14b,20: carmine planxi). Einen positiven Abschluss des Leidens finden wir lediglich in carm. 36, wo aber tatsächlich das beklagte Leid, der Streit bzw. die Zwietracht, als beendet vorgestellt wird. Eugenius’ Zurückhaltung in Deutung und Wertung des Leides und sein Verzicht auf eine ausdrückliche kausale Verbindung von Krankheit/Leid und Sünde findet auch in den Texten des wisigotischen Ritus der Krankensalbung eine Entsprechung: Im Unterschied zu anderen Kulturkreisen (etwa Irland, wo es zu einem Todesritual mit dem alleinigen Anliegen der Sündenvergebung wird) stehen hier die Bitten um Sündenvergebung und um Heilung von der Krankheit gleichberechtigt nebeneinander:
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6 Die condicio humana als Grundperspektive der Carmina
Egritudinum et cupiditatum tormenta dissolue. Superbie inflationem tumoresque compesce. Vlcerum uanitatumque putredines euacua. Viscerum interna cordiumque tranquilla. Medullarum et cogitationum sana discrimina. […] Opera carnis ac sanguinis materiamque compone, ac delictorum illi ueniam propitiatus adtribue.88 Löse die Qualen von Krankheiten und Begierden. Halte die Schwellung des Hochmutes und die Tumore im Zaum. Reinige vom Eiter der Geschwüre und der Eitelkeiten. Beruhige das Innere der Eingeweide und der Herzen. Heile die Zwietracht der Organe und der Gedanken. […] Stelle Ordnung her in der Arbeit des Fleisches und Blutes und in der Materie, und gewähre jenem die Vergebung seiner Verfehlungen in mildem Erbarmen.
Frederick Paxton bemerkt in Bezug auf diese besondere Gebetssprache: „The language of this prayer is striking for its juxtaposition of illness and vice.“89 Auch wenn natürlich nicht auszuschließen ist, dass eine (in ihrer Art aber unbestimmt bleibende) kausale Verbindung zwischen Sünde und Krankheit hinter der sprachlichen Gestaltung steht, so ist es doch bemerkenswert, dass dieser Zusammenhang nirgends explizit hergestellt wird. Stattdessen wird eine Analogie zwischen Sünden und körperlichen Beschwerden formuliert, die assoziativ nach dem Kriterium der Vergleichbarkeit angeordnet sind (etwa die ‚Schwellung‘ sowohl des Hochmutes als auch eines Tumors). In Formulierungen wie tranquilla und compone, die als Heilungshandlung auf das sowohl in der patristischen Theologie als auch bei Eugenius oft aufscheinende Ideal der quies oder der pax abzielen, deutet sich auch die Vorstellung einer Unordnung bzw. Disharmonie an, die hinter beiderlei Leiden stehe. Dies führt uns zur ‚doppelten Instabilität‘ des Menschen, dem grundlegenden Kennzeichen seiner condicio humana, zurück. Auch wenn aufgrund der Kürze des carm. 13 eine definitive Aussage schwer zu treffen ist, könnte auch diese Vorstellung hinter der gleichzeitigen Nennung von uenia und medella stehen – wie auch hinter der Bemerkung aus carm. 36, dass durch die Wiederherstellung der Harmonie (zwischen dem Freund oder auf politischer Ebene) „die Sinne aufleben“ (carm. 36,3: Viuescunt sensus bello liteque repressi). Gleichzeitig bleibt – für Eugenius wie für das zitierte Gebet zur Krankensalbung – festzuhalten, dass die ‚seelische‘ (i.e. moralische) Gesundheit des Menschen zwar durchaus als ebenso wichtig betrachtet wird wie die körperliche, letztere aber nicht von dieser vereinnahmt oder vor dem Hintergrund des ‚größeren Gutes‘ bedeutungslos wird.90 Das körperliche Leid wird nicht spiritualisiert oder theologisch kleingeredet, sondern schlicht und einfach als legitimer Grund zur Klage präsentiert.
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Liber Ordinum XXV (72 FÉROTIN). PAXTON 1990, 72. 90 Vgl. dazu PAXTON 1990, 69–73. A.a.O., 73 fasst er die Bedeutung dieses Ritus zusammen: „The prayers and the ritual action look toward the return of the health and the continued participation of the sick person in the community of the faithful here on earth.“ 89
7 Klagepoesie als Reaktion auf die huius uitae mala 7.1 Die condicio humana als Klagegrund 7.1 Die condicio humana als Klagegrund
Seit der Antike ist der Verweis auf die condicio humana unter anderem ein Trosttopos, der im Angesicht von Leid, Verlust und Vergänglichkeit daran erinnern soll, dass dies nun einmal das gemeinsame Schicksal aller Menschen ist.1 Durch diesen Perspektivwechsel weg von der persönlichen und hin zur allgemein-menschlichen Situation soll der Blick des Menschen geweitet und das eigene Leid wohltuend relativiert werden. Schon Seneca schrieb in seiner Trostschrift an Polybius: „Der größte Trost ist es, zu denken, einem selbst sei das geschehen, was alle vor ihm erlitten haben und alle erleiden werden.“2 Auch Braulio stellt in einem Trostbrief zum Anlass des Todes einer Mutter an ihre Söhne ernüchtert fest: „Man muss geduldig ertragen, wovor kein Mensch entkommen kann. Es ist weder uns zum ersten Mal, noch ist es uns zum letzten Mal geschehen.“3 Peter von Moos, der in seiner monumentalen und nach wie vor maßgeblichen Darstellung zur Topik der christlichen Konsolationsliteratur derlei TrostArgumentationen sammelt und auswertet, bemerkt beim Topos der condicio humana im christlichen Bereich allerdings eine Verschiebung, die er auf den Einfluss der alttestamentlichen Klage zurückführt. Diesem Kulturkreis „galt das Bewußtsein des eigenen Todes als das Gegenteil von Trost, da es die durch Sünde verschuldete Gottferne am empfindlichsten spüren ließ.“4 Das Christentum kennzeichne folglich eine Neigung, das Leid in und an der Welt nicht (nur) stoisch zu ertragen, sondern auch leidenschaftlich zu beklagen. Dies muss eine Trostabsicht freilich nicht ausschließen: Schließlich setzt die Tröstung immer zuerst voraus, dass man sich mit der Ursache des Schmerzes, der causa doloris,
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Vgl. BALMER 2020, 4. Vgl. dazu schon Seneca, dial. 11,1,4 (267 REYNOLDS): Maximum ergo solacium est cogitare id sibi accidisse, quod omnes ante se passi sunt omnesque passuri. Vgl. zu dieser Trosttopik VON MOOS 1972, 109–112. 3 Braulio von Saragossa, ep. 21,30 (CCL 114B,82 MIGUEL FRANCO): patienter tolerare necesse est quod euadere nullus hominum potest. Nec primum nobis nec nouissime contigit. 4 VON MOOS 1972, 112 = T 521. 2
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7 Die Klagepoesie als Reaktion auf die huius vitae mala
befasst. Trostliteratur spannt sich also, in unterschiedlicher Ausprägung, immer zwischen den beiden Polen der lamentatio und der consolatio auf.5 Letztere basiert im Christlichen insofern auf der Klage, als diese die Überbietung und Überwindung des Klagegrundes durch den Jenseitstrost vorbereitet – so setzt auch Braulio in seinem erwähnten Trostbrief nach: „[Christus] hat die Macht, sowohl ihr die Ruhe als auch uns Hilfe, sowohl ihr das Königreich als auch uns Lenkung zu gewähren.“6 Eine solche Funktion der Trostvorbereitung kann die Klage über die Vergänglichkeit auch bei Eugenius erfüllen. So nennt er die Verse seines Epitaphs für Basilla, die verstorbene Schwester Braulios von Saragossa, explizit luctificos […] modos (carm. 22,1–2), also Klageverse. Auch hier schließt sich jedoch der Jenseitstrost, der Gedichtsituation gemäß, an die Klage an. Zunächst tröstet er, indem er das fragile irdische Leben und den Körper abwertet, um dann zu betonen, dass die Klage dem Eigentlichen an Basillas Person gelten müsse: ihren Tugenden, die den Mitmenschen verlorengehen. Non hic terrena deflentur carmine damna, non caro, non sanguis, non periturus amor; plangitur en pietas probitas prudentia sancta et pudor et grauitas et bona cuncta simul.7 Hier wird kein irdischer Verlust im Liede beweint, kein Fleisch, kein Blut, keine dem Untergang geweihte Liebe; beklagt wird, ach! heilige Frömmigkeit, Anstand und Klugheit, Schamhaftigkeit und Ernst und alles Gute zugleich.
In diesem Epitaph erfüllt die Klage eine doppelte Funktion: einerseits des Totenlobes (der Verlust der Toten wird als herber und ernsthafter Verlust gezeichnet), andererseits aber auch der Vorbereitung des Jenseitstrostes: Basillas heilige Eigenschaften, die den Verlust der Toten gerade so beklagenswert erscheinen lassen, erlauben es ihr auch, in die Gemeinschaft mit Gott einzugehen (vgl. carm. 22,9–10). Das, was die Tote ausmacht, geht also letztlich doch nicht verloren. Ganz anders sieht der Umgang mit der condicio humana jedoch in den Gedichten aus, in denen das lyrische Ich persönlich von ihr betroffen erscheint. Außer im noch ‚offeneren‘, Zukunftswünsche formulierenden carm. 1 (in dem jedoch die im Leben zu erwartenden Schwierigkeiten ebenfalls bereits vorweggenommen werden) und in manchen Auto-Epitaphen (carm. 18 und 19), die die Trost-Topik der anderen Epitaphe teilen können, sind die persönlichen Gedichte von der Klage dominiert und vom Dichter (ebenso wie das Epitaph für 5
Vgl. VON MOOS 1971, 446–447 = C 1138. Vgl. Braulio von Saragossa, ep. 21,37 (CCL 114B,82 MIGUEL FRANCO): Potens est et illi requiem et nobis auxilium, et illi regnum et nobis gubernationem praestare. Vgl. auch VON MOOS 1972, 112 = T 524. 7 Eugenius von Toledo, carm. 22,5–8 (CCL 114,238 ALBERTO). 6
7.1 Die condicio humana als Klagegrund
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Basilla) explizit als Klagegedichte gekennzeichnet. So bezeichnet er carm. 5 als carmen luctuosis questibus, carm. 14 als carmina maesta und später querella, carm. 17 (ein Auto-Epitaph) als threnum, carm. 35 (die Klage über den Streit mit einem Freund) als questus. In anderen Gedichten wird der Klagevorgang thematisiert: In carm. 14b fasst das lyrische Ich einige seiner Dichtungen mit den Worten carmine planxi zusammen. Zu Beginn des carm. 25 fordert diesmal ein anderes lyrisches Ich, der als verstorben gedachte König Chindasuinth, die Leserinnen und Leser auf, ihn zu beklagen – es handelt sich im Grunde auch um ein persönliches Gedicht, lediglich nicht in persona Eugenii. Schließlich konstatiert in carm. 101 das lyrische Ich, das sich als tristis bezeichnet, es werde geradezu gezwungen, von den Sommerleiden zu singen – denn es habe alles erlitten: omnia passus (carm. 101,4). Carm. 13 fällt insofern aus dem Rahmen, als sich dort die Dichter-persona nicht, wie sonst in den Einleitungen zu den Gedichten, selbst-reflexiv als Klagenden sieht und vorstellt, sondern durch Interjektionen wie Vae mihi, uae misero (carm. 13,1) unmittelbar mit der Klage beginnt. Anders als in den Epitaphen für Verstorbene sind dabei die Widrigkeiten des menschlichen Lebens, der Unfriede und die eigene Todesverfallenheit ein Klagegrund proprio sensu, der nicht nur Ausgangspunkt der Bewegung zu einem folgenden, daraus entwickelten Trost ist. Ein Teil der Klagegedichte, carm. 13, carm. 35 und carm. 101, besteht im Grunde nur aus der Beschreibung des Klagegrundes und der schrecklichen körperlichen wie seelischen Leiden, die das lyrische Ich zu ertragen hat, sowie einer abschließenden Bitte an Gott, diesen Leiden – ganz innerweltlich – ein Ende zu bereiten. Ein positiver Ausgang wird lediglich im Fall des carm. 35 insinuiert, auf das ein triumphales Gedicht über die Überwindung der Zwietracht und die Rückkehr des Friedens folgt. Die Beseitigung des Leidens geschieht hier aber nicht durch philosophische oder religiöse Einsicht und wird nicht im Eschaton erwartet, sondern der Klagegrund wurde bereits im Diesseits beseitigt. Andere Klagegedichte des Eugenius, insbesondere die im Detail analysierten carm. 5 und 14, weisen dagegen eine komplexere Struktur auf und reflektieren die Klagegründe durchaus vor einem eschatologischen Hintergrund. Daraus wird aber – mit Ausnahme einiger zaghaft hoffnungsvoller Auto-Epitaphe (carm. 18 und 19) – kein Trost gewonnen. Stattdessen entwickelt das lyrische Ich aus einer konkreten, anlassbezogenen Klage heraus eine insgesamt negative Sicht der menschlichen Existenz in der Welt und schließlich des Menschen an sich. Mustergültig durchgeführt wird dies in carm. 14, wo die Klage über einen konkreten Umstand – das leidhafte Nahen des Greisenalters – dem lyrischen Ich den Tod und seine eigene Vergänglichkeit vergegenwärtigt. Die Klage wird dort nicht zum Trost hin, sondern zu erneuter, grundlegenderer Klage übersteigert, deren Gegenstand nicht mehr ein konkretes Einzelleid, sondern die ganze sterbliche Verfasstheit des menschlichen Lebens ist. In carm. 5 wird diese negative Interpretation der Welt und des Menschen dagegen nicht
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7 Die Klagepoesie als Reaktion auf die huius vitae mala
erst aus einem konkreten Klagegrund heraus gewonnen, sondern bereits von Anfang an vorausgesetzt: Die Welt neigt sich krank ihrem Ende zu, das lyrische Ich spürt den Tod bereits nahen. Die Vergegenwärtigung dieser grundlegenden Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens lenkt wiederum den Blick auf das Einzige, was vom Menschen bleibt: quod bene, quod iuste, quod recte feceris ipse (carm. 2,14). Hier könnte bei einer Totenklage, ähnlich dem oben zitierten Epitaph für Basilla, der Jenseitstrost ansetzen. Nicht so jedoch beim lyrischen Ich selbst: In carm. 14 regt die von der Vergänglichkeitsklage vorbereitete Imagination des Gerichtes das lyrische Ich zu einer Lebensbilanz an, die im Unterschied zu den durchweg positiven Annahmen, die mit Ausnahme Chindasuinths über die Verstorbenen in den Epitaphen getroffen werden, für die Dichter-persona katastrophal ausfällt und in der Folge in eine erneute Klage führt, diesmal in die Sündenklage und die Klage über die daraus resultierende Furcht vor der Strafe.
7.2 Die Frage nach der Funktionalität der Klage 7.2 Die Frage nach der Funktionalität der Klage
7.2.1 Scribere nam uersus impulit, ecce, dolor: Das Leid als hinreichender Klagegrund Für sich selbst vermag das lyrische Ich somit keinen Trost aus der Klage zu gewinnen. Die lamentatio erfüllt also nicht die Funktion, die sie in der Konsolationsliteratur innehat. Dies wirft die Frage nach einem anderweitigen Zweck der Klage auf, die bereits Andrew Fear im Hinblick auf die Gedichte des Eugenius gestellt hat. Er schreibt der Klage des Eugenius eine (beabsichtigte und von Eugenius in didaktischer Absicht dargelegte) spirituelle Valenz zu, als Mittel, um die Loslösung des Menschen von der Welt zu unterstützen.8 Derlei spirituellen Effekten der Klage wird im folgenden Kap. 8 nachgespürt. Hier soll es jedoch zunächst darum gehen, inwieweit Eugenius selbst seiner Klagedichtung eine bestimmte Funktion zuschreibt. Die Frage nach dem Sinn der Klage wird nämlich auch innerhalb der Carmina selbst gestellt – jedoch nur vage bis ambivalent beantwortet. An einer Stelle wird diese Frage – wenigstens auf der Ebene der Gedichte – explizit von außen an die Dichter-persona herangetragen. In carm. 14b, das, wie gezeigt, einen Rückblick auf die Gedichte gibt, in denen das lyrische Ich über seine Krankheit, den Niedergang der Welt und das bevorstehende Greisenalter klagt, wendet sich der Dichter an einen fictus interlocutor, der die Frage nach dem Grund für die Klagegedichte, nach der causa […] laboris 8 Vgl. FEAR 2010, 63: „Eugenius has combined his own concerns with a powerful preaching technique – the personal form is intended to make the reader to empathise all the more with the plight that is outlined to him and hence be led himself to heaven via conpunctio.“
7.2 Die Frage nach der Funktionalität der Klage
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(carm. 14b,2) stellt – genauer: nach dem Grund, warum das lyrische Ich ‚die Übel dieses Lebens feierlich beerdigt habe‘ (huius ut uitae mala funerarem; carm. 14b,3). Es ist dabei bezeichnend, dass die Frage, die der Dichter den Leserinnen und Lesern in den Mund legt, von vornherein nicht auf einen Zweck abhebt, sondern auf einen Grund, auf eine Ursache (causa). Angesichts dessen kann der Dichter die Frage bequem mit der Angabe der causa doloris, die biographisch im Leben des Eugenius verankert wird, beantworten: Der Dichter gibt an, im Alter von 49 Jahren – also in jedem Fall noch vor einem Alter, in dem man sinnvollerweise von senectus sprechen kann – eine schwere Krankheit erlitten zu haben, die ihn das Alter sozusagen vorwegnehmen ließ. Da die causa doloris eigentlich in den vorhergehenden Gedichten mehr als deutlich angegeben wurde, erscheint diese Frage der Leserinnen und Leser im Grunde wenig sinnvoll. Das einzig Neue, das die Antwort bringen kann, ist dann auch die biographische Präzisierung. Gerade in Bezug auf carm. 14 konnte das noch nicht sehr hohe Alter des Dichters vielleicht Zweifel aufkommen lassen, ob dieser die beschriebenen Altersleiden auch wirklich aus eigener Erfahrung kenne. Die biographische Verankerung nimmt aber nur einen sehr kleinen Teil des carm. 14b ein. Hauptsächlich werden die in den vorhergehenden Klagegedichten dargestellten Leiden wiederholt: Eine schwere Krankheit traf das lyrische Ich, die den Tod bereits fürchten ließ, es litt schwer unter seinen körperlichen Zuständen und fürchtete sich vor dem Tod. Deshalb klagte es – und zwar nicht nur über diese konkreten Leiden, sondern über den Zustand der zeitlich verfassten Welt insgesamt: labilem cursum fugientis aeuui / carmine planxi. (carm. 14b,19–20). Die causa laboris wird also schlichtweg mit der causa doloris gleichgesetzt und die Frage nach einer Funktionalität der Klage ausgeklammert – und dies, obwohl das verzweifelte Bittgebet am Ende des carm. 13 bei den Leserinnen und Lesern durchaus eine Erwartungshaltung aufgebaut haben dürfte, zu erfahren, ob das Bittgebet denn Erfolg gehabt oder sich die verzweifelte Lage des lyrischen Ichs sonst durch die Klage auf irgendeine Weise gebessert habe.9 Nichts davon verrät das carm. 14b. Auch in der Einleitung des carm. 35, der Klage über das als leidvoll erfahrene Zerwürfnis mit einem Freund, verzichtet Eugenius auf eine derartige Zweckerwägung. Sie ist aber für Eugenius’ Klageverständnis durchaus interessant. Das Dichten scheint hier von widerstreitenden Regungen geprägt: Die Dichterpersona bittet Christus um Tränen für seine Augen und Worte für seine Klagen – einer der seltenen Anlässe, bei denen Christus für den Dichter, wie es in der christlichen Dichtung zu Eugenius’ Zeit bereits Tradition ist, zum Ersatz für 9 Dass diese Erwartungshaltung aufkommt, dokumentiert in gewissem Sinne die Lesart von SMOLAK 2010, 83, der carm. 14b tatsächlich als Information über den Erfolg des Bittgebetes und des Sündenbekenntnisses sieht. Diese Lesart hat die Detailanalyse des carm. 14b in Kap. 5.5 jedoch nicht bestätigen können.
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7 Die Klagepoesie als Reaktion auf die huius vitae mala
die Musen wird, die in der antiken paganen Dichtung um Inspiration angerufen wurden.10 Sonst macht sich der Dichter wenig Gedanken über die Inspirationsquelle seiner Dichtung, die er in der dichterischen praefatio lediglich als nugae bezeichnet, die ihm ‚eben recht gefallen‘ – mihi rite placet (carm. praef. 2). Der Grund, warum dies in diesem Fall nötig ist, ist die Trägheit seiner Zunge (carm. 35,3: segnis […] linguae), die daraus zu resultieren scheint, dass der Dichter wie von Sinnen ist (Non sensus, lector, quaeso, non uerba requiras; carm. 35,1). Dafür wiederum ist der Grund der Schmerz, der paradoxerweise gleichzeitig das Finden der rechten Worte verhindert und trotzdem zum Schreiben von Versen drängt: scribere nam uersus impulit, ecce, dolor (carm. 35,2). Mit anderen Worten: Der Schmerz drängt nach einem Ausdruck – verhindert ihn aber zugleich. Wie kommt Eugenius zu dieser paradoxen Sichtweise, zumal er dann doch ein Gedicht schreibt, das durchaus sensus und uerba, sinnvolle Worte über den Schmerz enthält? Denkbar ist freilich etwa im Anschluss an Gregors Brief an Leander und an Sichtweisen, die Eugenius selbst in seiner Korrespondenz ausdrückt,11 den Schmerz, sei er seelisch oder geistig bedingt, als Beeinträchtigung der eigenen geistigen Kapazitäten zu betrachten: als Starre, die den Menschen aufgrund des Schmerzes befällt. Ähnlich leitet Braulio den Brief an seine Schwester Pomponia über den Tod der gemeinsamen Schwester Basilla und des Bischofs Nunnitus ein und gibt an, die „Fessel der Bitterkeit“ lasse ihn kaum sprechen: Vno uulnere confossus et multo dolore excruciatus, cum linguae officium non sineret exercere amaritudinis uinculum et magis liberet flere quam loqui, ecce alia afflictio super afflictionem euenit […].12 Von einer Wunde durchbohrt und vom vielen Schmerz gepeinigt, als die Fessel der Bitterkeit mich die Pflicht meiner Zunge schon nicht mehr ausüben ließ und ich lieber weinen als sprechen wollte, siehe, da kam noch eine zweite Drangsal über die Drangsal hinaus dazu…
Während bei Braulio nur der artikulierte Ausdruck der Klage fehlt, nicht aber die Tränen, bittet das lyrische Ich in carm. 35 dagegen insgesamt darum, seinen Schmerz ausdrücken zu können, und erfleht von Christus daher sowohl Tränen als auch Worte (Da guttas oculis, posco, da uerba querellis; carm. 35,5).
10 Vgl. DE GIANNI 2016, 97. Vgl. zu Christus als ‚Musen-Ersatz‘ in der christlichen Dichtung bei Prudentius POLLMANN 2017, 53 und allgemein zum Problem der Christianisierung des poetischen Inspirationsgedankens POLLMANN 2013, passim. 11 Vgl. die ep. Prot. 22–25 (CCL 114,406 ALBERTO): Nam etsi est in nobis, ut tu, domine, reputas, uenula tantilla sermonis, nunc inutilitate morum, nunc adsidui languoris adgestu quotidie intercluditur et siccatur. 12 Braulio von Saragossa, ep. 10,3–6 (CCL 114B,54 MIGUEL FRANCO).
7.2 Die Frage nach der Funktionalität der Klage
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Die Schwierigkeiten, mit denen die Dichter-persona zu kämpfen hat, könnten jedoch auch auf die Erkenntnis verweisen, dass letztlich Worte immer inadequat bleiben müssen, wenn es darum geht, eigenes Leid an andere (hier: den angesprochenen lector) zu kommunizieren.13 Dieses Problem des Schmerzes scheint auch Ovid, dem römischen Klagedichter schlechthin, durchaus bewusst gewesen zu sein, der dort, wo es die schlimmsten Schmerzen zu beschreiben gilt, dies gar nicht erst versucht, sondern konstatiert: nec habent sua uerba dolores.14 Dennoch ist gerade in Ovids Werk immer wieder zu spüren, dass die Mitteilung des eigenen Leides in der Klage ein Thema ist, dessen unterschiedliche Möglichkeiten er erkundet.15 Welche Variante auch zutrifft (sie müssen sich im Übrigen nicht ausschließen),16 deutlich wird in jedem Fall, dass das Leid nach Ansicht des Eugenius nach einem Ausdruck verlangt. Das Leid der Dichter-persona drängt in die Verse, auch wenn die Klagedichtung dem Dichter oftmals Mühe zu bereiten scheint: In den Einleitungen seiner Klagen dominiert oft ein Vokabular, das eine Anstrengung signalisiert (carm. 5,2: nitor; carm. 14b,2: labor). Ein Anliegen, es zu vermitteln, ist es ihm dennoch: ut possim questus ipse referre meos (carm. 35,4).
13 Das Problem der Kommunizierbarkeit von Schmerz ist – philosophisch betrachtet – schärfer empfunden worden als das grundlegende, für jede Art des Sprechens bestehende Problem der Kommunikabilität mittels Sprache. SCARRY 1985, 5–6 spricht etwa dem Schmerz eine Unmitteilbarkeit zu, die sogar zur „destruction of language“ führe, indem extreme Schmerzen nur noch unartikulierte Schreie zuließen. Diesen Effekt schreibt sie jedoch nur körperlichen Schmerzen zu, eine Eingrenzung, die PRADE-WEISS 2020, 148 Anm. 22 mit Verweis auf die moderne Trauma-Forschung kritisiert. Vgl. auch SCHMIDT 2011, 16 ohne Eingrenzung auf eine bestimmte Art des Schmerzes: „Im Leiden gerät das fragile Netz der Sprache an die Grenzen seiner Belastbarkeit, und es droht eine Sprachzerstörung.“ 14 Ovid, met. 10,506 (301 TARRANT). 15 So findet die stumme Philomela, deren Mythos bereits im Rahmen der Nachtigall-Gedichte (vgl. die kursorische Lektüre in Kap. 4.13) skizziert wurde, in einer Webarbeit die Möglichkeit, auf ihr Unglück aufmerksam zu machen; die in eine Kuh verwandelte Io kann sich ihrem Vater mitteilen, der dann die Klage für seine Tochter, die des menschlichen Ausdrucks nicht mehr fähig ist, mit übernimmt. Vgl. für Io – deren Name dem griechischen und latinisierten Klagelaut io entspricht – als ätiologische Erzählung zur Entstehung der Klage CURTIS 2017. 16 Beide Erklärungen finden wir etwa nebeneinander in der sog. Epistula Didonis ad Aeneam, AL 71,10–17 (68 SHACKLETON BAILEY): Quamvis saepe gravi conponam carmine fletus, / plus habet ipse dolor; nec conplent verba dolorem, / quem sensus patientis habet. […] continuit dolor ipse manum, nec plura loquentem / passus amor mentisque vias et verba ligavit.
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7 Die Klagepoesie als Reaktion auf die huius vitae mala
7.2.2 Cantu depellere pestem? Linderung durch Klage In diesem Anliegen selbst kann gleichzeitig, auch wenn der Dichter dies nie als Zweck der Klage angibt, eine gewisse Funktionalität der Klage doch aufscheinen. Wie Joachim Schmidt bemerkt und entfaltet, kann die Klage, indem sie das Paradox der Unsagbarkeit des Leides und des Drängens nach einem Ausdruck überwindet, selbst etwas verändern: Wenn also wie gezeigt reflexives Leiden als unausdrücklich und inkommunikabel erlebt werden kann, dann ist im Leidensausdruck ein entscheidender Vorgang zu sehen. Klage ist mehr als bloßer Reflex des Leidens.17
Selbst in carm. 14b, in dem der Frage nach dem Zweck der Klage konsequent aus dem Weg gegangen wird, scheint eine solche Veränderung der Situation des lyrischen Ichs zumindest angedeutet. Obgleich wir nichts von einer Besserung der Lage erfahren, hat es doch den Prozess der Klage verlassen und blickt darauf zurück. Am eindrücklichsten schien dies im Bild des Totengesangs auf die huius […] uitae mala (carm. 14b,3) auf, die das lyrische Ich ‚feierlich beerdigt‘ habe (funerare). Wir können uns dadurch die Dichter-persona buchstäblich auf das Grab dieser Übel blickend vorstellen. Wie diese neue Haltung in carm. 14b zustandekam – ob es z.B. dem lyrischen Ich durch den Ausdruck seiner Leiden in der Klage gelungen ist, sich von ihnen und vielleicht auch der gesamten Welt ‚dieses Lebens‘ innerlich zu distanzieren, 18 oder ob es die Klage als notwendigen Prozess der Selbstmitteilung an Gott oder die Mitmenschen sah,19 der nun als ‚absolviert‘ gelten kann – darüber wird in den Carmina nicht reflektiert. Festzuhalten bleibt jedoch, dass jede Klage mit einem Bittgebet an Gott verknüpft erscheint, sodass dieser letztlich deren Adressat ist. In carm. 5 (und in carm. 5b ohnehin) ist mit der Aufforderung, gemeinsam zu weinen und Gott anzuflehen, zusätzlich ein sozialer Aspekt des Klagens insinuiert, und auch in carm. 35 lässt sich die Klage, die mit einem unbestimmten Hilferuf an die ihm Nahestehenden (Labor, io cari, labor, succurrite fratri; carm. 35) verbunden wird, als vor der Gemeinschaft gesprochen auffassen. Und selbstverständlich ist das Verfassen von Gedichten selbst ein Klagen vor Publikum.
17 SCHMIDT 2011, 16 (Hervorhebung vom Autor), vgl. auch a.a.O., 153. Den Ausdruck „reflexives Leiden“ verwendet Jochen Schmidt, um eine der Sache nicht angemessene LeibSeele-Dichotomie zu vermeiden, und bezeichnet damit im Anschluss an Emil Angehrn jede Art von Leid, die „über eine Interpretation vermittelt ist und auf die existentielle Befindlichkeit und die Sinnfrage bezogen ist.“ (ANGEHRN 2003, 26). 18 Dies beschreibt SCHMIDT 2011, 153, wie es auch ein bereits antiker Gedanke ist: vgl. VON MOOS 1971, 68 = C 148: „Der Ausdruck des Affekts hat befreiende Wirkung.“ 19 PRADE-WEISS 2020, bes. 5–13 sieht als definierendes Moment der Klage das Bedürfnis bzw. Ziel, gehört zu werden, bei gleichzeitigem Misstrauen in die Möglichkeit, dass dies in adäquater Weise geschehen kann.
7.2 Die Frage nach der Funktionalität der Klage
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Auch an anderen Textstellen deuten einige Aussagen an, dass die Klagen es in einem gewissen Sinne vermögen, Linderung zu schaffen, was jedoch nie etwas an der Gesamtwertung der Situation des lyrischen Ichs ändert. In carm. 14 sind die Klagen das Einzige, was unter den Bedingungen des körperlichen Verfalls im Alter noch eine gewisse Erleichterung bringen kann: lamenta sola conferunt solacium (carm. 14,26). Sogar die unartikulierten Klagelaute sind eine Äußerungsform, die dem lyrischen Ich nun gefallen (carm. 14,16: eiulare complacet). Besonders die Tränen bringen eine gewisse Ruhe und Erholung: nam flere requies, gaudia poena mihi (carm. 35,6). Auch hier gilt wiederum, dass die ‚Mechanismen‘, die diese Erleichterung bringen, in Eugenius’ Carmina nicht reflektiert werden. In der Klage- oder Konsolationsliteratur, die diesen Topos zur Genüge kennt,20 gibt es freilich Versuche der Erklärung dieses Phänomens, das für den Umgang mit Trauer und Leid natürlich von Interesse ist. (Für generell unsinnig und morbide hält die uoluptas flendi dagegen die weitgehend affektkritische stoische Tradition).21 So führt Ovid gegen vorweggenommene Kritik, warum er die Leserinnen und Leser mit seinen Klagen belästige, eine Art ‚hydraulisches Modell‘ an, demgemäß ein ‚eingeschlossener‘ Schmerz immer schlimmer wüte und deshalb ‚abgelassen‘ werden müsse.22 Eine ähnliche Vorstellung scheint Ambrosius von Mailand zu vertreten, der den Tränen die Funktion zuschreibt, den ardor animi zu ‚löschen‘. In der Folge könne der Affekt, der ‚gelöst‘ wurde, ‚verdampfen‘: quasi relaxatus evaporat adfectus.23 Auch Augustinus schildert in seinen Confessiones die Erfahrung, dass in der Trauer (hier um den namenlosen Freund, den er zu einem Zeitpunkt vor seiner Konversion an den Tod verliert) das Weinen süß sei, und empfindet es als geradezu kuriosen Umstand. In der Rückschau bittet er Gott, ihm das Geheimnis zu eröffnen, cur fletus dulcis sit miseris. 24 Um das Zustandekommen dieser 20 Vgl. für eine umfassende Sammlung der Testimonien VON MOOS 1972, 55–57 = T 243–248. 21 So wirft Boethius’ personifizierte philosophia den Klagegedichten des Boethius (repräsentiert durch die Musen, die sie als Huren beschimpft) vor, das Leid des Sprechers nicht zu heilen, sondern im Gegenteil noch anzustacheln: Vgl. cons. 1,1,8 (5–6 MORESCHINI): Quis, inquit, has scenicas meretriculas ad hunc aegrum permisit accedere, quae dolores eius non modo nullis remediis foverent, verum dulcibus insuper alerent venenis? Vgl. dazu VON MOOS 1972, 55 = T 244. 22 Vgl. Ovid, trist. 5,1,63–66 (175 HALL): strangulat inclusus dolor, at mens aestuat intus, / cogitur et uires multiplicare suas. Vgl. zu dieser Eigendeutung der Klagedichtung Ovids als ‚Versprachlichung‘ und daher Linderung der Leiden LIEBERMANN 1999, 694–670 und DESCOINGS 2008, 36–37. Vgl. zum ‚hydraulischen Modell‘ der Emotionen als bis heute vorherrschendem, auf der antiken und mittelalterlichen Vorstellung von den Körperflüssigkeiten beruhendem Modell ROSENWEIN 2002, 834–836. 23 Ambrosius von Mailand, exc. Sat. 1,74 (CSEL 73,247 FALLER): Ipsae dulces lacrimae sunt, ipsi fletus iucundi, quibus restinguitur ardor animi et quasi relaxatus evaporat adfectus. 24 Augustinus, conf. 4,5,10 (CCL 27,44 SKUTELLA/VERHEIJEN).
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7 Die Klagepoesie als Reaktion auf die huius vitae mala
emotionalen Erleichterung durch Schmerzausdruck zu erklären, stellt er zuerst eine ‚gläubige‘ Hypothese auf, die er jedoch für den Fall der Trauer um einen Verstorbenen sogleich wieder verwirft: „Ist etwa das Süße daran, dass wir hoffen, dass du uns erhörst? Das ist richtig bei den Bitten, weil sie die Sehnsucht beinhalten, [das Erbetene] zu erreichen.“25 Auf seinen konkreten Klagegrund, den toten Freund, treffe dies aber nicht zu, weil Augustinus ja keine Hoffnung haben könne, der Freund werde dadurch wieder lebendig. Dies führt ihn zu einer zweiten Hypothese: Das Weinen sei in Wirklichkeit gar nicht ‚süß‘, sondern etwas Bitteres, komme aber dem Menschen immer dann so vor, wenn in der Trauer der Schatten des Todes auf alles fällt, woran der Mensch sich sonst freuen konnte, und ihm diese Freuden vergällt – ein Zustand, den Augustinus als Überdruss an der Welt (fastidium rerum) und später sogar als Ekel am Leben (taedium uiuendi) bezeichnet.26 Dies erinnert an Eugenius’ (und Isidors) vielzitiertes taedium und erhält so einen Bezug zur Ablösung des Menschen von der Welt, die Gregor und Isidor mit dem Reflexionsbegriff der conpunctio beschreiben. So vergießt Augustinus dann auch süße Tränen bei seiner Konversion, die genau diesen sich zuvor bereits andeutenden Loslösungsprozess markiert. 27 An Klage und Tränen Gefallen zu finden, kann somit auch ein Symptom für einen inneren Zustand des taedium sein. Letztlich beantwortet Augustinus die Frage nach der Ursache der Tränensüße aber nicht, sondern überlässt sie dem göttlichen Geheimnis.28 Seine erste ‚Hypothese‘, dass das Gebetsweinen durch die Hoffnung auf das Erlangen des Erbetenen wohltuend sei (und die daher recte ‚süß‘ genannt werde), verweist dabei jedoch auf den offenkundigsten Zweck, den in christlicher Vorstellung die Klage haben kann: die Erhörung eines Gebetes zu erreichen,29 sodass nicht lediglich die Einstellungen und die Gefühlslage des Menschen sich durch die Klage ändern, sondern auch der Klagegrund selbst beseitigt wird. Bei Eugenius scheinen Klage und Gebet manchmal beinahe in eins setzbar zu sein, wenn er etwa in carm. 11 empfiehlt, in der Basilika des Hl. Aemilian in Form von gemitus und querellae zu beten, und betont, die Betenden könnten sich (auf Fürsprache des Heiligen der Basilika) des Erfolges ihrer Klagen gewiss sein, so
25
Augustinus, conf. 4,5,10 (CCL 27,44–45 SKUTELLA/VERHEIJEN): an hoc ibi dulce est, quod speramus exaudire te? recte istuc in precibus, quia desiderium perueniendi habent. 26 Augustinus, conf. 4,5,10 (CCL 27,45 SKUTELLA/VERHEIJEN): an et fletus res amara est et prae fastidio rerum, quibus prius fruebamur, et tunc ab eis abhorremus, delectat? Vgl. auch conf. 4,6,11 (CCL 27,45 SKUTELLA/VERHEIJEN): sed in me nescio quis affectus nimis huic contrarius ortus erat et taedium uiuendi erat in me grauissimum et moriendi metus. 27 Vgl. zu diesen Tränen des Augustinus NAGY 2000, 118 und PAFFENROTH 1997, 147– 148. 28 Vgl. NAGY 2000, 117 und SCHMIDT 2011, 55–56. 29 Wie PRADE-WEISS 2020, 14 bemerkt, wird in der Forschung zur Klage dies allzu oft verkürzt als einzige Funktion der Klage überhaupt wahrgenommen.
