Kirche und Staat: Festschrift für Bischof D. Hermann Kunst D.D. zum 60. Geburtstag am 21. Januar 1967 [Reprint 2018 ed.] 9783111708348, 9783111318790


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German Pages 327 [332] Year 1967

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Table of contents :
Widmung
Inhaltsverzeichnis
Kirche und Staat im Neuen Testament
Kirche und Staat in der alten Christenheit
Kirche und Staat in der Reformationszeit
Thesen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre
Staat ohne Kirche?
Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht
Laizistische Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht?
Über die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der Welt
Der Sozialstaat
Geplante Bildung — Freiheit des Menschen
Aufgabe und Verantwortung der Erwachsenenbildung
Der Begriff der Verantwortung
Das Ost -West-Problem unter theologischem Aspekt
Neue Fakten und Formen des politischen Engagements der evangelischen Kirche
Kirche und Kriegsdienstverweigerung im 20. Jahrhundert
Kirche und Atomfrage
Gedanken zur evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr
Ein Brief als Nachwort
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Kirche und Staat: Festschrift für Bischof D. Hermann Kunst D.D. zum 60. Geburtstag am 21. Januar 1967 [Reprint 2018 ed.]
 9783111708348, 9783111318790

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Kirche und Staat

Kirche und Staat Festschrift für Bischof D. Hermann Kunst D.D. zum 60. Geburtstag am 21. Januar 1967

Herausgegeben von

Kurt Aland und Wilhelm Schneemelcher

Berlin 1967 Walter de Gruyter & Co. vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlung - J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer - K a r l J . T r ü b n e r - V e i t & C o m p .

A r c h i v - N r . 32 27 671

© Copyright 1967 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sdie Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp. - Printed in G e r m a n y . Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofil audi auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin

Hochverehrter Herr Bischof, lieber Bruder Kunst! Einige Ihrer Freunde meinten, daß es trotz der Hochflut von Festschriften angebracht wäre, Ihnen zu Ihrem 60. Geburtstag Dank und Verbundenheit durch eine Sammlung von Aufsätzen zum Ausdruck zu bringen. Da uns Ihre Einstellung zu derartigen Unternehmungen, die in ihrem Inhalt nur zu oft den Charakter des Zufälligen haben, bekannt ist, haben wir uns bemüht, eine Reihe von Beiträgen zusammenzustellen, die sich auf Ihr Amt beziehen. Natürlich ist das nicht so gelungen, wie wir es eigentlich gern gesehen hätten — über die Gründe ist hier nicht zu handeln —, aber wir hoffen doch, daß aus allen Beiträgen dieses Bandes hervorgeht, wie sehr Ihre Freunde um die Probleme bemüht sind, die in der Praxis sozusagen Ihr tägliches Brot sind. Das schien uns eine angemessene Gabe zu Ihrem Geburtstag. Denn es ist doch wohl einer der wesentlichsten Züge Ihres Wirkens, daß Sie sich niemals als reiner 'Praktiker verstanden haben, daß vielmehr Ihr Reden und Handeln immer vom Glauben und vom Denken begleitet werden. Man kann es auch so sagen: Sie haben auch in der Praxis nie aufgehört, Theologe zu sein, und zwar Theologe, der um die Relevanz historisch-kritischer Arbeit, zugleich aber auch um deren Grenzen weiß. Ihr Handeln im Raum von Kirche und Staat gerade in dieser Zeit einer sich unheimlich schnell wandelnden Welt ist stets begleitet gewesen von dem Nachdenken über die damit verbundene Problematik. Daher meinten wir, ein Versuch, das Problem 'Kirche und Staat' unter verschiedenen Aspekten zu beleuchten, wäre die richtige Weise, Ihnen zu danken. Ihr Weg hat Sie nach dem Studium in das P f a r r a m t Ihrer westfälischen Heimatkirche geführt. Dort haben Sie, früh auch in ein kirchenleitendes Amt als Superintendent berufen, die Verbindung von tiefverwurzelter Frömmigkeit und theologischem Denken bewähren müssen. Kirchenkampf, Kriegszeit und Aufbauarbeit nach dem Krieg haben Forderungen gestellt, die nur zu bewältigen waren, wenn die Verpflichtung und die Verheißung des Ordinationsgelübdes ständig vor Augen stand.

VI Im Jahre 1950 wurden Sie in das neugeschaffene Amt des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland am Sitz der Bundesrepublik Deutschland berufen, in ein Amt, das es vorher in Deutschland noch niemals gegeben hat. Es hat um dieses Amt vielerlei Mißverständnisse und auch Anfeindungen gegeben, vor allem, als Sie dann 1957 auch noch nebenamtlich die Militärseelsorge als Bischof übernahmen. Aber wer Ihr Wirken in dieser Zeit aus der Nähe beobachten durfte, muß sagen, daß Sie auch in diesem Amt das sein wollten und das geblieben sind, was Sie seit Ihrer Ordination gewesen waren: Pastor. Denn alles, was Sie in dieser Zeit geleistet haben — es ist mehr, als man eigentlich einem Mann zumuten sollte —, stand unter der Verpflichtung, dem Sendungsauftrag Jesu Christi gehorsam zu bleiben. Dieser Sendungsauftrag weist die Kirche und ihre Glieder an die Welt, auch an die politische Welt, gerade heute, da politische Verantwortung so ungeheuer schwer geworden ist. Den Trägern dieser Verantwortung ist die Kirche genau so die Verkündigung des Evangeliums als Zuspruch, aber auch als Mahnung schuldig, wie allen anderen Menschen. Letztlich ist es doch die Aufgabe des Bevollmächtigten, wie Sie sie verstehen und praktizieren, die Männer und Frauen der Politik daraufhin anzusprechen, daß auch alles politische Handeln nur dann im Gehorsam gegen Gott geschieht, wenn es dahin zielt, dem Menschen zu helfen und die Welt als Ort des Dienstes zu gestalten. Es ist keine Frage, daß mit diesen wenigen Sätzen keine Würdigung Ihrer Tätigkeit in ihrem vollen Umfang gegeben ist. Eine laudatio wäre ohnehin nicht in Ihrem Sinn. Aber der Kern Ihres Amtes und Ihres Wesens sollte damit angedeutet werden, der Kern, von dem aus nun die Vielfalt Ihres Dienstes zu verstehen und zu begreifen ist. Dieser Dienst vollzieht sich im Bereich von Kirche und Staat und muß notwendigerweise immer wieder mit den komplexen Problemen des Verhältnisses von Kirche und Staat sich auseinandersetzen. Von hier aus ist es zu verstehen, daß wir versucht haben, Ihnen zu Ihrem Geburtstag eine Sammlung von Aufsätzen vorzulegen, die unter diesem Generalthema stehen. Daß damit keine erschöpfende Behandlung dieses ganzen Bereiches gegeben ist, braucht kaum gesagt zu werden. Aber alle Mitarbeiter haben je von ihrem Ort aus versucht, einen Ausschnitt aus diesem Fragenkreis zu behandeln. Die Herausgeber danken allen Mitarbeitern, die sich bereit gefunden haben, an diesem Unternehmen mitzuwirken. Sie danken besonders Frau

VII

Oberkirchenrätin Dr. E. Gräfin von Rittberg, die an Vorbereitung und Durchführung dieser Sammlung erheblichen Anteil gehabt hat. Sie danken aber auch Ihnen, verehrter Bruder Kunst, daß Sie uns durch Ihr Wirken zu einem Versuch der Bestandsaufnahme und des neuen Durchdenkens der Probleme angeregt haben. Es ist ein bunter Strauß geworden, den wir Ihnen überreichen. Er soll Dank und Verbundenheit zum Ausdruck bringen, zugleich aber auch unsere Wünsche für Ihren weiteren Weg. Gott segne Sie und gebe Ihnen Kraft zu Ihrem Dienst!

Ihre Kurt Aland

Wilhelm Schneemelcher

Inhaltsverzeichnis Widmung PROF. D .

DR.

V H . C. W I L H E L M

SCHNEEMELCHER

Kirche und Staat im Neuen Testament PROF. D .

KURT ALAND D .

D.

Kirche und Staat in der alten Christenheit DOZENT DR.

WILHELM H .

GERHARD

GLOEGE

KULTUSMINISTER

PROF. D .

DR.

EUGEN

a. D . PROF. D R . P A U L

79 GERSTENMAIER

DR. EDMUND

SCHLINK D .

D.

Über die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der Welt DR. PAUL

105

GRUNDMANN

Laizistische Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht PROF. D .

91

MIKAT

Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht PROF. D R . SIEGFRIED

50

D.D.

Thesen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre BUNDESTAGSPRÄSIDENT Staat ohne Kirche?

19

NEUSER

Kirche und Staat in der Reformationszeit PROF. D .

1

126 134

COLLMER

Der Sozialstaat

150

KULTUSMINISTER PROF. D . WILHELM

HAHN

Geplante Bildung — Freiheit des Menschen

171

PROF. D R . H E L L M U T BECKER

Aufgabe und Verantwortung der Erwachsenenbildung PROF. D R . GEORG

180

PICHT

Der Begriff der Verantwortung

189

PROF. D . D R . H E L M U T THIELICKE D . D . Das Ost-West-Problem unter theologischem Aspekt

214

X BUNDESMINISTER D R . D R . G U S T A V

W .

HEINEMANN

Neue Fakten und Formen des politischen Engagements der evangelischen Kirche PRÄSES PROF. D . D R . JOACHIM

BECKMANN

Kirche und Kriegsdienstverweigerung im 20. Jahrhundert D R . GÜNTER

232 249

HOWE

Kirche und Atomfrage

277

GENERALLEUTNANT W O L F G R A F VON

BAUDISSIN

Gedanken zur evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr PROF. D R . CARL-FRIEDRICH

Ein Brief als Nachwort

FREIHERR VON

299

WEIZSÄCKER

315

WILHELM S C H N E E M E L C H E R

Kirche und Staat im Neuen Testament I D a s Verhältnis von Kirche und Staat ist niemals lediglich ein theoretisches Problem gewesen. Nicht erst die leidvollen Erfahrungen unseres Jahrhunderts beweisen das, sondern die Geschichte der Kirche seit den Tagen Jesu und seiner Jünger erweist es deutlich genug: die Frage, wie sich Kirche und Staat zueinander verhalten, ist immer ein Teil des größeren Problems, wie sich die Kirche Jesu Christi zu der Welt zu stellen habe. D a s ist zwar ein Leitmotiv theologischer Arbeit seit dem Apostel Paulus, ist aber darüber hinaus eine sich immer neu stellende Frage für jeden, der durch die Verkündigung des Evangeliums zum Glauben gekommen ist und nun diesen Glauben in einer sich ständig wandelnden Welt bewähren muß. Es bedarf keiner langen Erörterungen, daß ein Christ bei diesem Bemühen um Konkretisierung des geforderten Gehorsams gegenüber dem Evangelium stets an das N e u e Testament gewiesen ist und daß dieses ständige neue Hören auf die Verkündigung des Neuen Testamentes allein vor falschen Wegen (z. B. der Ideologisierung der Botschaft oder einer bestimmten Gestalt weltlicher Bereiche) bewahren kann. Im folgenden sollen einige Überlegungen über die Aussagen des Neuen Testamentes über den Staat geboten werden, die nicht beanspruchen, das Problem vollständig zu erörtern, sondern sich beschränken auf einige beispielhafte Hinweise. D a z u sind aber drei Vorbemerkungen notwendig: 1 1. Wenn man von Kirche und Staat im Neuen Testament spricht, so muß man sich darüber klar sein, daß der Staat, mit dem es die frühe 1

1

Auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Literatur muß ebenso verzichtet werden wie auf ein reiches Literaturverzeichnis. Wichtig ist O. Cullmann, Der Staat im Neuen Testament, 2. Aufl. 1960. Weitere Lit. bei K . Hesse, Evgl. Staatslexikon, 1966, Sp. 904 ff. Festschrift Kunst

2

Wilhelm Schneemelcher

Christenheit zu tun hatte, etwas anderes war als der moderne Staat. 8 Gewiß ist eine solche Unterscheidung zwischen antikem Imperium und modernem Staat nur bedingt richtig. Es gibt neben ganz entscheidenden Unterschieden auch Faktoren, die allen Staatsformen gemeinsam sind (Zwangscharakter der Macht u. a.). Aber das ändert nichts daran, daß das Imperium Romanum, in dem Jesus und die Christenheit der ersten Jahrzehnte lebten, eine Staatsform war, die sich in vielen Punkten von dem modernen Staat, wie er sich seit dem Zeitalter des Absolutismus entwickelt hat, erheblich unterschied. Das Imperium Romanum ist zudem auch ein Gebilde gewesen, das sich gerade in der Zeit, in der das Neue Testament geschrieben wurde, in einem erheblichen Wandel befand. Vom Prinzipat des Augustus zum Dominat des Trajan geht der Weg des römischen Reiches in dieser Zeit.3 Dieser Weg ist nicht nur verfassungsrechtlich bestimmt, sondern auch in der Gesamtstruktur des Staates vollziehen sich erhebliche Veränderungen. Dazu kommt ein weiteres: Das Imperium ist ein Vielvölkerstaat, aber kein Nationalstaat. Vom Euphrat bis nach Spanien, vom Nil bis an den Rhein erstreckt sich dieses Reich, zusammengehalten von der militärischen und wirtschaftlichen Macht, die zunächst in der Hauptstadt ihr Zentrum und ihre Basis haben, langsam sich aber in die Provinzen verlagern. Das geistige Leben scheint von einer einheitlichen, griechisch-römischen Mischkultur bestimmt. Allerdings gibt es weite Gebiete am Rande des Reiches, vor allem ländliche Bezirke, die von dieser Kultur nur sehr wenig berührt waren und in denen alte kulturelle, sprachliche und religiöse Traditionen fortlebten. Auch die rechtliche Stellung der Provinzen war unterschiedlich. Palästina ist ein Beispiel dafür, wie man in einer unruhigen Provinz verschiedene Formen staatlicher Organisation durchprobierte.4 Für den frommen Juden war allerdings die römische Staatsgewalt in jeglicher Form heidnische Besatzungsmacht, der man sich entweder leidend unterwarf, ohne mit ihr gemeinsame Sache zu machen, oder gegen die man den Kampf aufnahm, der dann in der Katastrophe des Jahres 70 endete. Das Imperium Romanum hat im ganzen eine tolerante Religionspolitik betrieben, allerdings nur solange seine Grundlagen nicht in Frage gestellt wurden. Aber auch in dieser Frage muß vor Simplifizierungen gewarnt werden. Die Statthalter einzelner Provinzen 2 3

4

Vgl. dazu Evgl. Staatslexikon s. v. Staat. Belege können hier nidit gegeben werden. Vgl. die Darstellungen der römischen Kaiserzeit, z. B. von H . Schiller, Kornemann u. a. Vgl. u. a. Bo Reicke, Neutestamen tlidie Zeitgeschichte (Sammlung Töpelmann) 1965.

Kirche und Staat im Neuen Testament

3

hatten in Fragen der Religionsgesetzgebung und vor allem in der Handhabung des Religionsrechtes eine gewisse Freiheit. Die sehr unterschiedliche Haltung gegenüber der Kirche in den verschiedenen Provinzen und zu den verschiedenen Zeiten (bis ca. 250 ist die Lage der Kirche ja durch diese Verschiedenheit und die daraus resultierende Unsicherheit bestimmt) ist nur erklärlich, wenn man annimmt, daß es keine allgemeingültigen Gesetze gegen die Christen gab.5 Daß damit der Willkür der Lokalbehörden Tür und Tor geöffnet war, sollte bei der Erörterung des Problems Kirche und Staat im frühen Christentum nicht übersehen werden. Erst dann bekommen die kirchlichen Äußerungen dieser Zeit ihr richtiges Gewicht. Schließlich muß noch darauf verwiesen werden, daß der Kaiserkult im 1. Jahrhundert sich durchzusetzen beginnt. Das ist wiederum lokal sehr unterschiedlich vor sich gegangen. Aber je länger desto mehr wird dieser Kult zu einem Teil des staatlichen Lebens, an dem sich die Stellung zum Staat zu erweisen hat. Im ganzen war jedenfalls der Staat, mit dem es die Christen des ersten Jahrhunderts zu tun hatten, ein recht buntes, in sich höchst komplexes Phänomen. Schon diese Tatsache sollte davor warnen, sehr klare und eindeutige Stellungnahmen zum „Staat" zu erwarten. Denn das Gegenüber bestimmt ja immer auch das Denken und Reden. 2. Die Frage, wie sich die Kirche in der Zeit, in der das Neue Testament entstanden ist, zum Staat verhalten hat, ist nun auch deshalb schwer zu beantworten, weil es in dieser Zeit noch keine fest organisierte, weltweite Kirche mit einem verbindlichen synodalen oder episkopalen Lehramt gegeben hat. Selbstverständlich gibt es Kirche als Gemeinde Jesu Christi, in der der auferstandene Herr verkündet, die Taufe auf seinen Namen gespendet und das Herrenmahl gefeiert wird. Diese Kirche entsteht mit der ersten Predigt nach Ostern, sie ist creatura verbi.6 Aber diese Gemeinschaft ist sich selbst zunächst nicht ihrer Eigenständigkeit gegenüber der Synagoge bewußt. Auch die Umwelt hat noch längere Zeit in ihr einen Teil des Judentums gesehen.7 Die Trennung von der Synagoge hat sich an den verschiedenen Orten in unterschiedlicher Weise vollzogen. Die Nachrichten über die neronische Verfolgung zeigen, daß auch der Staat 5 6

7

Vgl. J. Moreau, Die Christenverfolgung im römischen Reich, 1961. Vgl. H. J. Iwand, Zur Entstehung von Luthers Kirchenbegriff: Festschrift für Günther Dehn, 1957, S. 145 ff. Vgl. Apg. 1 8 , 1 ff. und die Hintergründe dazu.

4

Wilhelm Schneemelcher

beginnt, in der Christengemeinde eine besondere Größe zu sehen.9 Aber damit ist über die äußere Organisation und die Struktur der Gemeinde noch nichts gesagt. Im 1. Jahrhundert müssen wir vielmehr in dieser Hinsicht eine erhebliche Vielfalt annehmen: Judenchristliche Gemeinden stehen neben hellenistisch-heidenchristlichen, beide in Denken und Sprache, aber auch in der äußeren Organisation (Ämter) von ihrer Herkunft geprägt. Dazu kommen dann die paulinischen Gemeinden, die sich durch die Eigenart ihres Gründers von dem hellenistischen Christentum vor und neben Paulus unterscheiden, später dann wohl weithin in diesem hellenistischen Christentum aufgegangen sind. Diese Vielfalt spiegelt sich auch im Verhältnis zur Welt wider. Während Paulus die hellenistische Paränese in seine eschatologisch bestimmte Verkündigung aufnimmt, sie allerdings neu begründet, hat es früh dualistisch-asketische Strömungen gegeben, die die Welt sich selbst überlassen wollten. Gewiß spielt dabei auch die Herkunft der Gemeindeglieder eine gewisse Rolle. Wer in seiner jüdischen Vergangenheit gewohnt war, in den Kategorien der Apokalyptik zu denken, wird auch als Christ nicht völlig davon Abstand genommen haben. Andererseits wird ein hellenistisch geprägter Heide, der an Jesus als den Herrn glaubte, seine Sprache und sein Denken nicht völlig geändert haben. Aber so wichtig dieser Gesichtspunkt auch ist, allein maßgebend ist er nicht. Die Gemeinde, die sich beauftragt wußte, der Welt das Evangelium zu verkünden (Matth. 28!), konnte nicht anders reden als in der Sprache und mit den Begriffen, die den jeweiligen Hörern verständlich waren. Da aber Sprache niemals lediglich eine Zusammenstellung von Wörtern ist, sondern Ausdruck (im weiten Sinn des Wortes) des Menschen, so ist klar, daß diese Situation der missionierenden Gemeinde zu verschiedenen Konzeptionen der Theologie, d. h. der denkerischen Erfassung und der Interpretation des Heilsgeschehens führen mußte. Selbstverständlich wurden gewisse Grundaussagen in allen christlichen Gemeinden als allgemeingültig angesehen. Dazu gehörte der Glaube an einen Gott, das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn und Heiland und die Gerichtserwartung. 9 Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Frühzeit noch weit entfernt ist von einer dogmatischen Einheit, und auch eine einheitliche „politische Ethik" wird man nicht erwarten dürfen. 8

Tacitus, Ann. 15,44.

• Vgl. 1. Thess. 1, 9 f., eine Zusammenfassung der Missionspredigt.

Kirche und Staat im Neuen Testament

5

3. Diese knappe Skizze der Vielfalt der kirchlich-theologischen Anschauungen im 1. Jahrhundert muß noch ergänzt werden durch einen kurzen Hinweis auf das Problem der Einheit des Neuen Testaments. Das Thema „Kirche und Staat im Neuen Testament" wäre ja eigentlich nur dann sinnvoll, wenn das Neue Testament eine Einheit wäre und auch in dem zur Debatte stehenden Problem eine einheitliche Meinung verträte. Nun ist es ohne Zweifel ein Ergebnis der historisch-kritischen Erforschung des Neuen Testaments in den letzten beiden Jahrhunderten, daß die Schriften des Neuen Testaments von sehr verschiedenen theologischen Standpunkten aus geschrieben sind und daß die Zusammenstellung zum Kanon noch nicht bedeutet, daß hier Schriften vereinigt sind, die in allen Punkten übereinstimmen. Das ist nach dem, was oben zu der Lage der Kirche im 1. Jahrhundert gesagt wurde, auch nicht überraschend. Die Schriften des Neuen Testaments sind in ihrer Vielfalt ein getreues Spiegelbild der bunten Vielfalt in der Kirche der ersten hundert Jahre. Nun bat bereits Luther in seiner Stellungnahme zum Jakobusbrief eindeutig zu verstehen gegeben, daß er von einem Kanon im Kanon — für ihn die Rechtfertigungslehre — aus Werturteile über verschiedene Schriften des Neuen Testaments fällen zu können meinte.10 Aber damit wollte er wohl kaum die Einheit der Schrift aufheben, sondern hat damit doch nur einen Hinweis darauf gegeben, worauf es in dieser Frage ankommt: Nicht die Einheit der Aussagen der Zeugen garantiert die Einheit des Neuen Testaments, sondern der Bezeugte selbst, von dem die Zeugen reden, ist es, der die Einheit herstellt. Nun ist gerade im Blick auf das Verhältnis der frühen Christenheit zum Imperium Romanum, wie es sich im Neuen Testament widerspiegelt, immer wieder gesagt worden, daß erhebliche Differenzen zwischen den verschiedenen Schriften des Neuen Testaments bestehen und es nicht angängig ist, diese differierenden Aussagen zu harmonisieren. Dagegen hat O. Cullmann in seiner Schrift „Der Staat im Neuen Testament" (2. Aufl. 1960) festgestellt: „Als Schlußresultat aber ergibt sich hier eine fundamentale Einheit in der Wertung des Staates." Die auftauchenden Widersprüche sieht er in der „konstitutiven temporalen Spannung" zwischen dem „schon erfüllt" und dem „noch nicht vollendet" begründet.11 10

Vgl. M. Dibelius, Der Brief des Jakobus (Meyers Komm.) 11. Aufl., hrsg. von H. Greeven, 1964, S. 80.

11

Cullmann, a.a.O. S. 62,

6

Wilhelm Schneemelcher

Wir werden noch zu fragen haben, ob man so von einer Einheit des Neuen Testaments in der Beurteilung des Staates sprechen kann. Es sei aber jetzt schon vorweg bemerkt, daß man die Widersprüche zwischen Rom. 13 und Apoc. 13 wohl auch nicht durch eine angeblich einheitliche Eschatologie wegdeuten kann. Nach dem eben Gesagten wird man ja auch gar nicht erwarten, daß es eine einheitliche „Staatslehre" gibt. Man darf doch wohl, wie auch sonst bei Einzelfragen der Ethik, nicht so sehr nach der Einheit der Einzelaussagen und Einzelweisungen fragen, muß vielmehr auf den Kern der Verkündigung sehen, aus dem sich diese Einzelaussagen jeweils ergeben, auch die verschiedenen Stellungnahmen zum Staat.

II Es gibt eine Reihe von Stellen im Neuen Testament, die herangezogen werden, wenn man sich über das Verhältnis der frühen Christenheit zum Staat Klarheit verschaffen will. Wir betrachten zwei der wichtigsten Perikopen, ohne allerdings hier in eine ausführliche Einzelexegese eintreten zu können. 1. Die Pharisäerfrage nach dem Zinsgroschen (Mark. 12, 13—17 u. Par.). Diese, in der Geschichte der Auslegung viel mißhandelte Erzählung ist ziemlich gleichlautend bei allen drei Synoptikern überliefert.12 Auch die Einordnung in die Gesamtkomposition ist bei Matth, und Luk. ähnlich vollzogen, wie sie von Mark, vorgenommen war: In den letzten Tagen der Wirksamkeit Jesu vor der Passion sind einige Streitgespräche geschildert, die sich um die Vollmacht und die Messianität Jesu drehen. Dabei ist es für den Juden eine beängstigende und bedrängende Frage, um die es in unserem Abschnitt geht. Soll er die von dem römischen Eroberer geforderte Kopfsteuer zahlen oder nicht? Diese Kopfsteuer war ein Tribut, der durch die römische Verwaltung in den unterworfenen Provinzen eingetrieben wurde und der direkt an den fiscus, die kaiserliche Kasse ging. Dieser Tribut mußte in römischer Münze bezahlt werden, also mit einer Münze, auf der im Gegensatz zur Provinzialprägung der Kopf des Kaisers geprägt war. Daß diese Münzen ohnehin den 12

Zu beachten ist, daß Lukas 20, 22 statt xfjvcrog den Begriff cpogog gebraucht. Das ist wohl eine bewußte Änderung, um die Erzählung auf die normale Steuerzahlung (nicht den palästinensischen Tribut) zuzuspitzen.

Kirche und Staat im Neuen Testament

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Juden anstößig waren, ist sicher. Jedenfalls geht es bei dieser Frage um einen besonders wunden Punkt im jüdischen Volksleben der Zeit Jesu. Hier wurde die Abhängigkeit von Rom und der Verlust der Eigenstaatlichkeit besonders spürbar. Die Frage dreht sich nicht darum, ob das jüdische Volk außer Gott noch einen irdischen Herrscher ertragen könne. Es geht nicht um die Theokratie, wie sie etwa die Zeloten erstrebten. Und die Antwort Jesu zielt auch nicht gegenüber diesen theokratischen Ideen auf eine Begründung des Eigenrechts des Staates. Von einem Eigenrecht des Staates oder der Kirche ist in dem Text überhaupt nicht die Rede. 13 Sondern lediglich darum geht es, ob der gesetzestreue Jude sich dem römischen Zensus beugen soll oder nicht. Tut er es, so erkennt er dieses Imperium an und muß sich fragen lassen, ob er noch dem Gesetz gehorcht. Man kann vermuten, daß hier von den Gegnern Jesu der Versuch gemacht wird, ihn dazu zu bewegen, seine Messianität zu offenbaren, indem er zur Steuerverweigerung aufruft. Damit wäre diese Frage natürlich verhängnisvoll gestellt. Denn entweder erklärt sich Jesus als Messias gegen die Steuer, dann wäre er ein politischer Revolutionär wie viele andere vor ihm und nach ihm. Oder er lehnt die Frage ab und fordert zur Zahlung der Steuer auf, dann wäre er nicht der Messias, wie ihn das Volk erwartete, und er enttäuschte die Massen.14 Aber ich glaube nicht, daß damit der eigentliche Sinn dieser Szene richtig erfaßt wird. Abgesehen davon, daß die Frage des „messianischen Selbstbewußtseins" Jesu nach wie vor umstritten ist15, so ist auch die hier gestellte Frage nur bedingt geeignet, Jesus zu einer Enthüllung seiner Würde zu veranlassen. Denn in der Praxis war ja für die große Mehrzahl der Juden längst entschieden, daß man diese Steuer zahlte und mit dem fremden, gotteslästerlichen Geld mit dem Kaiserbild umging. An diese faktisch vollzogene Entscheidung knüpft Jesu Antwort an. Er läßt sich einen Denar geben und zwingt seine Gegner, ihre Antwort so 13 14

Das ist gegen G. Kittel (Christus und Imperator, 1939) zu betonen. R. Eisler, Jesus basileus ou basileusas, 1928/30, hat die ganze Perikope und vor allem die Antwort Jesu als zelotenfreundlich mißdeutet.

15

Vgl. P. Vielhauer, Gottesreich und Mensdiensohn: Festschrift G. Dehn, S. 51 ff.; jetzt auch in: Aufsätze zum N T , 1965, S. 55 if. Unsere Stelle wäre, wenn die Deutung als Herausforderung des Messianitäts-Ansprudies richtig wäre, für das ganze Problem wichtig. Denn es handelt sich ja hier nicht um Gemeindebildung. Bultmann, Geschichte der synopt. Tradition, 3. Aufl. 1957, S. 2 5 : „An Gemeindebildung zu denken, liegt m. E . kein Grund vor." Aber es ist eben vom Messias auch gar nicht die Rede.

8

Wilhelm Schneemelcher

zu geben, daß sie notwendig zu ihrer eigenen Widerlegung wird. Jesus braucht nur die Konsequenzen aus ihrer Antwort zu ziehen. Er tut das in zwei Parallelsätzen: Gebt dem Kaiser sein Eigentum zurück und Gott ebenfalls. Das Hauptgewicht liegt dabei doch wohl auf dem Eigentumsbegriff.18 Für die Münze ist die Sache ohnehin klar: Herrschaftsbereich und Münzbereich decken sich, und das Bild des Kaisers auf der Münze ist Ausdruck der tatsächlichen Herrschaft und damit des Eigentumsanspruchs auf die Steuer und auf das Geld. Man schuldet dem Kaiser die Steuer und man zahlt sie in der Münze, die durch das Bild Eigentum des Kaisers ist. In dem zweiten Teil der Antwort wendet Jesus diesen einfachen Tatbestand nun auf das Verhalten gegenüber Gott an: Der Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen und ist daher wie die Münze Gottes Eigentum. Man könnte zugespitzt formulieren und sagen: der Mensch trägt das Bild Gottes und ist Gottes Münze. Er ist Gott, seinem Schöpfer, sich selbst ganz und gar schuldig. Man darf dabei wohl nicht von einem ironischen Klang der Antwort Jesu sprechen,17 sondern muß diese Worte im Gesamtzusammenhang der Predigt Jesu sehen. Diese Verkündigung zielt ja immer darauf, die Forderung Gottes an den Menschen zur Umkehr klar zu machen und den Hörer aufzufordern, bereit zu sein für Gottes Herrschaft. Jesus nimmt also wirklich nicht zum Eigenrecht des Staates oder der Kirche Stellung, sondern verkündet in ganz knappen Worten den Anspruch Gottes gegenüber dem Menschen, der zwar Steuern zahlen soll, aber vor allem Gottes Forderung hören und gehorchen soll. Es werden zwar — durch die Frage und die Situation hervorgerufen — die beiden Bereiche des Politischen und des Religiösen berührt. Aber es wird nun doch nicht säuberlich der eine Bereich vom anderen getrennt. Denn ernsthaft kann es neben der Ordnung Gottes und seinem Anspruch keine andere Ordnung geben, die den gleichen Anspruch stellen könnte. Gewiß, so lange es Gott gefällt, wird es auf dieser Erde Kaiser, Könige, Herrscher und Regierungen geben, wird es auch Steuern und andere Forderungen der Obrigkeit geben. Niemand kann und soll sich den Forderungen entziehen. Aber all das muß mit dem Anbruch der Herrschaft Gottes weichen, muß an Bedeutung verlieren. Diese Herrschaft bricht mit Jesus in dieser Welt 16

Zu der Bedeutung von &jto8i8co[H vgl. W . Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu

17

M. Dibelius, Botschaft und Geschichte II, 1956, S. 178.

den Sdiriften des N T , 5. Aufl. s. v.

Kirche und Staat im Neuen Testament

9

an, in ihm steht Gottes Forderung vor den Menschen. Was fragt der Mensch, der Fromme noch nach Steuer, Reich und Kaiser? Er soll nach Gott und seinem Reich fragen, dann wird alles andere ihm zufallen, auch die rechte Haltung zur Obrigkeit, die immer nur ein Gehorsam unter der Bedingung sein kann, daß Gott sein Eigentum nicht vorenthalten wird. Weil der Jünger Jesu noch in der Welt lebt und mit den Dingen dieser Welt umgehen muß, weil diese Welt der Schauplatz seines Gehorsams gegen Gottes Willen sein soll, darum ist er auch die Steuer schuldig. Denn das Geld, das hier gefordert wird, ist ja Eigentum des Kaisers. Aber er selbst, der Mensch als Geschöpf Gottes, ist eines anderen Eigentum. Damit ist ein anderer Weg gezeigt, als er im damaligen Judentum sonst propagiert wurde: Nicht die Auflehnung der Zeloten, nicht die Flucht der Pharisäer in das Gesetz, nicht die politische Klugheit der Sadduzäer, aber auch nicht die reinliche Trennung der Politik von dem frommen Leben sind dem Jünger Jesu als Wege gewiesen. Sondern der praktische Gehorsam in dieser Welt ist gefordert, Gehorsam gegen Gott, der die Kraft gibt, auch in dieser Welt sich zu bewähren. Gewiß kann man keine detaillierte Vorschrift für das Verhalten der Gemeinde in Staat und Gesellschaft aus diesem Wort herauslesen. Aber das wird deutlich: Niemals kann irgendein Staatsgebilde mit Gottes Herrschaft gleichgestellt werden. Die Ordnung des Imperium Romanum wie die eines jeden anderen Reiches dieser Welt steht im Schatten des kommenden, in Jesus anbrechenden Reiches Gottes mit seiner Forderung und seinem Anspruch. Solange aber das Reich des Kaisers besteht, muß die Pflicht erfüllt werden. Kann man das als eine Interimsethik bezeichnen? M. Dibelius hat die Stelle als eine Weisung auf eine interimistische, eschatologisch bedingte Pflichterfüllung interpretiert.18 Aber dabei bleibt es ja nun offen, in welchem Sinn man von „interimistisch" reden kann. Deutet man diesen Begriff von der Apokalyptik her, d. h. von der Erwartung aus, daß in kurzer Zeit eine kosmische Katastrophe eintreten und diese Welt total vernichten wird, dann gerät man in erhebliche Schwierigkeiten. Denn offenbar sind die Worte Jesu, in denen die Forderungen nach der Erfüllung von Gottes Willen im Mittelpunkt stehen, nicht durch das nahende Weltende motiviert. Sondern alle Imperative sind im radikalen Sinn absolute Forderungen, die einzig und allein in Gottes Willen ihren Grund haben. Andererseits läßt sich der Ausdruck „interimistisch" von der Escha18

Dibelius, a.a.O.

10

Wilhelm Schneemelcher

tologie her verstehen. Er würde dann bedeuten, daß diese Pflichterfüllung, um die es hier geht, unter der größeren Pflicht steht, nämlich Gott zu geben, was Gottes ist, daß diese Pflicht aber eines Tages der einzige Inhalt des menschlichen Lebens sein soll und wird. Aber weder die eine noch die andere Deutung des Begriffes Interimsethik befriedigt, und man wird vielleicht besser ganz auf diesen Begriff verzichten. Nur das muß klar gesehen werden: Jesu Antwort ist nur verständlich von seiner eschatologisch (nicht apokalyptisch) bestimmten Predigt von der Herrschaft Gottes, die in seiner Person in dieser Welt anbricht. Eine Lehre von zwei Reichen wird man aus diesem Wort nicht herauslesen dürfen. Für Jesus gibt es nur eine Größe, auf die es ankommt: die Herrschaft Gottes. Diese Herrschaft ist aber keine geistige oder geschichtliche Größe, die sich in dieser Welt zum Reich des Guten oder zu einer Herrschaft Gottes über die Seele entwickelt und die sich in der sittlichen Ordnung der Gemeinschaft verwirklicht. Sondern sie ist die Indienstnahme des Menschen durch Gott, die sich in der Geschichte und das heißt im Dienst am Nächsten verwirklicht. Der Mensch, der durch die Verkündigung der Nähe der Herrschaft Gottes aus seinen bisherigen Sicherungen und Bindungen herausgerufen ist, kann nun in dieser Welt wirken, weil Gott an ihm gewirkt hat. Damit aber weist Jesus selbst die Richtung für eine Beteiligung am politischen und staatlichen Dienst. Jesu Wort bietet keine abstrakte Staatstheorie, sondern weist den Weg des konkreten Gehorsams als Antwort auf den Ruf Gottes. Die Berichte über den Prozeß Jesu sind sicher weithin keine genaue Niederschrift der Verhandlungen vor dem jüdischen Gericht oder dem römischen Statthalter. 19 Sie sind in ihrer vorliegenden Form getragen und geprägt von dem Glauben der Gemeinde, der auch im Leiden des Herrn die Erfüllung alter Weissagung sah. Aber trotzdem geht aus dem Passionsweg Jesu eines deutlich hervor: Jesus hat es auch in der größten Anfechtung abgelehnt, den Weg des Revolutionärs zu gehen. Er flieht nicht, er ruft das Volk nicht auf zum Widerstand gegen die jüdische Obrigkeit oder zur Revolution gegen Rom. Er ist auch in diesen Tagen bei dem geblieben, was er verkündet hat. Er weiß sich auch jetzt gebunden an den Gehorsam gegen Gott. 19

Zum Prozeß Jesu vgl. u.a. J. Blinzler, Der Prozeß Jesu, 3. Aufl. 1960; P.Winter, On he trial on Jesus, 1961. Wichtig dafür bleiben dafür immer noch die formgeschiditlichen Arbeiten von Blutmann und Dibelius.

Kirche und Staat im Neuen Testament

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2. Jedermann sei Untertan der Obrigkeit (Rom. 1 3 , 1 — 7 ) . „Wer die Auslegung unseres Textes in den letzten 30 Jahren zu überschauen und zu analysieren unternimmt, wird zum bedauernswerten Opfer der Wissenschaft, weil er in das sich fast unentwirrbar verschlingende Dickicht eines tropisch wuchernden Urwaldes gerät. Hauptgewinn seiner Anstrengung dürfte die Erkenntnis sein, daß Vergeßlichkeit, Torheit und zügellose Phantasie als Fluch über dem Acker und Handwerk des Exegeten liegen." 20 So beginnt E. Käsemann seine Analyse der Auslegung dieser so oft mißverstandenen Perikope. In der T a t hat sich an diesen Text soviel Spekulation und soviel Ressentiment geheftet, daß es schwer fällt, in Kürze zu dem Gehalt dieses Abschnittes etwas zu sagen. Auch die durch O. Dibelius ausgelöste Debatte über den Begriff ,Obrigkeit' hat nicht gerade viel Förderliches zum Verständnis des Textes erbracht. 21 Mit Recht hat Käsemann festgestellt, daß die Verlagerung des Schwergewichts von der Paränese auf die Begründung „die folgenreichste Fehlentscheidung in der gesamten Auslegungsgeschichte von Rom. 1 3 " gewesen ist. 22 Es ist wirklich erstaunlich, was man alles aus dem Text herausgelesen hat. Nur zu oft ist die vorgegebene Ideologie zum Leitmotiv der Auslegung gemacht worden. Wenn man es nur richtig anpackte, könnte man auch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat mit diesem Text rechtfertigen. 23 Es sollte schon bei einer oberflächlichen Lektüre des Textes klar sein, daß hier eine der auch sonst im Neuen Testament uns begegnenden Paränesen vorliegt. Diese Paränesen sind, wie man leicht jedem guten Kommentar zum Neuen Testament entnehmen kann, weithin überkommenes Gut, sei es der hellenistischen Popularphilosophie, sei es der hellenistischen Synagoge. 24 Paulus stellt diese Tradition in den Dienst seines Amtes als Apostel Jesu Christi. Er übernimmt die Mahnungen, die auch sonst in der hellenistischen Welt laut werden, begründet allerdings diese Mahnungen 20 21

E . Käsemann, R ö m e r 1 3 , 1 — 7 in unserer Generation: Z T h K 56, 1959, S. 316. O. Dibelius, Obrigkeit, 1963. A u f eine Erörterung dieser Debatte muß hier verzichtet werden, wie überhaupt nur auf sehr wenig L i t e r a t u r hingewiesen werden kann. Die exegetische Literatur ist bei Käsemann (s. o. A n m . 2 0 ) umfassend behandelt. Wichtig ist aus neuester Z e i t : R o l f Walker, Studie zu R ö m e r 13, 1 — 7 (Theol. Existenz heute N F 132), 1966, dem allerdings wohl an vielen Stellen erheblidi zu widersprechen sein wird.

22 23

A.a.O., S. 325. Z u r Geschichte der Auslegung vgl. Käsemann. Aus der älteren Literatur sei der Vortrag von W . Bauer, Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, 1930, hervorgehoben.

24

Vgl. u. a. W . Schräge, Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese, 1961.

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anders als es sonst in seiner Zeit üblich war. Auch Rom. 13,1—7 ist von traditionellen Mahnungen durchzogen. Der Nachweis von A. Strobel,25 daß viele Begriffe in diesen Versen der antiken Verwaltungssprache entnommen sind, erscheint mir von besonderer Bedeutung. „Die Profanität der Sprache in unserem Text dürfte damit unbestreitbar bewiesen sein. Paulus nimmt, zugespitzt formuliert, den Jargon der hellenistischen Bürokratie auf." 26 Damit scheint nun auch der Streit um die Bedeutung des Wortes elowiai, das Luther mit ,Obrigkeit' übersetzt hat, erledigt zu sein. Es hat in den letzten Jahrzehnten mehrere Versuche gegeben, diesen Begriff ,dämonistisch' zu deuten, ihn also nicht einfach nur als eine Bezeichnung für die staatlich-politischen Gewalten zu verstehen, sondern ihn auch als metaphysischen Ausdruck zu fassen. Diese These, einst von M. Dibelius erwogen, dann von G. Dehn und K . L. Schmidt aufgenommen, ist in neuester Zeit von O. Cullmann erneut vertreten worden. 27 Für die ^ h i stologische' Begründung des Staates bei Karl Barth spielt sie auch eine gewisse Rolle. Gemeint ist mit dieser Deutung, daß die politischen Mächte, von denen Paulus doch offenbar redet, von unsichtbaren Engelmächten als Instrument benutzt werden. Diese Doppelbedeutung des Begriffes eiowiai wird sich aber nicht halten lassen. Die Debatte darüber kann hier nicht wiederholt werden.28 Cullmann hat allerdings recht, wenn er feststellt, daß diese Kontroverse in eine grundsätzliche Problematik hineinführt, bei der es um den Gegensatz von Ontologie und Paränese (d. h. Wort und Glauben) geht.29 Aber auch das ist hier nicht zu erörtern. Man wird aber wohl die ,Engelmächte' bei der Diskussion um Rom. 13 besser beiseite lassen. Paulus spricht an dieser Stelle von dem Verhalten gegenüber den vorfindlichen staatlich-politischen Mächten, wie sie dem einfachen Bürger in den verschiedenen Gestalten entgegentreten (als Steuereinnehmer, als Magistrat, als Polizei, als Statthalter, als Kaiser). Diesen Mächten ist jeder Mensch Gehorsam schuldig. Paulus redet dabei von einer àvàyxri (v. 5), betont also die Notwendigkeit der Unterordnung unter die bestehenden Gewalten. Ohne Zweifel ist das eine der 25

29 27 28 29

A. Strobel, Zum Verständnis von Rom. 13: Z N W 47, 1956, 67—93. Dagegen Walker a.a.O. Käsemann, a.a.O., S. 361. Vgl. die Literatur bei Käsemann. Cullmann, a.a.O., S. 81 ff. Vgl. Käsemann und Walker. Cullmann, a.a.O., S. 85.

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Stellen des Abschnittes, an die sich die vielfachen Mißverständnisse des Textes anhängen konnten. Wenn so betont von einer zwingenden Notwendigkeit des Gehorsams die Rede ist, dann legt sich eine Untertanen-Mentalität nur zu leicht nahe. Vor allem aber konnte die Begründung dieser Gehorsamsforderung dazu verleiten, eine Staatsmetaphysik daraus abzuleiten. Denn Paulus begründet ja seine Mahnung damit, daß er sagt: es gibt keine Gewalt, sie sei denn von Gott eingesetzt. Wer sich den Gewalthabern widersetzt, lehnt sich gegen Gottes Anordnung auf. Die Träger der Macht sind Gottes Xeitouqy0^ Gerade diese Aussagen geben natürlich dem Text seine besonderen Schwierigkeiten. Darüber hilft auch nicht hinweg, daß solche Sätze uns auch sonst in der Literatur der jüdisch-hellenistischen Diaspora begegnen.30 Denn mit diesem Vergleich der außerpaulinischen Parallelen ist ja nur ein erster Schritt zum Verständnis des Textes getan. Wichtiger ist die Frage, warum Paulus die traditionelle Mahnung zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und ihre zum Teil traditionelle Begründung, die wir auch bei Josephus und anderen finden, aufnimmt, wie sie in den Gesamtzusammenhang paßt und vor allem, was denn das spezifisch Christliche an Rom. 13 ist. Es ist seit langem umstritten, wie weit man diesen Abschnitt, dessen „Fremdartigkeit... im Zusammenhang der Kapitel 12 und 13 . . . ein altes Kreuz der Ausleger"31 ist, vom Kontext her interpretieren kann und muß. Nun scheint es mir grundsätzlich abwegig, Stellen, die auf den ersten Blick nicht mit dem vorhergehenden Text zusammenzupassen scheinen, durch die Annahme eines Gedankensprunges zu erklären. Vielmehr muß man doch wohl annehmen, daß Paulus sehr wohl wußte, was er schrieb und in welchem Zusammenhang er sich bewegte. So leuchtet der Entwurf Käsemanns ein, der in Rom. 12,1 f. das Leitmotiv für die folgenden Kapitel sieht, d. h. in dem Anfang von Kap. 12 sozusagen die Überschrift für den mit Kap. 12 beginnenden Abschnitt erblickt.32 In der Tat ist die Paränese, auch die in Kap. 13, in diesen ersten Versen von Kap. 12 motiviert. Gegenüber einem abwegigen Enthusiasmus, der das charismatische Handeln in Freiheit mit der Verwerfung der Welt und einer Ungebundenheit der Christen in allen weltlichen Dingen verwechselt, wird hier die Welt als Gottes Schöpfung und als Ort des „vernünftigen Gottesdien30 31 32

Vgl. die Kommentare. Walker, a.a.O., S. 5. Die Einwände Walkers überzeugen midi nicht.

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stes" aufgewiesen. Dieser Dienst hat sich in allen Bereichen des Lebens dieser Welt zu bewähren. Es ist der Dienst, der unter dem Kennzeichen der ungeheuchelten Liebe steht (Rom. 12, 9).33 Gewiß liegt das Schwergewicht der Mahnungen auf der Weisung des Apostels, in der Gemeinde Frieden zu halten, die Schwachen zu tragen usw. Aber sein Blick richtet sich auch über die Grenzen der Gemeinde. „Wenn es möglich ist, so viel an euch liegt, haltet mit allen Menschen Frieden" (12,18). Die Gemeinde lebt ja nicht auf einer Insel der Seligen, sondern in der Welt. Diese Welt wird als Gottes Welt und als Gottes Schöpfung angesehen. Der Apostel weist die Gemeinde an diese Welt, in die Gott seinen Sohn gesandt hat, die er durch Jesus Christus mit sich versöhnt hat (2. Kor. 5,19). Alle Einzelmahnungen in Rom. 12—14 sind jedenfalls in ihrer Aneinanderreihung nur verständlich, wenn man im Auge behält, was Paulus als Folge des „Erbarmen Gottes" ansieht: die Freiheit für den Dienst an den Menschen dieser Welt. Auch die Verse des 13. Kapitels, in denen Paulus nun zu dem Gehorsam gegenüber den politischen Gewalten, und zwar zu einem Gehorsam der bewußten Unterordnung unter gegebene Ordnungen, wie an dem mehrfachen Vorkommen von Derivaten des Stammes iaxx- deutlich wird, aufruft, sind in diesem Gesamtzusammenhang zu sehen. Die Freiheit des mit der Gnade Gottes beschenkten Christen zeigt sich auch in der Freiheit, den Mächten dieser Welt den Gehorsam zu leisten, Steuern zu zahlen usw. Paulus redet zwar davon, daß „jedermann" (näaa ojjtiy_r]) gehorsam sein soll. Aber das ist nicht so zu deuten, als ob er hier einen anderen Kreis anspricht als in Kapitel 12. Vielmehr gilt auch Kap. 13 für die Gemeinde in besonderer Weise, auch wenn Paulus in V. 1 eine für alle Menschen, für Christen und Nichtchristen gültige Aussage macht. Das hängt damit zusammen, daß er eben die ganze Welt als Gottes Schöpfung betrachtet und daher den Gehorsam gegenüber der Ordnung Gottes von allen Menschen erwarten kann. Allerdings darf man es nicht mißverstehen, wenn hier von der Ordnung Gottes im Blick auf den Staat die Rede ist. Paulus gibt keine Staatsmetaphysik, er begründet nicht das Wesen des Staates, er legt dem Staat nicht irgendeine höhere Weihe bei. Vielmehr sieht er diesen Staat mit allen seinen kleinen und großen Herren als gegeben an, kann aber natürlich die Gegebenheiten in dieser Welt nicht anders verstehen als einen Teil 33

Vgl. E. Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt. Zu Römer 12: Exegetische Versuche und Besinnungen II, 198 ff.

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der Ordnung, die von Gott her kommt. Man darf dabei wohl nicht zuviel in den Begriff ,Ordnung' hineingeheimnissen. Er ist in diesem Zusammenhang ganz schlicht gemeint; die in der Welt bestehenden Verhältnisse, in denen es Herrscher und Beherrschte gibt, in denen es Polizei und Gerichte geben muß, in denen Steuer gezahlt wird usw. Paulus führt diese weltliche Ordnung auf Gott zurück. Er entwickelt dabei keine Theologie der Schöpfungsordnungen (die ja vor allem von den Ideen des 19. Jh. bestimmt ist), sondern er sagt ganz einfach, „daß Gott — und zwar zweifellos bei der Schöpfung! — die Welt von vornherein darauf angelegt hat, in ihr Dienst zu ermöglichen, und deshalb Über- und Untergeordnetes erschuf".34 Es ist charakteristisch, daß Paulus diese Begründung noch erweitert durch den Hinweis auf die strafende Tätigkeit der Obrigkeit und die Furcht vor dem Zorn der weltlichen Gewalten mit ins Spiel bringt. Auch das ist sicher nicht genuin paulinisch, sondern ähnliche Hinweise begegnen bei jüdischen Schriftstellern. Aber es wird hier dadurch bedeutsam, daß es noch einmal deutlich macht, wie sehr Paulus den Christen an die irdischen Gegebenheiten verweist. Obwohl aber Paulus in den Ordnungen dieser Welt die Hand des Schöpfers erkennt, ist das ja nun nicht das Wesentliche dieser Verse. Wenn man Rom. 13 im Licht von 12,1 f. sieht, dann wird deutlich, daß diese Mahnung zum Gehorsam gegenüber den vorgegebenen Mächten nur darum gefordert wird, weil damit das „Feld des Dienstes"35 aufgewiesen werden soll. Man hat natürlich oft gefragt, wo denn für Paulus nun die Grenze für den Gehorsam gegenüber den politischen Mächten liegt. Paulus nimmt dazu ebensowenig Stellung, wie er etwas über die Beteiligung der Christen an der politischen Arbeit in einer modernen Demokratie sagt. Aber es ist trotzdem klar, daß es auch für den Apostel eine Grenze des Gehorsams gibt. Käsemann hat das richtig zusammengefaßt: „Christlicher Gehorsam endet immer und allein dort, wo nicht mehr gedient werden kann." 36 Das heißt nun, daß durch Rom. 13 nicht irgendeine Gesellschaftsordnung oder Staatsform als Muster hingestellt wird, daß nicht ein sklavischer Untertanengeist gezüchtet werden soll und daß schließlich auch nicht Revolution im Namen Christi gefordert wird. Sondern das 34

E. Käsemann, Grundsätzliches zur Interpretation von Römer 13: Exeget. Versuche II, S. 215.

35

Käsemann, a.a.O. (s. Anm. 34), S. 219.

36

Ebenda, S. 220.

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ist der Sinn der Verse: der Christ hat in dieser, von Gott ihm zugewiesenen Welt seine Freiheit zu bewahren, und zwar im Dienst. Es ist keine Frage, daß damit nun auch unterschiedlichen Entscheidungen im konkreten Einzelfall Raum gegeben ist. Rom. 13 gibt kein ein für allemal gültiges politisches und staatsbürgerliches Programm. Aber Paulus weist den Weg zu den notwendigen Entscheidungen im Alltag, auch im Alltag der Demokratie. Es ist der Weg des Gehorsams gegenüber Gottes Gebot, gegenüber dem Gebot, das den Christen zum Dienst am Nächsten verpflichtet.

III Es ist absichtlich etwas ausführlicher über die beiden Perikopen gesprochen worden, weil daran doch wohl die grundsätzliche Problematik sich besonders gut verdeutlichen läßt. Man könnte nun noch eine ganze Reihe anderer Stellen des Neuen Testamentes heranziehen, um das Problem Kirche und Staat zu beleuchten. Wichtig wäre vor allem eine nähere Betrachtung von Joh. 18,28—19,16 (Jesus vor Pilatus), weil bei aller johanneischen Eigenart doch eine gewisse Nähe zu Paulus nicht zu übersehen ist: das Johannesevangelium ist gleich weit entfernt von einer krassen Negierung des Staates wie von einer Konzession an das Eigenrecht der weltlichen Obrigkeit. Der Anspruch Gottes in Jesus erreicht auch den Vertreter des Staates, und er muß von diesem realisiert werden im Offensein für die Offenbarung, und d. h. im gerechten und nüchternen Urteilen, speziell im Abweisen der Mordlust der Welt. Die Sünde des Pilatus besteht ja nicht in seinem Handeln als Amtsträger an sich, sondern in der Unsachlichkeit, im Mißbrauch des Amtes und des Staates durch die Welt. Ohne nun unerlaubte Harmonisierungen vornehmen zu wollen, wird man doch sagen dürfen, daß sich diese Gedanken mit denen des Paulus durchaus zusammenfügen. Sehr viel schwieriger ist es nun, in Kürze etwas zu der Haltung der Offenbarung des Johannes zum Staat zu sagen. Das hängt zunächst damit zusammen, daß gerade dieses Buch des Neuen Testamentes sehr verschiedenartigen Deutungsversuchen ausgesetzt ist. Man hat es zeitgeschichtlich, heilsgeschichtlich oder endgeschichtlich interpretieren wollen. Wichtig scheint mir zu sein, daß man klar erkennt, wie stark traditionelles Material mit eigenen Erfahrungen des Sehers und mit Ereignissen

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in seiner Gemeinde verknüpft sind, so stark, daß keine der genannten Methoden wohl als einzig richtige anzusehen ist. Diese Überlegung ist gerade im Blick auf die uns beschäftigende Frage wichtig. So ist im Kapitel 17 und 18 ohne Zweifel unter dem Decknamen Babel Rom anvisiert. In der Gestalt des altorientalischen Chaostieres steigt das Reich als ein siebenköpfiges Ungeheuer aus dem Meer, die ganze Welt betet es an. Auf ihm aber sitzt Rom, die Dirne, gekleidet in Purpur und Scharlach. Daß in diesem Zusammenhang auch von den Märtyrern die Rede ist, zeigt, daß man Rom als die Stadt der christlichen Märtyrer kannte. 37 Besondere Beachtung verdient Kap. 13, das Tier aus dem Meer, das der Antichrist ist, aber zugleich aktuell auf Rom gedeutet wird. Man wird die Szene doch so zu deuten haben, daß der offensichtlich vorhandene mythologische Stoff benutzt ist, um zum Ausdruck zu bringen, wodurch sich die Christen von der übrigen Bevölkerung unterscheiden: sie verweigern dem Kaiser die kultische Verehrung. Das wird auch in der Fortsetzung (das Tier aus dem Lande) deutlich. Denn hier ist konkret von der Scheidung die Rede, die auf Erden vor sich geht zwischen den Anbetern des Kaisers und denen, die diese Anbetung verweigern. Im Hintergrund dieser Kapitel der Offbg. steht die Tatsache, daß Domitian in Kleinasien den Kult seiner Person in ungeahntem Maße aufgezogen hat. 38 Der Seher sieht die Gefahr, daß die christliche Gemeinde in diesen Strudel der Abgötterei hineingezogen wird. Aber man wird ihm nicht unterstellen können, daß er im Staat schlechthin das Tier aus dem Abgrund sieht. Anstößig ist vor allem und beinahe allein der Kaiserkult und damit die Vergötzung des Staates. Sicher gibt es in der Offbg. keine Aufforderung zur Loyalität gegenüber den politischen Mächten. Aber man beachte doch auch, daß die Sendschreiben an die Gemeinden (2,1—3,20) im Gegensatz zu Kap. 13 sehr gedämpft klingen. Es wird eben nicht eine kontinuierliche Staatsfeindschaft gepredigt. Vielmehr ist der Staat nur dann eine Gefahr für die Kirche, wenn er sich zum Gottesersatz aufschwingt. Lassen sich nun Linien von der Apokalypse zu dem Zinsgroschenwort und zu Paulus ziehen? Damit ist die Frage nach der einheitlichen Stellung des Neuen Testaments zum Staat erneut aufgenommen. Die Frage ist sicher falsch gestellt, wenn man damit meint, ein einheitliches System der politischen Ethik aus dem Neuen Testament ableiten zu kön37

Zu Einzelheiten vgl. die Kommentare, v. a. E. Lohmeyer und E. Lohse.

