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German Pages [346] Year 1973
Jtl'RGEN SANDWEG
Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis
Historische Forschungen
Band 6
Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis Untersuchungen zur .Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789
Von
Jürgen Sandweg
DUNCKER UND HUMBLOT / BERLIN
Alle Remte vorbehalten
@ 1972 Dundter & Humblot, Berlin 41 Gedrudtt 1972 bei Bumdrudterei Fee.e & Smulz, Berlin 4\
Printed in Germany ISBN 3 428 02788 4
D 29
"Man muß sich also nicht dagegen erklären, wenn gesagt wird, daß die Revolution von der Philosophie ihre erste Anregung erhalten habe." Hegel, Philosophie der Geschichte.
"La maladresse de son gouvernement a precipite cette revolution; la philosophie en a dirige les principes, la force populaire a detruit les obstacles qui pouvaient arreter les mouvements."
Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain.
Vorwort Die vorgelegten Untersuchungen verdanken mancherlei Fragestellung und Einsicht der Reflexion und Diskussion der Studentenbewegung der Jahre 1967/69, und sie wollen ein solches, partiell sicher erkenntnisleitendes Interesse auch gar nicht verleugnen. Sie bilden einen in manchen Teilen skizzenhaften und insgesamt unsicheren Versuch, die historischen Zusammenhänge und die sozialen Bedingungen geistiger und politischer Emanzipation auf einem Gebiet darzustellen, das gut erforscht scheint, in Wahrheit aber noch intensiver Studien bedarf. Mitnichten eine captatio benevolentiae, weist die Feststellung der Unsicherheit auf zwei komplexe Probleme zurück, ein wissenschaftstheoretisches und ein wissenschaftspraktisches. Beide sollen hier aber nicht weiter thematisiert werden; in der gegenwärtigen Wissenschaftsorganisation der historischen Fächer sind sie sichtbar darin verknüpft, daß man in der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses wie im eigenen Verständnis wenig Wert auf die selbstkritische Beschäftigung mit dem legt, was man gemeinhin "Geschichtstheorie" nennt. In der Konsequenz dessen kann sich die vorliegende Arbeit den Vorwurf nicht ersparen, des öfteren bei aller Anstrengung nicht genügend methodenkritisch verfahren zu sein. Was die Behauptung der noch nicht ausreichenden wissenschaftlichen Durchdringung unseres Themas betrifft, so genügt es, auf die in der Einleitung näher erörterte Tatsache einer seit 30 Jahren ausstehenden Synthese der Forschung über ein so zentrales historisches Problem sowie auf zwei signifikante Einzelbeispiele zu verweisen: Es fehlt eine grundlegende und detaillierte Arbeit über die Rezeption der Naturrechtstheorie Lockes in Frankreich. Diese Untersuchung wäre nicht nur von großem Interesse, sondern unabdingbar nötig für ein tieferes Verständnis der Gesellschaftstheorien der französischen Aufklärung (die ihrerseits monographisch bisher nur das verdienstvolle, jedoch allzu summarische und einseitige Werk von W. P. Wolgin behandelt) und damit der gesamten europäischen Aufklärung. - Ein Desiderat der Forschung ist ferner eine umfassende und gründliche statistische Untersuchung der nach Tausenden zählenden politischen Broschüren der vorrevolutionären Zeit und besonders der des Jahres 1789 (September 1788Mai/Juni 1789), eine schwierige Untersuchung freilich schon insofern, als das Material dazu in den Sammlungen von Paris (Bibliotheque Nationale), London (British Museum), New York (Public Library) und
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Vorwort
mehreren amerikanischen Universitätsbibliotheken verstreut liegt. Ebenso wie die geschichtstheoretische "Absicherung" hätte die im Grunde notwendige Berücksichtigung dieser sozusagen mehr quantitativen Seite der vorliegenden Arbeit eine viel längere und intensivere Beschäftigung erfordert, als ich sie aus· persönlichen Gründen aufbringen konnte - einmal ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit, daß ein einzelner dieses Vorhaben unternimmt. Die Arbeit hat der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen - Nürnberg in leicht veränderter Form als Inauguraldissertation vorgelegen und wurde von ihr am 27. November 1970 angenommen. So wünschenswert, ja nötig es erschien, sie für den Druck in manchen Teilen zu überarbeiten bzw. zu ergänzen (etwa hinsichtlich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem leicht zu einem Mythos hochstilisierten Phänomen "der" Aufklärung), meine Tätigkeit als Studienreferendar bzw. Studienrat mit einem zusätzlichen Lehrauftrag für die Abhaltung eines Proseminars in Neuerer Geschichte hat mir dazu keine Zeit gelassen. Ich habe lediglich die bis Ende 1971 neu hinzugekommene Forschungsliteratur, die insgesamt nur kleinere Modifikationen nötig machte, eingearbeitet und mich im übrigen auf stilistische Verbesserungen beschränkt. Für mancherlei Anregung, Kritik und Hilfe danke ich Hans Medick, meinem ehemaligen Kollegen als Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität ErlangenNürnberg, sowie den Professoren Kurt Kluxen und Karl-Heinz Ruffmann. Zu Dank verpflichtet bin ich dem Universitätsbund der Universität Erlangen - Nürnberg, daß er den Druck der Arbeit durch einen außergewöhnlich hohen Zuschuß ermöglicht hat. Erlangen - Dechsendorf, Februar 1972
Inhaltsverzeichnis Abkürzungen ........................ . ..................... . ..........
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Einleitung ...................... . .....................................
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1. Amerikanische "Revolution" und französische Aufklärung
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1.1. Atlantische Kommunikation: Bills of rights - Declaration des droits .... . ............. . ....................................... 24 1.2. Die "amerikanische Partei": Lafayette, Brissot, Mirabeau und Condorcet . .......................... . ... . ... . ..... . .... . .. . ... 52 2. "Revolution" und "regeneration": Staatskrise und öffentliche Meinung 1788/89 ..................... . .......... . ...................... 82 2.1. Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit .......... . .... . ....
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2.2. Politische Publizistik 1788/89 ........ . ....... . ..... . ........... 107 2.3. Cahiers de doleances .......................................... 121 2.3.1. Die "Provinz" .... . ............ . ............... . .......... 122 2.3.2. Die Pariser Cahiers ....... . ............ . ...... . .......... 138 3. Die Grundsatzdebatte über die Rechteerklärung in der "Assemblee Nationale" . . . ". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.1. Die "Nationalversammlung" .......... . ......................... 3.1.1. Die NV als revolutionäre Institution ........... . .......... 3.1.2. Zusammensetzung der NV. Rolle der Advokaten .......... 3.1.3. Die parlamentarische Arbeitsweise der NV ................
157 157 162 169
3.2. Debatten und Erklärungsprojekte ... .. . . ... . ....... . ........... 176 3.2.1. 19. Juni bis 4. August .................................... 176 3.2.2. 12. bis 26. August .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 218 4. Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis
.... " ........... . .... 248
4.1. Die ME in ihrer endgültigen Form: Parlamentarischer Kompromiß mit revolutionärem Vorzeichen . .. .... . .................... 248 4.2. Naturrecht und Revolution .................................... 268
Anhang
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Literaturverzeichnis
305
Personenregister . . ... .. . . .. . . . ... . .... . . .. ...... .. ..... . .......... . ... 339
Abkürzungen AHRF
=
Annales historiques de la Revolution francaise
AP
Archives Parlementaires
B. N.
Bibliotheque Nationale (zusammen mit der jeweiligen Signatur Hinweis auf dort vorhandene Werke)
ME
"Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789. Ihre Artikel werden mit römischen Ziffern (Art. I-XVII) zitiert nach AP VIII, 463 ff., bzw. AP XXIX, 268 f. Siehe Anhang S. 302-304.
NV
Nationalversammlung / Assemblee Nationale.