7.2 Die Frage nach der Funktionalität der Klage
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sie vertrauensvoll beteten.30 Die Gebete betreffen dabei, so wird eingangs deutlich, das gesamte Spektrum an Leiden von der Sünde bis zur Krankheit. Dementsprechend sind auch die querellae nicht nur auf die Sündenklage zu beziehen, sondern auch als Klage über das konkrete Leid zu verstehen. Dass hier in der Basilika nicht nur Trost zu finden, sondern auch die Klagegründe beseitigt werden können, macht Eugenius überdeutlich: „Hier werden den Lahmen die Schritte gegeben, den Blinden das Augenlicht, und die vertriebene Lepra hinterlässt die Haut unbeschadet.“31 Auf die Klage folgt bei Eugenius immer ein Bittgebet zu Gott. Nicht immer jedoch ist es auch auf die Beseitigung der causa doloris angelegt; in carm. 5 und 14 beinhaltet das Bittgebet ausschließlich die Vergebung der Sünden. Die Sünde kann freilich auch als eigenständige causa doloris verstanden werden, tritt aber in den Gedichten nie als eigenständiger Inhalt der Klage auf, sondern entwickelt sich stets aus der Klage über ‚innerweltliche‘ Leiden. An eine Wegnahme dieser Leiden ist dabei, analog zu Augustinus’ Bemerkungen, nicht immer zu denken; so erscheint es in der Klage über das Alter in carm. 14 oder über die grundlegende Todesverfallenheit des Menschen in carm. 5 nicht vorstellbar, hier mit Klage und Gebet etwas ausrichten zu können. Denkbarer ist dies in Bezug auf carm. 13 über eine – noch nicht explizit mit dem Alter verbundene – Krankheit und ein wenig auch in Bezug auf carm. 101: Wenn die Dichter-persona auch kaum hoffen kann, dass Gott die ‚Sommermonster‘ ein für allemal beseitigen wird, so ist es doch möglich, dass das lyrische Ich wieder einmal, wie es bittet, eine ruhige Nacht verbringen kann, ohne von diesen belästigt zu werden. In carm. 36 schließlich erfahren wir das erste und einzige Mal von der Erhörung einer Bitte, sei es um Frieden oder um ein Ende des Zerwürfnisses mit dem Freund. Als Erhörung einer Bitte erscheint es jedoch ausschließlich in der Lesereihenfolge der Carmina, in der es auf carm. 35 folgt; auf ein vorangehendes Gebet wird dagegen innerhalb des Gedichtes nirgends Bezug genommen. Selbst hier trifft das lyrische Ich also keine Aussagen darüber, ob die Klage und das flehende Gebet es waren, die die Rückkehr des Friedens bewirkt haben. Der etwas merkwürdige Befund erinnert damit an die Beobachtungen hinsichtlich des Jenseitstrostes, den der Dichter nur für die stets als tugendhaft gepriesenen Verstorbenen, aber kaum für sich selbst gelten lässt: Zwar scheint der Glaube an die Wirkmächtigkeit des Gebetes in den Gedichten mehr als deutlich durch, es geht hierbei aber immer um das Gebet dritter Personen. Diese bittet das lyrische Ich sogar um Fürbitte. Die Dichter-persona selbst ver-
30 Vgl. Eugenius von Toledo, carm. 11,15 (CCL 114,224 ALBERTO): Quisque precator ades, fidenter poscere noris. 31 Eugenius von Toledo, carm. 11,9–10 (CCL 114,224 ALBERTO): Hic clodis gressus dantur et lumina caecis, / reddit et incolumem lepra repulsa cutem.
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7 Die Klagepoesie als Reaktion auf die huius vitae mala
meldet aber nie einen ‚Klage- oder Gebetserfolg‘, was der Bescheidenheitstopik geschuldet sein kann: Das Erhörtwerden von Gebeten wird schließlich mit einem ‚reinen Herzen‘ bzw. der richtigen seelischen Haltung des oder der Betenden in Verbindung gebracht.32 Isidor empfiehlt sogar explizit die Gewissensprüfung für den Fall, dass trotz langen und inständigen Bittens das eigene Gebet nicht erhört werde.33 Die Frage nach dem Effekt von Klage und Gebet scheint auch in einer zweiten explizit von außen herangetragenen ‚Anfrage‘ an die Dichtung des Eugenius im Libellus carminum angedeutet zu sein, die sich ergibt, wenn man die Nachtigall der carm. 30–33 als Symbol für den Dichter und ihren Gesang als Analogie der Dichtung sehen will. Dies macht sowohl die oben dargestellte lange, besonders christlicherseits intensivierte Tradition der Gleichsetzung von Dichtern mit Singvögeln34 plausibel als auch die Bemerkung in carm. 33,1, die Stimme der Nachtigall zwinge die Menschen geradezu, selbst Lieder zu singen. Sie ist also die Inspiration für die menschliche Dichtung. Carm. 32 referiert hierbei einen merkwürdigen Dialog zwischen einem nicht näher bestimmten Fragenden und der Nachtigall, der philomela. Diese wird zuerst gefragt, warum sie denn die Nacht wachend und singend zubringe; eine Frage, die sie damit beantwortet, sie wolle ihre Eier vor einer uis inimica beschützen – ein Ausdruck, der wörtlich genommen als ganz innerweltliche Sorge um die Vermeidung des Leides gut denkbar ist. Aber vor allem in der monastisch anmutenden Kombination von Singen und Wachen klingt auch eine andere Sorge an: diejenige um die Seele, die vor dem Satan, dem Verführer, geschützt werden muss. Hierin wird also auch ein explizit spiritueller Nutzen der Poesie insgesamt insinuiert – und vielleicht besonders der Klage, wenn man sich den zugrundeliegenden Philomela-Mythos vor Augen hält. Der spirituellasketische Nutzen der Klagedichtung, der insbesondere im folgenden Kap. 8 zu erkunden ist, wird im Gedichtbuch sonst nie explizit genannt, scheint aber in Eugenius’ Wunsch für die wohlwollenden Leserinnen und Leser, sie mögen selbst dia poemata, gottgefällige Gedichte schreiben, wenigstens angedeutet. Solcherlei Möglichkeiten der Dichtung oder des Gesangs, ‚schützend‘ zu wirken, sei es durch das Lindern oder Beseitigen von Leid im Gebet oder durch den spirituellen Schutz der Seele, werden von der philomela anerkannt, aber
32 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,7,12.17 (CCL 111,223–224 CAZIER) nennt unter anderem als Behinderung des Gebetserfolges das Verharren in der Sünde, die mangelnde Bereitschaft, anderen zu vergeben und allgemein das Nichtbefolgen der göttlichen Gebote. Vgl. in einem ähnlichen Sinne auch RAPP 2005, 67: „The ability to intercede for others before God is one of the distinctive marks of the spiritual individual.“ 33 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 3,7,24 (CCL 111,224 CAZIER): Quotiens orantes non cito exaudimur, nostra nobis facta in oculis proponamus, ut hoc ipsud quod differimur diuinae reputetur iustitiae et culpae nostrae. 34 Vgl. die kursorische Lektüre zu carm. 30–33 in Kap. 4.13.
7.2 Die Frage nach der Funktionalität der Klage
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analog zum im vorhergehenden Kapitel Herausgearbeiteten nicht als der primäre Zweck der Dichtung aufgefasst. Auf die erstaunte Nachfrage des interlocutor, ob sie denn glaube, mit ihrem Gesang das Verderben fernhalten zu können (carm. 32,3: Dic age, num cantu poteris depellere pestem?), antwortet die Nachtigall: „Mag ich es können oder nicht, mir gefällt es, zu wachen.“35 Eine Heilsbedeutsamkeit der Klage wird folglich nicht ausgeschlossen, aber nicht als der eigentliche Grund gefasst, warum die Nachtigall singe und wache (und, analog: der Dichter Gedichte verfasse). Der primäre Grund bleibt ganz einfach: Es gefällt dem Dichter, dies zu tun.
35 Eugenius von Toledo, carm. 32,4 (CCL 114,247 ALBERTO): „Aut possim aut nequeam, me uigilare iuuat.“
8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis? 8.1 Historische Vorbemerkungen: Bußspiritualität zwischen Ritual, Handlung und Emotion 8.1 Bußspiritualität zwischen Ritual, Handlung und Emotion
Für Peter Brown ist ein entscheidender Marker des Übergangs von der Spätantike ins Mittelalter die zunehmende Durchdringung der Kultur durch den Diskurs um Sünde und Buße, die er als „peccatisation du monde“1 bezeichnet: Sünde und die Möglichkeiten, sie zu vermeiden oder sich von ihr zu befreien, werden zu einer zentralen Deutungskategorie im Leben der Menschen. Seiner These ist u.a. mit dem Hinweis widersprochen worden, dass vor dem 11. Jahrhundert die Buße im Leben gewöhnlicher Christinnen und Christen kaum eine Rolle spielte.2 Diese Annahme basiert jedoch vor allem auf einem engen Verständnis von Buße im Sinne eines – in welcher Weise auch immer – regulierten Prozesses, sei es in der Form der kanonisch festgelegten Buße mit mehr oder weniger detaillierten Festlegungen zu Sündenbekenntnis, Büßerstand und Rekonziliation oder durch die ‚Bußtarife‘ in den frühmittelalterlichen Bußbüchern. Neben dieser institutionalisierten Seite der Buße, die sicherlich bedeutsam ist und eine hohe Aussagekraft für dahinterliegende Auffassungen von Sünde und Vergebung sowie für Gerechtigkeitsfragen innerhalb sozialer Gefüge hat,3 stehen aber auch alltäglichere, weniger exzeptionelle Praktiken gegenüber, mittels derer Gläubige sich von der Sünde zu befreien strebten. Zudem liegen jeder Art von Buße auch ‚unsichtbare‘ Prozesse in der Seele der Büßenden zugrunde, die schließlich der Ort ist, wo die Sünde Verletzung zufügt und wo die Buße heilend wirken muss. Gerade in der Spätantike, für die man konstatiert hat, dass dort mit Augustinus der innere Raum des Menschen eine gesteigerte Bedeutung erlangte,4 wurden auch die zugrundeliegenden seelischen Prozesse nicht einfach als ‚black box‘ betrachtet und außer Acht gelassen. Kirchliche spirituelle Autoritäten modellierten diese Bewegungen der Seele in der Kommunikation mit ihren Gläubigen und für ihre Gläubigen in 1
BROWN 1997, 1260. Vgl. MURRAY 1993, 79 und KERFF 1987 und 1989. 3 Vgl. für einen Überblick der derartigen Themenfelder, die die Buße berührt, die Einleitung zum Sammelband von FIREY 2008. Vgl. zum ‚Social Turn‘ in der Historiographie der Buße MCLAUGHLIN 2008, 59–68. 4 Vgl. dazu insbesondere REMES 2008 und CARY 2000, passim. 2
8.1 Bußspiritualität zwischen Ritual, Handlung und Emotion
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Predigten und in der monastischen und pastoralen Praxis, ebenso wie sie konkrete Handlungsempfehlungen zur persönlichen Askese gaben.5 Sowohl die Buße als auch Bußdiskurse stellen somit ein wesentlich breiteres Feld dar und sind nicht auf die Frage nach Bußregularien beschränkt. Zugleich erscheint das Konzept der Buße als weniger klar abgrenzbar, da es ganz unterschiedliche Grade und Modi der Partizipation erlaubt. Kevin Uhalde betont: Of all the theoretical boundaries distinguishing types of sins and sinners, the boundary that separated ordinary Christians from penitents was the least absolute of all. Penitents provided living models for those mundane, less sensational, and more numerous sinners comprising the Christian majority, whose gestures to obtain forgiveness might consist only of prayers and pious works such as almsgiving.6
Buße passiert also nicht nur dort, wo Büßende dafür vorgesehene, kanonisch regulierte Prozesse durchlaufen, sondern in vielfältigen kleineren und größeren spirituellen, asketischen, kulturellen und karitativen Praktiken.7 Ebenso sind die Diskurse um Buße und Sünde damit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Regularien und Riten der Buße zu suchen. 8.1.1 Paenitentia publica im wisigotischen Spanien Durch dieses breitere Verständnis von Buße und Bußspiritualität lässt sich auch ein differenzierteres Bild der Geschichte der Buße gewinnen. Das in der Historiographie der Buße lange vorherrschende Narrativ sah einen Niedergang des altkirchlichen Bußmodells, das einen dramatischen Transformationsprozess vor dem sozialen Forum der Gemeindeöffentlichkeit darstellte, in der nachkonstantinischen Zeit:8 Die Rigidität dieses Bußsystems, das nur eine einmalige Buße zuließ und nichts geringeres als einen völligen Wandel des Lebens des Menschen verlangte, sei für ein volkskirchlich verfasstes Christentum, das nun das ganze Spektrum an Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Bedingungen und Kapazitäten umfasste, schlichtweg nicht mehr geeignet gewesen. Durch die mangelnde Anpassungsfähigkeit dieses Systems an neue pastorale Gegebenheiten sei ein Vakuum entstanden, das erst durch die oft als ‚privat‘ oder ‚geheim‘ bezeichnete Buße, aus der heraus sich unsere heutige Ohrenbeichte entwickelte, gefüllt werden konnte.
5
Vgl. UHALDE 2007, 122–124. Vgl. UHALDE 2007, 122. 7 Vgl. zu den informelleren Arten der Buße und ihrer Bedeutung im frühen Mittelalter PRICE 2004, passim. 8 Vgl. als bedeutendsten Vertreter dieses Narrativs POSCHMANN 1928 und 1930 und ferner VOGEL 1956. 6
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
Dieses Narrativ wird heute weitgehend als irreführend abgelehnt.9 Den Anstoß dazu hat insbesondere Mayke de Jong gegeben:10 Sie verweist darauf, dass die öffentliche, dramatische Form der Buße weder der ‚rigide‘ Standard eines als kleine Gemeinschaft der Heiligen verklärten frühen Christentums war noch in der Spätantike ihren Niedergang erlebte. Im Gegenteil: Diese Zeit stellte erst die Periode ihrer Konsolidierung dar, wie unter anderem Bemühungen zur kanonischen Regulierung dieser Form der Buße in Spanien und Gallien im 5. und 6. Jahrhundert zeigen.11 Dieser Befund des Aufschwungs der Buße zu einer Zeit, in der die Forschung sie schon im Niedergang begriffen sah, bestätigt sich auch mit Blick auf das wisigotische Spanien. Ein breiteres Interesse an der Buße ist dort schon durch Grabinschriften belegt, die oft trotz aller platzbedingten Kürze selbstbewusst die Tatsache vermerkten, der oder die Verstorbene habe die Buße vollzogen: accepta poenitentia.12 Die formelhafte Verwendung dieses Zusatzes, der oft bis auf Name, Stand und erreichtem Lebensalter die einzige Information über den oder die Verstorbene enthält, zeigt, wie eng dieser Status sich mit der Identität der jeweiligen Person verband: Pönitent zu sein war keine Durchgangsstation des Lebens, keine Rolle, die man aufnehmen und wieder ablegen konnte, sondern prägte die Person nachhaltig. Und dies offenkundig im positiven Sinne: Trotz und konträr zu den Gesten der Selbsterniedrigung, die der Büßerstand mit sich führte, wurde er keineswegs als Schande, sondern als eine ganz eigene Art von Ehre und als besonderes Verdienst der Verstorbenen wahrgenommen.13 Beinahe wirkt die poenitentia wie ein Titel, den die verstorbene Person erlangt hat – und wurde vielleicht auch so wahrgenommen: Wie Kevin Uhalde bemerkt, konnte die Grenze zwischen dem Büßerstand und insbesondere dem monastischen, aber auch dem klerikalen Stand oft erstaunlich schwimmend sein und wurde in der Praxis nicht selten überschritten.14
9
Der teilweise kritischen Revision und Öffnung dieses Narrativs in verschiedene Richtungen ist insbesondere der Sammelband von FIREY 2008 verpflichtet; UHALDE 2007, bes. 132–134 wendet sich gegen die Vorstellung eines Vakuums, das sich aus der Rigidität des Systems der öffentlichen Buße eröffnet habe, und betont demgegenüber die Wirksamkeit informellerer Bußformen, vgl. dazu auch PRICE 2004, passim. MEENS 2014, bes. 6 kritisiert die zu scharfe Abgrenzung der ‚privaten‘ Buße von der öffentlichen. 10 Vgl. DE JONG 2000, passim. 11 Vgl. DE JONG 2000, 189: „Are we to believe that the emergence of public penance coincided with its decline, and that this decline lasted for centuries?“ Vgl. für konziliare Aktivitäten zur Regelung der Buße im wisigotischen Spanien bes. Conc. Barc. I, c. 6–9 (53 VIVES) und Conc. Tolet. I, c. 2 (CCH 4,328–329 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ). 12 Vgl. z.B. IHC 29 (9 HUBNER): SATVRNINVS PENITENS FAMVLVS DEI […] ACCEPTA POENITENTIA REQVIEVIT IN PACE. Vgl. HANDLEY 2003, 10 Anm. 26 mit einer Auflistung sämtlicher hispanischer Inschriften, die eine Buße vermerken. 13 Vgl. UHALDE 2008, 104. 14 Vgl. UHALDE 2008, 100. Vgl. zum Kloster als Ort der Buße auch RAPP 2005, 77–81.
8.1 Bußspiritualität zwischen Ritual, Handlung und Emotion
425
Damit rückt die Buße in die Nähe der conuersio.15 Dem wisigotischen Bußverständnis, wie es in den Quellen aufscheint, entspricht dies insofern, als die kanonische Buße dort eine tiefe innere, aber auch soziale Transformation für die Büßenden darstellte, deren wichtigster Aspekt die Abkehr vom weltlichen Leben ist. Die Buße erhalten zu haben, bedeutet, „für diese Welt schon gestorben zu sein“,16 wie nach dem wisigotischen Ordo Paenitentiae die Ermahnung des Priesters an die Pönitenten nach dem Bußritus zu lauten hatte. Dass es sich dabei nicht um bloße Rhetorik handelte, sondern wir es mit einem wesentlichen Grundzug des wisigotischen Bußverständnisses zu tun haben,17 zeigen die kanonischen Regelungen:18 Der Empfang der Buße sollte einhergehen mit der Tonsur oder der Anlegung des Habits und einem von da an zurückgezogenen, heiligen Leben in Askese. Sofern die Buße nicht ohnehin begleitend zum Viaticum erteilt wurde (was häufig der Fall gewesen zu sein scheint) und daher nahe am Lebensende erfolgte, bedeutete dies in der Regel ein Leben im Kloster oder in klosterähnlicher Askese. Der Rückzug von der Welt, der den Pönitenten abverlangt wurde, wies also nicht nur eine spirituelle Analogie zur monastischen Absage an die Welt auf, sondern vollzog sich oft sogar im selben Raum, weshalb beide Sphären zunehmend an Trennschärfe verloren:19 „penance and monasticism became increasingly conflated.“20 Damit war die Buße jedoch gerade für die politischen und kirchlichen Eliten kein nur von religiösen Bedürfnissen und Notwendigkeiten determinierter Prozess, sondern hatte weitreichende Folgen, die den Büßerstand je nach Situation erstrebens- oder meidenswert erscheinen lassen konnte. Nicht zuletzt konnte die Buße zu einem Spielfeld der Machtstrukturen werden, die sich der Symbolik von Erniedrigung, aber auch von Erneuerung und Reform zur Legitimation von Ansprüchen bedienen konnte.21 Auch das sozial disruptive Element der Absonderung aus der Gemeinschaft, das der Buße inhärent war, konnte auf 15
Vgl. DE JONG 2000, 207. Liber Ordinum XXX (93 FÉROTIN): Nullis seculi causis te admisceas: nicil temporale desideres: esto iam uelut mortuus huic mundo. 17 Vgl. UNGVARY 2018b, 297–298 und PAXTON 1990, 73–76. 18 Vgl. für die Diskussion der liturgischen und konziliaren Quellen zur kanonischen Buße PERALES 1991, der zwei Grundtypen erkennt: 1) die öffentliche Buße für schwere Sünden gegen den Glauben, die Keuschheit und das Leben, die mit einem Ausschluss aus der eucharistischen Gemeinschaft einherging und nach unterschiedlich langem Verweilen im Büßerstand mit der Rekonziliation abgeschlossen wurde (die sogar manchmal, bei lebenslanger Buße, erst am Totenbett erfolgte); 2) die Buße in Form des Viaticums bei Sterbenden, die sofort rekonziliiert wurden und die Kommunion empfingen. Beide Formen, auch die Buße am Sterbebett, gingen mit der Tonsur bei Männern und dem Anlegen eines wollenen Habits bei Frauen einher. 19 Vgl. zum Kloster als Ort und Zentrum der Buße IOGNA-PRAT 2008, 151–155 und HILLNER 2015, 70–71. Vgl. für das wisigotische Spanien CAVERO DOMÍNGUEZ 2017, passim. 20 DE JONG 2000, 207. 21 Vgl. zu Beispielen aus dem wisigotischen Spanien STOCKING 2000, 101–103.177–178. 16
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
unterschiedliche Weise eingesetzt werden: Pönitent geworden zu sein – und weiterzuleben – war unvereinbar mit der Ausübung einer hervorgehobenen weltlichen Tätigkeit.22 Für den kirchlichen Bereich galt dies nicht in derselben Strenge: Eine Ausnahme, die die spanischen Bischöfe des Konzils von Gerona (517) festlegten, waren die Sünder, die in Todesgefahr um die Buße gebeten und dabei keine offenkundigen schweren Sünden (manifesta scelera) gestanden, sondern sich lediglich allgemein der Sündhaftigkeit bezichtigt hatten. Diesen wurde, wenn sie überraschend wieder gesund wurden, die Ausübung eines klerikalen Amtes gestattet.23 Ein sprechendes Beispiel für die sozial tiefgreifenden Veränderungen durch die Buße ist König Wamba, der sie während einer Ohnmacht empfing, die um sein Leben fürchten ließ. Nach seiner Genesung ging die Buße wie selbstverständlich mit seiner Tonsur und Abdankung einher. Die Episode, die schon auf der Ebene der konkreten historischen Ereignisse Fragen aufwirft, wird in der Forschung unterschiedlich interpretiert.24 In jedem Fall zeigt sie aber, dass die Buße eine Möglichkeit war, wie Könige sich schadlos und ihr Gesicht wahrend vom Thron zurückziehen konnten.25 Auch nach der Usurpation durch König Chindasuinth unterzog sich sein Vorgänger Tulga der Buße und der Tonsur und konnte so seine Absetzung überleben – innerhalb der durchaus blutigen Geschichte der wisigotischen Könige eine nicht unwichtige zivilisatorische Errungenschaft.26 Von Chindasuinth selbst, Eugenius’ ‚Patron‘, berichtet uns die sog. Fredegar-Chronik, dieser habe sich im hohen Alter der Buße unterzogen. Welcher Art und Weise diese Buße war, bleibt in der Quelle offen. Nach Fredegar ging sie mit dem großzügigen Spenden von Almosen einher; dabei erweckt seine Formulierung den Eindruck, als sei dies der einzige Akt gewesen, in dem seine Buße bestand.27 Handelte es sich um eine kanonische Buße, müsste diese seine Abdankung zur Folge gehabt haben; da er jedoch nach 649 noch als Mitregent seines Sohnes auftrat, ist dies erst gegen Ende seines Lebens (er starb 653) überhaupt denkbar. Wahrscheinlicher handelte es sich also um eine Buße am
22
Vgl. UNGVARY 2018b, 313–314. Vgl. Conc. Gerund. I, c. 9 (41 VIVES). Vgl. dazu DE JONG 2000, 204. 24 Vgl. zur Buße Wambas und den Diskussionen darüber, inwiefern diese Buße bewusst als Machtmittel eingesetzt wurde MURPHY 1952, passim, MARTÍNEZ PIZARRO 2005, 67–74 und DE JONG 1999, 373–402. 25 Vgl. DE JONG 1999, 374: „Whatever the potential pressures involved, something like a pattern suggests itself: the old ruler stepping down as a penitent, with his honour unimpaired, while a potentially disruptive struggle for succession was contained by a designatio.“ 26 Vgl. UNGVARY 2018b, 311–315. 27 Vgl. Fredegar, chron. 4,82 (MGH.SS rer. Mer. 2,163 KRUSCH): Chyntasindus paenetentiam agens, aelymosinam de rebus propries faciens, plenus senectutae, fertur nonagenarius, moretur. 23
8.1 Bußspiritualität zwischen Ritual, Handlung und Emotion
427
Sterbebett, die vielleicht durch vorhergehende allgemeinere Bußübungen, wie eben das verstärkte Geben von Almosen, vorbereitet wurde. Es spricht jedenfalls einiges dafür, dass das Interesse für die Themenkreise um Buße und Reue den König länger begleitete als nur am Ende seines Lebensweges. David Ungvary verweist hier auf die Art und Weise, wie Chindasuinth seine Funktion als Patron literarischer Aktivitäten ausübte.28 Insbesondere die Revision des Werkes des Dracontius, die, wie Eugenius mehrfach deutlich macht, explizit auf eine Initiative des Königs zurückging, bezeugt dies: Die Hälfte des Werkes, die Satisfactio, stellt eine poetische Elaboration des Bußprozesses des Dichters dar, der darin das Idealbild der gottgleichen Vergebungsbereitschaft des Königs konstruiert, aber auch Dignität und Wirksamkeit der Buße aufzeigt. Ein Vorbild ist für Dracontius unter anderem König David, dessen Beispiel in der Kirchengeschichte schon oft bemüht wurde: „König David verschonte die Völker der Feinde von seinem Dolch, und war doch des Verbrechens des Ehebruches überführt: Nachdem er seine Tat gestanden hatte, erlangte er Vergebung statt Untergang.“29 Ein Interesse an diesem Thema zeigen jedoch auch andere literarische Unternehmungen,30 die in seine Regentschaft fallen – nicht zuletzt Eugenius’ eigene Gedichte. Erwähnenswert ist hier auch Taio von Saragossas Romfahrt, während der er fehlende Bücher Gregors des Großen besorgte. Wie in Kap. 2.3.4 dargestellt, ist nicht klar, inwieweit dies auf die Initiative Chindasuinths zurückging, der wohl in erster Linie politische Gründe hatte, Taio nach Rom zu entsenden. Auch die Abfassung der Sententiae, einer Kompilation aus dem Werk Gregors des Großen, kann ebenso dem eigenen Interesse Taios und seiner bischöflichen Kollegen entsprungen sein, bezeugt aber allgemein ein geistiges Klima, in dem die Buße und die ihr zugrundeliegenden spirituellen Diskurse eine hohe Aufmerksamkeit genossen. 8.1.2 Buße im spirituell-asketischen Diskurs des wisigotischen Spanien Die Biographie König Chindasuinths, für den eine kanonische Buße in deutlichem Abstand zum Tod kaum möglich schien, so er seine Position behalten wollte, scheint zunächst das alte Narrativ vom ‚pönitentialen Vakuum‘ zu bestätigen, das sich durch die Rigidität und zu hohen Hürden des Systems der 28
Vgl. UNGVARY 2018b, 303–304. Vgl. Eugenius von Toledo, Drac. satisf. 133–135 (CCL 114,383 ALBERTO): Rex inimicorum populis mucrone pepercit / Dauid et sceleris certus adulter erat: / confessus facinus ueniam pro clade meretur. Vgl. für David als Idealbild des rex humilis, für den daher auch eine Buße nicht unziemlich erscheint, auch Isidor von Sevilla, sent. 3,49,1 (CCL 111,299 CAZIER): Qui recte utitur regni potestatem, ita praestare se omnibus debet, ut quanto magis honoris celsitudine claret, tanto semetipsum mente humiliet, praeponens sibi exemplum humilitatis Dauid, qui de suis meritis non tumuit, sed humiliter sese deiciens dixit: Vilis incedam et uilis apparebo ante Deum qui elegit me. 30 Vgl. dazu UNGVARY 2018b, 301. 29
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
öffentlichen Buße aufgetan habe.31 Wenn ein solches Vakuum bestand, scheint es Chindasuinth jedoch – selbst auf der Basis des Wenigen, was wir über ihn wissen – nicht schwergefallen zu sein, es zu füllen. Fredegars Bemerkung, dass er großzügig Almosen aus seinem privaten Vermögen verteilte, verweist etwa auf die sündentilgende Wirksamkeit, die dem Almosengeben insbesondere im Hinblick auf die vielen kleinen Sünden, die sich im Laufe des menschlichen Lebens anhäufen, zugeschrieben wurde.32 Solche Mittel, mit denen die alltäglichen, als oft unvermeidlich betrachteten Sünden bekämpft werden konnten, gab es viele.33 Johannes Cassian etwa zählt die multi […] paenitentiae fructus auf, die (nach der Taufe und dem Martyrium) die Vergebung der Sünden erreichen können: Er nennt die Nächstenliebe, das Geben von Almosen, das Vergießen von Tränen, die moralische Besserung, die adflictio cordis et corporis, die Fürsprache der Heiligen, das Gebet, das Fasten und schließlich die Vergebung, die man selbst den Nächsten gegenüber übt.34 Zusammenfassend: uidetis ergo quantos misericordiae aditus patefecerit clementia saluatoris, ut nemo salutem cupiens desperatione frangatur, cum uideat se tantis ad uitam remediis inuitari.35 Ihr seht also, wie viele Zugänge zur Barmherzigkeit die Milde des Erlösers eröffnet hat, sodass niemand, der das Heil wünscht, von Verzweiflung gebrochen werden soll, wenn er sieht, mit welch großen Heilmitteln er zum Leben eingeladen wird.
Der Eindruck eines Vakuums kann also nur dann entstehen, wenn verkürzt nur auf das kirchliche, kanonisch festgelegte Ritual geblickt wird. Buße geschah auch durch vielfältige Handlungen, die sich im Schnittfeld des Sozialen und Asketisch-Spirituellen befanden. Insbesondere begriffen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dem ‚alten Narrativ‘ gegenüber aber zu betonen – Theologen und pastoral Wirkende die Seele als den Ort, an dem die Transformation, die die Buße bedeutete, stattzufinden hatte, wobei die Seele natürlich keinen in sich geschlossenen Raum darstellt, der unabhängig von den Handlungen und den sozialen Beziehungen des Menschen wäre.36 Isidor konstruiert sie in seinen Sententiae als Ort, an dem Gott und Mensch zum Heil des Menschen zusammenwirken: Quisque peccatorum memoria conpungitur ad lamenta, tunc Dei se uisitari sciat praesentia, quando ex id quod se admisisse recolit interius erubescit, suoque iudicio paenitendo iam punit. […] Gressus Dei sunt, in cor hominis, interior uis, qua bona desideria surgunt ut calcentur mala. Quando ergo ista in corde hominis fiunt, sciendum est tunc
31
Vgl. VOGEL 1992, 667: „a complete ‚penitential void‘“. Vgl. dazu besonders BROWN 2015, 83–114. 33 Vgl. dazu PRICE 2004, passim. 34 Vgl. Johannes Cassian, conl. 20,8 (CSEL 213,561–563 PETSCHENIG). 35 Johannes Cassian, conl. 20,8 (CSEL 213,563 PETSCHENIG). 36 Vgl. UHALDE 2007, 122–124. 32
8.1 Bußspiritualität zwischen Ritual, Handlung und Emotion
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esse Deum per gratiam cordi humano praesentem; unde se tunc magis homo acuere ad conpunctionem debet quando sentit et Deum interius operantem.37 Jeder der Sünder, der durch die Erinnerung an seine Sünden zur Klage hin angestachelt wird, soll wissen, dass er dann von der Gegenwart Gottes besucht wird, wenn er innerlich über das errötet, was begangen zu haben er sich erinnert, und sich durch die Buße durch sein eigenes Urteil schon bestraft. […] Die Schritte Gottes sind eine innere Kraft im Herzen des Menschen, durch die gute Sehnsüchte sich erheben, damit die schlechten niedergetreten werden. Wenn dies also im Herzen des Menschen geschieht, muss man wissen, dass dann Gott durch seine Gnade im Herzen des Menschen gegenwärtig ist; deshalb muss sich der Mensch dann umso mehr zur Zerknirschung anstacheln, wenn er spürt, dass auch Gott in seinem Inneren wirkt.
Die in diesem Zitat anklingende Lehre der conpunctio, der ‚Zerknirschung des Herzens‘, stellt dabei die wichtigste Deutungskategorie seelischer Prozesse in der Buße dar. Sie wird unten, Kap. 8.2, eingehender betrachtet. Am nachhaltigsten prägte und etablierte Gregor der Große diese Lehre im lateinischen Westen. Selbst ein Grenzgänger und Vermittler zwischen dem monastischen und dem weltlich-pastoralen Leben, beschrieb er mit diesem Konzept die inneren Prozesse, die die Seelen der Gläubigen in Anfechtungen, Krisen, Schulderfahrungen und auch im Prozess der Buße und der Besserung durchlebten.38 Dem Erbe Gregors ist im wisigotischen Spanien eine breite literarische Produktion verpflichtet; er ist neben Augustinus und Hieronymus der Denker, der die Theologie des wisigotischen Spaniens hauptsächlich prägte.39 Sein Einfluss ist insbesondere in zwei Werken der Zeit zu spüren: in den Sententiae Isidors von Sevilla, die eine Art theologisch-spirituell-moralisches Handbuch darstellen,40 und im gleichnamigen Werk des Taio von Saragossa, dessen Fertigstellung wahrscheinlich erst nach Eugenius’ Tod anzusetzen ist.41 Wie stark gregorianisches Denken die Sententiae, in denen Isidor teils ganze Passagen aus Gregors Schriften zitiert, beeinflusste, ist auch Isidors Zeitgenossen nicht verborgen geblieben: Braulio ‚bewirbt‘ das Werk explizit damit, Isidor habe sein Werk „mit Blumen aus den moralischen Büchern des Papstes Gregor geschmückt.“42 Insbesondere das zweite Buch der Sententiae, das sich nach dem ersten, eher dogmatisch orientierten Buch dem individuellen Leben des Christen oder der 37
Isidor von Sevilla, sent. 2,12,5–6 (CCL 111,119 CAZIER). Vgl. UHALDE 2007, 122–124. Vgl. für Gregors Lehre zur conpunctio NAGY 2000, 124– 132, STRAW 1988, 213–235 und CARLSON 2018, 4–13. 39 Vgl. COLLINS 21995, 60, der Gregor als „the greatest single influence upon the learning of the Spanish Church in the seventh century“ bezeichnet. 40 Vgl. CASTILLO MALDONADO 2020, 315–319. 41 Vgl. zu Taio, seiner Romreise und seiner Verarbeitung der Schriften Gregors Kap. 2.3.4. 42 Vgl. Braulio von Saragossa, renot. 31–33 (CCL 113B,202 MARTÍN): Sententiarum libros tres, quos floribus ex libris papae Gregorii Moralibus decorauit. 38
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
Christin zuwendet, ist für unsere Kontexte relevant. In den Kapiteln 8 bis 17 entfaltet sich hier eine spirituelle und moralische Bußlehre, die sich stark an Konzepten Gregors des Großen bedient (insbesondere der conpunctio cordis, die unten eingehender dargestellt wird), aber auch an Gregors Gedanken zur Gewissensprüfung, zur Selbstzüchtigung und zum Beweinen der Sünden.43 Gerade seiner Bußlehre ist nachgesagt worden, dass sie quasi eins zu eins von Gregor übernommen wurde. 44 Dies wird mittlerweile nicht mehr in dieser Strenge behauptet; vielmehr wird auch auf Unterschiede, die Isidor von Gregor absetzen, hingewiesen – Jacques Fontaine gilt Isidor insgesamt als im Vergleich zu Gregor stärker moralisierend und weniger spiritualisierend;45 gerade anhand der conpunctio cordis wird sich dies zeigen. In Schriften wie diesen, die zwar nur für eine klerikale und monastische ‚spirituelle Elite‘ gedacht waren, deren Ideen aber über deren pastorales Handeln dennoch eine Breitenwirkung entfalten konnten, wird somit ein potentiell für alle Christinnen und Christen gültiger Horizont zur Deutung ihrer Erfahrungen mit Schuld und Sühne aufgespannt: Late antique bishops cast penance in a vista so broad that its challenges and pitfalls, while foreboding, became wholly natural contours in a vaster landscape of sin and redemption.46
8.1.3 Literarische Klage und Bußspiritualität – Formexperimente Die Art und Weise, wie gewöhnliche Gläubige auf diesen Horizont reagierten oder mit ihm interagierten, ist natürlich nur unzureichend nachvollziehbar. Einige wenige Beispiele wisigotischer Predigten, die noch erhalten sind, scheinen jedoch geradezu durchdrungen von Bußrhetorik, insbesondere im Angesicht drohender Katastrophen.47 Sie dokumentieren, wie die Diskurse, die sich in den umfangreichen Kompilationen aus den Werken Gregors oder Augustinus’ spiegeln, pastoral wirksam wurden. Doch auch andere Textgattungen zeigen, wie solcherlei Diskurse – sozusagen in kondensierter Form – Kleriker geringerer Bildung und vielleicht sogar Laien mit einem Mindestmaß an Schulbildung erreichen konnten. Dabei scheinen gerade literarische Formen, die sich des Klageausdrucks bedienen, eine wichtige Rolle zu spielen.