38

Vgl. R. Schütz, Die Offenbarung des Johannes und Kaiser Domitian, 1933.

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nen. Das Neue Testament ist Zeugnis von der frohen Botschaft von Gottes Gnade in Jesus Christus. Es ist aber Zeugnis sehr verschiedener Menschen, niedergeschrieben in sehr verschiedenen Situationen. Aber es bleibt doch Zeugnis von einer Sache, nämlich von Gottes Erbarmen. Daraus sind nun jeweils in den verschiedenen Situationen auch verschiedene Antworten auf die Frage nach dem Staat abgeleitet. Man darf aber diese Zeugnisse nicht gegeneinander ausspielen, sie aber auch nicht harmonisieren, sondern muß sie jedes in seiner Eigenart hören und verstehen. Man würde z. B. die Apokalypse mißverstehen, wenn man sie nur aus ihrem Gegensatz zu dem apotheosierten Imperium verstehen wollte. Von diesem Gegensatz her hat die urchristliche Botschaft in ihrer Vielfalt nicht ihren Ursprung und ihren Grund gefunden. Wohl aber hat sie sich in diesem Gegenüber bewährt und hat damit der Welt den schuldigen Dienst geleistet. Das Neue Testament ist kein Gesetz. Es gibt daher keine Weisungen zum staatlich-politischen Handeln in Einzelfragen. Wohl aber — und darin wird eine echte Einheitlichkeit sichtbar — spricht das Neue Testament von einer Erfahrung und von einem Glauben aus, von dem her nun auch das Handeln in dieser Welt seine Richtung und sein Ziel erhalten. Das ist der Glaube an die Wende, die in Jesus Christus angebrochen ist. Dadurch ist die Welt nicht zum Reiche Gottes geworden, wohl aber ist sie mit Gott versöhnt und kann nun Gott geben, was Gottes ist. Zugleich aber ist der, der von diesem Ruf zum Glauben erfaßt wird, auch zum Gehorsam in dieser Welt berufen. Er wird zum Dienst gerufen, der sich auch im Gebet für die Obrigkeit äußert (1. Tim. 2, 1 f.). Gewiß wird es Konflikte geben, wenn der Staat sich zum Gott macht. Aber auch dann wird nicht zur Revolution aufgerufen, sondern zu Geduld und Glauben. Das ist sicher nicht als eine resignierende Haltung zu verstehen, sondern als der legitime Weg des Leidens in der Nachfolge. Oberstes Gebot bleibt in allem: Bietet eure Leiber als ein lebendiges Opfer, einen vernünftigen Gottesdienst dar (Rom. 12,1). Der Grund dafür ist nicht irgendeine konservative oder reaktionäre Haltung, auch nicht irgendeine Staatsmetaphysik, sondern einzig und allein Gottes Erbarmen, der seine Welt erlöst hat und seine Kinder zum Dienst in der Welt bestimmt hat.

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Kirche und Staat in der alten Christenheit Die große Verfolgung war zu Ende. Konscantin hatte am 28. Oktober 312 vor den Toren Roms über Maxentius gesiegt. Maximinus Daja war von Licinius geschlagen worden. Diokletian war tot. Das Reich war unter Konstantin und Licinius aufgeteilt worden. Die christliche Kirche hatte in dem Edikt des Galerius von 311 wie im Mailänder Erlaß des Konstantin und Licinius von 313 nicht nur ihren verlorenen Besitz wiedererlangt, sondern vor allem die Anerkennung der Gleichberechtigung mit den anderen Kulten des Reichs und die Freiheit zu ungehinderter Wirksamkeit erhalten. Damals schreibt Laktanz eine Schrift „Uber den Tod (oder: die Todesarten) der Verfolger" (De mortibus persecutorum), einen Rückblick auf dreihundert Jahre Begegnung zwischen Kirche und Staat. „Bitte den Herrn", so schließt die Schrift mit einer Anrede an den Adressaten Donatus, „daß er gnädig und milde seine Barmherzigkeit auch seinen Dienern erhalte, daß er alle Nachstellungen und Angriffe des Teufels von seinem Volke fernhalte und über den ständigen Frieden der aufblühenden Kirche wache." 1 Von den Nachstellungen und Angriffen auf die Kirche in den abgelaufenen drei Jahrhunderten will Laktanz berichten. Wie tut er das? Im ersten Kapitel setzt er mit der triumphierenden Feststellung ein, daß Gott Herrscher erweckt habe, welche die gottlosen und blutdürstigen Befehle der Tyrannen aufgehoben haben2. Die Verschwörung der Gottlosen ist erstickt, die Tränen der Trauernden sind getrocknet3. Im zweiten Kapitel ist der Berichterstatter bereits bei Nero (54—68 n. Chr.) angelangt, dem „ersten von allen, welche die 1 2 3

2*

52, 5, ed. Brandt/Laubmann CSEL 27, 2,2; S. 237 f. 1, 3; S. 172 1,4; S. 172

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Diener Gottes verfolgten" 4 Aber das Ungeheuer wurde so gründlich vertilgt, daß man nicht einmal seine Grabstätte mehr finden konnte 5 , und der Glaube entstand, Nero werde als Vorläufer des Teufels wiedererscheinen, wenn dieser zur Verwüstung der Erde am Ende der Zeiten kommen werde 6 . Als „einige Jahre später" 7 Domitian (81—96 n. Chr.) seine Herrschaft als „nicht geringerer Tyrann" antrat, blieb er zunächst trotz aller Untaten ungefährdet. Aber als er sich „durch Eingebung der Dämonen zur Verfolgung des gerechten Volkes (der Christen) hinreißen ließ" 8 , verfiel er alsbald der verdienten Strafe. Er wurde in seinem Palast ermordet und sein Andenken ausgetilgt 9 . Erst „nach vielen Jahren" trat wieder ein „execrabile animal" auf 10 , um die Kirche Gottes zu bedrängen — damit ist die Darstellung im 4. Kapitel bereits bei Kaiser Decius (249—251 n. Chr.) angelangt. Aber auch dieser wurde alsbald ausgerottet; „der von den Barbaren in der Schlacht Getötete blieb, wie es sich für einen Feind Gottes gehört" 11 nackt auf dem Schlachtfeld liegen, als Fraß für die wilden Tiere und die Vögel. Der nächste Verfolger, Valerian (253—260 n. Chr.), erstand bald darauf. Von gleicher Wut wie Decius ergriffen „streckte er die frevelhaften Hände gegen Gott aus und vergoß in kürzester Zeit viel gerechtes Blut" 12 . Er geriet in persische Gefangenschaft und mußte dort ein schimpfliches Leben in Knechtschaft führen 13 . Seinem Leichnam wurde schließlich die Haut abgezogen und diese als Triumphzeichen in einem der Barbarentempel aufbewahrt 14 . Als Aurelian (270—275 n. Chr.) schließlich „den Zorn Gottes durch grausame Taten reizte", kam er nicht einmal zur Durchführung seiner Pläne, sondern wurde „in den Anfängen seines Wütens ausgelöscht"15, die eigenen Freunde ermordeten ihn. Damit ist Laktanz mit Kapitel 7 seines Werkes bereits zur Behandlung der Herrschaft des Diokletian (284—305 n. Chr.) und seiner Mit4 5 9 7 8 9 10 11 12 13 14 15

2, 2, 2, 3, 3, 3, 4, 4, 5, 5, 5, 6,

6; S. 175 7; S. 175 8; S. 175 1; S. 176 2; S. 177, 3 f. 2; S. 177, 6 f. 1; S. 178 3; S. 178 1; S. 178 2—5; S. 178 f. 6; S. 179 1; S. 179

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regenten fortgeschritten, welche in die im Jahre 303 ausbrechende Christenverfolgung ausmündet. In 45 Kapiteln 16 schildert er sie in aller Ausführlichkeit, seine Schrift ist so zu einer der wichtigsten Quellen für die Kirchengeschichte jener Epoche geworden. Auch hier widmet er den „Todesarten der Verfolger" besondere Aufmerksamkeit: Galerius wird von Würmern stückweise von innen her aufgefressen 17 , Diokletian stirbt einsam, nachdem mit den Bildsäulen des Maximian auch die seinen gestürzt worden sind18 und seine Tochter Valeria verbannt worden ist19. Maximinus Daja nimmt Gift und verfällt bis zu seinem schließlichen Tode in pestartige Krankheit, dabei Qualen erleidend, als ob er bei lebendigem Leibe verbrannt würde 20 . Die Strafe macht nicht bei den Verfolgern selbst Halt, auch ihre Familien werden von ihr heimgesucht: alle Frauen und Kinder rafft gewaltsamer Tod dahin21. „Der Herr hat sie vertilgt und von der Erde weggewischt", so lautet die Summe, die Laktanz zieht22: „Laßt uns deshalb den Triumph Gottes mit Frohlocken feiern und den Sieg des Herrn immer wieder preisen!" 23 Außer mit den zeitgenössischen Herrschern befaßt sich Laktanz mit fünf Kaisern, in der Zeit von Nero bis zum Herrschaftsantritt Diokletians haben jedoch über 30 regiert. Was ist über sie zu sagen? Aus der Sicht des Laktanz, wie es scheint, nichts, sie fallen offensichtlich alle unter die zusammenfassende Charakteristik des Kapitels 3 seiner Schrift: „in den (auf Domitian) folgenden Zeiten, in denen viele und gute Herrscher das Steuer des römischen Reiches führten, dehnte (die Kirche), durch keinen Angriff der Feinde gestört, ihren Einfluß in den Osten und den Westen aus, so daß kein Winkel der Erde so entlegen war, wohin nicht die Verehrung Gottes vorgedrungen wäre" 24 . Das scheint eine sehr verkürzte Geschichtsbetrachtung, aber so hat die Kirche an der Schwelle des Sieges die Kaiser und den Staat der vergangenen Jahrhunderte gesehen. Sie tat es auch nicht erst damals so, sondern über hundert Jahre vor 16 17 18 19 20 21 22 23 24

K a p . 7—51; S. 179—236 K a p . 33; S. 210 ff. K a p . 42; S. 221 f. Kap. 40 f.; S. 219 ff. K a p . 49; S. 234 K a p . 50 f.; S. 235 f. 52, 3; S. 237 5 2 , 4 ; S. 237 3 , 4 f.; S. 177

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Laktanz finden wir genau die gleiche Auffassung schon bei Tertullian 25 . In Kapitel 5 seiner „Verteidigung des Christentums" (Apologeticum) stellt Tertulian die Geschichte des Reiches bis auf seine Zeit ganz nach demselben Schema dar: Nero hat als erster mit dem kaiserlichen Schwert gegen die Christen gewütet26, was für die Christen angesichts der Minderwertigkeit dieses Kaisers jedoch als Auszeichnung angesehen werden muß. Nach ihm hat nur noch Domitian, „der Grausamkeit nach von Neros Art", Ähnliches versucht27. Aber selbst er hat sein Vorgehen bald eingestellt27. Nur Menschen wie Nero: „Ungerechte, Gottlose, Unsittliche", die auch von den Heiden verurteilt zu werden pflegen, haben das Christentum verfolgt. Tertullian wagt sich sogar bis zu der Aufforderung an die Heiden vor: Könnt ihr unter den Nero und Domitian folgenden Kaisern auch nur einen Bekämpfer der Christen vorweisen?28 Tiberius29 wie Mark Aurel30 reiht er unter die direkten und indirekten Beschützer des Christentums ein, Trajan habe die gegen die Christen erlassenen Gesetze sogar zum Teil umgangen, Hadrian, Vespasian, Antoninus Pius, Verus hätten sie nicht verschärft31 — das genügt ihm, auch sie aus der Reihe der Verfolger auszuschließen. Bei einer solchen Auffassung und Darstellung des Verhältnisses der Kaiser und des Reiches zum Christentum ist das "Wunschdenken bestimmend. Es beherrscht nicht nur Laktanz und Tertullian, sondern die ganze alte Kirche. Sorgfältig spähte man nach Anzeichen für die religiöse Haltung der Kaiser aus. Sobald ein Kaiser, von Toleranz oder auch nur Gleichgültigkeit bestimmt, nichts gegen die Christen unternahm, galt er ihnen als ihr heimlicher Patron. Das war selbst dann der Fall, wenn er lediglich, durch äußere und innere Schwierigkeiten zu sehr in Anspruch genommen, zu einem Vorgehen gegen die Christen keine Zeit fand oder seine Herrschaft zu schwach war, um Kräfte dafür freizugeben. Zeigte er 25

29 27 28 29 30 31

Und noch vor ihm bei Melito von Sardes, der als einzige Kaiser, welche das Christentum zu vernichten sich bemühte, Nero und Domitian anführt. Selbst diese hätten aus Unkenntnis gehandelt und seien durch böse Menschen dazu angestiftet worden. Ihre Nachfolger, die frommen Vorfahren des Kaisers, hätten das jedoch wieder in Ordnung gebracht, Euseb, hist. eccl. IV, 26, 9 f.; Sdiwartz I, 386. 5, 3; ed. Becker; S. 74 5,4; 5 , 5; 5, 2; 5, 6; 5, 7;

S. 74 S. 74 S. 74 S. 74 S. 76

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auch nur leise Sympathie für einen Christen oder Interesse für das Christentum, wurde er von den Christen als verborgener Anhänger ihres Glaubens gepriesen. Die wenigen Edikte, die zugunsten der Christen sprachen oder sich wenigstens so auslegen ließen, wurden sorgfältig überliefert, mochte ihre Herkunft gelegentlich auch zweifelhaft sein. Dabei wurde die Qualität eines Herrschers vornehmlich an seiner Stellung zum Christentum gemessen. Mochte unter ihm die Stellung des Reiches wanken, mochte es unter dem Ansturm von außen auch in der Gefahr sein, wichtige Gebiete zu verlieren — ein den Christen nicht feindlich gesonnener Kaiser war in jedem Fall ein guter Kaiser und ein großer Herrscher. Das ist verständlich. Denn die Christen der ersten drei Jahrhunderte lebten mit der Verfolgung — um ein modernes Diktum abzuwandeln. Man findet immer wieder Versuche, die Zahl der Märtyrer und den Umfang der Verfolgungen herabzusetzen32. Dafür lassen sich Argumente ins Feld führen: das Christentum wird erst in der Mitte des 3. Jahrhunderts, unter Decius und Valerian, zum erstenmal über das ganze Reich hin systematisch verfolgt, danach ist erst unter Diokletian noch einmal der Versuch einer Ausrottung des Christentums im ganzen Reich unternommen worden. Die Zahl der alten Märtyrerakten ist auch nicht allzu groß. Man kann sich, wenn man will, anscheinend sogar auf Origenes und seine Schrift gegen Celsus33 dafür berufen, daß die absolute Zahl der Märtyrer zumindest in der Frühzeit nicht sehr groß gewesen sei. Niemand Geringerer als Harnack hat das schon vor über 40 Jahren getan, Grégoire noch in allerneuester Zeit. Wenn Harnack erklärt: „Origenes bemerkt ausdrücklich, daß die Zahl der Märtyrer ,klein sei und leicht zu zählen'" 34 , so bleibt bei dieser Bewertung allerdings der Kontext außer Betracht. Zieht man ihn — wie unbedingt erforderlich — heran, ergibt sich jedoch ein anderes Bild35. In III, 5—836 verteidigt Origenes das Christentum gegen den Vorwurf des Celsus, daß die Juden wie die Christen Aufrüh32

33 34

35

Ein charakteristisches Beispiel bietet H. Grégoire, Les Persécutions dans l'Empire Romain, 2. Aufl. Brüssel 1964 (Acad. royale de Belgique, Classe des Lettres, Mémoires 56, 5), vgl. insbesondere S. 165 ff. III, 8, ed. Koetschau GCS, 1, 209 Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 4 1924, 1, 505 Grégoire zitiert zwar den vollen Text; daß er trotzdem weder den Skopus des Abschnittes noch seine wirkliche Aussage wahrnimmt, liegt an seiner vorgefaßten Meinung. III, 5; Koetschau 1, 206 ff.

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rer seien, für beide gelte die Anklage, daß die Neuerung, die sie brachten aus dem Aufstand gegen das Gemeinwesen und dessen Kultus entstanden sei37. Die Juden hätten ursprünglich zu den Ägyptern gehört, im Aufruhr hätten sie sich gegen ihre Nation erhoben, das Land verlassen und in Palästina eine neue Heimstatt gefunden 38 . Das Christentum sei aus einem Aufstand von Juden gegen das jüdische Gemeinwesen entstanden39. So habe das Christentum zwar den Juden heimgezahlt, was diese einst den Ägyptern angetan hatten40, aber geringer werde ihre Schuld dadurch nicht. Bereits in III,7 41 legt Origenes allen Nachdruck auf den Nachweis, daß nicht Aufruhr (atáaig) Ursache für die Entstehung der christlichen Gemeinden gewesen sei. Wie könnten die Christen sich sonst Gesetze gegeben haben, fragt er, die es ihnen untersagten, sich gegen ihre Verfolger zu wehren, und sie in die Lage brachten, sich wie Schafe hinschlachten zu lassen?42 Den Christen sei schon die Tötung eines Menschen schlechtweg verboten. So sei es ganz ausgeschlossen, daß „die Entstehung der Christen ihren Anfang in einem Aufstand genommen habe". Damit schließt Origenes seinen Gedankengang 43 . Kurz vorher steht die in Betracht kommende Stelle, die nur vom Gesamtzusammenhang her richtig gedeutet werden kann: Aufruhr ist ein strafbares Verbrechen, die Christen sind dessen nicht schuldig, würde ihre Verfolgung doch sonst unter einem Rechtstitel geschehen. Wenn die Christen erfolgreich gewesen sind und die Kirche sich immer weiter ausgebreitet hat, dann ist das dem Eingreifen Gottes zuzuschreiben, erklärt Origenes. Nicht die Christen haben Krieg geführt, denen ja die Erlaubnis dazu versagt ist, sondern Gott hat das für sie getan und immer rechtzeitig die Pläne derer vereitelt, die sie vernichten wollten. Zwar seien zu (bestimmten) Zeiten (xatä xaipovg) wenige und sehr leicht zu zählende (öMyoi... xai acpciöoa Evapift[iT|Toi) Christen um ihres Glaubens willen getötet worden, aber das sei nur geschehen, um die Christenheit im Glauben und in der Verachtung des Todes zu stärken44. Schon hier ist deutlich, 37 39 39 40 41 42 43 44

III, 5; III, 6; III, 7; III, 5; S. 207 III, 7; 111,8; III, 8;

S. 206 S. 207 S. 207 f. S. 206 f. S. 208 S. 209 S. 209, 9—12

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weshalb Origenes so redet — setzte er die Zahl der Opfer der Verfolgungen zu hoch an, würde die Argumentation des Celsus indirekt gestützt. Auch ihm ist die Verfolgung eigentlich das Normale, nur von Zeit zu Zeit — wenn die Drangsale zu schlimm wurden — hat Gott das Wüten derer unterbrochen, welche die Christen töten wollten 45 . Wenn er im Anschluß daran fortfährt: „daß aber ihre Gesamtheit in einen Krieg ( = Verfolgung) verwickelt würde, das hat Gott verhindert" (•/ccoMovcog fteoC TÖ jtöiv EXjtoXEixr)^f)vai aiiTcöv efrvog)46, dann ist ganz deutlich, daß Origenes die Zahl der Märtyrer nicht so klein und Ausmaß wie Bedeutung der Verfolgungen nicht so gering ansetzt, wie das nach Harnack und anderen bis heute immer wieder angenommen wird. Im Anfang seiner Schrift schlägt er ja auch ganz andere Töne an. Hier spricht er47 davon, daß der römische Senat, die jeweiligen Kaiser (ot xata X O I I Q Ö V ßaaiXsig) die Truppen, die Bevölkerung, ja die Verwandten der Christen selbst die christliche Verkündigung bekämpft hätten. Einem derartigen Angriff hätte sie erliegen müssen ( V I X T I M V T C I iixö xfjg T Ö I V xoaoiJTiov ErußoiAfjg), wenn die göttliche Kraft sie das nicht hätte überstehen lassen, so daß sie die ganze sie bekämpfende Welt hätte überwinden können. Wenn die Zahl alter echter Märtyrerakten gering ist, so sollte bei der Wertung dieser Tatsache nicht vergessen werden, daß selbst die von Euseb veranstaltete Sammlung von frühen Märtyrerberichten verlorengegangen ist, auf die er in seiner Kirchengeschichte mehrfach hinweist 48 . Wenn es dem Werk Eusebs so ergehen konnte, so ist nicht verwunderlich, daß isolierte Niederschriften oder auch Sammlungen einzelner Gemeinden oder Kirchengebiete dasselbe Schicksal erlitten. Der erste Stoß einer Verfolgung, sobald sie sich auf eine ganze Gemeinde oder eine Kirchenprovinz erstreckte, galt dem Zentrum der Gemeinde und ihrem Archiv, in dem man hoffen konnte, Unterlagen über die Gemeinde und ihre Mitglieder zu finden. U n d was die früheren Heimsuchungen übrig gelassen hatten, war in den langen Jahren der diokletianischen Verfolgung endgültig vom Untergang bedroht. Hier kann unmöglich eine Geschichte der Christenverfolgungen ge43 46 47 48

III, 8; S. 209, 7 ff.: xoü { I J I E Q O U J T Ü V IT0/.£ur|0a\'X05 Ü E I jtai y.axd xaiooii; jtaiiaavxo; xoiiq y.axa Xpiaxiavüv iaxauivou^ xal ävaiptiv onjxoüg OeXo'vxag. III, 8; S. 209, 12 f. I,3;S. 57 f. vgl. hist. eccl. IV, 15, 47; Schwanz GCS, 2, 1, 354. V, Proem. 1; 2, 1, 400. V, 4, 3; 2, 1,434. V, 21, 5; 2, 1,486.

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boten werden, nicht einmal in Stichworten ist das möglich49. Es genügt, um die tatsächliche Situation der Christen in den ersten Jahrhunderten zu beleuchten, auf einen Kaiser einzugehen, den Tertullian ausdrücklich als Beschützer der Christen vorführt: Mark Aurel. In seiner Regierungszeit (161—180) ist Justin den Märtyrertod gestorben. In seiner sog. 2. Apologie sagt Justin bereits voraus, daß man ihn verfolgen werde50. Diese Schrift ist wahrscheinlich (als Schluß der sog. 1. Apologie) vor dem Regierungsantritt Mark Aurels geschrieben. Aber sie beleuchtet mit ihren Berichten die Zustände, in die Mark Aurel eintrat: Unter dem Präfekten Urbikus 51 war eine vornehme Christin von ihrem (heidnischen) Mann, von dem sie sich wegen seiner Lebensführung trennen wollte, denunziert worden. Als sie, offensichtlich zu vornehmen Kreisen gehörend, einen Aufschub des Verfahrens gegen sich erreicht hatte, veranlaßte der Ehemann die Verhaftung des Ptolemäus, der sie im Christentum unterwiesen hatte52. Ihm wurde der Prozeß gemacht, auf sein bloßes Bekenntnis zum Christentum hin wurde er zum Tode verurteilt. Als ein Zuhörer, Lucius, gegen das ungerechte Urteil protestierte, wurde er befragt, ob er Christ sei. Auf seine bejahende Antwort traf auch ihn sogleich des Todesurteil 53 , ebenso wie einen dritten, der anscheinend ähnlich wie Lucius reagiert hatte54. Daß wir außer Justin noch fünf andere Apologeten kennen: Tatian, Miltiades, Apollinaris von Hierapolis, Melito von Sardes und Athenagoras, die unter Mark Aurel mehrfach literarisch zur Verteidigung der Christen aufgetreten sind, dürfte kein Zufall sein. Die Schriften des Miltiades und Apollinaris sind vollständig verlorengegangen, von der Apologie des Melito kennen wir nur wenige Sätze 55 . Sie wissen von neuen Erlassen gegen die Christen in Kleinasien zu erzählen („was noch niemals geschehen ist", muß Melito entsprechend seiner Gesamtschau der Dinge 49

Eine gedrängte Übersicht geben das Budi von J . Moreau, Die Christenverfolgung im römischen Reich, Berlin 1961, und der Artikel „Christenverfolgung I." von J . Vogt im Reallexikon für Antike und Christentum II, 1159—1208 (bei beiden weitere Literaturangaben).

50

3, 1; ed. Krüger, 3 1904, S. 62

51

Seine Amtszeit reichte bis 160.

52

II, 2, 9 ff.; S. 61 f.

58

11,2,15 f.; S. 62

54

II, 2, 20; S. 62

55

Euseb zitiert sie in seiner Kirchengeschidite IV 26, 5—11, Schwartz 2, 1, 384—386,

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erklären56). Tatian bietet nichts zu unserem Thema, weil seine „Apologie" in Wirklichkeit ein (maßloser) Angriff auf die griechisch-römische Denkund Lebensweise, ihre Philosophie und Religion ist, denen er die der „Barbaren" gegenüberstellt. Eine Verteidigung der Christen gegen die Vorwürfe gegen sie und die Angriffe auf sie kommt bei ihm nicht vor. Anders bei Athenagoras in seiner „Bittschrift für die Christen": Gleich in der Einleitung spricht er davon, daß die Bevölkerung die Christen um ihres bloßen Namens willen betrügt, sie vertreibt, ausplündert, verfolgt 57 . Auf Leib und Leben richtet sich die Verfolgung, wenn es keinen irdischen Besitz mehr zu holen gibt58, die Christen werden von den Denunzianten hingeschlachtet59. Ans Ende der Regierung Mark Aurels gehört die Verfolgung der Christen Galliens. Ein Bericht der Christen von Lyon und Vienne darüber an die Gemeinden Kleinasiens ist uns glücklicherweise bei Euseb erhalten80 und gibt uns einen Einblick in die Situation der beiden Gemeinden. Zunächst verhängt man einen Boykott über die Christen: die öffentlichen Bäder, der Markt, die Straßen sind für sie gesperrt. Sie sind der Lynchjustiz der Bevölkerung preisgegeben: man beschimpft sie, schlägt sie, plündert sie aus, wirft mit Steinen nach ihnen, sperrt sie ein, bis sie schließlich im Tumult auf den Marktplatz vor die städtischen Autoritäten geschleppt werden. Diese werfen sie ins Gefängnis61. Die Zahl der Gefangenen nimmt ständig zu, bis schließlich in beiden Gemeinden alle Christen verhaftet sind, die irgendeine Position in ihr einnahmen oder besonderes Ansehen besaßen62. Dabei beschränken sich die Verhaftungen nicht auf die Christen selbst, sondern sie erstrecken sich auch auf deren heidnische Dienerschaft. Diese liefert aus Angst vor den Foltern, welche sie die Christen erdulden sieht, den Behörden die von diesen bisher vergeblich gesuchten Geständnisse über sittliche Vergehen der Christen63. Darauf erhebt sich die Volkswut von neuem. Nachdem eine Reihe von Christen ohne Unterschied des Alters und Geschlechts auf ausgesuchte Weise 56 57 58 59 60 91 62 63

hist. eccl. IV, 26, 5; Schwanz 2, 1, 354. Vgl. Anm. 26. Schwanz T U 4, 2, 1 S. 2, 11 f. 1; S. 2, 24 f. 1; S. 2, 16 hist. eccl. V, 1—2; Schwanz 2, 1, 402—434 V, 1, 5 ff. Schwanz, 2, 1, 402 ff. V, 1, 13; Schwanz 2, 1, 406 V, 1, 14; Sdiwartz 2, 1, 406

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gefoltert worden sind, werden sie schließlich in einem Schauprozeß verurteilt: die römischen Bürger werden enthauptet, die anderen im Amphitheater wilden Tieren vorgeworfen 64 oder auf andere Weise umgebracht. Wer im Gefängnis stirbt, wird den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Die zerfleischten oder vom Feuer teilweise verzehrten Leichname werden dann sechs Tage lang unter militärischer Bewachung zur Schau gestellt, schließlich verbrennt man sie und streut die Asche in die Rhone65, weil man meinte, den Toten dadurch den Weg zur Auferstehung zu versperren. Diesem Bericht über die Ereignisse in Gallien, der um ein Vielfaches ausführlicher hätte gehalten sein können, ist nichts hinzuzufügen außer vielleicht eine kurze Darstellung der tatsächlichen Situation der Christen, wie sie sich aus den Schriften Tertullians ergibt, desselben Tertullians, der so positive Aussagen über das Verhalten der Kaiser gegenüber den Christen macht. Wir beginnen am besten mit seinem Apologeticum 68 , in dem diese positiven Aussagen stehen. Gleich eingangs spricht Tertullian von dem odium erga nomen Christianorum 67 , das unter der Bevölkerung herrsche (die Schrift ist an die Statthalter gerichtet, welche die Prozesse gegen die Christen zu führen hatten 68 ). Die Tatsache des Christseins als solche werde bereits als Verbrechen angesehen, ihr gilt der Haß 69 . Non licet esse vos, „es ist nicht erlaubt, daß ihr existiert", das ist die herrschende Ansicht 70 . „Jeden Tag werden wir belauert, täglich werden wir verraten, sehr häufig selbst bei unseren Versammlungen und Gottesdiensten überfallen" 71 . „Wenn der Tiber Hochwasser hat, wenn der Nil die Felder nicht überflutet, wenn der Himmel stillsteht (d. h. die Witterung sich nicht ändert), wenn die Erde sich bewegt, wenn eine Hungersnot, wenn eine Seuche ausbricht, wird sogleich geschrien: Die Christen vor den Löwen!" 72 Das ist die tatsächliche Situation der Christen nach dem Apologeticum des Tertullian. Gleich fünf seiner Schriften sind in der Verfolgung oder 64 95 68 67 98 69 70 71 72

V, 1, 47; Schwanz 2, 1, 420 V, 1, 59.62; Schwanz 2, 1, 424, 426 Parallel dazu A d nationes in seinem ersten Buch. 1 , 4 ; Becker S. 54 1, 1; ebda 3, 5; S. 66 u. ö. 4, 4 ; S. 70 7, 4; S. 80 40, 2; S. 188

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um einer Verfolgung willen geschrieben: Ad martyras, Scorpiace, De fuga in persecutione, De corona militis, Ad Scapulam. Die zweite und die dritte gelten denen unter den Christen, welche meinen, man könne der Verfolgung entweder durch Verleugnung oder durch Flucht ausweichen. Scorpiace nennt Tertullian die eine: Mittel gegen den Skorpionenstich (der Gnostiker, welche lehren, man brauche das Martyrium nicht auf sich zu nehmen; es genüge das Bekenntnis vor Gott, das vor den Menschen sei nicht nötig), die andere wendet sich in ihrem Titel: „Uber die Flucht in der Verfolgung" schon gegen die Meinung, man dürfe einer Verfolgung ausweichen. Hier macht Tertullian (die Schrift ist in der Spätzeit, nach seiner Hinwendung zum Montanismus geschrieben) Front gegen eine Erweichung der christlichen Strenge: die Verfolgungen sind von Gott gesandt, zur Erprobung der Glaubensstärke der Christen, deshalb gilt es, nicht vor ihnen zu fliehen, sondern ihnen standzuhalten. Die Schrift De Corona militis, „Uber den Kranz des Soldaten", ebenfalls aus der montanistischen Spätzeit, legt an einem Einzelfall dar, wie die Haltung der Christen auszusehen habe. Bei der Verteilung einer kaiserlichen Geldspende an die Truppen treten die Soldaten mit Lorbeerkränzen auf dem Haupt an. Einer von ihnen hält den Kranz jedoch in der Hand 73 . Den einen ist das ein Anlaß zur Belustigung, den anderen zum Zorn. Die Unruhe unter der Truppe fällt auf, Offiziere greifen ein. Der Soldat wird vom Tribun befragt, weshalb er so handle, seine Antwort lautet: Christianus sum74. Er legt seine Waffenrüstung und seine Uniform ab und erwartet im Kerker den Märtyrertod 75 . Dieses Verhalten führt zu Diskussionen, nicht nur unter den Heiden, sondern auch unter den Christen. Sie meinen, der Soldat habe unbesonnen gehandelt und sich voreilig zum Tode gedrängt. Seine Provokation habe die christliche Gemeinde in unnötige Gefahr gebracht. Tatsächlich haben die anderen, anscheinend an Zahl nicht geringen76, Christen unter der Truppe den Lorbeerkranz wie ihre heidnischen Mitsoldaten getragen, weil sie — wie die Christen außerhalb des Heeres — meinten, das sei ein Adiaphoron und nicht Anlaß zum Bekenntnis. Dagegen wendet sich Tertullian in seiner Schrift mit vielen Gründen, die hier nicht angeführt zu werden brauchen; für ihn ist der Soldat, der lieber das Martyrium auf sich nahm, als sich nach heidnischer Sitte zu be73

I, l ; e d . G e r l o C C 2, 1039

74

1 , 2 ; ebda

75

1 , 3 ; 2, 1039 f.

78

tot fratres commilitones, sagt Tertullian I, 4 ; 2, 1040

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kränzen, der einzige Tapfere, der einzige Christ 77 . Ihm sind die Märtyrer die Benedicti, wie er schon in seiner Trostschrift an die Märtyrer (Ad Martyras) aus der Frühzeit mehrfach sagt78. Sie kämpfen den rechten Kampf für den Herrn. Der heilige Geist hat sie bisher geleitet, sie sollen sich kurz vor Erreichung des Todes vom bösen Feind nicht noch in Versuchung führen lassen. Bereits im Apologeticum war deutlich geworden, wie oft und wie sehr der Christ mit blutiger Verfolgung rechnen mußte. Auch aus den anderen Schriften Tertullians klingt das deutlich heraus. Die Frühschrift Scorpiace ist geschrieben, als die Hitze der Verfolgung ihren Höhepunkt, ihre Hundstage (canicula), erreicht hat, vom Hundskopf (cynocephalus) geleitet79. Feuer, Schwert, wilde Tiere, Auspeitschungen, Folter und Gefängnis erleiden die Christen. „Wie Hasen bei der Treibjagd sind wir von weither umzingelt", ruft Tertullian ,aus80. Seine Spätschrift, Ad Scapulam, an den Statthalter der Africa proconsularis Scapula gerichtet, ist aus Anlaß einer von diesem entfesselten Verfolgung der Christen geschrieben. Acht hohe Beamte (wahrscheinlich Statthalter wie er) werden Scapula entweder als mahnendes Beispiel vorgehalten, weil sie bei einer Christenverfolgung durch die Finger sahen, oder als abschreckendes, weil sie für ihre nachdrückliche Verfolgung der Christen durch schwere Krankheit oder Unglück gestraft wurden81 — ein neuer nachdrücklicher Hinweis darauf, daß die tatsächliche Lage der Christen eine andere war, als sie nach der „offiziellen" Darstellung scheint, wie sie vom zweiten Jahrhundert bis ins vierte Jahrhundert hinein durch die Christen selbst, Tertullian eingeschlossen, von der Haltung der den Staat repräsentierenden Staatsoberhäupter zum Christentum gegeben wurde. Wie brachten die Christen nun aber die von ihnen immer wieder vorgetragene Auffassung, daß nur ganz wenige Kaiser dem Christentum feindlich gesonnen gewesen seien oder es gar verfolgt hätten, mit dem Faktum der immer wieder ausbrechenden Verfolgung in Einklang? Bei Melito zeigt sidi das Dilemma des Widerspruchs zwischen vorgetragener Theorie und erlebter Praxis mit Deutlichkeit. Er redet den Kaiser als er77

ebda

78

II, 4 ; C C 1 , 4 ; III, 1.3; 1 , 5 u . ö .

79

I, 10; C C 2, 1070, wen Tertullian damit meint, ist nicht zu sagen.

80

1 , 1 1 ; 2 , 1 0 7 0 f.

81

III, 1 ff.; 2, 1129 ff.

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wünschten Nachfolger82 jener frommen Herrscher an, welche die Verirrungen des Nero und Domitian gut gemacht haben, und erwartet von ihm eine noch menschenfreundlichere und weisheitsliebendere Haltung, als sein „Großvater" Hadrian und sein „Vater" Antoninus Pius sie gegenüber den Christen gezeigt hätten83. Und dennoch sind soeben in Kleinasien Verfolgungsedikte bekanntgeworden, die einen offiziellen Charakter tragen und nicht als Willkürakte untergeordneter Stellen abgetan werden können. „Wenn das auf deinen Befehl hin geschieht", redet Melito den Kaiser an, „so soll es recht getan sein. Denn ein gerechter Kaiser wird niemals Ungerechtes beschließen. Und wir nehmen gern das Geschenk eines solchen Todes hin"84. Melito bittet den Kaiser für den Fall, daß die Verordnungen von ihm ausgingen, lediglich darum, sich selbst ein Urteil darüber zu verschaffen, ob die Christen Tod und Strafe oder nicht vielmehr Sicherheit für ihr Bestehen und Ruhe vor Verfolgung verdienten. Sollten die Edikte nicht auf den Kaiser zurückgehen, so bittet Melito ihn um so nachdrücklicher, sich der Christen anzunehmen85. Allzu sehr scheint er nicht davon überzeugt zu sein, seine (nicht erhaltene) Apologie ist doch wohl in der Absicht geschrieben, den Kaiser von der Unschuld der Christen zu überzeugen, um dadurch eine Widerrufung der Edikte zu erreichen. Sehr viel einfacher ist die Lösung dieser Schwierigkeiten, die wir von Justin ab mehrfach finden. Hier wird erklärt, die Dämonen seien die Urheber der Christenverfolgungen. Die frühe Menschheit, sagt Justin, war nicht in der Lage, zwischen Dämonen und Göttern zu unterscheiden. So sahen sie die Dämonen als Götter an und legten ihnen die Namen bei, die jeder dieser Dämonen sich selbst gab86. Als Sokrates den Betrug enthüllen wollte, erreichten es die Dämonen, daß er als Gottesleugner und Frevler gegen die Religion (er führe neue Götter ein, machten sie ihm zum Vorwurf) getötet wurde. Und genau dasselbe bemühen sie sich, gegen die Christen ins Werk zu setzen87. Wenn die Christen verfolgt werden, so stehen die Dämonen dahinter. Sie hassen die Christen und finden Richter 82

Euseb, hist. eccl. IV, 26, 7; 2, 1, 384, 23 f.

83

IV, 26, 5 ff.; 1, 386 IV, 26, 6; 2, 1, 384 ebda

84 85 88

87

I, 5, 1—2; Krüger 3 1904 S. 4. Ähnlich, aber ausführlicher über die Entstehung der Dämonen II, 5; S. 64. I, 5, 3; S. 4; vgl. 1,10, 6; S. 7

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als Werkzeuge und Diener, die Christen umzubringen, so daß es scheint, als ob die Behörden von Dämonen besessen seien88. Ganz ähnlich argumentiert Tertullian: Wenn den Christen um den Preis ihres Lebens und unter Anwendung aller Mittel der Überredung und des Zwanges das Opfer aufgezwungen werden soll, so erkennen sie, wer das den Heiden einflüstert 89 . Es ist der Geist der Dämonen und bösen Engel, der den Christen feind ist, weil sie von ihm abgefallen sind und der ihnen Gottes Gnade neidet. Er treibt die Heiden zu ihrem widersinnigen Gerichtsverfahren und zu ihrer ungerechten Grausamkeit gegen die Christen 90 . Zwar ist den Christen die Macht der Dämonen und der ihnen verwandten Geister Untertan. Aber diese lehnen sich von Zeit zu Zeit trotzig dagegen auf, ihr H a ß gegen die Christen ist nur das Resultat ihrer Furcht vor ihnen01, dabei sind sie sich darüber im klaren, daß sie trotz allen verzweifelten Ansturms gegen die Christen diesen nicht gewachsen sind. Wenn die Christen an ihrem Bekenntnis festhalten, das die Dämonen bekämpfen, erreichen sie in der Verurteilung um ihres Glaubens willen gleichzeitig den höchsten Triumph über die dämonischen Kräfte 92 . Noch weiter in der Ausdehnung der Dämonenherrschaft über die staatlichen Gewalten geht Origenes in seiner Schrift gegen Celsus 93 : Es ist den Dämonen gelungen, die Herrscher, den Senat, die Behörden an allen Orten und auch die Bevölkerung in ihren Dienst zu stellen und gegen die Christen aufzuwiegeln. Denn sie alle haben nicht gemerkt, daß dahinter die unvernünftige und böse Wirksamkeit der Dämonen steckt. Die Christen verachten sie im Vertrauen auf das Wort Gottes, denn Jesus hat die Dämonen überwunden. Das Wort Gottes ist stärker als sie und zieht aus den Schwierigkeiten, die ihm bereitet werden, nur neue Nahrung, so daß es immer weiter wächst und immer mehr Seelen für sich gewinnt. So erklärt die frühe Kirche sich die Christenverfolgungen und so kann sie sie in ihre Auffassung vom positiven oder mindestens neutralen Verhältnis der Kaiser und des Staates zum Christentum einfügen, ohne diese zu gefährden. Was hat die frühe Kirche aber getan, obwohl und selbst wenn diese Kaiser und die staatlichen Organe sie blutig verfolgten? 88 89 90 01 92 83

II, 1 , 2 ; S. 60 Apol. 27, 3; S. 158 27, 4; S. 158 f. 27, 5; S. 160 27, 7; ebda IV, 32; S. 302

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Sie hat sich bemüht, ihnen eine andere und richtigere Auffassung vom Christentum beizubringen, sie ist in ihrer Verkündigung und ihrer Mission unbeirrt fortgefahren — und: sie hat für den Staat gebetet, obwohl sie ihn als von Dämonen beherrscht und geleitet ansah. Das eindruckvollste Zeugnis d a f ü r ist das Gebet, das wir im 1. Klemensbrief finden, der in Rom unmittelbar nach der Verfolgung des Domitian geschrieben ist, welche die Gemeinde aufs härteste traf. N u r ganz verhalten deutet das der Brief in seinen einleitenden Worten (und ganz gelegentlich auch sonst94) an, wo er davon spricht, daß plötzliche und aufeinander folgende Drangsale und Leiden die Gemeinde daran gehindert hätten, ihre Aufmerksamkeit sogleich den Vorgängen in Korinth zuzuwenden 95 . Nachdem der Brief sein Thema im wesentlichen behandelt hat, ruft er in Kapitel 5 896 zum Gehorsam gegen Gott auf und geht dann in Kap. 5997 in ein Gebet über. Hier am Schluß von Kapitel 59 klingt leise wieder die Bezugnahme auf die Auswirkungen der Verfolgung an98. In Kap. 60 beginnt das Gebet dann seine Wendung zur Fürbitte für den Staat, welche seinen letzten Teil ausmacht und in ihrem Umfang beinahe nur aus den hinter der Gemeinde liegenden Erfahrungen zu erklären ist. Um seines Alters und seiner Bedeutung willen (aus der Zeit um 96 n. Chr. stammend, ist es das älteste seiner Art und bestimmend für unzählige nachfolgende geworden) sei dieser Teil des Gebetes vollständig zitiert 99 : „Gib einerlei Sinn und Frieden uns und allen, die auf Erden wohnen, wie du unsern Vätern gegeben hast, die dich anriefen fromm, in Glauben und Wahrheit. Mach uns gehorsam deinem allmächtigen und herrlichen Namen und denen, die da herrschen über uns und Fürsten sind auf Erden. Du, Herr, hast ihnen die königliche Gewalt gegeben aus deiner hocherhabenen und unaussprechlichen Macht, damit wir den Ruhm und die Ehre erkennen sollten, die du ihnen verliehen hast, und ihnen unterworfen seien, deinem Willen dabei in nichts zuwider. Gib ihnen, Herr, Gesundheit, Frieden, Eintracht und sicheren Stand, damit sie das Herrscheramt, das du ihnen anvertraut hast, untadelig verwalten. Denn du, Herr, himmlischer, ewiger König, gibst den Menschenkindern Herrlichkeit und Ehre und Macht über das, was auf Erden ist. Lenke du, Herr, ihren Sinn nach dem, was gut ist und wohlgefällig vor dir, damit sie in Frieden und Sanftmut in deiner Furcht die Herrschaft üben, die du ihnen gegeben hast, und deine Gnade erlangen. Der du allein 94 93 98 97 98 99

3

Vgl. z. B. 6, 1; Funk-Bihlmeyer, 2 1956, S. 38 1, 1; S. 35 S. 66 S. 66 f. 59, 4; S. 67 60,4—61, 3; S. 68 f. Festsdirift Kunst

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vermagst, dies und noch viel mehr Gutes an uns zu tun, dich preisen wir durch den Hohenpriester und Schutzherrn unserer Seelen, Jesus Christus. Durch ihn sei dir die Herrlidikeit und die Majestät, jetzt und von Geschlecht zu Geschlecht und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen."

Dieses Gebet ist in seinem Charakter dem entsprechenden Passus des großen Schlußgebetes im heutigen Gottesdienst vergleichbar. Etwas anders klingt die Aussage über das Gebet der Kirche für den Staat bei Athenagoras. „Wir beten für eure Herrschaft", wird da dem Kaiser gesagt, „damit der Sohn dem Vater auf die gerechteste Weise nachfolge, damit Eure Herrschaft Wachstum und Ausbreitung gewinne, die ganze Welt sich unterwerfend" 100 . Als Begründung wird lediglich hinzugefügt: „Das ist auch uns zum Nutzen, damit wir ein ruhiges und gesichertes Leben führen und alle Anordnungen freudig ausführen können." Das Zitierte stellt den Abschluß der Schrift dar, dadurch bekommt es besonderes Gewicht. Ganz ähnlich schreibt um die Mitte des dritten Jahrhunderts noch Cyprian 101 , daß die Christen ständig ihre Gebete für die Abwehr der Feinde, gute Ernte, Regen, Abwendung oder wenigstens Milderung der Drangsale zu Gott emporsenden, damit er „euch (d. h. den Heiden, dem Staat) zum Frieden und zum Heil" sich versöhnen und besänftigen lasse. Selbst Tertullian, der in seiner Stellung zum Staat und in der Grenzziehung gegenüber der Welt radikaler ist als die griechischen Apologeten (mit Ausnahme Tatians), erklärt: „Wir beten auch für die Kaiser, ihre Beamten und Behörden, für den Bestand der Welt, für Ruhe im Staat, für den Aufschub des Endes (der Welt)" 1 0 2 . Ganz ähnlich heißt es an anderer Stelle des Apologeticums 103 : „(wir beten aus dem Herzen heraus) und erflehen ständig für alle Kaiser ihnen selbst ein langes Leben, ein gesichertes Reich, einen Palast, in dem sie sorglos sein können, tapfere Heere, einen loyalen Senat, ein treues Volk, Frieden in der Welt und was immer sonst eines Menschen und eines Kaisers Wünsche sein können." Mehr wird beide Male nicht ausgeführt — wenn jemand heute daran theologischen Anstoß nimmt, kann man es ihm nicht verargen. Natürlich hat Tertullian mehr zu sagen, er tut es an anderer Stelle. Hier schließt er zunächst einen Gedankengang an, wie wir ihn ähnlich schon bei Athenagoras finden: Die Christen beten selbst für ihre Feinde zu Gott und er100

Presbeia 3 7 ; Schwanz T U 4, 2, 47

101

Ad Demetrianum 2 0 ; Härtel C S E L 3, 1, 365 f.

102

A p o l . 3 9 , 2 ; S . 182

103

Apol. 30, 4 ; S. 166

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flehen für ihre Verfolger Gutes. Wer ist aber mehr Feind und Verfolger als der Kaiser? (das wird nicht so direkt, sondern etwas verklausuliert, aber dennoch klar genug gesagt)104. Dann folgt als zweites die (aus den in Betracht kommenden Stellen der neutestamentlichen Briefe zusammengefügte) Schriftbegründung: „Aber ausdrücklich und klar sagt (die Schrift): Betet für die Könige und für die Fürsten und für die Machthaber, damit für euch alles friedlich sei." Wenn das Reich erschüttert wird, werden auch die Christen davon betroffen, fährt Tertullian fort, selbst wenn sie von der Menge als außerhalb Stehende angesehen werden105. Und noch ein Letztes hat Tertullian in diesem Zusammenhang zu sagen: es gibt für den Christen noch eine höhere Ursache, für die Kaiser, den Bestand des Reiches und für den Besitzstand der Römer zu beten: sie wissen, daß die der ganzen Welt drohende Katastrophe, ja ihr Ende, nur durch die dem römischen Reich gewährte Frist verzögert wird (das ist offensichtlich Interpretation von 2. Thess. 2,6 f.). Da die Christen das nicht erleben wollen, beten sie um Aufschub und befördern so den Fortbestand Roms106. Hier finden wir uns, um das einzuschieben, an eine Auffassung erinnert, die schon in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts begegnet. Schon Aristides erklärt, daß um der Christen willen das Angenehme dieser Welt fortbestehe107. Wegen der Fürbitte der Christen bestehe die Erde (fort, oder: noch)108. Was im Leibe die Seele ist, das sind in der Welt die Christen, verkündet der Diognetbrief109. Das wird mit den verschiedensten Vergleichen belegt, für uns ist der eine wichtig: So wie die Seele im Körper eingeschlossen ist, aber den Leib zusammenhält, so werden die Christen von der Welt gewissermaßen im Gefängnis gehalten, aber sie sind es, die die Welt zusammenhalten 110 . Und Origenes schließlich erklärt, daß die Römer, falls sie alle Christen werden, durch ihr Gebet alle Feinde besiegen könnten, falls es überhaupt nötig wäre, gegen sie zu kämpfen. Die Männer Gottes sind das Salz, welches die Einrichtungen auf dieser Erde erhält111. Die Christen als Helfer zum Fortbestand der Welt, als die 104 105 106 107 108 109 110 111

3«-

Apol. 3 1 , 2 ; S. 166 f. Apol. 3 1 , 3 ; S. 168 Apol. 32, 1; S. 168 Apol. 16, Hennecke T U 4, 3; S. 39 ebda S. 41 VI, Funk-Bihlmeyer 2 , S. 144 VI, 7; S. 145 Contra Celsum VIII, 70; Koetschau 2, 286 f.

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diese Welt beseelende Kraft, dieses hohe Selbstbewußtsein trägt die vom Staat verfolgte Gemeinde. Sie weiß sich — und die Welt — in der Hand Gottes, der stärker ist als alle irdischen Gewalten, und daß diese nur dann den Christen — zeitweilig und vorübergehend — Leid zufügen können, wenn Gott das zuläßt. Von daher hat das Gebet der Christen und der Kirche für den Staat und seine Gewalthaber eine unüberschreitbare Grenze: es kann Gebet für sie sein, aber niemals Gebet zu ihnen, niemals Anbetung. Am kürzesten und einprägsamsten ist das bei Theophilus formuliert: das Neue Testament befiehlt den Christen, den irdischen Gewalten Untertan zu sein um eines ruhigen und stillen Lebens willen (1. Tim. 2 , 2 ) . Allen gäben sie alles: Ehre, Ehrfurcht, Steuer, jedem, dem das zukäme (Rom. 13,7f.) 1 1 2 . Aber das in der Schrift (1. Tim. 2 , 1 ) geforderte Gebet hat eine Grenze: „Deshalb will ich dem Kaiser lieber Ehre erweisen nicht dadurch, daß ich ihn anbete, sondern dadurch, daß ich für ihn bete. Den Gott, der wirklich und wahrhaft Gott ist, den bete ich an, denn ich weiß, daß der Kaiser nur durch ihn Kaiser geworden ist. Wenn du mir nun sagst: Weshalb betest du nicht den Kaiser an? (so antworte ich:) Weil er nicht zum Anbeten geschaffen ist, sondern um mit der ihm rechtmäßig zukommenden Ehre geehrt zu werden. Denn er ist nicht Gott, sondern ein Mensch, von Gott dazu eingesetzt, nicht angebetet zu werden, sondern um gerechtes Urteil zu sprechen. Es ist ihm von Gott gleichsam das Verwalteramt (oikonomia) anvertraut worden" 113 . Eine Fülle von parallelen Aussagen dazu ließe sich anführen: bei Justin 114 , Tatian 115 , Irenaeus116, Origenes117 und vor allem natürlich bei Tertullian, der dieser Frage gleich mehrere Kapitel seine Apologeticums gewidmet hat. Ein Bericht über die Kapitel 27—35 dieser Schrift118 würde nicht nur eine eindrückliche Schilderung des Konfliktes der Christen mit dem in der Forderung des Kaiserkultes seine Grenze überschreitenden Staates ergeben, sondern auch einen Einblick in die Argumentation, mit 113

Ad Autolycum III, 14; Otto 8, 222

113

I, 11; Otto 8, 32 f.

114

Apol. I, 17, 3; Krüger S. 15

115

4 ; Schwanz T U 4, 1 ; S . 4

116

Adv. Haer. V, 24, 3; Harvey 2, 389

117

Contra Celsum VIII, 65; Koetschau 2, 281, 7

118

Wozu noch die darauffolgenden genommen werden könnten, vgl. auch Ad Scapulam, C C 2, 1127 f.