Einleitung Gegenstand der vorliegenden historischen Untersuchungen ist die "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789. Die französische Menschenrechtserklärung unter verschiedenen Fragestellungen näher zu betrachten und die Geschichte ihrer Entstehung und ihrer Gedanken zu studieren, hat den Reiz und die Schwierigkeit, daß man immer wieder in größere politische und ideengeschichtliche Zusammenhänge geführt wird. Denn in besonderer Weise ist diese Proklamation natürlicher und unveräußerlicher Menschen- und Bürgerrechte ebenso mit der Geschichte der französischen Aufklärung wie mit der Geschichte des Ancien Regime und der Französischen Revolution verbunden. Sie ist in jener "great democratic revolution"1, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die "atlantische Zivilisation" umzugestalten beginnt, ein so zentrales, für den politischen Durchbruch des modernen Verfassungsdenkens und die dahinter sichtbare rationale Intensität des aufklärerisch-naturrechtlichen Gesellschaftsmodells signifikantes Moment, daß man Lafayettes wiewohl aus persönlicher Prätention geprägtes Wort von der "ere des declarations des droits"2 nur unterstreichen kann. Eine Synthese der zahlreichen und weit verstreuten rechts-, literaturund ideengeschichtlichen Forschungsbeiträge zu unserem Thema oder gar ein kritischer Neuansatz ist in den letzten 25 Jahren auch von französischen Historikern nicht mehr versucht worden. Das liegt einmal wohl am gegenwärtigen überwiegen des Interesses an sozial- und wirtschafts geschichtlichen Problemen in der RevolutionsForschung, wofür so bekannte Namen wie Lefebvre, Soboul, Cobb, Rude und Markov stehen mögen. - Demgegenüber wird die politische Ideengeschichte, sieht man von Godechot und Göhring, Cobban und Palmer ab, relativ stark vernachlässigt - vielleicht wegen der Schwäche ihrer theoretischen Erklärungsmodelle hinsichtlich der nachprüfbaren sozialen Bedingtheit und historischen Wirkung von Ideen und wegen des daraus resultierenden Fehlens brauchbarer neuer methodischer Ansätze. - Zum andern macht eine international neu sich regende Auseinandersetzung mit dem europäischen Phänomen der Aufklärung - hingewiesen sei nur auf die drei internationalen Kongresse
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Palmer, Reflections, S. 67. Lafayette, Memoires II, S. 303.
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Einleitung
in Genf (1963), Saint Andrews (1967) und Nancy (1971)3 - leider meist weit vor 1789 halt. Sie wendet sich aber zunehmend dem Gesellschaftsbezug der Aufklärung in Theorie und Praxis zu, d. h. etwa dem Aspekt der "Aufklärung" als eines auf die Veränderung der Gesellschaft und ihrer Normen gerichteten Gesamtprozesses vieler literarischer, philosophischer, pädagogischer, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher, technischer und politischer Bemühungen. Im Gegensatz zu der sehr aktiven Ostberliner Akademie-Gruppe um W. Krauss und W. Markov haben sich die westdeutschen Historiker im übrigen an dieser neuen Diskussion bisher kaum beteiligt, - ein Forscher wie J. Habermas bildet schon von seiner wissenschaftlichen Position und Intention her eine charakteristische Ausnahme. Sie scheinen hier immer noch in jener auch von Nietzsche konstatierten deutschen Tradition befangen, die sich gegen die Aufklärung als eine vermeintlich platt vernünftige generell skeptisch, ja feindlich verhält, in ihr - immer auf Deutschland fixiert! - bevorzugt ein literarisches übergangsstadium zur "Klassik" sieht und die republikanischen Ideen eines Forster, Knigge, Bürger, Rebmann, Wekhrlin, Campe entweder gar nicht zur Kenntnis genommen hat oder sie als ein vom Nationalbewußtsein und der Geschichtsschreibung zu Recht übergangenes Randphänomen der historischen Entwicklung betrachtet. Mit den alten, pauschalen Antworten versehen, bleiben bei diesem Stand der internationalen Forschung die Fragen nach den "geistigen" Ursachen der Französischen Revolution, nach dem Zusammenhang von Aufklärung und Revolution, oftmals unbeantwortet. Mit welcher politischen Intention und gegen welche Widerstände und Einwände wurde die "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" 1789 geschaffen? Welchen geistigen und politisch-sozialen Bedingungen verdankt sie überhaupt die Möglichkeit ihrer Entstehung und Wirkung? Die genaue Klärung dieser Fragen muß ihren angemessenen Teil zum Verständnis der Aufklärung ebenso wie der Französischen Revolution beitragen. Denn einerseits steht die "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" am Ende eines höfisch ausgeprägten Absolutismus, dessen tradiertem Anspruch souveräner Machtvollkommenheit die Kraft zu zentralen Verwaltungsreformen und einer effektiven Finanzwirtschaft fehlte und dem vor allem die Fähigkeit zum Ausgleich oder zur Integration von ständisch-feudalistischem Konservativismus und aufklärerisch-bürgerlicher Kritik mangelte. So endete die Epoche ständi3 Die "Transactions of the First and Second International Congress on the Enlightenment" hat Th. Bestermann herausgegeben, Genf 1963 u. 1967, 8 Bde. - Siehe auch die beiden ausgezeichneten "bibliographical essays" im Anhang der zwei Bände von P. Gay, The Enlightenment. An Interpretation. London 1967, New York 1969.
Einleitung
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scher Opposition und vergeblicher Reformversuche der Regierung, die man 1770-1788 ansetzen kann und die mit den Namen Maupeou, Terray, Turgot, Malesherbes, Calonne, Brienne und Necker hinreichend charakterisiert ist, in einer durch den Staatsbankrott beschleunigten Staatskrise. Gegenüber diesem Auflösungsprozeß des Ancien Regime stellt die ME gewissermaßen den Neueinsatz in einem schon lange andauernden "Aufklärungs"prozeß dar. Seine mit ihrem Beginn ebenfalls um 1770 anzusetzende Spätphase, der u. a. Männer wie d'Holbach, Turgot, Du Pont de Nemours, Condorcet, Raynal, Mazzei, La Rochefoucauld d'Enville, Morellet und Brissot zuzurechnen sind, bestimmte sich verstärkt von der Kategorie der durch eine freie Publizistik zu informierenden bürgerlichen Öffentlichkeit her; in den Menschenrechten setzte sie sich selbst die Legitimationsbasis und das Regulativ eines neuen gesellschaftlichen Handlungszusammenhanges, die kritische Norm privaten sozialen Handeins und politischer Herrschaft'. Mit der Positivierung der bislang nur theoretisch anerkannten "naturrechtlichen Gesamtverfassung"5 durch die "Assemblee Nationale" erwies sich die ME andererseits, mochte man sie zu Beginn auch noch als Element einer "regeneration" verstehen, als revolutionär konzipiert, , Die jüngst von R. Darnton (s. Past and Present Mai 1971, S. 81-115, sowie Da!dalus Winter 1971, S. 214-256) wieder aufgeworfene Frage nach dem tatsächlichen Publikum und damit letztlich nach der "politischen" Relevanz der Aufklärer - eine Frage, die auch den beiden von F. Furet mitherausgegebenden Bänden "Livre et socü~te dans la France du XVIIIe siikle" (Paris 1965 u. 1970) zugrundeliegt und eine gewisse Rolle spielt in der Kontroverse zwischen C. MazauTic und F. Furet um den Charakter der Französischen Revolution (für Mazauric s. AHRF 41 (1969), S. 681 ff., sowie Mazauric, Sur la Rev. fr. (1970), S. 21 ff. u. 101 ff.; für Furet s. Annales 21 (1971), S. 255-289) - , diese Frage also ist an sich wegen ihrer ideologiekritischen Tendenz von großem Interesse, berührt unsere Arbeit jedoch nur am Rande. Denn einmal haben die genannten Forscher mehr die "Hochaufklärung" eines Voltaire, Diderot usf. um 1750/60 im Auge, wenn sie vom esoterischen, staatsangepaßten Charakter der "hohen" Aufklärung sprechen, nicht aber die Spätphase 1770/89. Selbst wenn sich das schmale, aristokratisch-großbürgerliche Publikum in der "Spätaufklärung" nicht erweitert hätte (was der Fall war und zusammenging mit der Erweiterung des Kreises stärker politisch engagierter Schriftsteller und Journalisten), so ist zum andern eine wichtige Leserschicht der Aufklärungsliteratur mit Sicherheit konstant geblieben: jene bürgerlichen "hommes de loi", die zusammen mit einigen wenigen liberalen Adligen 1789 die politischen Weichen stellen! Zugegeben, daß sie sich, wie die "Lieferanten" ihrer reformerischen Ideen, möglicherweise auch wieder schweigend, bzw. einen "aufgeklärten Absolutismus" befürwortend, dem Staat angepaßt hätten. Aber 1788/89 eröffnete sich ihnen im Gefolge der aus ganz anderen Quellen (nämlich ständischer Obstruktionspolitik) gespeisten Staatskrise die einzigartige Möglichkeit, die geradezu einen Zwang darstellte, breitere Schichten des Bürgertums im Kampf um politische Rechte zu aktivieren. 5 Habermas, Theorie, S. 75.