43
Vgl. VARELA RODRÍGUEZ 2020, 513. Vgl. JUDIC 1999, 59. 45 Vgl. FONTAINE 1965, 163–195. 46 UHALDE 2007, 134. 47 Vgl. etwa einen Predigtzyklus von vier Homilien aus dem Toledaner Homiliar, abgedruckt in GRÉGOIRE 1966, 214–223; eine englische Übersetzung findet sich in KULIKOWSKI 2007, 160–170, der die kaum studierten Predigten auch inhaltlich, jedoch mit historischem Interesse, erschließt. 44
8.1 Bußspiritualität zwischen Ritual, Handlung und Emotion
431
Ein erstaunliches Beispiel dafür bietet wiederum ein (bislang wenig untersuchtes) Werk Isidors, das dem Denken Gregors, aber auch anderer Kirchenväter verpflichtet ist: die Synonyma.48 Auf den ersten Blick ist das Werk so grammatikalisch geprägt, wie es sein Titel vermuten lässt, und verfolgt offenkundig den Zweck der Sprachschulung. Durch die Aneinanderreihung synonymer Begriffe und Formulierungen sollen Wortschatz und Ausdrucksfähigkeit der Leserinnen und Leser – das wahrscheinlichste Zielpublikum dürften junge Kleriker, die für die Predigt ausgebildet wurden, gewesen sein – erweitert und geschult werden. Die Sprache, die in den Synonyma erlernt werden kann, ist jedoch eine sehr spezifische: die Sprache der Sündenklage. Bereits eingangs drückt Isidor seinen Wunsch aus, lamentum mihi uel miseris condere,49 was dem Werk eine persönliche Note gibt, aber gleichzeitig den Adressatenkreis stark weitet. Das Werk ist dialogisch aufgebaut: Die Seele (anima), die ihr Unglück beweint, unterhält sich mit der ratio, die Ermahnungen ausspricht – zwei personae, die optimale Platzhalter für die Leserinnen und Leser sind, die sich auf diese Weise selbst in die Sündenklage hineinbegeben können und sollen. Spirituell-asketisches Wissen erscheint dort nicht in systematisierter Form, sondern in Aktion, und zugleich in einer Form, die klar darauf angelegt ist, angeeignet und selbst – für die eigene Sündenklage – benutzt zu werden. Durch den Einsatz für die Klerikerschulung und die Formung ihres Predigens und pastoralen Handelns konnten die in den Synonyma transportierten Diskurse um Sünde und Buße, die dargestellten Bewegungen der Seele und Handlungsimpulse eine potentiell unbeschränkte Breitenwirkung entfalten und Gläubige unabhängig von ihrer Affiliation mit dem Büßerstand oder dem Kloster erreichen. Wir haben es also mit einem Formexperiment zu tun, bei dem eine etablierte, nicht religiös konnotierte Textgattung mit dem primären Zweck der Hilfe beim Spracherwerb umgestaltet wird, um zu einem Medium für die Bußspiritualität werden zu können.50 Das wisigotische Spanien scheint insgesamt für literarische Innovationen im Kontext und im Dienst der Bußspiritualität ein fruchtbarer Nährboden gewesen zu sein. Wie angedeutet, kann auch das von Chindasuinth initiierte Projekt der Revision des Dracontius-Werkes ein Interesse an ‚Pönitentialpoesie‘ bezeugen. Neben den Gedichten des Eugenius, von denen sich einige dieser Thematik zuordnen lassen, sind uns möglicherweise noch zwei Eigenproduktionen des wisigotischen Spanien erhalten, die ursprünglich Isidor, später aber auch Sisbert, dem Nachfolger Julians von Toledo, zugeschrieben wurden, deren Autorenschaft heute aber nicht mehr zu ermitteln ist: Die Exhortatio paenitendi und 48
Vgl. zum ‚Rätsel‘ der Synonyma, das in der Frage besteht, ob es in erster Linie als spirituell-moralisches Werk oder als Sprachschulung geeignet war, insbesondere ELFASSI 2006 und 2005 sowie FONTAINE 1965. 49 Isidor von Sevilla, synon. 1,3 (CCL 111B,5 ELFASSI). 50 Vgl. FIREY 2016, 8.
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
das Lamentum paenitentiae.51 Sie wurden lange im Spanien des 7. Jahrhunderts verortet, jüngst wurde aber auch diskutiert, ob sie nicht eher karolingischer Provenienz sein dürften.52 Zumindest die Exhortatio scheint jedoch klar von Isidors Synonyma inspiriert und übernimmt das Motiv der Ansprache an die Seele des Menschen. Zudem gibt uns ihr Ende einen Hinweis, welchen Nutzen man der Klage – und der Klagepoesie! – in spiritueller Hinsicht zuschreiben konnte: Sequentia uero carmina constructa lamentis Suspirando lectita, nonnumquam plorando decanta;53 In einem Fort aber lies Gedichte, gebaut aus Klagen unter Seufzen immer wieder, singe sie öfters weinend.
Dass auch Gedichte des Eugenius, die persönlicherer Art sind und nie nur die Klage einer austauschbaren anima wiedergeben, in diesem Kontext der poetischen Innovation um die Klage und Buße zu sehen sind, hat für carm. 25 David Ungvary aufgezeigt, der das Epitaph in persona des Königs Chindasuinth als „experiment in the development of penitential lyric“54 sieht. Auch hier bedient sich Eugenius einer überkommenen Textform (hier: des Epitaphs), um damit die bußfertige Haltung des Königs kommemorieren, aktualisieren und auch nach außen hin kommunizieren zu können. Die Analyse des Gedichtbuches und insbesondere der zentralen Klagegedichte über Krankheit, Alter und Tod und die Auto-Epitaphe haben dabei gezeigt, dass diese Gedichte, obwohl sie zunächst bei der Klage über Aspekte der condicio humana ansetzen, ebenfalls am Diskurs um Sünde und Buße partizipieren. Und dies in umfassendem Sinne: Sie bilden zentrale Konzepte der inneren Prozesse bei der Buße ebenso ab, wie sie das Ausüben unterschiedlicher Bußpraktiken darstellen, anregen und selbst beispielhaft durchführen. Die Art und Weise, wie dies geschieht, soll in den folgenden Abschnitten zusammengefasst werden.
8.2 Klage und conpunctio cordis 8.2 Klage und conpunctio cordis
Nach Andrew Fear erfüllen einige der Klagegedichte des Eugenius eine spezifische spirituell-didaktische Funktion: Sie zeigen für das lyrische Ich selbst und für die Leserinnen und Leser einen Weg auf, wie das beklagte Leid zu einem Mittel der spirituellen Vervollkommnung werden kann. Diesen in manchen der 51 (Ps.-)Sisbert von Toledo, lament. (MGH.PLAC 4,2,769–783 STRECKER), und exhort. (MGH.PLAC 4,2,760–768 STRECKER). Vgl. dazu einleitend CANCELA CILLERUELO 2016, 123–126 sowie ELFASSI 2011, 53–60. 52 Vgl. ELFASSI 2011, 53–60. 53 (Ps.-)Sisbert von Toledo, exhort. 171–172 (MGH.PLAC 4,2,768 STRECKER). 54 UNGVARY 2018b, 315.
8.2 Klage und conpunctio cordis
433
Carmina abgebildeten spirituellen Prozess der Loslösung vom Irdischen und der Hinwendung zu Gott identifiziert Andrew Fear als conpunctio cordis.55 Einzelne Analysen, insbesondere des carm. 5 und carm. 14, haben in der Tat aufgezeigt, dass einige Dichtungen des Eugenius strukturelle Ähnlichkeiten zu diesem gerade im Denken Gregors des Großen wichtigen und eng mit der Buße verknüpften Konzept aufweisen. Die conpunctio cordis ist jedoch in sich selbst ein schillernder Begriff, der durch die Theologie- und Spiritualitätsgeschichte hindurch unterschiedliche Facetten erhielt – und manchmal auch wieder verlor. Um einen Hintergrund für die Carmina des Eugenius zu gewinnen und deren Positionierung in dieser Hinsicht zu erleichtern, soll daher zunächst die theologische Begriffsgeschichte der conpunctio cordis im Westen in ihren Grundzügen nachgezeichnet werden. 8.2.1 Die conpunctio cordis als komplexe spirituelle Emotion Der Begriff conpunctio ist das lateinische Äquivalent zum griechischen Begriff ôëüĄ÷ýÿóÏ. Beiden Begriffen liegt über ihre etymologische Herkunft – pungere bzw. ôëüë÷Ŵûûþ – die Metapher des schmerzhaften Stechens zugrunde, weshalb sich im Deutschen am ehesten die Wiedergabe mit ‚Zerknirschung‘ anbietet, in der sowohl der Schmerzaspekt als auch der Bezug zur Buße deutlich wird.56 Das damit bezeichnete Phänomen entzieht sich aber einer einfachen Definition. Ein Grund dafür ist, dass der Begriff schon in der patristischen Literatur im Kontext eines Konglomerats an Ausdrucksformen und Praktiken der Bußspiritualität auftritt, was eine klare Abgrenzung von verwandten Begriffen erschwert. Dies ist im lateinischen Bereich noch stärker der Fall als im byzantinischen, wo die theologischen Begriffe und deren inhaltliche Füllung klarer definiert sind, weshalb in letzterem auch die Beschreibung in der Forschung weiter vorangeschritten ist.57 Für den byzantinischen Bereich wird insbesondere in jüngerer Zeit genauer zwischen den in der Forschung zuvor oft als austauschbar betrachteten Begriffen ôëüĄ÷ýÿóÏ und ě÷ùøÏ (der religiösen Trauer) unterschieden. 58 Nach Hannah Hunt geschieht die ôëüĄ ÷ýÿóÏ gemäß ihrer etymologischen Herkunft in einem Moment, der dem Ich die eigene Sündhaftigkeit und Trennung von Gott schmerzhaft zu Bewusstsein bringt: „Katanuxis is ‚the mother of tears‘ because it shocks the penitent out of 55
Vgl. FEAR 2010, passim sowie 2019, passim. Vgl. GIANNOULI 2009, 144: „Das Wort katanyxis, das für den Reueschmerz steht, durch den die Buße bekundet wird, ist vom griechischen Verb ôëüë÷Ŵûûþ herzuleiten, welches wörtlich zerstechen, Schmerz verursachen bedeutet und, metaphorisch auf die Seele übertragen, die Bedeutung betrüben bzw. zerknirschen, ergreifen hat.“ 57 Vgl. für den griechischsprachigen Osten die grundlegende Studie von HAUSHERR 1982 und, darauf aufbauend und präzisierend, HUNT 2004, 9–16. 58 HAUSHERR 1982, 7–9 nahm die Unterscheidung im Grunde schon selbst vorweg, sah aber in der pastoralen und spirituellen Praxis de facto einen synonymen Gebrauch vorliegen. 56
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
complacency, bringing to the surface of the mind and heart a painful awareness of having lost God’s favor.“59 Die Metapher vom ‚Stich ins Herz‘ impliziert also in diesem Kontext nicht nur den Schmerz, sondern auch die zeitliche Kürze eines spirituellen Schocks. Die religiöse Trauer dagegen versteht sie als längerfristigen Prozess, der von der ôëüĄ÷ýÿóÏ angestoßen wird. Gleichzeitig setzt sie ein Caveat vor einer Überbetonung solcher Unterscheidungen: „The writers at this period were not overly concerned about maintaining discrete meanings for the words they used; their concern was far more with communicating the importance of feeling, in the right way, emotions which would lead to spiritual growth.“60 Ähnliches kann für die conpunctio im westlichen Christentum gelten, die nach Irénée Hausherr dort zum wichtigeren Reflexionsbegriff wird als das ě÷ùøÏ-Äquivalent luctus.61 Insbesondere ist für den christlichen Westen die conpunctio aber als Bestandteil bzw. innere Seite der religiösen Tränen, der gratia lacrimarum untersucht worden, für die Piroska Nagy die bislang maßgebliche und umfassende Studie vorlegt, die einen Zeitraum von den antiken Ursprüngen bis ins 13. Jahrhundert umfasst.62 Zur Zeit des Eugenius, im 7. Jahrhundert, befinden wir uns nach Nagy noch in der Entstehungs- und Konsolidierungsphase dieses Konzeptes, in der zentrale Ideen bereits vorhanden sind und sich allmählich in den spirituellen Diskursen verbreiten, bevor sie ihre Hochphase im 12. Jahrhundert erreichen.63 Definitionen und Begrifflichkeiten, wie sie in den Quellen aufscheinen, sind dabei durchweg fluide, überlappen sich teilweise oder werden mal synonym, mal unterscheidend gebraucht. Piroska Nagy selbst verweist insbesondere auf die innere Verbindung der Begriffe lacrimae – conpunctio – contritio, von denen die lacrimae die äußerlich sichtbare Seite, die conpunctio die affektive Seite und die contritio die spirituelle Seite darstelle.64 Gleichzeitig scheint insbesondere contritio stärker ein passives Erleiden des Reueschmerzes, der den Menschen über seine Sünde befällt, zu beschreiben, während die conpunctio
59
HUNT 2004, 16. HUNT 2004, 16. 61 Vgl. HAUSHERR 1982, 10. 62 Vgl. NAGY 2000. Vgl. zu früheren überblicksartigen Untersuchungen der conpunctio im christlichen Westen neben HAUSHERR 1982 auch MCENTIRE 1990, RÉGAMEY 1963 und PÉGON 1953. 63 Vgl. NAGY 2000, 33–35, die sich gegen die früher vertretene These wendet, das Konzept sei nach dem 6. Jahrhundert, nach Gregor dem Großen, verschwunden: „Au lieu de la disparition du don des larmes entre le VIe et le VIe siècle, le sondage montre au contraire la lente mais indéniable diffusion de l’expression, inséparable d’une plus large association des larmes et de l’idée de la grâce.“ Vgl. nun auch die Beiträge im Sammelband von WILLIAMS/STEENBRUGGE 2021, die schwerpunktmäßig das Hochmittelalter abdecken. 64 Vgl. NAGY 2000, 25. 60
8.2 Klage und conpunctio cordis
435
ein weiteres Bedeutungsfeld umfassen kann und eher eine spirituelle Bewegung als einen Zustand impliziert, wie im Folgenden noch deutlich werden wird.65 Bedeutung erlangt das Konzept in erster Linie durch die Schriften Johannes Cassians, des Grenzgängers zwischen Ost und West, der sowohl Latein als auch Griechisch fließend beherrschte und mit seinen Institutiones und Conlationes auch die westliche Spiritualität entscheidend prägte.66 Insbesondere beeinflussten seine Schriften die Benediktsregel, die eine der wichtigsten Grundlagen für das westliche Mönchtum darstellt.67 Der Begriff der conpunctio wird bei Cassian selbst nicht genau definiert, sondern er listet in seiner 9. Conlatio die Anlässe der conpunctio68 sowie deren äußere Ausdrucksformen auf, die erstaunlich vielfältig sind: Neben den (geläufigen) Tränen der conpunctio können auch nicht unterdrückbare Freudenschreie, die so laut sind, dass sie in der Zelle des Nachbarn noch zu hören sind, oder ein tiefes Erstarren und Verstummen die Art und Weise sein, „wie und auf welche Weisen diese conpunctiones selbst aus den innersten Räumen der Seele emporgetragen werden.“69 Im Fortgang der 9. Conlatio engt sich dieses weite Spektrum jedoch auf die conpunctio lacrimarum ein. Vier unterschiedliche Arten dieser lacrimae, die zunächst als äußerer Vollzug der conpunctio genannt waren und nun praktisch damit gleichgesetzt werden,70 sind nach Johannes Cassian unterscheidbar: 1) fletus, qui peccatorum spina cor nostrum conpungente profertur 2) qui de contemplatione aeternorum bonorum et desiderio futurae illius claritatis exoritur
65 Vgl. RÉGAMEY 1963, 74; die Unterscheidung wird aufgenommen von NAGY 2000, 428–429. 66 Vgl. DRIVER 2002 zur Vermittlerrolle Cassians zwischen östlichem, v.a. ägyptischem, und westlichem Mönchtum. Vgl. allgemein zu Johannes Cassians’ Spiritualität STEWART 1998 und nun CLEMENTS 2020. 67 Vgl. NAGY 2000, 108. 68 Vgl. Johannes Cassian, conl. 9,26 (CSEL 13,273 PETSCHENIG). Zu diesen ‚Anlässen‘ der conpunctio gehört etwa das Singen oder Hören von Psalmen, ein intensives Gespräch mit einem spirituell Fortgeschritteneren, der Tod eines Mitbruders oder einer nahestehenden Person sowie das Gedenken der eigenen Sünden. Vgl. zur conpunctio bei Johannes Cassian STEWART 1998, 125–129. 69 Johannes Cassian, conl. 9,27 (CSEL 13,273 PETSCHENIG): Quemadmodum uero uel quibus modis istae ipsae conpunctiones de intimis animae conclauibus proferantur. Vgl. dazu STEWART 2013, 222. 70 STEWART 2013, 227 sieht eine enge Verbindung zwischen beidem: „for Cassian conpunctio was a term inclusive of various forms of intense spiritual experience, whether sorrow for sins or gratitude for God’s mercy, and was closely associated with the phenomenon of physical tears.“ Auch Gregor rezipiert wohl die lacrimae im 28. Kapitel der 9. Conlatio als quasi äquivalent zur conpunctio, indem er deren vierteilige Untergliederung für seine eigenen Ausführungen zur conpunctio übernimmt.
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
3) lacrimae, quae absque ulla quidem letalium criminum conscientia, sed tamen de metu gehennae et terribilis illius iudicii recordatione procedunt 4) lacrimarum genus, quod non pro sua conscientia, sed pro aliena duritia peccatisque generatur71
Die vierfache Unterteilung sollte in der Rezeption Cassians durch Gregor (und, in seinem Gefolge, Isidor) grundsätzlich beibehalten, jedoch leicht modifiziert werden.72 Die conpunctio spielt in Gregors spirituellem und pastoralem Denken und Handeln eine nicht zu unterschätzende Rolle und ist eng mit der Buße (paenitentia) verknüpft. Die genaue Verhältnisbestimmung beider Begriffe gestaltet sich jedoch schwierig.73 Zunächst ist festzuhalten, dass die conpunctio ein spiritueller Prozess ist, den die Büßenden bei der Klage über ihre Sünden vollziehen. So antwortet Gregor im dritten Buch seiner Dialoge auf die Frage, wie viele Arten der conpunctio es gibt, zunächst ausweichend: „Die conpunctio lässt sich in viele Erscheinungsformen unterteilen, da ja die Schulden von den Büßenden je einzeln beklagt werden.“74 Jeder einzelnen Schuld entspricht also eine spezifische conpunctio. Trotzdem lässt sich Gregor dann doch auf eine allgemeine Aussage über die Arten der conpunctio ein: Principaliter uero conpunctionis genera duo sunt, quia deum sitiens anima prius timore conpungitur, post amore. Prius enim sese in lacrimis afficit, quia, dum malorum suorum recolit, pro his perpeti supplicia aeterna pertimescit. At uero cum longa moeroris anxietudine fuerit formido consumpta, quaedam iam de praesumptione ueniae securitas nas-
71
Johannes Cassian, conl. 9,28 (CSEL 13,274 PETSCHENIG). Vgl. zur conpunctio bei Gregor NAGY 2000, 127–133, STRAW 1988, 213–235 und CARLSON 2018, 4–13. 73 Dies spiegelt sich auch in der aktuellen Forschung, in der eine Verhältnisbestimmung meist unterbleibt. EICH 2016, 187 sieht conpunctio als „übergeordnete[n] Begriff der Zeit“ für ein „Bündel von Emotionen, die Menschen in Gregors Darstellung empfinden, bevor sie sich erneut auf Christus einlassen.“ Carole Straw verwendet in ihren Ausführungen zu Gregor die Begriffe nahezu synonym, vgl. STRAW 2013, 202: „compunction wounds the mind, cleansing it of pride. […] Similarly, the sharp severity of penitence chastens and cleanses every appetite.“ In letzterem Satz ist vielleicht an den inneren Prozess der Buße ggü. einer weiteren Fassung von Buße, wie eine selbst- oder fremdauferlegte strenge Askese zu denken. Keinen Unterschied kann ich a.a.O., 203 erkennen: „Compunction is the powerful ‚engine‘ (machina) drawing the soul forward, but it also runs in the reverse. Penitence and contemplation are related dialectically, suggesting why progress reverses and repeats itself as it does.“ STEWART 2013, 227–228, der den monastischen Mystizismus dieser Zeit zu beschreiben sucht, sieht Gregors compunctio-Konzept dagegen nicht im Lichte der Pönitenz, sondern als „motor of contemplative progress“ (a.a.O., 228). 74 Gregor der Große, dial. 3,34 (SC 260,400 DE VOGÜÉ): In multis speciebus conpunctio diuiditur, quando singulae quaeque a poenitentibus culpae planguntur. 72
8.2 Klage und conpunctio cordis
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citur et in amore caelestium gaudiorum animus inflammatur et qui prius flebat ne duceretur ad supplicium, postmodum flere amarissime incipit quia differtur a regno. […] Sicque fit, ut perfecta conpunctio formidinis tradat animum conpunctioni dilectionis.75 Grundsätzlich aber gibt es zwei Arten der Zerknirschung, weil die Seele, die nach Gott dürstet, zuerst von Furcht zerknirscht wird, dann von Liebe. Denn erst quält sie sich in Tränen, weil sie, während sie sich an ihr Schlechtes erinnert, in Furcht gerät, dafür ewige Strafen zu erdulden. Wenn aber die Angst durch das lange kummervolle Bangen aufgebraucht ist, entsteht schon aus der Vorwegnahme der Vergebung eine gewisse Sicherheit und der Geist wird in der Liebe zu den himmlischen Freuden entflammt und er, der zuvor weinte, er möge nicht der Strafe zugeführt werden, beginnt danach bitterlichst zu weinen, weil er vom Königreich entfernt ist. […] Und so kommt es, dass die Zerknirschung der Angst, wenn sie vollendet ist, den Geist an die Zerknirschung der Liebe übergibt.
Hier stellen sich die beiden Arten der conpunctio klar als Abfolge innerhalb eines Prozesses dar: Einer langen Qual in der Furcht angesichts der Sünde (conpunctio formidinis) folgt ein neues Entflammtwerden in der Liebe zu Gott (conpunctio dilectionis), eine ‚freudige Zerknirschung‘, der die Tränen der Liebe entsprechen. In dieser Kurzfassung der conpunctio erkennen wir zwar Cassians vier Aspekte teilweise wieder (bis auf den Aspekt der Trauer über die Sünden anderer),76 der Prozesscharakter der conpunctio ist jedoch neu. Im 23. Buch der Moralia unternimmt Gregor noch einmal eine Systematisierung der conpunctio und schildert diesmal die unterschiedlichen Anlässe bzw. Motive, die die conpunctio auslösen können – nun mit einer Vierteilung, nicht Zweiteilung: Quattuor quippe sunt qualitates quibus iusti uiri anima in compunctione uehementer afficitur, cum aut malorum suorum reminiscitur, considerans ubi fuit; aut iudiciorum dei sententiam metuens et secum quaerens, cogitat ubi erit; aut cum mala uitae praesentis sollerter attendens, maerens considerat ubi est; aut cum bona supernae patriae contemplatur, quae quia necdum adipiscitur, lugens conspicit ubi non est.77 Vier Beschaffenheiten sind es ja, durch die die Seele des gerechten Mannes heftig in Zerknirschung mitgenommen wird, wenn er sich entweder seiner Übel erinnert und bedenkt, wo er gewesen ist, oder den Urteilsspruch Gottes im Gericht fürchtet, bei sich ergründet und daran denkt, wo er sein wird; oder wenn er klug auf die Übel des gegenwärtigen Lebens achtet und traurig bedenkt, wo er ist; oder wenn er die Güter der himmlischen Heimat betrachtet und, weil er sie noch nicht erreicht, bekümmert sieht, wo er nicht ist.
Hier werden, im Unterschied zu Cassian und der erstzitierten Ausführung Gregors, die dialektisch mit den bona supernae patriae verbundenen mala uitae
75 Gregor der Große, dial. 3,34 (SC 260,400 DE VOGÜÉ). Vgl. auch die beinahe identischen Ausführungen in ep. 7,23 (CCL 140,475–476 NORBERG). 76 Vgl. CARLSON 2018, 5. 77 Gregor der Große, moral. 23,21,41 (CCL 143B,1175 ADRIAEN).
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
praesentis zu einem eigenen Gegenstand, durch den conpunctio ausgelöst werden kann. Isidor wird sie später als peregrinatio in huius vitae longinquitate umschreiben.78 Ferner ist es hier explizit die Seele des Gerechten, die Zerknirschung erfährt (iusti uiri anima). Gerechtigkeit bedeutet für Gregor nie makellose Freiheit von Sünde; der Mensch ist immer unvollkommen79 und bedarf daher der Transformation, um sich von seiner Verstrickung ins Irdische freizumachen und Gott (von neuem) anzuhängen. Gerade aufgrund der Unvollkommenheit des Menschen kann diese erneute Umkehr zu Gott aber ebensowenig dauerhaft sein wie die erste Konversion des Menschen, nach der er trotzdem wieder abgleitet. Zyklisch wird er immer wieder in den Zustand der Sünde zurückgeworfen. Conpunctio kann daher kein anlassbezogener, linearer spiritueller Prozess sein, sondern eine reiterative spirituelle Praxis, aus der eine konstante Haltung der ‚Zerknirschung‘ erwachsen soll: Gregory does not present compunction as the sting of remorse familiar from later, especially scholastic, models of ritual penance, but rather as a complex and persistent process of transformation: […] Compunction, rather than causing a moment of repentance and conversion, initiates a turn towards God and then persists as a habit of constantly turning towards God in changing circumstances.80
Im Vergleich zum griechischen ôëüĄ÷ýÿóÏ-Begriff geht also der Aspekt des ‚spirituellen Schocks‘ verloren. Der Prozesscharakter der conpunctio erklärt, warum sie für Gregor auch in den monastischen Alltag integriert werden muss; er versteht sie explizit als geistiges Pendant zur körperlichen Askese, sozusagen als disciplina interior.81 Als solche wird sie in spirituelle Praktiken integriert und auch durch diese verwirklicht, besonders durch die Schriftlesung82 und das Gebet, das nach Gregor nicht im ruhigen Aneinanderreihen von Worten, sondern in „bitteren Klagen der Zerknirschung“ geschehen soll.83 Besonders bedeutsam ist jedoch das Vergießen von Tränen, das schon für Cassian beinahe austauschbar mit der con-
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Isidor von Sevilla, sent. 2,12,4 (CCL 11,118 CAZIER). Dies ist die Sinnspitze von Gregors Auslegungen zu Ijob: Auch wenn Ijob keine so offenkundig schwere Sünde begangen hat, dass er die Schläge Gottes verdiente, kann er doch, als Mensch, nie als unschuldig und sündenlos gelten; vgl. STRAW 2016, 87–88 mit Verweis auf Gregor den Großen, moral. 13,30,34 (CCL 143A,687 ADRIAEN). 80 CARLSON 2018, 6–7. 81 Gregor der Große, moral. 23,21,40 (CCL 143B,1175 ADRIAEN): et disciplina exterior culpas diluit et extensam mentem compunctio paenitentiae ultione transfigit. 82 Vgl. Gregors Bemerkung im Brief an Leander, er werde bei der eifrigen Schriftlesung von der cotidianae […] aspiratio compunctionis beseelt; Gregor der Große, moral. epist. 1 (CCL 143,2 ADRIAEN). 83 Vgl. Gregor der Große, moral. 33,23,43 (CCL 143B,1712 ADRIAEN): Veraciter namque orare, est amaros in compunctione gemitus, et non composita uerba resonare. 79
8.2 Klage und conpunctio cordis
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punctio war. So beschreibt auch Gregor parallel zu seinen beiden conpunctiones dort, wo es um ‚spirituelle Tränen‘ geht, Tränen aus Trauer und Tränen aus Freude, Tränen von oben, von der Sehnsucht nach Gott her, und Tränen von unten, aus dem Sündenbewusstsein heraus.84 Die Tränen sind also der äußere Ausdruck der conpunctio. Auch Isidor erweist sich als enger Rezipient der conpunctio-Lehre Gregors. In seinem zweiten Buch der Sententiae widmet er der Zerknirschung ein eigenes Kapitel (sent. 2,12), das seinen Ausführungen über das Sündenbekenntnis und die Buße (sent. 2,13) vorangeschaltet ist und daher eng auf den Bußprozess bezogen scheint. Bereits seine ‚Kurzdefinition‘, die er vorausschickt, setzt jedoch einen leicht anderen Akzent als das conpunctio-Konzept Gregors: Conpunctio cordis est humilitas mentis cum lacrimis, exoriens de recordatione peccati et timore iudicii. Illa est conuersis perfectior conpunctionis affectio, quae omnes a se carnalium desideriorum affectus repellit, et intentionem suam toto mentis studio in Dei contemplationem defigit.85 Zerknirschung des Herzens ist Demut des Geistes unter Tränen, die aus der Vergegenwärtigung der Sünde und der Furcht vor dem Gericht entsteht. Jenes ist für die Bekehrten die vollkommenere Betroffenheit von der Zerknirschung, die alle Affekte fleischlicher Begierden von sich fortweist und ihre Aufmerksamkeit mit ganzem geistigen Eifer an die Kontemplation Gottes heftet.
Das Hauptaugenmerk liegt also zunächst auf der conpunctio als Sündenschmerz und als Furcht vor dem Gericht – in Gregors Worten: auf der conpunctio formidinis. Die conpunctio hat auch bei Isidor ein kontemplatives Element, insofern sie das Ziel hat, den Menschen von seiner Verhaftung in irdische Freuden zu lösen und auf Gott hin zu orientieren. Ebenso ist für Isidor im Anschluss an Gregor nicht nur das – in seine Kurzdefinition aufgenommene – Gedenken der Sünden und Fürchten des Gerichtes, sondern auch die schmerzhafte Sehnsucht nach der himmlischen Heimat ein Anlass der conpunctio: Quattuor esse qualitates affectionum quibus mens iusti taedio salubri conpungitur, hoc est memoria praeteritorum facinorum, recordatio futurarum poenarum, consideratio peregrinationis suae in huius uitae longinquitate, desiderium supernae patriae, quatenus ad eam quantocius ualeat peruenire.86 Vier Arten von Betroffenheit gibt es, durch die der Geist des Gerechten von heilsamem Ekel zerknirscht wird, nämlich die Erinnerung an vergangene Untaten, das Denken an zukünftige Strafen, das Bedenken der eigenen Pilgerschaft in der langen Dauer dieses 84 Vgl. Gregor der Große, moral. 24,6 (CCL 143B,1195 ADRIAEN): Illa compunctio afficientes ac tristes, haec uero laetas lacrimas mouet, und dial. 3,34 (SC 260,402 DE VOGÜÉ): Inriguum quippe superius accipit anima, cum sese in lacrimis caelestis regni desiderio adfligit, inriguum uero inferius accipit, cum inferni supplicia flendo pertimescit. Vgl. dazu NAGY 2004, 125. 85 Isidor von Sevilla, sent. 2,12,1–4 (CCL 111,118 CAZIER). 86 Isidor von Sevilla, sent. 2,12,1–4 (CCL 111,118 CAZIER).
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
Lebens, die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, nämlich zu ihr zu gelangen, so schnell es möglich ist.
Auf einen Umschwung der conpunctio in die conpunctio dilectionis, die nach Gregor den Menschen in einen ekstatischen Zustand der flammenden Liebe zu Gott zu versetzen vermag, warten wir bei Isidor jedoch vergeblich.87 Dabei scheint er diese Art des ‚emotionalen Übergangs‘ von der Furcht zur Liebe durchaus zu kennen. In seiner Beschreibung der Konversion, also der ‚ersten‘ Bekehrung zu Gott (wohingegen die conpunctio als habituelle, ständige Umkehr zu Gott begriffen werden kann), betont er durchaus, dass man bei der ersten, die Konversion motivierenden Furcht vor der göttlichen Gerechtigkeit nicht stehenbleiben dürfe: „Ein jeder Bekehrte muss nach der Furcht sich zur Liebe zu Gott erheben wie ein Sohn, damit er nicht immer der Furcht unterliege wie ein Sklave.“88 Im Kontext der Buße schien Isidor dies jedoch nicht für angemessen gehalten zu haben. Insbesondere dürfte er Gregors Bemerkungen, dass diese Liebe durch die „Sicherheit aus der Vorwegnahme der Vergebung heraus“ (de praesumptione ueniae securitas) entstehe, kritisch gesehen haben. Selbst sieht er eine innere Sicherheit des Pönitenten hinsichtlich des Erfolgs seiner Buße ebenso kritisch wie das entgegengesetzte Extrem, die Verzweiflung, die nicht auf Gottes Gnade vertrauen kann, da diese Sicherheit zum potentiellen Einfallstor für den Rückfall in die Sünde werden könne.89 Die affektive Qualität, die Isidor der conpunctio zuschreibt, ist demnach – für alle vier qualitates – das taedium salubre, ein heilsamer Überdruss und Ekel vor allem Irdischen, den wir bei Gregor nicht finden und der Isidors eigener Interpretation der conpunctio zu entspringen scheint. Gregors ekstatischer, aus der Zerknirschung entstehender Gottesliebe scheint Isidor, dessen Rhetorik hier allgemein ‚kühler‘ erscheint, also mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. Dennoch rechnet auch er mit der Möglichkeit, dass die conpunctio für den Menschen in eine mystische Gotteserfahrung führen kann. Er bleibt jedoch deutlich zurückhaltender bei der Beschreibung der Art und Weise, wie dies stattfindet, und scheint es zudem für eine nur wenigen Auserwählten vorbehaltene Erfahrung zu halten:
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Vgl. VARELA RODRÍGUEZ 2020, 513–514 und FONTAINE 1965, 195. Isidor von Sevilla, sent, 2,8,4 (CCL 111,109 CAZIER): Necesse est omni conuerso ut post timorem consurgere ad caritatem Dei debeat quasi filius, ne semper sub timore iaceat quasi seruus. 89 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,13,18 (CCL 111,123 CAZIER): Neque enim unquam oportet paenitentem habere de peccatis securitatem. Nam securitas neglegentiam parit, neglegentia autem saepe incautum ad uitia transacta reducit. Vgl. im Gegensatz dazu sent. 2,14 (CCL 111,124–126 CAZIER) über die Gründe, weshalb auch Verzweiflung hinsichtlich der eigenen Sünden nicht angemessen sei. 88
8.2 Klage und conpunctio cordis
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Quo mens hominis iusti ex uera conpunctione rapiatur, et qualiter infirmata reuertatur degustatae lucis magnitudine, illum nosse posse qui iam aliquid exinde gustauit.90 Wohin der Geist des gerechten Menschen aus wahrer Zerknirschung heraus mitgerissen wird, und wie er, geschwächt von der Größe des Lichtes, das er gekostet hat, zurückkehrt, das kann nur jener wissen, der schon etwas von dort gekostet hat.
Was ist also die conpunctio? Handelt es sich dabei um eine Emotion, die empfunden wird? Um eine bestimmte Art von Gedanken und Erinnerungen? Oder um eine Praxis, sogar um eine spirituelle Technik? Diese Aspekte müssen sich nicht widersprechen. Im Gegenteil hat die emotionsgeschichtliche Forschung Emotionen im Allgemeinen oft als Handlung des Menschen konzeptualisiert, als „an action of a mindful body“, eines Körpers, der also nicht biologistisch zu verkürzen ist, sondern einen „locus for innate and learned capacities deeply shaped by habitual practices“91 darstellt, der also nicht ahistorisch oder akulturell gedacht wird, sondern sozial geprägt ist und selbst prägend wirkt. Insofern Gregor und Isidor die ‚inneren Bewegungen‘ der Seele beschreiben, die conpunctio in einem Zusammenspiel von Begriffen darstellen, die schon in der Antike als Emotionsbegriffe galten (wie timor, amor, dolor, taedium), ‚kognitive Tätigkeiten‘ innerhalb dieses Prozesses angeben (cogitare, reminisci, contemplari etc.), bestimmte Äußerungsformen (Klage, Tränen) sowie Praktiken (Gebet, Schriftlesung, spirituelle Gespräche) beschreiben, in denen der Mensch conpunctio erfahren kann, erweist sich das Konzept als ein Komplex unterschiedlicher Dimensionen, der dem heutigen Verständnis der Emotionsforschung durchaus entgegenkommt. Indem Gregor und Autoren nach ihm (wie wir sehen werden, auch Eugenius) die genannten ‚Teildimensionen‘ der conpunctio immer wieder in theologischexegetischen Schriften, aber auch in ihrer Korrespondenz oder eben in der Lyrik darstellen, in der sie die Leserinnen und Leser an einem konstruierten persönlichen Leben teilhaben lassen, kommunizieren sie einen emotionalen Stil, den die Adressaten zumindest als Idealbild aufnehmen, wenn nicht sogar ‚lernen‘ können – so wie der Interlocutor Petrus im dritten Buch der Dialoge wünscht, von Gregor die „Kraft der Tränen umfassender zu erlernen“. 92 Gleichzeitig wird die conpunctio (und besonders ihr Ausdruck in den Tränen) immer als etwas betrachtet, was nicht erzwungen werden kann, sondern letztlich eine Gnade, ein Geschenk von Gott ist: die gratia lacrimarum, die von Gott cum magno gemitu erfleht werden muss.93 Johannes Cassian hatte sich sogar explizit gegen Versuche gewandt, diese Tränen bewusst hervorrufen zu 90
Isidor von Sevilla, sent. 2,12,7 (CCL 111,119 CAZIER). SCHEER 2012, 220. 92 Gregor der Große, dial. 3,33 (SC 260,398–400 DE VOGÜÉ): ipsam lacrimarum uim largius addiscere cupio. 93 Gregor der Große, dial. 3,34 (SC 260,402 DE VOGÜÉ): a creatore nostro cum magno gemitu quaerenda est lacrimarum gratia. 91
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
wollen.94 Wie Nagy bemerkt, ist die Spannung zwischen der Eigentätigkeit des Menschen und der an der Seele des Menschen wirkenden Gnade Gottes etwas, das sich durch den gesamten christlichen Diskurs um die spirituellen Tränen zieht95 und letztlich für jede moralische oder spirituelle Tat oder Qualität des Menschen gilt. 8.2.2 Klage als performative conpunctio in den Carmina? Inwiefern spiegelt sich die conpunctio in den Carmina des Eugenius wider? Der Begriff selbst taucht dort an keiner Stelle auf; lediglich in carm. 35 und 36 ist von den Streitereien die Rede, mit denen die Herzen der Menschen ‚gestochen‘ würden – eine positive Konnotation der conpunctio (die als schmerzhaft, aber heilsam und daher unbedingt erstrebenswert betrachtet wurde) liegt hier aber nicht vor. In carm. 36 ist es gerade der Dämon, der die Herzen der Menschen auf diese Weise ‚sticht‘ und vor dem Christus die Menschen retten muss. Dagegen taucht an zwei Stellen – carm. 5b,3 und carm. 25,5 – mit contrita corda und contritum pectus der verwandte Begriff der contritio auf, der, wie dargestellt, von der conpunctio schwer abzutrennen ist, aber stärker auf den Sündenschmerz, die Selbsterniedrigung und das passive Warten auf Gottes rettendes Handeln beschränkt ist. Insbesondere sind aber die religiösen Tränen als äußerer Ausdruck der conpunctio in den Carmina präsent.96 Teils geschieht dies im Modus der Selbstaufforderung (besonders carm. 5,3: lacrimis ora madescant und 5,7: Eugeni miselle plora) oder auch der Aufforderung an die jeweils angesprochene Gemeinschaft der Gläubigen, fromme Tränen zu vergießen (carm. 5,28: mecum lacrimas effundite; carm. 5b,49: Riuos aquarum profluamus proximi). In carm. 1,17–18 kommt auch der angedeutete gnadenhafte Charakter der Tränen zum Ausdruck, als etwas, das Gott selbst dem lyrischen Ich geben muss. Die Bestimmung des Anlasses und die Deutung dieser Tränen ist nicht immer zweifelsfrei möglich. Dies hängt auch damit zusammen, dass es meist das lyrische Ich selbst ist, das weint, und aufgrund der Ich-Perspektive der Gedichte die Kommentierung durch einen distanzierten Erzähler, der diese Tränen deuten könnte, fehlt. Wir wissen oft nicht: Gelten die Tränen einem konkreten Leid? Sollen sie eine vorgetragene Bitte unterstützen? Oder sind es die Tränen über den eigenen sündigen Zustand und die Gottferne? In einigen Fällen, wie bei der Bitte um die Tränen in carm. 1 oder in der Mitte des carm. 5, wo den Tränen explizit die Funktion zugesprochen wird, die Sünden abzuwaschen, ist der Fall eindeutig. Insbesondere bei den Tränen, die sich das lyrische Ich am Anfang von carm. 5 wünscht (carm. 5,3: lacrimis ora madescant) und die es 94
Vgl. Johannes Cassian, conl. 9,30 (CSEL 213,276 PETSCHENIG). Vgl. NAGY 2004, 123: „Tears shed in prayer and penance were recommended and prescribed to medieval monks, but an outburst of tears depended only on divine will.“ 96 Vgl. FEAR 2019, 41. 95
8.2 Klage und conpunctio cordis
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zu Beginn von carm. 14 vergießt, wird dagegen nicht deutlich, ob deren Anlass ‚nur‘ das Erlittene ist oder ob sie auch den eigenen Sünden gelten, die im Laufe des Gedichtes zur Sprache kommen. In carm. 5b, einem Hymnus im Angesicht des Krieges, scheinen die Klage über das Leid und die Selbstbezichtigung und Sündenklage so eng miteinander verwoben, dass die beiden ‚Ebenen‘ kaum zu trennen sind. Auch in carm. 35, wo das lyrische Ich Christus um Tränen für seine Augen und um Worte für seine Klagen bittet, gelten die Tränen zunächst offenkundig dem Leid, das hier in der Zwietracht mit dem Freund besteht. Da der zerbrochenen Freundschaft jedoch eine stark religiöse Dimension zugeschrieben wird, ist auch hier nicht undenkbar, dass an eine zu beweinende Schuld gedacht ist. Diese Uneindeutigkeit der Übergänge zwischen Tränen und Klage über das Leid auf der einen Seite und Tränen und Klage über den eigenen sündigen Zustand auf der anderen Seite unterscheidet Eugenius von Augustinus, der die gemitus carnales klar von den gemitus cordis trennt und nur letztere als Klage sieht, die eines Christen würdig sein kann:97 quia homines si quando audiunt gemitum hominis, plerumque gemitum carnis audiunt; gementem a gemitu cordis non audiunt. abstulit nescio quis res huius; rugiebat, sed non a gemitu cordis: alius, quia extulit filium; alius, quia uxorem; alius, quia grandinata est uinea, quia cuppa acuit, quia diripuit iumentum ipsius nescio quis; alius, quia damnum aliquod passus est; alius, quia timet hominem inimicum; omnes isti a gemitu carnis rugiunt.98 Denn wenn die Menschen einmal das Seufzen eines Menschen hören, hören sie meistens das Seufzen des Fleisches. Irgendjemand hat etwas von diesem gestohlen: Er brüllte, aber nicht vom Seufzen des Herzens; ein anderer, weil er den Sohn zu Grabe getragen hat oder auch die Frau, ein anderer, weil ihm der Weinberg verhagelt worden ist, weil sein Fass sauer geworden ist, ein anderer, weil er irgendeinen Verlust erlitten hat, ein anderer, weil er einen feindlich gesinnten Menschen fürchtet. All diese brüllen vom Seufzen des Fleisches her.