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welcher die Christen sich des Opfers erwehrten, sei es vor einer der konventionellen Gottheiten, sei es vor der das Reich repräsentierenden kaiserlichen Gottheit, sowie einen Eindruck davon, mit welcher Leidenschaft sie das taten. Aber der Zusammenstoß der alten Kirche mit dem Kaiserkult, die aus der Verweigerung des Opfers resultierende Anklage der Staatsfeindschaft ebenso wie die Einzelheiten der Martyrien 119 und die hinter den Christenverfolgungen stehenden Argumente und Leidenschaften der Bevölkerung des römischen Reiches sind in der einschlägigen Literatur oft genug geschildert worden, so daß wir hier darauf nicht einzugehen brauchen, wo dem vielverhandelten Thema einige neue Aspekte abgewonnen werden sollen. Genau so wenig braucht davon gesprochen zu werden, daß es Christen alsbald in allen Schichten und in allen Ständen des Reiches gab, selbst im Heer, selbst in der kaiserlichen Verwaltung. Je weiter die Zeit fortschritt, um so größer wurde ihre Zahl und in um so höheren Funktionen waren sie zu finden. Harnack hat ausführlich das Material dafür zusammengestellt 120 , es hat wenig Sinn, es hier noch einmal vorzutragen, wenn vielleicht auch anders zusammengestellt und gelegentlich ergänzt oder anders gewertet. Stattdessen seien sozusagen zwei „Momentaufnahmen" gemacht, welche uns ein Bild der Zeit unmittelbar vor dem Jahr 200 und der rund 100 Jahre danach geben. Gewiß wird man unter Berücksichtigung der leidenschaftlichen Rhetorik Tertullians manches von seiner Schilderung abziehen müssen. Aber sie ist so lebendig und anschaulich, daß sie von vornherein alle Wahrscheinlichkeit für sich hat, zumal sie durch die Nachrichten gedeckt wird, die wir aus anderen Quellen haben. In Kap. 4 2 m seines Apologeticums schildert er zunächst die äußere Situation der Christen: sie sind Menschen und nicht Brahmanen oder indische Gymnosophisten. So leben sie wie die Menschen ihrer Umgebung, tragen dieselbe Kleidung, essen dieselbe Nahrung, haben die gleiche Wohnung 122 . 119

120

121 122

In den Akten des Apollonius 37 (Knopf-Krüger 4 , S. 34) kommt das ausdrücklich zur Spradie, vgl. aber auch Mart. Pol. 10 (ebda S. 4), die Akten der Scilitanischen Märtyrer 6 (ebda S. 29) usw. Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten 3 Jahrhunderten, 4 1924, II, 5 5 9 — 6 1 1 , zur Verbreitung des Christentums im Heer vgl. zusätzlich seine Untersuchung: Militia Christi, 1905, Neudruck 1963, zuletzt zu diesem Thema H. v. Campenhausen: Der Kriegsdienst der Christen in der Kirche des Altertums, in: Tradition und Leben, 1960, S. 203—215. S. 194 f. 42, 1; S. 194

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Sie sind auf dem Forum, auf dem Markt, in den Badestuben, da, wo Handel getrieben wird und in den Werkstätten zu finden123. Sie fahren mit den Heiden zur See, sie sind wie sie Soldaten und Bauern und nehmen an allem bürgerlichen Leben teil — seinen vom heidnischen Glauben geprägten Sektor ausgenommen124. Das ist eine nüchterne Wirklichkeitsschilderung. Einige Kapitel vorher hat Tertullian dieselbe Situation schon einmal beschrieben: „Gestern erst sind wir gekommen und haben alles, was euch gehört, erfüllt: die Großstädte, die Inseln, die Garnisonstädte, die Landstädte, ja selbst die Heerlager, die hauptstädtische Verwaltung, den kaiserlichen Palast, den Senat, das Forum; die Tempel allein haben wir euch überlassen" 125 . Das ist im triumphierenden Uberschwang gesagt; man wird gewiß das vestra omnia implevimus nicht allzu wörtlich nehmen können. Aber im Prinzip dürfte Tertullian die Situation jener Zeit richtig dargestellt haben. Gewiß haben die Christen damals weder Senat noch Palatium noch Forum usw. „erfüllt", „überflutet", „durchdrungen", oder wie immer man übersetzen will, aber es hat sie überall gegeben. Wäre die wirkliche Situation grundlegend von der von Tertullian behaupteten unterschieden gewesen — jeder seiner Leser war ja in der Lage, sie zu kontrollieren —, hätte Tertullian das Risiko auf sich genommen, seine gesamte Argumentation unglaubwürdig zu machen. Die Schilderung, die uns Laktanz vom Ausbruch der Diokletianischen Verfolgung im Jahre 303 gibt, ist gewiß nicht darauf angelegt, Stellung und Verbreitung der Christen am kaiserlichen Hof zu schildern. Unsere Aspekte liegen für ihn am Rande, die Aufschlüsse, die uns seine Darstellung indirekt gibt, sind daher um so interessanter und wertvoller. Die Verfolgung nimmt ihren Anlaß nämlich daraus, daß die am Hof des Diokletian mit Hilfe dargebrachter Tieropfer betriebene Weissagung ohne Resultat bleibt. Die Opferpriester machen die hierbei anwesenden Christen dafür verantwortlich. Ihr Amt bei Hof nötigt sie zur Teilnahme an der Zeremonie, um sich vor den nach ihrer Auffassung hier wirkenden Dämonen zu schützen, schlagen sie dabei das Kreuz 126 . Gewiß ist Dienerschaft bei den Haruspicien nötig, die Mehrzahl der Anwesenden gehört jedoch der Oberschicht der Beamtenschaft an. Der zornentbrannte Diokletian läßt nach dem Bericht des Laktanz nicht nur 123 124 125 129

42, 2; ebda 42, 3—7; S. 194—196 3 7 , 4 ; S. 178 de mort. pers. 10, 2; S. 184

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alle zum Opfer zwingen, die an den Haruspicien gewohnheitsmäßig teilnehmen, sondern gleich alle, die sich im Palast aufhalten (universos qui erant in palatio) ebenso wie die Soldatenschaft127. Als Galerius versucht, Diokletian auf dem einmal beschrittenen Wege weiter voranzutreiben, sträubt sich dieser — nach Laktanz — zunächst. Er meint, es reiche aus, wenn man die „Palatinos", die Bewohner des Palastes, und die Soldaten vom Christentum fernhalte 128. Als dann schließlich das Edikt verkündet ist, welches die allgemeine Verfolgung der Christen anordnet, kommt es zweimal zu einem Brand im kaiserlichen Palast. Nach dem ersten Brand war nur die Dienerschaft gefoltert worden, weil man meinte, es handle sich bei der Brandstiftung um einen Racheakt der Christen unter ihr12'. Nach dem zweiten Brand läßt Diokletian jedoch zuerst seine Tochter Valeria und dann seine Gattin Prisca das Opfer vollziehen — offensichtlich standen beide im Verdacht, mit den Christen mindestens zu sympathisieren130. Der Bericht fährt fort: Potentissimi quondam Eunuchi necati, per quos palatium et ipse ante constabat131 — das Christentum hat im kaiserlichen Palast auch in den maßgebenden Kreisen bereits weit um sich gegriffen. Die Rückschlüsse auf die Verbreitung des Christentums außerhalb des kaiserlichen Palastes liegen nahe. Daß unter der adligen Oberschicht im Reiche Konstantins die Christen selten sind, hat man mehrfach — mit Recht — betont. Der Westen ist eben damals in jeder Hinsicht kirchlich hinter dem Osten zurück, jedoch ist auch hier beispielsweise der Statthalter Afrikas, Aelafius/Ablabius, und zwar in den Anfängen der Herrschaft Konstantins, Christ. Damit sind wir beim sog. konstantinischen Zeitalter angelangt, das nach einer anscheinend unausrottbaren Vorstellung das Zeitalter der christlichen Reichskirche gewesen ist. Nichts ist falscher als diese Meinung. Erst 50 Jahre nach dem Tode Konstantins hat die christliche Kirche annähernd diese Position erreicht, und auch danach besitzt das Heidentum, in den unteren Schichten der Bevölkerung sowohl wie bei der adligen Oberschicht, insbesondere des Westens, eine ansehnliche Macht. Unter Konstantin geschieht nichts weiter, als daß das Christentum, zunächst im 127 128 129

130

»31

1 0 , 4 ; S. 184 1 1 , 3 ; S. 185 14, 2 f.; S. 187 f., so wird nach 15, 1 „non in domésticos tantum" das „omnes suos" in 14, 3 zu deuten sein, 15, 1; S. 188 15, 2; ebda

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Westen und seit 324 auch im Osten, von der Verfolgung durch die staatlichen Organe befreit, den anderen Religionen des Reiches gleichgestellt und ihm die Freiheit zur Wirkung nach innen und außen gegeben wird. Konstantin hat die Kirche gewiß gefördert, wo er konnte, aber seinen Maßnahmen waren durch die äußeren Umstände enge Grenzen gezogen. Die Situation Konstantins selbst nach seinem Sieg über Maxentius und der Erlangung der Herrschaft über den Westen war ja alles andere als einfach. Rechtlich gesehen war er ein Usurpator, alle „legalen" Erben des Diokletianischen Regierungssystems standen gegen ihn. Im Bunde mit Licinius hat er sie ausgeschaltet, bis schließlich auch dieser beseitigt werden konnte. Die Rücksichtnahme darauf, daß insbesondere im Westen die Mehrheit der Bevölkerung und vor allem der traditionell einflußreichen Kreise nicht der christlichen Kirche angehörte, wie auf die Neuheit und Unsicherheit seiner Herrschaft hat Konstantin zu außerordentlicher Vorsicht in allen religionspolitischen Maßnahmen genötigt, so daß bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder die Meinung vertreten werden konnte, Konstantin sei seiner inneren Überzeugung nach nicht Christ, sondern Heide oder bestenfalls religionsloser Machtpolitiker gewesen132. Dennoch hat die christliche Kirche schon zur Zeit Konstantins auf seinen Namen alles Lob und alle Liebe, die sie besaß, vereinigt, noch heute wird in der Liturgie der orthodoxen Kirche sein Name regelmäßig lobpreisend genannt. Euseb von Caesarea, der Geschichtsschreiber des „Konstantinischen Zeitalters", hat damit den Anfang gemacht — als den „widerlichsten aller Lobredner" hat Jacob Burckhardt ihn dafür bezeichnet133. Tatsächlich hat Euseb über Konstantin Aussagen gemacht, die uns Heutige erschaudern lassen. Für ihn ist Konstantin der Gottgesandte, den Gott selber zum Kaiser ausgerufen hat, noch ehe das vom Heer getan wurde134, der Kaiser, über den Gott seine Hand hält135, ein Abbild des höchsten Gottes, so wie sein Reich ein Abbild der Herrschaft Gottes136. Konstantin ist für Euseb, um noch einige zugespitzte Formulierungen 132

133 134

Auf die Einzelheiten Das Konstantinische Kirchengeschichtliche Die Zeit Konstantins

kann hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu meine Studien: Zeitalter, und: Die religiöse Haltung Kaiser Konstantins, Entwürfe, Gütersloh 1960, S. 202—239 und S. 240—256 des Großen, Gesammelte Werke, Basel 1955, I, 262

Hist. eccl. VIII, 13,14, Schwanz 2, 776, 18 ff.

135

Laus Const. X , 7, Heikel S. 2 2 3 , 1 5

139

Laus Const. II—IV, S. 199—203

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anzuführen, Abbild jener (himmlischen) Herrschaft, in dessen Seele kaiserliche Tugenden Gestalt angenommen haben 137 , die nach dem Urbild des großen Herrschers ( = Gottes) gestaltgewordene Erscheinung138. Und die Kirche war dem Wink dieses Herrschers gehorsam. Auf dem Konzil von Nicaea beschloß man 325 nahezu einstimmig ein Glaubensbekenntnis, dessen entscheidende Formulierung der theologischen Überzeugung der teilnehmenden Bischöfe entweder direkt entgegengesetzt oder mindestens völlig fremd war; bisher hatten sie auch nicht daran gedacht, sie zu gebrauchen. Erst als der Bann der kaiserlichen Gegenwart von ihnen genommen war, kamen sie wieder zur Besinnung — und haben dann jahrzehntelang dagegen angekämpft, bis 381 in Konstantinopel eine Formulierung erreicht war, die ihrem theologischen Gewissen entsprach. „Byzantinisten" hat sie die moderne Theologie für ihre Haltung zur Zeit Konstantins genannt 139 , Vorfahren jenes Systems des Ostens, in dem die Kirche „niemals . . . dem Kaiser etwas zu sagen" habe140- Ganz anders stehe jener orthodoxen Kirche justinianischer Prägung die Kirche des Westens gegenüber, bei welcher der „ S t a a t . . . Gottes Heilsplan . . . dient" 141 , während in der griechischen Orthodoxie umgekehrt die Kirche dem Staat diene. Schon diese Formulierung hat aktuelle Bezüge genug, der — übrigens um Wissenschaft und Kirche hochverdiente — Theologe, von dem sie stammen, verstärkt sie noch weiter: „Ich bin geneigt zu sagen, daß die mehr freisinnigen Gestaltungen der Theologie, in welchen das natürliche Leben außerhalb der Offenbarung ein gewisses Maß von Normativität empfängt, sich überhaupt von vorneherein Staat und Obrigkeit gegenüber weniger kritisch, mehr willfährig einstellen werden als die Orthodoxie" 142 . N u n — auf den letzten Satz kann im Zusammenhang unserer Betrachtungen nicht mehr eingegangen werden, so interessant das wäre. Denn ein Hinausgehen über die Zeit der alten Kirche verbietet sich mit Rücksicht auf Umfang wie Schwierigkeit des Problems. Schon die Entwicklung in der Zeit der alten Kirche unter die sachgemäßen Aspekte zu bringen, ist außerordentlich schwer. Denn daß das Verhältnis von Staat 137 138 139 140 141 142

Laus Const. V, 2, S. 203, 25 Laus Const. V, 4, S. 204,18 f. H . Berkhof, Kirche und Kaiser, 1947, S. 200, 202 a.a.O. S. 198 a.a.O. S. 209 a.a.O. S. 202

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und Kirche sich noch in der alten Zeit im Osten und Westen des Reiches verschieden entwickelt, daran kann kein Zweifel sein. Sehr lebhafte Zweifel müssen jedoch schon an der vorhin vorgetragenen Beschreibung des Zustandes in Ost und West angemeldet werden, daß zur Zeit der alten Kirche im Osten die Kirche dem Staat diente, während im Westen der Staat das dem Heilsplan Gottes gegenüber tat. Und noch größer muß der Zweifel an den Ursachen sein, die dafür angegeben werden: „alle arianische und semiarianische Theologie hat eine wesensmäßige Tendenz zum Byzantinismus; die athanasianische und westliche Theologie hat eine wesensmäßige Tendenz zur Theokratie" 143 . Schon der Schlußsatz zeigt, daß die Gleichung nicht aufgeht: „die athanasianische und westliche Theologie" heißt es hier. Athanasius ist Theologe des Ostens, Alexandrien ist nicht nur sein Wirkungsort, er stammt aus Ägypten und gehört wirklich kirchlich und theologisch hierhin. Der Grund für die verschiedenen Verhaltensweisen, die wir beobachten, muß anderer als geographischer Art sein. Ebenso reicht auch die theologische Formel des Arianismus (d. h. Origenismus, dessen Abkömmling er ist) zur Erklärung nicht aus, selbst wenn man die natürliche Theologie als Hilfskonstruktion benutzt. Nur auf die nachfolgende dargestellte Weise scheint mir ein Verständnis und eine Erklärung der Entwicklung möglich: Im 4. Jahrhundert sieht man innerhalb der Kirche zu Lebzeiten Konstantins das Verhältnis von Staat und Kirche im Osten wie im Westen auf gleiche Weise an. Es sind nicht nur die Bischöfe des Ostens gewesen, welche in Nicaea den Wünschen des Kaisers nachgeben, sondern ebenso die Bischöfe des Westens. Nicht nur im Osten wird Konstantin so gewertet, wie Euseb es tut, sondern das geschieht auch im Westen. Damals dringen Symbole und Handlungen des Kaiserkultes, dem man vorher so nachdrücklich Widerstand geleistet hatte, in die Kirchen beider Bereiche ein. Dem Kaiser wird jetzt die Proskynese, d. h. die Gebärde der Anbetung, dargebracht, die man ihm bisher so leidenschaftlich verweigert hatte. Konstantin hat das von seinen Vorgängern ausgebildete höfische Zeremoniell, das Diokletian so stark betonte, daß man ihn für seinen Urheber halten konnte, nach seinem Herrschaftsantritt keineswegs abgeschafft, sondern voll beibehalten (der Bericht über seine Aufbahrung und das selbst dem Toten gegenüber geltende Zeremoniell144 zeigen das mit Deutlichkeit). Noch Ambrosius spricht mit Selbstverständlichkeit von der 143

a.a.O. S. 200

144

Vita Constantini IV, 65 f.; ed. Heikel G C S 7 , 1 4 4 f.

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adoratio nicht nur der Kaiser, sondern auch der kaiserlichen Machtsymbole145. Und er ist keineswegs der einzige, der das tut. In den Kirchengebäuden auch des Westens (vgl. z. B. Santa Maria Maggiore in Rom) finden wir die sog. Hetoimasie dargestellt, das Kreuz (oder eine Buchrolle) auf dem leeren Thronsessel im Scheitelpunkt des Triumphbogens (oder an anderer herausgehobener Stelle) als Symbol der Gegenwart Gottes oder Christi. Das kommt aus dem Herrscherkult; schon seit dem ersten Jahrhundert kennen wir den leeren Thronsessel mit dem Lorbeerkranz als Symbol der kaiserlichen Gegenwart. Nun pflegt man als Beispiel für die frühe Selbstabgrenzung der Kirche des Westens gegenüber dem Staat die Donatisten anzuführen und als Beweis für das Eigenständigkeitsbewußtsein der Christen jener Zeit das stolze Wort Donatus des Großen: Quid est imperatori cum ecclesia? „Was hat der Kaiser mit der Kirche zu schaffen?"149 Tatsächlich haben die Donatisten bereits Konstantin gegenüber erfolgreich eine Eigenexistenz beansprucht und durchgesetzt, selbst gegen die von seinem Sohn Konstans ausgesandten Truppen haben sie sich behauptet. Von hier aus gesehen scheint es tatsächlich so, als habe man im Westen früh die als Charakteristikum dieser Kirche behauptete Haltung der Eigenständigkeit eingenommen. — Man muß aber nur die Vorgeschichte jener Ereignisse betrachten, dann wandelt sich das Bild vollständig. Als Konstantins Herrschaft über Afrika erste praktische Konsequenzen zeitigte, waren nämlich die Donatisten vor dem Statthalter Afrikas mit der Bitte erschienen, an den Kaiser eine Anklageschrift gegen den Bischof der katholischen Kirche Afrikas, Caecilian, weiterzuleiten. Der Kaiser möge Richter über den Streit bestellen, in dem sie mit ihm ständen. Das geschah am 15. April 313. Im Herbst des Jahres tagt im Lateranpalast zu Rom eine auf kaiserliche Anordnung hin zusammentretende Synode. Sie entscheidet gegen die Donatisten und für die katholische Kirche Afrikas. Diese protestieren dagegen beim Kaiser, der daraufhin 314 in Arles eine neue Synode über den Streit beraten läßt. Sie entscheidet genauso wie die römische, wieder nehmen die Donatisten den Synodalbeschluß nicht an. Diesmal appellieren sie an die persönliche Entscheidung Konstantins. Das erfüllt diesen zwar mit Entrüstung („Mein Urteil rufen sie an, der ich selbst das 145

146

Vgl. Exameron VI, 57; ed. Schenkl, CSEL 31, 1, 248; De obitu Theod. 48; ed. Faller, CSEL 73, 396, 11 f. Optatus von Mileve, Contra Parmenianum Donatistam III, 3; ed. Ziwsa, CSEL 26, 73, 20

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Urteil Christi erwarte", hat er damals erklärt147), aber die Verhandlung vor ihm findet trotzdem statt. Sie geht nicht anders aus als die früheren — und jetzt erst beginnen die Donatisten ihre Opposition gegen Kirche und Staat, jetzt erst besinnen sie sich auf ihre Eigenständigkeit, nachdem sie vorher mit allen Mitteln bei Kaiser und Staat die Entscheidung innerkirchlicher Fragen zu erreichen versucht hatten: es ging darum, ob Caecilian rechtmäßig Bischof der Kirche Afrikas sei. Die Donatisten werfen ihm vor, seine Weihe sei nicht gültig, weil an ihr Traditoren (Bischöfe, die in der Verfolgung die heiligen Schriften ausgeliefert hatten, also als lapsi, als von der Kirche Abgefallene, gelten) beteiligt waren. An der Reinheit der Amtsträger hänge die Wirksamkeit der von diesen vorgenommenen kirchlichen Handlungen, in der offiziellen Kirche Afrikas sei die Spendung der Sakramente unwirksam, sie sei also eigentlich nicht Kirche, allein die donatistische Gemeinschaft habe Anspruch darauf. Optatus von Mileve, der um 365 die Geschichte des Donatismus dargestellt und darin das zitierte Wort Donatus' des Großen überliefert hat, nimmt in seinem Werk auch zum Verhältnis von Staat und Kirche Stellung. Natürlich hat der Staat (das ist nicht mehr der von Konstantin, sondern der von seinen Söhnen geleitete) auch mit dem bewaffneten Vorgehen gegen die Donatisten richtig gehandelt. Denn diese seien Aufrührer und verstießen gegen die Forderung des Paulus nach Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. „Denn nicht ist der Staat in der Kirche, sondern die Kirche ist im Staat." Christus habe das im Hohen Lied 4,8 ausdrücklich dargelegt148. Donatus erhebe sich mit seinen Worten frevelhaft über den Kaiser und verweigere ihm die ihm zukommende Ehre, die gleich hinter der Gott geschuldeten stehe149. Optatus ist wahrlich ein Theologe des Westens. Und bis ins 5. und 6. Jahrhundert hinein hören wir im Westen immer wieder ähnliche Stimmen. Selbst die Päpste können sich durchaus so äußern, daß wir an Euseb — und an spätere „byzantinische" Theologen — erinnert werden. Papst Coelestin I. (422—432) erklärt in bezug auf die Stellung des Kaisers (das ist damals Theodosius II.), daß dieser mit Christus, dem herrschenden König, mitherrsche150. Papst Leo I. (440—461) schreibt an Kaiser Mar147

148 149 150

H. v. Soden, Urkunden zur Entstehungsgeschichte des Donatismus, 39 f., hier auch alle weiteren Belege. III, 3; CSEL 26, 74, 3 ff. 111,3; CSEL 26, 7 5 , 1 0 ff. Schwartz, Acta concil. oecumenic. I, 7, 129, 12 f.

2

1950, Nr. 18,

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cian, Gott habe dem Kaiser neben der kaiserlichen Krone die priesterliche H a n d übertragen 151 , und an anderer Stelle, daß dem Glauben des Kaisers kein Irrtum einen Streich spielen könne 152 . Die Aufgabe des Papstes sei es, schreibt Leo I. schließlich — dessen Größe niemand bestreiten wird — bekanntzumachen, was der Kaiser meine, und zu verkündigen, was dieser glaube153. Immer wieder lesen wir, wie die Päpste in ihren Briefen an die Kaiser nicht nur deren königliche, sondern auch deren priesterliche, bischöfliche Gesinnung belobigen. Andererseits sehen wir auch im Osten, der nach der oben zitierten Auffassung „niemals . . . dem Kaiser etwas zu sagen" hat, die Bischöfe Widerstand gegen kaiserliche Forderungen leisten. Das beginnt bereits in Nicaea und Konstantin gegenüber. Neben Arius und seinen Gesinnungsgenossen werden auf diesem Konzil auch die Bischöfe Theognis von Nicaea und Euseb von Nikomedien exkommuniziert. Der Bischof des Tagungsortes und der prominenteste aller Bischöfe des Ostens weigern sich, dem Konzilsbeschluß zuzustimmen, verlieren ihre Ämter und müssen in die Verbannung — sie sind nicht bereit, dem Kaiser gegen ihre theologische Überzeugung nachzugeben. D a ß sich alsbald andere Bischöfe — sämtlich aus dem Osten — ihrem Widerstand anschließen, wurde bereits erwähnt. In den Irrungen und Wirrungen der Folgezeit sind sie dabei nicht selten dem härtesten Druck des Staates ausgesetzt gewesen. Dabei ist die Haltung des Westens der des Ostens nicht überlegen: Auf der Synode von Rimini 359 kapitulieren mehrere hundert abendländische Bischöfe vor dem Kaiser und unterwerfen sich dessen theologischen Wünschen, wenige Standhafte ausgenommen. Schon im 4. Jahrhundert gibt es andererseits im Osten Aussagen über das Verhältnis von Kirche und Staat, welche mindestens so schroff wie die der westlichen „Theokraten" die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat, ja deren höhere Stellung proklamieren. Ein Zitat sei hier, stellvertretend für manches andere, wiedergegeben. Es stammt aus einer Predigt des Johannes Chrysostomus (344/54—407): „Hier ist aber auch ein anderer Herrschaftsbereich, welcher über der politischen Macht steht. Und welcher ist das? Der der Kirche! . . . Denn dieser Herrschaftsbereich überragt den weltlichen um so viel wie der Himmel die Erde, ja noch m e h r . . . So groß 151 152 153

Ep. 111, 3; Mansi VI, 219C; PL 54, 1022B—1023A Ep. 162, 3; Mansi VI, 340B; MPL 54, 1145B Ep. 165, 1; Mansi VI, 351A; MPL 54, 1155A. Sicher ist hier manches aus taktischen Rücksichten so formuliert, aber so steht es da.

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nun, wie der Unterschied zwischen Seele und Körper ist, so weit ist wiederum dieser Herrschaftsbereich von jenem geschieden"154.

Man kann das Verhältnis von Kirche und Staat und die Äußerungen der Theologen über die Stellung des Kaisers, wie wir sie in den Jahrhunderten nach Konstantin bis hin zur Ausbildung des byzantinischen Kaiser- und Kirchentums finden, nur dann recht verstehen, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß für die Theologen und die Kirche dieser Zeit als „guter" Kaiser und rechter Staat nur der gilt, mit dem man in Glauben und Lehre übereinstimmt. Liegt diese Übereinstimmung vor oder meint man wenigstens, sich einbilden zu können, sie läge vor, dann ist man bereit, diesem Staat und diesem Kaiser die höchsten Attribute zuzuerkennen und ihnen den größten Einfluß einzuräumen. Ist das nicht der Fall, grenzt man sich von ihnen ab und leistet ihnen Widerstand bis hin zur Aufwiegelung der Volksmassen und zum Aufruhr. Gerade im Osten ist es bereits im 4. und vollends im 5. Jahrhundert im Zusammenhang des christologischen Streites zum Aufstand ganzer Städte und Landstriche gekommen, bis schließlich der Abfall geschlossener Gebiete vom Reich nicht mehr aufzuhalten war. Gewiß spielen beim Kampf der monophysitisch orientierten Kirchenprovinzen gegen das Ostreich auch nationale Motive eine Rolle, das primum movens war jedoch der Glaubensgegensatz zur offiziellen Kirche und dem mit dieser eng verbundenen Kaiser und Staat. Beide Kirchengebiete stehen im Anfang des 4. Jahrhunderts dem Staat und dem Kaiser, die sich von der blutigen Verfolgung der Kirche ab- und ihrer Anerkennung und Förderung zugewandt haben, mit kritikloser Verehrung gegenüber. Das erklärt sich aus der geschichtlichen Entwicklung. Von Anfang an haben die Christen ein positives Verhältnis zum Staat gesucht. „Die Christen sind die besten Staatsbürger", unter dieser Überschrift lassen sich lange Ausführungen der Apologeten wie der Schriftsteller des 3. Jahrhunderts stellen. Aber immer war vom Staat die ihm entgegengestreckte Hand der Christen übersehen worden. Sie mußten durch Jahrhunderte hin schon glücklich sein, wenn der Staat die Kirche nur übersah. Im Regelfall beschränkte er sich nicht darauf, sondern ließ entweder heidnischer Willkür ihren Lauf, die sich in den Gemeinden ihre Opfer suchte, bald hier, bald dort, so daß die Christen in ständiger Unsicherheit lebten, oder er ließ durch seine Organe die Christen einzelner 154

In II. Cor. hom. X V , 4 f.; MPG 61, 507, 509

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Gebiete planmäßig drangsalieren, wenn er nicht sogar die Parole der Ausrottung des Christentums und der Vernichtung der ganzen Kirche ausgab. Überall in den Schriften, die das Christentum gegen die Anklagen der heidnischen Propaganda verteidigen und es zu rechtfertigen versuchen, bemerken wir das sich aufstauende Loyalitätsbedürfnis, das beispielsweise so merkwürdige Auffassungen von der Stellung der Kaiser zum Christentum hervorbringt, wie wir sie bei Melito und Tertullian beobachten. Selbst wenn Konstantin nicht mehr getan hätte, als das Christentum von der Verfolgung zu befreien und es zu tolerieren, hätte er der überströmenden Verehrung der Christen sicher sein können, zumal seine Regierung auf die härteste Verfolgungsepoche folgt, welche die Geschichte der alten Kirche kennt. Er tat sehr viel mehr als das — dementsprechend größer war der Jubel und das Gefühl der Befreiung unter den Christen des beginnenden 4. Jahrhunderts, die nun dem Staat, den sie als den ihren ansehen konnten, mehr zu geben bereit waren, als ihm zustand. Im Westen blieb die glaubens- und lehrmäßige Ubereinstimmung des Kaisers mit der Kirche jedoch nicht lange bestehen. Schon unter Konstant e s ergaben sich heftige Konflikte, die sich unter seinen Nachfolgern immer wieder erneuerten. Einem Kaiser und einem Staat gegenüber, die den Arianismus offen oder versteckt beschützten (und sei es auch nur bei ihren germanischen Leibwachen) oder ihn gar propagierten, war Reserve und, wenn möglich, Widerstand geboten. Dazu kommt, daß die Kaiser des 4. Jahrhunderts im Westen mit Ausnahme von Theodosius, der jedoch nur kurze Zeit regiert, schwache Herrscher sind. Alsbald nach dem Beginn des 5. Jahrhunderts beginnen Germanenreiche auf dem Territorium des Westens zu entstehen, die staatliche Autorität verbindet sich immer enger mit dem falschen Glauben, dem Arianismus. Dazu kommt, daß es Fremde sind, die sie innehaben. So sieht die Kirche sich alsbald vom Staat weg und immer mehr auf sich selbst gewiesen. Sie beginnt zunächst das Bewußtsein ihrer Eigenständigkeit zu entwickeln, ihrer Unabhängigkeit vom Staat, ja, sie wird sogar den Germanen gegenüber zur Bewahrerin der alten staatlichen und nationalen Traditionen. Als die Reiche der Ostgoten und Vandalen von den Heeren des Ostreiches zerbrochen werden und Byzanz den Westen in seinen Herrschaftsbereich eingliedert, war die Möglichkeit der Wiederherstellung der alten Einheit gegeben — die Päpste jener Zeit haben sich dem Kaiser gegenüber ja oft genug auch wahrhaft „byzantinisch" benommen. Aber der dogmatische

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Gegensatz zum Osten war zu stark (in der damaligen Ausgangsphase des christologischen Streits nimmt der Westen eine wesentlich andere Position ein als der Osten) und die Herrschaft des Ostens dauerte nicht lange genug. So entwickelt die Kirche des Westens immer stärker das Bewußtsein ihrer Eigenständigkeit. Im Osten ist das anders. Gewiß haben auch seine Herrscher sich im 4. Jahrhundert dem falschen Glauben geöffnet und ihn unterstützt. Ihnen trat man mit derselben Reserve und demselben Widerstand entgegen wie im Westen. Aber diese Kaiser blieben vereinzelt. Ihnen folgten alsbald Herrscher, die man als Anhänger und Beschützer des reinen Glaubens, der wahren Lehre ansehen und dementsprechend verehren konnte. So blieb hier die Kontinuität erhalten — von Konstantin bis zu Justinian. Dementsprechend blieb, wenn auch zeitweise schwankend und gelegentlich unterbrochen, die äußere Einheit und die innere Zuordnung von Kirche und Staat so, wie man sie einst empfunden hatte, als man unter Konstantin meinte, jetzt seien Prophezeiungen des Alten Testaments erfüllt, wie die von Hes. 37 von der Wiederbelebung des Totenfeldes Israel durch den Odem Gottes155. Auf diese Weise kann sich nach und nach das „byzantinische" Miteinander und Zueinander von Staat und Kirche ausbilden, wie es unter Justinian in eine feste Ordnung gebracht wurde und sich im Osten dann fast 1000 Jahre hindurch erhalten hat. Selbst nach dem Zerbrechen des byzantinischen Reiches unter dem Ansturm der Türken dauerte es in Resten, etwa in Griechenland, bis auf den heutigen Tag fort. Im Westen ist diese Entwicklung, wie dargelegt, nach den ersten Anfängen unterbrochen worden. Dennoch hat man lange Zeit gebraucht, bis das Bewußtsein der Eigenständigkeit der Kirche sich zur Anmeldung eines theokratischen Anspruchs und zur Indienstnahme des Staates dafür entwickelte. Denn die Bewertung eines Kaisers als „gut" oder „schlecht" je nach seiner Ubereinstimmung mit der Kirche in Glaubens- und Lehrfragen und die Anmeldung des Anspruches der Uberordnung der Kirche über den Staat und dessen Einfügung als Diener in den Heilsplan Gottes sind zwei ganz verschiedene Dinge. Erst einmal mußte die Kirche lernen, dem Herrscher auch dann mit ihren Forderungen entgegenzutreten, wenn er ein „guter" Kaiser war, und ihn und sein Amt den Forderungen der christlichen Botschaft unterzuordnen, statt sich ihm zur Verfügung zu 155

Vgl. z. B. Euseb, hist. eccl. X, 3, 2; Schwanz 2, 2, 860, 20 f.

Kirche und Staat in der alten Christenheit

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stellen und seinem Gebot zu gehorchen. Ambrosius ist der erste, der das unübersehbar tut. Wenn er sich den Kaisern widersetzt, als er sie in der Gefahr sieht, dem Heidentum alte Rechte wiederzugeben, so bleibt er damit noch ebenso auf der traditionellen Linie, wie dann, wenn er Widerstand gegen die Absicht der Herrscher leistet, den arianischen Soldaten ihrer Leibwache katholische Gotteshäuser einzuräumen. Denn hier sind die Herrscher in der Gefahr, „schlechte" Kaiser zu werden, dem muß nach Kräften widerstanden werden. Aber als Ambrosius dem „guten" Kaiser Theodosius entgegentritt, weil dieser unter der Bevölkerung von Thessalonich durch seine Soldaten ein Blutbad hat anrichten lassen und ihn zur Kirchenbuße nötigt, beginnt etwas grundsätzlich Neues. Schon vorher hat Ambrosius — wie andere vor ihm — erklärt, daß dem Kaiser keine Rechte über die Kirche zuständen. Aber das hatte er — wie seine Vorgänger — aus dogmatischen Gründen getan, zur Verhütung eines „schlechten" Staates, der die Rechtgläubigkeit gefährden konnte. Jetzt trennt sich diese Feststellung von dem Motiv, das sie einst ausgelöst hatte, und gewinnt selbständige Existenz. Sie gilt nicht nur dem „schlechten" Kaiser, der in Glauben und Lehre andere Wege einschlägt als die Kirche, sondern auch dem „guten", der mit den dogmatischen Forderungen der Kirche übereinstimmt, aber ihre ethischen Gebote verletzt. Damit beginnt die Kirche dem Staat gegenüber endgültig ihre Selbständigkeit zu gewinnen. Das hat unter Ambrosius noch nichts mit einem Machtanspruch zu tun, ein Eingriff in die staatliche Herrschaftssphäre liegt Ambrosius fern. Aber die Voraussetzungen dafür sind damit geschaffen. Bis sich das zu konkreten Ansprüchen verdichtet, dauert es jedoch noch lange Zeit. Erst im Mittelalter ist dieser Zustand erreicht.

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Festschrift K u n s t

WILHELM H. NEUSER

Kirche und Staat in der Reformationszeit I Dem heutigen Betrachter bleibt die Gedankenwelt der Reformatoren verschlossen, wenn er ihr einen modernen Staatsbegriff unterstellt. Nicht erst im 20. Jahrhundert hat sich eine säkularisierte Staatsauffassung entwickelt, die Anfänge liegen früher. Dagegen kennt die Reformationszeit nur den christlichen Staat. In diesem unterschiedlichen Verständnis des Staates liegt die Hauptschwierigkeit, die Gedanken der Reformatoren nachzuvollziehen. Nun besteht diese Kluft nicht nur durch das Vorhandensein eines christlichen Staates in der Reformationszeit, die Verschiedenartigkeit liegt darüber hinaus im Verständnis des Staates überhaupt. Der Staat besitzt zur Zeit der Reformatoren noch nicht die Einheit und damit auch nicht die Macht, die eine straffe Organisation und Konzentration der militärischen, bürokratischen und ökonomischen Mittel bietet. Weder wird der Staat als überzeitliche Idee gedacht, der bestimmte Prinzipien zugrunde liegen, noch als Summe gesellschaftlicher Funktionen, die einer zentralen Zusammenfassung dringend bedürfen. Dem 16. Jahrhundert fehlt die Vorstellung des Staates als eines abstrakten, unpersönlichen Gebildes. Der Staat ist ganz konkret das Gemeinwesen, dem ein Stadtrat vorsteht, ist das Land, das der Fürst absolut regiert, das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das der Kaiser zusammenzuhalten und zu einigen sucht. Mag auch Machiavelli die oberitalienischen Stadtrepubliken mit Recht ,lo stato' nennen, weil sie schon eine straff organisierte Machteinheit darstellen, die Vorstellung einer unsichtbaren Macht über den Bürgern fehlt dem 16. Jahrhundert. Der Staat ist Obrigkeit. Dieser heute veraltete Begriff vermag vorzüglich das Staatsgefühl der Reformationszeit auszudrücken. Der Staat ist das Gemeinwesen, an dessen Spitze ganz kon-

Kirche und Staat in der Reformationszeit

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kret, ganz persönlich und mit großer Machtfülle ausgestattet der oder die Herrscher stehen. Die Menschen der damaligen Zeit denken in dem Dualismus von Obrigkeit und Volk. Im Einzelnen weisen die Staatsformen große Mannigfaltigkeit auf; es ist alles andere als eine Einheit festzustellen. Zum Programm des mächtig sich entfaltenden Humanismus gehört die Idee der Menschenrechte, eine Forderung, die der antiken Philosophie entlehnt ist. Durchzusetzen vermag sie sich aber noch nicht; es gibt weiterhin Leibeigene und Freie. In den Stadtdemokratien werden die Ratsherren vom Volk gewählt — eine modern anmutende Regierungsform. Schaut man genauer hin, so findet man in den Städten Personengruppen unterschiedlichen Rechtes. In Genf gibt es vor und zu der Zeit Calvins Einwohner (inhabitans), Bürger (bourgeois) und Altbürger (citoyens). Erstere besitzen keine Rechte, und nur die letztgenannten die vollen Bürgerrechte, die sie zu allen Regierungsämtern zulassen. In Genf wie in Zürich kämpfen die aufstrebenden Zünfte gegen die Patrizier — in Zürich Konstaffel genannt — und gegen ihren unverhältnismäßig großen Einfluß auf die Regierung. Größere Vorrechte noch besitzt der Adel in Kursachsen und in anderen deutschen Fürstentümern. In der Schweiz gibt es damals sogar Territorien minderen Rechtes, denn zur Eidgenossenschaft gehören nur die 13 Orte. Die eroberten Kantone werden nicht in den Bund aufgenommen, sie bleiben „gemeine Herrschaften und Vogteien", rechtloses Untertanenland. Dem Reich gegenüber hat sich die Eidgenossenschaft eine beachtliche Unabhängigkeit erkämpft. Der glückliche Ausgang des Schwabenkrieges im Jahre 1499 entzieht sie praktisch dem Zugriff des Kaisers. Im Zeitalter der konfessionellen Kämpfe bringt diese Unabhängigkeit den schweizer Protestanten nicht geringe Vorteile. Auch in Deutschland vermag sich der Kaiser gegen den landesherrlichen Absolutismus nicht oder nur schwer durchzusetzen. Die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des modernen Staates fehlt. Vor diesem Hintergrund muß das Problem des christlichen Staates im 16. Jahrhundert gesehen werden. Die Christlichkeit des Staates besteht nicht in der Anerkennung und Verwirklichung einiger christlicher Prinzipien, sondern ganz konkret in der Unterordnung unter kirchliche Ansprüche. Die mittelalterliche Kirche normiert alle staatlichen Bereiche, übernimmt einige von ihnen in ihre eigene Regie (wie z.B. die Ehegerichtsbarkeit) und erwartet selbstverständlich staatliche Hilfe, wo immer sie ihrer bedarf. In einigen deutschen Territorien liegt die staatliche Gewalt 4»

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sogar in der Hand des Bischofs. Umgekehrt führen die Städte und Kantone vielerorts einen heimlichen oder offenen Kampf gegen die Ausdehnung kirchlicher Privilegien und Vorherrschaften. In der Frage des Verhältnisses der Kirche zum Staat stehen die Reformatoren daher in einer Tradition, die sie nicht einfach abzuschütteln vermögen. Sie können die bestehende Ordnung abändern, nicht aber die Existenz eines christlichen Staates antasten oder in Zweifel ziehen. Es geht dabei um die Idee des corpus christianum, die sich im Mittelalter herausbildet. Die Kirche ist, paulinischen Gedanken folgend, der mystische Leib Christi (corpus Christi mysticum). Da nun jeder Mensch im Abendland getauft sein muß, sind Kirche und Volk praktisch identisch. Daraus zieht die kirchlich-universalistische Partei die Folgerung 1 , daß respublica christiana und ecclesia Synonyme seien. Christus ist das Haupt sowohl des Menschheitskörpers wie der Kirche. Beide fließen zu einem Körper zusammen, zu einem corpus mysticum oder corpus christianum. Bernhard von Clairv.aux (1091—1153) formuliert: in suo (sc. Christi) corpore, quod est populus christianus, ipse caput est. Thomas von Aquin (gest. 1274), Wilhelm von Ockham (gest. 1349) und andere Theologen der Scholastik äußern sich alle so oder ähnlich, ob sie nun zur kurialistischen Partei gehören oder nicht. Ist aber Christus das Haupt des Staates wie der Kirche, so läßt sich leicht die Forderung der päpstlichen Weltherrschaft erheben. Sie findet ihren Ausdruck am klarsten in der Zweischwertertheorie Bonifazius V I I I . (1294—1303). Die geistliche Gewalt ist über die weltliche gesetzt, der Papst über den Kaiser. Dieser Ausspruch bleibt nicht unwidersprochen. Die nichtkurialistische Partei 2 propagiert zwar auch die Einheit des Menschheitskörpers mit dem mystischen Körper Christi, der Kirche, doch werden beide nicht identifiziert. Der weltlich-zeitliche Bereich soll vom geistlich-ewigen getrennt bleiben. Einer die ganze Menschheit umfassenden Universalkirche wird der Universalstaat zur Seite gestellt. Zwei Herrscher stehen nebeneinander, ein weltlicher und ein geistlicher, Kaiser und Papst. Im Einzelnen gehen die Lösungen stark auseinander, die sich bei Dante Aligheri (1265—1321), Nikolaus von Cues (1401—1464) und anderen Denkern dieser Zeit finden. Infolge des Widerstandes der Staatspartei, der wachsenden Macht der Nationalstaaten und -kirchen und infolge der konziliaren Bekämpfung der päpstlichen Vorrherrschaft bleibt es bei einem 1

J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche, Breslau 1937, S. 583 ff.

2

J. Bohatec, a.a.O. S. 588 ff.

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dualistischen Miteinander von Kirche und Staat 3 . Der Gedanke des Corpus christianum wird Allgemeingut, seiner Ausprägung zu einer kirchlichen Theokratie bleibt ebenso der Erfolg versagt wie den zahlreichen Kriegszügen des Papstes in Norditalien. Die Reformation stellt nun keineswegs einen gewaltigen Bruch mit dem kirchlichen Leben und der Theologie der Papstkirche dar. Die Kontinuität und Diskontinuität in der Idee des Corpus christianum, der Theokratie und der christlichen Obrigkeit müssen sorgfältig registriert werden. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß der reformatorische Kirchenbegriff den Gedanken des Corpus christianum durchbricht4. Indem die Kirche als die Gemeinschaft der Gläubigen definiert wird, ist die Gleichsetzung der Kirche mit der Menschheit unmöglich geworden. Die Taufe wird nun auf Glauben hin vollzogen, und die Gültigkeit der scholastischen Lehre von der Selbstwirksamkeit der Gnade (opus operatum) auch für die Taufe bestritten. Gewiß, der neue Kirchenbegriff tritt nicht schroff zu Tage, denn dem menschlichen Urteil ist entzogen, wer die wahrhaft Gläubigen sind. Nur Gott kennt sie, das heißt, die Kirche ist eine unsichtbare, denn ihre Grenzen sind nur Gott sichtbar. Jede Taufe ist daher für die Menschen eine Aufnahme in die Kirche. Gleichwohl muß die Kirche jetzt vom Glauben her gedacht werden. Die Idee des Corpus christianum ist grundsätzlich durchbrochen. Trotzdem hindert der konstatierte Bruch die Reformatoren nicht, am Gedanken des Corpus christianum festzuhalten. Sie mögen ihn theologisch nicht mehr vertreten, praktisch behält er seine Gültigkeit. Denn die Praxis der mittelalterlichen Kirche nimmt ihren Fortgang: Die Taufe ist — wie erwähnt — die Aufnahme in die sichtbare Kirche. Nun ist es aber auch in der Reformationszeit unmöglich, sein Kind nicht taufen zu lassen. Die Taufe wird nur als Kindertaufe geübt. Die Bestimmungen des Corpus Iuris Canonici über die Kindertaufe gelten weiter, die Verweigerung der Taufe wird kurzerhand als Ketzerei und Aufruhr angesehen. Die Kirche ist Volks- und Staatskirche. In Zürich, Wittenberg und Genf besteht gleichermaßen diese Spannung im Kirchenbegriff. Im Blick auf die mittelalterliche Kirche wäre der Begriff der Christokratie dem der Theokratie vorzuziehen, denn es wird von der Idee der s 4

U. Scheuner, Kirdie und Staat, R G G 3 III, 1329. A. Farner, Die Lehre von Kirdie und Staat bei Zwingli, Tübingen 1930, S. 81 ff. K . Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1 Luther, Tübingen 1921, S. 343 ff.

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Christenheit als dem Corpus Christi ausgegangen. Weil Christus das H a u p t dieses zugleich geistlichen und weltlichen Leibes ist, ordnet die päpstliche Partei die geistliche Macht der weltlichen über, das sacerdotium dem imperium. Trotzdem ist die Verankerung der Christusherrschaft in der Institution des Staates praktisch nicht durchführbar gewesen. Anders steht es mit der Theokratie im Alten Testament. Mose übt am Sinai eine theokratische Herrschaft über die Stämme Israels aus. Schon die charismatischen Könige des Alten Testamentes haben diese Stellung nicht mehr inne, denn in der Theokratie muß eine Person stellvertretend für die Gottheit die Regierungsgewalt übernehmen 5 . Theokratie ist Priesterherrschaft. Erst wenn der Begriff in dieser Weise geklärt ist, kann gefragt werden, ob Zwingli und Calvin zurecht der Vorwurf gemacht wird, eine Theokratie aufgerichtet zu haben. Eine emotionale Verwendung der Begriffe Christokratie oder Bibliokratie besagt wenig und bleibt in einer unsachlichen Polemik stecken. Eine mindestens gleichgroße Gefahr für die Kirche der Reformation, ihrer Bestimmung untreu zu werden, liegt darin, daß die Obrigkeit das Kirchenregiment oder Teile desselben übernimmt. Wie eng die theokratischen Bestrebungen und die Eingriffe der Obrigkeit in den kirchlichen Bereich zusammengehören, wird noch zu zeigen sein. Die Obrigkeit ist in der Kontinuität des Corpus-christianum-Denkens christliche Obrigkeit. Sie hat darum auch die Ketzergesetze des Corpus Iuris Civilis durchzusetzen, denn sie sind Reichsrecht. Im 17. Jahrhundert wird dieses Recht der Obrigkeit (im Rahmen des ius circa sacrum) das ius advocatiae, das Schutzrecht und die Schutzpflicht der Obrigkeit genannt 6 . Das ius reformandi besteht zu Lebzeiten Luthers noch nicht. Aber das ius supremae inspectionis ecclesiae entwickelt sich zwangsläufig, wenn die Obrigkeit f ü r die Instandhaltung der Kirchen, die Pfarrbesoldung, die Einziehung der Kirchensteuern, die Kultusreformen in den Kirchen und die Durchsetzung evangelischer Kirchenordnungen herangezogen wird. Mag man sie als Christ und Glied der Kirche (praecipuum membrum ecclesiae) ansprechen und zum Handeln auffordern, sie besitzt eine Machtfülle, die ihr immer ein Ubergewicht gibt. Die Grenzen staatlicher Gewalt müssen in der Reformationszeit immer wieder neu abgesteckt werden. In jedem Fall versteht man die Obrigkeit in einem Maße als christliche Obrigkeit, 5

G. Mensching, Theokratie, RGG 3 VI, 752.

8

M. Heckel, Ius circa sacra, RGG 3 III, 1073 f.

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die weit über ihre theologische Begründung als Schöpfung Gottes und weit über die Gehorsamspflicht auf Grund von Römer 13 hinausgeht. Mit der Reformation ergeben sich zwangsläufig eine Fülle neuer kirchlicher Aufgaben, die nur in Zusammenarbeit mit der Obrigkeit gelöst werden können. Außer den bereits genannten sind unter Verzicht auf Vollständigkeit folgende Aufgaben anzuführen: Die sehr beachtlichen Meßstiftungen müssen eingezogen werden, wenn die Privatmessen verweigert oder verboten worden sind. Die Schar der Kleriker, die ihren Lebensunterhalt aus dem Messehalten bestritten, muß versorgt werden. Das gleiche gilt für die Mönche, die ihre Klöster verlassen. In den leeren Klöstern werden Schulen, Spitäler und Armenhäuser eingerichtet, mit den Geldern Armenkassen gegründet, Armenordnungen aufgestellt, das Bettelwesen abgestellt und die Freudenhäuser geschlossen. Eine große Zahl sozialer, wirtschaftlicher und juristischer Probleme sind zu lösen, die neuen Ordnungen und Institutionen weiterhin zu überwachen und zu fördern. So wichtig die Kenntnis dieser Reformen ist — sie stellen ein Ruhmesblatt der Reformation dar — im Mittelpunkt der Überlegungen sollen hier die Spannungen und Gegensätze stehen, die in der Reformationszeit zwischen Kirche und Staat, Christen- und Bürgergemeinde auftreten: 1. Die Übernahme des Kirchenregimentes durch die Obrigkeit 2. Kirchenzucht und obrigkeitliches Sittenmandat 3. Der Widerstand gegen die Obrigkeit 4. Die Ketzerverfolgung durch die Obrigkeit.

II Die Übernahme des Kirchenregimentes durch die Obrigkeit wird in den kirchengeschichtlichen Darstellungen der deutschen Reformation durchweg mit den sächsischen Kirchenvisitationen verbunden. Luther selbst trägt im Brief vom 31. Oktober 1525 die Bitte an den Kurfürsten heran, die Visitation der Gemeinden zu veranlassen. In den nachfolgenden Briefen umreißt er die Aufgaben genauer, die der gemischten Kommission, bestehend aus Theologen und kurfürstlichen Räten, bei der Visitation zufallen. Dabei ist sich Luther bewußt, daß geistliche und weltliche Macht ihrem Wesen nach grundverschieden sind und nicht vermengt werden dürfen. Der Kurfürst darf nur als christlicher Fürst und um der Schutzpflicht der Kirche gegenüber herangezogen werden. Indessen ist sich Luther ebenfalls bewußt, daß eine Visitation auch die geistlichen

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Bereiche der Gemeinde berührt und also eine Grenzüberschreitung darstellt. Dies drückt sich darin aus, daß Luther die kurfürstliche Visitation als ,Notwerk' versteht, wie K . Holl 7 überzeugend nachgewiesen hat. Die Instruktion des Kurfürsten aus dem Jahre 1527 beweist, daß die kurfürstlichen Räte die feine theologische Unterscheidung nicht akzeptieren, sie denken juristisch. „Mit dieser Instruktion ist das landesherrliche Kirchenregiment da" 8 . In der Vorrede zum Visitationsbuch (1528) legt Luther — vielleicht aus Protest — noch einmal die Notwendigkeit, Berechtigung und Vorläufigkeit einer von der Obrigkeit durchgeführten Visitation dar. Doch ist die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Aus der Notordnung wird stehende Ordnung. „Die Macht der Tatsachen war stärker als Luthers Theorie" 9 . Indessen setzt diese Entwicklung schon früher ein. Notwendig mußte es bereits vorher zum Eingreifen des Kurfürsten kommen. Die reformatorische Verkündigung hatte Luther in einen tiefgreifenden Gegensatz zu Rom und den Bischöfen gebracht, die in den kursächsischen Gebieten die geistliche Jurisdiktion ausübten. Im Jahre 1520 wird nur der Gegensatz in der Lehre ausgetragen, denn Luther verzichtet auf praktische Reformen, da er sie noch von einem Konzil erhofft. Es ist bezeichnend, daß bis zum Allerheiligenfest 1521 in der Wittenberger Stiftskirche die Reliquien ausgestellt, verehrt und der päpstliche Ablaß verkündet wird 10 . Luthers 95 Thesen hatten als Proklamation mächtig gewirkt, aber nicht einmal in Wittenberg zur Abstellung des Mißbrauches geführt. Da bricht während seiner Abwesenheit auf der Wartburg der Damm der Zurückhaltung. Pfarrer brechen das Zölibatsgebot und heiraten, Laien erhalten das Abendmahl mit Brot und Wein gereicht, Mönche verlassen ihre Klöster, die Augustinermönche weigern sich, Privatmessen zu halten, und fordern die alleinige Geltung der Gemeinde „messe". Von dem kurfürstlichen Sekretär Spalatin auf den Bruch der Zölibats- und Mönchsgelübde angesprochen, antwortet Luther lakonisch, dann hätte man gegen sie vorher auch nicht predigen dürfen". 7

a.a.O. S. 321, 285 ff., 304, 315.

8

K. Holl, a.a.O. S. 319.

9

K . Holl a.a.O. S. 325.

10

P . Kaikofi, Ablaß und Reliquienverehrung an der Sdiloßkirdie zu Wittenberg, S. 49, meint, im Frühjahr 1521 sei der Ablaß sdion nicht mehr verkündet worden. Dodi widerlegt ihn der Brief der Stiftsherren vom 10. Okt. 1521; N.Müller, Die Wittenberger Bewegung, Leipzig 1911, S. 24 ff.

11

W A / B r . 2, 412, 29 f.; Mitte Dez. 1521.