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Einleitung
d. h. als praktische Emanzipation gegenüber der Arkanpraxis des Absolutismus und der historischen Begründung des privilegierten Feudalismus. Dabei war das in ihr sich aussprechende bürgerlich-revolutionäre Denken keineswegs nutzlose Metaphysik, wie konservative Gegner (und später manche Historiker) polemisierten, sondern auf die konkrete politische Praxis bezogen, insofern es die staatliche Garantie und institutionelle Absicherung der Menschen- und Bürgerrechte forderte und damit überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit vernünftigen politischen Handeins schuf. Wenngleich die ME im Verlauf der Französischen Revolution rasch zum Mythos des einen, gleichen und freien Frankreichs wurde, den man im Namen eines Pariser Stadtbezirks, in Wandbehängen, Rockabzeichen aus Porzellan und in den pseudosakralen Weihe akten von Revolutionsfeiern pflegte, so blieb sie doch im Sinne ihrer kritischen Konzeption ständig stimulierendes und zur überprüfung der Revolutionsziele herausforderndes "Vorbild", dem im Grunde auch die girondistische und jakobinische Modifikation in Richtung auf soziale Menschenrechte nichts von seiner Einzigartigkeit nehmen konnten. Daß man die ME in den späteren Phasen der Revolution verschieden interpretieren konnte, ja mußte, - wobei eine lediglich der Chronologie nach postrevolutionäre Gestalt wie Babeuf mit ihrem Versuch der Umwandlung der Menschenrechte in Rechte der Sansculotten nicht vergessen werden darf -, das lag zu einem Teil an den durch die Revolution freigesetzten Kräften des sich nun auch bewußtseinsmäßig entsprechend seiner jeweiligen ökonomischen Interessenlage differenzierenden Bürgertums, zum nicht geringen Teil aber auch an der ihren Ideen innewohnenden rationalaufklärerischen Dynamik. Daß die französische Aufklärung und die Französische Revolution in einem engen inneren Zusammenhang standen, war den Zeitgenossen noch eine fraglose Gewißheit, - dies belegen Dutzende von Zeugnissen, und seien es die Äußerungen konservativer Kritiker der Revolution, die, im Medium ihrer Erkenntnisweise, der Verschwörungstheorie, befangen, etwa erklären: "Ce qu'on appelle la Revolution etait trame depuis longtemps par les pretendus philosophes du siecle [... ] Les membres de la majorite de l'Assemblee [Nationale] n'en ont ete que les simples artisans 6 ." Oder die, wie der spanische Botschafter am Versailler Hof, der Graf Fernan Nufiez, ein kluger Beobachter und erbarmungsloser Kritiker der Schwächen der französischen Monarchie, zwar den revolutionären Geist als "esprit de la fausse philosophie"7 im Verdacht haben, aber doch dieser "Revolution, dejil preparee de longue o 7
Zit. n. Palmer, Composition sociale, S. 154 f. Zit. n. Mousset, S. 16.
Einleitung
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main par les lumieres de la philosophie et de l'illustration"8 zugestehen: "Il est vrai que cette grande Revolution merite d'etre appelee soit la Revolution de la peur et des fantörnes, soit la Revolution de la reflexion et de l'extreme prudenceu." In seinem grundlegenden Werk über die Philosophie der Aufklärung hat Cassirer diesen Zusammenhang von Aufklärung und Revolution am Beispiel der Idee der Menschen- und Bürgerrechte knapp herausgestellt: "Sie [die Lehre von den Menschen- und Bürgerrechten] bildet das geistige Zentrum, in dem sich all die mannigfachen Bestrebungen zu einer sittlichen Erneuerung und zu einer politischen und sozialen Reform begegnen, und in dem sie ihre ideelle Einheit finden 10." Mit dem Hinweis auf Condorcets "Esquisse" (9. Epoche), wo Condorcet das Ziel aller N atur- und Sozialwissenschaften, dem Menschen den vollen Genuß seiner Grundrechte zu ermöglichen, historisch erstmals in der Amerikanischen und dann in der Französischen Revolution verwirklicht sieht, verbindet Cassirer das Fazit: "In diesem Rückblick und in diesem abschließenden überblick über die geistige Gesamtbewegung der Aufklärungszeit zeigt sich noch einmal, wie sehr der Zusammenhang zwischen ,Theorie' und ,Praxis' den führenden Geistern der französischen Revolution bewußt gewesen und geblieben ist. Für sie trennen sich Denken und Tun nirgends; sie glauben, unmittelbar das eine in das andere übersetzen und das eine am andern bewähren zu können und zu müssenl l." Um dieses politische Denken, wie es 1789 in der ME fixiert wurde, angemessen verstehen und begreifen zu können, erweist sich eine genaue Untersuchung seiner differenzierten Entwicklung, Ausbreitung und Zielvorstellungen im jeweiligen historisch-sozialen Kontext als notwendig. Demgegenüber haben sich die meisten der zu unserem Thema vorliegenden Spezialarbeiten darauf beschränkt, mit dem tatsächlichen oder vermeintlichen Nachweis des "Einflusses" eines oder mehrerer Denker auf die ME zugleich deren geistige "Herkunft" und politischen Stellenwert zu begründen. Es ist aber zu bezweifeln, daß sich etwa "in dem Ruf nach Erklärung der Menschenrechte [...] wie in einem Naturlaut all das heiße Begehren [...], das Rousseaus Lehre in Frankreich geweckt" hatte, Luft machte, und daß "das neue Frankreich gewissermaßen sein Glaubensbekenntnis als Jünger Rousseaus" in der ME Mousset, S. 56 (Bericht an Floridablanca vom 20. Juli 1789). S. 65 (Bericht vom 16. August 1789). 10 Cassirer, S. 333. 11 Cassirer, S. 338 f.
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e Mousset,
2 Sandweg
Einleitung
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ablegtel!. Denn wenn überhaupt ein Beweis für derlei - freilich nicht immer ganz so pauschal geäußerte - Behauptungen ideengeschichtlicher Wirkung angetreten wurde, so griff man dabei oft nur einige Zentralgedanken isoliert aus dem Gesamtwerk eines Denkers heraus, etwa die Idee der "volonte generale" bei Rousseau oder der "separation des pouvoirs" bei Montesquieu, ließ konträre Vorstellungen bei den "Beeinflußten", - im Falle Rousseaus z. B. die Idee eines Repräsentativsystems 1789 -, außer Betracht und minimalisierte die Unschärfen oder Inkongruenzen im Gebrauch anscheinend bedeutungsgleicher Begriffe, anstatt solche Brechungen, Verschiebungen und "Mißverständnisse" als historisch gerade bedeutsam zu thematisieren. Abgesehen davon, daß solche "Erklärungen" zum Verständnis einer Bestimmten geistig-politischen Situation im Grunde wenig beitragen und speziell die Behauptung eines starken rousseauschen Einflusses auf die vor- und frührevolutionäre politische Publizistik auch mit herkömmlichen Mitteln widerlegt werden kann, wie die zwar in ihrem Untersuchungsmaterial eingeschränkte und methodisch nicht unproblematische, in einzelnen Ergebnissen aber hinreichend abgesicherte Arbeit von McDonald zeigt l3 , erscheint generell eine personenbezogene "tour d'horizon"-Geistesgeschichte in methodischer Hinsicht als ein höchst fragwürdiges Unterfangen. Jedenfalls für das Zeitalter eines durch bürgerliche Öffentlichkeit bestimmten aufklärerischen Kommunikationsprozesses ist gegenüber einer theoretischen Geschichtsauffassung, die sich in der Geistesgeschichte als Gratwanderung sublimiert und die sich wissenssoziologisch gesehen als konservativ erweist, eine neue "Sozialgeschichte" der Ideen erforderlich, die diesen gesellschaftsund ideenverändernden Kommunikationsprozeß berücksichtigt und damit eine differenzierte politische Bewußtseinsgeschichte ermöglicht, von der her Bedingung und Wirkung der in der ME proklamierten Ideen erst voll verständlich werden. Ein erster Teil unserer Untersuchungen gilt der nachweisbaren Auseinandersetzung der politischen Denker der französischen SpätaufkläOncken, S. 223. McDonald, Rousseau and the French Revolution 1762-1791. London 1965. Vgl. dazu die gründliche Rezension von R. A. Leigh im Historical Journal 12 (1969), S. 559-565. 12
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Zur Frage des Einflusses des Rousseauschen Werkes auf das vorrevolutionäre und revolutionäre Denken siehe ferner Mornet, Origines, S. 96, sowie die Aufsätze von D. WiHiams, The Influence of Rousseau on Political Opinion 1760-1795, L. Trenard, La diffusion du "Contrat Social" 1762-1832, und L. Sozzi, Interpretations de Rousseau pendant la Revolution. - Die Pariser Iur. Diss. von Hina Limann, Le Contrat social de J.-J. Rousseau et son influence sur les constitutions de 1791 et 1793 (1965 [Masch.]) war mir nicht zugänglich, doch stimmt schon ihr Titel skeptisch.