Die Vermischung – oder der fließende Übergang zwischen beidem – entspricht jedoch durchaus der Art der conpunctio, die wir in Eugenius’ Carmina dargestellt finden und die eine Verbindung zwischen beiden Arten von Tränen 97
Vgl. dazu MCENTIRE 1990, 35 über die Unterscheidung unterschiedlicher Arten der Tränen: „Just as compunction should not be confused with mourning over the death of a loved one, the grace of weeping should not be confused with mourning the distresses and misfortunes of life. Exterior events resulting in the loss of health or goods, injury to property, or personal frustration and disappointment, cannot engender the lamentation appropriate to true compunction.“ Vgl. zu dieser augustinischen Unterscheidung auch NAGY 2000, 116– 118. Ich möchte hier nicht dafür argumentieren, dass Eugenius eine solche Unterscheidung nicht traf, sondern dass die Klage über derlei weltliche Verluste bei Eugenius eine Vorstufe sein konnte, die – bei richtiger Deutung dieses Leides – zu den wahrhaft spirituellen Tränen führen konnte. 98 Augustinus, en. Ps. 37,13 (CCL 38,391 DEKKERS/FRAIPONT).
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
knüpft. Legt man das gregorianische und isidorianische Schema der vier unterschiedlichen Anlässe der conpunctio zugrunde, fällt auf, dass der Ausgangspunkt der Klage immer das ubi est ist – der leidvolle Ist-Zustand, die mala uitae praesentis, die Eugenius selbst zu beklagen angibt (vgl. carm. 14b,3: huius […] uitae mala), und nicht etwa die Selbsterkenntnis als Sünder – diese folgt erst daraus. Sowohl in carm. 5 als auch in carm. 14 befähigt das Leid das lyrische Ich dazu, hinter die Freuden und Verführungen der Welt sehen und die Nichtigkeit und Hinfälligkeit dieser Welt und der eigenen körperlichen Existenz erkennen zu können.99 Vielleicht ist auch die Klage, zu der in carm. 25 die Stimme König Chindasuinths aufruft, als Klage über einen Menschen zu begreifen, an dem aufgrund seines königlichen Status die Vergänglichkeit des irdischen Reichtums und die Universalität der Sünde besonders augenscheinlich wird – dies wird immerhin im Gedicht breit ausgeführt. Diese Erkenntnis der condicio humana im Prozess der Klage führt bereits in sich zu einem ersten heilsbedeutsamen Effekt: der inneren Loslösung von der Welt und der Hinwendung zu Gott, die in den Gedichten durch eine ‚spirituelle Gegenbewegung‘ (vgl. carm. 5,11: Cur caduca non relinquis, curris ad perennia? und carm. 14,28–29: relictis omnibus quae transeunt / Deum timere, sempiterna quaerere) dargestellt wird. Dies ist auch für Isidor die bedeutendste Wirkung der conpunctio: Illa est conuersis perfectior conpunctionis affectio, quae omnes a se carnalium desideriorum affectus repellit, et intentionem suam toto mentis studio in Dei contemplationem defigit.100 Jenes ist für die Bekehrten die vollkommenere Betroffenheit von der Zerknirschung, die alle Affekte fleischlicher Begierden von sich fortweist und ihre Aufmerksamkeit mit ganzem geistigen Eifer an die Kontemplation Gottes heftet.
‚Motor‘ dieser Bewegung ist in carm. 14 die durch das Leid hervorgerufene taediosa mens, die sich angesichts des Verfalls des eigenen Körpers vor diesem immer schon im Verfall begriffenen Leben geradezu ekelt, was sich wiederum auf Isidors Begriff des taedium salubre als die der conpunctio zugeordnete Emotion, die das Herz aufweicht und für die innere Umgestaltung zu Gott hin öffnet, beziehen lässt. Aus der Klage über das ubi est entwickeln sich jedoch auch die anderen Anlässe der conpunctio, die Isidor und Gregor nennen: zunächst die Furcht auslösende Vergegenwärtigung des Gerichts (ubi erit), die durch die Bewusstmachung der eigenen Sterblichkeit nicht mehr verdrängt werden kann, und aus dieser Furcht heraus auch das Erinnern der eigenen Sünden (ubi fuit), das zu Selbstbezichtigung und Sündenklage führt. Letztere Anlässe stehen dagegen nie eigenständig, sondern sind immer von der vorausgehenden Klage über die 99
Vgl. auch FEAR 2019, 41–42. Isidor von Sevilla, sent. 2,12,1–4 (CCL 111,118 CAZIER).
100
8.2 Klage und conpunctio cordis
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eigene Hinfälligkeit und die Vergänglichkeit des irdischen Lebens ‚abhängig‘ – so verwundert es nicht, dass Eugenius gerade mediävistischen Philologinnen und Philologen als einer der frühesten Vertreter der contemptus mundiTradition in der Poesie gilt.101 Über diesen ‚spirituellen Weg‘, der mit der Klage über ein konkretes Leid beginnt und so – was bei Eugenius in den betreffenden carmina geradezu unvermeidbar wirkt – zur Sündenklage führt, ist die conpunctio gerade nicht lehrbuchartig dargestellt, sondern in einen Prozess gebracht. In carm. 5, aber besonders in carm. 14 ist der conpunctio-Vorgang poetisch inszeniert, sodass wir die Gedanken, Assoziationen und Gefühlsregungen des lyrischen Ichs miterleben können. In carm. 14, wo die Altersleiden den Ausgangspunkt darstellen, ist der Anlass der conpunctio zudem einer, der potentiell jeden Menschen betrifft. Dadurch werden die vom lyrischen Ich modellierten seelischen Bewegungen für die Leserinnen und Leser besonders leicht auf ihr eigenes Leben hin übertragbar. Eine andere Frage ist, inwiefern die affektiven Komponenten der conpunctio in Eugenius’ Carmina eine Rolle spielen. Insgesamt ist festzustellen, dass die explizite Beschreibung von Emotionen, die das lyrische Ich empfindet, erstaunlich wenig Raum einnimmt: ‚Emotional‘ sind die Gedichte insofern, als sie Umstände darstellen, die emotional aufgeladen sind. Daneben setzen Interjektionen (uae, io, o, en), die eine Gefühlswallung anzeigen, gewisse Akzente. Neben dem allgegenwärtigen Schmerz sind in carm. 13 (das sich nicht in derselben Weise wie carm. 5 und 14 zu einem spirituellen Klagegedicht entwickelt, aber, im Lichte des carm. 14 gelesen, Ansätze dazu zeigt) und in carm. 14 die herausstechenden seelischen Zustände die Furcht und der Ekel bzw. Überdruss am Leben, das taedium, das Isidor zu einer der conpunctio zugehörigen Emotion erklärt. Durch die Furcht ist schon nach Gregor eine der zwei ‚Hauptarten‘ der Zerknirschung, die conpunctio formidinis, charakterisiert. Gerade die Furcht, die in Eugenius’ carm. 14 geradezu refrainartig wiederkehrt, macht dort insofern eine ähnliche Entwicklung mit wie die Tränen in carm. 5, als sie ihren Anlass und ihr Objekt im Gedichtverlauf wechselt: Die körperlichen Leiden jagen dem lyrischen Ich zuerst die Todesfurcht ein, die sich dann zu einer Furcht vor dem Gericht entwickelt. Dieselbe Angst zieht sich, wenn auch aus einer größeren inneren Distanz dargestellt und nicht mehr in der leidenschaftlichen Unmittelbarkeit der Klagegedichte, durch die Auto-Epitaphe, in denen das lyrische Ich noch keineswegs mit Zuversicht auf sein jenseitiges Schicksal blicken kann. Sowohl inhaltlich als auch vom affektiven Ausdruck her ist also deutlich, dass die dargestellte conpunctio in erster Linie mit der conpunctio formidinis nach Gregors Schema übereinstimmt: Die furchtgetriebene Abkehr von der 101 Vgl. etwa schon RUPP 1952, 338–339 und MARTIN 1969, 249, der als weiteres Beispiel Columban nennt.
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
Welt und Hinwendung zu Gott. Der Umschwung zur conpunctio dilectionis geschieht an keiner Stelle – dazu müsste nach Gregor das lyrische Ich nach einer langen Periode der Selbstqual in der Klage eine gewisse Sicherheit gewinnen, dass es gerettet sei, und so in Sehnsucht zur himmlischen Heimat entflammt werden.102 Eine solche Sicherheit drückt die Dichter-persona an keiner Stelle aus. Das äußerste, was der Dichter sich zugesteht, ist die Hoffnung – nicht die Gewissheit – der Auferstehung in carm. 19. Die Furcht angesichts der eigenen Sünde bleibt in den Carmina ungebrochen, gemäß der Warnung Isidors, dass die Furcht eine Kraft sei, die die Seele wachhalten und vor dem Rückfall in die Sünde bewahren könne.103 Übrigens lindert auch das eigene körperliche Leid, das Gregor in einem Brief an Leander insofern ‚erleichtert‘, als er es als Züchtigung Gottes zur Tilgung seiner Sünden auffasst, 104 die Furcht des lyrischen Ichs nicht. Sich darauf zu verlassen, dass dadurch seine Sündenbilanz sich zum Positiven verbessert habe und seine Strafe geringer ausfallen werde, scheint im Prozess der conpunctio, besonders vor dem Hintergrund der Mahnungen Isidors, kontraproduktiv. Wie schon Isidor bei der conpunctio dilectionis Zurückhaltung übt, scheint also auch Eugenius eine derlei ekstatische Spiritualität für Gedichte mit Bußbezug, die ganz der humilitas lamenti105 verschrieben sind, nicht als passend empfunden zu haben. Überhaupt bleibt der kontemplative Aspekt, also das Ziel, zu dem nach Gregor und Isidor die conpunctio die Seele führen soll, in den Carmina durchweg blass und unbestimmt, eingelöst nur durch vage Formulierungen wie Deum timere, sempiterna quaerere (carm. 14,29) und ad perennia currere (carm. 5,11). Am deutlichsten scheint das Ideal einer kontemplativen Gottesliebe in einem Exkurs der Gerichtsvision von carm. 14 gespiegelt zu sein, in dem Eugenius die Schar der Engel und Seligen, nicht aber sich selbst, in einer Mischung aus Liebe und Furcht (carm. 14,58: ut pulset animum mixtus amore timor) vor dem Angesicht Christi erscheinen lässt. Als das Gegenstück zur Furcht, als guter Ausgang der Situation der (körperlichen wie seelischen) Bedrängnis erscheint in den Gedichten des Eugenius da-
102 Vgl. Gregor der Große, dial. 3,34 (SC 260,400 DE VOGÜÉ): At uero cum longa moeroris anxietudine fuerit formido consumpta, quaedam iam de praesumptione ueniae securitas nascitur et in amore caelestium gaudiorum animus inflammatur et qui prius flebat ne duceretur ad supplicium, postmodum flere amarissime incipit quia differtur a regno. 103 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,13,18 (CCL 111,123 CAZIER): Quamuis per paenitentiam propitiatio peccatorum sit, sine metu tamen homo esse non debet, quia paenitentiae satisfactio diuino tantum pensatur iudicio, non humano. […] Neque enim unquam oportet paenitentem habere de peccatis securitatem. Nam securitas neglegentiam parit, neglegentia autem saepe incautum ad uitia transacta reducit. 104 Vgl. Gregor der Große, moral. epist. 5 (CCL 143,6 ADRIAEN). 105 Vgl. Gregor der Große, moral. 3,22 (CCL 143,143 ADRIAEN): Quid enim est aliud humilitas lamenti, nisi medicina peccati?
8.3 Poesie und Bußperformanz
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gegen wiederholt die Ruhe oder der Frieden. Da das lyrische Ich nie vom Erfolg seiner Buße ausgeht, wissen wir nicht genau, ob die pax auch die Antwort auf das Problem der Sünde darstellt – jedoch sind Ruhe und Frieden in carm. 4 und in den Monosticha der im Jenseits ersehnte Zustand, für den die Vergebung der Sünden Voraussetzung ist. In carm. 36 (und in carm. 4) ist der Friede darüber hinaus mit der Freude assoziiert, in carm. 4 auch mit der uirtus, also dem positiven Gegenstück zur Sünde. Carm. 4 dürfte auch dasjenige Gedicht darstellen, das am ehesten eine kontemplative Gottesliebe anregt, da dort die pax nacheinander mit allem Guten assoziiert ist und im letzten Distichon dann ‚enthüllt‘ wird, wer (nicht was) der Friede eigentlich ist: Gott – pax tria summa Deus (carm. 4,11). Ähnlich zu Augustinus’ berühmtem Diktum erscheint als das letzte Ziel des Menschen die Ruhe in Gott und Gott als Ruhe nach den Wirren des Lebens: sit quies post transitum (carm. 5,27).
8.3 Poesie und Bußperformanz 8.3 Poesie und Bußperformanz
8.3.1 Klagepoesie als Hilfe und literarische Form der Tränen der Buße? Die conpunctio hat bei Gregor nicht nur die Funktion, zur Buße zu motivieren, sondern konstituiert ihren Vollzug: Analog zu den äußeren ‚Züchtigungsschlägen‘ ist sie eine Art und Weise, wie die Seele angesichts ihrer Sünden Schmerzen erduldet und die Sünden so bereits in diesem Leben zu sühnen vermag.106 Gregor beschreibt dies im Bild der Wunde, was auch der bildlich-wörtlichen Bedeutung der conpunctio als ‚Stich ins Herz‘ entspricht: Plagae uero in secretioribus uentris sunt interna mentis uulnera, quae per compunctionem fiunt. […] Abstergunt igitur mala et liuor uulneris et plagae in secretioribus uentris, quia et disciplina exterior culpas diluit et extensam mentem compunctio paenitentiae ultione transfigit.107 Schläge im Verborgenen des Bauches (vgl. Spr 20,30) aber bedeuten innere Wunden des Geistes, die durch die Zerknirschung geschehen. […] Es reinigen also sowohl blutige Wunden als auch die Schläge im Verborgenen des Bauches von Übeln, weil sowohl die äußere Askese Schuld abwäscht als auch die Zerknirschung den aufgeblasenen Geist mit der Strafe der Buße durchbohrt.
Noch deutlicher formuliert Isidor: Wen die conpunctio des Sündengedenkens ergreift, der „bestraft sie schon durch sein eigenes Urteil, indem er Buße tut.“108
106
Vgl. PALMÉN 2020, 209 zur conpunctio – was die Autorin synonym zur Scham verwendet – als Bußperformanz. 107 Gregor der Große, moral. 23,21,40 (CCL 143B,1174–1175 ADRIAEN). 108 Isidor von Sevilla, sent. 12,5 (CCL 111,119 CAZIER): quando ex id quod admisisse recolit interius erubescit, suoque iudicio paenitendo iam punit.
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
Neben dem Bild des ‚Todes für die Welt‘, das insbesondere die Liturgie der kanonischen Buße prägt,109 scheint die Buße im wisigotischen Spanien auch von einer juristischen Grundauffassung getragen zu sein: Es gilt, die Sünde anzuklagen und zu bestrafen. Isidor leitet die poenitentia etymologisch von punitentia bzw. punire her.110 In seinen Sententiae betont er, dass Sünden nie ungestraft bleiben, sondern es drei Möglichkeiten gibt, wie Gerechtigkeit hergestellt werden kann: Nequaquam Deus delinquenti parcit, quoniam peccatorem aut flagello temporali ad purgationem ferit, aut iudicio aeterno puniendum relinquit, aut ipse in se homo paenitendo punit quod male admisit.111 Keinesfalls verschont Gott den, der sich vergeht, weil er den Sünder ja entweder durch zeitliche Züchtigung zur Reinigung schlägt oder dem ewigen Gericht zur Bestrafung überlässt, oder der Mensch selbst in sich durch das Büßen bestraft, was er Schlechtes begangen hat.
Der Mensch muss folglich in der Buße dem göttlichen Gericht zuvorkommen. Gerade in Isidors zugehörigem Kapitel in den Sententiae fällt jedoch auf, dass die Modalitäten der paenitentia – die auch in Form von kompensatorischen Handlungen oder körperlicher Selbstbestrafung denkbar wäre – nie stärker konkretisiert werden als durch ein Betrauern, Beklagen, Beweinen der begangenen Sünden.112 Die Strafe, die der Mensch über sich selbst verhängt, muss also immer auch eine innere Strafe sein, eben durch die conpunctio, mit der die Seele sich selbst schlägt. Dies schließt freilich die Einbeziehung des homo exterior, der ohnehin nie getrennt vom homo interior zu betrachten ist, nicht aus. Kann Poesie dazu etwas beitragen? Die oben zitierte Exhortatio paenitendi scheint ein solches Selbstbewusstsein widerzuspiegeln, empfiehlt sie doch der büßenden Seele, auf regelmäßiger Basis und unter Tränen carmina constructa lamentis zu lesen und zu deklamieren.113 Auch Isidor betont in den Synonyma, die die Exhortatio inspirierten, er verfasse sein lamentum mihi uel miseris,114 also für den Einsatz in der Praxis sowohl für sich selbst als auch für die Leserinnen und Leser, die sich dieser Sprache bedienen können und sollen, um damit ihren eigenen Prozess des Beklagens der Sünde zu bestreiten. In diesem Sinne würde der Klagepoesie (auch das erste Buch der Synonyma ist seinem
109
Vgl. PAXTON 1990, 73–76. Isidor von Sevilla, orig. 6,19,71 (254 LINDSAY). 111 Isidor von Sevilla, sent. 3,1,3 (CCL 111,194 CAZIER). 112 Vgl. Isidor von Sevilla, sent. 2,13,6 (CCL 111,121 CAZIER): Ille paenitentiam digne agit, qui reatum suum satisfactione legitima plangit, condemnando scilicet ac deflendo quae gessit, tanto in deplorando profusius, quanto extitit in peccando procliuius. 113 (Ps.-)Sisbert von Toledo, exhort. 171–172 (MGH.PLAC 4,2,768 STRECKER): Sequentia uero carmina constructa lamentis / Suspirando lectita, nonnumquam plorando decanta. 114 Isidor von Sevilla, synon. 1,3 (CCL 111B,5 ELFASSI). 110
8.3 Poesie und Bußperformanz
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Charakter nach als „lyrisch“ bezeichnet worden),115 die Funktion zukommen, den Leserinnen und Lesern ein Schema der Klage vorzugeben, dem sie sich anschließen können. Durch die persönliche Form der für die Bußthematik relevanten carmina des Eugenius (bis auf carm. 5b, in dem Sündenklage und Bittgebet in der WirForm verfasst sind, das lyrische Ich also im Namen und als Teil der Gemeinschaft spricht) ist diese Funktion der Klagepoesie weniger deutlich erkennbar als in den genannten anderen Beispielen aus Eugenius’ Kulturkreis. Ansätze zu einem solchen Verständnis finden wir aber am Ende des carm. 5, wo nach einer Darstellung des eigenen Klageprozesses die Leserinnen und Leser dazu aufgefordert werden, mit dem lyrischen Ich mitzuweinen und Christus um Vergebung anzuflehen, sowie konkrete Bußhandlungen, insbesondere das Spenden von Almosen, zu vollführen. Diese drei Handlungen erscheinen sowohl in carm. 5 als auch in carm. 5b als eine ‚Standardtrias‘ dessen, was Eugenius’ Leserinnen und Leser tun sollen: carm. 5,28–29: O genus mortale, mecum lacrimas effundite, pauperi praebete uictum, „parce“ Christo dicite; carm. 5b,49–51: Riuos aquarum profluamus proximi, panem petenti porrigamus pauperi, clamemus omnes, rugiamus acriter:
par.
Selbstverständlich kann es, ähnlich einer Predigt, in diesem Rahmen nur bei der Aufforderung bleiben; mit einem Gedicht sind noch keine Armen gespeist. Hinsichtlich der Tränen der Buße ist denkbar, dass Eugenius nicht nur zum Weinen auffordern, sondern auch für alle Menschen weinens- oder beklagenswerte Umstände darlegen wollte, die – durch empathische Lektüre oder das Hören der Gedichte – zum Beweinen der Welt und des eigenen sündigen Zustandes anregen konnten. Übrigens muss das lyrische Ich sich zunächst auch selbst dazu auffordern (carm. 5,7): Seine Tränen fließen in carm. 5,23 erst nach dem poetisch dargestellten conpunctio-Prozess, der (inszeniert als innerer Dialog des lyrischen Ichs, ähnlich dem Gespräch von anima und ratio in den Synonyma) von der Vergänglichkeitsklage über die Furcht vor dem Gericht zur Sündenklage führt. Die Tränen erscheinen insofern vom lyrischen Ich ‚poetisch erarbeitet‘. Tränen werden von Eugenius explizit als Vehikel der Buße verstanden. In carm. 1,17–18 wird deutlich, dass Eugenius den Tränen als äußerem Ausdruck der conpunctio die Fähigkeit zuschrieb, von den Sünden zu reinigen
115
Vgl. ELFASSI 2006, 168 und CARRACEDO FRAGA 2020, 236.
450
8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
(carm. 1,18: quo ualeam lacrimis culparum soluere moles). Über die gemeinsame Grundvorstellung eines von Sünden reinigenden Wassers konnten die Tränen als tertium baptismum, als dritte Taufe nach der ersten Taufe und der Bluttaufe der Märtyrer verstanden werden.116 Ildefons, Eugenius’ Nachfolger auf dem Bischofsstuhl von Toledo, führt in seinem tauftheoretischen Werk de cognitione baptismi explizit die Buße, das alluuium lacrimarum, als diese dritte Form der Taufe auf.117 Die Reinigungsmetaphorik der Tränen ist jedoch nicht im Gegensatz, sondern komplementär zur Strafmetaphorik der Buße zu denken:118 Isidor betont, dass diese Tränentaufe eine ‚recht mühselige‘ ist (laboriosius) – für den Begriff lacrimae kennt er übrigens eine etymologische Ableitung von laceratio mentis, vom ‚Zerreißen des Geistes‘.119 Ildefons von Toledo setzt die Tränen mit dem Blut der Seele gleich, das – wie sich ergänzen lässt, analog zur Bluttaufe der Märtyrer – von dem durch conpunctio durchbohrten Herz vergossen wird.120 Die Bitte in carm. 1,17–18 legt auch nahe, dass Eugenius wie Cassian und Gregor, aber auch Ildefons die heilsamen Tränen der conpunctio ebenfalls als von Gott zu schenkende Gnade wahrgenommen hat.121 Dies steht jedoch in einer paradoxen Beziehung zu Aufforderungen zum Weinen, die den Charakter einer Verpflichtung haben. So weist etwa das IV. Toletanum die Pönitenten dazu an, „dort [sc. im Kloster] ihre Vergehen zu beweinen, von denen sie Abstand genommen haben.“122 Auch Isidor fordert in seiner Mönchsregel in bestimmten Fällen, nach den Tränen der Reue zu streben.123 Die Tränen scheinen so einerseits als etwas Spontanes und Unkontrollierbares, was aber dennoch 116
Vgl. zur Tränentaufe ADNÈS 1976, 298 und NAGY 2004, 125. Vgl. Ildefons von Toledo, bapt. 123 (CCL 114A,418 YARZA URQUIOLA): Tertium est alluuium lacrimarum, quod fit in paenitentia peccatorum. 118 Vgl. auch die (möglicherweise ebenfalls wisigotische) Exhortatio paenitendi, die die Tränen der Zerknirschung mit der Strafe in Verbindung bringt: Sed admissa poenitens puni peccatum et vives. / In hac vita lacrimis extingue tartari flammas; (Ps.-)Sisbert von Toledo, exhort. 47–48 (MGH.PLAC 4,2,764 STRECKER). 119 Vgl. Isidor von Sevilla, eccl. off. 2,25 (CCL 113,103 LAWSON): Est et tertium baptismum lacrimarum quod laboriosius transigitur, sicut ille qui per singulas noctes stratum suum lacrimis rigat. Vgl. auch orig. 11,1,41 (o.S. LINDSAY): Lacrimas quidem a laceratione mentis putant dictas. 120 Vgl. Ildefons von Toledo, itin. 36 (CCL 114A,452 YARZA URQUIOLA): dolore compunctionis perforatam mentem per oculos quasi quendam animae sanguinem lacrimas elicere. 121 Vgl. für Gregor und Cassian oben, Kap. 8.2.1. Vgl für Ildefons bapt. 123 (CCL 114A,418 YARZA URQUIOLA): Sed gratiae huius copiam ille gratissimus miserator super miseros agit. 122 Conc. Tolet. IV, c. 52 (CCH 5,231–232 MARTÍNEZ DÍEZ/RODRÍGUEZ): ibique defleant crimina sua unde decesserunt. 123 Vgl. Isidor von Sevilla, reg. monach. 13 (112 CAMPOS RUIZ/ROCA MELIA), wo Isidor den von nächtlicher Pollution betroffenen Mönchen rät, ut non solum aquis, sed etiam fletibus studeat ablui quidquid forte per occultam culpam inmunda contaminatione polluit. 117
8.3 Poesie und Bußperformanz
451
vom Menschen aktiv gesucht werden kann (wovon Cassian jedoch abrät), um in den oben (Kap. 8.1.2) zitierten Worten Isidors die operatio Dei in der Seele des Menschen zu unterstützen. Piroska Nagy betont, dass die Unterscheidung zwischen Eigenleistung des Menschen (uirtus) und göttlicher Gnade (gratia) vor dem Hochmittelalter keine sinnvolle Dichotomie ist,124 sondern jede uirtus immer im Zusammenspiel mit der Gnade wirken muss. Dadurch, dass in carm. 5 illustriert wird, wie das lyrische Ich sich in einer Art Selbst-persuasio die Umstände des Menschen, seine Zerbrechlichkeit, seine Vergänglichkeit und vor allem seine Gerichtsverfallenheit vor Augen führt und so endlich zum fletum profluentem de medullis intimis (carm. 5,23) gelangt, scheint auch hier die Vorstellung hinter dem Gedicht zu stehen, dass die Tränen durch eine derartige Meditation über die condicio humana zumindest angeregt werden können, was ihrer Gnadenhaftigkeit nicht widerspricht. Da die Dichter-persona am Ende des Gedichtes an alle Menschen und damit auch an die Leserinnen und Leser die Aufforderung richtet, mit ihm zu weinen (carm. 5,28: mecum lacrimas effundite), könnte im Nachvollzug dieser tränentreibenden Zerknirschung durch die Leserinnen und Leser sogar die Intention des Gedichtes liegen. Auch in der oben zitierten Exhortatio paenitendi scheint dies als die ideale Form der Rezeption des Gedichtes angedacht zu sein, wenn der Wunsch geäußert wird, die Leserinnen und Leser mögen dieses und andere Gedichte unter Tränen lesen und singen. Gleichzeitig dokumentieren die Klagegedichte mit Bußbezug (außer carm. 5b) wie auch die Epitaphe, die mit dem Namen Eugenius verbunden sind (carm. 5, 14 und 19) oder aus dem Kontext des Gedichtbuches als Selbstausdruck der Dichter-persona verstanden werden (carm. 17), die Tränen des Eugenius über seine Sünden. Über seine Gedichte ist er (immerhin der Inhaber des höchsten kirchlichen Amtes im wisigotischen Spanien) für Zeitgenossen, die diese Gedichte lasen, und für die Nachwelt selbst zu einem Klagenden geworden, der seine Sünde beweint, und prägt so auch in sozialer Perspektive eine Affektivität, in deren Rahmen das Weinen einen positiven und angemessenen Ausdruck des eigenen Sündenbewusstseins darstellt.125 8.3.2 Confessio und Gebet als heilsbedeutsame Sprechakte In einigen Gedichten lässt die Betonung des Sprechaktes – in Einleitungen wie libet […] flendo dicere: / abite pessum uana mundi gaudia (carm. 14,31–32) oder pro me misero dicite „parce precor“ (carm. 25,8) – daran denken, dass dem Sprechen selbst eine Wirkung zugeschrieben wird. In Bezug auf die Buße können insbesondere zwei Arten von Sprechakten, die in den Gedichten wiederholt auftreten, als Form nicht nur einer Repräsentation, sondern auch eines 124
Vgl. NAGY 2000, 24. Vgl. zur sozialen Komponente von Emotionsäußerungen, die in ihrer Summe eine „emotional community“ konstruieren, ROSENWEIN 2006, passim. 125
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
Vollzugs der Buße aufgefasst werden: das Sündenbekenntnis und das Gebet zu Gott um Vergebung. Innerhalb einer Konzeptualisierung der Buße als Vorwegnahme des göttlichen Gerichtes, dem dadurch zuvorgekommen werden soll, ‚ersetzt‘ das Sündenbekenntnis die Anklage vor dem Richter. In der confessio übernimmt der Mensch diese Anklage selbst. Die Selbstanklage ist nach Isidor im Anschluss an Ambrosius und Augustinus das initium iustitiae:126 Ex eo unusquisque iustus esse incipit, ex quo sui accusator extiterit. […] Magna iam iustitiae pars est seipsum nosse homo quod prauus est, ut ex eo diuinae uirtuti subdatur humilius, ex quo suam infirmitatem agnoscit.127 Ein jeder beginnt bei diesem Punkt, gerecht zu sein, wenn er als Ankläger seiner selbst aufgetreten ist. […] Denn ein großer Teil der Gerechtigkeit ist, dass der Mensch von sich selbst erkennt, dass er verdorben ist, und sich von da an umso demütiger der göttlichen Tugend unterordnet, seit er seine Schwäche anerkennt.
Auch hier liegt das Augenmerk nicht auf einer öffentlichen Selbsterniedrigung des Menschen, sondern der Selbsterniedrigung vor Gott und vor sich selbst. Augustinus erklärt den spirituellen Wert der confessio damit, dass der Mensch im Anerkennen seiner Sünde die innere Verteidigung fallen lässt und sich so gegen seine Umgestaltung im Zusammenwirken von Gott und Mensch in der Buße nicht mehr sträubt.128 Gregor der Große wiederum bezieht die confessio in das Bild der heilsamen Wunde ein, die die conpunctio im Menschen schlägt, was naheliegend ist, da das Erinnern der eigenen Sünden einen der vier Anlässe zur conpunctio darstellt: quia supernae sententiae electos, quos in peccatis inueniunt, dum uulnerant, immutant; ut duritiam suam transfixa mens deserat, atque ex salutifero uulnere sanguis confessionis currat.129 Denn während die göttlichen Urteilssprüche diejenigen Erwählten, die sie in Sünden antreffen, verwunden, verwandeln sie sie; sodass der durchbohrte Geist seine Verhärtung fahren lässt und aus der heilbringenden Wunde das Blut des Bekenntnisses fließt.
Eugenius drückt die Vorstellung einer confessio im Zwiegespräch zwischen Mensch und Gott in carm. 5,21 aus: pande Christo probra cordis eiulando fletibus. In anderen Gedichten werden die probra cordis jedoch nicht nur vor Gott ausgebreitet, sondern auch vor der Leserschaft. Drei detailliertere Sündenbekenntnisse finden wir in den Gedichten; zwei davon haben als Subjekt die Dichter-persona, eines davon König Chindasuinth, der in carm. 25 aus der Ich126 Vgl. zur confessio-Lehre des Augustinus, beeinflusst durch Ambrosius, FITZGERALD 2000, passim. 127 Isidor von Sevilla, sent. 2,13,1–2 (CCL 111,120 CAZIER). 128 Vgl. Augustinus, ep. Io. tr. 4,3 (PL 35,2006): initium iustitiae nostrae confessio peccatorum. coepisti non defendere peccatum tuum; iam incohasti iustitiam. 129 Gregor der Große, moral. 7,5,5 (CCL 143,337–338 ADRIAEN).
8.3 Poesie und Bußperformanz
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Perspektive spricht. Die Sündenbekenntnisse haben in der Forschung Verwirrung hervorgerufen. Insbesondere Chindasuinth hat man in carm. 25 nicht als souverän Sprechenden, sondern als Puppe aufgefasst, die zu sagen hat, was der Dichter will. Seine bitteren Selbstanklagen sind dementsprechend als Polemik des Dichters gelesen worden. David Ungvary hat diese Interpretation überzeugend revidiert und das Sündenbekenntnis vor dem Hintergrund der allgemeinen Hochschätzung der Buße und der humilitas, also der Haltung, die der Buße zugrunde liegt, interpretiert. 130 Eugenius’ Sündenbekenntnisse, die denen Chindasuinths an Schärfe in nichts nachstehen, haben dagegen nicht dieselbe Aufmerksamkeit erlangt. So ist die Liste der Sünden des lyrischen Ichs in carm. 14, die von Raub und Meineid bis hin zum Mord alle denkbaren Verbrechen aufzählt, von Kurt Smolak als „Übertreibungen rein literarischer Natur“131 aufgefasst worden. Bei näherem Hinsehen haben sich freilich alle drei Sündenbekenntnisse als sehr schematisch und formal herausgestellt. Am nächsten kommt einem wirklich persönlichen Sündenbekenntnis dabei noch das Bekenntnis des Dichters in carm. 17, in dem der Dichter angibt, den Anforderungen des monastischen Ideals nur ore, non corde gerecht geworden zu sein, also sündiger zu sein, als er nach außen hin wirke. Selbstverständlich sind diese poetischen Sündenbekenntnisse nicht mit denen gleichzusetzen, die vor dem Priester oder dem spirituellen Lehrer im Kloster abgelegt wurden. Dennoch signalisieren sie öffentlich: Sowohl Eugenius als auch Chindasuinth verstanden sich selbst als Sünder und gingen mit sich hart ins Gericht – und setzen damit ein Beispiel, das es für alle nachzuahmen gilt. Gerade im Fall Chindasuinths (vgl. oben, Kap. 8.1.1) dürfte dieser Ausdruck des Eingeständnisses der eigenen Sündhaftigkeit in ein Konglomerat von öffentlichen, sichtbaren Akten der Buße integriert gewesen sein. Der zweite wiederkehrende, mit der Buße in Verbindung stehende Sprechakt in den Gedichten des Eugenius ist das Gebet um Vergebung der Sünden. Das Gebet ist wohl der beispielhafte Fall, in dem die Poesie in eine religiöse Performanz mündet:132 Insofern es nicht von einer Kunstfigur aus Mythos und Geschichte oder einem historisch weit entrückten Dichter gesprochen wird, verlässt es die reine Gedichtebene in dem Moment, da es (laut oder gedanklich, allein oder in Gemeinschaft) gelesen, ausgesprochen oder gesungen wird, und wird zum Vollzug des Beziehungsgeschehens zwischen den Betenden und
130
Vgl. UNGVARY 2018a, passim und 2018b, 275–315. SMOLAK 2010, 82. 132 Vgl. zur Performativität von Gebeten HAHN 2007, 236–237 und FITZGERALD 2012, 52–70. Vgl. auch SUWELACK 2017, 164: „vorausgesetzt und ebenso dem Akt des Betens inhärent sind die Realisierung und Affirmation eines persönlichen Verhältnisses des Glaubenden mit dem christlichen Gott. Das Gebet ist dementsprechend […] als religiöse Handlung bestimmt.“ 131
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8 Klagepoesie als spirituelle und asketische Praxis?