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Der Ruf nach einer neuen, einheitlichen Ordnung wird laut. Unzweifelhaft steht das Recht der Entscheidung über Lehre und Kultus den Bischöfen zu, die indessen reformationsfeindlich eingestellt sind. Dieses Recht will auch der Kurfürst nicht ändern. Als im Frühjahr 1522 der Bischof von Meißen die kursächsischen Gebiete seiner Diözese besucht, um dort den Eingang der Reformation zu verhindern, befiehlt er seinen Amtsleuten, ihm das Schutzgeleit zu geben, die gewaltsame Durchsetzung der bischöflichen Verordnungen aber zu verweigern. Nominell besteht die alte Ordnung weiter. Und doch bleibt dem Kurfürsten in dieser Situation bald nur der Ausweg, selbst die bischöflichen Funktionen zu übernehmen. Im Herbst 1521 beschränkt er sich noch auf seine Befugnis, in Wittenberg für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Bezeichnend ist seine wiederholte Mahnung, „Aufruhr" zu vermeiden. Als sich aber Anfang Dezember Ausschreitungen in den Kirchen ereignen, und man sich in der Universitätskommission über die Neuerungen nicht einigen kann, verbietet er am 19. Dezember 1521 kurzerhand alle Reformen und befiehlt, die geschehenen rückgängig zu machen. Indessen erlaubt er, „davon disputiren, schreyben, leßen und predigen" 12 . Mochte dieses Eingreifen noch im Bereich seiner Schutzpflicht gegenüber der Kirche liegen, beim ersten Auftreten protestantischer „Sekten" war ein Ubergriff in den geistlichen Bereich unvermeidlich. Ende Dezember erscheinen in Wittenberg die Zwickauer Propheten, die göttliche Offenbarungen erhalten zu haben vorgeben, das Ende der Welt ansagen und die Rechtmäßigkeit der Kindertaufe bestreiten. In ihrer Bestürzung wenden sich Amsdorf und Melanchthon an den Kurfürsten „als einem Cristlichen Churfursten und diser tzeit eynigem Schutzer Ecclesie, welchem billich in solche sach steet zusehen" 13 . Beide sind sich der schwierigen Lage bewußt, denn sie mahnen den Kurfürsten, die Bewegung nicht mit Gewalt zu unterdrücken, sondern ihr durch geistliche Mittel zu begegnen, mag auch in Zwickau Aufruhr vorgefallen sein14. Friedrich der Weise läßt seine Räte am 1./2. Januar 1522 in Prettin mit den beiden Theologen verhandeln. Ausdrücklich verwahrt er sich dagegen, bischöfliche Rechte ausüben zu wollen: Er sei ein Laie und der Hl. Schrift unerfahren 15 . Trotzdem be12 13 14 15

N. N. N. N.

Müller, Müller, Müller, Müller,

a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O.

S. S. S. S.

124. 140. 140 f. 141.

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sprechen seine Räte mit den Wittenbergern die theologischen Argumente für die Kindertaufe. Der Kurfürst entzieht sich noch einmal der Entscheidung über die kirchliche Lehre, indem er Melanchthon und Amsdorf die Einwilligung abringt, die Diskussion mit den Zwickauer Propheten abzubrechen. Seinen Laienstand hat der Kurfürst seit Beginn der Wittenberger Bewegung wiederholt hervorgehoben. Am Weihnachtstag 1521 hält Karlstadt trotz des Verbotes seine ,Evangelische Messe', die radikal mit den römischen Bräuchen im Gottesdienst aufräumt. Ein gemeinsamer Ausschuß der Universität und des Stadtrates erarbeitet daraufhin für die Stadtkirche eine Gottesdienstund Kultusordnung, die Kastenordnung vom 24. Januar 1522. Nicht zuletzt der verstärkte politische Druck von außen veranlaßt den Kurfürsten, alle Beteiligten am 12./13. Februar 1522 nach Eilenburg zu laden und mit ihnen eine Gottesdienstordnung auszuhandeln, die nur die dringendsten evangelischen Reformen der Messe enthält 16 . Kein Wort fällt mehr vom Laienstand des Kurfürsten — mit seiner ganzen Autorität drängt er auf eine Verminderung und Zurücknahme der Reformen. In diesem Augenblick übt er landesherrliches Kirchenregiment aus. Am 6. März kehrt Luther vorzeitig nach Wittenberg zurück und übernimmt wieder mit starker H a n d die Leitung der Reformation. Aber erst im Jahre 1525 trägt er an den Kurfürsten Johann das Anliegen der Visitation heran. Die Weichen sind zu diesem Zeitpunkt längst zugunsten des landesherrlichen Kirchenregimentes gestellt. N u n ist Luther keineswegs der Meinung, daß alle bischöflichen Rechte auf den Landesherren übergegangen sind. Mag er den Kurfürsten im Jahre 1539 auch einen „Notbischof" nennen („weil sonst kein Bischof uns helfen will") 17 , so bezeichnet er ganz betont auch die Pfarrer als „Bischöfe" (episcopi). In seiner Gottesdienstordnung aus dem Jahre 1523 (Formula missae) heißt der Pfarrer durchgehend ,Bischof', und die Theologen unter den Visitatoren redet er verschiedentlich als ,Bischöfe' und ,Erzbischöfe' an18. Bischöfliche Rechte sind auf sie übergegangen und werden von ihnen wahrgenommen. Ein Gegengewicht zum landesherrlichen Kirchenregiment ist damit aber nicht geschaffen. Die Kirchenleitung kann nicht auf die Gemeinden und Pastoren verlagert werden. Der Bischofstitel scheint denn auch von den Pfarrern nur selten verwandt worden 16 17 18

N . Müller, a.a.O. S. 200 ff. Belege bei K. Holl, a.a.O. S. 321, Anm. 2. Belege bei K. Holl, a.a.O. S. 303, Anm. 4; 307, Anm. 3; 322, Anm. 1 und 2.

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zu sein. Im Jahre 1539 wird in Sachsen das erste Konsistorium eingerichtet. Es verdient Beachtung, daß der Kurfürst sein landesherrliches Kirchenregiment nicht durch seine Kanzlei, sondern durch eine besondere Institution ausübt. Geistliches und weltliches Regiment sind unterschieden, wenngleich sie beide in der Person des Fürsten zusammenfallen. In Zürich steht Zwingli vor der gleichen Aufgabe. Beim R a t der Stadt muß die Lösung von der Konstanzer Kurie und die Neuordnung der Kirche gemäß dem Evangelium durchgesetzt werden. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung im Jahr 1522, als über die biblische Predigt in Zürich entschieden werden soll, erklärt Zwingli vor einer Ratskommission: „Ich bin in diser Statt Zürich Bischof und Pfarrer, und mir ist die Seelsorg bevolen; ich han darum geschworen und die Mönch nit; sie sond uf mich Acht han und nit ich uf si. So oft sie predigen, was erlogen ist, will ich's anfechten" 19 . Es ist sicherlich kein Zufall, daß Zwingli das Bischofsamt für sich beansprucht. Er ist anfangs auch bereit, die bischöflichen Rechte allen anderen evangelischen Pfarrern zuzugestehen, nicht aber dem Züricher Rat. Zürich ist, wie die meisten unabhängigen Städte, seiner Regierungsform nach Zunftdemokratie. Über die jährlichen Wahlen hat die Bürgerschaft daher einen großen Einfluß auf die Obrigkeit. Doch ist die gewählte Regierung zu größter Vorsicht genötigt, da Stadt und Kanton vor einer Isolierung oder gar Befeindung bewahrt werden müssen, in die sie durch den Anschluß an die Reformation notwendig geraten. Mag auch das Volk wehrhaft sein, die Macht der Stadt ist begrenzt. Mit wieviel Zögern ein Stadtrat die bischöfliche Jurisdiktion übernimmt, zeigt illustrativ die Geschichte der Stadt Konstanz. Als Bischofssitz ist ihr besondere Klugheit geboten, doch ist der Eingriff der Obrigkeit auch hier unvermeidbar. Als die Prediger um ihrer evangelischen Lehre willen vom Bischof angeklagt werden, gewährt ihnen entgegen dem Brauch der Rat Schutz. Der Nürnberger Reichstagsabschied von 1523 wird geschickt im Sinne der Reformation und zugunsten der Prediger ausgelegt. Als eine Disputation über die umstrittenen Lehren stattfinden soll (1524), will der Rat die Leitung nicht dem Bischof, sondern gelehrten Theologen übertragen. Im Jahre 1527 verhört schließlich eine Ratskommission die evangelischen und katholischen Pfarrer über ihre Lehre und übt damit das geistliche Recht aus. Für die damalige Zeit ein un19

Chronik des Bernhard Wyss; O. Farner, H u l d r y d i Zwingli, Zürich 1954, III, 268.

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geheuerlicher Vorgang! Der Bischof hatte schon im Jahr zuvor die Stadt verlassen20. In Zürich vollzieht sich die gleiche Entwicklung. Im Jahre 1523 lädt der Rat der Stadt zweimal zu Disputationen ein. Es wird über die freie Predigt des Evangeliums, die Messe und die Bilder in den Kirchen verhandelt. In diesen Versammlungen werden jedoch nicht nur Streitgespräche geführt. Auf ihnen fällt die Entscheidung über die Reformation. Zwingli nennt sie Konzilien, entsprechend den Provinzialkonzilien der Alten Kirche. Der Rat lädt zu ihnen ein und übernimmt die Ausführungsgesetze. Am Gespräch selbst beteiligt er sich als weltliche Gewalt nicht. Als christliche Obrigkeit muß er bei einem Notstand der Kirche eingreifen. Diese Notlage besteht, weil der Bischof keine Anstalten macht, die in der Kirche eingerissenen Mißstände zu beseitigen. Aber auch als weltliche Obrigkeit greift der Rat ein, weil im Land Unruhe entstanden ist. Aus der allgemeinen Erregung über die sich widersprechenden Predigten und unterschiedlichen Gottesdienstformen droht Aufruhr zu entstehen21. Hierin handelt der Züricher Rat nicht anders als der Kurfürst von Sachsen oder der Rat der Stadt Konstanz. Den Gegensatz von geistlicher und weltlicher Gewalt hat Zwingli anfangs ebenso stark betont wie Luther und Melanchthon. Sein Kirchenbegriff beweist es21\ Die Kirche Christi ist die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen. Sie ist eine unsichtbare Kirche, denn Gott allein kennt ihre Grenze. Diese Kirche muß aber zugleich immer auch sichtbare Kirche sein, denn das Wort Gottes wirkt den Glauben und schafft also fort und fort Kirche. Daher wird die Kirche Christi in den einzelnen Gemeinden („pfarren oder kilchhörinen") sichtbar. Die Gemeinde Appenzell ist ebenso Glied der Kirche Christi wie die Kirche zu Korinth. Diese Überlegung gilt es festzuhalten: Weil das Wort Gottes von Pfarrern gepredigtes Wort ist, muß die Kirche sichtbare Institution sein. Rudolf Sohms These, die Kirche des Urchristentums und die Kirche Luthers seien keine rechtlichen Institutionen, sondern rein religiöse Größen, erweist sich schon aus dieser Überlegung heraus als falsch. Zur Rechtfertigung wie zur Kirche gehört das gepredigte Wort. Es ist ein Kennzeichen der Reformation, daß sie die römische Lehre von der Sakramentsgnade (gratia infusa) durch die Lehre von der Gnade im Wort ablöst. 20

Vgl. H. Bude, Die Anfänge der Konstanzer Reformationsprozesse, Tübingen 1964. A. Farner, a.a.O. S. 90 ff. 2U A . Farner, a.a.O. S. 3 ff 21

Kirdie und Staat in der Reformationszeit

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In Zwingiis Commentarius de vera et falsa religione (1525) findet sich auch die Definition, die Kirche sei die gesamte Christenheit. Der Gedanke der Einheit von Staat und Kirche im Corpus christianum, praktisch nie aufgegeben, wird von Zwingli nun auch theologisch von Jahr zu Jahr stärker vertreten. Staat und Kirche fließen je länger je mehr ineinander. Es sind die äußeren Ereignisse, die Zwingli auf diese Bahn treiben. Am 11. April 1525 wenden sich die Züricher Prediger an den Rat mit der Bitte, die noch immer anstehende völlige Abschaffung der Messe zu veranlassen. Gleichzeitig legen sie eine neue Gottesdienstordnung vor, die eine radikale Säuberung der Messe enthält. Der Schritt Zwingiis und seiner Mitarbeiter entspricht dem Brief Luthers vom 31. Oktober 1525, in dem er den Kurfürsten um eine Visitation der Gemeinden ersucht. Auch in Zürich zieht die Obrigkeit in der Folgezeit das Kirchenregiment an sich, auch hier geht es um den einheitlichen evangelischen Gottesdienst, auch hier erscheinen die Sekten mit als Ursache, daß die Theologen an die Obrigkeit herantreten. In Sachsen erfolgt die erste größere Visitation (1527) nicht zufällig im Saalekreis, wo Karlstadt gewirkt hatte. In Zürich bricht die Auseinandersetzung mit den Gemeinschaftschristen mit besonderer Heftigkeit los. Schon früh bilden sich Konventikel, in denen die Ideen der Zwickauer Propheten, des Sozialreformers Jakob Strauß und Karlstadts lebendig sind. Ein urchristliches Gemeindeideal wird gepflegt. Zwingli läßt die „Geistler" gewähren, obgleich sie ihn heftig kritisieren. Dann aber dringen im Jahre 1524 täuferische Gedanken in diese Kreise ein; die Kinder werden nicht mehr zur Taufe gebracht. Gespräche Zwingiis mit den Führern der Bewegung bleiben fruchtlos, eine Disputation am 17. Januar 1525 vor dem Rat bringt keine Annäherung der Standpunkte. Am folgenden Tag erläßt der Rat ein Mandat, in dem die Kindertaufen binnen acht Tagen nachzuholen befohlen wird, anderenfalls erfolgt Ausweisung. Die Täufer antworteten mit der Einführung der Wiedertaufe. Sie verstoßen nun gegen das Reichsrecht und ziehen dessen scharfe Strafbestimmungen auf sich. Im Jahre 1527 wird der erste Täufer im Zürichsee ertränkt. Diese und andere Vorkommnisse beschleunigen die Herausbildung eines obrigkeitlichen Kirchenregimentes. In der Schweiz ist die Vermischung des weltlichen und geistlichen Regimentes nicht so widerspruchslos hingenommen worden wie in Deutschland. Die Konventikler klagen Zwingli aufs schärfste an. Im

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August 1525 gibt er zur Antwort 22 , der Rat der Zweihundert handele in Zürich an der Gemeinde statt (ecclesiae vice). Zur Begründung führt er an: Die Volksmenge sei in Zürich zu groß, um ohne Zank und Streit kirchliche Ordnungen beraten zu können. Auch gebe es zu viele törichte Köpfe, die geisterfüllt zu sein vorgeben. Zudem würden nur die .äußeren Dinge' dem Rat überlassen — doch zählen dazu auch die Gottesdienstordnungen. Es genüge, daß die Gemeinden den Ratsbeschlüssen schweigend zustimme. Die Prediger seien da, die darüber wachten, daß alles nach der Richtschnur des Wortes Gottes geschehe. Falls nötig, würden sie auch auf der Kanzel den Rat kritisieren. Zwingli ist sich des Unterschiedes von Staat und Kirche wohl bewußt, denn er ringt mit dem Problem der sinnvollen und zugleich erlaubten Inanspruchnahme der Staatsgewalt für die Kirche. Die Obrigkeit handelt nur ,an der Gemeinde statt'. Es stimmt aber bedenklich, daß er auf Paulus und Barnabas verweist, die im Auftrag der Gemeinde zu Antiochien in Jerusalem Rat holen. Die innerkirchliche Konsultation ist hier auf Staat und Kirche übertragen. Sinnvoll ist das Beispiel nur, wenn der Rat der Zweihundert als praecipuum membrum ecclesiae verstanden wird. Es bereitet Zwingli keine Sorge, daß weltliche Gewalt in Anspruch genommen wird. Ihn bewegt nur der Umstand, daß einige wenige Männer für die Menge der Christen entscheiden. Der Rat der Zweihundert fungiert als Kirchenvorstand. Diese Ordnung wird Zwingli später damit rechtfertigen, daß unter den neutestamentlichen ,Presbytern' auch Ratsherren verstanden werden können. Noch im Jahre 1523 hatte er ausgeschlossen, daß die ,Hegemonen' des Neuen Testamentes die weltlichen Oberen sind23. Er umreißt die Funktion des Rates als Kirchenvorstand ganz genau: Auf dem Lande außerhalb Zürichs übt der Rat diese Funktion nicht aus, denn dort ist er nur Landesherr aber nicht D o r f - oder Stadtregierung. In Zürich ist damit die Form der Staatskirche eingeführt und legitimiert. In den letzten Lebensjahren Zwingiis werden Kirchen- und Bürgergemeinde immer mehr zu einer Einheit. Der Züricher Rat übt das Kirchenregiment bald uneingeschränkt aus. Die Ehe- und Bannordnung erläßt er „als ein christliche Oberkeit, und anstatt irer gemeinen kilchen" (1526). Seit dem Jahr 1529 befiehlt der Rat sogar den regelmäßigen 22 23

CR/Zw. 4, 479, 5 ff. A. Farner, a.a.O. S. 115.

Kirche u n d Staat in der R e f o r m a t i o n s z e i t

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Kirchgang. Mag diese Verordnung auch zur Unterdrückung der täuferischen Konventikel gedacht sein, sie ist ein Zeichen des staatskirchlichen Dirigismus. Umgekehrt werden nur Männer in den R a t gewählt, die evangelisch sind und am Abendmahl teilnehmen. Es zeigt sich, daß Zwingli keineswegs gewillt ist, nur theologischer Berater oder auch Kritiker des Rates zu sein. Mit Vorliebe bezeichnet er das Predigtamt als prophetisches Amt. ,Prophezei' heißt die im Jahr 1525 eingerichtete berühmte theologische Arbeitsgemeinschaft, die mehrmals in der Woche vormittags zur Schriftauslegung zusammentritt. Eine prophetische Gestalt in der vielfachen Bedeutung des Wortes ist Zwingli selbst, Theologe und Staatsmann, beides überragend und einmalig zu seiner Zeit. In seinen Händen hält er Bibel und Schwert. Als im Jahre 1528 in Zürich unter dem Druck der wachsenden konfessionellen Spannungen zwischen den schweizer Kantonen der ,Geheime Rat' gebildet wird, wird er Mitglied und Führer dieses obersten Züricher Gremiums. Damit wird in Zürich die Theokratie eingeführt, eine prophetische Theokratie. Von Zwingiis H a n d stammen die militärischen Feldzugspläne zur Eroberung der Innerschweiz für das Evangelium. Am 11. Oktober 1531 fällt er in der Schlacht bei Kappel. Die tiefsten Ursachen für die unterschiedliche Entwicklung in Wittenberg und Zürich sind in der Theologie der dortigen Reformatoren begründet. Luther ist nie über Augustins Gegensatz von civitas terrena und civitas coelestis hinausgekommen, Melanchthon hat immer iustitia civilis und iustitia spiritus getrennt, mochte auch diese die Vorstufe zu jener sein. Zwingli hingegen stellt die göttliche Providenz an die Spitze seiner Dogmatik. Sie ist als Allwirksamkeit und Allkausalität verstanden. Auch die Ursache der Sünde schreibt er im Gegensatz zu den anderen Reformatoren Gott zu. Dieser göttliche Monismus läßt ihn auch die beiden Reiche zusammenschauen.

III Als Johann Calvin im Jahre 1536 nach Genf kommt, ist die Entscheidung über das Kirchenregiment bereits gefallen. Nach dem Vorbild Berns und Zürichs ist das Staatskirchentum eingeführt. Alle kirchlichen Entscheidungen fällt nach Anhörung der Prediger der Rat. In den „Artikeln über die Ordnung der Kirche" fordert nun die Genfer Pfarrerschaft eine strenge Kirchenzucht. Ratsherren übernehmen daraufhin die

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Leitung und Durchführung des Sittengerichtes, des kirchlichen Bannes (unter Mitwirkung eines Pfarrers) und des Ehegerichtes. Nicht zufällig kommt es an der Frage der Kirchenzucht zum Zerwürfnis eines Teiles der Prediger mit dem Rat. Trotz des wiederholten Ratsbefehls erscheint ein Teil der Bürger nicht zur Beschwörung des Glaubensbekenntnisses, das die Reformation in Genf sichern soll. (Dieser Eid der Bürger ist keine Erfindung Calvins; er wird im Jahr 1534 schon in Basel abgelegt.) Daraufhin weigern sich Farel, Calvin und Courauld, am Ostertag 1538 das Abendmahl auszuteilen. Auch ein ausdrücklicher Ratsbefehl vermag sie nicht umzustimmen. Calvin hat nach der Entlassung und Ausweisung drei Tage später bezeugt, die Weigerung sei kein Protest gegen die Berner Forderung gewesen, Taufstein, Oblaten und vier Wochenfeste wiedereinzuführen. Vielmehr hätten die Lästerungen und Spottreden gegen Gott und sein Evangelium, Unruhen und Parteiungen in der Stadt überhand genommen, Bestrafungen aber seien nicht erfolgt. Das Abendmahl wäre unter diesen Umständen entweiht worden. Damit beginnt in Genf das Ringen darum, ob eine eigenständige Kirchenzucht oder eine obrigkeitliche Sittenordnung eingeführt werden soll. Der Kampf hat Calvin die besten Jahre seines Lebens gekostet. In Zürich ist zur Zeit des Wirkens Zwingiis die kirchliche Ausübung des Bannes untersagt gewesen, das „Sittengericht" hat jedoch scharf durchgegriffen. Durch seine „Kundschafter" wurde es „der große Sittenwächter der Stadt. D a war der Hausbesitzer verantwortlich für die Sittlichkeit seines Mieters, verliebte junge Leute durften nicht unter dem Torweg oder hinter der Scheune stehen, die Frau keinen Herrenbesuch empfangen, ein bei sich Gäste aufnehmender Bürger mußte sich rechtfertigen, daß es ohne Kuppelei geschah, und der Gastwirt hatte acht zu geben auf die Sittlichkeit seiner Kellnerin. Oder das Gericht verbot eine Fensterpromenade, warnte einen Dienstboten wegen Uberbringung von billets d'amour, untersagte einem Ehemann das späte Heimkommen und fragte bei unehelichen Geburten nach der Vaterschaft. . . . In Zwinglis Zürich lag die Wurzel für das Genf Calvins und für den Puritanismus Oliver Cromwells und anderer" 24 . Nun ist zu beachten, daß Zahl und Inhalt der städtischen Zuchtgebote weder in Zürich noch in Genf neu und also „evangelisch" sind. Sie sind vom Mittelalter her vorhanden. Viele Anordnungen in Genf sind nur vermeintlich von Calvin neu eingeführt worden. Neu ist die Energie, mit der die bestehenden Sitten24

W . Köhler, Huldrych Zwingli, Stuttgart 1952 2 S. 126 f.

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gesetze durchgesetzt werden. Diese energische Durchführung ist evangelisch. Bei Calvin hat sie jedoch andere Beweggründe als bei Zwingli. In Basel hält im Jahre 1530 der Reformator der Stadt, Johannes Oekolampad, vor dem Rat eine kirchengeschichtlich bedeutsame Rede „De reducenda excommunicatione apostolica" 25 . Darin entfaltet er das Programm einer eigenständigen Kirchenzucht, die die obrigkeitliche Sittenzucht ablösen soll. Denn die Obrigkeit unterstützt um ihrer staatlichen Bedeutung willen Sittlichkeit und öffentliche Ordnung, die Kirchenzucht aber gehört zum Wesen der christlichen Kirche. Wenn die Kirche den Glauben predigt, muß sie ihren Gliedern auch verbindlich sagen können, wer sich vom Leibe Christi getrennt hat. Die Exkommunikation soll Heilmittel sein, soll zur Umkehr führen. Kirchenzucht muß im Blick auf die Glaubensgerechtigkeit geübt werden. In diesem Programm sind Kirche und Staat klar unterschieden. Doch ist Oekolampad Realist genug, sie nicht trennen zu wollen. In dem einzurichtenden Presbyterium sollen je vier Pfarrer, Stadträte und Männer aus dem Volk (ex plebe) Sitz haben und die Zensur durchführen. Wäre der Rat dem Vorschlag gefolgt, so hätte die Kirche eine Zweidrittelmehrheit besessen. Doch zieht er die Auswahl der Laien-Presbyter an sich und verwässert auch sonst die Vorschläge Oekolampads. Das Staatskirchentum bleibt ungebrochen. Nur wenige Jahre besteht die Institution der „Bannherren" in Basel. Calvin hat ihr Erlöschen sehr beklagt. Während seines Baseler Aufenthaltes (Ende 1534 bis Februar 1536) hatte Calvin genügend Gelegenheit, das Presbyterium und seine Arbeit zu studieren. Oekolampads Gedanken einer kircheneigenen Sittenzucht und ihrer Handhabung durch ein Presbyterium übernahm er für Genf. Es ist verfehlt, seine Forderung im Licht der späteren presbyterial-synodalen Kirchenordnung zu sehen, die Calvin für die Hugenottenkirche in Frankreich entwickelt. Um die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat, die für die verfolgten Protestanten in Frankreich selbstverständlich ist, hat er in Genf nicht gekämpft. Nur den einen Block will er aus dem Staatskirchentum in Genf herausbrechen: die Kirchenzucht soll in den Händen der kirchlichen Amtsträger liegen. Man mag daneben noch auf das Dringen der Inhaber kirchlicher Ämter auf Selbständigkeit gegenüber dem Rat hinweisen, doch haben die übrigen Reformatoren das Recht der öffentlichen Kritik an der Obrigkeit ganz selbstverständ25

Vgl. E. Pfisterer — G. Nordholt, Calvins Weg nach Genf, Reform. Kirchenzeitung 1959, S. 247 ff.

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lieh geübt. Viel revolutionärer ist der Gedanke, einen wichtigen Sektor der Kirchenleitung Laien aus der Gemeinde anzuvertrauen. Das Kirchenregiment kommt nach allgemeiner Ansicht den Geistlichen zu. Schon daß die Obrigkeit darüber hinausgeht, der Kirche ihren Arm zu leihen, ist eine Grenzüberschreitung. Ein Mitregiment der Laien ist schlechthin revolutionär. Der evangelische Kirchenbegriff bringt in der Praxis eine Wandlung der Gesellschaftsform mit sich. Als Calvin im Jahre 1541 als „Sieger" nach Genf zurückkehrt, setzt er in die neue Kirchenordnung seine ebenentwickelte Vier-Ämter-Lehre ein. Das neuartige an ihr ist das Amt des Presbyters. Alle Reformatoren, ohne Ausnahme, haben sich Gedanken über das Ältestenamt gemacht28. Es ist bei ihnen kein Biblizismus, der sie bei den paulinischen Ämtern anknüpfen läßt. Vielmehr ist es das Bestreben, ausgewählte Laien an den Diensten der Gemeinde zu beteiligen und so einen Mangel in der Kirche abzustellen. Melanchthon greift auf die Gebildeten zurück, die meisten Reformatoren denken an Männer, die ein Regierungsamt innehaben. Zu einem eigenständigen, scharf abgegrenzten Ältestenamt kommt es bei ihnen nicht. Calvin hat die Gedanken Bucers und Luthers gekannt, dürfte aber an Oekolampads Lehre angeknüpft haben. Ihn beschäftigt ebenso wie den Baseler Reformator die Gemeindeordnung Matthäus 18, 15 ff.: Die „zwei oder drei Zeugen" können unmöglich Geistliche oder Vertreter der Obrigkeit sein. Es sind Älteste, Inhaber eines eigenständigen Gemeindeamtes. Die Notwendigkeit der Vermahnung und Zucht veranlassen Oekolampad und Calvin, dieses Amt hervorzuheben und abzugrenzen. Audi Calvin sieht die Notwendigkeit, die Ältesten aus der Reihe der Ratsmitglieder zu nehmen, wenn die Kirchenzucht nicht in unwirksamen Proklamationen stecken bleiben soll. Ausschluß vom Abendmahl, Geldstrafen oder gar Verbannung sind nur mit Ratshilfe durchzusetzen. Einer der vier Bürgermeister übernimmt den Vorsitz im Consistoire, wie die neue Institution genannt wird. Calvin sieht in ihnen jedoch keine Ratsmitglieder, sondern Älteste der Gemeinde. Wie genau ihn der Genfer Rat verstanden hat, zeigt, daß er hinter dem Ausdruck „Ältester" in der Kirchenordnung immer wieder die Worte „als Ratsbeauftragter" einfügt. Calvin hat es hingenommen. Aber nun beginnt ein oft atemberaubendes Ringen zwischen der Pfarrerschaft und dem Rat. Durch Predigt und Ermahnung hämmert Calvin den Mitgliedern des Kon26

Vgl. J. Bohatec, a.a.O. S. 454 ff.

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sistoriums ihre allein kirchliche Verpflichtung ein. Der Rat aber versucht immer wieder in die Kirchenzucht einzugreifen, wenn die Zucht ein Mitglied der Patrizierfamilien trifft oder politisch unbequem erscheint. Die Pfarrer aber opponieren öffentlich, wenn der Rat zum Beispiel einen Ausschluß vom Abendmahl aufhebt. Mehr als einmal droht Calvin erneute Verbannung. Erst im Jahre 1560 setzt er sich durch, als der Rat beschließt: „Ist einer der beiden (Mitglieder aus dem Kleinen Rat) ein Bürgermeister, soll er nur in seiner Eigenschaft als Ältester, ohne seinen Amtsstab mitzubringen, (im Konsistorium) anwesend sein, um die Kirche zu leiten". Bestand zur Zeit Calvins in Genf eine Theokratie? Die Frage muß verneint werden. Weder Calvin noch einer der Pfarrer hat je ein Ratsamt bekleidet. Bis zum Jahre 1559 besitzt Calvin weder das aktive noch passive Wahlrecht, denn er ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht Genfer Bürger. Gewiß, seine Anhänger bilden seit dem Jahr 1555 die Mehrheit im Rat. Selbst wenn dieses Übergewicht durch die große Zahl von Aufnahmen französischer Flüchtlinge ins Bürgerrecht zustande gekommen ist, so hat doch Calvin keine andere Handhabe, seine Pläne durchzusetzen, als allein seine glühende Beredsamkeit und seine Überzeugungskraft. Man hat immer wieder vergebens nach den Machtmitteln Calvins gesucht oder einfach eine Tyrannei Calvins behauptet, weil ein allein geistiger Einfluß unglaublich erscheint. Und doch wirkt er durch seine geistige und theologische Überlegenheit. Man darf allerdings die heutigen Vorstellungen von persönlicher Freiheit, Toleranz und sittlicher Ungebundenheit nicht auf das 16. Jahrhundert übertragen, sie sind damals unbekannt. Hat nicht Luther unter den sittlichen Zuständen in Wittenberg gelitten? Im Sommer 1545 weigert er sich auf einer Reise, nach Wittenberg zurückzukehren, weil die Sittenlosigkeit dort überhand nehme27. Es bedarf des Eingreifens des Kurfürsten, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Calvin hat früh genug auf Abhilfe gesonnen. Durch die Hugenottische Kirchenordnung von 1559 wird Calvins Lehre zur presbyterial-synodalen Kirchenverfassung ausgebildet. Da der französische König jegliche Hilfe des Staates verweigert, vielmehr die evangelische Kirche unterdrückt, müssen die Inhaber der Gemeindeämter die Kirchenleitung selbst übernehmen. Dem Ältestenamt wachsen über die Kirchenzucht hinaus neue Aufgaben zu, die in evangelischen Territorien die Obrigkeit wahrnimmt. Synoden, bestehend aus Pfarrern 27

5*

Luther am 28. Juli 1545 an seine Frau; W A / B r . 11, 148 ff.

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und Ältesten, sind in Genf nicht notwendig gewesen und daher unbekannt. In Frankreich geben die Provinzial- und Generalsynoden der Kirche ihre Geschlossenheit und Einheit. Mit dem Calvinismus breitet sich die presbyterial-synodale Verfassung bis in die Niederlande aus. Von dort dringt sie nach Westdeutschland ein. Es ist interessant, zu beobachten, wie sie in dem Augenblick eine Veränderung erfährt, in dem sie (wieder) mit dem landesherrlichen Kirchenregiment in Berührung kommt. Im Jahre 1586 führt Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg, der Bruder Wilhelms von Oranien, die Nassauische Kirchenordnung ein. In ihr ist die Middelburger Kirchenordnung aus dem Jahr 1581 fast wörtlich übernommen. Die wenigen Abänderungen betreffen vor allem die Einführung eines landesherrlichen Konsistoriums und des Inspektorenamtes in die presbyterial-synodale Ordnung. Ganz unauffällig erfolgt dieser Wandel hier und in anderen reformierten Gebieten und richtet doch das landesherrliche Kirchenregiment wieder auf. Im deutschen Reformiertentum stoßen notwendig zwinglisches Staatskirchentum und calvinische presbyterial-synodale Ordnung aufeinander. Der Gegensatz bricht nicht an der Frage des landesherrlichen Kirchenregimentes auf, sondern an der Einführung einer eigenständigen Kirchenzucht. In Heidelberg liefert der Calvinist Caspar Olevian dem Zwinglianer Thomas Erastus, beide Mitglieder des Kirchenrates, erbitterte Kämpfe. Olevian vermag sich ebensowenig durchzusetzen wie etwa in Bremen der Calvinist Christoph Pezel. Die Zeit des landesherrlichen Absolutismus ist noch ebensowenig abgelaufen wie die Zeit der Volkskirche. In beiden ist nur für ein mildes staatliches Sittenregiment Raum. Machtvolle Persönlichkeiten wie Zwingli und Calvin sind geschichtliche Einzelfälle geblieben. IV Die Protestation gegen den Speyerer Reichstagsabschied am 19. April 1529 verleiht nicht nur den „Protestanten" ihren Namen, sie läßt zugleich den Konflikt um den Widerstand gegen die Obrigkeit aufbrechen. Denn die Protestierenden fürchten die gewaltsame Durchführung des Reichstagsabschiedes durch den Kaiser und können sich daher nicht darauf beschränken, öffentlich Einspruch zu erheben. Am 22. April schließen sie ein geheimes militärisches Bündnis zum gegenseitigen Beistand ab. In dem Bündnisentwurf fehlt die bis dahin übliche Ausnahmebestimmung, die

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Ubereinkunft gelte bei einem Angriff des Kaisers, der um Glaubensfragen willen geführt wird, nicht28. Erst Ende 1530 kommt es zum Abschluß des Schmalkaldischen Bundes, der sich als Defensivbündnis gegen alle Angriffe auf die Reformation versteht. An den zahlreichen vorausgehenden Verhandlungen sind die Theologen nicht weniger beteiligt als die Politiker, denn zwei Fragen sind vor allem zu beantworten: Kann ein militärisches Bündnis zum Schutz des Evangeliums nur unter bekenntnisgleichen Territorien abgeschlossen werden? Und ist der Widerstand gegen den Kaiser erlaubt? Die Bekenntnisfrage findet zuerst ihre Lösung. Der Landgraf Philipp von Hessen muß seinen Plan eines gesamtevangelischen Schutzbündnisses von der Ostsee bis zu den Alpen fallen lassen. Zur Bereinigung der Abendmahlsdifferenzen veranstaltet er gegen den Widerstand der Wittenberger Reformatoren das Marburger Gespräch. Politisch gesehen wird es ein Mißerfolg: Die schweizer und oberdeutschen zwinglisch gesinnten Städte werden nicht ins Bündnis aufgenommen. Ihre Ablehnung erfolgt keineswegs nur auf Grund ihrer Abendmahlslehre. Insbesondere Melanchthon mißtraut dem Landgrafen und den Schweizern um ihrer gewaltsamen Lösungen geistlicher Probleme willen. Die sog. Packschen Händel (1528) und der erste Kappeler Krieg (1529) bestätigen sein Mißtrauen. Zu unrecht macht er den Schweizern auch ihr Verhalten während der Bauernunruhen zum Vorwurf. Luther und Melanchthon hatten bis dahin den Widerstand gegen den Kaiser zum Schutz des Evangeliums abgelehnt. Von seinen Räten dazu veranlaßt, versucht der sächsische Kurfürst am 27. Januar 1530 erneut, ihre Einwilligung zu erlangen. Johann Bugenhagen habe während ihrer Abwesenheit in Marburg der Gegenwehr zugestimmt. In Nürnberg hätten Spengler und Link — im Unterschied zu Osiander — sie abgelehnt. In ihren Antworten vom 6. März 1530 lassen Luther und Melanchthon keinen juristischen Grund gelten. Wie zuvor lautet ihr Hauptargument, die Hl. Schrift erlaube dem Christen nie den Widerstand gegen die Obrigkeit, „sondern ein Christ sol gewalt und unrecht leiden"29. Es bleibe nur der Ausweg, die Sache Gott anzubefehlen, der sein Wort nicht untergehen lasse. Der Kaiser könne nur von den Kurfürsten und übrigen Reichsständen abgesetzt werden. 28

28

E. Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldisdien Bundes und seiner Verfassung, Tübingen 1962, S. 20 f. WA/Br. 5, 258, 15; vgl. CR/Mel. 2, 20.

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Die scharfen Reichstagsabschiede in Augsburg im Herbst 1530 verändern die Lage30. Luther hat sich inzwischen gegen den Kaiser gewandt, den er einen Tyrannen nennt. N u n zeigen sich die Wittenberger Theologen den Argumenten der Juristen zugänglich. Von Bedeutung ist dabei die Überlegung, das Evangelium lehre nichts gegen weltliches Recht. Den staatsrechtlichen Gründen ist nun die Türe geöffnet: Der Kaiser sei Wahlund nicht Erbkaiser, er sei an seine Wahlverpflichtungen gebunden, in Religionssachen sei er nicht zuständig usw. Daher sei Widerstand erlaubt. Luther hat seine Zustimmung keineswegs widerwillig gegeben. Eine dahingehende Lutherdeutung muß an des Reformators eigenen Äußerungen scheitern. Vielmehr weiß Luther die jeweilige Situation wohl zu berücksichtigen. Sie hat sich im Herbst des Jahres 1530 für ihn verändert. Es gibt nicht nur den Luther, der im Jahre 1540 dem Landgrafen den Beichtrat gibt, der allem Reichsrecht widerspricht. Im Umgang mit den Fürsten seiner Zeit, auch seinen eigenen Landesherren, hat er oft mit H ä r t e und gegen alle politischen Rücksichten die Wahrheit geltend gemacht31. Alle diese Äußerungen müssen mit beachtet werden, will man sein Verhältnis zum Widerstand gegen die Obrigkeit begreifen. Für Luther bedeutet das Eingehen auf die staatsrechtlichen Argumente kein Aufgeben der eigenen Position. Wie seine Schrift „Von weltlicher Obrigkeit" (1523) zeigt, denkt er die beiden „Reiche" in einem augustinischen Dualismus. Der Christ kann im weltlichen Bereich nur dienen und leiden, nicht aber Recht und Schutz für sich verlangen. Seine eschatologische Sicht, die sich zur apokalyptischen Naherwartung steigern kann, läßt ihn bei seiner Einstellung beharren. Diesen Dualismus hat er beibehalten. Dagegen ist diese Schau Melanchthon ebenso fremd geblieben wie der Großzahl der schlichten Christen. Sie denken nüchterner, weltlicher, bürgerlicher. Wenn man sich vor Augen führt, wie gesetzlich Melanchthon schon in den ersten Loci communes (1521) lehrt, das heißt, wie sehr er dem Evangelium Naturgesetz und Dekalog vor- und die Gesetzeserfüllung nachordnet 32 , wird man verstehen, daß er auch das Widerstandsproblem systematisch-gesetzlich lösen muß. Die Gesetzlichkeit macht Melanchthon zum Theologen der Ordnung und der öffentlichen Ethik, zum Lehrer der studentischen Menge, die das Einfache, Begreifliche sucht. 30

Vgl. E. Fabian, a.a.O. S. 116 ff.

31

Vgl. K. Aland, Martin Luther als Staatsbürger, in: Kirchengeschichtliche E n t w ü r f e , Gütersloh 1960, S. 420 ff. Vgl. mein Buch, D e r Ansatz der Theologie Philipp Melanchthons, Neukirchen 1957.

32

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Einerseits lehrt er, die bürgerliche Gerechtigkeit sei Vorstufe der Glaubensgerechtigkeit. Der Gehorsam gegen die Obrigkeit ist so eng mit dem seligmachenden Glauben verbunden, daß notwendig die Gefahr des blind gehorchenden Untertanen entsteht. Die weltgeschichtlichen Auswirkungen im 19. und 20. Jahrhundert müssen in Wahrheit mehr auf ihn als auf Luther zurückgeführt werden. Andererseits findet auch der Tyrann nach Melanchthons Lehre seine Grenze am Gesetz; er kann von den zuständigen Gewalten gestürzt werden. Das Jahr 1530 stellt in Melanchthons Lehre von der Obrigkeit eine Wende dar 33 . Der Gesichtspunkt des christlichen Leidens und Erduldens wird abgelöst durch eine gesetzliche Ordnung des Gehorsams gegen die Obrigkeit und durch eine Begrenzung der Tyrannis durch das Gesetz. Melanchthon denkt in naturrechtlichen Bahnen. Zwingli ist in Zürich nie ernstlich vor die Frage des Widerstandes gegen die Obrigkeit gestellt worden. Seinen Überlegungen haftet daher etwas Theoretisches an. Sie sind trotzdem äußerst aufschlußreich. Den Gehorsam gegen die Obrigkeit schärft er nicht weniger entschieden ein als Melanchthon. Doch stehen die Mahnungen beider Reformatoren vor einem verschiedenen Hintergrund. Der Züricher Bürger lebt in einer Zunftdemokratie und übt ein für damalige Zeit weitreichendes Wahlrecht aus. Hingegen untersteht der Wittenberger Bürger letztlich dem landesherrlichen Absolutismus. Die demokratischen Möglichkeiten sind in Zwinglis Überlegungen offensichtlich berücksichtigt. Die 42. These („Schlußrede") f ü r die erste Züricher Disputation (1523) lautet: Wenn die weltliche Gewalt aber treulos und außerhalb der Schnur Christi fahren würde, darf sie mit Gott abgesetzt werden. Dazu erklärt er: „Wie man aber absetzen soll, ist leicht zu vermerken. Nicht mit Totschlag, Krieg und Aufruhr, sondern auf ganz anderen Wegen. Denn Gott hat uns zum Frieden berufen. Wird der König oder Herr von gemeiner H a n d erwählt und tut übel, so beseitige ihn die gemeine H a n d wieder, oder aber sie wird mit ihm gestraft. H a t ihn eine kleine Anzahl von Fürsten gewählt, soll man den Fürsten anzeigen, daß man sein ärgerliches Leben nicht mehr dulden will, und heiße (sie), ihn zu verstoßen. Hier erhebt sich nun die 33

G. Weber, Grundlagen und Normen politischer Ethik bei Melanchthon, Theol. 96/1962. W. geht dem Problem des Widerstandsrechtes bei Melanchthon nach zeigt die Ablösung der „christlichen" Begründung durch eine philosophische Beide Arten rückt er allerdings weit auseinander, obgleich sie bei Melanchthon einander verbunden sind.

Ex. und auf. mit-

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Schwierigkeit. Denn der Tyrann fährt herzu und metzgert die Fürsten. Das schadet aber nichts. Es ist trostvoll, um des Rechtes willen getötet zu werden, wenn man nach dem Willen Gottes verfährt. Sonst wird man später mit den an der Missetat Schuldigen von der Hand Gottes getötet. Magst du diese Weise nicht erleiden, und kannst es nicht wagen, so erdulde den mutwilligen Tyrannen und werde zuletzt mit ihm gestraft. . . . Ist der Tyrann von niemand erwählt, sondern hat das Reich ererbt, so weiß ich nicht, wie solche Reiche fest gegründet sein können. . . . Ich weiß nicht, woher es kommt, daß man Reiche erbt, es sei denn, daß es durch allgemeine Einwilligung und Zustimmung des Volkes erlaubt ist. So nun der (Herrscher) ein Tyrann ist, soll nicht dieser oder jener sich unterstehen, ihn abzusetzen, denn das schafft Aufruhr. Es ist aber das Reich Gottes Gerechtigkeit, Friede und Freude im Hl. Geist. So aber die ganze Menge des Volkes einhellig (beschließt), daß mit der Tat (des Tyrannen) gegen Gott gehandelt ist, (und) ihn verstößt, so ist es mit Gott geschehen, oder wenn es der größere Teil des Volkes tut. . .. Du sprichst: Wann wird es dazu kommen, daß der größere, frömmere Teil (des Volkes) eins werde? Antwort: Wird er nicht eins, so rede ich wie vorher: So trage das Joch des Tyrannen und werde zuletzt mit ihm gestraft.... Also mangelt nicht Rat oder Weg, wie man die Tyrannen verstoße, sondern es mangelt an der allgemeinen Frömmigkeit" 34 . Was man auch immer über den Realismus dieser Vorschläge denken mag, fest steht, daß Zwingli gleich den Wittenberger Reformatoren den Christen das Leiden unter der ungerechten Obrigkeit auferlegt. Keiner der Reformatoren hat mit dem Widerstandsproblem so gerungen wie Calvin. Seine Lebensaufgabe, die Hugenottenkirche in Frankreich, droht am bewaffneten Widerstand zugrunde zu gehen. Dabei liest sich die Geschichte der Hugenotten bis 1564, dem Todesjahr Calvins, wie ein wildbewegter Roman, dessen Szenen beständig wechseln und dessen Dramatik sich bis ins Unerträgliche steigert: Aus den blutigen Protestantenverfolgungen erwächst der noch blutigere Religionskrieg. Kräfte, die in ihrem Wesen ganz verschieden sind, prallen aufeinander. Einerseits entwickelt sich das kraftvolle Hugenottentum. Die Bücherkolporteure verbreiten die Schriften der Reformation im Lande, der Humanismus freut sich des vermeintlichen Verbündeten, Studenten kehren aus Deutschland und der Schweiz von neuen Gedanken erfüllt zurück. Seit dem Jahre 1555 entstehen evangelische Gemeinden, die durch 34

CR/Zw. 2, 344, 17 ff. (ins Hochdeutsche übertragen).

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Calvins presbyterial-synodale Ordnung (1559) in sich gefestigt, eine große Stoßkraft nach außen besitzen. Kaufleute, Akademiker, niederer Adel, Mönche und Kleriker schließen sich an. Zunächst fehlen Bauern und Adelige. Als aber Coligny Protestant wird (ca. 1558), folgen andere Mitglieder des Hochadels. Der französische Protestantismus wird zur politischen Partei. Ausdruck dessen ist die Verschwörung von Amboise (1560). Dem Hugenottentum entgegen wirken die rücksichtslos geführten Ketzerprozesse. Während König Franz I. (1515—1547) in der Religionsfrage schwankt, errichtet Heinrich II. (1547—1559) die berüchtigte chambre ardente, die zwischen 1547 und 1550 über 500 Urteile fällt 35 . Vom Jahre 1551 an werden Appellationen nicht mehr zugelassen, die Güter konfisziert, Denunziationen durch Freispruch belohnt usw. Schließlich läßt Heinrich I. sogar Anne du Bourg, Richter am höchsten Gericht, hinrichten (1559). Doch vermögen die Schreckensurteile die protestantische Bewegung nicht zu zerschlagen. Ihr droht eine andere Gefahr. Die zahlreichen Hugenotten drängen auf einen Ausweg aus der erbarmungslosen Verfolgung. Calvin versucht die Radikalisierung aufzuhalten, doch vergebens. In seinen Mahnbriefen bleibt er bei dem Grundsatz, den er in der Institutio vertritt: Unter dem Tyrannen muß der Privatmann leiden und im Gebet von Gott Hilfe erflehen38. Gleich den übrigen Reformatoren hält er daran fest, daß eine geistliche Bewegung nur durch geistliche Mittel voranschreiten kann. Angesichts der grausamen Verfolgungen muß ihm das Beharren auf diesem Standpunkt schwer gefallen sein. Nur die Ständeversammlung und die Prinzen von Geblüt haben seiner Ansicht nach eine unbedingte Widerstandspflicht37. Den französischen Protestanten bietet sich im Jahre 1559 nun die kaum erhoffte Möglichkeit, auf diesem Wege legitim die Macht im Staat zu übernehmen: König Franz II. (1559—1560) und Karl IX. (1560— 1574) sind minderjährig. Die Regentschaft steht dem evangelisch gesinnten Anton von Navarra zu, der jedoch zögert. In dieser schwierigen staatsrechtlichen Situation wird auch Calvin um Rat gefragt38. Da reißen die strengkatholischen Guisen die Regentschaft an sich. Die gegen sie ge35

36 37 38

R. Nürnberger, Die Politisierung des französischen Protestantismus, Tübingen 1948, S. 30. Inst. III, 10, 6; II, 2, 24; IV, 20. Vgl. Inst. IV, 20, 31. J. Bohatec, Calvin und das Recht, Graz 1934, S. 151 ff.

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richtete Verschwörung von Amboise verurteilt Calvin aber als illegitimen Aufstand. Als nach dem Tode Franz II. (1560) die Regentschaftsfrage erneut gestellt ist, erringen die Protestanten erste Erleichterungen für ihre Religionsausübung (Religionsgespräch von Poissy 1561, Duldungsedikt von St. Germain 1562). Den sich anbahnenden Ausgleich zerstören die Guisen durch das bewußt provokatorische Blutbad unter den Hugenotten in Vassy (1562). Daraufhin bricht der erste Hugenottenkrieg aus (1562— 1563). Calvin hat die Ereignisse im fernen Genf nicht aufzuhalten vermocht. Selbst sein Mitarbeiter Theodor Beza plädiert zeitweise für die Gewaltanwendung, und einige Juristen entwickeln die Lehre von der Volkssouveränität und dem Tyrannenmord. Im Kommentar zum Buch Daniel und in seiner letzten Schriftauslegung, dem Hesekielkommentar (1563), rückt er von dem patriarchalischen Verständnis der Obrigkeit stark ab. Die Zeitereignisse sind auch an seiner Theologie nicht spurlos vorbeigegangen. V Während die Übernahme des Kirchenregimentes durch die Obrigkeit im 16. Jahrhundert eine Grenzüberschreitung darstellt, gehört die Ketzerverfolgung durch die Obrigkeit zur selbstverständlichen Schutzpflicht gegenüber der Kirche. Vom reformatorischen Ansatz her gesehen, sind beide Funktionen keineswegs selbstverständlich. Es ist oben bereits auf die Spannung zwischen dem mittelalterlichen und reformatorischen Kirchenbegriff hingewiesen worden: der Gedanke des Corpus christianum deckt sich nicht mit der Kirche der Gläubigen, selbst wenn die institutionelle Form der letztgenannten anerkannt wird. Das reformatorische Verständnis des Glaubens widerspricht auch der staatlichen Ketzerverfolgung. Wenn es zutrifft, daß der Glaube eine geistliche Wiedergeburt des Menschen ist, gewirkt durch Wort und Sakrament, so ist er der menschlichen Verfügung entzogen. Er ist göttliches Geschenk und daher mit Gewalt nicht zu erzwingen. Glaube und Unglaube, Rechtgläubigkeit und Ketzerei sind geistliche Vorgänge, die in den Bereich der Gemeinde gehören. Eine staatliche Einmischung kann nur eine Grenzüberschreitung darstellen. Die Tatsache, daß die Obrigkeit christlich ist, ändert daran wenig. Luthers frühere Aussagen spiegeln diese Gedanken wieder. Glaube und Unglaube sind Elemente eines gewaltigen geistlichen Ringens. Zeit

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seines Lebens hat er gewußt, daß Wahrheit und Ketzerei in dauerndem Kampf miteinander liegen, ja sogar liegen müssen39. Er ist überzeugt, daß es für Gottes Wort ein leichtes ist, die Ketzer zur Einsicht und Umkehr zu bringen. In der Praxis vermag er diese Grundsätze nicht durchzuhalten, denn die Tradition der christlichen Obrigkeit und Volkskirche wird von ihm beibehalten. Auch versinkt die Erinnerung an die Zeit, da alle Welt ihn selbst einen Ketzer nannte. Hinzu kommt die Aufgabe, die Gemeinden gegen die eindringenden Sekten zu schützen. Wie erwähnt, ist das Auftreten der Irrlehrer mit ein Anlaß zur Errichtung des landesherrlichen Kirchenregimentes. Nachdem dieser Weg einmal beschritten ist, versteht es sich von selbst, daß der Obrigkeit die Ketzerverfolgung überlassen bleibt. Zudem ist zu bedenken, daß das Corpus Iuris Civilis reichsrechtliche Gültigkeit besitzt; es gilt auch in evangelischen Territorien. Die protestantischen Fürsten wissen sich von der römischen Partei argwöhnisch beobachtet, wie sie die Bestrafung der Antitrinitarier und Anabaptisten (Corp. Iur. Civ. I, 1, 1 und I, 5, 2) handhaben. Unter Mitwirkung der Protestanten wird auf dem ersten Speyerer Reichstag (1526) das kaiserliche Mandat vom 4. Januar 1528 gegen die Täufer zum Reichsgesetz erklärt. Seit dem Jahre 1525 bezichtigt auch Luther die Ketzer des Vergehens der öffentlichen Gotteslästerung 40 . Noch lehnt er die Todesstrafe für die Täufer ab41. Seine Unterschrift steht aber unter Melanchthons Gutachten von 1531 und 1536 und sanktioniert nun ihre Hinrichtung mit dem Schwert42. In beiden Fällen betreffen die Gutachten bestimmte, gegen Wiedertäufer anhängige Verfahren. Die genaue Zahl der im Jahre 1531 Hingerichteten ist unbekannt 43 . Doch hilft das Gutachten, des Kurfürsten Bedenken gegen die Ketzerhinrichtung zu überwinden. Adressat des zweiten Gutachtens ist der Landgraf von Hessen, der sich aber nur zur Strafe der Landesverweisung verstehen will. Zu Anfang des Jahres 1536 werden in Jena drei Täufer hingerichtet44. Melanchthon wirkt bei ihrer Vernehmung mit. Nach eindringlicher seelsorgerlicher Ermahnung widerrufen die übrigen Angeklagten und werden freigelassen. 39

W. Köhler, Reformation und Ketzerprozeß, 1901, S. 13.

40

H. W. Schappler (ed. E. Fabian), Die rechtliche Behandlung der Täufer, Tübingen 1957, S. 24 ff.

41

W A 26, 145, 22 ff. (1528). W A / B r . 6, 2 2 3 ; W A 50, 8 f.