Einleitung
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rung mit dem Phänomen der amerikanischen "Revolution" und besonders mit den Rechteerklärungen, die damals verschiedenen amerikanischen Einzelstaatsverfassungen vorangestellt wurden. Ob und inwieweit die französische "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" des Jahres 1789 von den amerikanischen "bills of rights" der Jahre 1776-83 "essentiell" oder "substantiell" "beeinflußt" oder "abhängig" ist, war lange Zeit in der Forschungsliteratur heiß umstritten. Für den heutigen Historiker hat diese zum Teil nationalistisch gefärbte Auseinandersetzung, - sieht man einmal von ihrem Verdienst ab, überhaupt den Anstoß zu einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der ME von 1789 gegeben zu haben -, großenteils nur wegen der damals praktizierten Methoden noch ein wissenschaftstheoretisches Interesse. Denn das heikle und komplexe Problem geistesgeschichtlicher Zusammenhänge löste, etwas überspitzt gesagt, der StaatsrechtIer Jellinek14 mittels einer, Signifikanz vortäuschenden, Parallelisierung ausgewählter Textstellen, die u. a. die Entstehungsgeschichte dieser Texte weitgehend außer Acht ließ. Sein Antagonist Boutmy15 zusätzlich durch eine textimmanente Interpretation, die mit einem unreflektierten Vorverständnis Rousseaus unternommen worden war. Demgegenüber haben die das Problem der ME freilich meist nur streifenden Arbeiten von Fay, Chinard, Echeverria 16 und, in größerem Rahmen, von Godechot und Palmer 17 den auf einer überaus intensiven Kommunikation beruhenden, engen Zusammenhang des amerikanischen und französischen politischen Denkens in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgestellt. Hier die für unser Thema wichtigen und hochinteressanten Bezüge (auch biographischer Art) herauszuarbeiten, zu ergänzen und zu vertiefen, hat, soweit ich sehe, die Forschung bisher versäumt. Im Spiegel dieser geistigen Auseinandersetzung wird auch, ohne daß man sie gesondert mit einer künstlichen methodischen Trennung darstellen müßte, die französische Spät aufklärung in ihrem 14 G. JeHinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte. 1. Auf!. 1895; 31919. 15 E. Boutmy, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek. In: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte. Darmstadt 1964, S. 78-112. (Zuerst in: Annales de Sciences Politiques
17 (1902), S. 415-443). 16 B. Fay, L'esprit revolutionnaire en France et aux Etats-Unis a la fin du XVIIIe siecle. Paris 1925; G. Chinard, La Declaration des droits de l'homme et du citoyen et ses antecectents americains. Washington 1945; D. Echeverria,
Mirage in the West. A History of the French Image of American Society to 1815. Princeton 1957. 17 Siehe bes. J. Godechot, Les revolutions 1770-1799. Paris 1963 (unter dem Titel "France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Century, 17701799" New York 1965); R. R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. 2 Bde. Princeton 1959 u. 1964 (unter dem Titel ,,1789. Les revolutions de la liberte et de l'egalite" Paris 1968).
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Einleitung
spezifischen Gesellschaftsbezug sichtbar, der die amerikanische "Revolution" sofort auf ihren Begriff bringen half; in diesem Zusammenhang erst lassen sich auch die politischen Ideen eines Condorcet und Lafayette 1789 verstehen und tritt eine Gestalt wie Brissot erstmals in ihrer vorrevolutionären Bedeutung hervor. Eine zweite Untersuchung befaßt sich mit der politischen Publizistik der Jahre 1788/89 und den "Cahiers de doleances", soweit sie die verfassungsmäßige Anerkennung natürlicher Menschenrechte und die Aufstellung einer Rechteerklärung durch die Generalstände fordern. Die hierzu existierenden Forschungsarbeiten von Klövekorn, Rees und MarcaggP8 sind teilweise erheblich korrekturbedürftig, auch insofern, als sie entsprechend ihrem einseitigen, methodisch fragwürdigen Ansatz, einen amerikanischen, rousseauschen oder physiokratischen "Einfluß" auf die ME nachweisen zu wollen, ihre Belege auswählen und interpretieren. Alle lassen sie außerdem den jeweiligen politischen Kontext und den historisch-sozialen Gesamtzusammenhang weitgehend unberücksichtigt. Hier kam es, abgesehen von umfangreichen sachlichen Ergänzungen und Berichtigungen besonders für die Cahiers, darauf an, das Entstehen einer durch Presse und politische Klubs charakterisierten bürgerlichen Öffentlichkeit und einer informierten öffentlichen Meinung aus der Staatskrise des französischen Absolutismus und dem Einsatz der aufklärerischen Kritik heraus zu skizzieren. In diesem Zusammenhang wird auch die weitverbreitete und noch jüngst von einem ausgewiesenen Fachmann wie Gottschalk19 tradierte These, - auch sie im übrigen Produkt einer traditionellen, personal verstandenen Geistesgeschichte -, Lafayette sei als erster in Frankreich mit dem Entwurf einer Rechteerklärung hervorgetreten und habe damit den Anstoß zur Abfassung der ME gegeben -, quasi von selbst widerlegt. In einem dritten Teil wird die parlamentarische Auseinandersetzung in der revolutionären "Assemblee Nationale" über eine Menschenrechtserklärung analysiert, die gleich zu Beginn der Revolution grundlegende politische Gegensätze innerhalb des 3. Standes sichtbar werden ließ. 18 F. Klövekorn, Die Entstehung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Berlin 1911; W. Rees, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Beiträge zu ihrer Entstehungsgeschichte. Leipzig 1912; V. Marcaggi, Les origines de la Declaration des droits de l'homme de 1789. Paris 1904. 18 L. Gottschalk u. M. Maddox, Lafayette in the French Revolution through the October Days. Chicago 1969.