Gott.133 Im Falle eines Hymnus, der in der Liturgie von der Gemeinde gesungen wird, wird ein poetischer Text zum Gebet der Gemeinde. Die literarischen Bedingungen eines solchen Hymnus erfüllt in Eugenius’ Korpus das carm. 5b. Wenn Eugenius das kollektive ‚Wir‘ auffordert: clamemus omnes, rugiamus acriter: par (carm. 5b,51), dann ruft die Gemeinde, die den Hymnus singt, in diesem Moment parce redemptor. Der Vollzug dessen, wozu das Gedicht auffordert, ist unter diesen Umständen bereits inhärent gegeben. In den anderen Gedichten in persona Eugenii, die sicher nicht für die Liturgie geeignet waren, bleibt dagegen der Übertritt in die Realität der Leserinnen und Leser natürlich deren Rezeption durch Nachahmung oder sogar Übernahme der Sprechakte des lyrischen Ichs überlassen – eine Rezeption, zu der der Dichter jedoch explizit ermutigt, wie am Ende von carm. 5 deutlich geworden ist. Wenn die Leserinnen und Leser, insbesondere die Zeitgenossen des Eugenius, das lyrische Ich mit ihm gleichsetzten (was wahrscheinlich ist), kann darüber hinaus das Gebet um Sündenvergebung wiederum als eines verstanden werden, das vor einem öffentlichen Forum gesprochen wird. Unabhängig davon kann Eugenius sein Dichten eines Gebetes natürlich auch als persönliche spirituelle Übung und damit als individuellen Bußvollzug verstanden haben.
133
Vgl. THALI 2010, 430–431 und SUWELACK 2017, 163–165.
9 Metapoetische Perspektive 9.1 Die Sprechhaltung in den Carmina 9.1 Die Sprechhaltung in den Carmina
9.1.1 Stilisierung der Dichter-persona als Leidender und Sünder Wie wir gesehen haben, waren Experimente mit literarischen Formen, die die Buße unterstützen konnten, im wisigotischen Spanien nicht selten. Die wichtigste Eigenheit der Gedichte des Eugenius im Vergleich zu den anderen wisigotischen Bußgedichten wie der Exhortatio paenitendi und dem Lamentum paenitentiae (und auch zu deren literarischem Vorgänger, Verecundus’ Carmen de satisfactione paenitentiae) ist dabei die persönliche Form: In den meisten Gedichten ist es die Dichter-persona selbst, die in der Klage über die leidvollen Umstände in der Welt einen conpunctio-Prozess durchlebt und dadurch zur Klage über die eigene Sündhaftigkeit gelangt. In diesen Gedichten sowie den Auto-Epitaphen, die ebenfalls durch ein ausgeprägtes Sündenbewusstsein des lyrischen Ichs gekennzeichnet sind, wird dies durch die explizite Wiederholung des Namens des Eugenius stets in Erinnerung gehalten. Dies steht nicht im Widerspruch zu einem Verständnis der Gedichte als Ausdruck allgemein-menschlicher Empfindungen, Zustände und Notwendigkeiten. Die Analyse der Gedichte hat an mehreren Stellen (bes. carm. 5 und 14) aufgezeigt, dass Aussagen oft bewusst allgemein gehalten werden. Dadurch wird die Dichter-persona nicht nur als individuell leidend, sondern auch als exemplarisches Subjekt von Leiden dargestellt, die das gesamte Menschengeschlecht treffen. Zugleich wird den Leserinnen und Lesern die Übertragung des Ausgesagten auf die eigene Lebenssituation erleichtert.1 Dasselbe gilt für die Sündenklage und das Bekenntnis in carm. 14, das eine allgemeine Sammlung an Sünden vorlegt, die Menschen begehen können. Immer wird jedoch – in carm. 14 in Form einer Art Unterschrift nach dem abschließenden Bittgebet, in carm. 5 durch die Selbstaufforderung Eugeni miselle plora – das Ausgesagte explizit auf die Dichter-persona bezogen und daran erinnert, dass es die ganze Zeit ‚Eugenius‘ war, der hier sprach. Damit wagt sich Eugenius in noch höherem Maße selbst in die Rolle des Büßers hinein, als dies z.B. Isidor in seinen Synonyma tut. Isidor gibt zwar an, die Sündenklage, die aufgrund des breiten Synonymstils des Werkes ebenso 1
Vgl. FEAR 2010, 63.
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9 Metapoetische Perspektive
harsche Selbstbezichtigungen enthält wie carm. 14 und 17,2 „für sich oder für die Elenden“3 zu verfassen, verdeutlicht jedoch in der Einleitung, dass nicht er selbst spricht, sondern eine persona deflentis hominis.4 Das heißt freilich nicht, dass er sich gescheut hätte, sich öffentlich selbst als Sünder zu bezeichnen. So lässt er in den Sententiae, die allgemein-lehrbuchartig gehalten sind, mitten in seinen Ausführungen durchblicken, dass er seine Anweisungen auch an sich selbst gerichtet sieht: „Wehe mir armem Isidor, der ich sowohl nachlässig im Büßen meiner vergangenen Taten bin, als auch immer noch welche begehe, die ich büßen muss!“5 Eugenius spricht hingegen von Anfang an propria persona. Eine besondere Glaubwürdigkeit der Selbststilisierung als reuiger Sünder erreicht Eugenius auch dadurch, dass sein Bedenken und Beklagen der eigenen Sünde in den Carmina oft von äußeren Umständen motiviert scheint, die als Teil seiner Biographie erscheinen: Selbst vom Altern, dem allgemeinmenschlichen Verhängnis schlechthin, betont er in carm. 14b, dass dieses ihn persönlich besonders schnell und besonders hart getroffen habe – inklusive exakter Altersangabe, wann dies geschehen sei. Das Leiden unter dem languor, das in carm. 5 beiläufig als Anstoß für den conpunctio-Prozess genannt wird, beklagt nicht nur das lyrische Ich in carm. 13 verzweifelt, sondern auch Eugenius in seiner Korrespondenz. Dort ist zwar nicht feststellbar, dass Eugenius sich in höherem Maße dieser Selbststilisierung bediente, als andere Bischöfe dies taten. Doch besonders die Kurzbiographie, die Eugenius’ Nachfolger Ildefons von seinem Vorgänger verfasst, zeigt, dass entweder Eugenius in höherem Maße als andere Bischöfe zuließ oder sogar danach strebte, von außen als körperlich Leidender wahrgenommen zu werden – oder dass dies für seine Zeitgenossen schlicht nicht zu übersehen war. Letzteres ist auch insofern wahrscheinlich, als in der ‚wisigotischen Phase‘ des Genres de uiris illustribus die Erwähnung körperlicher Schwäche die Ausnahme darstellt und dies etwa bei Isidor, der sich in seiner Korrespondenz ebenfalls als kränklich beschrieb, nicht für erwähnenswert erachtet wurde. Mit diesem äußeren Bild, das seine Zeitgenossen von Eugenius gehabt haben mussten, interagiert die Charakterisierung der Dichter-persona in den Gedichten: Die Außenwahrnehmung der Person des Eugenius, wie sie sich auch 2 Vgl. Isidor von Sevilla, synon. 1,44 (CCL 111B,35–36 ELFASSI): Vltro me miserum antea uitiaui, spontaneo me dudum studio pollui. Vgl. auch synon. 1,59 (CCL 111B,48 ELFASSI): Non est peccatum super peccatum meum, non est iniquitas super iniquitatem meam, nequiorem me cunctis peccatoribus penso, conparatione mea nullus iniquus est. 3 Isidor von Sevilla, synon. 1,3 (CCL 111B,5 ELFASSI): quoddam lamentum mihi uel miseris condere. 4 Isidor von Sevilla, synon. 1,4 (CCL 111B,5 ELFASSI): Duorum autem personae hic inducuntur, deflentis hominis et admonentis rationis. 5 Isidor, sent. 2,16,4b (CCL 111,129 CAZIER): Vae mihi, misero Isidoro, qui et paenitere retro acta neglego, et adhuc paenitenda committo!
9.1 Die Sprechhaltung in den Carmina
457
in den Quellen niederschlägt, verleiht der Selbststilisierung des Dichters in den Carmina einen besonderen Anschein von Authentizität; umgekehrt bestätigt und verstärkt das Bild des Dichters in den Carmina diese Außenwahrnehmung und lenkt deren weitere Interpretation. Durch die Verbindung des körperlichen Leidens mit dem Bußgedanken in den Carmina kann so aus einer wahrgenommenen Schwäche eine besondere Stärke des Eugenius werden: die paradoxe Stärke der christlichen humilitas. Dies gilt nicht nur für Eugenius’ körperlichen Zustand, sondern auch für affektive Zustände. Bereits in seinen Briefen erscheint er als jemand, der sich angesichts von Problemen, Anforderungen und Disharmonie im Rahmen seiner bischöflichen Tätigkeit schnell einschüchtern lässt: unde nimium contabescit anima mea.6 Auch in den Carmina wird der Dichter-persona nicht gerade eine hohe Leidensfähigkeit zugeschrieben. In carm. 13 führt das Leiden an der Krankheit auch zu einer tiefen seelischen Bedrängnis, die der Geist des lyrischen Ichs kaum noch bewältigen könne: nam taedet animum tot mala ferre simul (carm. 13,10). Das Zerwürfnis mit dem Freund führt in carm. 35 dazu, dass der Dichter wie von Sinnen ist, kaum noch dichten kann und verzweifelt um die Hilfe und (wenigstens seelische) Unterstützung seiner Lieben fleht. Auf körperliches Leid und auf das Denken an Tod und Gericht reagiert die Dichterpersona immer wieder mit pauor, eine Art Refrain in carm. 14. Das in praef. 4 emphatisch wiederholte non pauet Eugenius gilt hingegen nur für eine einzige Situation, nämlich für die Konfrontation mit dem eingangs vorgestellten Neider, der seiner Dichtung missgünstig gegenüberstehe. Auch hier bestätigt sich in den Carmina ein bereits aus seiner Korrespondenz sich ergebendes Bild eines „von vielschichtigen Sorgenstürmen“7 bedrängten Menschen, der Rat und Hilfe von seinen Kollegen benötigt. Im Unterschied zu seinen körperlichen Zuständen scheint sich dieses ‚Eugenius-Bild‘ der Briefe jedoch nicht signifikant von demjenigen zu unterscheiden, das zahlreiche andere Bischöfe seiner Zeit von sich zeichneten. Eugenius erscheint hier als Vertreter einer ‚emotionalen Gemeinschaft‘ (nach der Konzeption Barbara Rosenweins),8 die den Ausdruck und das Anerkennen eigener Schwäche erlaubt und sogar wertzuschätzen scheint. Als Vertreter dieser Gemeinschaft partizipiert er an diesem emotionalen Stil und konstituiert ihn gleichzeitig mit. 9.1.2 Ich, Du, Ihr, Wir: Die poetische Konstruktion einer Gemeinschaft der Sündigen Das lyrische Ich der Carmina kommuniziert diese Haltung der Demut und des beständigen Bewusstseins eigener Schwäche und Sünde den Leserinnen und 6
Eugenius von Toledo, ep. Braul. 3–5 (CCL 114,399 ALBERTO). Vgl. Eugenius von Toledo, ep. Braul. 36–37 (CCL 114,400 ALBERTO): curarum multifidis tempestatibus. 8 Vgl. ROSENWEIN 2006, passim und Kap. 1.3.1 dieser Arbeit. 7
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9 Metapoetische Perspektive
Lesern seiner Gedichte jedoch nicht nur, indem es ihnen die Dichter-persona als Vorbild vor Augen stellt, in das sie sich einfühlen können und das sie nachahmen sollen. Um das lyrische Ich herum konstruiert Eugenius in den Gedichten auch eine Gemeinschaft aller Menschen, die das Los der Sündhaftigkeit und Schwäche teilen und sich daher ebenfalls in eine bußfertige Haltung begeben, aber auch im Gebet füreinander einstehen müssen. Diese universelle, schichtenübergreifende Verbundenheit der Sünder kommt auch darin zum Ausdruck, dass Eugenius einmal sogar einer anderen Person – und zwar einer so hochrangigen wie König Chindasuinth – seine poetische Stimme leiht und ihn in einer ebenso bußfertigen Haltung zeichnet, wie er dies sonst mit seiner eigenen persona tut. Am Ende des carm. 5 wird deutlich, dass die Sprache der conpunctio und der Buße, des Bekenntnisses und des Bittgebetes, die Eugenius in seinen Gedichten verwendet, nicht nur für den Dichter selbst gedacht ist, sondern auch für andere zum Medium ihres eigenen lamentum werden kann und soll: Schon während der persönlichen Reflexionen spricht sich Eugenius in einer Art innerem Monolog selbst mit Du an und hinterfragt dieses Du in Bezug auf die grundsätzliche Ausrichtung seines Lebens und der Illusionen, die es sich selbst mache. Obwohl die Dichter-persona hier klar mit sich selbst ins Gericht geht, ist es für die Leserinnen und Leser nicht schwer, sich im Du an dessen Stelle zu setzen und sich ansprechen und hinterfragen zu lassen. Nach diesen zunächst persönlichen Reflexionen über die Kürze des Lebens und die Notwendigkeit, im Angesicht des Todes die eigenen Sünden zu beweinen und zu büßen, fordert der Dichter am Ende des carm. 5 alle Menschen und damit auch die Leserinnen und Leser explizit auf, dies selbst für sich mitzuvollziehen: mecum lacrimas effundite. Angesprochen ist hier bereits ein Kollektiv (den lector spricht Eugenius sonst immer in der 2. Person an) von Menschen, die von der Sündhaftigkeit und der Notwendigkeit der Buße geeint werden. Im unmittelbar folgenden Gedicht, carm. 5b, ist aus dem lyrischen Ich und dem in carm. 5 angesprochenen Ihr, das zur Gemeinschaftsbildung in der Sündenklage aufgerufen wird, dann tatsächlich ein Wir geworden, das gemeinsam die Sünde beklagt und Gott um Vergebung anfleht. Dieses Wir hat, insofern carm. 5b als Reaktion auf einen drohenden Krieg, also auf eine gemeinschaftliche Krise erscheint, spürbar auch eine politische Dimension: Die kollektive Selbstdarstellung der gesamten Gemeinschaft als reuige Sünder, an der auch der König und der Bischof von Toledo teilnehmen, erfüllt dabei sicherlich auch eine sozial-integrative Funktion.9 Im Fall des carm. 5b ist sogar denkbar, dass diese in der Liturgie verwirklicht wurde. Aber auch an unauffälligerer Stelle steht diese Gemeinschaft der Sündigen im Hintergrund. So sind die Basilika-Epigramme zunächst nicht vom lyrischen 9 Vgl. dazu WOOD 2009, bes. 85–86, der dieses Ziel auch Julian von Toledos Prognosticon zuschreibt.
9.1 Die Sprechhaltung in den Carmina
459
Ich, sondern von der gläubigen Gemeinde her gedacht. Die Gotteshäuser werden dabei als Orte vorgestellt, an denen sowohl Linderung für jede Art von Leiden als auch Vergebung der Sünden zu erhoffen ist. Den Gläubigen wird explizit empfohlen, dort durch die Heiligen um die Vergebung ihrer Sünden zu bitten – jedoch nicht nur ihrer eigenen, sondern auch derer des Eugenius, wie er in carm. 11,19–20 erbittet. Dieser kleinen guten Tat wird dabei sogar die Wirkung zugeschrieben, als Sühne für die eigenen Sünden der Gläubigen fungieren zu können, ein Umstand, den Gregor der Große wie folgt erklärt: Quod quoties agunt, in hoc quod pro alienis peccatis interueniunt, sua ante dei oculos amplius detergunt, quia ea ipsa caritate se iustificant, qua mira pietate pro alienis iniquitatibus se in lamentis mactant.10 Sooft sie dies tun, waschen sie dadurch, dass sie für fremde Sünden eintreten, auch ihre eigenen vor den Augen Gottes in hohem Umfang ab, weil sie sich mit eben derselben Nächstenliebe gerecht machen, durch die sie in wundersamer Frömmigkeit für fremdes Unrecht sich in Klagen quälen.
Dieselbe Vorstellung spiegelt sich in carm. 25 wider, wo Chindasuinth „alle Menschen, die der Erdkreis umfasst“ (carm. 25,1: cuncti, quos terrae continet orbis) darum bittet, ihn zu beklagen. Angesichts des Inhalts von carm. 25 muss dabei sowohl die Totenklage als auch die Sündenklage gemeint sein. Parallel dazu fleht in carm. 17 auch die Dichter-persona sozusagen aus dem Grab die Leserinnen und Leser an, bei Gott für seine Sünden einzutreten. Im Falle Chindasuinths wird das Nachkommen dieser Bitte wie in den Basilika-Gedichten mit der Aussicht verknüpft, dadurch die Vergebung der eigenen Sünden erlangen zu können: sic uestra propriis probra lauentur aquis (carm. 25,2). Dass es sich hier um eine Sündenklage unter Tränen handelt, die um Chindasuinths Sünde vergossen werden, erinnert darüber hinaus an Johannes Cassians ‚Sonderform‘ der stellvertretenden conpunctio lacrimarum angesichts fremder Sünde, die in Gregors und Isidors Aufstellungen nicht mehr eigens auftaucht.11 Durch die Bitte um Fürbitte wird eine Gebetsgemeinschaft zwischen dem Dichter (und dem König) und den Leserinnen und Lesern der Carmina gestiftet.12 Dass auch Eugenius für seine Leserinnen und Leser bittet, wird dagegen nicht gleichermaßen betont wie das Umgekehrte, da es in erster Linie die Heiligen sind, die hier als zuständige und wirkmächtige Fürsprecherinnen und Fürsprecher empfohlen werden. In deren Reihe wagt sich der Dichter freilich nicht einzureihen, und auch in den Gedichten, die von der Buße des lyrischen Ichs handeln, wäre die Überzeugung, erfolgreich für die Sünde anderer eintreten zu
10
Gregor der Große, in Ezech. 2,9,22 (CCL 142,376–377 ADRIAEN). Johannes Cassian, conl. 9,28 (CSEL 13,274 PETSCHENIG): lacrimarum genus, quod non pro sua conscientia, sed pro aliena duritia peccatisque generatur. 12 Vgl. zu solcherlei Gebetsgemeinschaften RAPP 2005, 68. 11
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9 Metapoetische Perspektive
können, fehl am Platz.13 Doch in den vielen kleinen Segenswünschen kommt eine Reziprozität zumindest grundlegend zum Ausdruck, wie z.B. in carm. 9,21–22: Haec tibi turba potens concedat prospera, lector, / et ueniam praestet haec tibi turba potens. Deutlicher wird die Wechselseitigkeit dagegen in der bischöflichen Korrespondenz, in der ein Austausch von Gebetsanliegen, gerade auch in Bezug auf die Bitte um Sündenvergebung, geradezu ein Topos der Höflichkeit geworden ist. Hier kann Eugenius die Fürbitte für Braulios Sünden sogar von sich aus anbieten.14 Diese Gebetsgemeinschaft, bei der wie selbstverständlich angenommen wird, dass auch das Gegenüber mit Sünden beladen ist und Vergebung benötigt, basiert natürlich auf der Vorstellung der universalen Sündhaftigkeit aller Menschen, die theologischem Konsens entspricht.15 Prosper von Aquitanien widmet der Tatsache, dass selbst die Gerechten noch Gottes Vergebung nötig haben, sogar ein eigenes, auf einer augustinischen Sentenz basierendes Epigramm.16 Indem Eugenius diesen Umstand immer wieder in Erinnerung ruft, erscheinen trotz der Tiefe der beschriebenen Zerknirschung und der Heftigkeit der Selbstanklagen weder seine Person noch die des Königs als verachtenswert, sondern die Selbsterniedrigung und -abwertung, die die Bußhaltung mit sich bringt, wird als ein begrüßenswerter Akt normalisiert, den alle Menschen nötig haben, an dem sie sich selbst beteiligen und auf den sie mit der Solidarität reagieren sollen, die der Universalität der Sünde entspricht.
9.2 Die intertextuelle Technik 9.2 Die intertextuelle Technik
9.2.1 Zwischen Poesie und Prosa: Die Vielfalt der Intertexte Der religiösen und spirituellen Ausrichtung der längeren Gedichte des Eugenius entspricht auch das ‚Corpus‘ an Intertexten, das bei der Analyse greifbar 13 Vgl. zur oft geknüpften Verbindung von erfolgreicher Interzession für andere und spiritueller Autorität RAPP 2005, 66–68. 14 Vgl. Eugenius von Toledo, ep. Braul. 18–19 (CCL 114,399 ALBERTO): ita soluat Christus culpae uestrae, si tamen est aliqua, nexionem. 15 Vgl. Ambrosius von Mailand, Abr. 2,9,66 (CSEL 32/1,622 SCHENKEL): tunc erit pauor magnus etiam iustorum; nemo enim sine peccato. Vgl. Gregor der Große, in Ezech. 2,4,17 (CCL 142,271 ADRIAEN): Quaeratur tamen si quis in eis esse ualeat sine peccato, et nullus inuenitur. Vgl. auch Isidor von Sevilla, sent. 2,18,1 (CCL 111,132 CAZIER): Multi uitam sine crimine habere possunt, sine peccato non possunt. Nam quamuis in hoc saeculo magna iustitiae quisque claritate resplendeat, nunquam tamen ad purum peccatorum sordibus caret, Iohanne apostolo adtestante qui ait: Si dixerimus quia peccatum non habemus, ipsi nos seducimus et ueritas in nobis non est. 16 Vgl. Prosper Tiro von Aquitanien, epigr. 89,5–6 (CSEL 100,143 HORSTING): numquam ita perfecto capitur uictoria bello / vera ut securus pace fruatur homo. Die Basis für das Gedicht ist Augustinus, civ. 19,27.
9.2 Die intertextuelle Technik
461
wurde. Die klassische Dichtung scheint bei Eugenius in Ausdrücken und rhetorischen Figuren und manchmal auch in Versbestandteilen rezipiert, die eins zu eins übernommen werden. In den meisten Fällen ist jedoch die genaue Herkunft eines solchen ‚klassischen‘ locus similis kaum noch bestimmbar, weil dieser an anderer Stelle schon von christlichen Autoren rezipiert wurde und bereits Teil eines gemeinsamen poetischen Repertoires geworden ist. Eine tiefere Auseinandersetzung mit klassischen Autoren fällt dabei kaum auf. Am nächsten kommt dem noch die Erwähnung des Freundespaares Euryalus und Nisus, das einzige mythologische Exemplum. Das lyrische Ich gibt an, seine eigene Freundschaft übertreffe deren Freundschaft noch, weil Gott selbst sie geknüpft habe. Die christliche Freundschaft ist also der klassischen paganen Freundschaft überlegen.17 Es wird aber nicht klar, welcher antike Text zitiert wird, sodass dies kaum als Auseinandersetzung mit einem bestimmten Autor gewertet werden kann. Überhaupt zeigt bereits das eigene Werk des Eugenius, dass ein Zitat nicht darauf abheben muss, dem Text eine zusätzliche Sinndimension zu verleihen. Ein besonders sprechendes Beispiel ist carm. 13,2: fractus animo languida membra traho. Hierfür finden wir eine sehr starke Parallele – beinahe wörtliche Übereinstimmung, dieselbe Versposition – auch im carm. 52,2 (stellata maculis languida membra trahens), einem rein naturkundlichen Zweizeiler über den Gecko ohne inhaltliche Parallele zu carm. 13. Oft scheint die Wiederverwendung einer Junktur als ein von poetischer Bequemlichkeit motiviertes ‚Recycling‘. Den wichtigsten poetischen Hintergrund bildet für Eugenius hingegen bereits die christliche Poesie. Hier lassen sich bereits einige Autoren nennen, die von Eugenius deutlich häufiger rezipiert werden: Venantius Fortunatus, Prudentius, Ausonius, Paulinus von Nola, Sedulius, Verecundus von Junca und natürlich Dracontius, dessen Werk er selbst überarbeitet. Auch hier scheint die Rezeption oft eher den Willen zu verraten, sich an die poetische Tradition anzuschließen und sich einzureihen, als mit ihr in Auseinandersetzung zu treten oder den Sinngehalt des eigenen Textes für Leserinnen und Leser, die den locus similis erkennen, anzureichern. Ein Beispiel dafür kann die Junktur tria summa Deus am Ende von carm. 4 sein, die ein sehr deutliches Zitat aus der Praefatio zu Prudentius’ Apotheosis darstellt.18 Zu dieser wird jedoch kein besonderer Bezug erkennbar; hier wie dort ist es einfach ein poetischer Ausdruck für den dreifaltigen Gott. Dies ist aber auch ohne den Intertext leicht verständlich; umgekehrt vermag die Kenntnis des Intertextes keinen zusätzlichen Sinngehalt beizutragen. Ein guter Teil der intertextuellen Bezüge lässt sich somit als das
17 18
Vgl. DE GIANNI 2016, 101. Vgl. Prudentius, apoth. 1,1 (CCL 126,73 CUNNINGHAM).
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9 Metapoetische Perspektive
klassifizieren, was Aaron Pelttari als „nonreferential allusions“19 bezeichnet, eine besondere Art der Intertextualität, die für die Spätantike zunehmend typisch wird und deren Interpretation nicht geringe Probleme bereitet – denn sie ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie zur Interpretation des Textes nichts hinzufügt, was nicht schon der Wortlaut verrät. Durch diese Art der Anspielung kann der Dichter jedoch signalisieren, dass er sich in seinem Dichten in einer bestimmten Tradition sieht. Mit Pelttaris Worten: „the late antique poet’s quotations of Latin poetry allow him to present his work sub specie praeteritatis.“20 Die Betrachtung der species praeteritatis kann so vielleicht nichts zur Erhellung der einzelnen Textstelle beitragen, aber doch auf die gesamte Dichtung eines Autors ein neues Licht werfen, gerade im Fall des Eugenius: Pelttaris Einschränkung auf lateinische Poesie scheint nämlich auf Eugenius (wie auch auf andere spätantike christliche Poeten)21 keineswegs zuzutreffen. Unter seinen Intertexten finden sich neben den christlichen Dichtern auch liturgische Texte (wie z.B. die Hymnen zu Märtyrerfesten in carm. 14), die Bibel oder patristische Prosa-Texte. Ein sehr auffälliges Beispiel für letzteres, das sogar im Wortlaut des Gedichtes wiedererkennbar ist, stellt die Beschreibung der kranken, im Niedergang begriffenen Welt aus Cyprians de mortalitate dar, die sich Eugenius in carm. 5,4 zu eigen macht. Sonst spiegeln sich die Prosa-Intertexte natürlich stärker in der Struktur der carmina oder in der Verwendung von Schlüsselbegriffen wider als im Wortlaut der Gedichte, die ja im Unterschied zu ihren Prosa-Intertexten den Regeln der Metrik unterliegen. Diese breite Vielfalt der Intertexte, die keinerlei Beschränkung auf ein bestimmtes Corpus zu kennen scheint, zeigt dabei gut auf, dass die Dichtung für Eugenius eben kein von anderen Bereichen seines Lebens abgetrennter und überhöhter Sonderraum ist, in dem eigene Werte und Diskursregeln gelten. Stattdessen zeigt seine Dichtung Spuren von denjenigen intellektuellen und sprachlichen Einflüssen, die auch sonst sein Denken tagtäglich geprägt haben dürften: theologische und spirituelle Diskurse, biblische und liturgische Texte, aber auch die antike Allgemeinbildung, auf deren Vermittlung spätestens Isidor hohen Wert legte.
19
Vgl. PELTTARI 2014, 131–137. KAUFMANN 2016, 152 kritisiert diese Bezeichnung, stimmt aber damit überein, dass diese Art der Intertextualität – die sie als „formal feature“ (ebd.) charakterisiert – in der Spätantike neben die traditionelleren Formen der Intertextualität tritt. 20 PELTTARI 2014, 130. 21 So betrachtet MASTRANGELO 2008, 4 das Werk des Prudentius vor einem ähnlich umfangreichen Panorama von Intertexten: „the Aeneid, contemporary poets, the Bible, Epicurean, Platonist, and patristic texts.“
9.2 Die intertextuelle Technik
463
9.2.2 Strukturbildende Intertexte Diese Unprätentiösität der Gedichte des Eugenius, deren Anspruch der Dichter schon in der praefatio mit der bescheidenen Bezeichnung als rustica uerba und nugae kleingehalten hatte, zeigt sich also auch in der Intertextualität. Dies betrifft nicht nur die Art der Intertexte, sondern auch die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird: So wird an keiner Stelle erkennbar, dass sich Eugenius im Modus der aemulatio auf poetische Vorbilder bezieht, also mit der Absicht, das Vorbild nachzuahmen und zu übertreffen.22 Er kann seine Prätexte jedoch durchaus kreativ umgestalten, wie etwa das Beispiel des carm. 3 zeigt: Dort zitiert Eugenius sehr deutlich aus der Geleusuintha-Elegie des Venantius (carm. 6,5), ein Gedicht, in dem eine Totenklage durch den typischen „Exordialtopos“23 der Instabilität der Welt und des menschlichen Lebens, das in jedem Augenblick vorbei sein kann, eingeleitet wird. Eugenius übernimmt diesen Topos der Instabilität, beschreibt damit aber nicht die Flüchtigkeit der (körperlichen) menschlichen Existenz, sondern die innere Wandelbarkeit des menschlichen Geistes. Zwischen beidem besteht, wie in Kap. 6.2 gezeigt, in der theologischen Anthropologie der Zeit insofern ein innerer Zusammenhang, als beides aus dem Sündenfall und damit aus dem Verlust der Nähe zu Gott folgt, der die Quelle der Ruhe, des Friedens und der Stabilität des Menschen ist. Die Rezeption scheint hier also durch einen theologischen Blick geleitet, durch den Eugenius überraschende Verbindungen knüpfen kann. Hier kann also im Gegensatz zu den bereits beschriebenen ‚nonreferential allusions‘ die Kenntnis des Intertextes, aber auch der patristischen Theologie als Verständnishintergrund durchaus eine zusätzliche Sinndimension des Gedichtes erschließen, die jedoch nicht notwendig ist, um den Text in sich verstehen zu können.24 Auch andere Texte werden auf eine solche Weise von Eugenius eingespielt. Charakteristisch scheint bei Eugenius dafür, dass diese Anspielungen oft nicht nur punktuell gesetzt werden, sondern sich in größeren strukturellen Parallelen entfalten. So folgt in carm. 14, ebenso wie im Romanus-Hymnus des Prudentius (perist. 10), auf eine Schilderung des körperlichen Verfalls die Erkenntnis, dass der Körper und das irdische Leben wertlos sind und daher das Heil der Seele absoluten Vorrang verdient. In Kombination mit zwei ebenfalls zitierten Hymnen aus dem liturgischen Kontext des Märtyrergedenkens kann über diesen Intertext also der Martyriumsdiskurs als Deutefolie für das Thema des Gedichtes, das Sich-Lossagen von der Welt unter dem Eindruck der Alterskrankheiten, hereingeholt werden. Damit wird zugleich ein Faden wiederaufgenommen, den wir von anderen Gedichten wiedererkennen: 22
Auch dies scheint typisch für die Spätantike, vgl. WASYL 2011, 9.
23
VON MOOS 1971, 49 = C 92. KAUFMANN 2016, 155–159 klassifiziert diese Art der Anspielung als „Allusions as Op-
24
tional Part of the Content“ (a.a.O., 155) und beschreibt sie wie folgt: „They are not necessary to follow the plot, though they may add an extra layer of meaning if taken into account.“
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9 Metapoetische Perspektive
In den Basilika-Gedichten werden die Märtyrer speziell für das ‚Besiegen‘ der Welt als Vorbild dargestellt, und im carm. 1 wird das Leben in der Welt als Wettkampf in einem Stadion und dessen erfolgreiche Absolvierung als Erringen eines Siegeskranzes beschrieben. Beide Bilder sind eng mit dem Martyrium verknüpft. Als ebenso strukturbildender Intertext hat sich in carm. 14 das Buch Ijob herausgestellt, das insgesamt dasjenige biblische Buch ist, das Eugenius am ausgiebigsten zitiert.25 Aus Ijob 4,14 war dort das Synonympaar pavor […] et tremor entlehnt, das refrainartig immer wieder im zweiten elegischen Teil des carm. 14 (der Gerichtsvision und der anschließenden Sündenklage) erschien. Auch der ursprüngliche Kontext dieses Begriffspaares war im Buch Ijob eine Vision oder Audition: Dem Elifas flüstert eine Stimme zu und stellt die Frage, ob denn dem Vergleich mit Gott jemand standhalten könne, wo doch den Engeln dies schon nicht gelinge – wie erst solle es da dem niedrigen irdischen Menschen gehen (Ijob 4,17–18)? Eben diese inhaltliche Struktur wird auch auf die Gerichtsvision in carm. 14, die sonst nach dem Vorbild der Johannes-Offenbarung gestaltet ist, übertragen. Als Intertext scheint er aber besonders insofern sinnhaft, als Eugenius bereits an anderer Stelle das Buch Ijob als sprachliche Quelle zum Ausdruck der Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Menschen verwendet hat und genau dies in carm. 14 mit seinen Schilderungen des Verfalls des menschlichen Körpers ein zentrales Motiv ist. Zudem dürfte es im weiteren Kontext der Carmina (z.B. zitiert Eugenius auch in carm. 13 das Buch Ijob) eine Rolle gespielt haben, dass Elifas durch seinen Visionsbericht den leidenden Ijob davor warnt, an Gottes Gerechtigkeit zu zweifeln26 – was auch Eugenius’ lyrisches Ich in den Carmina tatsächlich niemals tut, sondern in seiner demütigen Rolle als reuiger Sünder verbleibt.
9.3 Die Grenzen der spirituellen Funktionalisierung der Poesie 9.3 Die Grenzen der spirituellen Funktionalisierung
Wie die Analyse des Libellus carminum aufgezeigt hat, nutzt Eugenius seine Poesie, insbesondere die Klagepoesie, um spirituelle Diskurse abzubilden, indem er sie in der persona seines lyrischen Ichs beispielhaft durchführt, ihren Mitvollzug durch die Leserinnen und Leser anregt und so für diese spirituellen 25 Vgl. TIZZONI 2012, 240 und den Überblick im Index Locorum Sacrae Scripturae der Edition von ALBERTO 2005a, 411–412. 26 Darin gibt auch Gregor der Große dem Elifas Recht, auch wenn er dessen Kritik im Kontext des Gespräches für nicht angemessen hält, vgl. moral. 5,37,67 (CCL 143,267 ADRIAEN): Puriorem se ergo uir factore suo aestimat, si contra flagellum querelam parat; eumque sibi procul dubio postponit cuius iudicium de sua afflictione redarguit. Vt ergo homo reprehendere non audeat iudicem culpae, hunc humiliter cogitet auctorem naturae quia qui mire ex nihilo hominem fecit, factum impie non affligit. Quod tunc Eliphaz didicit cum uocem quasi aurae lenis audiuit.
9.3 Die Grenzen der spirituellen Funktionalisierung
465
Diskurse einen gemeinschaftlichen Raum konstruiert, in dem sich die Leserinnen und Leser wiederfinden können, sei es als Betende in der Gemeinschaft, als Besucherinnen und Besucher einer Basilika oder als ihr eigenes Leben sub specie aeternitatis reflektierende und ihre Sünden beweinende Menschen. Gleichzeitig ist gerade anhand seiner Klagegedichte deutlich geworden, dass seine Poesie in dieser Funktion nicht aufgeht (vgl. Kap. 7). Im Unterschied zu anderen spirituell-asketischen Werken der Zeit, wie den Synonyma Isidors oder der Exhortatio paenitendi, zeigt bereits die dichterische praefatio des Eugenius auf, dass er seinem Werk keine einheitliche Zweckbestimmung geben möchte. Eine solche ließe sich für die Vielfalt des Gedichtbuches, in dem die Sündenklage neben dichterischen Scherzen wie dem tmetischen Gedicht an Johannes oder Naturkundlichem steht, auch unmöglich formulieren. Das Spirituelle erscheint darin als ein, wenn auch wichtiger, poetischer Gegenstand unter vielen. Nicht die Vielfalt der Gedichte allein wirkt jedoch einer Reduktion der Poesie auf eine spirituelle Funktion entgegen. Auch innerhalb von Gedichten und Gedichtsequenzen, die klar an spirituelle Diskurse anknüpfen, treten diese Diskurse immer wieder in den Hintergrund oder werden durch den überraschenden Verzicht auf sie konterkariert und infragegestellt. Während etwa in carm. 14 sich aus der Klage über körperliches Leid der conpunctio-Gedanke entwickelt, durch den der spirituelle Diskurs von carm. 5 wieder aufgenommen wird, und so viel Raum erhält wie kein anderes Thema (es handelt sich um das längste Gedicht), steht unmittelbar davor ein Gedicht (carm. 13), das auf die spirituelle Funktionalisierung des Leides zunächst verzichtet, wenn auch über Leerstellen bereits Anknüpfungspunkte angedeutet sind. Unmittelbar nach carm. 14 folgt carm. 14b, das über die Klagepoesie reflektiert und dabei explizit die Altersklage nennt, sich also auch auf carm. 14 bezieht. Entgegen der Erwartung, dass das lyrische Ich über die Spiritualisierung des Leides in carm. 14 einen Sinn erkannt habe und dankbar für die Erkenntnis seiner eigenen sündigen Situation sei, hält die Dichter-persona fest, dass sie einfach geklagt habe – nicht mehr und nicht weniger. Damit verwahrt sie sich gegen eine spirituelle Funktionalisierung nicht nur des Leides selbst, sondern auch des poetischen Ausdrucks des Leides in der Klage. In ähnlicher Manier wehrt auch die Nachtigall, die als Symbol für den Dichter gelten kann, in carm. 32 die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Poesie ab und gibt zwar die Möglichkeit zu, dass die Poesie eine Wirkung haben kann, betont aber doch, dass es die reine Freude daran ist, die sie zum Wachen und Singen treibt. Auch das carm. 101 kennzeichnet ein Verzicht auf die poetische Verzweckung des spirituellen Diskurses (und damit auch auf die spirituelle Funktionalisierung von Poesie?). Das Gedicht knüpft über inhaltliche und sprachliche Gemeinsamkeiten (sowie über die Gebetsform allgemein) an Abendgebete bzw. -hymnen an, sowie über das Thema des leidenden Körpers auch an andere Leidensmeditationen innerhalb des Gedichtbuches. Es beklagt auch durchaus Unglücke wie Mangel an Regen und die deshalb zu fürchtenden Missernten, die
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9 Metapoetische Perspektive
in ähnlicher Weise auch in hispanischen Hymnen dieser Zeit thematisiert werden. Am Ende jedoch bittet das lyrische Ich nicht um Regen und Abwendung des Hungers, betet nicht um die Vergebung seiner Sünden, sondern einfach um eine ruhige Nacht, in der es von Stechmücken und den sonstigen monströsen Schrecken des Sommers verschont bleibe. Die Wortwahl ähnelt dabei frappierend einem anderen Abendgebet, das um den Schutz vor der Verführung durch böse Dämonen ersucht. Aus diesen nächtlichen Heimsuchungen, vor denen gerade Mönche sich mit den Waffen der Spiritualität zu schützen suchten, werden in carm. 101 Stechmücken, Flöhe und Wanzen. Vielleicht lag für die Zeitgenossen des Eugenius der Reiz seiner Gedichte, die ihnen, wie wir von Ildefons wissen, in Form eines libellus vorlagen, auch darin, dass das Spirituelle in diesem Gedichtbuch keinen Sonderraum bewohnt, sondern mit Erfahrungen, die typischerweise nicht in diesem Licht gedeutet werden (wie den Sommerleiden) oder die man gewöhnlich durch Spiritualisierung zu überwinden strebte (wie den Leiden unter Krankheit), in Beziehung gesetzt wird, ohne dass dies immer glatt und widerspruchslos gelingen muss. Wer dies kritisieren wollte, den entwaffnet der Dichter von vornherein mit seinem bescheidenen poetischen Anspruch. In seiner praefatio hält er seinem imaginären Kritiker entgegen, dass es doch nur kleine Gedichte (nugae) seien, und antwortet, ähnlich wie die Nachtigall, selbstbewusst und gelassen: „Wenn es mir recht gefällt, was kümmert’s dich dann?“27
27 Eugenius von Toledo, carm. praef. 2 (CCL 114,203 ALBERTO): si mihi rite placet, quae tibi cura manet?
10 Der Libellus carminum im Kontext spätantiker Literatur- und Geistesgeschichte Die vorliegende Arbeit wollte neben dem vordergründigen Ziel, die den Gedichten zugrundeliegende und durch sie zum Ausdruck kommende Spiritualität zu analysieren, auch einen Beitrag dazu leisten, die Eigenart der Dichtung des Bischofs von Toledo vor dem Hintergrund seiner Zeit wahrnehmen und beschreiben zu können. In vielerlei Hinsicht hat sich Eugenius von Toledo dabei als das sprichwörtliche ‚Kind seiner Zeit‘ erwiesen: Er nahm als Bischof den bereits von Isidor von Sevilla formulierten Bildungsauftrag des Klerus an, was nicht alle Bischöfe taten oder tun konnten. Wir haben allen Grund, seinem Biographen Ildefons zu glauben, wenn er seinen Vorgänger – gemessen an den Maßstäben seiner Zeit – als einen studiorum bonorum uim persequens beschreibt. Der Umfang seiner Werke, auch der verlorenen, kann zwar weder mit denen Isidors mithalten noch mit denen des Julian, seines Schülers und späteren Nachfolgers im Bischofsamt. Dennoch weist Eugenius’ Werk, soweit wir davon Nachricht haben, eine erstaunliche inhaltliche und formale Breite auf und reicht von der Trinitätstheologie über die Poesie bis hin zur Liturgie. Besonders die Restauration liturgischer Texte und Ordnungen sowie die Überarbeitung der Werke des Dracontius dient dabei eindeutig dem Anliegen der (nicht als antiquarisch misszuverstehenden!) Kult- und Kulturkonsolidierung, das die literarischen Aktivitäten des wisigotischen Spaniens kennzeichnete.1 Über den verlorenen trinitätstheologischen Traktat des Eugenius, den Ildefons als originellen Beitrag zum überregionalen theologischen Diskurs beschreibt, können wir nur spekulieren: Die Vermutung liegt dabei nahe, dass Eugenius ebenso wie seine theologisch produktiven Zeitgenossen2 sich stark auf die Lehre der (v.a. lateinischen) Kirchenväter stützte und vielleicht von ihnen ausgehend und sie synthetisierend Antworten auf die Fragen seiner Zeit entwickelte.