43

P. Wappler, Die Täuferbewegung in Thüringen von 1526—1584, Jena 1913, S. 78.

44

P. Wappler, a.a.O. S.149. Hinzu kam Heinrich Möller in Neustadt (S. 150 f.).

Wilhelm H . Neuser

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Philipp von Hessen ist einer der wenigen Fürsten, die eine Gewissensfreiheit gelten lassen. In den meisten Territorien werden die Täufer wegen Ketzerei, Gotteslästerung oder Aufruhr angeklagt und hingerichtet. Ferdinand von Habsburg läßt in den österreichischen Gebieten anfangs Ketzerverfahren eröffnen. Als diese sich als zu langwierig und milde erweisen, läßt er die Täufer wegen Aufruhrs verklagen und mit ihnen ,kurzen Prozeß' machen45. Diesem Verfahren kommt die täuferische Lehre entgegen. Fast nie tritt die Bestreitung der Kindertaufe für sich auf. In den theologisch allerdings völlig uneinheitlichen Täuferkreisen wird mit der Tauffrage die Leugnung der Trinität, Erbsünde, Schriftautorität, des Eidschwörens, der Schwertgewalt, des Privateigentums, der Ehe und anderer Lehren verbunden, die zum Teil das Bestehen des Staates antasten. Wo die Täufer in dieser Radikalität predigen, kommt es nur am Rande zur theologischen Erörterung der Kindertaufe. Im 16. Jahrhundert ist aus diesen Gründen die Tauffrage nicht ausdiskutiert worden. In den evangelischen Gebieten lautet die Anklage zumeist auf Gotteslästerung. Hingegen verurteilen die Züricher die Täufer wegen Aufruhrs gegen die Obrigkeit. Disputationen, Vermahnungen und Ausweisungen des Rates fruchten nichts. Im Jahre 1527 wird Felix Manz im Züricher See ertränkt; drei andere Täufer trifft zu Lebzeiten Zwingiis das gleiche Urteil. Zwingli hat das Vorgehen des Rates gebilligt. Das Wiedertäuferreich in Münster (1534/35) ist in den Augen der Zeitgenossen der Beweis für die aufrührerische Gesinnung der Täufer. Eine gerechte Würdigung ihres Anliegens unterbleibt fortan. Es muß auf den ersten Blick überraschen, daß in der Gegenwart nicht die Täuferhinrichtungen in Zürich und Sachsen im Bewußtsein der Öffentlichkeit lebendig sind, sondern die Verbrennung Servets im Jahre 1553 in Genf. Es sind vorher und nachher außerhalb Genfs ganz ähnliche Urteile gefällt und vollzogen worden. Sie erregten jedoch keine Aufmerksamkeit. In der Tat ist die heute übliche Sicht des Servetprozesses ungerechtfertigt. Wer in dem spanischen Arzt Michael Servet einen modernen Naturwissenschaftler sehen will, übersieht, daß er völlig in apokalyptischen Ideen befangen war, sich selbst für den Waffenträger des Erzengels Michael hielt und die Entscheidungsschlacht von Harmagedon (Offenb. 16, 16) (in Genf?) zu erleben erwartete. Wer ihn als den bedeutenden Mediziner und Entdecker verstehen will, muß beachten, daß er nicht den großen, sondern kleinen Blutkreislauf entdeckte, seine Beobachtung ledig45

H. W. Sdiappler, a.a.O. S. 20.

Kirdie und Staat in der Reformationszeit

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lieh eine Wiederentdeckung darstellt (der Araber Ibn An-Nafis kannte im 13. Jahrhundert den Durchlauf des Blutes durch die Lunge schon), und die alttestamentliche Gleichsetzung des Blutes mit der Seele ihn zu seiner Entdeckung veranlaßte 46 . Wer seine Leugnung der Trinität für entschuldbar hält, darf nicht vergessen, daß Servet in Briefen an Calvin und seine Kollegen schon Jahre zuvor so ziemlich alle Lehren bestritt, die der evangelischen Kirche damals teuer waren, die Dreieinigkeit, Erbsünde, Kindertaufe, Prädestination aus dem Glauben usw. Servet ist aber nicht um der Leugnung einer evangelischen Lehre willen oder gar um eines im Protestantismus umstrittenen Lehrsatzes willen hingerichtet worden. Der Genfer Rat holte Gutachten einiger evangelischer Städte der Schweiz ein, die alle wegen Leugnung der Trinität und der Kindertaufe auf Todesstrafe plädierten. Servet ist also nach dem Reichsrecht verurteilt worden. Wer endlich Calvin der Beteiligung am Prozeß oder gar der Scharfmacherei bezichtigt, sollte sich nicht von dem Zerrbild einer Diktatur Calvins in Genf leiten lassen. Am 13. August wurde Servet im Gottesdienst gesehen und daraufhin von Calvin angezeigt. Da er zweifeln mußte, daß dem Fall sofort und mit Nachdruck nachgegangen würde, erhob er als Privatmann Anklage. Einer der beiden Gerichtsbeisitzer, Bertheliier, stand nämlich unter Kirchenzucht. Während des Prozesses suchten seine Verwandten, Patrizier in den leitenden Stellungen Genfs, entgegen der Ordnung seine Zulassung zum Abendmahl zu erzwingen. Calvins Einfluß in Genf war damals auf einem Tiefpunkt angelangt. Am 7. September schreibt er erbittert, „wenn ich z. B. behaupte, es sei um Mittag hell, würden die Ratsmitglieder es gleich in Zweifel ziehen"47. Der Prozeß verlief ordnungsgemäß nach der Vorschrift der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karl V. (Carolina 1532)48. So mußten der Angeklagte wie der Kläger ins Untersuchungsgefängnis (Carolina Art. 12). Als Geistlicher durfte Calvin einen Vertreter schicken (Art. 14), seinen Sekretär de la Fontaine. Am 24. August übernahm der öffentliche Ankläger die Klage; Calvin war am Prozeß nun nicht mehr beteiligt. Seine sdhließliche Bitte, die Todesstrafe auf Enthauptung zu mildern, verwarf der Rat. Warum ist die Hinrichtung Servets in den folgenden Jahrhunderten Calvin angelastet worden? Weil die Baseler Humanisten (Cellarius u. a.) 46 R. Bainton, Michael Servet 1511—1553, Gütersloh I960. " CR/Cal. 14, 611; Nr. 1790. 49 E. Pfisterer, Calvins Wirken in Genf, Essen 1940, S. 27 ff.

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den Fall Servet zum Anlaß nahmen, einen leidenschaftlichen Appell für die religiöse Toleranz ausgehen zu lassen. Die Schrift fand das Echo, das ähnlichen Publikationen versagt war. Gegen die anonym erscheinende Schrift hat Calvin die damals allgemein geübte Intoleranz und insbesondere das Vorgehen gegen Servet literarisch verteidigt. Seine einzige persönliche Schuld besteht darin, daß er seine Beteiligung an der Verhaftung Servets durch die Inquisition in Vienne bei Lyon ableugnet; ein Zeichen seiner inneren Unsicherheit. Gerechterweise kann man ihm nicht die Schuld daran geben, daß seine Zeit die Gewissensfreiheit nicht oder kaum kannte. Die wenigen Fürsprecher der Toleranz in der Reformationszeit schöpften zudem mehr aus den antiken Quellen als aus der christlichen Tradition.

G E R H A R D GLOEGE

Thesen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre Vorbemerkungen 1. Die Konstante in der Theologie Luthers ist die axiomatische Grundanschauung von der electio et praedestinatio. „Optima et infallibilis ad gratiam praeparatio et unica dispositio est aeterna dei electio et praedestinatio: ex parte autem hominis nihil nisi indispositio, immo rebellio gratiae gratiam praecedit" 1 . Diese Konstante der Erwählung scheint eindimensional zu sein, hat aber zwei Aspekte: sie redet ex parte hominis und setzt dabei ein ex parte dei voraus. 2. Das Thema der Theologie Luthers und der Zwei-Reiche-Lehre im besonderen ist die Lehre vom regnum Christi, verstanden als das regnum Dei auf Erden und identisch mit der ecclesia spiritualis, die vom verbum divinum lebt. Luthers Theologie ist Ekklesiologie, Pneumatologie, Theologie des dritten Artikels. Das regnum Christi ist das Interpretandum und die Zwei-Reiche-Lehre das Interpretamentum. Letztere ist nicht selbst ein Gegenstand der Lehre, sondern ein Instrument, mit dem die Gegenstände sichtbar gemacht werden. 3. Die drei Hinsichten oder drei Dimensionen der Zwei-ReicheLehre Luthers2 sind folgende: a) das Verhältnis von Reich Christi und Reich der Welt oder das Verhältnis geistlich-weltlich überhaupt: zwischen der Christenheit bzw. den Erwählten (AT!) und der Welt besteht ein exklusives, ein äonisches Verhältnis; zwei Reiche im Sinne der Interpetation Johannes Heckeis stehen sich ausschließend gegeneinander; 1

2

Disputatio contra scholasticam theologiam 1517, These 29 und 30: W A 1, 225 = BoA 5, 322. Vgl. Heinrich Bornkamm, Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Theologie, 2. Aufl. 1960, S. 41.

Gerhard Gloege

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b) das Verhältnis von ecclesia und politia (Mittelalter: sacerdotium und imperium, Neuzeit: Kirche und Staat): hier besteht ein institutionelles Verhältnis; die beiden Größen erscheinen in dieser Dimension nicht als exklusiv, sondern als inklusiv und können als Regimente verstanden werden; c) das Verhältnis von persona privata und persona publica, die der Christ je als einzelner ist: in dieser Dimension handelt es sich um ein existenzielles Verhältnis, um zwei Hinsichten derselben Person, sofern der Christ einerseits für sich selbst lebt und andererseits für andere zu handeln hat; hier herrscht weder ein exklusives noch ein inklusives, sondern ein Identitätsverhältnis. A n t i t h e t i k u n d S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s s e im biblischen Zeugnis, in der mittelalterlichen Kirchen- und Theologiegeschichte und bei Luther lassen sich folgendermaßen profilieren.

A. Das biblische

Zeugnis

I. A l t e s T e s t a m e n t : 1. Gibt es hier etwas, das man unter den Begriff der Antithetik subsumieren kann? Die Frage ist insofern negativ zu beantworten, als das alte Israel als Volks- und Glaubensgemeinde identisch ist3. Die Frage ist positiv zu beantworten, sofern eine Antithetik zwischen Israel und den Völkern deutlich ist. Diese Antithetik ist eine dem Volk zugedachte, nicht selbst geschaffene. Sie vollzieht sich in der Erwählung: Israel ist das erwählte Volk, das von den Gojim umgeben ist. Die drei für die Erwählung konstitutiven Momente betreffen a) Israels Erwählung aus der Welt, b) für die Welt sowie c) sein Geschaffensein und seine Erhaltung mit der Welt (Kategorie des „um willen"). Von den Problemkreisen des heiligen Krieges, des Prophetismus und des sakralen Königtums wird hier abgesehen. Die geschilderte Antithetik betrifft die Dimension al. 2. Mit dem Aufkommen der prophetischen Verkündigung wird deutlich, daß es sich nicht mehr allein um eine Antithese zwischen Israel und der Völkerwelt, sondern um eine solche zwischen Israel und Israel selbst handelt. Unterschieden wird zwischen Frommen und Gottlosen, 3

Vgl. Hans Walter Wolff, Volksgemeinde und Glaubensgemeinde im Alten Bund, in E v T h 9, 1949/50, S. 6 5 — 8 2 .

4

S. o. Vorbemerkung: 3.

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deren Sünde in einer Selbstgerechtigkeit besteht, die das freie Erwählungshandeln Gottes als eine Erwähltheits-Metaphysik mißversteht. Daraus resultiert der Zwiespalt in der Gemeinde. Hier liegt eine Entsprechung zur Dimension b vor. 3. Das Judentum hat diesen durch die Gemeinde gehenden Riß radikalisiert und das Gesetz als das Mittel zur Herstellung der reinen Gemeinde verstanden. Innerhalb dieses Vorgangs kommt es im Spätjudentum zur Existentialisierung der Entscheidung zwischen einem rechten und einem falschen Israel: zu dem Gedanken der Herstellung einer reinen Gemeinde tritt der andere, daß es Menschen gibt, die sich dem Willen der Thora ausliefern, allerdings so, daß der Riß mitten durch die Gemeinde — in der Damaskusgemeinde und Qumran sogar durch den einzelnen Frommen selber — hindurchgeht: Dimension c. II. N e u e s T e s t a m e n t : 1. Anders Nygren hat — allerdings in nicht genügend differenzierter Weise — versucht, die Antithetik bei Luther auf die Lehre von den beiden Äonen im Neuen Testament zurückzuführen5. Im Neuen Testament ist tatsächlich die Anschauung von den beiden Äonen der umfassendste Horizont der spätjüdischen Apokalyptik. Sie ist die Voraussetzung für den Entscheidungsgegensatz, in den der Mensch gerückt ist, wenn er mit der Botschaft Jesu konfrontiert wird. 2. Obwohl der Rahmen der zwei Äonen den Horizont auch für Paulus abgibt, hat gerade Jesus selbst das Gottesreich in merkwürdig unreflektierter Weise verkündigt. Diese Herrschaft ist keine Konkurrenzherrschaft zu irgendeinem politischen System, das gegenwärtig besteht. Der Herschaftsgedanke ist radikal entpolitisiert. Das von Jesus ausgesprochene Verbot, ihn als den Messias zu bezeichnen, kommt dem Verbot seiner Proklamation gleich. Damit wird eine Aktion verhindert, wie sie bis hin zum Jüdischen Krieg üblich blieb. In dieser Haltung Jesu schattet sich ab, daß die Herrschaft, die er ausruft und um die er die Seinen beten lehrt, nicht in einem politischen Herrschaftssystem unterzubringen ist (Mk. 10, 43). Jesus ist auf Erden der Knecht. Das zeigt sich auch in der Ethik des synoptischen Jesus6. Das Enttäuschende ist, daß dieser sich zu den Problemen, die heute in der Sozialethik verhandelt werden, indifferent verhält und die hier aufbrechenden Fragen offen läßt.

6

5

Luthers Lehre von den zwei Reichen, in T h L Z 74, 1949, S. 1 — 8 ; bes. 6.

6

Vgl. dazu G. Gloege, Aller Tage Tag, 1960, 156—206. Festschrift

Kunst

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3. Der Ausdruck ßacrileia X(H0Toij tritt erst in den Deuteropaulinen auf und ist, obwohl die Sache natürlich da ist, als Begriff im Neuen Testament nicht tragend. Nach der hinter den Deuteropaulinen stehenden Gesamtanschauung ist Jesus Christus das Haupt und der Herr der iy.yXr\aia wie der Welt. Hier ist jedoch die Frage zu stellen: Ist das Verhältnis von Hauptschaft und Herrschaft des Kyrios gegenüber der Kirche gleichläufig mit dem Verhältnis von Hauptschaft und Herrschaft gegenüber der Welt? Welche Differenzpunkte bestehen hier?

B.

Mittelalter

Das nach-augustinische Mittelalter verarbeitet bestimmte antithetische Momente des Neuen Testamentes, indem es sie institutionalisiert und zu einer Synthese zwingt. 1. Das christliche Element: In und durch Augustins Lehre von der civitas Dei und der civitas terrena werden beide Reiche zu Dimensionen. Der Dualismus der beiden civitates löst sich in die Anschauung von dem einen Corpus Christianum auf (Übergang von der a-Dimension in die b-Dimension). Es entsteht ein dualistisch differenzierter Universalismus. Die christliche respublica wird durch die beiden Personen (später Institutionen) regnum und sacerdotium beherrscht. Dieser Dualismus wird christologisch integriert, und zwar so, daß die weltliche und königliche Gewalt von Christus abgeleitet wird. Die weltliche Gewalt ist eine Emanation der Herrscherwürde Christi. Er ist der eigentliche Melchisedek, der rex sacerdos in der Vereinigung beider Würden. Die politische Würde wird von dem Heilbringer selbst abgeleitet, und zwar über das System des sacerdotium, das der sichtbare Exponent und Hauptanwalt des Welten* und Kirchenherrn Christus ist. Dieses Gesellschaftsverständnis kann als Heteronomie bezeichnet werden, weil die weltliche Herrschaft aus der sakramentalen Substanz des rex sacerdos lebt. Es herrscht Christonomie. 2. Das antike Element: Für das mittelalterliche Verständnis der Gesellschaft als einer communitas humana ist die Übernahme der antiken Naturrechtslehre wesentlich. Der Staat ist dem Menschen nicht von oben aufgesetzt, sondern er hängt mit der Natur des Menschen als animal sociale und mit dem Gedanken der Gemeinschaft zusammen. Die mittelalterlichen Ideale, daß der Herrscher für pax et iustitia zu sorgen habe, sind dementsprechend nicht spezifisch christliche, sondern antike Elemente.

Thesen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre

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3. Das germanische Element: Es ist vor allem genossenschaftsreditlicher Natur, ein Denken von unten, von den konkreten Gegebenheiten des Staatsverbandes her. Die funktionale Verbundenheit von Herrschaft und Volk wird vorausgesetzt, ohne Rücksicht darauf, ob das Herrschertum erblich ist oder nicht. Wesentlich dafür ist der Gedanke des Rechtes, von dem aus der Gedanke der Macht praktikabel wird. Auch dieses germanische Element ist eingegrenzt durch die sakramental zu verstehende Konkretion des Corpus Christianum. Luther überwindet diese drei Elemente, indem er 1. durch die Befreiung der ecclesia spiritualis von dem christonomen, Aristokratischen Denken des Mittelalters die Heteronomie der Welt beseitigt; 2. das Naturrecht nicht als ein System von heiligen Rechtsnormen übernimmt, sondern die lex naturae im Unterschied zum ius naturale als den Willen des Schöpfers bzw. als Schöpferregiment geltend macht; 3. aus den altgermanischen Elementen den Dienstgedanken auf die profane Weltlichkeit hin funktional entbindet 7 .

C. Luther I. A n t i t h e t i s c h e S t r u k t u r e n : Sie hängen mit der reformatorischen Entdeckung des Evangeliums und des Begriffes der iustitia dei zusammen, also mit einem ganz neuen Ansatz. Sie lassen sich also nicht einfach aus einem geschichtlichen Uberblick wie in B) ableiten. 1. Die beiden Worte: Indem Luther zu Gott und indem er zu sich selbst kommt 8 , meint er ein neues Verständnis von lex und evangelium gefunden zu haben. Er versteht das, was ihm durch Christus und durch Christus von Gott geschenkt ist, als Evangelium. Dieses heißt für ihn lex impleta. Von da aus versteht er die lex als lex implenda. Gesetz und Evangelium verhalten sich also für Luther wie Forderung und Gabe9. 7

Zum Ganzen vgl. G. Gloege, Politia divina. Die Überwindung des mittelalterlichen Sozialdenkens durch Luthers Lehre von der Obrigkeit, in WZ Jena 6, 1956/57, Gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe 5, 445—460. 8 W A TR 5, Nr. 5518. • Vgl. die differenzierenden Ausführungen zu Rom. 5, 15: WA 56, 318, wie auch die Schrift wider Latomus 1521: WA 8, 43—128. 6*

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Wie Forderung und Gabe stehen sich Gesetz und Evangelium als die beiden Worte Gottes oder als die beiden Aspekte des einen Wortes gegenüber. Das Gesetz ist die Dialektik des Evangeliums, das Evangelium die Rhetorik des Dekalogs. Die Dialektik lehrt, die Rhetorik bringt in Bewegung (dialectica docet, rhetorica movet). Das Gesetz bezieht sich auf den Intellekt, das Evangelium auf den Willen. Die Motivkraft ist das Gesetz, die an den Willen sich wendende Macht ist das Evangelium. In dieser nicht nur beiläufigen Äußerung schreibt Luther dem Gesetz die Lehre und ihr Verständnis zu, die Motive dagegen dem Evangelium. Nach Hermann Diem ist die Aufgabe der Existenzdialektik bei Kierkegaard, die Wahrheit ins Dasein zu bringen. Existenz ist ein verantwortlich gelebtes Dasein, das es wagt, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Hier geht es darum, den Übergang aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu finden. Wo nun bei Kierkegaard die Frage der Verwirklichung akut ist, da geht es bei Luther um das Evangelium. Es ist die Macht, die Leben spendet, die die Wahrheit ins Dasein bringt, die den Willen Gottes in einem gelebten und nach außen hin bezeugbaren Dasein verwirklicht. Wenn das Evangelium die Rhetorik genannt wird, so ist gemeint, daß das Evangelium zustandebringt, was das Gesetz verlangt. Hans Joachim Iwand weist darauf hin, daß Luther unter dem Wort Gottes Gesetz und Evangelium versteht10. Christus ist kein Legislator. Luthers Vorwurf besteht darin, daß Christus zum Gesetzgeber gemacht wurde. Glaube und Werke, Gnade und Politik werden vermischt. Die Gnade wird zu einer Qualität, die dem Menschen die Kraft gibt, den Forderungen Gottes nachzukommen. Christus ist aber das Leben selbst, uns geschenkt und angeboten von Gott. Andererseits grenzt sich Luther vom Antinomismus ab. Das Gesetz, das wir zu lieben beginnen, ist das „Gesetz des Glaubens", das neue Gesetz, das Gesetz Christi, das Gesetz der Gnade und des Geistes11. Die metaphorische Redeweise ist zu beachten. 2. Die beiden Gerechtigkeiten: Gesetz und Evangelium dürfen nicht getrennt werden von der Lehre von der doppelten Gerechtigkeit. Das 10

11

Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, ThEx 75, 1941, S. 27 ff; vgl. W A 18, 663, 14: „Verba autem Dei dico tarn legem quam Evangelion." H. J. Iwand, a. a. O. S. 46, vgl. W A 2, 499, 20—22: „lex spiritus est, quae nullius prorsus scribitur literis, nullis profertur verbis, nullis cogitatur cogitationibus: sed est ipsa viva voluntas vitaque experimentalis, res quoque ipsa quae scribitur digito solo dei in cordibus." — WA 39/1, 47, 27: „Imo novos Decalogos faciemus . . ."

Thesen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre

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wird im allgemeinen zu wenig beachtet. Gerechtigkeit meint ein Konkretum: Ich reimte das Konkretum und das Abstraktum zusammen, da hatte ich die neue Auffassung der iustitia dei. Wenn Luther von „fromkeyt" spricht 12 , so meint er einen Begriff von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, in dem der religiöse und der profane Aspekt beieinander liegen. H . J . Iwand 13 macht auf die Lehre Luthers von der doppelten Gerechtigkeit aufmerksam. Diese beiden Gerechtigkeiten sind nicht vergleichbar und nicht verrechenbar auf einer Ebene 14 . Wir setzen gleichsam zwei Welten (duos mundos), eine himmlische und eine irdische. Durch die iustitia legis terrena tun wir gute Werke. Die iustitia coelestis et Passiva, die wir weder für uns selbst haben noch bewerkstelligen, sondern vom Himmel empfangen und im Glauben ergreifen, führt uns dagegen weit über alle Gesetze und Werke hinaus 15 . Gerechtigkeit meint im Unterschied zu lex und evangelium immer ein Leben in seiner Wirklichkeit, Breite, Erstreckung und Konkretheit. Die göttliche Gerechtigkeit wird durch die imputatio der Gerechtigkeit Christi im Menschen realisiert, deren Anrechnung die Nichtanrechnung unserer Sünde voraussetzt 16 . 3. Die beiden fora: Sie dürfen nicht geschieden, müssen aber unterschieden werden. Sie können zwar von Luther auch in einem exklusiven Verhältnis gesehen werden. Dann schließt das coram Deo das coram mundo aus und umgekehrt. Dieses exklusive Verhältnis liegt vor, wenn es Luther darum geht, kritisch destruktiv zu verhindern, daß die irdische Gerechtigkeit als Heilsweg, Heil oder Rettung im Sinne der göttlichen Gerechtigkeit verstanden wird. Es scheint aber so, daß Luther niemals eine Verselbständigung der beiden Aspekte intendiert oder vollzogen hat, weil der Christ unteilbar ist. Das Verhältnis von coram Deo und coram mundo ist aber auch ein inklusives, konstruktives, aedifikatives, denn über die Welt kann der Mensch nur dann sachgemäß reden, wenn er um Gott weiß und im Horizont des coram mundo steht. Das coram mundo ist ein Partialaspekt innerhalb des coram Deo. Nur bei Gefahr der Vermischung faßt Luther dieses Verhältnis exklusiv. 12

Sermo de triplici iustitia 1518: W A 2, 4 3 — 4 7 : „Triplex est peccatum, cui triplex opponitur iusticia, Teutonice fromkeyt."

13 14

A. a. O., S. 51 ff. W A 40/1, 4 5 : „Haec est nostra theologia qua docemus accurate distinguere has duas iustitias, activam et passivam, ne confundantur mores et fides, opera et gratia, politia et religio."

15

W A 40/1, 45.

16

Hierzu vgl. H . J. Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube, 1930, S. 55 ff.

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4. Die beiden usus: Im allgemeinen geht man so an Luther heran, daß man lex und usus civilis verbindet und unter den Begriff der Vergeltungsordnung subsumiert, während evangelium mit dem usus theologicus verbunden unter den Begriff der Vergebungsordnung gestellt wird. Das Eigentümliche ist aber, daß der usus civilis bei Luther eine ordnende Funktion hat, freilich eine solche, die nicht ausschließt, daß dieser usus auch auf die Gefährdung durch das Böse hin ausgeübt wird, so daß als extreme Form und Härte die Schwertgewalt tätig wird. Umgekehrt hat der usus theologicus seine Eigentümlichkeit darin, daß er tötende Wirklichkeit ist auf das Leben schaffende, Existenz ermöglichende Evangelium hin. 5. Luthers Tauf lehre: Hier kommen diese antithetischen Strukturen deutlich zum Tragen17. Luther unterscheidet zwischen dem Zeichen des Sakraments, sofern es einmal geschieht und als ein geschehenes der Vergangenheit angehört, und der Bedeutung des Sakraments, sofern es das ganze Leben des Christen umspannt. Darin wird sehr schön der konkrete Bezug der Taufe zum Dasein des Christen in der Welt deutlich. In der Taufe geschieht fort und fort das Töten und Lebendigmadien des Menschen. Das Sakrament ist einmal geschehen, aber das „Werk" des Sakraments ist noch nicht geschehen. Der terminus ad quem ist auf der Seite der mortificatio unser Tod, auf der Seite der vivificatio unsere Auferstehung am Jüngsten Tag. Tag um Tag geschieht dieses Töten und Lebendigmachen18. Das Entscheidende ist dies, daß mortificatio und vivificatio in der Welt, im Alltag vor sich gehen. Die Sintflut Noahs war nur ein ganz kleines Zwischenspiel, die Sintflut der Gnade aber ergeht ständig über die ganze Welt. Die Welt ist der Exerzierplatz dieses Geschehens. Das Werk des Evangeliums wird durch die Taufe verstanden. Jesus wird in der Taufe unser Herr, als solcher ergreift und aktualisiert er seine Herrschaft als das regnum Christi über uns und in uns. II. G r u n d s ä t z l i c h e s z u r Z w e i - R e i c h e - L e h r e Die Frage, ob Luthers Lehre von den beiden Reichen schriftgemäß sei, ist zu verneinen, wenn man ein biblizistisches Schriftverständnis hat und diese Lehre nur mittels einzelner Aussagen oder Grundstrukturen aus der Schrift des Alten und Neuen Testaments zu belegen versucht. Trotzdem 17

18

Vgl.: Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe 1519: WA 2, 727—737 = BoA 1, 185—195. Vgl. das 4. Hauptstück des Sermons.

Thesen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre

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scheint Luthers Zwei-Reiche-Lehre schriftgemäß zu sein im Sinne seines Postulats, daß man neue Dekaloge machen kann, wenn man von der Gnade Gottes ergriffen ist18. 1. Luther denkt von dem Kern der Erwählungsaussagen des Alten und Neuen Testaments her. Diese Erwählung bedeutet die Ausgrenzung des Volkes Gottes gegenüber der Welt und macht damit drei Elemente sichtbar: a) die Separation des Volkes Gottes, der Christenheit von der Welt; b) die Solidarität der Christenheit, des Volkes Gottes mit der Welt, seine Wendung an die Welt und Verbundenheit mit der Welt; c) das Leben der Kirche als des Volkes Gottes oder des Reiches Christi im ambivalenten Raum der Welt, die als Schöpfung von Gottes Ja her lebt, obwohl sie ständig durch das Nein ihres Widersprechens in ihrem Bestand bedroht ist. 2. Für Luther steht das Leben der Kirche und des Christen in der Welt in all seinen Bereichen unter dem Zuspruch und Anspruch Jesu Christi; denn a) durch Jesus Christus hat Gott diese Welt geschaffen und darin seine verborgene Güte gezeigt und bestätigt, und durch ihn hat er die Welt unter das Gesetz der Liebe gestellt, b) durch Jesus Christus hat Gott die Welt in ihrer Ambivalenz gerichtet und gerettet zugleich, hat er sie versöhnt und damit seine verborgene Barmherzigkeit bestätigt, c) durch Jesus Christus hat Gott die Welt zur künftigen Vollendung durch das Gericht hindurch berufen. 3. Luther bringt die biblische Kategorie des Kampfes, der geschichtlichen Auseinandersetzung, mittels der Zwei-Reiche-Lehre zur Geltung. a) Er lehrt den Christen die Welt als Gottes Eigentum verstehen und sie in ihrer Profanität zu bejahen. Sie wird ihm zum Betätigungsfeld, auf dem er mit frohem Gewissen Gott preisen und dem Nächsten dienen darf. b) Luther läßt den Christen in der Welt nicht aufgehen und verwehrt ihm, sich an die jeweiligen Ansprüche ihrer jeweiligen Herren preiszugeben (vgl. die Betonung des „wie weit" 20 ). c) Luther lehrt den Christen auf die grundlegende Wandlung der 19 20

WA 39/1, 47, 27. Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei 1523: WA 11, 245 ff. = BoA 2, 360 ff.

88

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Welt hoffen, in der Ergebung und Widerstand aufgehoben sind, weil Gott sein Nein zur Welt und das Nein der Welt zu ihm überwunden hat in das beiderseitige Ja, in das Ja der Welt zu Gott. III. D i e B e d e u t u n g d e r im a l l g e m e i n e n :

Zwei-Reiche-Lehre

1. Negativ: Luthers Obrigkeit ist nicht unser Staat: a) Sie ist es nicht quantitativ-formal, was die historische Entwicklung, den soziologischen Strukturwandel, die Differenzierung und Komplizierung der modernen Verhältnisse anlangt. Hier muß man sagen, daß man mit Luthers materialen Aussagen der Zwei-ReicheLehre nicht auskommt. b) Auch in qualitativer Hinsicht besteht ein Unterschied (Autonomie, Säkularisierung; Diktaturen und totalitäre Staaten moderner Prägung). Wir fragen heute, ob der Staat als solcher nicht ein Kunstgebilde der modernen Welt ist, ein modernes Mythologem. Der totale Staat ist dadurch gekennzeichnet, daß er „über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also die Bestimmung der Kirche erfüllen" will21 und die Staatsraison identifiziert mit dem politischen Gesamtklima, aus dem er lebt. In dieser Hinsicht müßten Luthers Gedanken über den 127. Psalm aufgegriffen und weitergeführt werden22. 2. Positiv: Luthers Aussagen atmen einen gesunden Realismus. Man merkt ihm an, daß er nicht nur Umgang mit dem Wort, sondern auch Umgang mit der Welt hat. Der Umgang mit dem Wort ermöglicht den Umgang mit der Welt; der Umgang mit der Welt entspricht dem Umgang mit dem Wort. Schrift und Welt legen sich wechselseitig aus. Daß und wie sie das tun, erfordert eine besondere Hermeneutik. Uns ist dieser Umgang nicht mehr so zu eigen wie Luther: das ist unsere Schwäche und Lähmung. Wenn Luther die Staatsmänner als Verbrecher und Buben, den Krieg als Massenmord23 bezeichnet, wenn er die Probleme des Krieges und Widerstands überhaupt und in so gezielter Weise anpackt, dann schlägt hier dieser gesunde Realismus durch, auch wo er „danebenhaut". Luther hat 21

Barmen, These V.

22

W A 4 0 / I I I , 202 fi. Eine Übersetzung des Verfassers erschien unter dem Titel: Von

23

Operationes in Psalmos 1 5 1 9 — 1 5 2 1 : W A 5, 4 0 8 — 4 1 0 (zu Ps. 14, 2).

der Menschwerdung des Menschen, 1940 (mit Einführung und Nachwort).

89

Thesen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre

jedenfalls nicht zu den brennenden Fragen seiner Zeit geschwiegen und originelle Beispiele für die Anwendung des „neuen Dekalogs" gegeben. IV. D i e B e d e u t u n g einzelnen:

der Z w e i - R e i c h e - L e h r e

im

Bei Luther werden in merkwürdiger Weise die Ordnungen flüssig. Die I n s t i t u t i o n e n werden zu F u n k t i o n e n , und zwar fast durchgängig. 1. Die regna: politia und ecclesia meinen bei Luther nicht mehr Institutionen des Corpus Christianum, sondern Funktionen innerhalb des corpus Christi, innerhalb des aö|.ia XQiaxoü. Daher ist regnum nicht mit „Reich", sondern mit „Regiment" zu übersetzen. Der Sprachgebrauch ist synonym. Regiment meint die Handlungsweise Gottes in den irdischen Dingen, politia das Leben in den politisch-mitmenschlichen Verhältnissen (nicht das Staatsgefüge), ecclesia meint das Leben und Praktizieren der iustitia im Gesamt der Gemeinde. 2. Die Kirche ist für Luther die Ausübung der Herrschaft Christi, meint also den Vollzug des Wortgeschehens. Von hier aus ist zu verstehen, daß Luther in doppelter Weise von Kirche im Zusammenhang mit den übrigen Gesellschaftsgebilden der damaligen Zeit spricht: a) Vom Wort her ist die ecclesia das umgreifende Gebilde, inner« halb dessen die drei Hierarchien vorhanden sind. b) Innerhalb dieser umgreifenden Kirche gibt es auch noch die organisierte Kirche (der Stadt Wittenberg, Erfurt usw.), die als solche neben der politia und oeconomia ihren Ort hat. Alle drei sind aber wieder umgriffen durch den „gemeinen Orden der christlichen Liebe"24. 3. Die drei

Hierarchien:

a) Sie sind nicht Klassen oder Kasten, sondern Hinsichten, unter denen jeder Christ sein Leben zu leben hat. b) Das bedeutet, daß Luther mittels der Lehre von den Hierarchien die Christen zu Aufgaben ruft, welche sie innerhalb der Hierarchien als der heiligen Stände und Berufe wahrnehmen mit dem Grundtenor, Liebe zu üben. 4. Obrigkeit meint bei Luther eine Relation. Obrigkeit geschieht 24

W A 26, 505 = B o A 3 , 510.

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Gerhard Gloege

jeweils nur im Akt einer Zuordnung nach unten hin 25 . Es ist wahrscheinlich, daß Luther von diesen Gesichtspunkten aus heute die Demokratie f ü r die richtige Staatsform ansehen würde. 5. Auch das regnum diaboli ist bei Luther funktionalisiert. Der Teufel ist derjenige, der den Menschen aus dem Glauben reißt und zum Unglauben verführt. Der Unglaube ist das eigentliche Medium, in dem der Teufel herrscht. Wir würden heute von Unglauben und Sünde zu sprechen haben, wo Luther vom Teufel redet. Er hat das Teufelsreich gewittert und gespürt als die Macht der Gefährdung gegenüber dem Staat und besonders gegenüber der Kirche. Wo die Unterscheidung der beiden Gerechtigkeiten nicht mehr gewahrt, wo das Gesetz nicht vom Evangelium unterschieden wird, da herrscht das Teufelsreich 26 . Luthers Zwei-Reiche-Lehre, wie wir sie hier historisch fixierten und in ihren Motiven und Intentionen zu analysieren versuchten, ruft danach, für unsere Gegenwart neu zur Geltung zu gelangen 27 . Dazu bedarf sie zwar nicht einer existentialen, wohl aber einer existentiellen Interpretation. In ihr dürfte eine der Hauptaufgaben der heutigen lutherischen Theologie liegen, gerade im Blick auf das künftige Verhältnis von Christenheit und Welt, Kirche und Staat.

25

W A 19, 652, 20 ff. = BoA 3, 342, 14 ff.: „Denn Gott hat die unter person gantz und gar gesetzt eintzelen zu sein für sich alleine . . . Widderümb, die oberperson ist gesetzt, das sie sol eine gemeine person sein und nicht alleine für sich selbs." Dasselbe gilt auch für das Verhältnis der Fürsten zum Kaiser.

26

Vgl. hierzu die bedeutende Untersuchung von Franz Lau, Luthers Lehre von den beiden Reichen, 1952.

27

Zur Ausarbeitung der Zwei-Reiche-Lehre im Hinblick auf ein konkretes Problem s. G. Gloege, Die Todesstrafe als theologisches Problem, AGF-G 138, 1966. — Vorstehende „Thesen" beruhen auf einem Summarium, das der Verf. in einem Seminar der Ev.-theologischen Fakultät Bonn vortrug. Dankenswerterweise wurde es durch Herrn Dr. Peter Fischer-Appelt fixiert.

EUGEN GERSTENMAIER

Staat ohne Kirche? Die Trennung von Staat und Kirche ist im 20. Jahrhundert unvermeidlich geworden. Zwar ragen die Konturen einiger bedeutender staatskirchlicher Institutionen in unsere Zeit herein, und es mag sein, daß sie dieses Jahrhundert auch noch überdauern. Aber das ändert nichts an ihrem Schicksal. Ihre Zeit ist vorbei, ihre Fundamente sind zerfallen. Mit der Ehe von Thron und Altar ist es auch dort vorbei, wo sie von keiner revolutionären Gewalt zerstört, von keinem traditionsfeindlichen Laizismus bedroht wird. Zwei verschiedene, aus sehr unterschiedlichen Quellen stammende Elemente haben nicht nur der jahrhundertealten Verbindung von Thron und Altar, sondern jeder Art von Staatskirchentum die Grundlage entzogen: 1. Das Selbstverständnis des modernen Staates, 2. Die Selbstbesinnung der Kirche.

I So verschieden, ja gegensätzlich sich die Staaten der Welt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts auch verstehen, von der Bindung an ein christliches Bekenntnis, ja an eine religiöse Konfession überhaupt entfernen sich die weitaus meisten immer mehr. Der freiheitliche Rechtsstaat unserer Zeit gewährt dieselben Rechte allen seinen Bürgern ohne Rücksicht darauf, ob sie einer christlichen Kirche angehören, ob sie Juden oder Mohammedaner, Buddhisten oder Atheisten sind. Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 hat das in den Artikeln 4 Abs. 1 und 33 Abs. 3 unmißverständlich niedergelegt; es hat darüber hinaus die einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung vom

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Eugen Gerstenmaier

11.8.1919 zu einem Bestandteil des Grundgesetzes erklärt (Art. 140 GG). Die gleiche Verbindung von Glaubensfreiheit und Rechtsgleichheit, wie sie unsere Verfassung charakterisiert, ist typisch für die meisten neueren Staatsverfassungen. Zwar gibt es darunter auch einige, die sich ausdrücklich auf ein religiöses Bekenntnis berufen und ihre konstitutionelle Ordnung als Ausdruck oder Ausfluß einer dem Staat vorgegebenen sakralen Ordnung verstanden wissen wollen. So nennt sich z. B. Pakistan mit Nachdruck einen islamischen Staat, das Spanien General Francos begreift sich als eine Macht mit katholischer Staatsreligion (Artikel 6 der Verfassung), und selbst die liberale Schweiz verkündet ihre Verfassung unverändert „Im Namen Gottes, des Allmächtigen". Von sehr viel größerer Bedeutung ist jedoch die Tatsache, daß die Verfassungswirklichkeit der kommunistischen Staaten dem Grundsatz der Verbindung von Glaubensfreiheit und Rechtsgleichheit tatsächlich nicht entspricht, obwohl auch sie sich in ihren Verfassungen dazu bekennen. In Artikel 124 der Verfassung der UdSSR vom 5.12.1936 heißt es: „Zum Zwecke der Gewährleistung der Gewissensfreiheit für die Bürger sind in der UdSSR die Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt. Die Freiheit der Ausübung religiöser Kulthandlungen und die Freiheit antireligiöser Propaganda werden allen Bürgern zuerkannt." Die Verfassung der sogenannten DDR vom 7. 10. 1949 statuiert Glaubensfreiheit und Rechtsgleichheit nach dem Vorbild der Weimarer Reichsverfassung in den Artikeln 41 und 42: Art. 41 Jeder Bürger genießt volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung steht unter dem Schutz der Republik. Einrichtungen von Religionsgemeinschaften, religiöse Handlungen und der Religionsunterricht dürfen nicht für verfassungswidrige oder parteipolitische Zwecke mißbraucht werden. Jedoch bleibt das Recht der Religionsgemeinschaften, zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen, unbestritten. Art. 42 Private oder staatsbürgerliche Rechte und Pflichten werden durch die Religionsausübung weder bedingt noch beschränkt. Die Ausübung privater oder staatsbürgerlicher Rechte oder die Zulassung zum öffentlichen Dienst sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Verwaltungsorgane haben nur insoweit das Recht, nach der Zugehörigkeit einer Religionsgemeinschaft zu fragen, als davon Rechte oder Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies fordert.

Staat ohne Kirdie

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Dennoch kann von der freien Entfaltung des kirchlichen Lebens weder in Sowjet-Rußland noch in der Sowjetzone Deutschlands oder in einem anderen kommunistischen Land gesprochen werden. Ebensowenig kann dort von einem partnerschaftlichen Verhältnis von Staat und Kirche die Rede sein. Die Ursache dafür liegt darin, daß die im totalitären Staat herrschende Partei in der Regel ihre Ideologie nicht nur zur Staatsidee, sondern zur Heilslehre schlechthin erklärt, für die sie Glauben fordert. Nur wer diese Forderung anerkennt, hat — Verfassung hin oder her — einen tatsächlichen Anspruch auf Gleichberechtigung im Staat. Die Kirchen sind bei einem solchen Zustand allenfalls geduldete Gruppen, meist aber werden sie als potentiell staatsfeindliche Relikte der Vergangenheit empfunden und dementsprechend behandelt. D a der persönlichen Lebensgestaltung im totalen Staat ohnehin weit engere Grenzen als im liberalen gezogen sind, führt schon der Versuch der individuellen und familiären Daseinsgestaltung aus christlichem Glauben in das Spannungsfeld mit Partei und Staat, von der Einwirkung auf das öffentliche Leben ganz zu schweigen. Es ist trotz einiger Liberalisierung einstweilen z. B. nicht vorstellbar, daß in Moskau, in Ostberlin und in den anderen kommunistischen Regierungen der Ostblockstaaten entschiedene Christen, praktizierende Orthodoxe, Katholiken oder Protestanten etwas zu bestellen haben. Die Ideologie und die Praxis der herrschenden Partei und die von ihr bestimmte Verfassungswirklichkeit schließen das so gut wie aus. Derselbe Verfassungsgrundsatz und die gleichen Rechtsformeln können also Tatbestände von durchgreifender gegensätzlicher Beschaffenheit rechtens decken oder camouflieren. Der Artikel 137 der Weimarer Verfassung hat die in Deutschland seit Karl dem Großen in verschiedenen Formen bestehende Verbindung von Thron und Altar mit der unpolemischen aber lapidaren Feststellung endgültig aufgelöst: „Es besteht keine Staatskirche." Damit war zwar die Institution der Staatskirche in Deutschland aufgehoben und die formelle Trennung von Kirche und Staat vollzogen, aber der Staat von Weimar war weit entfernt davon, den Zustand einzuleiten, der in den kommunistischen Staaten mit der Trennung von Staat und Kirche angestrebt wurde, nämlich den Kirchen und Religionsgemeinschaften jeder Art die Existenzgrundlage überhaupt zu entziehen. Der kommunistische Staat soll so „kirchenfrei" sein, wie Hitler Deutschland „judenfrei" sehen wollte.

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Der Weimarer Reichsverfassung und dem Grundgesetz der Bundesrepublik war es ganz im Gegensatz dazu nur darum zu tun, einige unerläßliche rechtliche Konsequenzen aus ihrem fundamentalen Freiheitsbegriff zu ziehen. Das Grundgesetz wollte damit zugleich die innere Selbstgestaltung Deutschlands in Übereinstimmung bringen mit Grundsätzen, deren normative Kraft und Geltung zumindest seit der Charta der Vereinten Nationen in immer größeren Teilen der Welt anerkannt wurde. Sie proklamieren die Glaubensfreiheit als einen elementaren Bestandteil des Menschenrechts, dem der Staat in seiner Selbstgestaltung Nachachtung zu verschaffen habe. Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948 lautet: J e d e r Mensch hat Anspruch auf G e d a n k e n - , Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht u m f a ß t die Freiheit, seine Religion oder seine Ü b e r z e u g u n g zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Ü b e r z e u g u n g allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder p r i v a t , durch Lehre, A u s übung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden.

Der englische und der skandinavische Konstitutionalismus hatten sich schon geraume Zeit vor der Errichtung der Vereinten Nationen im Jahre 1945 zu einer Praxis entschlossen, die aller revolutionären Erschütterung abhold ihr traditionelles privilegiertes Staatskirchentum erhielt, den Ansprüchen der modernen „weltanschauungsfreien" Demokratie aber dennoch Genüge zu tun suchte. Man wollte damit beidem, dem Traditionsbedürfnis und dem Verlangen nach toleranter Gleichberechtigung der Nicht- oder Andersgläubigen Rechnung tragen. Den Verfassungsrechtler und den theologischen Systematiker kann zwar dieser Kompromiß nicht befriedigen, aber beide können sich mit der Erkenntnis trösten, daß er getragen werden kann, schon weil er ohnehin keine wirkliche Zukunft mehr hat. Tatsächlich ist das eigentliche Schicksal des Staatskirchentums weder in der Charta der Vereinten Nationen noch in der Gefahr beschlossen, die ihm von einem kommunistischen oder anderen totalitären Staatszwang her droht. Sein Schicksal ist vielmehr der Säkularismus der technischen Zivilisation. So ruinös sich die Kombination von Polizeiterror und glaubensfeindlicher Propaganda im militant-atheistischen Zwangsstaat für Kirche und Religion auf die Dauer auch auswirken, so wahr bleibt es doch, daß das Blut der Märtyrer der Samen der Kirche ist. Dem Säkularismus der technischen Zivilisation fehlt im Unterschied zum militanten Atheismus aller Angriffswille auf „die Religionsgesellschaften", um im

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Stil der Weimarer Verfassung zu reden. Dieser Säkularismus wirkt eher wie ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt einer Verhaltensweise, einer Denk- und Erfahrungsform, die nahezu die ganze Apperzeptionsfähigkeit ihrer Zeit, den größten Teil ihrer geistigen Kraft für die Bewältigung des allerdings gewaltig erweiterten Vordergrunds der Welt beansprucht. Die Steigerung des Konsumangebots an die Massen — ein wesentliches Element der technischen Zivilisation — kommt hinzu und trägt dazu bei, den Autoritätsglauben früherer Generationen schwinden zu lassen. Das Überangebot an Vordergrundinformation aller Art kann von niemand mehr bewältigt werden. Es erschwert und verhindert die innere Sammlung und Selbstbesinnung, die für die Orientierung des Menschen unter dem Horizont von Zeit und Ewigkeit nun einmal unerläßlich ist. Die Folge ist eine Glaubensunkraft, ein Unvermögen, sich über das Gegebene und Greifbare hinaus einigermaßen selbständig zu verhalten, und schließlich auch die intellektuelle Unfähigkeit zur religiösen Entscheidung. Heute verbindet sich damit selten Kirchenfeindlichkeit, oft aber eine profunde Kirchenfremdheit und ein auch bei Intellektuellen und Gebildeten bestürzender Mangel an religiöser Bildung. Die Welt des Glaubens und der Kirche ist auch Millionen kirchlich Getaufter und Konfirmierter eine terra incognita geworden. Sie bewegen sich in ihr so hilflos wie der Großstädter in der Arktis. Der militante Atheismus hat sich im freien Teile Deutschlands seit dem Sturze Hitlers zum größten Teil in den Untergrund begeben. Viel Bekennermut legt er jedenfalls nicht an den Tag. Hingegen macht sich gelegentlich zwar kein breites, aber ein deutlich wahrnehmbares Räsonnement gegen die Kirche wieder bemerkbar. Es gibt sich mit Vorliebe antiklerikal und es kann mit seiner Forderung „die Kirche soll in ihren Grenzen bleiben" auch auf wachsende Zustimmung rechnen. Dies alles berücksichtigt, darf man dennoch sagen, daß es eher eine wohlwollende als eine feindselige Gleichgültigkeit ist, die heute nicht nur in unserem Volk das Verhältnis breiter Schichten zur Kirche bestimmt. Die ehemalige Überheblichkeit des aufgeklärten „wissenschaftlichen" Kopfes aus der Zeit Häckels ist verblaßt. Man ist sogar zur Förderung der Kirche und ihrer Anliegen bereit, allerdings immer vorausgesetzt, daß sich der missionarische Zugriff der Kirche und ihre diakonischen und finanziellen Ansprüche in Grenzen halten, die als tolerabel gelten. Dieselbe Stimmung des Wohlwollens spiegeln die vom Grundgesetz aufgenommenen Artikel 136 bis 139 und 141 der Weimarer Verfassung

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wider. Sie nahmen darauf Bedacht, die Trennung von Staat und Kirche durch die weitere Gewährung erheblicher finanzieller Zuschüsse und gewisser konventioneller Privilegien aus der Zeit des Staatskirchentums so schmerzlos wie möglich zu machen. Das Grundgesetz hat — auch hier im bewußten Gegensatz gegen die Kirchenfeindlichkeit der Hitlerzeit — diese Tendenz noch verstärkt. Artikel 7 GG bestimmt z. B., daß der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach in den öffentlichen Schulen ist. Auf die Grenze des religiös neutralen Staates tritt das Grundgesetz vielleicht schon mit dem ersten Satz seiner Präambel: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen... hat das Deutsche Volk . . . dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen." Auf der Grenze bewegen sich in einzelnen Teilen auch die Länderverfassungen, die — wie Baden-Württemberg — „die christliche Gemeinschaftsschule" zur verfassungsmäßigen Norm des staatlichen Schulwesens machen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat die politische Praxis in Bund und Ländern diese Grundeinstellung den Kirchen gegenüber in den letzten 20 Jahren bestätigt. Es hat sich gezeigt, daß die Trennung von Kirche und Staat die Kirche nicht aus dem Staat zu verweisen braucht oder sie in ein für das öffentliche Leben belangloses Ghetto drängen muß, sondern beiden ein neues, produktives Feld der partnerschaftlidien Zusammenarbeit zu eröffnen vermag. Ein Irrtum wäre es freilich, aus dieser Entwicklung den Schluß zu ziehen, daß schon die derzeitige verfassungsrechtliche Situation die Kirchen vor weiteren, möglicherweise tiefgreifenden Veränderungen ihrer institutionellen Position zu bewahren vermöchte. Dem 1918 an die Stelle der Staatskirche getretenen Volks- oder Landeskirchentum drohen im freien Teile Deutschlands keine anderen Gefahren als diejenigen, die sich aus dem Säkularismus unserer Zeit ergeben. Sie allerdings greifen — auch dort, wo sie sich gar nicht aggressiv äußern — nach dem für alle kirchliche Existenz Fundamentalen des Glaubens. Mit staats- oder kirchenrechtlichen Vorschriften ist hier wenig getan. Und auch die erklärte Kirchenfreundschaft mächtiger politischer Parteien vermag dagegen nichts Entscheidendes auszurichten. Sie können den Kirchen zwar auch in der Auseinandersetzung mit dem Säkularismus der Zeit wichtige Hilfen gewähren, aber diese Hilfen laufen schließlich mehr darauf hinaus, die Traditionen und Ordnungen zu schützen, in denen der Glaube der Christenheit wirksam wurde, als diesem Glauben selbst eine durchdringende öffentliche Wirkung zu geben.

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Darauf aber muß es der Kirche ankommen. Aus ihrer öffentlichrechtlichen Position, aus ihren verfassungsmäßigen oder vertraglichen Rechten, aus ihrer institutionellen Stellung läßt sich dafür nichts Zureichendes ableiten. Das bedeutet nicht, daß dies alles belanglos wäre. Im Gegenteil: es ist und bleibt auch für den religiös neutralen Staat von wesentlicher Bedeutung, wer oder was ihm als Partner in bedeutenden Bereichen seiner inneren Selbstgestaltung entgegentritt, z. B. in der schulischen Erziehung, in der Gestaltung der Universitäten, in der öffentlichen Fürsorge, und schließlich weit über Einzelgebiete hinaus in der geistigen und sittlichen Orientierung seines Rechts, ja seiner selbst. Nicht nur die geistige und sittliche Kraft, sondern auch der Institutionalismus der Kirchen, ihre verfaßten Ämter, ihre Organisationen und Apparaturen sind dabei von Bedeutung. Während sich jedoch in dürren Zeiten des Glaubens die öffentliche Geltung der Kirchen früher noch einigermaßen auf ihren Institutionalismus stellen ließ, ist es damit im Verlaufe dieses Jahrhunderts immer weniger geworden. Das Staatskirchentum Skandinaviens hat der Säkularisierung des öffentlichen Lebens im Durchschnitt weniger Widerstand entgegenzusetzen vermocht als die amerikanischen Freikirchen. Das liegt gewiß nicht nur an der fortschreitenden Verweltlichung, sondern auch an dem im Zeichen der Demokratie stehenden Abbau der Autorität der Institutionen überhaupt. Der Satz, daß früher das Amt den Mann getragen habe, heute jedoch der Mann das Amt tragen müsse, ist nicht uneingeschränkt richtig, aber doch zum größeren Teil. Wenn die Kirchen heute einen wirklichen Einfluß auf das öffentliche Leben der Völker haben, so liegt das nicht an der Macht und Besonderheit ihres Institutionalismus — und auch nicht an dem Umworbensein von stimmensuchenden politischen Parteien — obwohl das auch mitspielt —, sondern an der Kraft des Glaubens und der Hingabe, die sie bei ihren mündigen Söhnen und Töchtern zu entbinden vermögen. Ob es in Zukunft Staaten mit Kirchen gibt, wird sich daran entscheiden.