Einleitung
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Die einschlägigen Werke von Walch und Schickhardt20 stellen, sieht man von Mängeln und sachlichen Fehlern im Detail einmal ab, generell den parlamentarischen Charakter der Debatte über die ME und dementsprechend den politischen (Komprorniß) Charakter der ME zu wenig heraus. Dies wird schon an einer Einzelheit deutlich: Beide begnügen sich meist neben der Wiedergabe der Argumente eines Redners in der NV mit der bloßen Nennung seines Namens. Dabei machen sozialer Stand, Freundeskreis und sonstige politische Vorstellungen der jeweils das Wort ergreifenden oder einen Erklärungsentwurf vorlegenden Abgeordneten das Ganze der ME-Debatte nicht nur anschaulicher, sondern oft erst durchsichtig. Erst von daher werden beispielsweise die Argumente der Gegner einer Rechteerklärung und die mit einer Pflichtenerklärung verbundenen konservativen Intentionen (Marquis de Sinety!) verständlich. Diese Sicht zu belegen und schon bekannte Tatsachen schärfer zu interpretieren, hat mir eine Fülle neuen Quellenmaterials erlaubt, unter dem besonders zahlreiche Entwürfe einer Rechteerklärung hervorzuheben sind. Sie, die von dem kritischen Engagement fast ausnahmslos aller führenden Köpfe der NV zeugen, verweisen nochmals in besonderem Maße auf den politischen Stellenwert der ME. In einem abschließenden vierten Teil unserer Untersuchungen endlich soll mit Hilfe des in den ersten drei Teilen aufbereiteten Materials das revolutionäre Moment der Berufung auf das rationale Naturrecht näher charakterisiert und eine solche Vermittlung von Theorie und Praxis auf den Begriff gebracht werden, d. h. seine historisch-philosophische Dimension erhalten. Daß sich die Arbeit nur auf gedruckte Quellen stützt, mag bei der schlechten Quellenlage zu einzelnen Fragen, etwa zum Verlauf der Büro- und Komitee-Sitzungen der frühen Constituante, nachteilig sein. Insgesamt gesehen scheint es mir aber kein gravierender Mangel zu sein, - bei der erdrückenden Fülle an publiziertem Material (parlamentarische Debatten, Memoiren, Tagebücher, Korrespondenzen usw.) und bei dem überwältigenden Reichtum an zeitgenössischen Druckwerken (Flugschriften, Cahiers, Zeitungen usf.), - einem Reichtum im übrigen, der einer 1788/89 neu sich formierenden, an Politik und damit an Publizität interessierten "Öffentlichkeit" zu verdanken ist und der als solcher schon nachhaltig auf dieses für unser Thema wichtige Phänomen hinweist. 20 E. Waleh, La Declaration des droits de l'homme et du citoyen et l'Assemblee Constituante. Paris 1903; B. Schickhardt, Die Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789-91 in den Debatten der Nationalversammlung. Berlin 1931.
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Einleitung
Ein zweiwöchiger Aufenthalt an der Bibliotheque Nationale in Paris hat mir lediglich erlaubt, die wichtigsten zeitgenössischen Revolutionspamphlete und -zeitungen, soweit sie nicht über Fern- und Auslandsleihe erhältlich waren 2t, einzusehen. Dabei gelang es aber, eine ganze Anzahl bislang von der Forschung übersehener, nicht oder nur teilweise benutzter Quellen aufzufinden. Auf eine Durchsicht der "Cahiers de doleances" aufgrund der modernen, jedoch noch lang nicht abgeschlossenen "Collection de documents inedits sur l'histoire economique de la Revolution frant;aise" habe ich nicht verzichtet, obwohl die beiden einschlägigen Standardwerke von Beatrice Hyslop22 speziell für unser Thema keinerlei neue Hinweise enthalten. Unentbehrlich für die Erforschung der Cahiers wie für einen raschen überblick bleiben, mit der nötigen Vorsicht und der kritischen Ergänzung durch Hyslop benützt, immer noch die ersten sieben Quartbände der "Archives Parlementaires"23. Ich habe die weiteren Bände, insbesondere den Band 824 , dieser wegen ihrer Editionsprinzipien zu Recht viel getadelten Ausgabe auch für die parlamentarischen Debatten der Nationalversammlung verwendet, weil sie, beim Fehlen einer modernen historisch-kritischen Ausgabe, wie sie etwa Georges Lefebvre für die Etats Generaux in Angriff genommen hat 25 , einfach den Vorteil haben, leicht verfügbar zu sein. Ich habe jedoch, soweit möglich und nötig, alle wichtigen zeitgenössischen Zeitungen und modernen Editionen von Abgeordneten-"Journalen" zum Vergleich oder zur Ergänzung herangezogen. Dabei habe ich auf eine detaillierte Quellenkritik der in diversen Zeitungen und Separatdrucken zum Teil nur überarbeitet überlieferten parlamentarischen Reden wegen der sich ergebenden, oft unlösbaren oder in keinem Verhältnis zum Ertrag stehenden Schwierigkeiten meist verzichtet.
21 Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang jetzt auf die mir seinerzeit nicht zugängliche mikroverfilmte "Maclure Collection of French Revolutionary Materials", die in einer Kopie von der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Marburg) erworben worden ist (siehe Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Mitteilungen 3 (1971), Heft 1, S. 24 ff.). 2! B. F. Hyslop, French Nationalism in 1789 According to the General Cahiers. New York !1962; B. F. Hyslop, A Guide to the General Cahiers of 1789. New York 21968. 23 Archives Parlementaires de 1787 a 1860. Recueil complet des debats legislatifs et politiques des Chambres fran~aises. Hrsg. J. Mavidal, E. Laurent, E. Clavel. 1. Serie (1789-1799), Bde. I-VII, Paris 1862-1875. - Im folgenden abgekürzt zitiert als AP (Beispiel: AP III, 486 = Archives Parlementaires Bd. III, S. 486). 24 Archives Parlementaires, 1. Serie Bd. VIII (5. Mai-15. September 1789). Paris 1875. 25 G. Lefebvre (Hrsg.), Reeueil de doeuments relatifs aux seances des Etats Ge.neraux mai-juin 1789. 2 Bde. Paris 1953 u. 1962.
Einleitung
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Verzichtet habe ich auch auf eine breiter vorgeführte Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, um den Umfang der Arbeit bzw. des Anmerkungsapparates nicht noch zu vergrößern. Ich hoffe, daß sich eine Kritik der Forschungsergebnisse der verschiedenen Autoren jeweils implizit durch Ansatz, Gang und Ergebnisse meiner Untersuchungen ergibt.
1. Amerikanische "Revolution" und französische Aufklärung 1.1. Atlantische Kommunikation: Bills of rights Declaration des droits Einen nachhaltigen, in seiner Stärke jedoch schwer abzuschätzenden Einfluß auf die Entstehung und die Form der französischen "Declaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 haben unzweifelhaft die "bills of rights" ausgeübt, die verschiedene nordamerikanische Einzelstaaten ihren in der Unabhängigkeitsbewegung neu konzipierten Verfassungen vorangestellt haben. Die erste, bindendes Verfassungsrecht darstellende "Declaration of Rights" war die von Virginia, die am 12. Juni 1776, also noch vor der "Unabhängigkeitserklärung" , proklamiert wurde und die in der Hauptsache von George Mason verfaßt war. In 16 Artikeln verkündeten hier die "representatives of the good people of Virginia, assembled in full and free eonvention" Rechte, "which [...] do pertain to them and their posterity, as the basis and foundation of government": "That all men are by nature equally free and independent and have eertain inherent rights, of which, when they enter into astate of soeiety, they eannot by any eompaet deprive or divest their posterity; namely the enjoyment of life and liberty, with the me ans of aequiring and possessing property and pursuing and obtaining happiness and safety." (Art. 1). "That all power is vested in and eonsequently derived from the people [...l" (Art. 2). "That government is or ought to be instituted for the eommon benefit, protection and seeurity of the people, nation or community [...]" (Art. 3). "That the freedom of the press is one of the great bulwarks of liberty and ean never be restrained but by despotie governments." (Art. 12). ,,[...] all men are equally entitled to the free exerciee of religion, aeeording to the dietates of eonseienee [...]" (Art. 16)1. Neben diese fundamentalen Rechte traten noch weitere, detaillierte Bestimmungen über die Verfassung (Gewaltentrennung, Recht des Volkes auf Verfassungsänderung), über Regierung, Justiz und Verwaltung (keine Erblichkeit der Ämter, keine Privilegien der Beamten) sowie über die Wahlen. Ein humanes Strafrecht, ein rasches Prozeßverfahren 1 Alle Zitate aus der virginischen "Declaration of Rights" nach Hartung, S. 24 ff., aus den amerikanischen Einzelstaatsverfassungen nach Paare, The Federal and State Constitutions. 2 Bde. Washington 1877, passim.