1
Vgl. dazu WOOD/MARTÍNEZ JIMÉNEZ 2016, 34. So charakterisiert PABST 2021, bes. 430–435 Julian von Toledo insofern als einen patristischen Theologen, als er den Kirchenvätern eine mindestens ebenso hohe Autorität beimaß wie der Heiligen Schrift und auch die Autorität seiner eigenen Schriften von den Vätern herleitete: „Er nimmt für seine Schriften in Anspruch, dass diese in ihrem Gehalt mit denen 2
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In Bezug auf seine Poesie, bei der wir nicht auf solche Spekulationen angewiesen sind, zeigt sich ein ähnliches Bild: Auf den ersten Blick macht Eugenius’ Dichtung einen sehr konservativen und daher für uns heute ‚unauffälligen‘ Eindruck. Besonders die zahlreichen kleinen Gedichte gegen Ende des Gedichtbuches scheinen entweder Allgemeinplätze oder Banalitäten zu behandeln und manchmal auch schlicht Anlassdichtung zu sein. Leicht kann dabei der Eindruck entstehen, dass hier nicht eine besondere schöpferische Freude, sondern die Gewohnheit am Werk war: Zu verschiedenen Anlässen und in unterschiedlichen Kontexten wird das Dichten ‚geübt‘, weil es eine Kulturtechnik ist, die man schätzt und bewahren möchte. Dieser Eindruck ist natürlich von neuzeitlichen Dichterkonzeptionen beeinflusst, die Innovation und schöpferisches Genie wertschätzen. Diesem (schon für die klassische Antike teilweise) anachronistischen Anspruch genügt Eugenius’ Dichtung insgesamt sicher nicht, auch wenn die vorliegende Studie punktuell und besonders in den eingangs als „Herzstücke“ des Libellus beschriebenen Gedichten immer wieder originelle Züge der Dichtung des Toledaner Bischofs herausarbeiten konnte: Eugenius wiederholt überkommene poetische Topoi durchaus nicht nur, sondern passt sie in neue Kontexte ein, transformiert sie dadurch und konterkariert sie sogar bisweilen, wie es eindrucksvoll das Sommergedicht carm. 101 zeigt. Doch auch ohne ein solches ‚Aufblitzen‘ der Originalität des Dichters (die wir ihm unterstellen, ohne ein annähernd vollständiges Wissen über die Dichtungskonventionen seiner Zeit zu haben) ist der Libellus carminum des Eugenius eine wichtige Quelle, die uns viel über die Entwicklung der lateinischen Poesie am Übergang von der Spätantike zum Mittelalter sagen kann. Die vorliegende Studie konnte daher auch einige Aspekte und Erkenntnisse zur Fortschreibung insbesondere der christlichen lateinischen Literaturgeschichte beisteuern, die im Folgenden zusammenfassend skizziert werden sollen. Anderes wird jedoch erst in der komparativen Perspektive sichtbar werden, die diese Studie aufgrund ihrer Fragestellung nur für die Antike und Spätantike (und dort auch nur im Ansatz) leisten konnte. Hier öffnen sich weitere Forschungsperspektiven: sowohl im Hinblick auf die diachrone Weiterentwicklung der lateinischen Poesie im Mittelalter als auch im synchronen Vergleich mit der Poesie anderer geographischer, politischer und kultureller Räume des Westens, aber auch des christlichen Ostens.
der Kirchenväter gleichzusetzen sind“ (a.a.O., 432). Gleichzeitig arbeitet Stefan Pabst heraus, wie aus Julians Bezugnahme auf die Kirchenväter durch Rekontextualisierung, Komplexitätsreduktion, Synthese bzw. Harmonisierung und im Einzelfall auch Verfälschung doch etwas Neues entstehen kann, z.B. die Konstruktion eines – real nie vorhandenen – consensus patrum in der Eschatologie (vgl. a.a.O., 435).
10.1 Der Libellus im Kontext spätantiker Poesie
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10.1 Der Libellus carminum im Kontext spätantiker Poesie 10.1 Der Libellus im Kontext spätantiker Poesie
10.1.1 Gattungstradition und Dichtungshaltung Der Libellus carminum schreibt die poetische Gattungstradition des Epigrammbuchs am Ausgang der Spätantike weiter; wir haben auch Hinweise, dass Eugenius selbst den Begriff Epigramm für seine Gedichte verwendete. Das Epigramm selbst ist unter den poetischen Genres eines der am schwersten greifbaren, und die Bandbreite und Fluidität dessen, was ein Epigramm sein kann, spiegelt sich auch in der Dichtung des Toledaner Bischofs wider. Auf der Ebene der einzelnen Gedichte können wir festhalten, dass Eugenius unterschiedlichste gängige ‚Subtypen‘ des Epigramms verfasst hat: Aufschriften, Epitaphe, beschreibende und informierende Epigramme und solche, die in einer Pointe enden. Lediglich das martialische Spottepigramm scheint beinahe völlig zu fehlen, wenn man einmal von dem tmetischen carm. 70 an Johannes als Poesieverächter absieht – falls man hier überhaupt von Spott sprechen will, dann von einem ausschließlich wohlwollenden und freundschaftlichen. Mit dem beißenden Spott und der Frivolität eines Luxorius, der ungefähr hundert Jahre vor Eugenius im vandalischen Nordafrika dichtete, sind seine Gedichte jedenfalls nicht vergleichbar. Für die Geschichte der Gattung ist dagegen bedeutsam, dass Eugenius auch das in der Gattungsgeschichte ‚neue‘ Epigramm nach dem Vorbild Prospers von Aquitanien, das eine theologische oder philosophische Sentenz poetisch wiedergibt, selbstverständlich integriert. Dabei sind längst nicht alle seiner Gedichte klar einem Subtypus zuordenbar. Dies würde auch kaum zu Eugenius’ mit einiger Vorsicht aus den praefationes ableitbarem Verständnis der Gattung passen: Im Unterschied zu Isidor, der die Gattung schärfer abgrenzt, aber im Anschluss an viele andere poetische Vorbilder der Antike und Spätantike (beginnend mit Catull) scheint er unter dem Epigramm vor allem die auf den ersten Blick anspruchslose poetische Kleinform jeder Art verstanden zu haben: die nugae. Unter diesem breiten ‚umbrella term‘, der zugleich ein bescheidenes Understatement darstellt, finden dann auch die lyrisch-subjektiveren Gedichte, auf die sich diese Studie konzentriert hat, sowie liturgienahe Formen wie die poetische Oratio und sogar ein Hymnus ihren Platz. Es ist dabei weniger überraschend, dass wir diese Breite bei ein und demselben Dichter finden.3 Erstaunlich ist vielmehr, dass diese Breite in ein und demselben Buch unterkommen kann, und hierin unterscheidet sich Eugenius am deutlichsten von der antiken und spätantiken Tradition. Zwar sind Epi-
3 BERNT 1968, 142 spricht davon, dass Eugenius die antike Vielfalt des Epigramms weiterführe und sogar erweitert habe.
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grammbücher mit gemischtem Inhalt auch in Antike und Spätantike nicht selten (zu nennen wären etwa Ausonius, die sogenannte Unius poetae sylloge in der Anthologia Latina, AL 78–188, und Luxorius), und auch der Charakter der Gedichte muss längst nicht immer einheitlich sein. Dennoch kann der Kontrast z.B. zwischen Eugenius’ banal wirkenden Merkversen und seinen elaborierten Gedichten mit starker subjektiver Note als so hart empfunden werden, dass der Eindruck entsteht, im Libellus sei alles zusammengeworfen worden, was der Dichter jemals geschrieben habe. Insbesondere die signifikante und nicht nur vereinzelte Beimischung von didaktischen und aufzählenden Epigrammen unter andere Epigrammtypen ist beinahe ein Novum in der Gattungsgeschichte: Nach Luca Mondin wirkt es so, als hätte vor Eugenius die scheinbare Kunstlosigkeit diesen Subtyp von den ‚wirklich poetischen‘ anderen Subtypen abgehoben. 4 Entweder scheute sich Eugenius also nicht, diesen Anschein der Kunstlosigkeit zu erwecken – oder er empfand ihn nicht mehr im selben Maße wie antike und spätantike Poeten vor ihm. Dieser unprätentiöse Zug der Dichtung des Eugenius verwundert kaum, wenn wir den Einfluss Isidors von Sevilla auf seinen eigenen kulturellen Raum, das wisigotische Spanien, bedenken. Isidor wurde besonders durch sein Hauptwerk, die Etymologiae siue Origines, zu einem der bedeutendsten Vertreter und Beförderer dessen, was Jacques Le Goff den „esprit encyclopédique“5 genannt hat, der später verschiedene Bereiche der mittelalterlichen Kultur durchdringen sollte. Dass dieser sich nicht nur in enzyklopädischen und didaktischen Werken im eigentlichen Sinne (meist Prosa-Traktaten) niederschlug, sondern auch in der Poesie, zeigen die didaktischen Gedichte des Eugenius eindrucksvoll. Insgesamt wird die lateinische Poesie im Mittelalter tendentiell rezeptiver für Inhalte aller Art, die zuvor kaum ‚poesiewürdig‘ erschienen wären. Der Hintergrund dafür scheint zu sein, dass – bei aller Heterogenität der spätantiken wie der mittelalterlichen lateinischen Dichtung – die Poesie ihre Existenzberechtigung zunehmend von ihrer Nützlichkeit für die (intellektuelle, moralische, spirituelle) Erbauung der Leserinnen und Leser zu beziehen scheint. „The literature of the time turns up its nose at the notion of art for art’s sake.“6 Diese Entwicklung wurde entscheidend von der in der Spätantike entstehenden spezifisch christlichen Poetik geprägt, die das Prinzip der utilitas der dulcedo vorzieht und letztere in den Dienst der ersteren stellt.7 Aufgrund dieser (nach antikem und modernem Empfinden) stark schwankenden Stilebenen der Einzelgedichte erwartet man zunächst auch keinen ‚feinen, polierten‘ und wohlkalibrierten libellus als Gesamtkunstwerk, wie er nach 4
Vgl. MONDIN 2016, 220. LE GOFF 1994, 23–24. Vgl. für diesen neuen, ‚mittelalterlichen‘ Zug in der Dichtung des Eugenius schon BERNT 1968, 143 und zum Einfluss des ‚Enzyklopädismus‘ auf die mittelalterliche Literatur FORMISANO 2012, bes. 511–515. 6 TILLIETTE 2012, 256 (für die Poesie des Mittelalters). 7 Vgl. ROBERTS 1989, 130–131 und FONTAINE 1981, 21–22. 5
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Catull auch dann der antike Standard blieb, wenn die Dichter bescheiden behaupteten, ihm nicht genügen zu können.8 Gerade in der jüngeren literaturgeschichtlichen Forschung ist das Bewusstsein gewachsen, dass auch in Gedichtsammlungen, die (anders als z.B. das Epos oder die Elegienbücher) in sich abgeschlossene und für sich allein rezipierbare9 Einzelgedichte enthalten, nicht nur dem einzelnen Gedicht, sondern auch dem Buchganzen Textualität zukommt und dass die linear fortschreitende Lektüre (und Re-Lektüre) der Einzelgedichte neue Sinnzusammenhänge eröffnen kann, die das Sinnpotential des Einzelgedichtes überschreiten und erweitern.10 Unsere Erkenntnismöglichkeiten bezüglich gängiger Struktur- und Anordnungsprinzipien lateinischer vom Autor kompilierter Gedichtsammlungen sind leider (und v.a. in der diachronen Perspektive) grundsätzlich beschränkt, da wir nur in wenigen Fällen sicher sein können, tatsächlich die vom Autor vorgenommene Anordnung vor uns zu haben. Der wichtigste lateinische Dichter, dessen Erforschung gezeigt hat, wie raffiniert die nur scheinbar wahllose Anordnung von einzelnen Epigrammen konstruiert sein kann, ist Martial, der unterschiedliche Strukturprinzipien miteinander kombiniert. So können Juxtaposition und Concatenatio eine ‚Kette‘ mittels gemeinsamer, aber auch konstrastierter oder disassoziierter Motive bilden; gleichzeitig können thematisch verwandte und fortschreitende Zyklen sich sogar über Buchgrenzen hinweg verteilen: Martials Epigrammbücher zeigen eindrucksvoll auf, dass diese auch für die sequentielle Lektüre und nicht nur für ein selektives, wahlloses Blättern gedacht waren.11 Dass die Anordnung der Gedichte auch in Eugenius’ Libellus nicht beliebig ist, wird auf den ersten Blick erkennbar: Gleiches steht bei Gleichem und bei manchen Epigramm-Subtypen können wir klar abgegrenzte ‚Blöcke‘ von Gedichten ausmachen, wie etwa bei den Basilika-tituli oder den Epitaphen. Anderes (wir denken an die Nachtigall-Gedichte) ist durch ein gemeinsames Thema als Zyklus markiert. Dieses Strukturprinzip, das sich beinahe von selbst aufdrängt und das Eugenius auch aus den großen Poesie-Anthologien seiner
8
Vgl. Ausonius, praef. var. 4,7 (5 GREEN): illepidum rudem libellum. Man darf nicht vergessen, dass die Rezeption eines Einzelgedichtes auch durch die Manuskripttradition als eine Möglichkeit unter vielen bezeugt wird. ALBERTO 2018, 24 nennt drei Modi der späteren handschriftlichen Zirkulation der Texte des Eugenius: Die (jeweils abgekürzte) Originalform des Libellus, thematische Segmente oder Einzelgedichte, die meist aus didaktischen Gründen ausgewählt wurden. 10 Vgl. für einen Überblick über die diesbezügliche Forschung HÖSCHELE 2010, 10–37. 11 So zeigt HENRIKSÉN 2018, passim die Verbindungen zwischen den aufeinanderfolgenden ersten 20 Gedichten des 10. Epigrammbuches auf und verspricht sich von einer aufmerksamen sequentiellen Lektüre der Gedichte weitere, tiefere Erkenntnisse über Martials Strukturprinzipien. 9
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Zeit vertraut gewesen sein muss, stützt zunächst das Bild des Libellus als Dokumentationsinstrument: Wer etwas Bestimmtes sucht, soll durch die klare Einteilung in Kategorien schnell und leicht fündig werden. Die hier getätigte sequentielle Lektüre hat dagegen aufgezeigt, dass der Libellus des Eugenius auch als eine literarische Größe und nicht nur als ‚Gefäß‘ für die Einzelgedichte, Gedichtblöcke und –zyklen zu verstehen ist. Vor allem im ersten Teil des Libellus, dessen Gedichtabfolge handschriftlich am besten bezeugt ist, liegt eine sinnige, wenn auch nach dem Prinzip der uariatio unterbrochene Gesamtstruktur vor: Das carm. 1 setzt das Thema eines christlichen cursus uitae des lyrischen Ichs fest und formuliert vorausblickend gute Wünsche materieller und sozialer, aber insbesondere spiritueller Art. Diese Wünsche werden in den folgenden Gedichten immer wieder unauffällig aufgegriffen, jedoch selten in der Form, dass sie sich erfüllen. In manchen Gedichten muss das lyrische Ich sich und die Leserinnen und Leser eindrücklich ermahnen, in manchen nüchtern die wankelmütige, sündige menschliche Natur anerkennen, in manchen (besonders den Basilika-tituli) auf die Hilfe der Heiligen verweisen, in manchen Gott anflehen, weil das Leben auch aufgrund widriger äußerer Umstände und körperlicher Leiden nicht in einem placidus cursus dahingeht, wie das lyrische Ich es noch in carm. 1 gehofft hatte. Während es zunächst nur ein Hintergrundrauschen dieser ‚Antithesen‘ zu seinen eingangs formulierten Wünschen darstellt, wächst das Bewusstsein des näher rückenden Todes im Fortlaufen der Gedichte zu einem Crescendo an, das seinen Höhepunkt am Ende von carm. 14 erreicht, wenn das greise lyrische Ich im unmittelbaren Angesicht des Todes und im Bewusstsein des wartenden göttlichen Gerichtes Gott um Vergebung seiner Sünden anfleht. Sinnigerweise schließen an die Gedichte, die Krankheit, Alter und die Furcht vor dem nahen Tod thematisieren, eine Reihe von Epitaphen an, die Eugenius für sich selbst verfasst. Obgleich sich die Bußthematik und –haltung in ihnen fortsetzt, kann hier, nach dem Abklingen dieser existentiellen Dringlichkeit, auch eine leise Jenseitshoffnung formuliert werden. Gleichzeitig schließen sich an die Auto-Epitaphe (wieder nach dem sehr einfachen Strukturprinzip der thematischen Gruppierung) Epitaphe für andere Persönlichkeiten aus Eugenius’ Umfeld an, die damit von der Dichter-persona weglenken. Im letzten Teil vor der Conclusio (carm. 76) tritt die Dichter-persona hinter die überwiegend sachlichen Epigramme zurück und taucht nur noch sporadisch auf. Erst ganz zum Schluss des heutigen Libellus, in einem Teil, der wohl nachträglich angefügt wurde, begegnen wir der Dichter-persona in Brief-Epigrammen und dem Sommer-Gedicht carm. 101 wieder intensiver. Der Libellus erfüllt (zusammen mit dem verlorenen Prosa-Libellus) somit neben dem Zweck der Dokumentation mindestens eine zweite Funktion, die Ildefons, der Biograph des Dichters, auch explizit formuliert: dass er „es vermochte[...], sein heiliges Andenken zum Eifer vieler nachhaltig anzuempfeh-
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len.“12 Insbesondere die lyrisch-subjektiven Gedichte, die sich schwerpunktmäßig im ersten Teil der Sammlung finden (und vielleicht teilweise auch eigens zu diesem Zweck verfasst wurden), konstruieren trotz ihres je unterschiedlichen Charakters eine relativ kohärente persona, ein Gesicht des Dichters, das den Leserinnen und Lesern vor Augen tritt: Es ist das Gesicht eines Bischofs, der dieselben, wenn nicht größere existentielle Nöte leidet und ebenso als reuiger Sünder vor Gott steht wie jeder andere Mensch auch – und gerade darin zu einem Vorbild werden kann. 10.1.2 Die Christianisierung der Poesie und der poetischen Praxis Eugenius’ Dichtung ist, auch wenn dort Religiöses neben religiös Neutralem steht, explizit christlich. Schon in der praefatio wird der christliche Bezug durch den dort formulierten Segenswunsch für den Leser deutlich. Eine nicht-liturgische christliche Poesie zu verfassen, wäre noch wenige Jahrhunderte vor Eugenius kaum vorstellbar gewesen. Die Poesie ist als Domäne von paganen Göttermythen, Laszivität und frivolem Scherz eine der letzten Teilbereiche der klassischen Kultur, die das Christentum für sich erobert. Auf inhaltlicher Ebene galt die Poesie weiten Teilen der altkirchlichen theologischen Elite als Sammelsurium von Lügen; darüber hinaus war ihnen das elegante sprachliche Gewand der Poesie ebenso suspekt wie es die sprachlichen ‚Verführungskünste‘ der Rhetorik waren.13 Zumindest in der Theorie stellten führende theologische Denker dem ein ganz anderes, in den Augen ihrer Zeitgenossen geradezu absurdes Ideal gegenüber: die äußerste sprachliche Einfachheit und Grobschlächtigkeit der Bibel, deren Wahrheit aus sich selbst heraus leuchte und daher die Subtilitäten und Finessen der paganen Literatur und Philosophie nicht nötig habe. In der Praxis hielten sie sich freilich selten auch selbst an dieses Ideal.14 Vor diesem Hintergrund kann die Entstehung einer christlichen Poesie und Poetik in der Spätantike nicht als selbstverständlich gelten.15 Denn im Unterschied zur Prosa ist die Dichtung durch ihre traditionelle Begrenzung auf bestimmte Stoffe in dieser Zeit gewissermaßen zwischen zwei spannungsreiche Pole ‚eingeklemmt‘: die klassisch-pagane Tradition und der neue, universale Anspruch der christlichen Religion. Das Erkunden von möglichen Positionierungen in diesem Spannungsfeld und die damit verbundene Herausbildung ei-
12 Ildefons von Toledo, vir. ill. 13,206–208 (CCL 114A,615 CODOÑER MERINO): qui ad multorum industriam eius ex hoc tenaciter sanctam ualuerunt commendare memoriam. 13 Damit konnten die Kirchenväter bereits an die platonische Kritik an Rhetorik und Poesie anknüpfen; vgl. MASTRANGELO 2017, 393–400. 14 Vgl. EVENEPOEL 2016, 18–19. 15 Vgl. EVENEPOEL 2016, 20.
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ner spezifisch christlichen Poetik ist eine Pionierleistung der christlichen Dichterinnen und Dichter des vierten und fünften Jahrhunderts, die damit jedoch auch das Gesicht der Poesie nachhaltig veränderten. Marc Mastrangelo formuliert drei Herausforderungen, mit denen sich spätantike Dichter konfrontiert sahen (auch pagane Dichter oder solche, für die ihre christliche Identität eine weniger zentrale Rolle spielte): 1) Der Umgang mit dem Erbe der klassischen Poesie, zu deren Quasi-Kanonizität und enormem Prestige sich die junge Dichtergeneration verhalten musste, 2) die Positionierung gegenüber dem Christentum, das zunehmend alle Gesellschaftsbereiche prägte und der Poesie aus den oben skizzierten Gründen oft skeptisch, wenn nicht sogar feindselig gegenüberstand, und schließlich 3), damit eng verbunden, der festzustellende Bedeutungsverlust der Poesie gegenüber der Prosa (insbesondere der Bibel, aber auch der theologischen Prosa der Kirchenväter), deren Gewicht innerhalb des intellektuellen Diskurses zulasten der Poesie zunahm.16 Diese Herausforderungen beeinflussten verschiedene Dimensionen der Poesie nachhaltig. Sie scheinen bei Eugenius, der hier bereits auf die Pionierleistung der ersten (und zweiten) Generation der christlichen Dichterinnen und Dichter zurückblicken kann, jedoch bereits bewältigt zu sein. Der ‚lange Schatten‘ der klassischen Poesie ist in Eugenius’ Werk kaum noch zu spüren: Schließlich liegt ihm bereits ein stattliches Corpus an christlicher Poesie vor, auf das er zurückgreifen kann. Er schätzt es mindestens ebenso wert wie den klassischen poetischen Kanon, wenn nicht sogar mehr: Das ist schon rein quantitativ an seinen loci similes abzulesen, unter denen kein Dichter des klassischen Kanons wie Vergil, sondern der merowingische Dichter Venantius Fortunatus den ersten Platz einnimmt.17 Venantius selbst, der vor Eugenius dichtete, gilt als der erste Dichter, bei dem diese ‚Kanonisierung‘ christlicher Dichter abgeschlossen ist: Er nennt ausschließlich diese als seine Vorbilder.18 Selbstverständlich verwendet Eugenius auch klassische poetische Wendungen; gerade weil aber bereits Dichter vor ihm diese Sprache in den Dienst eines christlichen Gegenstandes stellten, ist oft nicht mehr nachvollziehbar, welcher Dichter im Einzelnen die ‚Quelle‘ darstellt – und ob man dabei überhaupt von einer Quelle sprechen kann und nicht einfach annehmen muss, dass Eugenius 16
Vgl. MASTRANGELO 2016, 25–28. Wie HAYS 2009, 292 anmerkt, neigt die Edition von ALBERTO 2005a dazu, die Häufigkeit von loci similes in christlichen Autoren stärker zu betonen als bei klassischen. Vielleicht entsteht dieser Eindruck aber nur im Vergleich zu anderen Editoren: O’HOGAN 2019, 307 bemerkt umgekehrt in der Erforschung der spätantiken Poesie eine Tendenz, den Rückgriff auf die klassischen Vorbilder überzubetonen und dabei näherliegende Vorbilder wie eben die bereits vorhandenen christlichen Dichter zu übersehen; so werde etwa der Bibelepiker Sedulius in erster Linie in Relation zu Vergil gelesen, nicht zu seinem unmittelbaren Vorgänger Juvencus. 18 Vgl. Venantius Fortunatus, Mart. 1,14–25 (6–7 QUESNEL), der Juvencus, Sedulius, Orientius, Prudentius, Paulinus von Petricordia, Arator und Alcimus Avitus nennt. 17
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einfach aus einem Fundus poetischer Sprache schöpfte. Viele loci similes, gerade diejenigen zu klassischen Autoren, konnten daher als ‚nonreferential allusions‘ eingeordnet werden, bei denen das Erkennen einer intertextuellen Anspielung keine weitere Sinndimension eröffnet. Im Gegensatz dazu sind es oft biblische Texte, Texte christlicher Dichter, liturgische Texte und auch theologische Diskurse, wie sie durch die patristische Prosa dokumentiert werden, die das Sinnpotential des Textes bereichern, wenn sie als Hintergrundfolie der Gedichte erkannt werden. Gerade der starke Bezug auf die patristische Prosa verdeutlicht den von Marc Mastrangelo attestierten Bedeutungsverlust der Poesie trotz der hohen Wertschätzung, die ihr gerade im wisigotischen Spanien entgegengebracht wurde: Die christliche Poesie bezieht sich auf die in der Prosa geführten Diskurse und kreist nicht um ihre eigenen. Die geistige Welt des Eugenius, die in seine Poesie Eingang findet, ist klar eine christliche, was wir auch daran erkennen, dass Eugenius in all seinen Gedichten gerade einmal ein einziges mythologisches Beispiel anführt. Dass umgekehrt auch die Poesie in einem christlichen Weltbild ankommen und dort Fuß fassen konnte, spiegelt sich auch in Eugenius’ unaufgeregter Selbstverständlichkeit im Hinblick auf das Verhältnis seiner Poesie zu seiner christlichen Identität. Hierin kann Eugenius bereits auf die Pionierleistung der ersten (und zweiten) Generation der christlichen Dichterinnen und Dichter zurückblicken, die in verschiedener und vielfältiger Weise begründet haben, unter welchen Bedingungen die Poesie auch vor dem Hintergrund eines christlichen Weltbildes gerechtfertigt ist, welche Autorität ihr innerhalb dieses Weltbildes zukommt und welchen Nutzen sie entfalten kann.19 Eugenius – immerhin ein Bischof! – muss eine solche Begründung in seinem carm. praef. nicht mehr explizit formulieren. Einige typische Begründungsmuster, wie etwa die Berufung auf Christus als Inspirationsquelle anstelle der Musen oder der Anspruch, in angenehmer Weise Wahrheiten vermitteln zu wollen, würden freilich auch kaum zu dem leichten, spielerischen Genre der Epigramme passen, das sich selbst nicht allzu ernst nimmt und daher die Autorität, die es nicht beansprucht, auch nicht begründen muss. Auch der utilitas-Gedanke20 als Rechtfertigung für die dichterische Betätigung ist bei Eugenius kaum in expliziten poetologischen Aussagen zu finden. Selbst wenn die Nachtigall als Bild des Dichters gefragt wird, ob sie durch ihr Wachen und Singen das Unheil von ihrem Nest fernhalten könne, antwortet
19 Vgl. dazu z.B. den Überblick über Begründungsstrategien der frühen christlichen Dichter bei POLLMANN 2013, passim und EVENEPOEL 2016, 26–30. 20 Dieser drückt sich u.a. in Prudentius, epil. 21–28 (CCL 126,402 CUNNINGHAM) aus, wo er die Hoffnung ausdrückt, ein uas utile zu sein und als solches im Haus des Herrn zumindest in einem Winkel verbleiben zu dürfen: Omne uas fit utile / quod est ad usum congruens herilem. [...] Me paterno in atrio / ut obsoletum uasculum caducis / Christus aptat usibus / sinitque parte in anguli manere.
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sie, sie wisse es nicht – es mache ihr aber Freude, helfe ihr, verschaffe Linderung (iuuat). Nützlichkeit explizit für sich zu beanspruchen, widerspräche sowohl dem Bild der unbedeutenden nugae, aber auch ein wenig der typisch spätantiken und von Eugenius beinahe perfektionierten Dichtungshaltung, die, wenn überhaupt, nur sehr vorsichtig Verdienste für sich beanspruchen möchte. Einige der eugenianischen Gedichte folgen jedoch fraglos dem Prinzip der utilitas und erfüllten teils eine didaktische Funktion (wie die Merkverse), teils eine soziale (wie die Epitaphe und die Basilika-tituli). Die vorliegende Studie hat jedoch insbesondere die Frage nach dem spirituellen Nutzen der Gedichte des Eugenius gestellt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sowohl das Dichten wie auch das Rezipieren einiger Gedichte eng auf spirituelle Praktiken besonders im Kontext von Sünde und Buße bezogen war und selbst als eine solche spirituelle bzw. asketische Praxis gelten konnte. Dass sich die Dichtung nicht nur für christliche Inhalte, sondern auch für solche Dimensionen und Zwecke öffnet, verwundert vor dem Hintergrund der Zeit wenig. Peter Brown markiert den Übergang zwischen Antike und Mittelalter durch den Prozess, den er „peccatisation du monde“ nennt: Die gesamte Welt- und Lebensdeutung werde durch den Diskurs um Sünde und Buße gelenkt,21 was auch an der christlichen Poesie nicht spurlos vorbeigehen kann. Im Einklang mit der skizzierten bescheidenen Dichtungshaltung des Eugenius wird ein solcher spiritueller Nutzen jedoch nie als Vorzug der Dichtung, geschweige denn als Vorzug seiner Dichtung explizit gemacht, sondern dort, wo er implizit aufkommen konnte, immer wieder dekonstruiert. Andere poetische Formexperimente im Kontext der Bußspiritualität, die es im wisigotischen Spanien ebenfalls gab, konnten hier ihrer Gattung gemäß deutlicher werden. Das Ergebnis ist eine Poesie, die für heutige Leserinnen und Leser einerseits kunstlos-prosaisch, andererseits aber auch faszinierend authentisch wirken kann. Mit wenigen Ausnahmen scheinen sämtliche Dichtungen im alltäglichen, sozialen, aber insbesondere spirituellen Leben der Zeit verwurzelt – auch und gerade aufgrund der Funktionalität, die hinter vielen Gedichten zu erkennen ist. Die Funktionalität wird jedoch nirgends zum dominierenden Prinzip: Die Mischung aus Religiösem und Profanem, Existentiellem und Alltäglichem, die bei Eugenius ganz natürlich nebeneinanderstehen, verhindert es zuverlässig, seine Dichtung auf die Verwirklichung eines bestimmten Programms reduzieren zu können. Und selbst dort, wo sich ein solches deutlicher abzeichnet, führt der Dichter die Leserinnen und Leser immer wieder zur banalen Tatsache zurück, dass er keinen Grund dafür brauche, zu dichten – es gefalle ihm nun einmal.
21
Vgl. BROWN 1997, 1260: „la réduction finale de la somme de l’expérience humaine, de l’histoire, de la politique, de l’ordre social et enfin de la destinée de l’âme humaine en function de deux principes universels d’explication: le péché, la pénitence.“
10.2 Lose Enden und offene Fragen
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10.2 Lose Enden und offene Fragen 10.2 Lose Enden und offene Fragen
Die skizzierten Eigenheiten der Dichtung des Eugenius werfen dabei auch weitergehende Fragen auf, die erst in der komparativen Perspektive, im Abgleich mit anderen poetischen Werken vor und nach Eugenius beantwortet werden können. Insbesondere die Frage nach Art, Umfang und poetischen Mitteln der spirituellen Performativität christlicher poetischer Texte kann durch Erkenntnisse über andere Dichtungen ergänzt und in Relation gesetzt werden. In dieser Hinsicht ist sowohl die synchrone als auch die diachrone Perspektive interessant. Dichtung, die sich im Diskurs von Sünde und Buße bewegt, finden wir bereits kurz vor Eugenius und auch zu seiner Zeit – das wisigotische Spanien scheint hier, wie angedeutet, sogar besonders produktiv gewesen zu sein. Aber gerade im Mittelalter erhält die ‚Bußpoesie‘ einen enormen Aufschwung; besonders die alt- und mittelenglische Literatur hat hier eine reiche Formenvielfalt entwickelt.22 Einige davon, wie etwa die altenglische lyrische Untergattung der ‚Altenklage‘, verbinden die schon für Eugenius typischen Aspekte der contemptus mundi-Traditionen und des conpunctio-Gedankens miteinander und bedienen sich der Form der Klage durch ein lyrisches Ich.23 Hier die Entwicklung literarischer Motive und poetischer Subgattungen, Techniken und Haltungen (auch über die Epochengrenze zwischen Spätantike und Mittelalter hinweg und in Gedichten der verschiedenen nicht-lateinischen Sprachen, die sich in dieser Zeit zu Literatursprachen entwickeln) nachzuzeichnen, verspricht, feine Unterscheidungen treffen zu können, die einerseits Aufschluss über die Entwicklung der Poesie geben können: Wie positionierten sich Dichterinnen und Dichter gegenüber Vorgängern, welche Akzente setzten sie, wie konstruierten sie die Rolle ihrer Dichtung? Mit welchen poetischen Mitteln können diese Rollen erfüllt werden? Wie verhält sich die spirituell-praktische Dimension der Dichtung zu ihren anderen Dimensionen? Andererseits kann auch im Hinblick auf die Theologie und Spiritualität von Sünde und Buße das Bild, das meist vorrangig aus anderen Quellen gewonnen wird,24 durch einen vergleichenden Blick auf die Bußpoesie ergänzt werden: Wie verhält sich diese Art der Poesie zu anderen Bußpraktiken? Können wir darin die Entwicklung der kulturellen, emotionalen und performativen
22
Vgl. den Überblick bei GILLESPIE 2005. Vgl. etwa das sog. ‚Lament of the Old Woman of Beare‘, das MARTIN 1969, 249 mit dem carm. 14 des Eugenius verglichen hat. Vgl. auch PALMER 2004 für das altenglische Gedicht ‚The Wanderer‘. 24 Vgl. die Kritik von FIREY 2016, der die Konzentration auf die paenitentialia zur Erforschung mittelalterlicher Bußkultur aufbrechen und um weitere Zeugnisse – in seinem Fall die Synonyma Isidors von Sevilla – ergänzen möchte. 23
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10 Der Libellus im Kontext spätantiker Literatur- und Geistesgeschichte
‚Skripte‘ der Buße nachvollziehen? Wenn ja, wie verhalten sich diese zur theologischen Reflexion von Sünde und Buße? Schließlich erlebte das gesamte Feld der Buße im Mittelalter eine seiner produktivsten Entwicklungsphasen. Doch nicht nur der lateinische Westen kennt eine ‚Bußpoesie‘, die in die spirituelle Praxis hineinreicht. Das griechische, östliche Christentum dürfte (unserem Überlieferungsstand nach) hier bereits früher eine Pionierrolle eingenommen haben: Schon Gregor von Nazianz schrieb Gedichte de semetipso, in denen ein lyrisches Ich seine seelischen Bewegungen und existentiellen Erfahrungen nachzeichnet und diese auch für die Leserinnen und Leser (nach)vollziehbar macht. Auch die Gedichte Gregors wurden bereits, wie es hier für die Gedichte des Eugenius vorgenommen wurde, als Teil asketischer Praxis gelesen, und zwar sowohl in Bezug auf den Modus des Schreibens als auch des Rezipierens von Gedichten. Suzanne Abrams Rebillard fasst ihre Herangehensweise an Gregors Gedichte programmatisch zusammen: The poetic text is not an affected object but moves on its own, leading us in a dance toward salvation. If we look closely [...], we can see poetry not as a body transformed, as we have become accustomed to in recent years, but as an active transformer, its structures recognizing and reconciling human paradox, unifying the corporeal instrument, and leading toward a wholly spiritual life.25
Im christlichen Osten entsteht ebenfalls eine mutatis mutandis auf die Buße und seelische Reinigung abzielende Poesie, die als ‚katanyktische Poesie‘ (von ôëüĄ÷ýÿóÏ, dem griechischen Pendant zur lateinischen conpunctio) bezeichnet wird und in ihrer Einheitlichkeit umstritten ist. Manchmal zählt man dazu explizit auch das liturgische und daher in seinen Ausdrucksformen determiniertere Genre der Hymnen, meist liegt aber der Fokus auf der persönlicheren Art der Poesie, in der die Dichterstimme nicht in einem kollektiven Wir aufgeht.26 Antonia Giannouli hebt beides insofern von der bloßen Dichtung ïúť ôëüë÷ŴÿïþÏ ab, als es dort nicht nur um die ‚Theorie‘ des Themas geht, sondern auch um die Erfahrung im Akt der Rezeption: „the [...] form is meant to support the practice of contrition as a means of experiencing it and has ‚therapeutic‘ intent.“27 Und sicherlich muss man hier nicht in der griechischsprachigen Welt stehenbleiben. So hat auch das syrische Christentum eine lange, freilich auch von 25 REBILLARD 2020, 235. Die Autorin hat die spirituelle Dimension der Gedichte Gregors von Nazianz bereits in ihrer Dissertation (REBILLARD 2003) erkundet, die jedoch im deutschsprachigen Raum schwer zugänglich ist. Vgl. für ähnliche Ansätze, die auf eine spirituelle Performativität der Gedichte Gregors hinweisen, BØRTNES 2006 und, mit stärkerem Fokus auf die Außenwirkung und die Konstruktion von Autorität STORIN 2011. 26 Vgl. GIANNOULI 2013, 86–89. Vgl. für eine Lesart byzantinischer Hymnen als katanyktisch MELLAS 2020, der auch emotionsgeschichtliche und performativitästheoretische Ansätze integriert. Vgl. mit einem ähnlichen Ansatz, aber einem spezifischen Fokus auf die Bußperformanz bei den Hymnen des Romanos GADOR-WHYTE 2020. 27 GIANNOULI 2013, 87.