II Ein solches Urteil, gewonnen aus den Erfahrungen mit totalitären Diktaturen und der pluralistischen Gesellschaft des liberalen säkularisierten Staates, kommt überein mit dem Ergebnis einer innerkirchlichen und 7

Festschrift K u n s t

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theologischen Entwicklung, die sich nicht nur, aber doch exemplarisch im Deutschland der Jahre 1920—1950 vollzogen hat. Daß die Kirche nicht nur ihrer Funktion, sondern auch ihrem Wesen und ihrer Herkunft nach etwas anderes sei als der Staat, war nicht nur dem deutschen Katholizismus, sondern auch dem Protestantismus immer bewußt. Das deutsche Luthertum ist erzogen mit der Lehre von den zwei Reichen Gottes „zur linken und zur rechten Hand". Diese lutherische Definition hielt auch in der Zeit, als die Ehe von Thron und Altar am innigsten war, das Bewußtsein der Verschiedenartigkeit von Staat und Kirche wach. Aber dieses Bewußtsein trat auf weiten Strecken der deutschen Profan- und Kirchengeschichte hinter dem anderen in der Definition Luthers mit angelegten Bewußtsein zurück, daß in den zwei Bereichen, in Staat und Kirche, eben des einen Gottes eine Herrschaft sei. Das lutherische Landeskirchentum der Reformationszeit gab dem einen für das heutige Empfinden nicht mehr möglichen Ausdruck mit seiner Berufung des Landesherrn, sprich Staatsoberhaupts, zum summus episcopus. — Obwohl mehr aus einer politischen Verlegenheit als aus einer theologischen Erkenntnis geboren, hat sich die so zur Darstellung gebrachte Einheit von Kirche und Staat vier Jahrhunderte hindurch dem Bewußtsein des größeren Teils des deutschen Volkes mitgeteilt. Die Folge war die landläufige Vorstellung von der hauptsächlich funktionellen Verschiedenheit von Staat und Kirche. Beide galten — mehr oder weniger angefochten — als die eine von Gott verordnete Obrigkeit, der man Untertan zu sein habe. Für den Abbau dieser Vorstellung haben die Republikaner, die die Monarchie abschafften, letztlich aber Hitler, der den Staat zum Verbrecher machte und den Kirchen den Krieg erklärte, möglicherweise mehr bewirkt als die Theologen. Indessen nahm die theologische Entwicklung in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg einen Verlauf, der — wenn auch ganz anderen Motiven entstammend — mit der politisch-staatlichen Entwicklung weithin zusammenlief. Die Kritik der dialektischen Theologie demontierte althergebrachte Vorstellungen — die bei genauerem Zusehen übrigens gar nicht oder nur fragwürdig auf die Reformatoren gestützt werden konnten. Dieser Demontage fiel nicht nur die Ehe von Staat und Kirche, sondern auch der Begriff des christlichen Staates zum Opfer. Was von den Vorstellungen des „weltanschauungsfreien" demokratischen Staatsdenkens in der Weimarer Verfassung Gestalt gewonnen hatte, wurde von der neueren evangelischen Theologie mindestens insoweit begrüßt, als es der

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grundsätzlichen Diastase von Staat und Kirche diente. Diese Theologie argumentierte in kritischer Absetzung von dem Staatsgedanken Hegels wie von dem Kirchenbegriff Schleiermachers. Beide haben die Vorstellungen des staatlichen und des kirchlichen Denkens im 19. Jahrhundert tief beeinflußt. Die neue Theologie fühlte sich hingegen vor allem der Distanz verpflichtet. Der Distanz von Gott und Mensch, von Gottes Gottheit und menschlich-religiöser Bemühung, aber auch der Distanz von weltlichem Staat und christlicher Kirche. Die herkömmliche Vorstellung vom christlichen Staat wurde von ihr schon deshalb abgelehnt, weil die in der Idee vom christlichen Staat vorausgesetzten Synthesen zwischen freier Glaubensentscheidung und Staatszwang der kritischen Theologie christlich unhaltbar erscheinen mußten. In der Tat: entweder ist das Wort vom christlichen Staat nur eine Etikette, eine Erinnerung an unser abendländisches geschichtliches Werden, oder aber es besagt, daß die Staatsgewalt in den Dienst der Durchsetzung spezifisch christlicher Anschauungen, Rechtsauffassungen und einer für christlich gehaltenen Politik gestellt wird. Überflüssig zu sagen, daß das die Rechtsgleichheit der andersdenkenden Staatsbürger verletzen würde, und überflüssig zu sagen, daß die Konkretisierung eines solchen christlichen Staates und seiner christlichen Politik nicht nur den Staat, sondern auch die Kirchen vor unlösbare Aufgaben und unüberschaubare Schwierigkeiten stellen müßte. Mehr als an Einsichten dieser Art orientierte sich die neuere kirchliche Entwicklung auch in ihrem Verhältnis zum Staat an dem eschatologisch gestimmten Kirchenbegriff des Neuen Testaments. Aus ihm vornehmlich nährte sich jenes weithin vernehmbare neue Pathos der Distanz der Kirche vom Staat. Durch die Begegnung der Kirche mit dem totalitären Staat wurde es zwar sehr vertieft, seiner Herkunft nach aber galt es doch nicht nur ihm, sondern jeder Art von Staat. Neben dem Pathos der Distanz entwickelte sich indessen auch so etwas wie ein neues kirchliches Ethos gegenüber Staat und Gesellschaft. So verschiedenartig es sich theologisch begründet, so einheitlich bemüht es sich doch, die wesenhaft verschiedenen Größen Staat und Kirche in eine christlich wie rechtlich einwandfreie neue Relation zueinander zu bringen. Ihre distanzierte Verschiedenartigkeit muß bestehen bleiben, aber ihr Verhältnis muß mindestens von der Kirche her gesehen so sein, wie es dem göttlichen Auftrag der Kirche gemäß ist. Für die Kirche ist dabei die Freiheit ihres Wirkens und ihre tatsächliche Unabhängigkeit weit wichti7*

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ger als ihre Position im öffentlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Institutionalismus. Die unerläßliche Freiheit ihrer Verkündigung macht ihre Unabhängigkeit von staatlichen Auflagen wie von dem Druck von Interessenverbänden und ähnlichen Organisationen notwendig. Aber nicht nur und nicht erst diese wichtigste Funktion der Kirche erfordert ihre qualifizierte Selbständigkeit, sondern auch ihre Herkunft und ihr Wesen als corpus Christi unterscheidet sie durchdringend und dauernd von dem gesellschaftlichen und staatlichen Institutionalismus. Die Kirche ist nun einmal nicht von dieser Welt. Diese Tatsache allein gibt jeder kirchlichen Organisation, so gut und so weltlich flott und efficient sie auch sein und so sehr ihre Arbeitsweise — z. B. im Bereich der Diakonie — der anderer „weltlicher" Organisationen auch ähnlich sein mag, ihre charakteristische, von allen anderen soziologischen und politischen Institutionen und Organisationen unterschiedene Besonderheit. Daraus folgt unter anderem, daß auch in der pluralistischen Gesellschaft des demokratischen Staates die Kirche und ihre Organisationen grundsätzlich nicht zur Disposition des Staates oder der Gesellschaft stehen, so sehr und so freundlich das auch gewünscht werden mag. Kirchliche Organisationen müssen sich — was sie auch tun und wo sie audi wirken — an ihrem eigenen kirchlichen Ursprung orientieren. Sie müssen jederzeit wissen, welchem Herrn sie stehen und fallen. Verlieren sie diese Grundorientierung, dann können sie immer noch gesellschaftlich nützliche Organisationen sein, aber um ihre kirchliche Q u a l i t ä t ist es geschehen. Zu dieser Q u a l i t ä t gehört jedoch auch das ebenso klare Bewußtsein, daß die Kirche Jesu Christi nicht sich selber lebt, sondern mit ihrem Wort und ihrer T a t an die Welt gewiesen ist. Auch dabei wird ihre Weltdistanz nicht aufgehoben. Gleichgültig ob es dem Staat oder der Gesellschaft gefällt oder mißfällt, ob sie darum bitten oder ob sie es verbieten, die Kirche Jesu Christi muß tun, wozu sie berufen ist: das Heil der Welt verkündigen. Darin besteht ihre Freiheit vom Staat und darin allein wohl auch ihre Überlegenheit über den Staat und die anderen Gebilde der Geschichte. An dieser Sachlage — und nicht an geheimen klerikalen Vormachtansprüchen oder unbewältigten Inferioritätskomplexen — liegt es, daß auch nur cum grano salis von Partnerschaft zwischen Staat und Kirche gesprochen werden kann und über ihren Konkordaten und ähnlichen rechtlichen Vereinbarungen der Widerschein der Ungleichheit liegen bleibt.

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Demnach können sich überall, wo der Staat unter anderen Freiheiten auch die der Kirche respektiert, mehr oder weniger harmonische, mehr oder weniger produktive Formen der Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche entwickeln. Von der Epoche des Staatskirchentums her gesehen stellt der gegenwärtige Zustand der volkskirchlichen Zusammenarbeit mit dem Staat, wie er in den Landeskirchen des freien Teiles Deutschlands gepflegt wird, wahrscheinlich eher eine Ubergangsphase als einen Dauerzustand dar. Dem Pathos ihrer Distanz und vielleicht auch ihrer kirchlichen Dignität sind administrative Verbindungen der Kirche mit dem Staat, wie sie z. B. beim Einzug der Kirchensteuer über die staatlichen Finanzämter geübt werden, nicht gerade angemessen, aber sie können verkraftet werden. D a ß derlei eine Zukunft hat, ist jedoch sehr fraglich bei dem Gefälle der Säkularisierung. Aber auch wenn solche Begünstigungen verschwänden und eine zukünftige Phase das deutsche Volkskirchentum mehr und mehr etwa dem amerikanischen Freikirchentum angleichen sollte, kann die Kirche über die Predigt hinaus z. B. im Bereich der Schule und Erziehung bis hinein in die Forschung und Lehre öffentlich wirksam bleiben. Dasselbe gilt von ihrer Diakonie und Fürsorge und bewußter und kräftiger, als es bis heute der Fall ist, hoffentlich auch von ihrer Presse, ihrem R u n d f u n k und Fernsehen. Der freiheitliche Rechtsstaat kann der Kirche weder verwehren, daß sie sich auch der Massenmedien in einem der Zeit angemessenen Umfang bedient, noch wird er ihr verbieten können, sich ihrer nicht nur „erbaulich", sondern auch kritisch und orientierend zu bedienen. Denn wenn dieser Staat nicht auf eine antikirchliche Gegenposition gehen will — was er schon seines Freiheits- wie seines Gleichheitsgrundsatzes wegen nicht kann —, muß er sich damit abfinden, daß es zum Auftrag der Kirche gehört, in die Orientierungslosigkeit des Menschen eine Richtung zu bringen, den Menschen unter Gottes Gebot und Ordnung zu rufen und ihn Zeit und Welt sub specie aeternitatis begreifen zu lehren. Die Kirche wird schwerlich den Vorwurf vermeiden können, daß sie dabei ihrerseits immer wieder die ihr gesetzten Grenzen überschreite. Das wird auch in Zukunft besonders im Bereich der Politik der Fall sein. Aber wenn der Logos Fleisch wird, so greift er auch nach dem politischen Fleisch. Insofern kann auch die sogenannte politische Predigt nicht f ü r kirchlich illegitim erklärt werden. Illegitim ist jedoch die dabei leicht zustande kommende Grenzüberschreitung, die aus der politischen Predigt, deren Thema das Wort Gottes ist, die politische Rede macht, deren Thema

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die subjektive politische Meinung des Redners ist. Daran ändert auch nichts, daß er auf der Kanzel steht. Noch gefährlicher ist freilich die ebenso naiv anmaßende wie unchristliche Annahme, daß in der politischen Predigt das Gewissen des Staates schlage. Die Kirche ist weder in ihrer Predigt noch in ihrer Institution das Gewissen des Staates. Vorstellungen dieser Art waren schon im christlichen Staat fragwürdig. Im heutigen Rechtsstaat sind sie schlechterdings unhaltbar. Denn sie implizieren, daß der Staat und seine Mandatsträger, seine Verwaltung und seine Justiz kein eigenes, hinreichend funktionierendes Gewissen haben, daß sie im Wortsinn gewissenlos seien und schon darum der Kirche und ihrer Institutionen bedürften. Diese Gedankenlosigkeit verkennt den grundsätzlichen Rang des Staates und seiner Führung, auf die Luthers Wort vom Reich Gottes zur linken Hand hinweist. Das Wort von der Kirche als dem Gewissen des Staates hebt sich zudem über die sachlich begründete fundamentale Verschiedenheit von Kirche und Staat hinweg und ignoriert die positiven Erkenntnisse einer Theologie und Praxis der Distanz. H a t man sie im Auge und Bewußtsein, dann läßt sich nicht von der Kirche als dem Gewissen des Staates sprechen, aber immerhin von einem Wächteramt der Kirche. Vorsicht ist zwar auch hierbei geboten, schon deshalb, weil bei den noch immer wachsenden Staatskompetenzen sachlichfachliche Zwangsläufigkeit und politisch-rechtliche Ermessensfreiheit weithin so ineinanderlaufen, daß das Wort der Kirche zu einer Frage der Politik oft nur ein Veto sein, aber selten eine sachliche Lösung bieten kann. Die Debatte um die Atomwaffen und die Diskussion um die kirchliche Denkschrift zur Lage der Vertriebenen haben dafür nachdenkliche Beispiele geliefert. Auch der seit einigen Jahren in der evangelischen Kirche Deutschlands diskutierte Begriff der politischen Diakonie hat bislang nicht weitergeführt. In einem Brief der evangelischen Bischöfe der sowjetisch besetzten Zone an den Marschall Sokolowski vom 22. Mai 1948 heißt es: „Es kann sehr wohl der Fall eintreten, daß Maßnahmen des Staates oder der politischen Parteien so tief in das sittliche Leben der Volksgemeinschaft eingreifen und die Verantwortung der Kirche so unmittelbar berühren, daß die Kirche dazu das Wort nehmen muß, zustimmend oder ablehnend." Das ist nicht nur kirchlich legitim, sondern es kann zumindest im freiheitlichen Rechtsstaat auch in rechtlicher Hinsicht nicht bezweifelt werden. Das gleiche gilt von dem, was dieselben Bischöfe mit dem folgenden Satz im gleichen Brief aussprechen: „Ebenso kann sich die Kirche

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gedrungen fühlen, aus eigener Initiative politischen Stellen Vorschläge zu machen oder Anregungen zu geben . . ." Aber das kann nicht bedeuten, daß die Kirchen verpflichtet oder auch nur berechtigt wären, das politische Handeln mit fortgesetzter kritischer Stellungnahme zu begleiten. Abgesehen von der Gefahr der völligen Verpolitisierung der Kirche ergäbe sich sogleich — wenigstens auf evangelischer Seite — die Frage, wer sich denn im Namen der Kirche berufen und legitimiert wissen dürfte, fortgesetzt solche Erklärungen abzugeben. Der Natur der Sache nach wären sie politische Willensäußerungen, auch wenn sie sich selbst als über dem Machtkampf stehende, durch Sachgerechtigkeit und christliche Fundierung autorisierte Ratschläge oder Forderungen verstehen dürften. Die Überlegung ist nicht so abstrakt, wie sie aussieht. Sie legt sich vielmehr nahe, wenn man sich mit dem Begriff der politischen Diakonie kritisch befaßt. Denn als Diakonie müßte auch die politische Diakonie 1. auf geregelte fortlaufende — und nicht nur auf gelegentliche punktuelle — Tätigkeit gerichtet sein, und sie müßte 2. wie alle wirkliche Diakonie weniger auf das Wort als auf die Tat abgestellt sein. Wäre sie das, dann würde sie der darin lebende Wille zur Verwirklichung jedoch unvermeidlich auf das politische Kampffeld führen. Johann Hinrich Wichern hat diese Konsequenz gezogen1, und Stoecker und andere sind ihm dabei gefolgt, aber die Innere Mission und die evangelischen Kirchen im ganzen haben sich aus begreiflichen Gründen bis jetzt anders verhalten. Würden sie ihr Verhalten in diesem Stück grundsätzlich im Sinne der Wichernschen Denkschrift ändern, dann könnte von politischer Diakonie gesprochen werden. Wenn sie sich aber weiterhin auf gelegentliche Äußerungen zu politischen Sachverhalten und Ereignissen beschränken wollen, ist — jedenfalls vom Sinn des Wortes her — der Begriff der politischen Diakonie der Kirche nicht am Platz. Wenn man angesichts dieser Sachlage auf den Begriff nicht überhaupt verzichten will, dann sollte er wenigstens nicht mehr länger für die gelegentlichen Stellungnahmen der Kirche oder ihrer Organisationen zu politischen Tatbeständen verwendet werden. Wohl aber können mit dem Wort die Motive, die Gesinnung und die Hingabe bezeichnet werden, die einen Christen oder eine Gemeinschaft von Christen veranlassen, 1

Vgl. J. H . Wichern: Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation von 1849. Eugen Gerstenmaier: „Wichern I I " in „Das Diakonische Amt der Kirche" (herausgegeben von Herbert Krimm) Zweite Auflage 1965, S. 467 ff.

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auf eigene Rechnung und Gefahr hin, d. h. ohne Rückendeckung durch die Kirche an der Politik teilzunehmen und auf das eigene Wagnis hin nach der Macht zu greifen, ohne die es nicht möglich ist durchzusetzen, was man für geboten hält. Menschen, die in dieser Gesinnung das politische Kampffeld betreten, werden immer dankbar das gewissensstärkende Wort ihrer Kirche aufnehmen. Sie werden das um so dankbarer tun, je mehr sich die Kirche und ihre Fachorganisationen vor politischer Bevormundung zu hüten wissen. Eine andere Gefahr besteht im Zeitalter der „Herrschaft der Verbände" auch für die Kirche und ihre Organisationen bei der Vertretung ihrer institutionellen und fachlichen Belange. Auch die Kirche darf ihr Recht vertreten. Aber sie ist es ihrem Wesen und Auftrag schuldig, sich dabei zu keiner Grenzüberschreitung verleiten zu lassen. Kirchensteuerverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht müssen vielleicht gerade deshalb einmal durchgefochten werden, weil die Kirche das Recht liebt. Aber so dubiose Verfahren wie z. B. das um die Heranziehung juristischer Personen zu der in Baden erhobenen Kirchenbausteuer setzen die Kirche nicht ohne Grund dem Vorwurf der Grenzüberschreitung aus, in dem der Verdacht lebt, daß Klerikalismus drohe. Eine spezifische Form derselben Gefahr ist die Versuchung für die Kirchen, daß sie sich in die Rolle eines Verbandes unter Verbänden hineinspielen lassen und an der Herrschaft der Verbände teilnehmen. Der kirchliche Institutionalismus steht dabei in der Gefahr, daß er sich dazu verleiten läßt, mit eigener Lobby und auf den gleichen Wegen wie andere Lobbyisten die „kirchlichen Interessen" zu verfechten. Weil dies dem Wesen der Kirche zuwider ist, die geordnete Partnerschaft aber für den Staat wie für die Kirche wichtig ist, haben die Kirchen gut daran getan, der Ebene und Methode der Lobby für sich selber eine prinzipielle Absage zu erteilen und ihrer Bereitschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit dem Staat auch durch die öffentliche Bestellung kirchlicher Bevollmächtigter einen praktisch wirksamen Ausdruck zu geben. Der Weg, der damit beschritten wurde, ist zwar in rechtlicher wie in politischer Hinsicht auch nicht problemlos, aber es hat sich gezeigt, daß damit fertig zu werden ist, wenn sich Männer finden, die dieser Aufgabe gewachsen sind. Hermann Kunst hat dafür ein großes politisches Vorbild und ein kirchengeschichtlich bedeutendes Beispiel geliefert.

PAUL MIKAT

Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht Verlauf und Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils zeigen deutlich, daß die katholische Kirche in der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichtlichkeit als „ecclesia semper reformanda" in ein Stadium eingetreten ist, das weithin vom Prinzip der Öffnung nach innen und nach außen bestimmt wird. Die anfangs unübersehbar erscheinende Zahl der Konzilsthemen gruppierte sich im Gang des Konzilsgeschehens immer deutlicher um die beiden Fragen nach der inneren Struktur der Kirche und nach der Beziehung der Kirche zur Welt. Die zentralen Aussagen zu den vielschichtigen Fragen enthalten nunmehr die „Constitutio dogmatica de Ecclesia" 1 und die „Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis" 2 , die für den Staatskirchenrechtler die Ecksteine der Ergebnisse des Konzils sind. Zwar darf die Bezeichnung der Konzilsergebnisse als Aussagen über das interne und externe Verständnis der Kirche nicht zur begrifflichen Trennung der beiden Erscheinungsformen verleiten, denn immer geht es um die Kirche in der Fülle ihrer Erscheinung, um ihre ganze Heilsaufgabe, um ihren unwandelbaren Auftrag in einer verwandelten Welt. Das Selbstverständnis der Kirche war der Angelpunkt, um den alle Konzilsthemen kreisten und um den sich auch alle päpstlichen Konstitutionen und Dekrete ordnen lassen. 1

„Constitutio dogmatica de Ecclesia" vom 21. 11. 1964, authentischer lateinischer Text in: Acta Apostolicae Sedis vom 30. 1.1965 (AAS 57/1965). Amtliche deutsche Ubersetzung im Auftrag der deutschen Bischöfe in: Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln (KAnz. Köln), 1965, 148 (im folgenden = Dog. Konst.). * „Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis" vom 7. 12. 1965. Die Publikation eines authentischen lateinischen Textes dieser Konstitution in den Acta Apostolicae Sedis ist bei Drucklegung nicht erfolgt, demgemäß gibt es auch noch keine amtliche deutsche Ubersetzung. Eine vorläufige nichtamtliche Übersetzung erfolgte im Auftrag der deutschen Bischöfe in: K N A , Dokumentation, Ausgabe vom 7. 12. 1965 (im folgenden = Past. Konst.).

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Das Prinzip der Öffnung der Kirche umgreift zugleich eine Neubesinnung der katholischen Kirche über ihr Verhältnis zu anderen kirchlichen Gemeinschaften, insbesondere zur evangelischen und orthodoxen Kirche, wie es im Ökumenismus-Dekret 3 seinen Ausdruck gefunden hat. Die Bereitschaft und der Aufruf zum Dialog mit den nicht der katholischen Kirche angehörenden Christen bedingt das sachliche und offene Gespräch über die gemeinsamen und trennenden Glaubensgrundlagen, über die sozialen und kulturellen Aufgaben und über das rechte Verhältnis der Kirche zu Staat und Gesellschaft. Einen Beitrag zu letzterem sollen auch die nachfolgenden Betrachtungen über einige Grundsatzfragen des heutigen Verhältnisses von Kirche und Staat bilden.

I Von der katholischen Staatslehre wird in einer neueren evangelischen Quellensammlung zur Konfessionskunde 4 mit Recht festgestellt, daß sie in evangelischen Kreisen merkwürdig unbekannt sei. Vielfach steht sie in dem Ruf, daß sie ein traditionell verfestigtes und dogmatisch gebundenes System der Zuordnung von Kirche und Staat darstelle, das unabhängig von der geschichtlichen Wirklichkeit sich der sachimmanenten Fortentwicklung entziehe und für jede Staatsform Geltung beanspruche. Dabei überrascht den Nichtkatholiken häufig eine ausgesprochen optimistische Auffassung vom Staat und seinen Aufgaben, die in einem gewissen Gegensatz zur distanzierten Haltung des deutschen Katholizismus gegenüber dem Staat im vorigen Jahrhundert, aber auch zu verschiedenen päpstlichen Lehräußerungen zu stehen scheint. Schließlich wird mit der katholischen Sozial- und Staatslehre regelmäßig die Vorstellung eines generalisierenden Anspruchs der Kirche auf Gleichordnung, wenn nicht sogar Überordnung über den Staat verbunden und von daher die Gefahr einer Klerikalisierung des öffentlichen Lebens befürchtet. Ein zutreffendes Bild über das katholische Verständnis des Verhältnisses von Kirche und Staat läßt sich nur gewinnen, wenn zunächst Klarheit über die theologischen Grundauffassungen vom Staat besteht, die ' „Decretum de Oecumenismo" vom 21.11. 1964, AAS 57/1965; amtliche deutsche Übersetzung im Auftrag der deutschen Bischöfe in: KAnz. Köln, 1965, 284. 4 K. D. Schmidt, Die katholische Staatslehre (Quellen zur Konfessionskunde, Reihe A: Römisch-katholische Quellen, Heft 4), 1965, S. 3.

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man zum traditionellen Gemeingut der katholischen Staatslehre rechnen darf 5 . Wir müssen es uns natürlich im Rahmen dieses Beitrages versagen, im einzelnen darauf einzugehen. Einige Hinweise mögen genügen: 1. Grundlegend für den katholischen Denkansatz der Lehre vom Staat ist die Erkenntnis, daß der Staat ein Teil der Schöpfungsordnung ist. Da das katholische Denken nicht bei der Sünde anknüpft, sondern von einer objektiven von Gott gesetzten und dadurch geheiligten Seinsordnung ausgeht, kommt der gesamten Schöpfungsordnung ein von Gott herrührendes Prinzip des Guten zu. Weil Gott die Welt geschaffen hat und sie in Gott ihren Seinsgrund besitzt, so gibt es unbeschadet der Frage, in welchem Maße die Ursünde die ursprüngliche Schöpfungsordnung beeinträchtigt und verletzt hat, ein an sich und in sich gutes Strukturprinzip der Schöpfung, so lange die Schöpfung überhaupt existiert. Zur Schöpfung gehört aber der Mensch in seiner gesellschaftlichen Bindung. Zurückgehend auf die aristotelische Auffassung vom sozialen Wesen des Menschen ist nach katholischer Auffassung der Mensch seiner gottgeschaffenen N a t u r nach zur Gemeinschaft bestimmt. Nicht der Sündenfall des Menschen bedingt den Staat, sondern Gott hat den Staat mit und in der sozialen Anlage des Menschen grundgelegt. Thomas von Aquin betont, daß es den Staat, da dieser keine aus dem Sündenfall stammende Notwendigkeit sei, als Herrschaft über Freie auch vor dem Sündenfall und ohne diesen gegeben haben würde; allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, daß es im Stande der Integrität nicht einer staatlichen Zwangsgewalt bedurft hätte, da alle freien Glieder des Staates sich aus klarer, ungebrochener Vernunftserkenntnis dem Ziel des Staates, dem bonum commune, zugewandt hätten 6 . Der Unterschied dieser aristotelisch-thomistischen Lehre zur evangelischen Staatsethik ist evident. Für die reformatorische Auffassung ist der Staat „von Gott", aber er ist nicht im Menschen als Teil der ursprünglichen Schöpfungsordnung angelegt. Der Mensch lebt nach der lutherischen 5

Zum folgenden vgl. den Beitrag von P. Mikat, Staat (II., Systematisch), in: Handbuch Theologischer Grundbegriffe, Bd. II, 1963, S. 555 ff (sowie die dort S. 565 f angegebene Literatur). Vgl. auch P. Mikat, Grundelemente katholischer Staatsauffassung, in: Christentum und Liberalismus (Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern, Heft 13), 1960, S. 83 ff (im folgenden zitiert: Grundelemente). Ferner W. Vogt, Der Staat in der Soziallehre der Kirche (Bibliothek Ekklesia, Bd. 24), 1965. Gut informierend auch der Beitrag von F. Klüber, Katholische Soziallehre, in: Evangelisches Soziallexikon, 4. Aufl., 1963, S. 662 ff.

• S.th. I 96, 4; vgl. auch S.th. I 92, 1 ad 2; S.th. II II 10, 10; S.th. II II 104, 6.

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Zwei-Reiche-Lehre, die nicht zuletzt infolge der neueren rechtstheologischen Forschungen J . Heckels' allerdings durchaus nicht mehr einheitlich gedeutet wird 8 , als Mensch des status naturae corruptae im Reich der Welt, das Gott im Gegensatz zum Reich Christi „zur Linken" regiert und in dem nicht das göttliche Gebot der Liebe, sondern das Recht der menschlichen Vernunft mit Herrschaft und Zwang gilt. Der Staat ist eine gnädige Anordnung Gottes zur Erhaltung der gefallenen Welt; ihre Ordnung ist nicht eine Ordnung der Gnade, sondern des Zornes des Erbarmens 9 . Dieser Zweiteilung der göttlichen Herrschaft über die Welt setzt die reformierte Auffassung die Königsherrschaft Christi 10 über die gesamte Schöpfung entgegen. Danach regiert Christus nicht nur über die Welt, sondern auch in ihr, und die menschliche Ordnung wird daher ebenso wie die kirchliche vom ewigen göttlichen Rechtswillen bestimmt. Ein autonomes menschliches Recht gibt es nicht. „Auch die politische Macht ist dem Heilsplan Gottes eingefügt; sie muß die Kirche schützen und nach biblischer Weisung den Staat ordnen" 1 1 . Der schöpfungstheologisch begründeten katholischen Staatsauffassung steht somit gewissermaßen auf evangelischer Seite — aus der lutherischen Sicht des Staates als Erhaltensordnung — eine eschatologische und — aus der reformierten Sicht des Staates als Königsherrschaft Christi — eine christozentrisch bestimmte Staatsauffassung gegenüber 12 . 7

Im letzten Werk seines Lebens, die Forschungsergebnisse zusammenfassend und vertiefend, J . Heckel, Kirche und Kirchenrecht nach der Zwei-Reiche-Lehre, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, K a n . Abt. 48 (1962), 222 ff.

s

Überblick zum Stand der innerlutherischen Kontroversen bei S. Grundmann, Kirdie und Staat nach der Zwei-Reiche-Lehre Luthers, in: Im Dienste des Rechtes in Kirdie und Staat, Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz Arnold, Wien 1963, S. 38 ff; jetzt auch in: Der Christ von heute in Kirche und Staat, Studien von J . Heckel und S. Grundmann, Sonderdruck in der Schriftenreihe der Evangelischen Juristentagung des Münchener Dekanats, 1964, S. 53 ff (im folgenden hiernach zitiert).

" Grundmann, a.a.O., S. 65, der gegen die früher herrschende lutherische Auffassung vom Christen als „Bürger zweier Reiche" mit J . Heckel den Christen nur zum regnum Christi rechnet. Für Heckel untersteht der Christ nicht der weltlichen Obrigkeit, ist allerdings kraft der lex tharitatis verpflichtet, sich jener freiwillig unterzuordnen. 10

Ernst W o l f , Königsherrsdiafl Christi, Theologische Existenz heute, N . F. 64 (1958), 20 ff.

"

Erik W o l f , Ordnung der Kirdie, 1961, S. 75. Theologisch enthält diese Deutung gewiß eine starke Verkürzung der christlichen Aussagen über den Staat, die aber hier im Interesse der Anschaulichkeit gestattet sei. Kontroverstheologisch ist bemerkenswert, daß sich die Auffassungen katholischer und evangelischer Autoren teilweise erheblich annähern, ja sogar übersdineiden. So rech-

12

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2. Die katholische Auffassung, daß die Schöpfung prinzipiell gut ist, gilt in einem weiteren und noch entscheidenderen Sinne vom Menschen. Der Mensch ist H a u p t der Schöpfung und repräsentiert in ihr die gesamte Schöpfung gegenüber Gott. Darin liegt zugleich beschlossen, daß die Ordnungen und Institutionen der Welt, die keinen Selbstzweck haben, ihre eigentliche Sinnhaftigkeit vom Wesen des Menschen her erhalten, da sie, sollen sie nicht dem göttlichen Schöpfungswillen zuwiderlaufen, am Menschen ausgerichtet sein müssen. Daraus folgt zweierlei: Das menschliche Gemeinschaftsleben sowohl in der Beziehung der Menschen zueinander als auch in der Beziehung des Einzelnen zum Staat unterliegt einer in der N a t u r des Menschen angelegten, allem menschlichen Recht vorgegebenen Ordnung. Das Naturrecht, das auch den Staat begründet, ist keine rationalistische Satzung, sondern eine aus dem Wesen des Menschen und der Dinge abgelesene und von daher verpflichtende Ordnung 13 . Sie richtet sich nach der jeder gesellschaftlichen Ordnung vorgegebenen Norm, nämlich der N a t u r des Menschen. So unveränderlich wie diese mit dem Dasein des Menschen gegeben ist, so unveränderlich ist auch das göttliche N a t u r recht, doch muß hier zugleich angemerkt werden, daß sich das Naturrecht jeweils in einer geschichtlichen Situation konkretisiert und nur von daher als eine normative Forderung verstanden werden kann. A.-F. Utz 14 weist darauf hin, daß das vor allem von Pius X I . mit der Ordnung des Staatswesens in Bezug gebrachte Naturrecht mit der Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse einen Entwicklungsgang durchmacht, und zwar in Richtung einer zunehmenden Kontrolle der Staatsgewalt durch die Bürger und — wie wir ergänzen dürfen — der Achtung und des Schutzes der personalen Würde des Menschen. Für Thomas von Aquin hatten vorstaatliche Menschenrechte noch keinen Platz im Naturrechtsdenken, und doch sind sie in seinem Menschheitsbild bereits angelegt. Utz 15 warnt mit Recht davor, ein geschichtsbezogenes Verständnis des

13 14

15

net Bischof J. Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 4. Aufl. 1965, S. 215, den Staat dem Äon zwischen Sündenfall und Wiederkunft des Herrn zu und betont damit die eschatologische Seite. Andererseits sind nach F. Gogarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 1956, S. 115, die Ordnungen des weltlichen Regiments (im Sinne der Ständelehre Luthers) von Gott gleich mit der Schöpfung „ab initio creationis" gestiftet worden und damit Teil der Schöpfungsordnung. R. Hauser, Autorität und Macht, 1949, S. 357. A. F. Utz, Die Friedensenzyklika Papst Johannes' X X I I I . (Herder Bücherei, Bd. 157), 1963 (im folgenden zitiert: „Friedensenzyklika"), S. 55. Utz, Friedensenzyklika, S. 56.

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Naturrechts mit politischen Begriffen wie Liberalisierung oder Demokratisierung der päpstlichen Naturrechtslehre zu deuten, und betont, daß die Entwicklung als eine Auswirkung des christlichen Menschenbildes im Hinblick auf die geschichtliche Situation zu verstehen sei. Auch dieser naturrechtliche Ansatz des Staatsverständnisses entspricht nicht evangelischer Auffassung. Für sie ist die Imago Dei durch den Sündenfall zerstört. Der Mensch wird gerade durch sein Anderssein, Gegen-Gottsein, charakterisiert, so daß sich aus seinem Wesen, aus der Struktur des Seins, unmittelbar keine gottgewollte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens im Staat herleiten läßt16. 3. Die katholische Staatslehre hat stets mit Entschiedenheit betont, daß der Staat trotz seiner göttlichen Anordnung in seiner konkreten Gestalt nur durch menschlichen Willen geschaffen werden kann. Der Staat als eine in der Natur des Menschen angelegte Institution setzt zu seiner Gestaltung und Formung die freie sittliche Entscheidung seiner Mitglieder voraus. Menschlicher Willensentschluß und menschliche Willensrichtung schaffen den Staat als konkrete Tatsache. Die Entscheidung des Menschen für oder gegen eine bestimmte Staatsform, in der sich der konkrete Staat ausdrückt, ist damit in seinen freien sittlichen Willen gestellt. Dagegen kann er sich nicht der Bindung an den Staat als solchen, als gottgewolltes gesellschaftliches Ordnungsprinzip, entziehen. Die Spannung zwischen der gesellschaftlichen Verbundenheit, die ihren letzten, wenn auch nicht höchsten Ausdruck im Staat findet, und der personalen Würde des Menschen wird durch das ebenfalls ursprüngliche Beziehungs- und Verbundenheitsverhältnis, das Solidaritätsprinzip, aufgefangen. J . Höffner17 verdanken wir den Hinweis, daß das Prinzip der Solidarität nicht irgendwo in der Mitte zwischen Individualismus und Kollektivismus liegt, sondern daß es einerseits in der seinsmäßig vorgegebenen wechselseitigen Verbundenheit und Abhängigkeit der einzelnen und der Gesellschaft begründet ist (Gemeinverstrickung) und zum anderen die sich aus diesem Seinsverhalt ergebende personelle Verantwortlichkeit bestimmt (Gemeinhaftung). So erhält das meist nur ontologisch verstandene Solidaritätsprinzip auch seine ethische Seite. 10

17

Näher H . Thielicke, Theologische Ethik, Bd. I, 1951, S. 604 ff. Zum Stand der kontroversen Naturrechtsauffassungen vgl. den Sammelband: Naturrecht oder Reditspositivismus, hrsg. v. W . Maihofer, 1962, und R. Hauser, Naturrecht in der katholischen Sozialethik heute, Civitas 2 (1963), 16 ff. A.a.O., S. 38.

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Ergänzt wird das Solidaritätsprinzip in der wesenhaften Bestimmung des einzelnen zur Gemeinschaft durch die wesensmäßige Beziehung der Gemeinschaft zu ihren Gliedern. Für diese bestimmt das Subsidiaritätsprinzip als Strukturprinzip jeder gesellschaftlichen Ordnung, daß das, was der einzelne oder der kleinere Gesellschaftsverband leisten kann, ihm nicht vom übergeordneten Gesellschaftsverband, insbesondere vom Staat entzogen wird. Dem in seiner klassischen Ausprägung auf die Sozialenzyklika Pius' X I . „Quadragesimo anno" zurückgehenden Grundsatz wurde lange Zeit in der katholischen Soziallehre größte Bedeutung beigemessen, ja Pius X I . bezeichnete ihn als obersten Grundsatz der Sozialphilosophie18. 4. Über das Verhältnis der Kirche zum Staat besagt schließlich die katholische Soziallehre, daß beide ihren Ursprung in Gott haben und beide grundsätzlich in ihrem Bereich die obersten, nicht weiter ableitbaren Ordnungsmächte in dieser Welt sind. Beide werden bisher als „societas perfecta" bezeichnet, d. h. als letzte und zur Erreichung ihrer umfassenden Aufgaben mit allen notwendigen Mitteln und Machtbefugnissen ausgestattete Institutionen einer eigenständigen Ordnung19. Dabei sind sie aber in ihrer Struktur und ihren Zwecken völlig verschieden20. Der Staat ist Teil der natürlichen Ordnung, dem nach der Schöpfungsordnung die Aufgabe zukommt, für das Gemeinwohl der Menschen zu sorgen. Er dient der materiellen und geistigen Vervollkommnung des Menschen in der natürlichen Ordnung. Die Kirche gehört kraft der göttlichen Stiftung und des Fortlebens des Erlösers in ihr zur übernatürlichen Ordnung. Sie wird durch Christus, ihren Herrn, in doppelter Weise regiert: unsichtbar 18

10

20

So in der Enzyklika „Quadragesimo anno" vom 15. 5. 1931. Auf diesem Boden noch E. Link, Das Subsidiaritätsprinzip, 1955. Einschränkend dagegen A. F. Utz, Der Mythos des Subsidiaritätsprinzips, Die neue Ordnung, 10 (1956), 11; Höffner, a.a.O., S. 47. Zu den grundsätzlichen Bedenken aus evangelischer Sicht S. Rendtorff, Kritische Erwägungen zum Subsidiaritätsprinzip, Der Staat 1 (1962), 405 ff. Nicht unproblematisch ist die Frage, ob und inwieweit der moderne Staat überhaupt noch die Merkmale einer „societas perfecta" besitzt, vgl. Mikat, Grundelemente S. 113 ff. Zum Begriff „societas perfecta" vgl. Vogt, a.a.O., S. 26. In der Enzyklika „Immortale Dei" vom 1. 11. 1885 hat Leo X I I I . in Anlehnung an die thomistische Auffassung formuliert: „Gott hat die Sorge für das Menschengeschlecht zwei Gewalten zugeteilt: der kirchlichen und der staatlichen. Der einen obliegt die Sorge für die göttlichen Belange, der anderen für die menschlichen. Jede ist in ihrer Art die höchste, jede hat bestimmte Grenzen, innerhalb deren sie sich bewegt, Grenzen, die sich aus dem Wesen und dem nächsten Zweck jeder der beiden Gewalten ergeben."

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in Geist und Herzen der Menschen und sichtbar durch die kirchliche Hierarchie. Sie versteht sich als „vollkommene Gesellschaft" mit allen gesellschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen, um dem ihr eingegebenen Zweck, dem Heilswerk auf Erden, einen dauernden Bestand zu sichern. Die kirchliche Lehrgewalt und Jurisdiktionsgewalt sind Ausfluß der dem Haupt der Kirche übertragenen Rechtsmacht. Aus dem Wesen der Kirche als übernatürlicher Heilsanstalt wird außerdem gefolgert, daß sie die absolute Zuständigkeit für alle geistlichen und mit dem Geistlichen zusammenhängenden Angelegenheiten hat, während der Staat auf die weltlichen Angelegenheiten beschränkt ist. In allen sittlichen Fragen, die das Seelenheil berühren — mögen sie im Bereich des Staates oder der Kirche auftreten —, beansprucht die Kirche die letzte Zuständigkeit, aber noch mehr: auch für die Frage, was im weltlichen Bereich der Natur nach oder wegen seiner Beziehung zu genuinen Kirchenangelegenheiten für das Heil der Seelen relevant ist, nimmt die Kirche bisher als übernatürliche Macht die Kompetenz in Anspruch. Es wäre jedoch verfehlt, hieraus eine generelle Kompetenz der Kirche abzuleiten oder von einer absoluten Überordnung der Kirche zu sprechen. Zu oft wird übersehen, daß bereits Thomas von Aquin im Schlußabsatz des Kommentars zum 2. Sentenzenbuch der weltlichen Gewalt ausdrücklich den Vorrang im Bereich der bürgerlichen Wohlfahrt (in hiis autem, quae ad bonum civile pertinent) zuerkennt. Thomas meint: „Potestas spiritualis et saecularis utraque deducitur a potestate divina; et ideo intantum saecularis potestas est sub spirituali, inquantum est ei a Deo supposita, scilicet in his, quae ad salutem animae pertinent; et ideo in his magis est oboediendum potestati spirituali quam saeculari. In his autem, quae ad bonum civile pertinent, est magis oboediendum potestati saeculari quam spirituali 21 ." Wir haben bereits früher an anderer Stelle darauf hingewiesen22, daß eine einseitig naturrechtlich orientierte Sicht des Staates und seines Verhältnisses zur Kirche zu einer verhängnisvollen Verkürzung der biblischen Aussagen über den Staat führen kann, zu leicht den eschatologischen Aspekt der neutestamentlichen Aussagen über den Staat außer acht läßt und insbesondere den Blick für die stets spannungsvolle Dialektik im Verhältnis von Kirche und Staat verstellt. Bei aller Bedeutung, die der naturrechtlich bestimmten „Sollensordnung" zukommt, ist doch für die 21

Sent. II dist. 44 qu. 2 a 3 ad 4.

22

Vgl. Mika:, Grundelemente, S. 89 ff.

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Kirche in der jeweils konkreten geschichtlichen Situation die Orientierung an der biblischen Botschaft entscheidend 23 .

II Die aufgezeigten Grundlinien der katholischen Staatsauffassung sind in ihrem theologischen Ansatz unaufgebbar mit dem Wesen der Kirche verbunden. Dies bedeutet aber nicht, daß die daraus gewonnenen Aussagen über den Staat, sein Verhältnis zum einzelnen und zur Kirche nicht dem Einfluß neuerer theologischer Erkenntnisse und pastoraler Erfahrungen offenständen. Tatsächlich sind in den letzten Jahren neuere ekklesiologische und sozialethische Auffassungen in bisher nicht bekannter Fülle und Intensität in die katholische Gesellschaftslehre eingedrungen. Sie haben schon in den Enzykliken Johannes' X X I I I . „Mater et magistra" vom 15.5.1961 und „Pacem in terris" vom 11.4.1963 Ausdruck gefunden. Vor allem waren sie aber f ü r den Dialog der Kirche mit der Welt auf dem Konzil maßgebend. Sie gaben dem Konzil die Freiheit, unter Uberwindung einer starren institutionellen Verengung der kirchlichen Hierarchie und des katholischen Glaubenslebens zu einem weltbezogenen Kirchenverständnis vorzustoßen, das nicht mehr die Welt nach unveränderlichen kirchlichen Grundsätzen und Postulaten zu gestalten sucht, sondern in Erkenntnis und Anerkennung der Heilsbedeutung der irdischen Wirklichkeit den Auftrag der Kirche darin sieht, der Welt die sittlichen Grundlagen menschlicher Ordnung in ihrer religiösen Bindung aufzuzeigen und an der Bewältigung der brennenden Fragen der Menschheit, sei es auf politischem, sozialem oder kulturellem Gebiet, teilzunehmen. 1. Aussagekräftig für die innerkirchliche Reform ist einmal die ekklesiologische Auffasung, wie sie besonders in der dogmatischen Konstitution und in der Pastoralkonstitution zutage tritt. In ihrer teilweise ausgesprochen biblisch-heilsgeschichtlichen Begründung und in den Aussagen über das Verhältnis der Kirche zur säkularen Gegenwart haben sie die Schranken eines nur schöpfungstheologischen Ordnungsdenkens überschritten. Mit der Bezeichnung der Kirche als Volk Gottes, mit der Betonung des kollegialen Elements in dem hierarchischen Aufbau sowie a

Vgl. H . R. Schlette, Die Aussagen des Neuen Testaments über „den Staat", in: Der Anspruch der Freiheit, 1963, S. 19—52.

8

Festschrift Kunst

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mit der Stärkung des Laienelements in der Kirche, letzteres sowohl in der Kirchenkonstitution als auch in dem Laien-Dekret 24 , wird das geistliche Wesen der Kirche wesentlich stärker betont. Der Charakter der Kirche als hierarchisch strukturierte Ordnungsinstitution wird damit nicht aufgehoben, wohl aber wird ihre eigentliche Funktion damit deutlich gekennzeichnet als Funktion des Dienstes. Unter den reich gewählten Bildern und Aussagen über die Kirche sind diejenigen über die rechtlich verfaßte Amtskirche auffallend zurückhaltend, und gewiß nicht ohne Absicht findet sich weder in der dogmatischen Kirchenkonstitution noch in der Pastoralkonstitution für die Kirche der Begriff „societas perfecta". Während Leo X I I I . in mehreren Enzykliken noch die N a t u r der Kirche als äußere und sichtbare Gemeinschaft hervorhob, die einen eigenständigen, nach oben abgeschlossenen Rechtsbereich umf a ß t und damit in ihrem Wirkbereich unabhängige und oberste Kompetenz beanspruche 25 , während auch noch Pius X I I . erklärte, daß Kirche und Staat zwei vollkommene Gesellschaften seien und darum als zwei unabhängige Gewalten nebeneinander beständen 26 , vermeiden die Konzilsbeschlüsse derartige Aussagen. In dieser Beschränkung der Konzilsaussagen liegt nicht die Preisgabe früherer Aussagen, wohl aber eine stärkere theologische Akzentuierung des eigentlichen Wesens der Kirche. Die Tatsache, daß Kirche und Staat je als „societas perfecta" bezeichnet wurden und bezeichnet werden, umgreift ja ohne Zweifel auch die Gefahr, daß beide zu sehr als vergleichbare Größen gewertet werden. Sicherlich läßt sich auch nicht leugnen, daß die Kirche in der Vergangenheit in ihrer äußeren Erscheinung in vielfacher Weise sich staatlichen Erscheinungsformen angeschlossen hat. Dem Konzil ging es aber bewußt um die D a r stellung der Andersartigkeit der Kirche. Noch während des Konzils konnte F. M. Schmölz" feststellen, daß die primäre Aufgabe der Kirche, 24

„Decretum de apostolatu laicorum" vom 7. 12. 1965. — Das Laien-Dekret muß zusammen mit den Aussagen der Dog. Konst. über das Volk Gottes gesehen werden, da die katholischen Laien danach in stärkerem Maße nicht nur an dem Auftrag der Kirche in der Welt, sondern auch an der innerkirchlichen Aufgabe eines allgemeinen Priestertums teilhaben sollen. Erste Ansätze zeigen sich in der Berufung von Laienbeiräten in einigen deutschen Bistümern.

25

Nachweise bei Utz, Friedensenzyklika, S. 40 f; näher P. Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., 1925.

28

Nachweise bei Utz, Friedensenzyklika, S. 66.

27

F. M. Schmölz, Neue Welt — neue Kirche?, in: Deutscher Katholizismus nach 1945, hrsg. v. H . Maier, S. 27.

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die Heilsvermittlung, streng jenseitig und als solche, wieder in ihren Mittelpunkt gerückt worden sei. Diese konziliare Sicht der Kirche als Wirkstätte des Heiligen Geistes, sowie das Bemühen, Gottes Heilsplan in sich selbst zu erkennen und durch verantwortlichen Dienst am Menschen zu verwirklichen, kennzeichnen das heutige Selbstverständnis der Kirche. 2. Andererseits ist in der Sicht der Konzilsdekrete die Auffassung vom Staat, seiner Rechtfertigung und seinen Aufgaben, differenzierter geworden. Der schöpfungstheologisch-naturrechtliche Ausgangspunkt bleibt freilich unverändert: „Offenkundig ist also der Staat und die politische Autorität in der menschlichen Natur begründet und gehört zu der von Gott festgesetzten Ordnung 28 ." Wie auch an anderen Stellen der Konstitution vielfach zu beobachten ist, nimmt die amtliche Anmerkung zu dieser Stelle aber nicht auf ältere kirchliche Lehräußerungen, sondern unmittelbar auf die Schrift, nämlich Römer 13, 1—5 Bezug. Im Gegensatz zu manchen Stimmen in der durch Bischof Dibelius auf Grund leidvoller nationaler Erfahrungen ausgelösten und für die Situation in unserem geteilten Staatswesen so bezeichnenden „Obrigkeitsdebatte" 29 bestätigt uns diese biblische Begründung die unverbrüchliche Legitimation des Staates und seiner Autorität als gottgewollter und gottgestifteter Institution. Nichts wäre indes falscher, als damit den Staat auch in seiner konkreten Gestalt in die göttliche Heilsordnung hineinzustellen und jede bestehende staatliche Ordnung und Gewalt als gottgewollt oder gar göttlich zu behandeln. Die berühmte (— und leider von der älteren katholischen Soziallehre mitunter in naturrechtlichem Sinne strapazierte —) Steuerperikope (Mk. 12, 13—17 u. parr) sagt sicherlich nichts über die konkrete Zuständigkeit der geistlichen und weltlichen Gewalt aus, enthält aber die grundlegende und entscheidende Absage an jeden Absolutheitsanspruch des Staates und verwehrt dem Christen das uneingeschränkte J a zur Staatsomnipotenz 30 . Mit erfreulicher Klarheit stellt die Pastoralkonstitution fest, daß die Bestimmung der Regierungsform und der Regierenden 29 29

Past. Konst. 74, 4. O. Dibelius, Obrigkeit, 1 9 6 3 . Ausdrücklich sei hier angemerkt, d a ß R o m . 13, 1 ff nicht in naturrechtlichem Sinne interpretiert werden kann. Sowenig es eine eigentliche „paulinische Staatslehre" gibt, sowenig gibt es auch eine „naturrechtliche Staatslehre". Z u r Diskussion um Rom. 13 ff vgl. E. Käsemann, R o m . 13, 1 — 7 in unserer Generation, Zeitschrift f ü r Theologie und Kirche 5 6 ( 1 9 5 9 ) , 3 1 6 ff und die d o r t angegebene Literatur. Ferner H. W u l f , D e r Christ und die Obrigkeit, Stimmen der Zeit, 1 7 4 ( 1 9 6 4 ) ,

80



2 5 3 ff. Vgl. dazu die A u s f ü h r u n g e n v o n Schiene, a.a.O., S. 3 2 ff.

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dem freien Willen der Bürger überlassen bleibt31. Damit wird der Gefahr des Mißbrauchs von angeblich aus der christlichen Schöpfungs- und Heilsordnung gewonnenen Grundsätzen zur Erreichung von politisch erwünschten Staatsformen, wie sie im vorigen Jahrhundert in monarchischen Kreisen ebenso anzutreffen war wie in revolutionären, vorgebeugt. Nicht so sehr die Frage nach der Staatsform, als vielmehr die Frage nach der rechten Ausübung der Staatsgewalt steht heute im Mittelpunkt der katholischen Staatsethik 32 . Sie wird durch das Wesen des Staates bestimmt, über das die Pastoralkonstitution im Anschluß an die herkömmliche naturrechtliche Begründung des Staates aus der Notwendigkeit zur Erfüllung von Aufgaben, die über die Fähigkeiten und Möglichkeiten des einzelnen Bürgers, der Familie und anderer menschlicher Gemeinschaften hinausgehen, sagt: „Sie fühlen die Notwendigkeit einer größeren Gemeinschaft, in der ständig alle ihre Kräfte beitragen zur Verwirklichung des Gemeinwohls. Die politische Gemeinschaft besteht also um dieses Gemeinwohls willen; in diesem hat sie ihren letztgültigen Rechtfertigungsgrund und leitet aus ihm ihr unveräußerliches Eigenrecht ab 33 ." „Ebenso ergibt sich, daß sich die Ausübung der politischen Gewalt in der Gemeinschaft als solcher oder in den für sie repräsentativen Einrichtungen immer nur im Rahmen der sittlichen Ordnung vollziehen darf, und zwar im Dienst der Verwirklichung eines dynamisch verstandenen Gemeinwohls und entsprechend einer legitimen juridischen Ordnung, die bereits besteht oder noch geschaffen werden soll. Dann aber sind auch die Bürger im Gewissen zum Gehorsam verpflichtet. Daraus ergibt sich also die Verantwortlichkeit, Würde und Bedeutung derer, die an der Spitze des Gemeinwesens stehen34." Hier werden der Staatsgewalt eindeutig Grenzen gezogen und die sittliche Würde und Verantwortung der Inhaber der Staatsgewalt auf das richtige Maß zurückgeführt. Nicht eine unmittelbare, stellvertretende göttliche Autorität der Staatsgewalt, sondern die Gewissensbindung der Christen bei der bürgerlichen Gehorsamspflicht ist ihre Grundlage. Unmißverständlich wird zugleich festgestellt, daß der Staat kein Selbstzweck ist, sondern allein durch und für die Gemeinschaft existiert. Wir werden an das in seiner Situationsbezogenheit so bedeutsame Wort Pius' X I . von 1937 erinnert: „Die menschliche Gesellschaft ist 31 32 33 34

Vgl. Past. Kons:. 74, 4. Vgl. Höffner, a.a.O., S. 221. Past. Konst. 74, 1. Past. Konst. 74, 5.

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für den Menschen da, und nicht umgekehrt 35 ." Jede Staatstätigkeit ist kraft der ihr vorgegebenen sittlichen Ordnung nur legitim, wenn sie dem Gemeinwohl dient. Der staatlichen Verantwortung für das Gemeinwohl stellt die Pastoralkonstitution 3 ' die Pflicht der Christen zur tätigen Mitarbeit im öffentlichen Leben gegenüber und fordert zum persönlichen Beispiel auf, wie z. B. Autorität mit Freiheit, persönliche Initiative mit solidarischer Verbundenheit in Einklang gebracht werden können. Bemerkenswert ist, wenn in der Pastoralkonstitution als weiteres konkretes Erfordernis für die sittliche Legitimität der Staatsgewalt vorausgesetzt wird, daß die politische Gewalt nur „entsprechend einer legitimen juridischen Ordnung, die bereits besteht oder noch geschaffen werden soll"37, ausgeübt wird. Nachdrücklich wird eine positive Rechtsordnung gefordert, und zwar im Zusammenhang mit einer sinnvollen „Aufteilung der Ämter und Funktionen der öffentlichen Gewalt in Verbindung mit einer wirksamen und unabhängigen Rechtsinstanz" 38 . Damit hat das Postulat der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit als Wesensmerkmal moderner freiheitlicher Demokratie Eingang in die katholische Staatsethik gefunden. Man wird nicht in der Annahme fehlgehen, daß sich hier sowohl anglo-amerikanisches sowie westeuropäisches Rechtsdenken ausgewirkt haben, insbesondere auch in dem Hinweis, daß eine legitime Rechtsordnung, soweit sie noch nicht besteht, zur Realisierung der sittlichen Ordnung geschaffen werden soll. Wenn es sich bei den oben angeführten Konzilsaussagen entsprechend dem Charakter der Pastoralkonstitution auch weniger um dogmatische Aussagen als um pastorale Weisungen für das Verhalten des Christen in der Welt handelt, so liegen doch auch ihnen überzeitliche Lehrgrundsätze zugrunde. Selbst wenn man die Geschichtsbezogenheit der pastoralen Äußerungen und damit ihre Wandelbarkeit in Rechnung stellt, sind sie für die gegenwärtige Sicht des Staates aus christlicher Verantwortung von grundlegender Bedeutung. Das positive Bekenntnis der Kirche zur freiheitlich-demokratischen Staatsform wird in dieser Eindeutigkeit erstmals und uneingeschränkt ausgesprochen.

M Enzyklika „Divini Redemptoris" vom 19. 3.1937. *> Past. Konst. 75, 5. 87 Past. Konst. 74, 5. 38 Past. Konst. 75, 2.