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und die Beibehaltung der Geschworenengerichte waren dem Grundsatz verpflichtet, "that no man be deprived of his liberty, except by the law of the land or the judgement of his peers". Andere nordamerikanische Staaten folgten dem Beispiel Virginias, das die mächtigste Kolonie und führend in der Unabhängigkeitsbewegung war, und proklamierten ebenfalls "bills of rights": Delaware am 11. September 1776 (23 Artikel), Pennsylvania am 28. September 1776 (16 Artikel), Maryland am 11. November 1776 (42 Artikel), North Carolina am 18. Dezember 1776 (25 Artikel), Vermont am 8. Juli 1777 (19 Artikel), Massachusetts am 2. März 1780 (30 Artikel) und New Hampshire am 31. Oktober 1783 (38 Artikel). Die übrigen Staaten (New York, Georgia, New Jersey, South Carolina) schickten ihren neuen Verfassungen keine Rechteerklärungen voraus, doch nahmen sie zum Teil Bestimmungen über Menschenrechte in den Verfassungstext mit hinein. Connecticut und Rhode Island begnügten sich damit, ihren alten Kolonialcharten (von 1662 und 1663) den Charakter von Verfassungsurkunden zu verleihen, und erklärten erst nach 1789 in besonderer Form Menschenrechte. Auch die amerikanische Verfassung von 1787 verzichtete zunächst auf eine Formulierung dieser Grundrechte. Erst nachträglich wurden sie in zehn Zusatzartikeln ("amendments") angefügt!. Bereits in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, hauptsächlich einem Werk Jeffersons, hatten aber diese Menschenrechte eine wenn auch kurze, so doch weltweite Anerkennung erfahren: "Nous regardons comme incontestables et evidentes par elles-memes les verites suivantes; que tous les hommes ont ete crees egaux: qu'ils ont He doues par le Createur de certains droits inalienables; que parmi ces droits on doit placer au premier rang la vie, la liberte et la recherche du bonheur. Que pour s'assurer la jouissance de ces droits, les hommes ont €tabli parmi eux, des Gouvernemens dont la juste autorite emane du consentement des gouvernes. Que toutes les fois qu'une forme de Gouvernement quelconque devient destructive de ces fins pour lesquelles elle a ete etablie, le Peuple a le droit de la changer ou de l'abolir, et d'instituer un nouveau Gouvernement, en etaolissant ses fondemens sur les principes, et en organisant ses pouvoirs dans la forme qui lui paroitront les plus propres a lui procurer la surete et le bonheurS." Auf das in der Forschungsliteratur zum Teil noch heute diskutierte Problem, inwieweit von diesen amerikanischen Texten die französische Am 21. 9. 1789 dem Kongreß vorgelegt, am 15. 12. 1791 ratifiziert. Constitutions des Treize Etats-Unis de l'Amerique (1783), S. 420 (siehe unten S. 33). 2
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Menschenrechtserklärung von 1789 formal und (oder) inhaltlich "abhängt", kann und braucht hier nicht eingegangen werden. Die folgenden Untersuchungen werden gleichsam nebenbei erbringen, daß von einer direkten inhaltlichen "Abhängigkeit" keine Rede sein kann und von einer indirekten nur bedingt. Historisch bedeutsam erscheint vielmehr, daß es die virginische Bill of Rights und die ihrem Beispiel folgenden anderen nordamerikanischen Rechteerklärungen erstmals mit ihren der Verfassung vorangestellten Menschen- und Bürgerrechten gewagt haben, theoretisches Naturrecht in positives Staatsrecht umzusetzen. - Darauf, daß diese Umsetzung nicht bruchlos und nicht ohne eine bestimmte historischpolitische Entwicklung und rechtsphilosophische wie rechtspraktische Tradition möglich war, braucht hier ebenfalls nicht weiter eingegangen zu werden'.Bedeutsam ist ferner, daß die politischen Denker der französischen Spätaufklärung sofort die Einzigartigkeit dieser Innovation begriffen und auf den Begriff brachten. So erklärte beispielsweise Condorcet 1789: "La premiere declaration de droits qui en merite veritablement le nom, est celle de Virginie, arretee le 1er juin 1776; et l'auteur de cet ouvrage ades droits a la reconnaissance eternelle du genre humain5 ." Und wie ernst es ihm mit diesen Worten war, zeigt noch seine "Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain" (1794), wo er, in seiner Denkweise unerschüttert durch den jakobinischen Terror, weiterhin den Ideen der amerikanischen Revolution den Platz einer Schwelle von der Theorie zur Praxis der Aufklärung einräumte: "On vit alors, pour la premiere fois, un grand peuple delivre de toutes ses chaines, se donner paisiblement a lui-meme la constitution et les lois qu'il croyait les plus propres a faire son bonheur; [...] on vit se preparer a la fois, dans son sein, treize constitutions republicaines, ayant pour base une reconnaissance solennelle des droits natureIs de l'homme, et, po ur premier objet, la conservation de ces droits. [... ] Mais dans la guerre qui s'elevait entre deux peuples eclaires, dont l'un defendait les droits natureIs de l'humanite, dont l'autre leur opposait la doctrine impie qui soumet ces droits 4 Siehe hierfür die Arbeiten von Hägermann und Bailyn, passim; Becker, Declaration, S. 79 ff.; Rossiter, Seedtime, S. 352 ff., 362 ff., 375 ff. - Dafür, daß in dieser "Tradition" neben dem englischen Rechtsdenken (u. a. den Levellern!) auch die politischen Ideen eines Montesquieu oder Rousseau eine gewisse Rolle gespielt haben, mag der Hinweis auf eine Äußerung John Adams' genügen, die von ihm mitredigierte Verfassung von Massachusetts sei "la mise en pratique des theories de Locke, de Sydney, de Rousseau et de Mably" (zit. n. Palmer, Jean-Jacques Rousseau et les Etats-Unis. AHRF 34 (1962), S. 537 f.). (Vgl. auch Delatte, S. 386 f., und Fay, Esprit, S. 141 ff., 149 ff.). 5 Condorcet, Idees sur le despotisme, CEuvres IX, S. 168.
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a la prescription, aux interets politiques, aux conventions ecrites; cette grande cause fut plaidee au tribunal de l'opinion, en presence de l'Europe entiE~re; les droits des hommes furent hautement soutenus et developpes sans restriction, sans reserve, dans des ecrits qui eireulaient avee liberte des bords de la Neva a ceux du Guadalquivir. Ces diseussions penetrerent dans les eontrees les plus asservies, dans les bourgades les plus reeulees, et les hommes qui les habitaient furent etonnes d'entendre qu'ils avaient des droits; ils apprirent ales eonnaitre; ils surent que d'autres hommes osaient les reeonquerir ou les defendre. - La revolution amerieaine devait done s'etendre bientöt en Europe 6 ." Die amerikanischen Bills of rights und Verfassungen wurden mitsamt der ganzen "Revolution" in Frankreich revolutionärer verstanden als in Amerika selbst7 , nicht zuletzt deswegen, weil hier die Idee von Menschenrechten beim Fehlen einer "common law"-Tradition weit radikaler von Anfang an auf das rationale Naturrecht gestellt war und wie von selbst eine starke politische Virulenz entwickelte: eine permanente Herausforderung und Forderung an das feudalistische Ancien Regime. Wie gut "the alert bourgeois intellectuals"8 in Frankreich schon lange vor 1789 die amerikanischen Verfassungen und Rechteerklärungen kannten und wie ausführlich und zum Teil kritisch sie sich mit ihnen auseinandersetzten9 , wird im folgenden zu zeigen sein. Noch die Debatten der französischen Nationalversammlung zeugen von dieser intensiven Kommunikation innerhalb der "atlantischen Zivilisation"10: So sprach Robespierre am 24. August 1789 von der "energie des deelarations americaines" und führte beifällig den Artikel 16 der Bill von Massachusetts an, der uneingeschränkte Pressefreiheit zugestandl l , und Condorcet, Esquisse, S. 290 ff. Vgl. Vossler, Revolutionsideale (bes. S. 57 ff.), der diese Revolutionierung der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung durch die "Ideologen" der französischen Aufklärung und Revolution bestechend am Beispiel Jeffersons gezeigt hat. 8 Brinton, Declaration, S. 50. 