10.2 Lose Enden und offene Fragen
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ganz anderen kulturellen Einflüssen getragene poetische Tradition, die Sebastian Brock sogar als „the strong point par excellence of early Syriac tradition“28 identifiziert. Darunter ist selbstverständlich auch Poesie, die auf Bußpraktiken oder sonstige spirituelle und asketische Praktiken verweist. 29 Es gibt sogar Hinweise darauf, dass gerade diese Dichtung – z.B. in Form der sogenannten Leib-Seele-Dialoge – auch die westliche Tradition beeinflusste.30 Den kulturellen und theologischen Zusammenhang solcher Phänomene, aber auch deren grundlegende Unterschiede, Verschiebungen und Transformationen über zeitliche, räumliche und kulturelle Grenzen hinweg in der Zusammenschau zu erkunden, verspricht einen vertieften Zugang zu all den kulturellen und religiösen Bereichen, in deren Schnittfeld diese neue, spezifisch christliche Art der Dichtung liegt – und in dem auch die bescheidenen nugae des Eugenius liegen, auch wenn man es ihnen nicht immer anmerkt und sie sich manchmal (bewusst?) daraus zurückziehen: Im Schnittfeld der kulturellen Praxis des Schreibens, Lesens und Hörens von Poesie, des theologischen Denkens innerhalb eines christlichen Weltbildes und des spirituellen Denkens, Empfindens und Handelns von Menschen, die sich innerhalb dieses Weltbildes selbst betrachten und sich zu Gott verhalten können und sollen.
28
BROCK 1995–1996, 53. Vgl. für die rituelle Klage bei syrischen Autoren HUNT 2004 und 2015. WICKES 2018 argumentiert dafür, „small literary-ascetic communities“ (a.a.O., 48) als Adressatenkreis der madraժ še Ephraims, des syrischen Dichters par excellence, zu betrachten. 30 Vgl. für die altenglischen Leib-Seele-Dialoge als mögliche Rezeptionsgeschichte der Dichtung Ephraims STEVENSON 1998 und TORABI 2020. 29
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1
Die Edition von Castro Sánchez ersetzt die ehemals maßgebliche Edition von BLUME, C., Hymnodia Gotica. Die Mozarabischen Hymnen des altspanischen Ritus (AH 27), Leipzig 1897 [repr. 1961]. Statt der gängigen Angabe der Hymnen über ihre Position in der AH
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Stellenregister Altes Testament Genesis 3,10–11 3,19 3,21 15,5 18,14 22,17 27,46 2 Könige 4,16
61 313–314, 327, 395 61 220 69 220 264
Sprichwörter 12,13 18,19 20,30
316 93 361
Kohelet 2,17
264
Weisheit 2,1
264
Jesus Sirach 1,2 7,40
216, 219 239–240
Jesaja 9,1–2
323
Jeremia 33,22
220
Ezechiel 18,5–8
339
Daniel 3,36 6,26
220 328
Hosea 9,4
248
Sacharja 14,12
326
Oratio Manasse 4
328
69
Tobit 4,17
339
Ijob 4,14 4,17–18 10,1 10,15 14,2 25,6 33,21
328–329, 331, 464 464 264–265, 312 405 205–206, 391 327, 337, 395 326
Psalmen 1,4 (iuxt. hebr.) 5,8 6,6 6,7 21,7 33,3 39,4 41,4 43,25 (iuxt. hebr.) 89,13 95,1 102,14 (iuxt. hebr.)
313–314 335 362 294 337 293 293 248 313–314 249 293 314
522
Stellenregister
Neues Testament Matthäusevangelium 5,21–22 340 9,2–7 269 10,14 313–314 19,12 346 25,40 252 Markusevangelium 16,8 328 Lukasevangelium 7,38 18,1
294 314
Johannesevangelium 3,15 340 Römerbrief 8,19–23
401–402
1. Korintherbrief 9,20–22 9,24–27
365 386
Galaterbrief 3,28
60–61
1. Timotheusbrief 6,12
386
2. Timotheusbrief 3,1
237
Hebräerbrief 11,12 12,6
220 262, 312
1. Johannesbrief 3,15
340
Offenbarung des Johannes 3,19 405 4,4 332–334 4,10 332 20,6 394 20,14 394
Antike und mittelalterliche Autoren Alkuin von York Carmina 61
176–177
Ambrosius von Mailand De Abraham 2,9,66 Apologia Dauid 4,15
De Iacob et uita beata 1,3,10 338–339 2,9,37 350 Explanatio psalmorum XII 36,51,1 8 47,8,2 391
460 De obitu Valentiani 10 374 365
De Helia et ieiunio 22,85 374 De excessu fratris 1,74 417 2,124 264
De paenitentia 2,3
67
De Tobia 23,88
8
523
Antike und mittelalterliche Autoren Analecta Hymnica 51,114a 51,116
316 316
Anthologia Latina
Contra Faustum Manichaeum 22,84 68 Contra Iulianum opus imperfectum 6,14 322
Arnobius der Jüngere
De ciuitate Dei 12,1 12,2 13,1 13,3 13,10 13,14 14,7 18,18 19,27 20,16 21,3 22,17 22,21 22,24 22,30
Commentarii in psalmos 139,93–94 218
De diuersis quaestionibus 58,2 239
Augustinus
De doctrina christiana 1,14,13 272 2,38,57 202, 214
10,2 71,10–17 78–188 159,4
185 415 470 306
Apringius von Beja In Apocalypsin 1,2,18 2,4,4
331 332
Apuleius Apologia siue pro se de magia 11 30
Confessiones 1,1,2 1,1,6–7 2,3,24–26 4,5,10 4,6,11 4,6,22 4,8,13 4,9,14 5,3,3 5,9,16 7,19,13 8,6,15 8,11,11–17 10,28,7–9 10,31,45 11,15,48–52
209 203, 209 400 417–418 418 48 246 246 220 264 214 334 218 146 314 202
Contra duas epistulas Pelagianorum 2,10,23 345
400 201 392 392 392 351 64 28 460 402 397 60 249 62 61
Enarrationes in psalmos 37,13 443 49,22 146 57,19 387 72,1 127, 283–284 96,10 328 Epistulae 18,2 73,3 93,30 95,11 98,6 140,6 140,22 140,31 155,2 171A,2 199,34–35
201 331–332 220–221 222 234 397 203 203 204 155 239
524
Stellenregister
Expositio quarumdam propositionum ex epistula ad Romanos 45 402
De trinitate 14,17,23 10,12,19
De Genesi contra Manichaeos 1,16,26 197
De utilitate credendi 4,10 147–148
De Genesi ad litteram 5,22 217 6,24 152 8,10 151–152, 202 11,32 395
De uera religione 12,24 38,70
De immortalitate animae 5,7 397 De libero arbitrio 1,16,116 204, 400 2,6,55 204 2,10,115 228 De magistro 10,32
218 390
149, 387 387
Ps.-Augustinus De sobrietate et castitate 1,1 215 1,5 215 1,7 215 Ausonius Ad patrem de suscepto filio 23 295 32 236
222
De peccatorum meritis 2,34,56 67 In epistulam Iohannis 4,3 248, 452 In Iohannis evangelium 1,15 197 49,19 234 Retractationes 1,22,59–62 2,6,32
204–205 21–22
Sermones 25D,4 38,5 242,3 277,11 301 306
338 207 292 326 313 394
Speculum 38
61
Commemoratio Professorum Burdigalensium 21,2–3 292 26,9 292 Ephemeris 1,21–24 1,22–24 1,24 3,31 3,43 3,54–55 3,58 3,72–76 3,72
279 192, 368 288 145 145 150 145 150 145
Epigrammata 80,7–8
183–184
Epistulae 3,10 14a–b 15,37–38 23,20 24,102
3, 106 216 185 181 292
525
Antike und mittelalterliche Autoren Parentalia 11,11–12 21,6
321 292
Praefationes uariae 4,7 3, 106–107, 470–471 Avitus von Vienne Carmina 1,42 6 prol. 6,379–408
211 112 159
Boethius De consolatione Philosophiae 1,1,1 310 1,1,8 417 1,1,9 295 1 m. 1,1–4 295 1 m. 1,9 320 2,2,1–6 221
26,13–15 26,17 26,18–20 26,24–27 27,6–8 27,7–8 28 35,154–158 36,18
49 49 49–50 49 50 46 48–49 86 238
Epistula ad Frunimianum I I,3 75, 310 Hymnus de s. Aemiliano 3,4 247 5,1 247–248 5,5 253 7,1–2 309–310 11,1–2 219 Renotatio librorum Domini Isidori 31–32 429 48–49 123
Braulio von Saragossa Epistularium IV 3,51–52 4 7 10,3–6 10,31–34 10,40–43 14,39 15,6 16 16,3 17,26–27 17,32–34 18,11–17 21,30 21,37 24,1 24,2 25,3 25,20–21 25,29–31 25,31–34 26,6–8
47 70 91, 123 169 414 237 169 48 236 49 92 48 331 331 409 410 64 69 47–48 48 48 49 49
Vita s. Aemiliani 6 15–24 35–38
162 162 162
Caesarius von Arles Sermones 74,3 151,4
335 315
Carmen ad Flavium Felicem 180–184
333–334
Carmina Latina Epigraphica 509,2 1968 2075,1
292 165 292
Cassiodor Expositio psalmorum 5,183–186 335 29,56–58 321–322
526
Stellenregister
34,479 118,1095–1099
335 336
Institutiones 1,32,4
315
Ps.-Cato Disticha Catonis 2,3
322
106 3, 106 369 297 111 292 368–369
Celsus De medicina 2,1 3,12
19
84–87
Commodianus Instructiones 1,26,3–4 1,26,3 1,35,16
315 243 322
Concilia Hispanica
Catull Carmina 1,1 1,4 1,6–7 3,13–14 49–116 65,12 85,1
Chronica anni 754/Chronica Muzarabica
375 375
Cicero Cato maior de senectute 352 6,15 350 De natura deorum 2,5,15 222 Epistulae ad Atticum 2,24,4 264 Epistulae ad familiares 7,32,2 28 Chindasuinth Epistula ad Braulionem 6–8 49 13–15 49 17 49 18–20 49–50 24–27 49
Concilia Toletana I, c. 2 II, c. 1 IV, c. 24 IV, c. 13 IV, c. 25–26 IV, c. 52 VII, c. 1 VIII VIII, c. 2 IX XI XII, c. 6
424 57–58, 123 57–58 128 123 450 51, 182 41 47 41 59–60 62
Concilium Barcinonense I, c. 6–9 424 Concilium Bracarense I, c. 12 128 Concilium Gerundense I, c. 9 426 Corippus Iohannis seu de bellis Libycis praef. 2 292–293 praef. 16 292–293 praef. 40 292–293 1,267 292–293 1,342–343 294 4,250 292–293 Cyprian von Karthago De opere et eleemosynis 26 333, 386
527
Antike und mittelalterliche Autoren De mortalitate 25 26
Vitas sanctorum patrum Emeretensium 235–236 246
222 220 220 371 345
Dracontius
17–18 23–25 24 25 29–32
304 298 317–319 297 298
Eucherius von Lyon Formulae spiritalis intelligentiae 4 93–94
Laudes Dei 1,118–129 1,122 1,124 1,337 1,398
107–108, 323 323 323 327 211
Romulea 2,132–133 9,103 10,22 10,547
294 317 299 299
Satisfactio 3–4 7 19–20 55–56 81–86 82 87–88 100 107 119 131 223–224
224 223 223 224 195 330–331 224 343 344 345 317 371
Ennodius Carmina 1,1,1–24 1,1,13 1,9,40 2,9,13
250
Epitaphion Antoninae
Cyprianus Gallus Heptateuchos Gen 98–100 Gen 512 Ex 1191 Ex 1278 Num 303
2,27
194 194–195 315 211
Eugenius von Toledo Libellus carminum praef. 126, 132–135, 143, 233–234, 279, 475 praef. 1–10 143 praef. 2 414, 466 praef. 3 143 praef. 4 457 praef. 5 143 praef. 7 144 praef. 8–10 208 praef. 8 143 praef. 11–16 126 praef. 11 3, 106 praef. 12 190 praef. 13–18 144 praef. 16 146 1 37–39, 126–130, 132–135, 141, 144– 145, 147, 151–153, 155–156, 160, 186, 208–209, 233–234, 254–255, 261, 332, 364, 385, 387–388, 398, 400–401, 410– 411, 442, 464, 472 1,1–3 145 1,1 126, 132–133, 144, 186 1,2 240 1,4–6 132 1,4 247, 250 1,5–8 147
528 1,6 1,7 1,8 1,9–12 1,9 1,10 1,13 1,15 1,16 1,17–18
1,17 1,18 1,19–22 1,19 1,21 1,22 2
2,1–2 2,1 2,3–4 2,3 2,4 2,7 2,11–12 2,13–14 2,14 3
3,1–7 3,1 3,2–6 3,2–3 3,4–6 3,4 3,6
Stellenregister 254 254 254 147 65–66, 147 261 254 254 132, 254 148, 181, 248, 362, 387, 407, 442, 449– 450 145, 251, 330 449–450 148, 385 132, 400 145, 155 266–267, 332, 340 7–8, 58, 124–125, 134–135, 142, 151– 153, 155–156, 173– 174, 205–206, 233– 234, 279, 322, 379– 380, 388–389, 392, 395 153 388–389 153 243 206 339 173–174 153 412 7–8, 11, 40, 212, 125, 134–135, 151– 154, 160, 191, 200– 230, 294–295, 317, 320–321, 378–380, 388–390, 398, 463 216–217 207–208, 210–212, 398–399 207–208, 210, 214, 216–217 214, 228 207, 214, 228 154, 160 215
3,7 3,8–9 3,8 3,10 4
4,1–2 4,5–12 4,5 4,7 4,11 5
5,1–3 5,1 5,2 5,3 5,4–6 5,4 5,5–6 5,6 5,7–9 5,7
5,8–9 5,8 5,10–18 5,10 5,11–12 5,11
207–208, 210–213, 216 216 208 227 7, 107–108, 125, 134–135, 142, 144, 151, 154–155, 160, 181, 183, 233–234, 279, 323, 389, 393– 394, 397–398, 447, 461 154 154 394 251, 369, 393 447 7, 11, 40, 58, 129, 134–135, 140–142, 146, 148, 151, 155– 158, 164–165, 195, 199, 208–209, 230– 256, 269, 273, 293– 294, 313, 316, 340– 341, 364, 379–380, 388–389, 392, 395, 401, 403, 407, 411, 416, 419, 433, 442– 445, 449, 451, 454– 456, 458, 465 233 166, 232 232, 380, 415 442–443 235 235, 316, 462 323, 236 403 156, 240 65–66, 146, 162, 232, 251, 293–294, 442, 449 241, 315 232–233, 320 242 153, 161, 242, 316, 321, 400 244 313, 401, 444, 446
Antike und mittelalterliche Autoren 5,13 5,16–18 5,16–17 5,16 5,18 5,19–21 5,19 5,20 5,21 5,22–27 5,23 5,24 5,27 5,28–30 5,28–29 5,28 5,30 5b
5b,3 5b,29 5b,31–33 5b,32 5b,33 5b,34–36 5b,34 5b,36 5b,37–39 5b,38 5b,42 5b,44–45 5b,45 5b,49–51 5b,49 5b,50 5b,51 5b,53 6
6,2 6,3 6,4 6,7
242, 244 245 394 242 394 232, 247 147, 247, 252, 362 248 248, 452 249 248, 449, 451 249 245, 393, 407, 447 251, 361 449 232, 243, 442, 451 232 23–24, 34, 126–131, 134–135, 142, 155– 156, 183, 238, 251, 293–294, 397, 399, 416, 443, 449, 451, 454, 458 442 303 157 153 399 397–398 241, 317 157 157 288 157 397–398 157 129, 449 442 251–252 454 249–250, 399 124–125, 134–135, 148, 158, 215, 233– 234, 307, 322, 324– 325, 338, 368, 396 124, 158 158, 375 215 158
6,9 6,13 6,15–16 6,16 7
7,2 7,4 7,7 7,9–10 8
8,1–2 8,27–40 9
9,5 9,10 9,13–14 9,21–22 9,22 10
10,7–10 10,11–12 10,11 10,22 11
11,5 11,9–10 11,11 11,12 11,15 11,17–20 11,19–20 11,20 12 12,1 13
529 158, 324 65, 158 158 325 124–125, 134–135, 148, 158–159, 307, 322, 338, 396–397 159 159 159 159 36–37, 46; 115–116, 121–122, 135, 159, 279–280 159 160 46, 58, 115–116, 134–135, 138, 161, 279–280 153, 161, 400 161 138 162, 192, 460 266–267, 340 46, 115–116, 134– 135, 138, 161, 175, 233–234, 279 161–162 67, 161–162, 340 266–267 67 115–116, 134–135, 138, 161–162, 279, 364, 418 65 419 65–66, 162 162 418–419 163 138, 166, 172, 459 266–267 115–116, 134–135, 161, 279 161 7, 26, 37–38, 58, 69, 103–104, 129, 134– 135, 140–141, 149, 151–152, 159, 163,
530
13,1–8 13,1–4 13,1 13,2 13,3 13,4 13,5–8 13,6 13,7 13,8–10 13,8 13,9–10 13,9 13,10 14
14,1–6 14,1–4 14,1 14,2 14,3–4 14,3 14,4 14,5–6
Stellenregister 197, 208, 256–274, 279, 293, 304, 307, 311, 368, 373–380, 389, 396–397, 404, 407–408, 411, 413, 419, 445, 456–457, 461, 464–465 259 259–260 195, 259, 261, 375, 411 65–66, 162, 258, 375, 396, 461 261 261, 375 259, 263 260, 262 263 264 264, 321 259, 266, 396 268, 340 260, 264, 270, 312, 404, 457 4, 6–7, 11, 24, 34, 37, 39–40, 76, 103– 104, 127–129, 134– 135, 140–142, 148, 151–152, 158, 163– 167, 173, 196, 208– 209, 216, 228, 234– 236, 238, 241, 243, 248, 252–254, 257– 259, 266, 268–271, 274–365, 367–368, 373–381, 388–389, 394–397, 401, 411– 413, 417, 419, 433, 442–446, 451, 453, 455–457, 462–465, 472, 477 282, 291 295 280, 287 159, 258, 287 280–281 235 159, 349 259, 282, 296
14,5 14,6 14,7–36 14,7–11 14,7–8 14,7 14,8 14,9 14,10 14,11 14,12–26 14,12–16 14,12 14,13 14,14 14,15 14,16 14,17–26 14,17–18 14,17 14,18 14,19–20 14,19 14,20–21 14,20 14,21 14,22–23 14,22 14,23–25 14,23 14,24 14,25 14,26 14,27 14,27–36 14,27–29 14,27–28 14,28–29 14,28 14,29 14,30 14,31–32 14,31 14,32–34 14,32 14,33–34 14,35–36 14,35
280 159, 373 282, 317 297 284 259 284, 297 297 297, 360 297, 374 299 300 301 65, 236, 301, 323 301, 324 65, 302 180, 312, 375, 417 304 304–305 305–306 306 304–305 306 305 158, 306 158, 195, 306, 375 305 306 375 195, 306, 319 306 306, 375 284, 417 270, 302, 312 282, 309 270–271, 285, 309 341 444 401 401, 446 401 362, 451 359–360 316 153, 243, 285, 321, 400 245, 401 241, 244, 316 238
Antike und mittelalterliche Autoren 14,36 14,37–50 14,37–42 14,37–39 14,37 14,38 14,40 14,41–42 14,42 14,43–50 14,43 14,44–50 14,44 14,45 14,47–48 14,49 14,50 14,51–70 14,51–52 14,51 14,52 14,53–60 14,53 14,54 14,55–56 14,55 14,57 14,58 14,59–60 14,59 14,60 14,61–70 14,61–66 14,61–63 14,61–62 14,62 14,63 14,64 14,65 14,66 14,67–70 14,69 14,70 14,71–80 14,71–76 14,71–72 14,71 14,72–73 14,73
280, 319 282, 290 318 284 280, 282, 290 295, 349 319–320 284, 394 236 324 324–325 343 158 158 325 195–196, 375 167, 395 282, 290 7, 282, 327 290, 327, 331 285, 329, 360 282, 330 331 328 332 386 331, 334 329, 334, 446 337 327, 395 329–331 337 282 215–216 339 252 215 327 267 24–25, 339 282 341 341 281–282, 290, 342 285 282 327, 329 342 362
14,75–78 14,75 14,76 14,77 14,78 14,79 14,80 14b
14b,1–4 14b,2–3 14b,2 14b,3 14b,5–8 14b,7 14b,8 14b,9–16 14b,9 14b,10–12 14b,10 14b,11–12 14b,13 14b,14 14b,15 14b,17–20 14b,17 14b,19–20 14b,19 14b,20 15
15,3–4 15,3 16
531 344 342 234, 343, 399 251, 342, 345 343 153, 321–322, 342 146, 240, 261, 280– 281 7, 11, 34, 37–38, 40, 103–104, 134, 140– 142, 151–152, 163– 164, 178–179, 192, 208–209, 233–234, 257–259, 269, 273, 277–279, 281, 293, 320, 358, 366–381, 388–389, 407, 411– 413, 416, 456, 465 368 379 412–413, 415 412–413, 416, 444 371 259, 374 320 373 65, 259, 373, 376 377 374, 377 132, 374–375 195, 375 65–66, 373, 375 375 377 377 3, 379, 413 407 258, 407 7, 134–135, 140– 142, 151–152, 164, 208–209, 301, 355– 356, 381, 389 301 261 24, 115–116, 131, 134–135, 140–142, 146, 151–152, 165, 208–209, 240, 247, 364
532 16,3 16,7–8 17
17,2 17,4 17,5–8 17,9 18
18,1 18,2 18,3 18,6 19
19,1 19,2 19,3 19,4 20 (Vollmer) 21
21,1 21,2 21,4 21,7 21,10 21,14 21,15 21,17–18 21,23 21,28 22
Stellenregister 344 165 115–117, 131, 134– 135, 140–141, 151– 152, 165–166, 192, 234, 279, 339, 367, 388, 411, 451, 453, 455–456, 459 166, 173 117, 165 166, 173 166 115–116, 131, 134– 135, 140–142, 151– 152, 165–167, 208– 209, 233–234, 279, 410–411 166 165 327 222 6–7, 115–116, 131, 134–135, 139–141, 151–152, 165–167, 208–209, 233–234, 279, 364, 388, 410– 411, 446, 451 166 165, 394 268 146, 240, 261, 279 34, 115–116, 131, 134, 238 46, 115–116, 131, 134–135, 168, 208– 209, 233–234, 279, 364 303 393 168 292–293 168 261 187 52 52 169 46, 115–116, 118, 131, 134–135, 139,
22,1–4 22,1–2 22,4 22,5–8 22,9–10 22,13–14 22,15–16 22,27 23
23,2 24
24,11–12 25
25,1–8 25,1 25,2 25,5 25,8 25,9–10 25,11–16 25,11 25,23–24 25,25–26 26
26,8 26,10 27 27,3–4 27,9–10 28
28,8
168–170, 233–234, 237, 280 280 410 294 410 410 169 168 169 46, 115–118, 131, 134–135, 168–169, 233–234 169 115–116, 131, 134– 135, 168, 208–209, 279, 364 280 9, 26, 31–32, 38–40, 50, 96, 98, 115–116, 131, 134–135, 163, 168, 170–172, 233– 234, 339, 365, 411, 432, 444, 452–453, 459 172 459 459 442 345, 451 171 173 215 173 174 37–38, 115–116, 131, 134–135, 168, 170, 173, 212 170, 247 170 115–116, 131, 134– 135, 174, 233–234 174 174 115–116, 131, 134– 135, 174, 233–234, 279 175
Antike und mittelalterliche Autoren 29 29,5 30 31 32
32,3 32,4 33
33,1–4 33,1 33,2 33,5 33,19–20 34 35
35,1–6 35,1 35,2 35,3 35,4 35,5 35,6 35,7 35,8 35,10 35,11–12 35,12 35,13–14 35,15–18 35,17 36
115–116, 131, 134– 135, 139, 174 175 36, 134–135, 138, 151, 175, 257, 420 36, 134–135, 151, 175, 209, 257, 420 36, 134–135, 151, 175–176, 178, 233– 234, 257, 420, 465 178, 421 421 36, 58, 123–124, 134–135, 151, 175, 177–179, 233–234, 257, 403, 420 177 420 132, 190 179 179, 403 134–135, 138, 175, 179–180, 209, 403 V, 37, 134–135, 139, 147, 179–180, 182, 191, 208–209, 233– 234, 279, 292–294, 380, 398, 411, 413– 414, 416, 419, 442– 443, 457 180 180, 414 180, 235, 414 414 415 414 304, 348, 417 181 292 181, 246 181 398 181 181 182 134–135, 139, 179– 180, 182–183, 209, 238, 279, 398, 407– 408, 419, 442, 447
36,3 36,4 36,5–6 36,7 36,9–10 36,12 37
38 38,3 39
40 41 41,12 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 52,2 53
53,1–2 54 54,1
533 408 183, 398 182 183 183 182 108–109, 115, 121– 124, 134–135, 183, 189 58, 121–124, 134– 135, 183, 189 196–197 37, 58, 121–124, 134–135, 183, 189, 233 37, 58, 121–124, 134–135, 183, 189 37, 58, 121–124, 134–135, 183, 189 124, 183–184 37, 58, 121–123, 134–135, 183–184 58, 134, 121–123, 135 122–123, 134–135, 138, 184 123, 134–135, 138, 184 122–123, 134–135, 138, 184 122–123, 134–135, 138, 184 123, 134–135, 138, 184 121–123, 134–135, 138, 184 123, 134–135, 138, 184 123, 134–135, 184 122–123, 134–135, 175, 184 65–66, 461 121–122, 123, 134– 135, 184, 189, 324– 325 121 121–122, 134–135, 139, 184 193–194
534 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 69,1 69,3 69,5–6 70
70,1–2 70,6 70,9–10 71 72 73 74 74,1 75
76
76,1 76,3 76,6 76,9–12
Stellenregister 134–135, 184 134–135, 184 134–135, 184 58, 134–135, 184 122–123, 134–135, 184 123, 134–135, 184 123, 134–135, 184 123, 134–135, 184 134–135, 184 134–135, 184 115–116, 134–135, 184 115–116, 134–135, 184 115–116, 134–135, 184 115–116, 134–135, 184 115–116, 134–135, 184, 187 184 184 184 58, 134–135, 138, 184–185, 233–234, 469 185 185 185–186 121–122, 134–135, 138–139, 184 134–135, 138–139, 184 134–135, 138–139, 184 134–135, 138–139, 184, 186, 233–234 186 6, 115–116, 120, 134–135, 138–139, 184 127–129, 131–135, 138, 186, 233–234, 279, 472 132 186–187 132 187
76,10 76,11–12 76,12 77
77,2 77,4 77,6 78
79 80 81 82 83 84 85 85,2 86 86,2 87 88 88,1 88,2 89 89,5 90 91 92 93 94 95 96
132 132 133, 144–145 115–116, 132, 134– 135, 139, 187, 198, 233–234 132 132, 198 198 115–116, 132, 134– 135, 139, 187–188, 198, 209 58, 115–116, 132, 134–135, 187, 189 131, 134–135, 188– 189 131, 134–135, 188– 189 131, 134–135, 188– 189 131, 134–135, 188– 189 131, 134–135, 188– 189 131, 134–135, 188– 189 189 134–135, 188–189 132 134–135, 188–189 58, 121, 134–135, 188–189 121 121, 132 134–135, 188–189, 233 233 125, 134–135, 189 125, 134–135, 189 125, 16, 134–135, 189 125, 132, 134–135, 189 125, 134–135, 189 125, 134–135, 189, 394 131, 134–135, 139, 189
Antike und mittelalterliche Autoren 97 97,1–4 97,7–8 97,9–12 97,13–18 97,20 97,23–24 98 99 100 101
101,1–4 101,3 101,4 101,5–12 101,5 101,6 101,9 101,11–12 101,13–16 101,14 101,17–24 101,25–28 101,25 101,26 101,27
134–135, 139–140, 189–190, 279 190 190 190–191 191 191 192 134–135, 139, 189– 190 134–135, 139, 189– 190 134–135, 139, 189– 190, 209 6, 7, 37–38, 103– 104, 129, 134–135, 139, 189, 192–195, 208–209, 224, 229, 234, 279, 293–294, 367, 380, 389, 396, 402–403, 411, 419, 465–466, 468, 472 192–193 279, 296, 367–368 380, 411 193 194 194 194 194 193, 195 375 193, 196 197 132 65–66, 162–163 149
Dracontii librorum recognitio. Praefatio 94 8 267 10 293 13–15 79, 108 15 24 17–18 79 20–25 79 25 107
535
Dracontii librorum recognitio. De laudibus Dei 1–12 107–108, 323 5 323 7 323 221–222 327 282 211 Dracontii librorum recognitio. Satisfactio 3–4 224 5 223 19–20 223 47 267 49–50 224 75–80 195 76 330–331 81–82 224 93 267 94 343 101 344 102 267 109 345 111 317 133–135 427 191–192 371 Epistula ad Braulionem 1 63 3–5 64, 457 18–19 68, 163, 267, 460 31 64 35–37 65 36–37 457 Epistula ad Chindasuinthum 3–4 78 5 78 7–8 79 8–11 78, 106 14–16 108–109 14 78 17 78 35–37 64 Epistula ad Protasium 2 66 6–8 66 14–16 66
536 19–27 21–22 22–25 24–25 25–30 25–27 25–26 42–43
Stellenregister 67 267 65, 311, 414 241 66 75 69 70
Monosticha recapitulationis septem dierum 19–21 393 22–24 403 27 393 34–35 77 35 24 Fragmenta 2 3
60 53, 60
Euripides Helena 185
287
Iphigenia in Tauris 144–147 287 1091 287 Troades 119
287
Fructuosus von Braga Epistula ad Braulionem 18 238 Regula monachorum 338 188 Gaudentius von Brescia Tractatus 13,21
338
Gregor der Große Dialogi 2 3,33 3,34 3,34,2 3,37,22 4,45
354 441 436–439, 441, 445– 446 335–336 241 341
Epistulae 5,44 9,228 11,20
176 84, 92–93, 307 266, 406
Homiliae in Euangelia praef. 84 1,3,4 386 1,12,6 239 2,35,7 333, 386
Felix von Toledo Vita Iuliani 2–3 7 9
57 322 101, 113–114
Fredegar Chronicarum libri IV 4,82 50, 98, 426 Fronto Laudes fumi et pulueris 2 119–120
Homiliae in Ezechielem prophetam 2,10 265 2,10,24 265 2,1,17 321–322 2,4,17 460 2,9,22 459 Epistula ad Leandrum 82 1 313, 438 5 55–56, 69, 262, 311– 312, 405, 446 13–20 45
537
Antike und mittelalterliche Autoren Moralia in Iob praef. 5,12 praef. 6,13 3,22 4,13,24 4,19 4,28,54 4,34,68 5,32,56 5,37,67 5,38,68 6,25,42 6,35,54 7,5,5 9,41,64–42,65 9,50,76 11,50,67 11,50,68 12,5,6 13,30,34 14,56–72 18,50,82 19,21,33 23,21,40 23,21,41 24,6 26,44,80 30,3,12–13 33,23,43 Regula pastoralis 3,4 3,12
405–406 221 446 338 358 392 392 328 464 206 15–16 15–16, 365 452 265 67 205–206 152, 206, 214, 391 314 438 61–62 218 14 361, 438, 447 312–313, 357, 437 439 207 360 438
256–266 9, 405
Gregor von Nazianz Carmina 2,1,39,54–57
347
Carmina 1,3,8 1,4 1,4,13–14 3,1,2–4
48 317 241, 317 293
Epistulae 2,18,70
324
Sermones 1,1,7–8
217
Hieronymus Adversus Iovinianum 2,8 315 Dialogus adversus Pelagianos 1,17 222 Contra Iohannem Hierosolymitanum 4 143 Epistulae 3,3 7,2 18A,1 53,10 119,12
48 373 146 107 69
Commentarii in Ezechielem 6,18 339 Comentarii in prophetas minores. Abacuc 1,1,13–14 217 Comentarii in prophetas minores. Ioel 2,22 197
Homer Ilias 9,385
220
Commentarii in prophetas minores. Sophonias 2 237
Horaz De arte poetica 333
Commentarii in prophetas minores. Osee 2,9.3.4 248
80 Commentarii in Esaiam 14,52,2–3 313–314
538 17,63,3
Stellenregister 69
Commentarioli in psalmos 145,2 217 Tractatus in psalmos 89,9–10 373 Prologus in Victorini Episcopi Petavionensis Opera 69 Hymnodia Hispanica 17,9–11 37,29–30 74,17–20 75,9–12 87,14 87,21 87,25 87,31–32 87,51–52 115,4 127 161,16 189,4–5 200–202 204 205–206
249–250 333 188 188 247 247–248 253 309–310 219 344 76 250 249 128 195 156
Inscripciones cristianas de la España Romana y Visigoda (ICERV) 314 534
116 116
Inscriptiones Hispaniae Sacrae (IHC) 29
424
De uirginitate Sanctae Mariae 1481–1485 326 De uiris illustribus 1,3–4 1,6–11 5,72–73 6,95–97 7,115 7,122–124 8,129–132 8,135–136 8,135 10,159–161 10,160–162 12,184–185 13 13,195–199 13,195 13,206–208 13,212–213 app. 7–8
43, 54 44 56 45–46 56 43 53–54 73 254–255 56 74 56 44–45 52 166 95 77 53–54, 56
Isidor von Sevilla Carmina/Versus 2 4,1 4,7–8 11,1 11,6 13
58 226 339–340 226 222–223 83
Chronica 418
239
Differentiae 1,225 1,408 2,18,76
183–184 260 372
Ildefons von Toledo De cognitione baptismi 123 450 De itinere deserti 6,54 13 36
210 323 450
De ecclesiasticis officiis 1,6,2 288 1,15 266–267 2,8,4 332 2,18 266–267 2,25 450 2,25,2–3 148 2,25,3 248, 362
539
Antike und mittelalterliche Autoren Epistulae ad Braulionem B,9–10 98 B,9–11 47 B,11–13 68 B,12–13 69 B,14 69 Mysticorum expositiones sacramentorum seu quaestiones in uetus Testamentum in gen. 29,3 68 in Jos. 9,3 340 De natura rerum 15,3
263
Etymologiae siue origines 1,17,4 288 1,29,20 113 1,39,7 367–368 1,39,14 260, 280, 287 1,39,17 127 1,39,20 101–102 1,39,21 113 1,39,22 101–102, 113 2,21,4 299 2,28,2 93–94 4,5,7 263–264 4,6,8 289 4,6,9 302–303 4,7,14 302–303 4,8,10 306 4,9,6 263–264 6,2,23 367–368 6,19,17 127 6,19,71 448 7,1,19 201 7,6,5 260–261 8,7,11 139 10,228 215 11,1,18–24 324–325 11,1,41 450 11,2,6 372 11,2,8 372 11,2,30 372 12,1,40 184 12,1,61 184 12,2,28 184 12,4–8 196 12,5,18 337
12,7,37 12,7,77 14,3,2 20,2,37
123–124 372–373 263–264 263–264
Regula monachorum 7 303 9 338 13 188, 198, 450 Sententiae 1,1,1 1,10,3 1,11,9–10 1,11,10 1,12,2b 1,12,6a 1,12,6a–7 2,8,4 2,10,5 2,12 2,12,1–4 2,12,1 2,12,2 2,12,4 2,12,5–6 2,12,6 2,12,7 2,13 2,13,1–2 2,13,1 2,13,2 2,13,6 2,13,7 2,13,10 2,13,18 2,14 2,16,4a 2,16,4b 2,18,1 2,25,5 2,39,24–25 2,41,2 3,1,1b 3,1,3 3,1,13 3,3,2 3,3,8
390, 399–400 391 201 152 389–390 202, 390 201 336 313 357, 439 270, 439, 444 359 358, 362 312–313, 358, 437– 438 428–429 313 440–441 439 452 248 363 448 247, 255 363 440, 446 440 255 146, 260, 364, 456 460 198 164, 301 40 364 448 250–251 269, 404 272
540
Stellenregister
3,6 3,6,1 3,6,14 3,7,1 3,7,5 3,7,7–10 3,7,12 3,7,17 3,7,24 3,22,5 3,28,5a 3,28,5b 3,32,11 3,49,1 3,55,3 3,60,6 3,62,7–9 12,5
188 198 198 362 314 314 419–420 419–420 420 263–264 246 246 260 365, 427 68 252 352 361, 447
Synonyma 1,3 1,4 1,44 1,53 1,56 1,59
431, 448, 456 456 455–456 363 248 455–456
De uiris illustribus 17 331 23 311 Johannes Cassian Collationes 1,15 3,7 9,26 9,27 9,28 9,30 13,13 20,7 20,8 23,4
219 331 435 435 435–436, 459 441–442 218 248 428 331
Julian von Toledo De comprobatione sextae aetatis 1,17,36 338 3,3,3 239
3,10,34
239
Elogium Ildefonsi 3–4 19–20 23 33–34 35–37
57 47 102 102 101
Ars grammatica 1,2,32 2,1,4 2,20,28 2,22 2,23 2,23,5 20,48 22,29
58 58, 124 124 131–132 137 131–132 367–368 260, 287
Versus ad Modoenum 3,1 296 Prognosticon futuri saeculi 1,2 391–392 1,3 392 1,8 351 1,14–16 236 1,15 236, 246 2,18 341 2,21 341 3,4 328–329, 332 3,12 332 3,17 59, 70, 73 3,24 60, 70 3,26 53, 60, 62 3,32 394 3,40 250 3,46 402 Historia Wambae regis 21 267 Juvenal Saturae 6,172 10 10,191 10,193