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Paul Mikat

III Mit der Wandlung des Kirchen- und des Staatsverständnisses sind auch die Voraussetzungen für eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat in ihrer gegenseitigen Zuordnung gegeben. Auch hier hat sich das Konzil den Veränderungen in der Eigengesetzlichkeit der Welt nicht verschlossen und besonders intensiv um Aussagen gerungen, die dem Wesen der katholischen Kirche in ihrer weltweiten Verbreitung unter vielfach völlig verschiedenen politischen Regierungssystemen gerecht werden. So erklärt es sich, daß in der Pastoralkonstitution immer wieder die Berücksichtigung der geschichtlichen Gegebenheiten gefordert wird, die den staatsethischen Aussagen des Konzils im Vergleich mit den früher mehr oder weniger absoluten Postulaten päpstlicher Lehräußerungen eine gewisse Ambivalenz und damit Anpassungsmöglichkeit („aggiornamento") an die faktischen Gegebenheiten der Welt verleihen. An dieser Stelle können nur die im modernen katholischen Denken seit langem angebahnten und durch das Konzil bestätigten Neuerungen der heutigen Beziehung von Kirche und Staat in der westeuropäischen Demokratie behandelt werden. 1. Unbestreitbar war das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Demokratie bis in die jüngste Zeit problematisch und ist es für manchen noch heute. Dabei geht es aus der Sicht der Kirche nicht um die Frage, ob eine Monarchie oder Volksherrschaft vorzuziehen ist, sondern um das Verhältnis der Kirche zur Demokratie in ihrer konkreten Ausprägung als freiheitlicher säkularer Staat mit einer pluralen Wert- und Gesellschaftsordnung. In der kontinental-europäischen Entwicklung des Verhältnisses von Kirche und Staat bildeten beide bis zum Ende des Mittelalters das einheitliche „Corpus christianum". Vor allem in Nachwirkung davon blieb es in allen Ländern, in denen nicht durch Revolution Kirche und Staat gewaltsam getrennt wurden, noch bis zum Zusammenbruch der politisch gesellschaftlichen Ordnung nach dem ersten Weltkrieg bei einer weitgehenden weltanschaulichen Gemeinsamkeit auf christlicher Grundlage. In dieser christlichen Wertordnung hatte die Kirche institutionell ihren festen Platz. Sie war öffentlich-rechtlich privilegiert, hatte teilweise unmittelbar Anteil an der Ausübung staatlicher Herrschaft (z.B. geistliche Schulaufsicht, bürgerliche Wirksamkeit kirchlicher Amtshandlungen, Verbindlichkeit kirchlicher Auffassungen für den sittlich-ethischen Bereich der öffentlichen Ordnung), so daß sich die eingangs aufgezeigten

Kirche und S t a a t in nachkonziliarer Sicht

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Grundsätze der katholischen Gesellschaftslehre noch unmittelbar in der politischen Wirklichkeit ausdrückten; so jedenfalls in den katholischen Ländern. Soweit die katholische Kirche dagegen vom unmittelbaren Einfluß auf das öffentliche Leben ausgeschlossen blieb, wie etwa während des 19. Jahrhunderts im Reich und in Preußen, hing dies mit der konfessionellen Struktur der Bevölkerung, nicht aber mit einer grundsätzlichen Ablehnung kirchlichen Einflusses durch den Staat zusammen. D a ß die fehlende Anerkennung der katholischen Lebensinteressen in evangelischen Ländern nicht mit einer Geringschätzung ihrer Bedeutung zusammenhängt, beweist gerade der Kulturkampf in Preußen, der ohne die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Katholizismus niemals das geschichtliche Ausmaß angenommen hätte. In der modernen Demokratie fehlt es demgegenüber an einer verbindlichen weltanschaulichen Grundlage. Der säkulare Staat bestimmt sein Selbstverständnis nicht nur staatstheoretisch, sondern auch nach Wortlaut und Sinn der Verfassung ohne tiefere metaphysische Bezüge. Er ist eine rein weltliche Erscheinung. Nach der liberalen oder materialistischen Auffassung konnte die Säkularisierung des Staates nur zur völligen Trennung von Kirche und Staat führen, wie sie in der Aufklärung und vom Marxismus gefordert worden ist. Aus dieser Sicht bedeutet Trennung Ausschluß der Tätigkeit der Kirche aus der Öffentlichkeit, Privatisierung der Kirche mit einer über das allgemeine Vereinsrecht hinausgehenden Beschränkung und Aufsicht und damit letztlich Vernichtung der Kirche in ihrem sakramentalen, durch den Missionsauftrag an die Welt gewiesenen Wesen. Dagegen konnte sich die Kirche nur scharf ablehnend verhalten. In diesem historischen Zusammenhang sind die zahlreichen Erklärungen der Päpste des 19. und 20. Jahrhunderts gegen die Trennung von Kirche und Staat zu verstehen 39 . Inzwischen ist in der westlichen Welt die individualistisch-liberale Staatsauffassung im Staatsdenken weitgehend überwunden, während die im totalitären Einflußbereich bestehende Staatsherrschaft als Entartung des Wesens des Staates hier unberücksichtigt bleibt. Der Kirche steht damit der Staat in der Regel als freiheitliche Demokratie gegenüber, wie sie in den meisten Staatsverfassungen und in der Menschenrechtskonvention ihren Ausdruck gefunden hat. Danach ist der Staat — um es beispielhaft für die Verhältnisse der Bundesrepublik auszuführen — ein freiheitlich39

F. M. Schmölz, Kirche und D e m o k r a t i e , D i e neue O r d n u n g 17 (1963), 408.

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Paul Mikat

sozialer Rechtsstaat (Art. 20 GG), in dem die Würde des Menschen höchstes Rechtsgut ist (Art. 1 GG) und die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 4 GG), einschließlich der freien Religionsausübung (Art. 4 GG) gewährleistet ist; die Gleichheit aller Menschen gegenüber der staatlichen Ordnung wird anerkannt und geschützt (Art. 3 GG). Aufgabe und Grenze des Staates ist es, für eine gerechte Ordnung und Sicherung eines menschenwürdigen Daseins der Bürger in allen geistigen und wirtschaftlichen Angelegenheiten unter tätiger Mitverantwortung der Bürger zu sorgen. Daraus folgt: Der Staat ist auf das Gebiet weltlicher Angelegenheiten beschränkt40; ihm gebührt keinerlei Einfluß auf Glaubensfragen, weder gegenüber dem einzelnen noch gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften. Der Staat ist religiös und weltanschaulich neutral"; er darf keine Kirche oder Religionsgemeinschaft bevorzugen oder benachteiligen und seinen Entscheidungen keine Auffassung bestimmter Kirchen oder Religionsgemeinschaften zugrunde legen. Der Staat wird nicht durch einen absoluten Willen der politischen Mehrheit regiert42; dieser steht zwar die letzte politische Entscheidung zu, doch bedarf sie, um demokratisch legitim zu sein, einer möglichst weitgehenden Zustimmung aller in öffentlicher Verantwortung des Staates stehenden Kräfte, zumindest muß sie ihre Entscheidung nach dem Wohl aller ausrichten. Dieses Gebot der demokratischen Legitimität verpflichtet den Staat, gegenüber allen gesellschaftlichen Kräften und objektiven Werten offen zu sein. Wenn die staatliche Wúlensentscbeidung ,auch uneingeschränkt beim Parlament liegt, so kommt die staatliche Willensbildung doch nicht allein durch die Abgeordneten, auch nicht durch diese in Abstimmung mit den im Parlament vertetenen Parteien zustande, sondern nur zugleich unter Berücksichtigung der im Staat vorhandenen organisierten gesellschafb40

P. Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte, hrsg. v. Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Bd. IV/1, 1960, S. 138 ff; A. Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, 1965, S. 125; S. Grundmann, Das Bundesverfassungsgericht und das Staatskirchenrecht, Juristenzeitung 1966, 83.

41

Bundesverfassungsgericht Urt. v. 20. 12. 1960, E. 12, 45 (54); Urt. v. 17. 2. 1965, E. 18, 385, (386); Urt. v. 2 8 . 4 . 1965, E. 19, 1 (8); Urt. v. 14. 12. 1965, E. 19, 206 (216).

42

Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes verlangt eine freie Auseinandersetzung von Meinungen und Gegenmeinungen mit geistigen Argumenten ohne Unterdrückung der Minderheit, vgl. Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 14. Aufl. 1965, S. 61.

Kirche und Staat in nachkonziliarer Sicht

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liehen Kräfte. Verzichtet man auf eine Verabsolutierung des Staatszwekkes und sieht Rechtfertigung und Sinn des Staates in der Verwirklichung des Gemeinwohls, so ist Aufgabe des Staates nicht die Herrschaft über die Gesellschaft, sondern die Ordnung der menschlichen Gesellschaft durch Ausgleich und Zusammenführung der auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Einzel- und Gruppeninteressen mit der allerdings unbestreitbaren Möglichkeit auf letztverbindliche Entscheidung, die das Wesen staatlicher Autorität ausmacht. Die Höchstgewalt des Staates beschränkt sich aber auf das äußere menschliche Zusammenleben und kann (— und darf —) keine einheitlichen Ordnungsvorstellungen im sittlich-ethischen Bereich erzwingen. Hier muß der Staat der Pluralität der Wertvorstellungen uneingeschränkt Rechnung tragen und kann keine Entscheidung treffen, die für den einzelnen oder Gruppen einen Gewissenszwang bedeutet. 2. Auf dieser entideologisierten Grundlage der Demokratie ist ein positives Verhältnis der Kirche zum religiös und weltanschaulich neutralen Staat möglich geworden. Es verlangt auf der einen Seite von der Kirche den Verzicht auf eine Reihe von Vorrechten in der staatlichen Ordnung, insbesondere auf die vollständige oder teilweise Identifizierung von staatlichen und kirchlichen Aufgaben, und die Anerkennung der innerweltlichen Eigengesetzlichkeit des Staates. Andererseits wird der Kirche die Freiheit von jeder staatlichen Bevormundung und zur Erfüllung ihres Heilsauftrages in dieser Welt gegeben, zu der gerade die Verkündigung der Wahrheit gehört, die mit der rechtverstandenen Menschenwürde verbunden ist43. Für die Bejahung des säkularen Staates muß allerdings vorausgesetzt werden, daß auch nach kirchlicher Lehre die persönliche Religionsfreiheit als bürgerliches Recht anerkannt wird, näherhin daß die Kirche, die — nach ihrer Gewißheit von der objektiven Wahrheit — irrende Glaubenshaltung der einzelnen nicht nur toleriert, sondern als verantwortliche Gewissensentscheidung anerkennt. N u r auf dieser Grundlage ist ein Verhältnis zum Staat möglich, das dessen neutrale Haltung gegenüber allen Religionen und Weltanschauungen nicht nur duldet, sondern als mit der natürlichen Sittenordnung vereinbar bejaht. Die Ent43

Zum modernen katholischen Staats- und Weltverständnis u. a. E. W. Böckenförde, Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche, Hochland 50 (1957/58), 4 ff; 409 ff; K. Rahner, „Katholische Kirche, Abschnitt I C " , in: Staatslexikon, 6. Aufl., 4. Bd. 1959, Sp. 867 ff; P. Molt, Katholische Staatslehre und demokratische Ordnung, Civitas 1 (1962), 28 ff; Schmölz, Kirche und Demokratie, a.a.O., S. 412 ff; B. Sutor, Kirche und Demokratie, Die neue Ordnung 19 (1965), 47 ff.

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Paul M i k a t

Scheidung zugunsten einer so verstandenen Religionsfreiheit hat das Konzil mit der Erklärung „Über die Religionsfreiheit" 4 4 getroffen. D a s institutionelle und geistige Auseinanderrücken von Kirche und Staat in der Demokratie bedeutet für die Kirche Angebot und Verpflichtung zugleich. Bei Anerkennung der pluralen gesellschaftlichen Kräfte, die nicht selten ihr Gruppeninteresse über das Gesamtinteresse stellen, ist für den Staat die Wahrung des Gemeinwohls schwieriger geworden, zumal die Parteien wegen ihrer Abhängigkeit von den Wählerstimmen immer in Versuchung stehen, in die Abhängigkeit von organisierten Interessen zu geraten. Hier ist die Kirche gleichsam das öffentliche Gewissen. Ihre Aufgabe ist es, die Verpflichtung des Staates und der Gesellschaft auf das Gemeinwohl zu wecken, zu formen, zu akzentuieren. K r a f t ihrer Sendung ist die Kirche Hüterin der sittlichen Ordnung, die sie sowohl den befehlenden wie den gehorchenden Menschen vor Augen zu stellen hat 45 . Die Vertriebenen-Denkschrift der E K D und der Briefwechsel zwischen dem polnischen und dem deutschen Episkopat sind ein anschauliches Beispiel für den Appell der Kirche an das Gewissen des Volkes. Andererseits kann die Kirche aber auch in der pluralistischen Welt ihr eigenständiges Recht ungehindert wahrnehmen und auf eine gerechte Berücksichtigung ihrer Interessen zur freien Entfaltung der Glaubensüberzeugung ihrer Angehörigen in der staatlichen Gemeinschaft gegenüber abweichenden religiösen und weltanschaulichen Auffassungen wirken. Indem die Kirche kraft der ihr zustehenden Freiheit allen Menschen das Gewissen schärft und ihnen Gerechtigkeit und Liebe als sittliche Handlungsnormen verkündet, leistet sie ihren Beitrag für das Gemeinwohl. Darin ist das Wesen des vielgenannten und ebensooft mißverstandenen „öffentlichkeitsauftrages" der Kirche zu sehen. Die Kirche wirkt damit bewußt in den weltlichen R a u m hinein, aber nicht um zu herrschen, d. h. eigene Gebote zu setzen, sondern um zu dienen, d. h. den Menschen zu verkünden, daß sie einzeln und in Gemeinschaft unter den Geboten 44

,5

„ D e c l a r a d o de libertate religiosa de iure personae et communitate ad libertatem socialem et civilem in re religiosa" v o m 7. 12. 1965. — Zu den wegen des theologischen Verständnisses und der geschichtsbezogenen Verschiedenheit der L a g e der katholischen Kirche in den einzelnen L ä n d e r n besonders schwierigen und langwierigen K o n z i l s v e r h a n d l u n g e n über die Religionsfreiheit vgl. den Abschlußbericht in H e r d e r - K o r r e s p o n d e n z 19 (1965), 675 ff. Überzeugende Begründungen bei H . Wulf, U m die Religionsfreiheit, Stimmen der Zeit 175 (1965), 211 f f ; J . C. M u r r a y , Religionsfreiheit, W o r t und Wahrheit, 1965, H e f t 8/9, S. 505 ff. F. K a r d i n a l K ö n i g , Kirche, Staat, Gesellschaft, in: W o r t und Wahrheit 16 (1961), 96.

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Gottes stehen. Die Kirche versteht sich zwar als berufene Verkünderin der Gebote Gottes, sie leitet daraus aber keine Überordnung über den Staat, auch nicht im geistlichen Bereich, in Fragen der sittlichen Ordnung, her; denn der säkulare Staat ist in der Entscheidung frei, welche sittlichen Wertvorstellungen er der weltlichen Ordnung zugrunde legen will. Für die Kirche handelt es sich bei den Geboten der sittlichen Ordnung um objektive Wahrheiten, für den säkularen Staat dagegen — mit Ausnahme der vorstaatlichen Menschenrechte — um subjektive Wertvorstellungen. Solange der Staat eine freiheitliche Demokratie ist, hat die Kirche die Chance, die objektive Wahrheit durch ihre Gläubigen im politischen Raum zur Wirkung zu bringen. Hier liegt die große Aufgabe des Laien, indem er aus christlicher Verantwortung zur Mitarbeit im öffentlichen Leben aufgerufen ist und damit unmittelbar Anteil erhält an dem Heilsauftrag der Kirche in dieser Welt und an dieser Welt. Diese Art des kirchlichen Heilswirkens führt zwangsläufig zu einer weiteren Verlagerung vom Institutionellen zum Personalen: „Wir haben also durchaus das Recht, ja die Pflicht, damit zu rechnen (und nicht nur verstört zur Kenntnis zu nehmen), daß die Form des öffentlichen Daseins der Kirche sich w a n d e l t . . . Diese Form ihrer Geltung in der Welt wird personaler und weniger institutionell, mehr auf die je neue Entscheidung des einzelnen gestellt sein als auf das Beharrungsvermögen gewaltsamer und von der Entscheidung der einzelnen unabhängiger kultureller Faktoren (Sitte, Herkunft, Gesetz, Staatsverfassung)" 4 '. 3. Die Pastoralkonstitution bestätigt, daß die Kirche auch in ihrem Verhältnis zum Staat zu einem neuen Weltverständnis unterwegs ist und ohne falsche Fortschrittsfreudigkeit bereit ist, Staat und Mensch in ihrer diesseitigen Bindung als gottgewollt anzuerkennen und zugleich die innerweltliche Bindung des Menschen von dessen unverlierbaren Gotteskindschaft und heilsgeschichtlichen Einordnung in die Kirche Jesu Christi zu unterscheiden. Die Konstitution stellt das heutige Verhältnis von Staat und Kirche ausdrücklich in den Rahmen der pluralistischen Gesellschaft und unterscheidet zwischen dem, was die Christen als einzelne oder Verbände in eigenem Namen als Bürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihren Oberhirten tun 47 . Sie betont, daß die Kirche in keiner Weise in ihrer Auf40

K. Rahner, Die Chancen des Christentums, 1953, S. 60. « Past. Konst. 76, 1.

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gäbe und Zuständigkeit mit der bürgerlichen Gesellschaft zu verwechseln noch auch irgendeinem politischen System verpflichtet sei48. Damit wird die frühere Gleichsetzung oder zumindest Vermischung von kirchlichen und staatlichen Aufgaben endgültig ausgeschlossen. Die Verantwortung des Christen als Staatsbürger, in der er kraft persönlicher Entscheidung aus dem Glauben heraus frei handelt, wird von seinem Handeln als Glied der Kirche unter der kirchlichen Autorität unterschieden. Gegenseitige Unabhängigkeit und Selbständigkeit von bürgerlicher Gesellschaft und Kirche erkennt die Pastoralkonstitution ausdrücklich an, sie weist aber zugleich darauf hin, daß beide derselben persönlichen und sozialen Berufung der Menschen dienen 48 . Aufgabe der Kirche sei es vor allem, Gerechtigkeit und Liebe innerhalb und zwischen den Völkern weiter zu entfalten. Stellt man dieser Äußerung noch einmal die staatphilosophische „Zwei-Gewaltenlehre" Leos X I I I . über das Verhältnis von Staat und Kirche50 gegenüber, so wird die Wandlung in der Sicht der Funktionen von Staat und Kirche vom Herrschafts- zum Dienstcharakter in Schärfe deutlich. Zu einer entscheidenden Absage an überlieferte Vorstellungen, nach denen der Staat die Kirche bei Erfüllung ihrer geistlichen Aufgaben zu unterstützen hat, bekennt sich das Konzil schließlich, wenn es in der Pastoralkonstitution in bezug auf die Kirche heißt: „Doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Inanspruchnahme legitim erworbener Rechte immer dann verzichten, wenn feststeht, daß sonst die Lauterkeit ihres Zeugnisses infrage gestellt ist, oder wenn veränderte Verhältnisse eine andere Regelung fordern" 5 1 . Die Bereitschaft der Kirche zum Verzicht auf überlebte Privilegien und wohlerworbene Rechte ist in der Kirchengeschichte ohne Beispiel und beweist, daß die Kirche bereit ist, aus ihrem Bekenntnis zum Anderssein in der Nachfolge Christi in dieser Welt die Konsequenzen zu ziehen. Sie legt etwas von der in ihrer Vergangenheit mitunter allzu großen Weltlichkeit ab und wendet sich um so entschiedener ihrem geistlichen Auftrag zu, der sie zum Dialog mit der Welt befreit und verpflichtet. Für den Staat ist die Kirche damit in ihrer ganzen Existenz von einem politischen zu einem geistig-geistlichen Part48 49 50 51

Past. Kons:. 76, 2. Past. Kons:. 76, 3. Vgl. Anm. 20. Past. Konst. 76, 5.

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ner geworden, dessen er gerade wegen seiner religiösen und weltanschaulichen Neutralität bedarf. Die von ihrem christlichen Gewissen geleiteten Bürger sind es, die in staatsbürgerlich freier Entscheidung als persönliche Tugend christliche Werte im Staat vertreten und die Präsenz der Kirche Christi im säkularen Staat gewährleisten. Die Kirche steht dem Staat damit nicht als außerstaatliche Ordnungsmacht unmittelbar oder quasi völkerrechtlich gegenüber, sondern wirkt und lebt geistig in derselben Gesellschaft, die politisch den Staat hervorbringt, ohne mit Staat und Gesellschaft sich zu identifizieren. Die Frage nach der Koordination von Kirche und Staat stellt sich damit in neuer Sicht und erhält eine neue Akzentuierung, die nicht so sehr von Problemen einer institutionellen Abgrenzung gegenseitiger Rechte und Kompetenzen bestimmt ist, sondern von der Frage nach der funktionellen Zuordnung in der gemeinsamen Verantwortung f ü r den Menschen; denn beiden, Kirche und Staat, ist das Wohl des Menschen auf eine ihrem Wesen und Auftrag eigentümliche und damit grundverschiedene Weise anvertraut. Überall, wo die Kirche das Gewissen weckt und schärft, wo sie vom Anbruch des Gottesreiches kündet, wo sie Gerechtigkeit und Liebe verbreitet, erfüllt sie ihren eigentlichen Auftrag. Sie erwartet von den weltlichen Kräften die Gewährung der Freiheit für ihr Wirken, diese aber uneingeschränkt, und zwar nicht nur im Verhältnis zum Staat, sondern auch zu anderen gesellschaftlichen Kräften. Damit steht die Kirche heute wie früher in unveränderter Verantwortung im Dienst ihres Herrn und geht lediglich in veränderter Gestalt seiner Wiederkunft entgegen.

SIEGFRIED

GRUNDMANN

Laizistische Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht? Seit geraumer Zeit beginnt sich in der Stellung der Kirchen im öffentlichen Leben Westdeutschlands 1 ein fühlbarer Wandel abzuzeichnen 2 . Der Wind weht den Kirchen wieder ins Gesicht. Sie werden das ebenso überstehen, wie sie die Stürme der Verfolgungszeit zwischen 1933 und 1945 überdauert haben. Dieser für die Kirchen unfreundliche Wechsel geht nicht aus vom Staat (abgesehen von einigen seiner Gerichte) oder von den politischen Parteien, auch nicht soweit sie im Jahre 1919 antikirchlich oder gar antichristlich waren, sondern von gesellschaftlichen Gruppen sowie bestimmten Publizisten und Publikationsorganen, aber auch von gewissen kirchlichen Kreisen, die in der Preisgabe kirchlicher Positionen das Heil für die Kirche suchen. Die Gründe dieser Zeiterscheinung sind komplex und miteinander verquickt. Sie reichen vom Aufbegehren derer, die in nihilistischer Zerstörung aller bislang noch nicht angetasteten Autoritäten ihre Befriedigung finden, über die wiedererwachte traditionelle Kirchenfeindlichkeit freidenkerischer Kreise hin bis zu den auch in kirchlichen Kreisen nicht ganz seltenen Menschen, denen die dauernde Opposition Lebenselement ist und die darum des guten Einvernehmens zwischen Kirche und Staat überdrüssig sind. Neben solchen, die jeder Modetorheit kritiklos folgen und sich darum heute genieren, sich zu ihrer Kirche zu bekennen, stehen solche, die die aus dem positiven Verhältnis von Staat und Kirche und die aus dem (ins Wanken geratenen) Wirtschaftswunder der Kirche 1

2

Die mitteldeutsche Situation muß hier außer Betracht bleiben, obwohl sich erst zusammen mit ihr die ganze deutsche Wirklichkeit ergibt. Diesen Wandel hat auch Ulrich Scheuner, Auseinandersetzungen und Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht, Die öffentliche Verwaltung ( = D Ö V ) 1966, 145—153 konstatiert, der mich freilich unrichtig wiedergibt, wenn er behauptet, (S. 145 Anm. 4), ich sei der Meinung, daß „das Verhältnis Staat und Kirche nur auf der Basis von Verträgen geregelt werden könne".

Laizistische Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht?

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zwangsläufig zufließenden materiellen Vorteile nicht zu Unrecht fürchten und die Kirche im härenen G e w a n d f ü r geistlich kräftiger halten als auf dem Polster hoher Kirchensteueraufkommen. W e n n es richtig ist, d a ß „die rechtliche Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche . . . Leitbilder und Maßstäbe" festlegt, „nach denen sich jenes Verhältnis gestalten soll" 3 , dann ist es berechtigt, der jüngsten Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts besondere A u f m e r k s a m keit zu schenken. In der Tat zeigt sich der skizzierte Wandel auch hier, manchmal sogar bei den gleichen A u t o r e n 4 oder bei den Erkenntnissen des gleichen Gerichts 5 . Nach einer Phase, in der das Verhältnis zwischen Kirche und Staat — vielleicht zuweilen zu stark — als vertragsgesichertes Koordinationsverhältnis gesehen wurde, ist nun eine Sicht getreten, die die Prädominanz des Staates als Hüters der Freiheitsrechte religiöser oder areligiöser Minderheiten gegenüber einer angeblichen Vergewaltigung durch die Kirchen betont und hervorhebt 6 . Das hat so weit geführt, daß der Hessische Staatsgerichtshof in seinem umstrittenen Schulgebetsurteil 7 3

4

5

6

7

Konrad Hesse in: Das Verhältnis von Kirche und Staat, Studien und Berichte der Kath. Akademie in Bayern, hg. von Karl Forster, Heft 30, 1965, S. 128—151, Zitat S. 129. Besonders deutlich bei Konrad Hesse, der in der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (= ZevKR) 11 (1964/65) S. 359 Anm. 58 seine frühere Auffassung, „zwischen Öffentlichkeitsauftrag, öffentlicher Bedeutung und öffentlich-rechtlicher Stellung der Kirche" bestehe „ein notwendiger Zusammenhang" (vgl. dazu die Habilitationsschrift von Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, 1956, S. 52 ff., bes. S. 60, 67) mit anerkennenswerter wissenschaftlicher Redlichkeit expressis verbis aufgegeben hat und damit wohl zumindest de lege ferenda für einen privatrechtlichen Status der Kirchen auf der Ebene des allgemeinen Vereinsrechts eintritt, was de lege lata an Art. 140 GG scheitert, aber bei Hesse in seinem Heidelberger Vortrag „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen", ZevKR 11 (1964/65) S. 337 ff., doch sehr an den Rand tritt, weil „der Verzicht" auf einen „Sinnbezug" für die „öffentlichrechtliche Stellung der Kirche im staatlichen Recht. . . schwerlich zu vermeiden ist" (a.a.O. S. 358 Anm. 57). Das gilt auch für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ( = BVerfG). Zwischen dem Beschluß vom 17.2. 1965 (BVerfGE 18, 385—388; vgl. dazu meinen Aufsatz in Juristenzeitung [ = JZ] 1966, S. 81—86) und den Kirchensteuerurteilen des BVerfG vom 14. 12. 1965 bei glaubensverschiedenen Ehen (BVerfGE 19, 226 bis 242; 242—247; 248—253; 268—282) ist eine deutliche Akzentverlagerung kaum zu verkennen. Besonders deutlich das Buch von Erwin Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 1964, 354 S.; ferner Gerhard Scheffler, Die Stellung der Kirche im Staat, 1964; sowie der in Anm. 7 genannte Aufsatz von Zezschwitz. DÖV 1966, S. 51—60 = Deutsches Verwaltungsblatt (= DVB1.) 1966, S. 29—32;

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Siegfried Grundmann

das (positive) Grundrecht der Glaubensfreiheit, also das Recht, seinen Glauben zu bekennen, Einschränkungen unterworfen hat, von denen er das (negative) Grundrecht der Glaubensfreiheit als die Kehrseite des positiven Grundrechts, also das Recht, seinen Glauben zu verschweigen, ausdrücklich freistellte. Die Folge dieser widersprüchlichen, gespaltenen Auslegung desselben Grundrechts war, daß die Verwirklichung der positiven Seite des Grundrechts, die durch das Schulgebet der Kinder christlicher Eltern erfolgte, am Widerstand eines einzigen atheistischen Schülers scheiterte, obwohl ihm freigestellt war, entweder dem Schulzimmer während des Schulgebets überhaupt fernzubleiben oder bei Anwesenheit nicht an ihm teilzunehmen. Überblickt man die in diesem Urteil auf die Spitze getriebene Entwicklung und Tendenz in ihrer ganzen Breite, so fallen, wie verschieden die Motive und geistigen Impulse auch im einzelnen sein mögen, einige Gemeinsamkeiten auf, die auf ihre rechtliche Legitimation hin überprüft werden müssen. Für den Juristen vielleicht am auffallendsten ist die Gewichtsverlagerung, die zwischen den staatskirchenreditlichen Artikeln der Weimarer Reichsverfassung (WRV), die durch Art. 140 des Bonner Grundgesetzes (GG) Bestandteil des G G geworden sind, und dem Grundrechtsurteil des G G zugunsten des letzteren vorgenommen wird. Es ist eine falsche Deutung der gegenwärtigen Situation, wenn den Kirchen die Tendenz unterstellt wird, „den Staat von der Grundrechtsseite her zu minimalisieren" 8 . Eher ist die gegenläufige Tendenz festzustellen, von der Grundrechtsseite her die Kirchen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, sie zu zernieren und zu privatisieren und auf einen Bereich der beschaulichen Pflege frommer Innerlichkeit zu verweisen. Darum wird das gegenwärtige „Ausmaß institutioneller Sicherung, die umfassende Beteiligung der verfaßten Kirchen an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und ihr politischer Einfluß" zu Unrecht als „fragwürdig" angesehen, weil angeblich dieser „Position äußerer Stärke keine solche innerer Stärke entspricht" 9 . Soll also die Preisgabe institutioneller Sicherungen, wie sie sich in Art. 140 G G in Verbindung mit Art. 136-139, 141 WRV finden, wirklich der Weg sein, auf dem Kirche „weniger in Grenzziehungen, Grenz-

8 9

vgl. dazu die ebenso überzeugende wie vernichtende Kritik von Ernst-Wolfgang Böckenförde, D Ö V 1966, S. 30—38; ferner Sdieuner, a.a.O. S. 151—153; Walter Hamel, Neue Juristische Wochenschrift ( = N J W ) 1966, S. 18—21; a. A. Friedrich von Zezschwitz, J Z 1966, S. 337—344. Hesse, Z e v K R 11 (1964/65) S. 343. Hesse, a.a.O. S. 344.

Laizistische Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht?

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Sicherungen und äußeren institutionellen Positionen als in freier geistiger Auseinandersetzung und Wirksamkeit" ihre „Stärke" wiedergewinnen und ihre „Chance" nutzen soll, für die ihr „gerade die demokratische Staatsform . . . in einem bisher unbekannten Maße die Möglichkeit eröffnet" 1 0 ? Hier wird den Kirchen eine Roßkur empfohlen und diese Empfehlung kurzschlüssig begründet! Die „geistliche Situation und Ausstrahlungswirkung der Kirchen" 11 , deren Nachlassen und Schwinden Hesse mit Recht feststellt und wohl für seine Person auch bedauert, wird nicht dadurch erhöht und gebessert, daß man ihre institutionellen Positionen im öffentlichen und staatlichen Bereich (Schulorganisation, Religionsunterricht, Theologische Fakultäten 1 2 , Beteiligung an Ton- und Bildfunk, Vertretung im Bayerischen Senat, Sonn- und Feiertagsschutz, Anstaltsund Militärseelsorge, Wohlfahrtspflege 13 , Kirchensteuer, Staatsleistungen, qualifizierte Eigentumsgarantie) de lege ferenda abbaut und de lege lata restriktiv interpretiert. Der Sachzusammenhang zwischen „geistlicher Situation" und „Ausstrahlungswirkung" der Kirchen ist vielmehr ein anderer. Die erstere hängt allein von der Glaubensstärke und -festigkeit der Kirche und ihrer Glieder, von ihrem Erfaßtsein von der christlichen Botschaft und ihrem missionarischen Elan ab. Die letztere ist von den institutionellen Sicherungen und Einflußmöglichkeiten zwar nicht abhängig, wohl aber durch sie beeinflußbar. Ihr Abbau wird sich in der Regel hemmend, ihre Erhaltung fördernd auswirken, weshalb sie von allen Gegnern der Kirche und des Christentums folgerichtig bekämpft und in marxistisch-atheistischen Staaten beseitigt werden. Der Kirche aber anzusinnen, an diesem Prozeß selbst noch mitzuwirken, ist eine Zumutung, die nur Kopfschütteln auslösen kann. Im übrigen wird man trotz der von Hesse zutreffend festgestellten Symptome und trotz allzuoft leerer Kirchenbänke und Gotteshäuser nicht daran vorbeikommen, die große „Ausstrahlungswirkung" zu berücksichtigen, die die Kirchen nach wie vor, hier mehr, dort weniger, besitzen. Sie sind tiefer im Volk verwurzelt, als es bei einer oberflächlichen Betrachtungsweise erscheinen mag. Das tritt in N o t - und Kampfzeiten mehr zutage als in satten und saturierten. Falsch wäre es, wollten die Kirchen sich auf die ihnen als Privile10 u

Hesse, a.a.O. S. 351. Hesse, a.a.O. S. 344.

12

Sie werden v o n Fischer, a.a.O. S. 250 ff. verfassungsrechtlich als bedenklich angesehen.

,3

W o m i t zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Bundessozialhilfegesetzes und der N o v e l l e zum Jugendwohlfahrtsgesetz nicht Stellung genommen werden soll.

y

Festschrift

Kunst

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Siegfried Grundmann

gien eingeräumten verfassungsrechtlichen Gewährleistungen verlassen und die ihnen immanenten Verführungs- und Verlockungsgefahren verkennen, ebenso falsch wäre es, sie darum selbst wegzuwerfen. Besteht dazu de lege ferenda kein Grund, so ist de lege lata die geschilderte Tendenz einer Art. 4 GG maximalisierenden, Art. 140 GG minimalisierenden Interpretation nicht haltbar: „Das Grundgesetz kann nur als Einheit begriffen werden. Daraus folgt, daß auf der Ebene der Verfassung selbst ranghöhere und rangniedere Normen in dem Sinne, daß sie aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar sind" 14 . Darum dürfen das durch Art. 19 Abs. 3 GG zwar formal kollektivierte, seinem Wesen nach aber unverändert individualistische Grundrecht der Glaubensfreiheit einerseits und die korporativen Statusrechte des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136-139, 141 WRV andererseits, die sich weniger formal-rechtlich als materiell-rechtlich vor allem zugunsten der Kirchen als der größten, ältesten und bedeutendsten Religionsgesellschaften auswirken, nicht einseitig ab- oder aufgewertet werden, sondern sie müssen in einem wechselseitigen Verhältnis der Verschränkung, Limitierung und Balance gesehen werden. Das wirkt sich dahin aus, daß von Art. 140 GG her das uneingeschränkte Recht jedes einzelnen, seinen persönlichen Glauben oder Nicht-Glauben allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen, zu pflegen, zu propagieren und zu praktizieren auch nicht im mindesten angetastet werden darf, daß er aber seinerseits, solange diese Voraussetzung gewahrt ist, sich mit den durch Art. 140 GG gewährten und sich zugunsten der Kirchen auswirkenden institutionellen Einrichtungen und Positionen und ihren Konsequenzen abfinden muß und sie nicht unter Berufung auf Art. 4 GG in Frage stellen kann. Aus diesem ausgewogenen Balancesystem, das durch eine Gewichtsverlagerung zugunsten der einen oder der anderen Seite zerstört würde, ergibt sich ein System der nicht-egalitären, abgestuften Parität. Ein weiteres Merkmal der hier kritisch gewürdigten, neuen staatskirchenrechtlichen Richtung ist ein einseitiger Etatismus 15 gepaart mit einem auffälligen Ahistorismus16. Der Staat, von dem in anderen Berei14

BVerfGE 3, 231.

15

Besonders stark ausgeprägt bei Helmut Quaritsch, Kirchen und Staat, Verfassungsund staatstheoretische Probleme der staatskirchenrechtlichen Lehre der Gegenwart, in: Der Staat 1 (1962) S. 175—197; 289—320.

16

Die gleiche Beobachtung hat Alexander Hollerbach an der Judikatur des BVerfG

Laizistische Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht?

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chen oft eine Bedrohung der Freiheiten der einzelnen befürchtet und der zugunsten des vielzitierten pluralistischen Gesellschaftsgefüges zurückgedrängt wird, wird hier zum Schutz gegen Übergriffe der Kirchen in ihnen angeblich wesensgemäß wenn nicht verschlossene, so doch nur nach Maßgabe des Gleichheitssatzes freigegebene Sphären des öffentlichen Lebens in Anspruch genommen. Wir stehen damit nicht vor einer neuen, sondern vor einer aus dem Staatskirchenrecht des 19. Jahrhunderts bekannten Erscheinung. Wenn man sich daran erinnert, daß der Kulturkampf in Preußen unter dem liberalen Kultusminister Falk seine größte Schärfe erreichte und daß Bismarck gerade in jenen Jahren aus dem liberalen Lager seine stärkste Stütze erhielt, so stößt man auf das eigenartige Phänomen, daß der Liberalismus, sonst ein entschiedener Gegner jeder staatlichen Bevormundung, es mit dieser Einstellung zu vereinbaren weiß, dem Staat in seinem Verhältnis zu den Kirchen zu einer weitgehenden Ausnutzung seiner Hoheitsrechte zu ermuntern und ihm dabei Rückhalt zu geben. Wenn nicht alle Zeichen trügen, stehen wir heute am Anfang einer Wiederbelebung dieses scheinbaren historischen Paradoxes, das in einem kirchlicherseits nicht unverschuldeten Säkularismus als unwegdenkbarem Bestandteil des Liberalismus seine Erklärung findet. 1 7 Heute hat sich dieser Vorgang in die Forderung an die Kirchen abgewandelt, „eine tiefere innere Beziehung zum demokratischen Gemeinwesen zu entwickeln" 18 . Hieran ist sicher richtig, daß die Kirchen wie in der Vergangenheit mit anderen Staatsformen so heute mit dem demokratischen Staat zusammenleben und zusammenarbeiten müssen. Es steht nach den Erfahrungen der neueren deutschen Vergangenheit auch außer Zweifel, daß diese Staatsform die menschenwürdigste ist und daß darum manche ihr anhaftenden Nachteile in Kauf genommen werden müssen. Es gemacht (vgl. JZ 1965, S. 613). Auch Hesse, ZevKR 11 (1964/65) S. 359, hält „die historische Rechtfertigung" für „im modernen Staat fragwürdig", „weil in ihm jedes historische Recht, das sich nicht mehr aktuell zu legitimieren vermag, verjährt". In dieser Weise kann man die in die Geschichte zurückführenden Linien des durch und durch historisch geprägten Staatskirchenrechts wohl kaum abschneiden. Die verschiedenen staatskirchen rechtlichen Systeme lassen sidi ohne Sinn für ihre historischen Grundlagen nur teilweise erfassen. Wer Staatskirchenrecht treiben will, kommt an der Rechtsgeschichte nicht vorbei. 17

18



Erinnert sei an die staatskirchenrechtliche Konzeption von Emil Friedberg, nach Emil Sehling ein „energischer Vorkämpfer der Rechte des Staates gegenüber der Kirche" (PRE 3 , 23, 489). Hesse, ZevKR 11 (1964/65) S. 343.

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Siegfried G r u n d m a n n

ist endlich nicht z w e i f e l h a f t , d a ß in der Achtung vor dem Menschen, in der die D e m o k r a t i e ihre eigentliche Legitimation hat, ein Begegnungsp u n k t zwischen Kirche und S t a a t gegeben ist, der in dieser Intensität im Verhältnis zu anderen S t a a t s f o r m e n k a u m v o r h a n d e n ist. D a s alles rechtfertigt es aber nicht, die Kirche gewissermaßen vor den Richterstuhl der D e m o k r a t i e zu stellen u n d den A u f t r a g , den die Kirche mit ihrer Botschaft a m Menschen zu erfüllen hat, mit der demokratischen Elle zu messen. Wenn die Kirche v o n ihrer E i n m a l i g k e i t als Stiftung Christi und der ewigen Gültigkeit ihrer V e r k ü n d u n g durchdrungen ist, so kann sie es nicht hinnehmen, d a ß um der Verwirklichung eines egalitären Gleichheitssatzes u n d eines rein s ä k u l a r verstandenen Freiheitsbegriffes willen ihre Wirkungsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit auf die M a ß s t ä b e eines pluralistischen Gesellschaftssystems eingeebnet u n d ihr die d a z u erforderlichen oder doch förderlichen institutionellen Positionen entzogen werden. Wenn die über eine bloße A u t o n o m i e hinausgehende, v o n der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannte „ E i g e n s t ä n d i g k e i t der K i r chen" 1 9 einen Inhalt haben und mit dem ihnen in den neueren Kirchenverträgen staatlicherseits „ i m Bewußtsein der gemeinsamen V e r a n t w o r t u n g " f ü r die B e v ö l k e r u n g bestätigten „ Ö f f e n t l i c h k e i t s a u f t r a g " 2 0 in Eink l a n g gebracht werden soll, so k a n n d a s staatskirchenrechtliche Verhältnis nicht einseitig v o m S t a a t her gesehen und bestimmt werden, sondern es muß dieses Verhältnis auch aus der Sicht der Kirche gewürdigt werden 2 1 . Wenn f ü r d a s Staatskirchenrecht p r i m ä r auf die „ C h r i s t e n und Glieder der K i r c h e " u n d „ n u r b e d i n g t " sekundär auf „ d i e v e r f a ß t e K i r c h e " selbst abgestellt und d a m i t „ d i e Einflußnahme auf das demokratische G e m e i n w e s e n " durch die „ E i n f l u ß n a h m e im demokratischen G e m e i n w e s e n " 2 2 v e r d r ä n g t werden soll, so bedeutet das nicht nur eine Ink o r p o r a t i o n der Kirche in den S t a a t , sondern auch die Wiederbelebung der alten protestantischen Skepsis gegenüber der Kirche, die seit dem „ J a h r h u n d e r t der K i r c h e " von O t t o Dibelius u n d d a m i t seit vierzig J a h ren der Vergangenheit angehören sollte. H i e r ist von der Wiederbesinnung a u f die Kirche in der neueren kirchen- und theologiegeschichtlichen Entwicklung wenig zu spüren. 19

Vgl. B V e r f G E 18, 386.

20

Vgl. die P r ä a m b e l z u m Niedersächsisdien Kirchenvertrag.

21

Wie das zu geschehen hat und welche Folgerungen sich daraus ergeben, habe ich in meinem A u f s a t z „ D a s Bundesverfassungsgericht und das S t a a t s k i r d i e n r e d i t " , J Z 1966, S. 81—86, zu zeigen gesucht.

22

Hesse, Z e v K R 11 (1964/65) S. 360, ähnlich S. 352.

Laizistische Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht?

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Dem entspricht es, wenn das Verhältnis von Kirche und Staat entinstitutionalisiert und auf das Verhältnis ihrer Wirkungsbereiche reduziert wird: „Staat und Kirche sind für den hier interessierenden Zusammenhang 23 nichts anderes als Formen konkret-geschichtlichen menschlichen Wirkens in der einen Welt, freilich mit unterschiedlicher Rechtfertigung, unterschiedlichen Aufgaben und unterschiedlichen Mitteln." 2 4 Das ist aber nur eine Teilwahrheit. Denn hinter den Wirkungsbereichen stehen die in ihnen wirkenden Kräfte und Institutionen. Das sind Kirche und Staat als corpora. Sie stehen entgegen der Ansicht von Hesse zueinander in einem „räumlich-statischen Verhältnis . . . als Subjekte der Ausübung weltlicher und geistlicher Gewalt" und damit sich „gegenüber" in verschiedenen Bereichen 25 . Die kritische Auseinandersetzung mit den neuerdings feststellbaren Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht 26 dürfte gezeigt haben, daß es hier um eine Entwicklung geht, die hier im Spiegelbild des Staatskirchenrechts gesehen und untersucht wurde, aber über dieses Sachgebiet hinausgeht. Es handelt sich um einen Teil des seit der Aufklärung kontinuierlich verlaufenden Säkularisierungsprozesses, der höchstens zeitweise zurückgestaut oder auch unterbrochen worden ist. Er beginnt jetzt, nachdem die Schrecksekunde und der Schock der ersten Nachkriegszeit an Wirksamkeit verloren haben, in eine neue Phase einzutreten. Sie ist staatskirchenrechtlich dadurch gekennzeichnet, daß damit notwendigerweise die Kirchen unter dem Deckmantel eines egalitär gehandhabten Grundrechtsschutzes aus dem Bereich ihres öffentlichen Wirkens verdrängt und auf das Gebiet einer intramuranen, einseitig jenseitsbezogenen, in falscher Weise spiritualisierten Predigt zurückgeworfen werden. Am Ende, mag man das anstreben 27 oder ablehnen, steht die Kirche als privatrechtliche Organisation des allgemeinen Vereinsrechts. Die Kirchen haben Grund, diese Entwicklung mit Aufmerksamkeit zu verfolgen und sich ihr nach Kräften zu widersetzen.

23 24 55

Gemeint ist der staatskirchenrechtliche Zusammenhang. Hesse, Verhältnis v o n Kirche und Staat (vgl. A n m . 3), S. 142. Vgl. d a z u Hesse, Z e v K R 11 (1964/65) S. 348.

26

Wenn die Auseinandersetzung sich auf K o n r a d Hesse zugespitzt hat, so deshalb, weil er seine A u f f a s s u n g e n am klarsten vorträgt und am tiefsten fundiert u n d weil bei ihm unterstellt werden darf, daß die im Text als Auswirkungen der neueren Lehre befürchteten Folgen nicht seinen eigentlichen Absichten entsprechen.

27

Hesse scheint neuerdings d a z u zu neigen (vgl. Z e v K R 11 [ 1 9 6 4 / 6 5 ] S. 3 5 7 — 3 5 9 ) .

EDMUND SCHLINK

Uber die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der Welt Seitdem Karl Barth 1929 seinen Aufsehen erregenden Vortrag „Der römische Katholizismus als Frage an die protestantische Kirche" gehalten und der katholische Theologe Robert Grosche seinereseits in der von ihm gegründeten Zeitschrift „Catholica" Fragen der reformatorischen Theologs aufgenommen hatte, hat zwar, wie auch die Voten von Konzilsvätern im I I . Vaticanum beweisen, die Zahl derer erheblich zugenommen, die die anderen Kirchen als Frage an die eigene ernstnehmen. Und doch ist die Furcht noch verbreitet, daß die Position der eigenen Kirche geschwächt wird und den anderen Kirchen Argumente gegen sie in die Hand gegeben werden, wenn man Schwächen in der eigenen Kirche feststellt und in anderen Kirchen Vorbildliches entdeckt und darauf öffentlich hinweist. Zwar gilt dies nicht von allen Kirchen und ihrem Verhältnis zueinander in gleichem Maße. In der Geschichte der Oekumenischen Bewegung hat sich hier manches geändert. Aber diese Furcht kann man nicht nur gegenüber der zahlenmäßig überlegenen römischen Kirche, sondern auch noch im Verhältnis von manchen Gliedkirchen des Oekumenischen Rates zueinander immer wieder beobachten. Man wird sagen dürfen, daß für die heutige Christenheit trotz ihres oekumenischen Aufbruchs noch eine eigentümliche Ängstlichkeit charakteristisch ist. Wo aber das Verhalten der Christen zueinander von Angst bestimmt ist, ist auch ihr Einsatz in der Welt gehemmt. Die Angst voreinander verstärkt die Angst vor der Welt.

1. Gründe der

Ängstlichkeit

Die ängstliche Zurückhaltung hat mancherlei Ursachen. Ihnen im einzelnen nachzugehen, wäre nicht nur eine historische und theologische, son-

Über die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der Welt

135

d e m auch eine tiefenpsychologische Aufgabe, wobei sich herausstellen würde, daß die im Bewußtsein präsenten Gründe keineswegs immer die faktisch beherrschenden sind. Im übrigen stehen im Verhältnis der einzelnen Kirchen zueinander keineswegs immer dieselben Arten von Gründen im Vordergrund. Ein wichtiger Grund der Ängstlichkeit ist die Erinnerung an die geschichtlichen Vorgänge der Kirchentrennung, die sich wie ein T r a u m a im späteren Verhältnis der beteiligten Kirchen zueinander auswirken. Nicht selten ist die Trennung mit Gewaltanwendung und Blutvergießen, immer aber mit K ä m p f e n und Schmerzen verbunden gewesen, die sich dann in der weiteren Geschichte, zumal in Bemühungen, den anderen zur Rückkehr zu zwingen, fortgesetzt haben. Diese Erinnerung wirkt sich als Angst vor weiteren Bedrohungen aus, wenngleich inzwischen den meisten Kirchen keine Mittel weltlicher Gewalt mehr zur Verfügung stehen. Die Bedeutung der Erinnerung wird deutlich, wenn man z. B. das Verhältnis zwischen den Reformationskirchen und der Ostkirche mit beider Verhältnis zur römischen Kirche vergleicht. Ihre Trennung von der römischen Kirche ist unmittelbar erfolgt, während die Trennung zwischen den Reformationskirchen und der Ostkirche nur ererbt, aber nicht direkt von ihnen vollzogen worden und daher weniger belastet ist. Die Erinnerung an die in der Geschichte wechselseitig zugefügten Leiden kann nur durch wechselseitige Vergebung entgiftet werden. Ein anderer Grund sind die Leitbilder von der anderen Kirche, die in den K ä m p f e n der Trennung geschaffen wurden, um durch eine möglichst evidente Darstellung der Unterschiede den Sonderstatus der eigenen Kirche zu rechtfertigen und die Angriffe der anderen Kirche zurückzuweisen. In dem schmerzhaften Prozeß der Trennung entstanden, pflegen diese Leitbilder auf beiden Seiten Vergröberungen der Unterschiede und Abbiendungen dessen, was nach der Trennung gemeinsam geblieben ist, mit sich zu bringen. Diese Leitbilder haben eine eigentümlich prägende Wirkung und erweisen sich über ihre Entstehungszeit hinaus im Bewußtsein einer jeden Kirche als eigentümlich konstant, auch wenn inzwischen im Denken und Leben beider Kirchen Wandlungen erfolgt und manche Verkürzungen und Einseitigkeiten der Trennungszeit behoben worden sind. Eine jede Kirche neigt dazu, in ungeschichtlicher Weise diese Leitbilder in Katechismen und in der interkonfessionellen Auseinandersetzung festzuhalten. Aber sie müssen durch das Studium von Geschichte und Gegenwart der Kirchen überprüft und korrigiert werden.

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Beginnt man aber die gegenwärtige Wirklichkeit der anderen Kirchen zu studieren, so ergibt sich als weiterer Grund für die Ängstlichkeit das Erlebnis ihrer Fremdheit, und dies um so mehr, je mehr man in der Frömmigkeit und in dem dogmatischen, liturgischen und rechtlichen Gefüge der eigenen Kirche verwurzelt ist. Auch wenn beide Kirchen manche Einseitigkeiten der Trennungszeit überwunden haben, ist doch diese Weiterentwicklung jeweils von den besonderen Voraussetzungen der einzelnen Kirche aus erfolgt und erscheint daher auf den ersten Blick oft nicht als eine Annäherung, sondern als eine weitere Differenzierung. Hier bedarf es einer großen Sorgfalt des Forschens. Es genügt nicht ein bloßes Suchen nach dem, was von dogmatischen Formeln, Riten etc. der eigenen Kirche in der anderen Kirche wiederzufinden ist, sondern es sind hier Übersetzungen nötig. Oft wird man in den anderen Kirchen dasselbe in ganz anderen Gestalten wiederfinden. So findet sich z. B. der Gehalt der reformatorischen Formel „gerecht und Sünder zugleich" im Bereich der römischen Kirche zwar nicht im Dogma, wohl aber in der Frömmigkeit wieder, zumal im glaubenden Empfang der Absolution im Angesicht des Todes. Hinzu kommt die Sorge, daß im eigenen Kirchenvolk eine Verwirrung entsteht, wenn man auf die geläufigen Leitbilder von den anderen Kirchen verzichtet und sich zu sehr auf das Aufspüren des Gemeinsamen einläßt. Bedeutet doch die Erinnerung an die Vorgänge der Trennung und das Festhalten der damals entstandenen Leitbilder eine Hilfe für die Erhaltung der geordneten Kirchenkörper. Die Angst vor der Auflösung kirchlicher Lehre und Ordnung spielt bei der christlichen Jugend und bei zahlreichen aktiven Laien heute eine sehr viel geringere Rolle als bei denen, die eine kirchenleitende Verantwortung zu tragen haben. Sie wird hier gesteigert durch das Auftreten oekumenischer Enthusiasten, die da meinen, daß die Unterschiede zwischen den Kirchen heute bedeutungslos geworden seien. Aber sie verlieren so nicht nur selbst die kirchliche Verwurzelung, sondern führen auch andere in ein ungewisses Niemandsland zwischen den Kirchen und hemmen so die Annäherung der Kirchen mehr, als daß sie sie fördern. Solche Enthusiasten sind heute ein Randphänomen fast aller Kirchen. In der Tat bedarf es sorgfältiger Überlegungen, wie die Gefahr der Verwirrung und des Chaos vermieden wird, wenn die notwendigen Korrekturen am Selbstverständnis der eigenen Kirche und am Verständnis der anderen Kirchen vorgenommen werden. Aber ein Risiko bleibt mit jeder kirchlichen Selbstkorrektur verbunden.

Über die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der W e l t

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Der stichhaltige Grund für die Zurückhaltung gegenüber anderen Kirchen kann letztlich nur die Sorge sein, von der geoffenbarten Wahrheit abzufallen, nämlich den Herrn zu verleugnen, dem die Kirche zu eigen ist und dem sie zu dienen hat. Wo diese Gefahr besteht, geht es nicht nur um die Erinnerung an die Geschichte der Trennung, sondern um die Geltung des Wahrheitszeugnisses der Väter, und nicht nur um Leitbilder von den anderen Kirchen, sondern um die Scheidung von Wahrheit und Irrtum. Dann geht es auch nicht nur um die Erhaltung der Geschlossenheit eines soziologischen Gebildes, sondern um das Heil. Wenn es um Bekenntnis oder Verleugnung geht, dann ist die Scheidung nicht nur erlaubt, sondern geboten. So ist es nicht zufällig, daß Kirchentrennungen, die ursprünglich aus anderen, z. B. aus politischen oder jurisdiktionellen Gründen erfolgt sind, wie die Trennung zwischen Rom und Byzanz, dann im Verlauf der Kämpfe als Unterschiede in der Wahrheit verstanden wurden. Da die Trennung letztlich nur um der Wahrheit willen gerechtfertigt ist, sucht eine jede Kirche ihre Sonderexistenz mit der Wahrheit zu rechtfertigen. Aber die Gründe der Trennungen sind zweifellos sehr vielschichtig und noch keineswegs hinreichend systematisch geklärt. So sind Trennungen auch z. B. dadurch entstanden, daß eine dogmatisch und rechtlich stark verfestigte Kirche neu aufgebrochenen Glaubenserkenntnissen und Charismen in ihrem Gefüge keinen Raum gewährte und lebendige Kräfte ausschied und zu einer kirchlichen Sonderexistenz zwang. So haben wir heute neu zu fragen, ob und inwieweit die Abgrenzung gegen den Irrglauben wirklich in jedem Fall der Grund der Trennung war und jetzt noch ist. Auf jeden Fall erfordert die Sehnsucht nach der Einheit ein neues Fragen und Forschen, ein Verzichten auf bequeme Vorstellungen und einen intensiven pastoralen Einsatz.