9 Alphonse Aulard hat darauf immer mit Nachdruck hingewiesen. Siehe Aulard, Etudes, S. 108 ff., S. 127; ders., L'idee republicaine et democratique avant 1789, S. 31 ff.; ders., L'idee republicaine et democratique au debut de la Revolution, S. 136. 10 Ein von Palmer und Godechot auf dem 10. Internationalen Historikerkongreß 1955 in Florenz geprägter Begriff. 11 Courier de Provence Nr. 32, S. 8 (s. a. AP VIII, 483). Bezeichnend auch die Reaktion Pellerins, eines 38jährigen Advokaten und treu katholischen und royalistischen Abgeordneten aus Nantes, auf Robespierres Plädoyer für völlige Pressefreiheit: Anstelle einer längeren Auseinandersetzung verwies er in seinem "Journal" einfach auf den Artikel 18 der Bill von Massachusetts, "Un recours frequent aux principes fondamentaux de la constitution et une adhesion constante a ceux de la piete, de la justice, de la moderation, de la temperance, de l'industrie et de la frugalite sont absolument necessaires pour conserver les avantages de la liberte et pour maintenir un gouvernement 8
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der Herzog von La Rochefoucauld zitierte in der gleichen Sitzung, in der es um die Pressefreiheit ging, den Artikel 12 der Bill von Virginia12. Auf die amerikanischen Bills of rights verwiesen Mirabeau und der Herzog von Montmorency, der Erzbischof von Bordeaux Champion de Cice und der protestantische Pfarrer Rabaut de Saint-Etienne13. Ob man sie als Vorbild empfahl (wie Barere)14 oder vor ihrer Nachahmung warnte (wie Malouet)15, - man kannte sie jedenfalls16 ! Man kann Godechot und Palmer zustimmen: "Quant a la fameuse Declaration franc;aise des Droits de l'Homme et du Citoyen de 1789, le contenu en a, certes, ete provoque par la pensee franc;aise et la situation de la France a cette epoque, mais l'idee d'enoncer aussi formellement de tels droits, dans une declaration distincte de la Constitution, a ete sans doute suggeree par ce que les Franc;ais savaient de l'Amerique17." Die in Amerika gefundene neue Form verfehlte ihre propagandistische Wirkung auf die Freunde im Kampf gegen England nicht. Das Erstaunliche war weniger, daß sich die Anteilnahme Frankreichs am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in einer unkritischen, nicht selten auch direkten wirtschaftlichen Interessen entspringenden Begeisterung und mehr noch in einer ungemein kenntnisreichen Auseinandersetzung der aufgeklärten, "humanity-intoxicated writers"18 mit den amerikanischen Ideen und Verfassungsverhältnissen äußerte, wie sie etwa der Abbe Morellet in mehreren Briefen an Lord Shelburne bezeugt: "Nos braves Americains, nous interessent tous. Nous serions bien fäches de les voir opprimes." "Nous en mettons beaucoup aux affaires
libre", und begnügte sich mit dem folgenden kurzen Kommentar: "Ces principes paraissent loin de ceux qui autorisent la liberte absolue et indefinie de la presse. La licence ne respecte ni la piete ni la justice ni la moderation, et si ces principes fondamentaux de la constitution des f:tats-Unis doivent etre constamment respectes, il s'ensuit que l'ecrivain qui les violerait sur le pretexte de la liberte absolue de la presse, devrait etre reprime d'apres les principes memes de la Constitution de ces f:tats. u (Pellerin, Journal 24.8.89, zit. n. Breillat, S. 53 f.). 1! Courier de Provence Nr. 32, S. 8 f. 13 AP VIII, 124, 438, 320, 281, 282, 322, 452, 479. Siehe auch AP VIII, 451 (Creniere: "Von nous a parle souvent de la declaration des droits de I'AmeDer Abgeordnete Gouges-Cartou benützte für seinen Entwurf rique einer Rechteerklärung ausdrücklich "principalement [...] [le] recueil des constitutions americaines u (AP VIII, 427). 14 AP VIII, 464. 15 AP VIII, 322. 16 Für Flugschriften der Jahre 1788/89, die Amerika als Verfassungsmodell für Frankreich hinstellten, s. Ganett, Estates General, S. 84, 131, 136, 146, 154, 187; KZövekorn, S. 63 ff. 17 Godechot u. Parmer, Le probleme de I'AtIantique du XVIIlerne au xxeme siecle, S. 226. 18 Schapiro, Condorcet, S. 215. U ).
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d'Amerique, et il y a plus a Paris de partisans de la liberte des Americains que dans toute la province de New-York19." Erstaunlich war eher, daß es zu einer vom Außenminister de Vergennes gegen Turgot, den Generalkontrolleur der Finanzen, und den zögernden jungen Ludwig XVI. verfochtenen Politik der erst inoffiziellen, dann (mit den Versailler Verträgen vom Februar 1778) offiziellen militärischen und finanziellen Unterstützung der amerikanischen Staaten kam. Entsprang sie in der Hauptsache nationalistisch-außenpolitischen Motiven (Feindschaft gegen England, Sicherung der französischen Kolonien), so trug gerade sie trotz aller äußeren Erfolge in tragischer Ironie, - obwohl von dem skeptischen Turgot bereits 1776 vorhergesehen20 - , sowohl erheblich zum gewaltigen Defizit des französischen Staatshaushaltes bei wie zu einer von der Zensur unbehelligten breiten Diskussion politischer Reformmöglichkeiten aufgrund des amerikanischen Verfassungsmodells. Der "american dream" (Echeverria) der 70er und 80er Jahre in Frankreich, die Vorstellung von Amerika als einem Land religiöser Toleranz, bürgerlicher Gleichheit ohne die Last feudaler Abgaben und ständischer Privilegien, mit natürlicher Freiheit und auf die Vernunft begründeten Institutionen, war schon von Voltaire in seinen "Lettres Philosophiques" und in seinem "Essai sur les Mreurs" mit der Bewunderung des quäkerischen Pennsylvanias vorbereitet worden. In der "Histoire philosophique et politique des etablissements et du commerce des Europeens dans les deux Indes" des AbM Raynal mit ihren sechs 1770 anonym in Amsterdam erschienenen Bänden fand er eine weitere, nicht erstrangige, aber populärwissenschaftliche und damit weithin wirksame Stimme. In diesem Werk trafen sich die noch im späten 17. Jahrhundert angelegten, erst in Reiseberichten (de Lahontan; Lafitau!), dann auch in philosophischen Werken (Rousseau!) vertretenen zivilisationskritischen Ideen vom guten, edlen Wilden21 mit den wirtschafts- und staatstheoretischen Anschauungen der Spätaufklärung. Hinzu kam der notwendige Hauch Exotik, der schon zum Erfolg von Montesquieus "Lettres Persanes" und Voltaires Dramen und Romanen beigetragen hatte. In den weiteren Auflagen, vor allem in der 10-bändigen Genfer Ausgabe von 1780 (der 3. Auflage), präsentierte sich Raynals Werk, nun unter seinem Namen, als ein Kollektivunternehmen aufklärerischer Kritik an "Des18 MOTellet, Lettres, S. 82 f. (Brief vom 4. September 1775) und S. 110 (Brief vom 5. Januar 1777). 20 s. L. A. Boiteux, Un memoire prophetique de Turgot sur la revolution d'Amerique (1776). In: Revue d'histoire diplomatique 72 (1958), S. 231-239. 21 Vgl. hierzu Reichard, Amerikabild, passim.