345 301, 306, 348 301 306
541
Antike und mittelalterliche Autoren 10,198 10,199 10,199–202 10,200 10,203–204 10,204–206 10,215 10,218 10,219 10,227 10,228–233 11,135
306 306 302 306 306 301 301 306 301 301 302 143
Lukrez De rerum natura 3,495 3,830–1094 5,1221 6,657
Marius Claudius Victorius Alethia 2,98 2,187
Juvencus
Martial
Evangeliorum libri quattuor praef. 1–3 222–223 praef. 24 330 2,62 330 2,721–722 176 2,786 234 4,32 315
Epigrammata 1,110 3,58 4,10,4 4,84,4 6,64,1 7,34,7 7,68,2 10,18,4 13,71,2
Laktanz Epitome Diuinarum institutionum 54,4 335 Diuinae institutiones 2,9,10 263–264 3,17,14 330 4,16,2 315 6,2,15 28 6,20,12 374 Liber Ordinum IIII XXIIII XXV XXX XXXII
344–345 249, 328 408 425 128
Liber Sacramentorum XXXIIII
344
Lukan De bello civili/Pharsalia 2,166 326
374–375 349 294 374–375
317 220
119 118–119 3, 106 3, 106 3, 106 143 345 3, 106 324
Maximian Elegiae 1,1–2 = 1–2 1,2 = 2 1,4 = 4 1,9–44 = 9–44 1,119 = 119 1,135 = 135 1,143–144 = 143–144 1,154 = 154 1,195–208 = 195–208 1,195–200 = 195–200 1,195 = 195 1,207–208 = 207–208 1,216 = 216 1,226 = 226 1,245 = 245 1,246 = 246
295, 349 371 180, 304, 319–320, 348 302 301 306 355 306 302 355 306 356 306 306 306 301
542 1,257 = 257 1,261 = 261 2,21 = 313 2,25 = 317 2,39 = 331 5,1–6,10 = 521–686
Stellenregister 301 292 301 306 307 301
Orationale Visigothicum 1153–1159
76
Orientius Commonitorium 1,13
313
Ovid Amores 1,1–4 2,2,44
296 324
Ars amatoria 1,59 2,130 2,670
220 321 292
Epistulae Heroidum 7,197 299 21,48 241, 317 25,176 335 Ex Ponto libri quattuor 1,9,31 264 2,11,9 = 3,5,9 294 3,4,7–8 191 Fasti 3,549
299
Metamorphoses 1,656–657 2,308 2,361–362 4,215–216 6,412–674 7,580 9,174–175 9,214
303 194 345 374–375 178 220 326 328
10,506 11,419
415 294
Tristia 1,5a,23–24 1,5b 1,5b,2–3 1,5b,3 1,5b,3–4 4,1,55–56 4,10 4,10,1 4,10,107 5,1 5,1,25–26 5,1,27–28 5,1,29 5,1,31–33 5,1,49–50 5,1,59 5,1,63–66 5,2a,23–27
181 226 220 268 225–226 225 27 226 225 380 369, 380 380 268 225–226 378 378 379, 417 225
Paterius Liber testimoniorum 89 Paulinus von Nola Carmina (Hartel) 6,281 10,13–18 11,6 11,47–48 17,278 18 18,11 18,145–148 21 21,56–59 21,100–104 21,269–270 21,344–346 23 23,27–32 27,105 27,221
345–346 281, 296 345 191 247 333 335 333 283 281, 296 281, 296 283 283 177 177 215 220
543
Antike und mittelalterliche Autoren Epistulae 18,2 33,2
245 65
Natalicia 6 6,11 6,145–148 7 7,27–32 9,105 9,221 13 13,56–59 13,100–104 13,269–270 13,344–346
333 335 333 177 177 215 220 283 281, 296 281, 296 283 283
Ad Nicetam 278
247
Paulinus von Petricordia
Paulini Nolani et Ausonii Oratio maior 31 145 43 145 54–55 150 58 145 72 145 72–76 150 Paulini Nolani et Ausonii Oratio minor 1–3 145 15–16 147 18–19 150 Vltimarum prima, secunda, tertia 1,13–18 281, 296 2,6 345 2,47–48 191 Ps.-Paulinus von Nola Carmina. Appendix 3,46 211
De uita Martini 1,1 2,713–714 4,274 5,39 5,462–463 6,356–357
330 375 294 303 176 235
Persius Saturae 1,31 1,33 5,91
126 143 143
Petron Satyricon 129,1
370
Plinius der Jüngere Epistulae 4,14,4–6 4,14,8–9
29–30 110
Proba Cento 496 612
176 211
Prosper Tiro von Aquitanien Liber epigrammatum praef. 1–2 124–125 22 210 87 125 89,5–6 460 91,2 234 91,3 234 100,5 369 (Ps.-)Prosper Tiro von Aquitanien
Paulinus von Pella Carmina 16
De prouidentia Dei 591 324 388
544
Stellenregister
Prudentius Apotheosis 1,1 100
154, 461 328
Cathemerinon 3,205 4,81 5,106 6 7 7,21–25 7,141–142 9,96
221–222 343–344 344 187 289–290 289–290 294 249–250
Contra Symmachum 2,875–876 211 2,908–909 322 Epilogus 21–28 34
475 133
Hamartigenia 149 293 318 375–384 375–377 913 937 953–954 965–966
297 371 324 244 243, 315 330–331 345 346 346
Peristephanon 2,153 2,205–232 2,574 10
10,56–60 10,347 10,456–457 10,478–479 10,480 10,481–483 10,484–485
326 290 107 105, 228, 288–290, 305–306, 317–318, 348, 386, 463 228 306 289 289 307, 316–317 305 289
10,487 10,488 10,494 10,494–495 10,522 10,530 10,541–545 10,545 10,1096 10,1113 11,194 14
306 306 306 289 309 313 386 309 317 288 295 105
Psychomachia 270
371
Quintilian Institutio oratoria 9,3,54–55 299 Quiricus von Barcelona Epistula ad Ildefonsum I I 89 Rodrigo Xímenez de Rada Historia de rebus Hispaniae siue historia Gothica 2,20 83, 86 Sedulius Carmen paschale 1,100–103 2,260 2,281–284 3,189–191 5,50–54 5,277
221 344 243, 315 154 325 377
Opus paschale 2,7 2,10 5,10
334 234–235 249–250
Seneca der Ältere Controuersiae 6,8
29
545
Antike und mittelalterliche Autoren Seneca der Jüngere Dialogi 9,11,9 11,1,4
217 409
Epistulae morales ad Lucilium 5,8 389 47,18 335 Servius In Vergilii Georgica Commentarius prooem. 27 Vita Vergilii 79 Sidonius Apollinaris Carmina 4,1
185
Epistula carmini 22 adnexa 6 112 Epistulae 2,10,3–4 7,17 8,11,7
115 118 119
Silius Italicus Punica 2,548 15,806
297 299
Ps.-Sisbert von Toledo Exhortatio paenitendi 47–48 450 171–172 432, 448 Lamentum paenitentiae 431–432, 455
371 374 235
Taio von Saragossa Epigramma operis subsequentis 94 Epistula ad Eugenium 1–3 83 5–7 92 8–9 92 10–25 93 27–31 93 31–38 93 71–72 83 75–77 83 87–88 90 107–110 89 109 90 110–112 89–90 114–117 91 125–130 94 127–128 67–68 Epistula ad Quiricum 157, 238 2 91 17 88 Sententiae 1,1 1,25 1,31 2,24 5,23
218, 390 205–206 221 265 406
Taio von Saragossa (Dubium) Excerpta Gregorii 87, 89–90 Tertullian
Statius Siluae 1,2,254
Thebais 6,298 10,317 11,475
334
Adversus Marcionem 4,18 67
546 De spectaculis 30,2
Stellenregister
238
9,7,10 10,6,1 10,10,26
192, 368 330 330
(Ps.-)Tertullian Carmen aduersus Marcionem 3,254 220 5,227 374 Tiberian Carmina 2
Carmina. Appendix 1,167 325 Vita Martini 1,1 1,14–25 4,192–193
330 474 194–195
283–284 Verecundus von Junca
Tibull/(Ps.-)Tibull
Saturarum Menippearum fragmenta 398 102
Carmen de satisfactione paenitentiae 1–2 148 5 248–249 20 253 31 250 36–37 250 47 261 74 234 102 249
Venantius Fortunatus
Vergil
Carmina 2,9,19 3,9,46 4,10 4,10,1 4,17,1–2 4,24,1–4 5,3,3 6,3,17 6,4,27–28 6,5 6,5,1–12 6,5,2 6,5,3 6,5,7 6,5,9 6,5,203 6,5,249–250 3,5,317 7,8 8,4,27 9,2,9 9,4 9,7
Aeneis 1,259–260 1,259 5,269 6,699 9,176–449 10,501 11,180 12,150
Carmina 1,6,82 4,13
268 324
Varro
126 177 241–242 241–242, 315 241–242 241–242 292 293 242 210–212, 317, 463 211 212 212 212 212 294–295 297–298 317 194 242 318–319 212 368
221–222 220 334 294 181 211 321 176
Bucolica siue Eclogae 1,1 185 Georgica 4,511–515
178
Victor von Cartenna De paenitentia liber unus 2 218–219 Zeno von Verona Tractatus 1,27
217–218
Autorenregister Alberto, Paulo 4–7, 32–34, 36, 71, 127, 130–134, 141, 170, 182, 193–194, 210, 226, 257, 277–278, 280, 293, 295, 301, 306, 319, 357, 367, 471, 474 Austin, John L. 18, 21 Barwick, Karl 119–120 Beil, Ulrich 22 Bernt, Günter 36, 134, 139 Brock, Sebastian 478–479 Brown, Peter 260, 351, 422, 476 Brucker, Ralph 127 Brunhölzl, Franz 26, 35, 38 Bynum, Caroline W. 395 Citroni, Mario 109 Clay, Diskin 28 Clements, Niki Kasumi 22–23 Codoñer Merino, Carmen 5–6, 26, 35, 37, 45, 53, 56, 74, 147, 151, 212, 224–225, 261, 263, 268, 270–271, 273 Consolino, Francesca Ela 286 Crislip, Andrew 55, 404 Cubeddu, Paola 36–37 de Guibert, Joseph 14 de Jong, Mayke 424 de Lorenzana, Francisco 32 Díaz y Díaz, Manuel C. 74–76, 298 Dolveck, Franz 103, 145, 283, 333, 490 Edmunds, Lowell 11–12 Eich, Peter 436 Esders, Stefan 72–73
Fear, Andrew 8–9, 25–26, 39, 51, 65– 66, 269–271, 348–349, 357–358, 365, 412, 432–433 Ferreiro, Alberto 73 Fontaine, Jaques 430 Fuhrer, Therese 105 Fuhrmann, Manfred 30 Galán Sánchez, Juan Pedro 43 García Moreno, Luis A. 86 Giannouli, Antonia 478 Gnilka, Christian 350, 352, 354, 373 Grig, Lucy 333 Hack, Armin T. 234 Hainthaler, Theresia 72 Handley, Mark A. 118 Harich-Schwarzbauer, Henriette 103 Harvey, Susan A. 14 Hays, Gregory 33, 474 Hausherr, Irénée 434 Heikkinen, Seppo 137, 233 Heil, Andreas 354 Henriksén, Christer 471 Hitzer, Bettina 17 Holzberg, Niklas 257 Howell, Peter 109 Huizinga, Johan 17 Hunt, Hannah 433 Iranzo Abellán, Salvador 35–36 Kampers, Gerd 4, 171 Kienzler, Klaus 209–210 Kisiü, Rade 392 Korenjak, Martin 31 Kotzé, Annemaré 27 Kreutzer, Caroline 350, 354
548 Lausberg, Marion 114, 120 Le Goff, Jacques 470 Ludwig, Walther 105 Madoz, José 72, 73, 85–86 Martin, Céline 51–52 Martin, Dale B. 14 Mastrangelo, Marc 11, 104, 474–475 Mayer, Roland 28–29 Mindt, Nina 111 Miró Vinaixa, Mònica 116 Mondin, Luca 36, 108, 470 Meyvaert, Paul 84 Nagy, Piroska 434, 442, 451 Norberg, Dag 35 Norden, Eduard 145, 283–284
Autorenregister Sandquist Öberg, Christina 295, 320, 371 Scarry, Elaine 415 Scheer, Monique 18–19 Schlimbach, Fedor 170 Schmidt, Joachim 416 Schneider, Wolfgang 348 Schnell, Rüdiger 15 Schramm, Michael 209–210 Smolak, Kurt 6, 24–25, 38, 140–142, 176, 257–258, 263, 268–269, 271, 279, 283, 291, 293, 297, 317, 339, 377, 404, 413, 453 Stella, Francesco 36 Straw, Carole 436 Szövérffy, Josef 26 Tizzoni, Mark Lewis 37–38
O’Donnell, James J. 209–210 O’Hogan, Cillian 11–12, 474 Pabst, Stefan 467–468 Palmer, James T. 240 Parkin, Tim 355 Paxton, Frederick 408 Peiper, Rudolf 32 Pelttari, Aaron 461–462 Perales, Jorge 425 Pérez de Urbel, Justo 76, 250, 298 Pollmann, Karla 104 Raby, Frederic 4–5, 8–9, 34 Ratkowitsch, Christine 342 Rebillard, Éric 351 Rebillard, Suzanne A. 478 Reddy, William 18–19 Rees, Roger 11–12 Riou, Yves-François 32 Roberts, Michael 177 Rosenwein, Barbara 19–20 Ruiz de Azagra, Miguel 32
Uhalde, Kevin 423–424 Ungvary, David 9, 26, 32, 39, 51, 97, 107, 171, 173, 365, 427, 432, 453 Urlacher-Becht, Céline 125 Valantasis, Richard 14 Varela Rodríguez, Joel 82, 84–85, 310 Vega, Ángel C. 73, 88–89 Vendrell Peñaranda, Manuela 33 Vollmer, Friedrich 32–34, 51, 130, 135, 141, 171, 210, 238, 278, 293 von Moos, Peter 308, 409 Wasyl, Anna Maria 299, 301, 342–343, 348 Wickes, Jeffrey 479 Wood, Jamie 43, 82, 87 Zizioulas, John 392 Zocca, Elena 238
Personen- und Sachregister Abraham 220, 225 Adam 8, 222 Aemilian, Hl. 75, 162, 219, 247, 309– 310, 418 aemulatio 107–108, 463 Aetherius 161 Affekt, siehe Emotion Agalí (Kloster) 41, 44, 48 Akrostichon 142 Alkuin von York 176–177 Almosen 157, 251–252, 254, 426–428 Alter 97, 140–142, 152, 158, 163–165, 195, 257–259, 292–318, 347–361, 371–373, 413, 463 Ambrosius von Mailand 8, 129, 288, 338–339, 350–351, 363, 417, 452 Anapäst 137 Apringius von Beja 331 Apuleius 28, 30 Armut 147–148, 385 Arnobius der Jüngere 218 Askese 13, 53–55, 354, 363, 400, 404, 423, 425, 428–432, 438–441 – siehe auch spirituelle Praxis Asturius 43–44 Auferstehung 59–63, 142, 167, 395–396, 446 Augustinus 21–22, 26–28, 48, 61, 83, 88, 149, 152, 202–205, 209, 213–214, 217–218, 220–222, 228–229, 234, 239, 246, 248, 292, 351, 363, 395, 397–400, 417–418, 429–430, 443, 452, 460 Ausonius 106–107, 112, 119, 130, 145, 185, 186, 368, 461, 470 Autobiographie 24–26, 31 Avitus von Vienne 112, 119 Basilika 45–46, 67, 161–165, 458–459
– Basilika-titulus 36, 46, 138, 140–141, 161–165, 175, 458–459, 471 Basilla 46, 118, 168–169, 237, 410–414 Bekenntnis, siehe Sündenbekenntnis Bescheidenheit, siehe humilitas Bett 184, 187–188, 198 Bibel 21, 36, 87–88, 160, 462–464, 473 – Bibel-titulus 46, 116, 140, 159–160 Biographie 10, 33, 41–51 – antiker Biographismus 26–30 – siehe auch Autobiographie Boethius 221, 295–296, 310, 320, 352 Braulio von Saragossa 41, 46–52, 63– 65, 68, 74–75, 86–88, 91, 95–98, 118, 122–123, 162, 168–169, 185, 237, 242, 247, 309–310, 409–410, 414, 429 Briefgedicht 189–190, 472 Bukolik 185, 194, 198 Buße 51, 67, 97–98, 142, 148–151, 156– 157, 161–164, 167–168, 230, 232, 242, 247–256, 361–365, 399, 422– 433, 436, 446–447, 452–454, 459– 460, 476–478 – Bußpoesie 9, 39, 430–432, 477–479 – Bußspiritualität 10, 107, 247–249, 351, 362–365, 422–433, 436 Caesarius von Arles 215 Cassiodor 123, 335–336 Catull 30, 106, 111, 297, 369, 469, 471 Chindasuinth 9–10, 38–39, 45–52, 63, 72, 78–80, 86–89, 96, 98, 106–109, 130, 156–157, 163, 168, 170–174, 339, 365, 411, 426–428, 431–432, 444, 452–453, 458 Christus 60–61, 73, 78, 133, 138, 165, 179, 180–182, 247–248, 251–253,
550
Personen- und Sachregister
268, 272, 329–334, 413–414, 442, 475 Cicero 28, 222, 350 Claudian 112 Commodianus 243 condicio humana 7–10, 61, 140, 151– 155, 217, 230, 337, 388–391, 403– 404, 409–412, 432, 444, 451 – siehe auch Klage über condicio humana conpunctio 9, 67, 148, 232, 265, 269– 271, 273, 303, 312–313, 335–336, 346, 353, 356–361, 364–365, 418– 420, 432–449, 452, 455–458, 465, 477–478 consolatio, siehe Trost Corippus 293 correctio 156, 164, 242, 247, 251–255, 428 Cyprian von Karthago 61, 235–238, 246–247, 332–333, 351, 386, 403, 462 Cyprianus Gallus 222, 286 Dämon 162, 176, 182, 188, 198, 398, 442, 466 David 427 Didaktik 124–125, 255–256, 268–271, 365, 432, 470, 476 – moralische Didaktik 124–125, 134, 151 – siehe auch Schule Diskurs 11, 51, 97–98, 145, 238, 260, 271–272, 303, 355–357, 405, 422– 423, 427–434, 442, 462–465, 474– 477 – siehe auch spiritueller Diskurs diversitas, siehe variatio Donatus 43 Dracontius 31, 38, 44–45, 51, 70–71, 77–81, 94, 98, 107–109, 115, 130, 151, 154, 195, 223–224, 227, 327, 331, 343, 349, 371, 399, 427, 461, 467 Elegie 27, 29, 104–105 elegisches Distichon 4, 105, 110–112, 128, 133, 135–137, 260, 278, 280, 287, 290–291
Emotion 15–16, 335–336, 359, 379, 381, 417–418, 441–446, 451, 477–478 – emotional community 19–20, 457–460 – emotional regime 19 – emotionaler Stil 20, 441, 457 – History of Emotions 16–20 – sozial konstruiert 17–20, 451 – als Praxis 18–19 Encratia, Hl. 46, 161 Ennodius 194, 286, 315 Enzyklopädie 470 Epigramm 3, 36, 101–105, 108–125, 175, 469–470 Epitaph 51, 101–102, 113–114, 116– 118, 168–175, 424, 471–472 – Auto-Epitaph 51, 98, 165–168, 172, 268, 455, 472 Erbsünde, siehe Ursünde Eschatologie 58–63, 71–73, 95–97, 237– 240, 328–333, 351, 395, 403, 411 Etymologie 113, 122, 138, 175 Eusychius 189–190 Eva 222 Evantius 168, 174–175 Fasten 14, 290, 428 Fegefeuer 351 Felix von Toledo 57, 101, 161 Fragilität, siehe Instabilität Freude 45, 60, 182, 303–304, 307, 315, 321–322, 342, 350, 397, 418, 435, 439, 447, 465, 476 – siehe auch gaudia mundi Freundschaft 37, 181, 245–246, 254, 398, 419, 461 Friede 144, 151, 154–155, 157, 160, 181–183, 186, 203, 369, 393–398, 408, 419, 447, 463 Froia 88, 129–131, 156–157, 182–183, 185, 238 Fronto 119–120 Fructuosus von Braga 188 Frunimianus 75, 310 Fürbitte 138, 163, 172, 192, 428, 459– 460 Furcht 16, 143, 261, 271, 327–330, 334– 342, 356, 359, 377–378, 397–398, 437–441, 444–446, 457
Personen- und Sachregister Gattung (poetische) 36, 104–105, 469– 470 Gaudentius von Brescia 338 gaudia mundi 153, 243, 253, 285, 291, 309, 315–316, 321–322, 358–359, 400–401 – siehe auch vanitas mundi Gebet 23–24, 67–68, 251, 314, 418–421, 428, 438, 451–454 – poetisches Gebet 23–24, 127–133, 141, 144–151, 166, 186–187, 193, 198, 249–250, 254, 266–268, 279– 281, 284–285, 342–346, 385, 465– 466, 469 Gecko 122, 193, 461 Gegenstände 113–114, 139, 184, Geleusuintha 210–211, 229, 294–295, 297, 317, 463 Gemeinschaft – der Heiligen 166, 170, 246–247, 331–332 – der Sündigen 172–173, 256, 458 Gennadius 42 Gericht 164, 176, 216, 314, 329–334, 343, 353, 357, 394, 444–445, 448, 452 Glaube 146, 159, 168, 190–191, 332, 350, 385, 419 Gnade 8, 142, 204–205, 345, 351, 363, 406, 440–441, 451 Gott 133, 144–145, 149–150, 154, 186, 201–207, 217–218, 221–223, 246, 249, 318, 328–329, 343–345, 390– 394, 401, 461, 463, 479 Gregor der Große 8–9, 14, 20, 43, 55– 56, 61, 69, 81–98, 201, 205–207, 213–214, 217–218, 221, 229, 239, 262, 265–266, 307, 310–313, 333– 336, 341, 346, 357–360, 386, 391– 392, 399, 403–407, 414, 418, 427– 431, 433, 436–441, 444, 452, 459 Gregor von Nazianz 352, 478 Gregor (Usurpator) 72 Gudila 57 Gunthamund 77, 223 Häresie 42 Heilung 154, 162, 266–272, 380, 399, 407–408
551
Helladius 43, 46, 54 Hendekasyllabus 111–112 Hexameter 128, 133, 135–137, 207 Hieronymus 42, 69, 143, 197, 222, 339, 352, 373, 429 Hilarius von Poitiers 129 Hippolyt, Hl. 66–67, 75, 267 Hoffnung 63, 141–142, 167, 232, 246– 249, 253, 268, 395, 446 Hölle 60, 165, 245, 249–250, 253 Homer 79–80 Horaz 48, 58, 110, 129, 317 humilitas 173, 453, 457, 446 – literarischer Topos 64, 68, 78–80, 92– 96, 107, 112–113, 126, 177, 190, 373 Hunger 194 Hymnus 23–24, 75, 102, 104, 113, 127– 130, 145, 156, 283–285, 288–291, 297–298, 315–318, 342, 454, 465– 466, 469, 478 Ildefons von Toledo 41–57, 62, 70–77, 95–98, 101, 166, 210, 364, 450, 466– 467 imago Dei 217, 390 Innovation, siehe Originalität Insekten 193, 198, 402, 466 Instabilität – der Welt 232, 235–236, 321, 377– 378, 380, 399–403, 411–412, 463– 464 – körperliche und seelisch-geistige 70, 95–96, 152–155, 206–208, 213, 227– 229, 321, 389–391, 451, 463–464 – körperliche 197, 201, 289–290, 307, 318, 324–327, 346, 359, 379–380, 391–396, 411, 464 – seelisch-geistige 160, 191, 200–210, 214–215, 396–399, 464–464 – siehe auch condicio humana – siehe auch senectus mundi Intertextualität 10–11, 37, 460–464, 475 inutilitas 65, 68–69 Ironie 126, 227 Isidor von Sevilla 34–35, 42, 47, 54, 58, 61–62, 68, 82, 84, 95–96, 98, 101– 102, 113–115, 118, 122–123, 131, 139, 152, 183–184, 198, 215, 226, 239–240, 246, 254–255, 263, 269–
552
Personen- und Sachregister
270, 303, 310–313, 325, 336–338, 340, 346–347, 351, 357–364, 367, 372, 390, 399–400, 404–405, 418, 428–432, 436, 439–441, 444, 447– 452, 455, 462, 465–467, 469–470 Jahreszeiten 139, 193–194 – siehe auch Sommer Jambus 35, 111–112, 129, 135–137, 278, 281, 287–291, 299 Jenseits 61, 140–142, 147, 168–169, 447 Johannes Cassian 22–23, 219, 428, 435– 436, 441, 450–451, 459 Johannes von Saragossa 46, 52, 138, 160, 168–169, 185, 465, 469 Judas 325–326 Julian von Toledo 53, 57–63, 71, 101, 113, 124, 127, 131–132, 226, 236, 239–240, 246, 250, 328, 332, 341, 351, 367, 391–392, 467 Juvenal 300–302, 306–307, 348–349 Juvencus 176, 222–223, 330 Klage 8, 142, 163–165, 172, 178–182, 190, 232–235, 268–269, 273–274, 280–281, 287, 292–296, 307–308, 370, 377–381, 410–421, 430–454, 458, 465–466, 477 – Klagegemeinschaft 416 – Sündenklage 253–256, 412, 431–432, 443–444, 455–459 – Totenklage 169, 213, 459, 463 – über condicio humana 3, 8–10, 15, 36, 134–135, 241, 253–256 Konstans II. 72 Kontemplation 230, 314, 439, 446–447 Konversion 67, 336, 418, 425, 438, 440 Konzil – Konstantinopel III 74 – Toledo IV 450 – Toledo VII 49, 73, 86, 96, 182 – Toledo VIII 41, 47 – Toledo IX 41 – Toledo XI 59–60, 62, 73 Körper 13–14, 19, 152, 155, 158–159, 162–163, 196, 215, 294, 307, 324– 327, 356, 395–396, 404 – in der Auferstehung 59–63, 95, 97, 395–396
– körperliche Schwäche des Eugenius 52–56, 64–65, 95–96, 456– 457 Kosmos, siehe Schöpfung Krankheit 55–56, 64–65, 69, 97, 140– 142, 147–152, 159, 162–165, 195, 256–274, 289, 293–294, 300–301, 305–307, 311–312, 348–349, 371– 376, 404–408, 413, 463, 466 Kranz 332–334, 385–388, 464 Krieg 174, 182 Krise 142, 156–157 Laktanz 335 languor 65–69, 147–148, 162–163, 241, 251, 261, 456 Laurentius, Hl. 75 Leander von Sevilla 43, 82, 84–85, 89, 262, 265, 307, 310–311, 405–406, 414, 446 Lebensbewältigung 149, 387 – siehe auch vitae stadium Leid 157, 180–181, 264–265, 369–370, 379, 401–408, 419, 443–444, 455– 457, 473 – körperliches 61, 193, 251, 261–262, 273, 289, 300–301, 304–307, 358, 374–375, 395–396, 411, 465 – seelisch-geistiges 245, 262–262, 268, 273, 358, 396, 411 Leocadia, Hl. 45 Licht 64, 151, 323 Liebe 334–336, 359, 440 – zu Gott 160, 265, 334–336, 359, 437, 440, 446 – zu Menschen 182, 191 – siehe auch Freundschaft Libellus carminum – als Gesamtkunstwerk 40, 102, 141, 470–472 – Rekonstruktion 31–32, 130–133 Liturgie 71, 74–76, 97, 128–129, 156, 458, 462, 467 Lucilius 185 Lukrez 125 Luxorius 119, 469–470 Martial 103, 106, 110–112, 115, 118– 119, 469, 471
Personen- und Sachregister Martin von Braga 322 Martin von Tours, Hl. 176 Märtyrer 44–46, 161–162, 228, 248, 288–289, 332–333, 400, 459 – 18 Märtyrer von Saragossa 46, 161 Martyrium 305–307, 309, 316–318, 332–333, 385–388, 428, 463–464 Maximian 37, 180, 292, 300–307, 319– 320, 324–325, 342–343, 347–357, 371, 394 Metapher 272–273, 338–339 Metrik 34, 111–112, 128, 233, 260, 278–281, 285, 367–368, 462 – quantitierend vs. rhythmisierend 35 – Polymetrie 104, 285–287, 296 Mineralien 122 miser/misellus 146, 165, 240, 260–261, 285 Mönchtum 45, 53, 166, 177, 404, 420, 424–425, 435, 466 Monotheletismus-Streit 72–74, 86 Montanus 44, 54 Moral 146–148, 159, 187 – siehe auch Didaktik, moralische mutabilitas, siehe Instabilität Mystik 13, 364, 440–441 – siehe auch Kontemplation Mythos 178, 181, 221–222, 378, 461, 473, 475 Nachtigall 36, 138, 141, 175–179, 403, 420–421, 466, 471, 475–476 Nachtwache 175–176, 188 Naturkatastrophe 194 Naturkunde/-phänomene 122–124, 139, 175, 184, 224 Neoteriker 106 Nicholaus 168, 170, 174–175, 186 Nisus und Euryalus 181, 461 nugae 3, 106–108, 110–113, 133, 144, 463, 466, 469, 476, 479 Nunnitus von Gerona 237, 414 Optatian 165 oratio, siehe Gebet, poetisches Originalität 5–6, 35–38, 125, 192, 199, 213, 225–226, 431–432, 468 Orpheus und Eurydike 178
553
Ovid 27–29, 58, 191, 216, 220, 225– 226, 292, 296, 335, 369, 378–379, 415–417 Paterius 85, 88–90 Paulinus von Nola 130, 145, 177, 191, 245, 247, 283, 333, 349, 461 Paulinus von Pella 130 Paulinus von Petricordia 176, 243 Performativität 12, 18–19, 451–454, 477–476 – strukturelle vs. funktionale 22–23 Persius 126 persona 27–31, 456 – persona des Dichters 7, 10–11, 27–31, 38, 139–140, 171–172, 442, 452–460, 473 – siehe auch Selbststilisierung Philomela und Prokne 178 Philosophie 13, 320, 350–353, 389–390, 473 Phönix 184 Plato 118 Plinius der Jüngere 30, 110–112 Poesie – christliche 104–105, 177, 217, 220– 225, 303, 343, 413–414, 461, 473– 476 – klassische 5, 33, 104–105, 220–225, 264, 303, 349, 461, 468, 473–473 poetae novelli 285–286 Poetologie 10, 12, 77–81, 143, 177, 258–259, 282–283, 296, 379–381, 414 Pointe 119–121, 183–184 Pomponia 169–170, 237, 242, 414 Predigt 25, 39, 422–423, 430 Proba 176 Prosa 264, 462, 474–475 Prosper von Aquitanien 124–125, 151, 210, 460, 469 Protasius von Tarragona 63–70, 75, 97, 191, 267, 311 Prudentius 105, 107, 115, 133, 187, 228, 243–244, 249, 288–290, 295, 297, 305–309, 316–318, 331, 345–349, 356–357, 386, 461, 463
554
Personen- und Sachregister
Quintilian 110 Quiricus von Barcelona 88–89, 91–92, 238 Quiricus von Toledo 57, 59–60, 62 Reccared 82 Reccesuinth 45, 156–157, 170, 173, 182–185, Recciberga 170, 247 Reliquien 161–162 Reue, siehe conpunctio Rezeption 12, 23, 454, 478–479 – des Eugenius 5, 33, 123–124, 201 – durch Eugenius 226, 461 Rodrigo Jiménez de Rada 83, 86 Ruhe, siehe Friede Sabbat 393 sapphische Strophe 35, 111, 135, 137, 166, 192–193, 278–281, 367–368 Saragossa 45–47, 49, 52, 86, 88, 157, 168–169 Schlaf 138, 176, 187–188, 195–198 Schlange 154, 176, 183, 193–196, 398 Schmerz 180–181, 293–294, 374–375, 397–398, 414–415, 433–434, 447 – siehe auch Leid Schönheit 60–61, 177–179, 297–300, 395–396 Schöpfung 77, 108, 122, 179, 195–199, 219–224, 229, 327, 402–403 Schule 183 – bischöfliche Schule 57–58, 159 Sedulius 221, 225, 325–326, 461 Seele 60, 64, 143–144, 149, 152, 165, 202–203, 307, 428–432 Segen 144 Selbststilisierung/self-fashioning 25–26, 31, 39, 96, 311, 455–457 Seneca 409 senectus mundi 237–240, 402–403 – siehe auch Instabilität der Welt Servius 27, 79–80 Sexualität 214–215, 301–302, 338, 355– 356 Sidonius Apollinaris 112, 115, 118–119, 286 Silius Italicus 297 Sisbert von Toledo 431
Sixtus, Hl. 75 Sommer 192–199, 224, 396, 465–466 Spiritualität 10, 13, 149, 160–161, 176– 177, 197–198, 265–266, 356, 358, 377, 420–423, 428–432, 452, 477– 478 – Spiritualisierung 120–121, 177, 198– 199, 323, 380–381, 407–408, 465– 466 – spirituelle Praxis 10–15, 40, 269, 308, 423, 433, 438, 476–479 – spiritueller Diskurs 9–12, 39, 149, 272, 400, 427, 464–465 – spiritueller Prozess 107, 164, 265, 273, 291, 318, 353, 357–360, 400, 436–441, 445, 455–456, 464–465 – siehe auch Askese – siehe auch Bußspiritualität – siehe auch conpunctio Sprechakt 23–24, 361–363, 451–454 – Sprechakt-Theorie 18–19, 21–24 Sprechhaltung 208–210, 243, 255, 263– 264, 302, 360–361, 368–369, 449, 451, 455–460 Sprichwort 139, 189 Sterblichkeit 151–152, 155, 229, 389– 396, 444 – siehe auch Instabilität, körperliche Sterne 216–217, 219–227, 229 Stiefmutter (Motiv) 298–299 Strafe, siehe Sündenstrafe Streit 179–183 Sünde 51, 61, 68, 97–98, 107, 146–150, 162–167, 171–174, 188–189, 195, 198, 204–205, 214–219, 229, 232– 235, 249, 266–273, 314, 326, 356, 388, 398–408, 422–423, 447, 455, 476–477 – Sündenbekenntnis 67, 247–248, 253– 255, 337–339, 363–364, 451–454 – Sündenfall 146, 152–153, 196–197, 203–207, 219–220, 391–395, 463 – Sündenstrafe 250–251, 271, 340– 341, 361, 404–408, 448 – Sündenvergebung 67, 266–270, 340, 453, 459–460 – siehe auch Ursünde
Personen- und Sachregister taedium 264–266, 270–271, 312–313, 321, 356–358, 396–397, 418, 440, 444–445 Taio von Saragossa 41, 67–68, 81–98, 201, 205, 217–218, 238, 265, 390, 427–429 Taufe 148, 210, 218, 428, 450 – Bluttaufe 148, 248, 362, 450 – siehe auch Tränentaufe Telestichon 142 Teudesuintha 161 Tiere 122, 124, 183–184, 196 Tmesis 185–186, 465, 469 Tod 140–142, 152–159, 163–175, 189, 195–196, 211–212, 217–218, 236– 242, 257–259, 297–299, 316–327, 343, 351, 353, 357, 391–396, 472 – siehe auch Instabilität, körperliche Toledo 43–44, 47–52, 62, 86 Topik/Topoi 38, 212–213, 225–226, 229, 468 Tränen 67, 148–151, 157, 181, 232–235, 247–255, 294, 314, 360–362, 413– 418, 428, 434–443, 449–451, 459 – Tränentaufe 148, 248, 362, 450 Trinitätstheologie 70–73, 97, 461, 467 Trochäus 135–137, 232, 235 Trost 168, 212, 241–245, 307–308, 409– 411, 417–419 Trunksucht 125, 148, 158–159, 214– 215, 338, 396 Tucca 79–80 Tugend 53–54, 147, 155, 169, 447, 451 Tulga 426 Ursünde 204, 223, 234, 351, 400, 404 vanitas mundi 153, 156, 160, 164, 173, 198, 242–247, 253, 269, 284–285,
555
309, 313–318, 321–322, 358–359, 362, 386, 400–401, 413, 437–440, 444–445, 464, 477 – siehe auch gaudia mundi – siehe auch Instabilität der Welt variatio 3–4, 102–103, 142, 286, 469– 472 varietas fortunae 211–213, 229 – siehe auch Instabilität der Welt Varius 79–80 Venantius Fortunatus 38, 116, 126, 130, 165, 177, 194, 207, 210–213, 225, 229, 241–243, 286, 292–298, 317, 330, 348, 368, 461–463, 474 Verecundus von Junca 250, 254, 261, 455, 461 Vergänglichkeit, siehe Instabilität Vergil 48, 58, 79–80, 178, 181, 474 Versöhnung 179–183 Viaticum 425 Vincentius, Hl. 46, 67, 161 vir illustris 42–44, 53–56, 456 vitae stadium 149–150, 385–388 Vögel 177, 179, 420 – siehe auch Nachtigall Völlerei 125, 148, 158–159, 338, 396 Wamba 363, 426 Wankelmütigkeit, siehe Instabilität, seelisch-geistige Wille, freier 204–205 Wurm 326–327, 331, 337 Zeit 202–203, 206–207, 216–220, 229, 236–237, 320–321 Zeno von Verona 217–218 Zorn 340 – Gottes 232, 253, 340