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1. Amerikanische "Revolution" und französische Aufklärung
potismus"22, kolonialer Ausbeutung und kirchlich-theologischer Repression. Es wurde, seit der 2. Auflage 1774 auf dem Index, rasch in mehrere Sprachen übersetzt23 und erlebte trotz oder wegen des Verbots und der Verbrennung 1781 durch das Pariser Parlament, die Raynal zwang, ins Ausland zu gehen, über 20 Auflagen und mehr als 50 Nachdrucke. Raynals "Histoire des deux Indes" bereitete den Boden, auf dem dann zahlreiche Romane, Erzählungen, Gedichte, Reisebeschreibungen24 und politisch-ökonomische Abhandlungen über Amerika wachsen konnten25 • Daneben gab es bereits eine größere Anzahl von Zeitschriften, die, ein genuines Medium bürgerlicher Selbstverständigung, dem regen und vielfältigen Interesse Rechnung trugen. Sie veröffentlichten vor allem seit Beginn des Unabhängigkeitskrieges, - wie in speziellen Studien Fay und Echeverria gezeigt haben, - neben einer Fülle aktueller Nachrichten und Berichte laufend diverse amerika nische Originaldokumente. Darunter waren bevorzugt auch übersetzungen der neuen Verfassungen und Bills of rights der Einzelstaaten. Voran gingen die vom Herzog von La Rochefoucauld d'Enville 26 , Franklin, dem Grafen Court de Gebelin, Jean-Baptiste Robinet u. a. herausgegebenen "Affaires de l'Angleterre et de l' Amerique (1776 bis 1779). Die Quelle für dieses angeblich in Antwerpen, tatsächlich aber in Paris gedruckte "propaganda periodical [... ] edited on behalf of the American cause"27 waren die in London von John Almon herausgegebene Zeitschrift "The Remembrancer; or, Impartial Repository of Public Events" und mehr oder weniger offizielle amerikanische Doku22 Zur Geschichte dieses Begriffes siehe den Aufsatz von R. Koebner, Despot and Despotism: Vicissitudes of a Political Term. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14 (1951), S. 275-302. Koebner weist auf die erstmals politologische Verwendung dieses Begriffs in Frankreich bei Montesquieu und Voltaire hin. - Vgl. auch R. Derathe, Les philosophes et le despotisme. In: (Hrsg.) Francastei, Utopie et institutions au XVIIIe siecle. Paris 1963, S. 57-75. Zu ergänzen wäre, daß dieser Terminus für eine Art von "gouvernement absolu" seit etwa 1770/71 in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen zu sein scheint und jedenfalls 1788/89 gang und gäbe war. n Ins Deutsche Kempten 1783-88, 11 Bde. in 10. 24 Am bekanntesten wurden die "Voyages de M. le Marquis de ChasteHux dans l'Amerique Septentrionale dans les annees 1780, 1781 et 1782" (Paris 1786). Noch im Jahr ihres Erscheinens veröffentlichte Brissot sein "Examen critique des voyages de M. le Marquis de Chastellux" (London 1786). 25 Chateaubriand gibt in seinem "Memoires d'outre-tombe" ein beredtes Zeugnis für die nachhaltige Wirkung Raynals - und für die Enttäuschung, die dann zahlreiche Emigranten der Französischen Revolution in Amerika erlebten. 26 Louis-Alexandre Duc de La Rochefoucauld d'Enville (1743-1792), seit 1782 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und 1789 Abgeordneter des Pariser Stadtadels in der NV, ist nicht zu verwechseln mit seinem Cousin, dem Herzog von La Rochefoucauld-Liancourt (1747-1827). 27 Echeverria, Publications, S. 316.
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mente, die Franklin persönlich übermittelte, um mit ihrer Publikation den vor allem in England, aber auch in Frankreich zirkulierenden falschen Darstellungen über Amerika entgegenzuwirken. In den "Affaires" erschienen auch die "Observations sur la liberte civile" von Dr. Richard Price und lange Auszüge aus Paines berühmtem "Common Sense"2B. Weitere Zeitschriften, in denen die interessierten Franzosen, die der englischen Sprache nicht mächtig waren 29 , die amerikanischen Rechteerklärungen und Verfassungen in übersetzungen kennenlernen konnten, waren: der "Courier de l'Europe" (verlegt in London, nachgedruckt in Boulogne; 1776-1792), herausgegeben von Swinton und redigiert von Serre de la Tour, Morande, Brissot und dem Grafen von Montlosier30 , - Aulard nennt ihn geradezu den "Moniteur de la Revolution americaine"31; die "Nouvelles extraordinaires de divers endroits", bekannter unter dem Namen "Gazette de Leyde", die Jean Luzac, ein Korrespondent Washingtons und John Adams' herausgab; das von Panckoucke edierte "Journal historique et politique" (angeblicher Druckort: Genf, wahrer: Paris). Daneben druckten noch ein paar kleinere Zeitschriften wie das "Journal Encyclopedique"32 und der "Courrier d'Avignon" oder von der Regierung autorisierte Zeitungen wie die "Gazette de France", der "Mercure de France" mit seinem von Mallet Fay, Esprit, S. 52, 62; vgl. auch Echeverria, Mirage, S. 44. Der Behauptung Aulards, Etudes, S. 127, "la eonnaissanee de la langue anglaise etait alors plus repandue qu'aujourd'hui, du moins dans la haute societe", steht die Feststellung William Gordons (in einem Brief an Jefferson vom 6. September 1787) entgegen: "Am sorry that but few read English in Franee" (Jefferson-Papers XII, S. 101), die sich durch einen Brief Brissots an David Williams vom 20. Mai 1787 stützen läßt: "Bien des raisons s'opposent. mon estimable ami, cl l'exeeution du eours politique que vous desireriez faire iei. D'abord vous ne trouveriez pas dix personnes, pas six qui vous entendraient, et, si I'on entendait votre doetrine, le Gouvernement s'y opposerait aussitöt. Mais Ia plus grande diffieulte est le petit nombre de eeux qui entendent l'anglais" (Brissot, Correspondanee, S. 140). 30 Montlosier kam Ende September 1789 als Ersatzmann der Senechaussee Riom in die NV. Er war jedoch ein anglophiler Konservativer - wie seine Freunde Malouet und Lally-Tollendal, die für sein bald eingegangenes "J ournal de Franee et d' Angleterre" Artikel schrieben - und sah die französische Menschenrechtserklärung von 1789 als "imprudent and in many plaees untrue" (zit. n. Beik, S. 34) an. - S. auch Rohden, Montlosier, passim. 31 Aulard, Etudes, S. 102. Zu einem ähnlichen Urteil kommt Brissot: "Cette feuille [...] a eontribue plus qu'on ne pense au succes de la guerre de I' Amerique et par suite cl la Revolution fran!;aise" (Brissot, Memoires I, S. 305). - über diese Zeitung, die zeitweise fast 50000 Abonnenten hatte, siehe Charlet u. Godechot u. a., Histoire generale de la presse fran!;aise I, S. 309 ff. 32 Zum Programm dieser anspruchsvollen Zeitschrift (Verlagsort Bouillon) allgemein siehe Charlier u. Mortier, Une suite de l'Eneyelopedie, passim; ferner W. Schröder, Zur Geschichte des "Journal Eneyclopedique". In: Neue Beiträge zur Literatur der Aufklärung. Ostberlin 1964 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft Bd. 21), S. 259-276; schließlich Charlet u. Godechot u. a., Histoire generale de la presse fran!;aise I, S. 275 ff. 28
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du Pan (seit 1784) redigierten historisch-politischen Teil und das "Journal de Paris" (die erste Tageszeitung Frankreichs!) manchmal Übersetzungen amerikanischer Dokumente ab. Bereits im August und September 1776 brachten die "Gazette de Leyde" und das "Journal historique et politique" übersetzungen der amerikanischen Unabhängigkeits erklärung, 1777 folgten die "Affaires" nach33 ; der "Courier de l'Europe" druckte ab März 1777 in mehreren Folgen sogar eine übersetzung von J ohn Linds "An Answer to the Declaration of the Ameriean Congress" (1776) ab, die im gleichen Jahr noch zwei französische Buchausgaben erlebte. Ebenso rasch erschienen 1776 und 1777 übersetzungen erst zweier Entwürfe, dann der endgültigen Fassung der Konföderationsartikel und erschienen, nur wenig später nach den amtlichen Veröffentlichungen, die Übersetzungen der Verfassungen von Virginia, Pennsylvania, Delaware usf. und der Bills of rights, soweit solche den Verfassungen vorangestellt worden warenS4 • Benjamin Franklin, der von 1777 bis 1784 als amerikanischer Gesandter in Frankreich lebte und dort, in Salons und Logen herumgereicht, als Urbild bürgerlicher Schlichtheit und Sittenreinheit, als Apostel der Natürlichkeit und als der Philosoph schlechthin bewundert und gefeiert wurdes5 , dessen Werke, vor allem der "Poor Richard", in mehreren übersetzungen verbreitet waren36 , Franklin konnte schon am 1. Mai 1777 an Samuel Co oper schreiben: "All Europe is on our Side of the Question, as far as Applause and good Wishes ean earry them. Those who live under arbitrary Power do nevertheless approve of Liberty, and wish for it; they almost despair of reeovering it in Europe; they read the Translations of our separate Colony Constitutions with Rapture. [...] 'tis a Common Observation here, that our Cause is the Cause of an Mankind, and that we are fighting for their Liberty in defending our own37 ." 1778 kam in Buchform eine erste, Franklin gewidmete übersetzung der amerikanischen Verfassungen und Bills of rights in Paris auf den 3S Echeverria, Publications, S. 323, zählt bis 1783 insgesamt sieben differierende französische übersetzungen der Unabhängigkeitserklärung! 34 Vgl. hierfür im einzelnen Echeverria, Publications, passim. 3~ Siehe z. B. Condorcet,