2. Kirchliche Traditionen

als Schutz und

Hindernis

Die Mitte aller Aussagen des Glaubens ist das Bekenntnis. Es grün det auf der Botschaft von Gottes Heilstat in Jesus Christus. In dem Bekenntnis übereignen sich die Glaubenden Christus als dem Herrn und geben so Gott dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist die Ehre. Das Bekenntnis wird vor Gott und den Menschen abgelegt. In ihm sind die auf Gott gerichteten Aussagen des Gebetes und der Anbetung und die auf Mitmenschen gerichteten Aussagen des Zeugnisses und der Lehre konzen-

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triert. Es wird von der Gemeinschaft der Glaubenden abgelegt, und im Einstimmen in ihr Bekenntnis lebt der Einzelne als Glied der Kirche. Als Bekenntnis der Kirche bestimmt es somit das Beten und Bezeugen, das Anbeten und Lehren jedes einzelnen. Das Bekenntnis ist so von zentraler Bedeutung für die Einheit der Kirche. Das Bekenntnis ist in seiner Wurzel Christusbekenntnis. Im Verlauf der Dogmengeschichte ist es gegenüber mancherlei geschichtlichen Bedrohungen des Glaubens weiter präzisiert und thematisch ausgedehnt worden. Hierbei sind Verschiebungen in der Struktur der Aussage eingetreten, je nachdem das Dogma mehr in der Struktur der Doxologie (Ostkirche), der Lehre (römische Kirche) oder der Verkündigung (Reformationskirchen) formuliert worden ist, — auch Verschiebungen im Verständnis der Geltung und in der Durchsetzung der Dogmen, je mehr seit der Entstehung der konstantinischen Reichskirche die Gleichheit der dogmatischen Formeln als zur Einheit der Kirche notwendig angesehen wurde und die Dogmen als feste Bestandteile in die staatliche Rechtsordnung aufgenommen waren. Vor allem aber ergaben sich inhaltliche Verschiedenheiten von den Verschiedenheiten der geschichtlichen Fronten her, denen gegenüber die Präzisierung des Bekenntnisses in weiteren Dogmen erfolgte, wobei die inhaltlichen und strukturellen Verschiebungen sich gegenseitig verstärkten. Auch diese späteren dogmatischen Aussagen nehmen im Leben der Kirche eine zentrale Stellung ein. Sie bestimmen sowohl die freien persönlichen Gebete und Zeugnisse der Glaubenden als auch die Ordnung und die geformten Bestandteile der Liturgie der Gemeinden. Sie bestimmen darüber hinaus die Ordnung des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Ämter. Denn in all ihrem Reden und Tun will die Kirche bei der Wahrheit bleiben, die das Bekenntnis bezeugt, und all ihre Ordnungen und Sitten wollen dem Bleiben bei dieser Wahrheit dienen. Darum werden Dogma, Frömmigkeit, Ordnung und Leben als Ganzheit erfahren. Bezeichnen wir diese Ganzheit als kirchliche Tradition, so stehen die getrennten Kirchen als verschiedene Traditionen nebeneinander. Diese Traditionen können mehr oder weniger ausdrücklich bis in die Einzelheiten hinein rechtlich festgelegt sein oder der Freiheit der Glaubensäußerungen Raum lassen. Sie können auch mehr oder weniger reflektiert und gar als Traditionsprinzip grundsätzlich geltend gemacht werden. Immer aber ist der einzelne Glaubende Glied einer Ganzheit des kirchlichen Lebens und lebt in der Ganzheit einer bestimmten Tradition, ob er sich dessen in voller Klarheit bewußt ist oder nicht. Auch die Bestandteile,

Über die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der Welt

139

die den getrennten Kirchen gemeinsam geblieben sind, stehen nun in verschiedenen Ganzheitszusammenhängen, und in Krisenzeiten werden, wie die Geschichte zeigt, auch die Infragestellungen solcher Entscheidungen, die früher einmal frei standen, wie z. B. die Indienstnahme von Begriifen einer bestimmten Philosophie oder die Verwendung von gesäuertem oder ungesäuertem Brot im Abendmahl oder selbst die Form des Kreuzschlagens oder die Aufstellung von Kreuzen auf den Altären als Verletzungen der Wahrheit verstanden. Die Tradition ist zweifellos ein bedeutsamer Schutz zur Erhaltung der Kirche. Je mehr sie ausdrücklich formuliert und rechtlich gesichert ist, desto mehr ist sie eine wichtige Hilfe dafür, daß die Gemeinschaft der Glaubenden als Gemeinschaft der gleichzeitig lebenden Brüder mit den im Glauben vorangegangenen Vätern, daß also die Kontinuität der Kirche im Wechsel der Geschichte und ihre Einheit an allen Orten in der Gegenwart bewahrt und weiter gesichert wird. Besonders die Identität der dogmatischen Formeln und der rechtlichen Ordnungen ermöglicht es leicht, Wirklichkeit und Grenzen einer Kirche festzustellen und zu wahren. Von hier aus ist es zu verstehen, daß die römische Kirche auf dem II. Vatikanischen Konzil bei ihren Neuerungen so vorsichtig vorgegangen ist und daß dieKonzilsväter sich selbst da, wo eine frühere Position korrigiert wurde, wie z. B. in der Frage der Religionsfreiheit, um den Nachweis bemüht haben, daß die römische Kirche immer schon für Religionsfreiheit eingetreten sei (so die Relatio von Bischof de Smedt zur ersten Vorlage des betreffenden Dekrets). Entsprechende Vorgänge können auch bei anderen Kirchen festgestellt werden. Je umfassender die Tradition das Denken und Leben der Glaubenden umgreift, um so mehr ist sie aber auch eine Hemmung für das Leben der Kirche. Man bedenke nur z. B., wie sehr die von Thomas von Aquin einst in einem missionarischen Vorstoß in Dienst genommene aristotelische Philosophie in der Neuzeit sowohl die römisch-katholische Theologie als auch die altprotestantische Orthodoxie gehindert hat, rechtzeitig auf die Fragen einzugehen, die sich von dem naturwissenschaftlichen und dann auch vom historischen Denken her ergaben. Man bedenke auch, wie sehr das lange Festhalten an der reichskirchlichen Konzeption der kirchlichen, kulturellen und staatlichen Einheit die Kirchen gehindert hat, die veränderten Aufgaben inmitten der sozialen und politischen Umbrüche der neuesten Zeit zu erkennen, oder wie das überlieferte Verständnis des kirchlichen Amtes dem im Wege stand, daß das allgemeine Priestertum

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der Glaubenden aus dem Schlummer einer bloßen Bezeichnung zur tätigen Verantwortung erwachen und tätig werden konnte. N u r zu oft hatte die Bewahrung der Tradition zur Folge, d a ß Kirchen durch ihre Reformen nicht das H e u t e ihrer U m w e l t erreichten, sondern nur vorgestrige Haltungen durch gestrige ersetzten, während sie dazu berufen sind, als das eschatologische Gottesvolk die Vorhut der Menschheit zu sein. Das gilt keineswegs nur von den Kirchen, die ausdrücklich ein Traditionsprinzip vertreten, sondern auch von solchen, die dieses Prinzip ablehnen und mangels einer Reflexion über die Tradition in manchen Fällen sogar selbstverständlicher in ihr befangen bleiben als jene und so den Blick gegenüber veränderten Situationen verschließen. Diese doppelte Wirkung kirchlicher Tradition wird besonders deutlich in der Begegnung der getrennten Kirchen miteinander. Indem die Tradition die Ganzheit des kirchlichen Lebens u m f a ß t und schützt, hemmt sie zugleich eine jede Kirche, eine andere als Lebensganzheit zu verstehen und die eigenen Grenzen zu durchbrechen. Sie hält das Verstehen gefangen und hindert, eine -andere Kirche als Frage an die eigene Kirche voll und ganz ernstzunehmen. So ergibt sich die Ängstlichkeit und der Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach der Einheit der getrennten Kirchen und dem Festhalten an der in der eigenen Kirche überkommenen Einheit, zwischen dem Willen, sich f ü r andere Kirchen weit zu öffnen und der Sorge, die Geschichte der eigenen Kirche zu verlieren, — zwischen dem Willen, gemeinsam der Welt zu dienen, und der ängstlichen Selbsterhaltung in der Welt.

3. Das Verhältnis von Vergangenheit

und Zukunft

Das Verhältnis zur geschichtlichen Vergangenheit ist bei den Kirchen heute ein anderes als bei den Gemeinden, an die die neutestamentlichen Briefe geschrieben waren und von denen die Apostelgeschichte berichtet. Der Glaube gründet auf der geschichtlichen Heilstat Gottes in Jesus Christus. Die Augenzeugen der Worte, Taten und des Geschicks Jesu, vor allem der Erscheinungen des Auferstandenen, aufgrund derer sein Tod als Heilstat erkannt worden ist, hatten daher von A n f a n g an eine grundlegende Bedeutung f ü r die Gemeinden. Von vorneherein galt es, diese Zeugnisse zu bewahren und weiter zu überliefern. Dem Bleiben bei der Heilstat Gottes in Jesus Christus dienten die Uberlieferungen, die dann

Uber die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der Welt

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zur Niederschrift der Evangelien führten, und die kerygmatischen Formeln, die in den neutestamentlichen Briefen überliefert sind, darüber hinaus das Ganze der neutestamentlichen Verkündigungen und Mahnungen. D a s Interesse ruhte ganz auf dem Inhalt der Überlieferung, der festzuhalten war. Aber der Vorgang des Überlieferns selbst wurde damals noch nicht weiter reflektiert. Denn der zeitliche Abstand von der grundlegenden Heilstat war klein, die apostolischen Augenzeugen und die von ihnen unmittelbar Belehrten waren noch gegenwärtig oder doch zeitlich nah. J e größer der zeitliche Abstand der kirchlichen Gegenwart vom geschichtlichen Ursprung wurde, um so mehr mußte die Überlieferung zu einem Problem werden. Bei dem Vorstoß des Evangeliums in immer neue Bereiche hinein ergab sich die Notwendigkeit, sich neuer Vorstellungen und Begriffe zu bedienen und doch die Identität der ursprünglichen Christusbotschaft festzuhalten. Es ergab sich die Notwendigkeit, die ursprüngliche Uberlieferung von anderen, die zu Unrecht denselben Anspruch erhoben, abzugrenzen, die ursprünglichen schriftlichen Zeugnisse zu sammeln und der alttestamentlichen Schrift einen Kanon von neutestamentlichen Schriften hinzuzufügen. J e größer der Abstand vom U r sprung wurde, desto dringender wurde auch die Sicherung der Identität der Christusbotschaft durch weitere Aussagen des Bekenntnisses und durch die Ordnung der kirchlichen Ämter. Zur überlieferten grundlegenden geschichtlichen Heilstat trat hinzu die Geschichte dieser Uberlieferung, nämlich die Mannigfaltigkeit der Auslegungen, die die ursprüngliche Uberlieferung auf ihrem Weg durch die Geschichte in Predigt und Lehre, in der Liturgie und in der Ordnung der Ämter usw. gefunden hat. Wenngleich es immer nur um das Bleiben bei der einmalig und endgültig geschehenen Heilstat und um die Bewahrung ihrer ursprünglichen Bezeugungen geht, ergab sich die Notwendigkeit, diesen durch viele Jahrhunderte hindurchlaufenden Überlieferungsprozeß zum Verständnis des Ursprungs mit zu berücksichtigen. Der Uberlieferungsvorgang selbst und seine Geschichte bekamen so ein Eigengewicht, das um so schwerer wiegt, als sich dieser Vorgang in verschiedenen Kirchengebieten, in verschiedenen geschichtlichen Situationen und geistigen Konfrontationen vollzog und in verschiedenen kirchlichen Traditionen niederschlug, die dann teils nebeneinander, teils gegeneinander standen. So ist das Verhältnis der Kirchen heute zur Vergangenheit gegenüber dem der ersten Gemeinden sowohl durch die Geschichte der eigenen Uberlieferung als auch durch die Auseinandersetzung mit den Uberlieferungen anderer Kirchen verändert.

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Aber auch das Verhältnis der Kirche zur Zukunft ist heute weithin ein anderes als in der Frühzeit. Paulus hatte an die römische Gemeinde geschrieben: „Jetzt ist uns die Rettung näher als zu der Zeit, in der wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen" (Rom. 13,11 f.). Diesen Tag des Herrn erwartete er nicht nur als Tag der Rettung, sondern auch als Tag des Gerichtes, und zwar nicht nur als Gericht über die Welt, sondern auch über die Christen. „Wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder empfange, je nach dem er im Leibe gehandelt hat, es sei gut oder böse" (2. Kor. 5,10). Darum arbeitete Paulus in der „Furcht des H e r r n " (11) und ermahnte die Glaubenden, sich „mit Furcht und Zittern" um die Rettung zu bemühen (Phil. 2,12). Dies entspricht Jesu Ankündigung der Scheidung, die der kommende Menschensohn vollziehen wird, und seiner Mahnung zur Wachsamkeit. „Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr! Haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, haben wir nicht in deinem Namen Teufel ausgetrieben, haben wir nicht in deinem Namen viele Taten getan? Dann werde ich ihnen bekennen: ich habe euch noch nie erkannt; weichet alle von mir, ihr Übeltäter!" (Matth. 7,22f.) War für Paulus der Tag des Herrn bereits nähergerückt im Verlauf der wenigen Jahre seit seiner Bekehrung, so müßte er für das Bewußtsein der späteren Christenheit im Verlauf der Jahrhunderte noch viel bedrängender nahegekommen sein. Zwar bekennen alle Kirchen Jesus Christus als den, „der kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten". Aber die Naherwartung haben sie im allgemeinen nicht festgehalten. Abgesehen von besonderen Krisenzeiten, in denen sie neu aufbrach, rückte der Tag des Herrn in weite Ferne, und die bedrängende Nähe verblaßte. Die Gewichte verschoben sich innerhalb der ursprünglichen Dialektik des „schon jetzt" und „noch nicht", indem die Erwartung der hereinbrechenden Gottesherrschaft weitgehend durch Aussagen über die Gegenwart der Gottesherrschaft abgelöst und die Kirchengeschichte als Geschichte der Gottesherrschaft verstanden wurde. Im großen und ganzen hat sich nicht die eschatologische Botschaft Jesu und des Paulus durchgesetzt, sondern es sind die Ansätze der lukanischen Apostelgeschichte zur Entfaltung gekommen. So wurde es möglich, den kommenden Tag des Herrn, der richtend und vollendend, der als Ende der Welt wie auch der Gestalt der Kirche und als umfassende Neuschöpfung alle Vorstellungen durchbrechen und überbieten wird, hineinzunehmen in umgreifende theologische Systeme der Taten Gottes. Sowohl die heilsgeschichtlichen Systeme des neueren

Ü b e r die Befreiung der Kirchen z u m Dienst an der Welt

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Protestantismus als auch die heilsgeschichtliche Konzeption des II.Vatikanischen Konzils sind nicht frei von der Gefahr, das bevorstehende Hereinbrechen des Herrn einzuebnen in einen übersehbaren Ablauf der Kirchen- und Weltgeschichte. Die Überlieferung der ersten Gemeinden war eng umschlossen von der zeitlich nahen Geschichte des irdischen Christus und von seinem naherwarteten Kommen in Herrlichkeit: Dann werden alle Menschen den sehen, dessen Heilstat jetzt in Worten überliefert und verkündigt wird. Durch den Fortgang der Kirchengeschichte haben demgegenüber der Prozeß des Uberlieferns und seine Ergebnisse ein zunehmendes Eigengewicht erhalten, das durch das Nachlassen der Naherwartung und das Sicheinstellen auf eine längerdauernde Kirchengeschichte abermals verstärkt worden ist. So sind die Blicke der Kirchen oft mehr nach rückwärts als nach vorwärts gerichtet. Während die in Jesu T o d und Auferstehung vollbrachte Heilstat Gottes in die Zukunft ruft und zum Leben aus dieser Zukunft mahnt, ist die Furcht, die Vergangenheit — und zwar nicht nur den Ursprung, sondern die Ergebnisse der Jahrhunderte — zu verlieren, oft größer als die Furcht vor dem kommenden T a g des Herrn. Anstatt dem Herrn entgegenzueilen, bewegen sich die Kirchen unter der Bürde des Gehäuses der Traditionen oft nur im Schneckentempo weiter. Sollen die verschiedenen Traditionen der getrennten Kirchen zur Begegnung kommen, wird es nötig sein, daß sie nicht nur im Rückblick auf die Geschichte ihres Werdens, sondern auch im Vorausblick auf das Ende betrachtet werden. Denn die apostolische Botschaft mahnt nicht nur zur Bewahrung des Uberlieferten, sondern auch zur Erwartung des endgeschichtlich Hereinbrechenden. Der normative Vorrang der ursprünglichen Botschaft der Augenzeugen vor den Zeugnissen jedes späteren Zeitpunktes der Kirchengeschichte und der Vorrang der Entscheidung des kommenden Christus vor allen getroffenen und noch zu treffenden Entscheidungen der Kirchengeschichte ist unbedingt festzuhalten. J a , die Erwartung des kommenden Herrn gehört so sehr zur apostolischen Botschaft hinzu, daß sie ohne diese wachsame Erwartung nicht festgehalten wird. Von dieser Erinnerung und Erwartung her wird das Übergewicht der kirchlichen Traditionen reduziert und wird ihr Neben- und Gegeneinander aufgebrochen. Die Erinnerung an Jesus macht es unmöglich, seine Weherufe über die Schriftgelehrten und Pharisäer zu überhören, die auch über unsere Theologie und Frömmigkeit hereinbrechen. Die Erwartung des Kommenden macht

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es unmöglich, die Androhungen zu überhören, die der Herr nach den Sendschreiben der Apokalypse ganzen Kirchen zuruft. Denn der kommende Christus wird Trennungen vornehmen, die tiefer greifen als die Trennungen in dieser Zeit. Seine Trennungen werden durch alle in dieser Welt bestehenden Trennungen quer hindurchgehen. Die Erwartung des kommenden Christus macht es ganz unmöglich, die Schwächen und Sünden in der eigenen Kirche für harmloser anzusehen als die in den von uns getrennten Kirchen. Das eigentliche Problem ist nicht die Selbsterhaltung der Kirchen in den Rivalitäten dieser Zeit, sondern das Bestehen am Tage des Gerichts.

4. Die gemeinsame

Norm

Beginnen die verschiedenen Traditionen der getrennten Kirchen einander zur Frage zu werden, so ist es entscheidend, daß der gemeinsame Ursprung und die gemeinsame Zukunft dies Fragen bestimmt. Würde eine jede Kirche die andere nur mit sich selbst vergleichen, so würde ein solches Gespräch nicht weiterführen, und es käme nicht zu ihrem gemeinsamen Dienst an der Welt. Würden sie sich nur gegenseitig zur Frage, ohne dem Herrn die Ehre zu geben, der sie alle in Frage stellt, so würde sich dies nicht reinigend und aufbauend, sondern relativierend und zersetzend auswirken. W o aber ist die Botschaft, von der ein für allemal vollbrachten Heilstat und die Verheißung der auf uns noch zukommenden Gottestat in einer alle Kirchen verpflichtenden Weise überliefert? Gibt es eine von allen Kirchen gemeinsam anerkannte Norm? Alle Kirchen stimmen darin überein, daß die apostolische Botschaft und ihr Widerhall in den ersten Gemeinden von grundlegender Bedeutung für die Kirche aller Zeiten ist. Sie stimmen überein in der Anerkennung dieser nicht überholbaren N o r m für all ihr weiteres Reden und Tun. Aber sie gehen auseinander in der Frage, wo diese N o r m ihnen begegnet, und geben verschiedene Antworten über das Verhältnis von Heiliger Schrift und Tradition, wobei nicht nur das Verhältnis zwischen beiden, sondern auch die Abgrenzung des biblisdien Kanons, vor allem aber die Begriffe sowie die konkreten Inhalte der Tradition umstritten sind. Hinzukommen verschiedene Verhältnisbestimmungen von Heiliger Schrift, Tradition und Lehramt. Angesichts dieses Tatbestandes kann jedoch nicht übersehen werden,

Uber die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der Welt

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daß trotz der bestehenden Differenzen die Heilige Schrift allen Kirchen gemeinsam ist, und daß die Unterschiede in der Kanonsabgrenzung so wenig tiefgreifend sind, daß sie in den Auseinandersetzungen zwischen den Kirchen keine vordringliche Rolle spielen. Wenngleich die Kirchen in der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition voneinander abweichen und somit der Heiligen Schrift nicht die gleiche normative Stellung zuerkennen, nehmen im Gottesdienst aller Kirchen die Schriftlesungen eine unvergleichlich hervorgehobene Stellung ein. Auch da, wo man die apostolische Überlieferung nicht nur aus der Heiligen Schrift, sondern auch aus der kirchlichen Tradition erheben will, hat die Heilige Schrift den unbestrittenen Vorzug, daß hier die authentischen Worte des apostolischen und urchristlichen Zeugnisses unverändert überliefert worden sind, während die mündliche apostolische Uberlieferung in das kirchliche Leben eingegangen ist, an seinen geschichtlichen Wandlungen teilhat und daraus nicht mehr in ihrem authentischen Wortlaut erhoben werden kann. Im übrigen verbindet die getrennten Kirchen die Tatsache, daß auch dort, wo die Tradition neben der Heiligen Schrift als N o r m anerkannt wird, der Grundsatz gilt, daß zwischen der Heiligen Schrift und der Tradition kein Widerspruch bestehen kann. Dieser Grundsatz der Widerspruchslosigkeit ist von großer Bedeutung gerade auch für das Gespräch zwischen den Reformationskirchen und der römischen Kirche. Er ermöglicht ein weiterreichendes gemeinsames Argumentieren, als der Gegensatz zwischen dem Schrift- und Traditionsprinzip — wie auch immer beide in der gegenwärtigen Theologie modifiziert sein mögen — erwarten läßt. Eine Beliebigkeit der Traditionsinhalte ist durch den Grundsatz der Widerspruchslosigkeit jedenfalls ausgeschlossen, auch wenn er sehr verschiedenen Entfaltungen der Zeugnisse der Heiligen Schrift Raum läßt. So liegt es nahe, beim gegenseitigen Fragen und Sichinfragestellenlassen sich der Heiligen Schrift zu unterstellen, und faktisch hat sie sich im Verlauf der oekumenischen Gespräche der letzten Jahrzehnte überall mehr und mehr als gemeinsame N o r m durchgesetzt. Mit dieser faktischen Anerkennung der Heiligen Schrift als gemeinsamer N o r m aller Kirchen ist die umstrittene grundsätzliche Frage nach der Bedeutung von Tradition und Lehramt neben der Schrift nicht entschieden. Die Frage, ob, in welchem Sinn und inwieweit in der kirchlichen Tradition mündliche apostolische Uberlieferung anzuerkennen ist, bleibt offen und bedarf sehr wohl weiterer Klärung. Aber auch in der Theologie und Dogmengeschichte ging die Klärung der Inhalte des Credo der Besinnung auf den 10

Pesisdirift

Kunst

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Akt des Glaubens und vollends der Klärung der Frage der dogmatischen Prinzipienlehre voraus. Das Christuszeugnis der Heiligen Schrift aber ist klar und überwältigend. So hat sich ergeben, daß die Anerkennung der Heiligen Schrift als faktischer gemeinsamer Norm ein überaus fruchtbares wechselseitiges Fragen, ein neues gegenseitiges Verstehen, ja ein gemeinsames Zeugnis ermöglicht. Auf diese große faktische Bedeutung der Heiligen Schrift hat auch das Oekumenismusdekret des II. Vatikanischen Konzils hingewiesen. Zwar weichen die Kirchen in der grundsätzlichen Bestimmung der Norm voneinander ab, aber es gilt: „Nichtsdestoweniger ist die Heilige Schrift gerade beim (oekumenischen) Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet" (21). Hierbei ist die neuere historisch-kritische Forschung von großer Bedeutung. Denn sie hat in der Heiligen Schrift eine viel größere Mannigfaltigkeit von Ansätzen aufgezeigt, als sie in der einzelnen kirchlichen Tradition zur Auswirkung gekommen sind. So hat sie innerhalb der biblischen Schriften eine viel größere Mannigfaltigkeit der Theologien entdeckt, als dies früheren Zeiten bewußt war. Dieselbe Heilstatsache in Jesus Christus ist in den neutestamentlichen Schriften unter Indienstnahme sehr verschiedener Begrifflichkeiten und Deutungszusammenhänge bezeugt. Wir erkennen daher innerhalb der Heiligen Schrift sehr viel mehr Ansätze zu möglichen dogmatischen Entwicklungen, als den Theologen der getrennten Kirchen bisher vor Augen standen und als auch in der bisherigen Dogmengeschichte faktisch zur Entfaltung gekommen sind. Wir sehen deutlich, daß in den dogmatischen Formulierungen eine auswählende Entscheidung stattgefunden hat, durch die einzelne biblische Begriffe aus einer großen Mannigfaltigkeit hervorgehoben wurden, um diese Mannigfaltigkeit systematisch zusammenzufassen. So ergeben sich unvermeidlich Unterschiede, wenn etwa das Heilshandeln Gottes am Menschen in der Ostkirche mehr unter dem neutestamentlichen Begriff der Heiligung oder in der westlichen Christenheit mehr unter dem Begriff der Rechtfertigung und hier in den Reformationskirchen mehr als Gerechtsprechung oder in der römischen Kirche mehr als Erneuerung präzisiert wird. In ihrem neutestamentlichen Miteinander bezeugen diese verschiedenen Begriffe ein und dasselbe Heilshandeln Gottes, aber in der dogmatischen Bevorzugung eines von ihnen entsteht die Gefahr, daß eine Verengung eintritt und daß die Unterschiede zwischen den dogmatischen

Über die Befreiung der Kirchen zum Dienst an der Welt

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Aussagen schließlich als Unterschiede und Gegensätze im Glauben verstanden werden. Entsprechendes gilt von der Mannigfaltigkeit der Ansätze zur Kirchenordnung, die in den sehr verschiedenen neutestamentlichen Aussagen über Propheten, Lehrer, Vorsteher, Hirten, Bischöfe etc. sowie über das freie Aufbrechen charismatischer Dienste und über die Sendung in den Dienst unter Handauflegung enthalten sind. Auch hier liegen mehr Ansätze vor, als in dem Kirchenrecht der einzelnen Kirchen verwirklicht worden sind. Es muß untersucht werden, in welchen geschichtlichen Fronten diese oder jene Ansätze weiterentwickelt und rechtlich gesichert worden sind. Die mannigfaltigen Ansätze für spätere dogmatische und kirchenrechtliche Entscheidungen finden sich in den neutestamentlichen Schriften nicht in einem zeitlosen Nebeneinander, sondern in ihnen werden geschichtliche Entwicklungen sichtbar, die bereits in der frühen Christenheit stattgefunden haben. Nicht nur der Inhalt der neutestamentlichen Zeugnisse, sondern die geschichtlichen, vorwärtsdrängenden Akte des Bezeugens — auch nicht nur die Ordnungen der Gemeinde, sondern der Vollzug des Dienens, Leitens und Ordnens ist ins Auge zu fassen, und es sind die Grundstrukturen herauszuarbeiten, in denen sich das Leben der Kirche, ihre Anrede Gottes und der Mitmenschen sowie ihr sonstiger Dienst vollzieht. So ergibt sich erst von der Erkenntnis der Grundstrukturen des Gottesdienstes her eine klare Erkenntnis der Einheit verschiedener Liturgien, und erst von der Erkenntnis der Grundstrukturen der theologischen Aussage her kann die Frage der Einheit der dogmatischen Aussagen in einer tieferdringenden Weise in Angriff genommen werden, die sich nicht mit dem Vergleich des bloßen Wortlauts der dogmatischen Formulierungen begnügt. Gehen wir so von der gemeinsamen Grundlage und von der gemeinsamen Zukunft aller Kirchen aus und nicht von dem Besonderen der eigenen Tradition, so werden die verschiedenen kirchlichen Traditionen dadurch nicht beseitigt, wohl aber neu verstanden und füreinander erschlossen. Ein Überspringen der kirchlichen Traditionen ist sowieso nicht möglich, da faktisch jede Kirche — ob mit oder ohne Traditionsprinzip — in einer bestimmten Tradition lebt, und vor allem, da das apostolische Evangelium wesensnotwendig nicht nur als Buchstabe bewahrt, sondern mündlich weiterverkündigt und in neuen Worten in den Wechsel der geschichtlichen Situationen hineingerufen werden muß. Die neutestament10*

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liehen Schriften wären darum nicht wahrhaft als Norm geehrt, wenn man in der Begegnung der getrennten Kirchen all das ablehnen würde, was sich nicht wörtlich in den Zeugnissen und Anordnungen der Bibel aufweisen läßt. Das Wort Gottes ist „ein Licht auf unserem Wege". Wir müssen versuchen, in diesem Licht die Mannigfaltigkeit der Wege der Kirchen durch den Wechsel der Zeiten hindurch neu zu verstehen.

5. Die Überwindung

der Furcht

Prüfen wir uns unter dem Zeugnis der Heiligen Schrift, dann werden wir alle ohne Ausnahme infragegestellt. Wir werden infragegestellt sowohl durch die Warnungen, mit denen der irdische Jesus den Frommen und Gerechten seiner Zeit begegnet ist, und durch das Ende, das sie ihm am Kreuz bereitet haben, als auch durch die Ankündigung des kommenden Christus, der auch die Christen richten wird. Die Sicherheit, mit der wir uns von 'anderen Kirchen abgrenzen, wird erschüttert, und alles Sichrühmen wird zunichte gemacht. „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns" (1. Joh. 1,8). In der Tat hat jede Kirche allen Anlaß zu der Bitte: „Herr, erbarme dich!" Anstatt uns vor den anderen Kirchen und vor dem Verlust der eigenen kirchlichen Sondertradition zu fürchten, sollten wir uns vor dem Tag des Herrn fürchten. Aber Jesu eigentlicher Auftrag war nicht zu richten, sondern zu retten, zu vergeben, zu heilen. Er rief den Frommen, Gerechten, den Reichen und Satten sein Wehe zu, auf daß sie ihre Armut und Sünde erkennten und mit den Sündern, Huren und Zöllnern, mit den Armen, Hungernden und Dürstenden das Heil empfingen. So wird er auch kommen nicht nur als Richter, sondern als der Erlöser. Indem er den Aufruhr der menschlichen Selbstgerechtigkeit niederwirft und beendet, wird er die Elenden, die Armen, die Sehnsüchtigen, die nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden erlösen und alles neu machen. Nicht das Gericht nach den Werken, sondern die Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Jesus Christus ist die eigentliche Botschaft des Evangeliums. Und zwar kündigt das Evangelium den Freispruch im kommenden Gericht nicht nur an, sondern es erklärt und macht die Glaubenden jetzt schon gerecht und gibt ihnen das neue Leben. „So wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und

Ü b e r die B e f r e i u n g der Kirchen z u m D i e n s t an der W e l t

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reinigt uns von aller Untugend" (1. Joh. 1,9). So ist das Letzte nicht die Furcht vor dem Gericht, sondern die Zuversicht, die „Freudigkeit am Tage des Gerichtes" (4,17). Diese Freudigkeit ist denen erschlossen, die in der Buße das verdiente Gericht bejahen und an Jesus Christus glauben, der die Sünde der Welt getragen hat und an der Sünder Statt gerichtet worden ist. Werden durch die Furcht vor dem Gericht die hartgewordenen Grenzen zwischen den Kirchen erschüttert, so werden durch die Freudigkeit am Tage des Gerichts die Herzen weit gemacht für die Liebe, die nicht das Eigene, sondern die Brüder sucht und ihnen im wechselseitigen Sichgeben und Empfangen begegnet. Diese Liebe gründet in Gottes Liebestat, der seinen Sohn für die Welt dahingegeben hat. Sie gründet zugleich in der Zuversicht, die aufgrund dieser Liebestat für die Zukunft erlaubt ist. Von dieser Liebe dürfen wir uns in Buße und Glauben umgriffen wissen. Darum gilt: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus" (1. Joh. 4,18). Wer aber sind die Brüder, die wir lieben sollen? Die Antworten, die die neutestamentlichen Schriften auf diese Frage geben, sind ebenso präzis wie von einer für das heutige Nebeneinander der Kirchen beschämenden Weite: „Niemand kann sagen: H e r r ist Jesus, es sei denn im Heiligen Geist" ( l . K o r . 12,3). „Jeder Geist, der bekennt, daß Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott" (1. Joh. 4,2). „Wer den Sohn bekennt, der hat auch den Vater" (2,23). Selbst über Neid und Zank hinweg konnte Paulus sagen: „Was tuts aber? Wenn nur auf jegliche Weise, sei es aus Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündigt wird, und darüber freue ich mich und werde mich auch ferner freuen" (Phil. 1,18). Gewiß gibt es auch Mißbrauch des Christusnamens, aber größer als solcher Mißbrauch ist der wirkende Christus selbst. Weicht aber die Ängstlichkeit im Verhalten der Kirchen zueinander der Liebe, dann weicht auch die Angst vor der Welt. Wieviel Kraft verschwenden die Kirchen auf die Abgrenzungen voneinander und auf die Auseinandersetzungen miteinander! Die Liebe aber zu den Brüdern befreit zum Dienst an der Welt. H a t Gott die Welt geliebt, so kann die Bruderliebe nicht bei sich bleiben, sondern muß auf die Welt eindringen.

PAUL COLLMER

Der Sozialstaat Eine kritische Bestandsaufnahme

unserer sozial-ökonomischen

Situation

Nach dem Grundgesetz ist unser Staat verpflichtet, sich als sozialer Staat zu verstehen. Der Artikel 20 des Grundgesetzes spricht von einem demokratischen und sozialen Bundesstaat, dem die gesamte Ordnung der Bundesrepublik zu entsprechen hat. In seiner Hoheitsausübung und Rechtsprechung ist dieser Staat an Gesetz und Recht gebunden. Das Grundgesetz ist nicht nur für die als Hoheitsfunktion abzugrenzende Staatssphäre maßgebend, sondern es bestimmt auch die Grundnormen des Zusammenlebens der Staatsbürger, wobei die Menschenwürde, die Freiheit und die Gleichheit bei allen Maßnahmen zu beachten und zu schützen sind. Die Ausübung der Gesetzgebung und der Verwaltung steht nicht nur unter den Geboten der Rechtsstaatlichkeit und der Wertung des Menschen in seiner Personenwürde, sondern auch unter der Sozialverpflichtung der Verfassung. Deshalb soll unser Staat nicht nur ein Rechtsstaat sein, sondern ein sozialer Rechtsstaat. In den vorgegebenen Normen der Verfassung liegt es auch begründet, daß bei der Gestaltung und Beurteilung des Wirtschaftsgeschehens nicht nur von einer freien Wirtschaft bzw. einer „freien Marktwirtschaft" ausgegangen werden kann, sondern von dem Begriff einer „sozialen Marktwirtschaft" ausgegangen werden muß. Was mit diesen Leitbildern jeweils konkret gemeint ist, wie sie also in der Gestaltung des politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Lebens ihre Realisierung finden, das ist die in allen Bereichen auf Grund der zur Entscheidung stehenden Sachverhalte zu lösende Aufgabe. Die Grundnormen unserer Verfassung in den Leitbildern der Freiheit der Person und der Sozialverpflichtung des staatlichen Handelns stehen teilweise in einem Spannungsverhältnis zueinander. Dazu kommt, daß in unserer uneinheitlichen, von verschiedenen geistigen Voraussetzungen aus

Der Sozialstaat

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geprägten Gruppengesellschaft die Leitbilder einer unterschiedlichen Interpretation unterliegen. Dabei ist zu beachten, daß das Grundgesetz soweit eindeutig ist, daß es die rein kollektivistischen und uniformen A u f fassungen ebenso wie die ausgesprochen individualistischen Tendenzen f ü r unsere Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsgestaltung ausschließt. Es bleibt demnach ein Spielraum f ü r differenzierte Lösungen. So geht es nach der umfassenden Aufgabe der Wahrnehmung des Gemeinwohls immer wieder darum, die Gemeinsamkeiten oder die möglichen Kompromisse aufzuzeigen und aufzufinden, nach denen die Sozialverpflichtung der Verfassung in den bestehenden Ordnungen verwirklicht werden kann. Die soziale Bestimmung unseres staatlichen Gemeinwesens schließt ein, ob die Gesamtordnung in allen Bereichen so gestaltet ist, daß sie der erkannten und möglichen sozialen Gerechtigkeit entspricht. Dabei stehen die Einkommensverteilung und Eigentumsbildung immer aufs neue zur Überprüfung. Die nach sozialen Risiko-Tatbeständen zu gewährenden Ausgleichsleistungen sind weitgehend in ihrem Ausmaß von der im Wirtschaftsprozeß sich ergebenden Einkommensverteilung bestimmt. So obliegt dem Sozialstaat sowohl die Daseins-Sicherung für die Vielen als auch die Daseins-Fürsorge für die Einzelnen. Jeder Staatsbürger hat sich durch seine wirtschaftliche Betätigung für die Lebensmöglichkeiten aller und besonders für seine eigene Existenz und die seiner Familie einzusetzen. Wer aber nicht in der Lage ist, an dieser Aufgabe teilzunehmen, dem ist dennoch außer der allgemeinen Sozialverpflichtung auch durch Art. 2 des Grundgesetzes ein „Recht auf Leben" zugestanden. Dieses Recht auf ein menschenwürdiges Leben soll durch den Sozial-Staat und die SozialGesellschaft gesichert werden. Damit ist keine staatliche Versorgung in der Art gemeint, daß der auf Gemeinschaftshilfe angewiesene Mensch bevormundet wird, sondern auch in diesen Zusammenhängen soll die selbstverantwortliche Sphäre als eine der Voraussetzungen des sozialen Rechtsstaates gewahrt bleiben. Die hier vorzunehmenden Überlegungen sollen sich nicht auf die Frage beziehen, ob und inwieweit unsere gesellschaftspolitische Ordnung als solche dem Leitbild der sozialen Verantwortung entspricht. Dann müßte vor allem die Eigentumsbildung in ihrer vielschichtigen Problematik untersucht werden. Hier sollen die sozialen Ausgleichsleistungen in ihrer sozial-ökonomischen Bedeutung behandelt werden. Diese Leistungen werden heute mit dem Begriff der Sozialen Sicherheit bezeichnet. Dabei ist eine umfassende Analyse des jeweiligen komplexen Zusammenhangs

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nicht möglich, sondern es soll eine Übersicht geboten werden, wobei es vor allem um die Tendenzen und Auswirkungen der sozialpolitischen Gesetzgebung geht, die als Gesamtphänomen zu betrachten ist. Die Sozialpolitik ist schon lange kein ausgesonderter Bereich mehr, sondern stellt einen integrierenden Bestandteil der Gesamtpolitik dar und ist weithin bestimmend für die gesellschaftlichen Strukturen. Es kann nicht die A u f g a b e der folgenden Ausführungen sein, die Herkunft vieler gesellschaftspolitischer Vorstellungen und Maßnahmen aus christlicher Tradition, die ja ohne Zweifel auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik wirksam sind, zu erörtern. Es ist auch nicht zu untersuchen, inwieweit der heutigen Christenheit die Sozialpolitik als besondere Aufgabe gestellt ist und ob sie zu der Gestaltung dieses Bereiches noch etwas Wesentliches beitragen kann. N u r das sei betont: auch eine Sozialpolitik, die auf christlichen Erkenntnissen aufbauen will, muß mit einer kritischen Bestandsaufnahme der sozialökonomischen Situation beginnen. J e nüchterner sie das tut, desto besser wird sie das ihr Eigentümliche zur Geltung bringen können. Man wird sagen dürfen, daß in dieser Hinsicht in der sozialpolitischen Diskussion der Kirche bisher zu wenig getan worden ist. Wie immer man auch die geistigen Hintergründe der modernen sozialen Sicherungssysteme deuten mag, es geht soziologisch um den einfachen Tatbestand, daß die Risiken des Daseins nicht mehr von der Groß-Familie, sondern von eigens dafür geschaffenen öffentlichen Institutionen aufgefangen werden. Immer mehr Lebenstatbestände werden in dieses System einbezogen, das der Industriegesellschaft strukturgemäß ist. In der Regel werden durch dieses System, wenn die vorgesehenen Risikotatbestände eingetreten sind, Einkommenshilfen gewährt. Aufgebracht werden die Mittel für diese Leistungen durch Steuern und durch vom Lohn und Gehalt einbehaltene Beträge. Sie alle gehen in den T o p f der sozialen Umverteilung. Jeder zahlt in diese Kasse und erwirbt sich dadurch Versicherungs- und Versorgungsansprüche oder Ausgleichsansprüche für wirtschaftliche Belastungen, wie beispielsweise beim Kindergeld. Auch wenn der Empfänger nicht in direkter Weise zu der Aufbringung der Leistungen herangezogen wird, so ist er immer noch durch seine direkten oder indirekten Steuerzahlungen mittelbar an der Aufbringung auch seiner eigenen Sozialzuwendungen beteiligt. Vielfach liegen zeitliche Verschiebungen vor, so bei den Versicherungsbeiträgen für die Altersversorgung. Aber aufs ganze gesehen ist der Gebende und Nehmende der Sozialleistungen der gleiche Beitrags- und Steuerzahler. Deshalb werden von den Emp-

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fängern der Sozialleistungen diese nicht als „soziale Zuwendungen" angesehen, sondern als Rechts-Leistungen, für die eine entsprechende Vorleistung vorliegt. Ebenso wie Lohn und Gehalt nicht als besondere Zuwendungen angesehen werden, bürgert es sich immer mehr ein, auch die durch soziale Tatbestände ausgelösten Zahlungen als normale und berechtigte Einkommensbezüge zu werten. Nach einer Darstellung in der Schrift „Soziale Umverteilung", die im Auftrage einer Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft von Prof. Achinger herausgegeben wurde, sind im Jahre 1960 80% aller Sozialleistungen von Personen mit einem Brutto-Einkommen bis zu monatlich D M 1000,— durch Beiträge und Steuern aufgebracht worden. So sorgen in unserem Sicherungssystem alle in gegenseitiger Solidarhaftung füreinander und auch jeder für sich selbst. Unter diesen Voraussetzungen ist der Begriff des Wohlfahrts- und Sozialstaates problematisch, und man kann weniger romantisch auch von einem Umverteilungsstaat reden (oder wie immer man diesen Vorgang bezeichnen will). Der Begriff „Sozial" ist in seinem Inhalt vielfach noch aus der Zeit des beginnenden Industrialismus mit seiner Existenzunsicherheit geprägt. Unter den heutigen Voraussetzungen der allgemeinen Wohlstandsentwicklung sind viele sogenannte Sozialleistungen nur eine andere Form der aus dem Arbeitsverhältnis sich ergebenden Vergütungen. Dazu gehören die klassischen Formen der Sozialversicherung für Alter, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit. Abgesehen von den Bundeszuschüssen f ü r die Rentenversicherung geht es hier um eine Art Rückzahlung der eigenen Abgaben, die von der zur Solidarhaftung zusammengeschlossenen Versichertengemeinschaft aufgebracht wurden. Anders ist es bei den als wirtschaftlicher Ausgleich f ü r Familienbelastungen gewährten Leistungen und Steuerermäßigungen, die ausschließlich aus Steuermitteln finanziert werden. Diese Einkommenshilfen sind ein Ausdruck der sozialen Verpflichtung der Gesamtheit für die Kinderfamilie, die ihnen die finanziellen Lasten der Erziehung und Ausbildung erträglich machen sollen. Alle bisher genannten Leistungen werden ohne Bezug auf den finanziellen Status der Empfänger gegeben. Die als Ausgleich gewährten Leistungen für erlittene Schäden im Zusammenhang politischer Ereignisse, wie Kriegsopferversorgung, Wiedergutmachung und Lastenausgleich werden grundsätzlich auch ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Empfängers gegeben, sind aber in ihrer Leistungshöhe vielfach vom sozialen Status abhängig, so daß hier soziale Merkmale eine zusätzliche Beachtung finden. Bei diesen

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Ausgleichsleistungen bleibt allerdings offen, inwieweit dieser Ausgleich der Vorstellung einer sozialen Gerechtigkeit entspricht. Man wird beispielsweise ein bis zwei Prozent Ausgleich des Vermögensschadens der Vertriebenen, der als Lastenausgleich aus der laufenden Produktion bezahlt wird, nicht als eine entsprechende Belastung derjenigen ansehen können, die keinen solchen Schaden erlitten haben. Als soziale Zuwendungen im traditionellen Sinn sind die Leistungen anzusehen, die als Sozialhilfe, als Arbeitslosenhilfe und als Mietbeihilfen gegeben werden und für die bestimmte Einkommensgrenzen vorgeschrieben sind. Die Notwendigkeit der sozialen Zuwendung ist hier einwandfrei gegeben. Aber solche Leistungen sind ein geringer Teil unseres Sozialetats. 1964 betrug der A u f w a n d für die Sozialhilfe insgesamt 2,4 Mrd. Mark; f ü r Mietbeihilfen wurden 1965 nur 145 Mill. D M aufgewandt und als Arbeitslosenhilfe wurden 1963 30 Mill. D M bezahlt. Alle diese für die Existenzbewältigung unmittelbar notwendigen Zuwendungen betragen noch nicht 1 % unseres Netto-Sozialprodukts. Auf die Summe der gesamten Sozialleistungen berechnet, betragen diese Ausgaben nur 4 bis 5 Prozent. Sie sind also in unserem sozialen Sicherungssystem von einer bescheidenen Größenordnung. Die Zuwendungen, die als Sozialleistungen bezeichnet werden, sind in ihrer sozialen Zwecksetzung sehr verschiedenartig und nicht ohne weiteres vergleichbar. Die Leistungen mit einer allgemeinen sozialen Bestimmung sind zu unterscheiden von den Zuwendungen, die infolge der vorhandenen wirtschaftlichen Notlage eine gezielte Hilfeleistung enthalten. In der Zusammenfassung unserer Sozialleistungen ist bei den einzelnen Leistungsarten jeweils zu prüfen, in welcher sozialen Dringlichkeit sie stehen. Es bleibt aber für den gesamten sozialen Leistungsbereich bestehen, daß alle Zuwendungen dieser Art die Aufgabe haben, auch bei Risikotatbeständen einen ausreichenden Lebensstandard zu gewährleisten und soziale N o t zu verhindern. Um den Sozialhaushalt in seinem heutigen Umfang in seinem Verhältnis zur Gesamtwirtschaft beurteilen zu können, ist seine Entwicklung zu veranschaulichen. Vor der Einführung der Bismarckschen Sozialversicherung wurden nicht ganz 2% des Volkseinkommens für soziale Leistungen ausgegeben. Als öffentliche Leistung gab es nur die kommunale Armenunterstützung und eine geringe Belastung durch Versorgungsleistungen für sogenannte Veteranen des Krieges 1870/71. Im Jahre 1964 dagegen wurden 19% des Volkseinkommens als Sozialleistungen durch

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die öffentlichen Kassen bezahlt, insgesamt 60 Milliarden Mark. 1965 betragen die Sozialleistungen 62 Mrd. Mark, und sie werden 1966, vor allem auf Grund der vor der Wahl beschlossenen Gesetze, auf über 65 Mrd. ansteigen. 1950 haben die Sozialausgaben noch 12,7 Mrd. betragen, dies sind 16,5 % des Volkseinkommens. Nicht nur durch die Veränderung des Geldwertes ist der Sozialetat gestiegen, sondern auch in seiner absoluten Größenordnung. Von 1950 bis 1956 beträgt die Steigerung insgesamt nur Yi %, so daß 1956 die Sozialleistungen 17 % des Volkseinkommens ausmachen. Es dauert dann bis 1962, bis der Sozialaufwand 18% beträgt. Zwei Jahre später, also 1964, betragen die Sozialleistungen die schon erwähnten 19% unseres Volkseinkommens. Von den 60 Mrd. Mark Sozialleistungen werden 40 Mrd. Mark aus Beiträgen und 20 Mrd. Mark aus Steuermitteln finanziert. Dieses Drittel, das aus der Bundeskasse gegeben wird, stellt nicht ganz ein Viertel des gesamten Steueraufkommens des Bundes dar. Um die heutige Höhe der Sozialleistungen zu kennzeichnen, sei noch erwähnt, daß 1913 im umfangreicheren Reichsgebiet der Sozialaufwand 1,4 Mrd. betrug, umgerechnet 21 Reichsmark je Einwohner. Für 1964 ergibt sich für die Bundesrepublik die Zahl von etwas über 1000,— D M je Einwohner. Umgerechnet auf die Erwerbstätigen ergeben sich je Person D M 3000—, die jährlich in Form von Steuern und Beiträgen aufgebracht werden. Im Durchschnitt beträgt diese Summe ein Drittel des Einkommens der Arbeitnehmer. Um das Anwachsen der Sozialleistungen zu verdeutlichen, sei an die schon erwähnte Steigerung erinnert, wonach diese vom Jahr 1950 bis 1964 von 12,7 Mrd. auf 60 Mrd. gestiegen ist, also um das Fünffache. Eine weitere Zahl für den gleichen Zeitraum: die Einnahmen der Pflichtkrankenkassen sind von 2,4 Mrd. auf 14,3 Mrd. gestiegen und die Ausgaben von 2,3 Mrd. auf 13,8 Milliarden. Auch diese Zahlen ergeben eine 500prozentige Steigerung. Vergleicht man die Steigerungen der Sozialleistungen der letzten Jahre mit dem Wachstum des Sozialprodukts, also mit dem Gesamtergebnis der Volkswirtschaft, so ergibt sich f ü r die letzten Jahre ein höheres Steigen der Sozialleistungen gegenüber der allgemeinen Wachstumsrate. Jeweils zum Vorjahr gerechnet, stiegen die Sozialleistungen

1962 1963 1964 1965

um 9,1 v. um 7,2 v. um 13,1 v. um 9,0 v.

H. H. H . und H.,

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insgesamt um 38,4 v. H . Die Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts stiegen 1962 um 8,8 v. H . 1963 um 6,2 v. H . 1964 um 9,0 v. H . und 1965 um 8,0 v. H., also insgesamt um 32 v. H., so daß die Sozialleistungen in diesen vier Jahren um 6,7 % mehr als die Wachstumsrate unserer Volkswirtschaft gestiegen sind. Nach ihrem Ausmaß und ihrer Höhe sind die Sozialleistungen beachtlich. Wenn bei der Steigerung des allgemeinen Wohlstandes auch die Sozialleistungen steigen, so zeigt auch dieser Tatbestand, daß die Sozialleistungen zu einem Einkommenstatbestand für jedermann geworden sind. Dieser Sachverhalt zeigt sich auch in der Zahl der Empfänger von Sozialleistungen. Aus dem Sozialversicherungssektor erhalten 8,5 Mill. und aus dem Versorgungssektor 2,9 Mill. Menschen Leistungen. Dazu kommen noch aus anderen Bereichen nahezu 1 Million Menschen, so daß man auf eine Größenordnung von 12,4 Mill. Menschen kommt (die Empfänger von Kindergeld sind hier nicht dazu gerechnet, ebenso nicht die Empfänger des Lastenausgleichs). Wenn vorher gesagt wurde, daß die Sozialleistungen 19 v. H . des Volkseinkommens betragen, so können wir nun feststellen, daß die Empfänger dieser Sozialleistungen 21 v. H . der Bevölkerung ausmachen. Die Höhe der Sozialleistungen und die Zahl der Empfänger stehen demnach in einem sich entsprechenden Verhältnis. Unser Sozialleistungssystem steht, sowohl was die Belastungen für die Erwerbstätigen als auch die Höhe der Leistungen anbelangt, an der Spitze aller Staaten. Allgemein ist man der Auffassung, daß in der Bundesrepublik die Abgabenbelastungen für Sozialleistungen und Steuern ein Höchstmaß erreicht haben. Vergleicht man unsere Sozialleistungen mit anderen Industriestaaten, so bestätigt sich, daß wir seit langem schon die erwähnte Spitzenstellung einnehmen. Es sei der frühere Bundesarbeitsminister Blank zitiert, in dessen im Sommer 1965 erschienenen Bericht über das Bundesarbeitsministerium folgender Satz steht: „Angesichts des riesigen Volumens unserer Sozialleistungen ist es keine Uberbetonung, wenn man von der Bundesrepublik als einem wahren sozialen Giganten spricht." Und auf dem Bundesparteitag 1964 der C D U in Düsseldorf betonte er, daß wir das beste soziale Sicherungssystem der Welt haben.

Der Sozialstaat

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Zum Vergleich sei erwähnt, daß in der Reihenfolge der sozialen Umverteilung nach uns Frankreich und Österreich kommen. Das bei uns als Wohlfahrtsstaat je nachdem gepriesene oder verlästerte Schweden gibt nur 12,5% seines Volkseinkommens für Sozialleistungen aus; England nur 11,2 Prozent. Diese Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1957. Aber auch heute noch liegen diese beiden Staaten erheblich unter unseren Sozialleistungen. Ehe sich bei uns der Begriff „Wohlfahrtsstaat" eingebürgert hatte, wurden England und Schweden in abwertender Weise so bezeichnet, und heute spricht man von ihnen als „Versorgungsstaat" und meint, sich von ihnen noch dadurch abgrenzen zu können. Jedes Sozialsystem in einer von der Industrie bestimmten Gesellschaft bezieht sich in seinen Leistungen für das Alter, die Krankheit oder die Kinderfamilie jeweils auf die Gesamtbevölkerung, ganz gleich, ob davon noch geringfügige Teile ausgenommen sind. Das englische und schwedische Sicherungssystem bezieht alle Staatsbürger ein, gewährt aber beispielsweise in der Altersversorgung nur eine minimale Grundsicherung, die etwas über unseren Fürsorgeleistungen liegt. Auch kennt Schweden in der Abdeckung des Krankheitsrisikos eine nicht unerhebliche finanzielle Kostenbeteiligung der Leistungsempfänger. Im Vergleich zu diesen beiden Staaten ist unser System nicht so einheitlich konzipiert, und unsere Leistungen sind mehr und mehr nach dem Vorbild der Beamtenversorgung auf eine Vollversorgung abgestellt. Der Spielraum für die Eigenverantwortung und die Notwendigkeit für die Eigenvorsorge sind in England und Schweden größer als bei uns. Es sei auch erwähnt, daß 1963 in Schweden pro Kopf der Bevölkerung sich eine Lebensversicherungssumme mit 9970,— D M ergibt, während die vergleichbare Zahl für Deutschland 1720,— D M beträgt. Es ist jedenfalls fragwürdig, wenn man den Wohlfahrtsstaat vom Versorgungsstaat dadurch abgrenzen will, in welchem Umfange die Staatsbürger in eine Sicherungsregelung einbezogen sind. Auch die Abgrenzung nach Aufbringung der Mittel ist nicht möglich. In allen Industriestaaten werden für die Sozialleistungen die Mittel durch Steuern und durch steuerähnliche Zwangsbeiträge aufgebracht. Diese Beiträge haben gegenüber den Steuern lediglich den Vorteil, daß sie psychologisch noch stärker als eigene Leistungen gewertet werden. Beide Formen gehen zu Lasten des persönlich verfügbaren Einkommens. So oder so geht es um die Umverteilung, die im Endergebnis aus dem laufenden Sozialprodukt kommt und die bestimmte Teile dem persönlich verfügbaren Einkommen

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entzieht und sie öffentlichen Kassen zuleitet, die diese Gelder nach bestimmten sozialen Tatbeständen neu verteilen. Aus mancherlei Gründen wird man heute davon ausgehen müssen, daß eine weitere Steigerung der sozialen Leistungen nur in bedingter Weise möglich ist, zumal es schon schwierig sein wird, den erreichten hohen sozialpolitischen Status zu erhalten. Es ist bekannt, daß die Zahl der Erwerbstätigen in den kommenden Jahren nur geringfügig zunimmt, zusehends aber die Alterslast sich vergrößert. Man rechnet in den kommenden 15 Jahren mit einem Zuwachs der Pflichtversicherten um 5,6 Prozent. In der gleichen Zeit werden die Rentenempfänger um 3 1 , 4 % zunehmen. Während heute auf drei Erwerbstätige ein Rentner kommt, wird dann auf zwei Erwerbstätige ein Rentner kommen. Nachdem schon nahezu alle Erwerbstätigen dem Kreis der Pflichtversicherten angehören, wächst die Forderung auch bei den bisher nicht versicherungspflichtigen Personen, ihnen die Sozialversicherung zu öffnen und sie unter gleichen Beitragssätzen, wie sie vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgebracht werden, an den Leistungen der Zwangsversicherung und damit an der steigenden Produktivitätsrente und den für die Sozialversicherung gegebenen Staatszuschüssen teilnehmen zu lassen. Man wird in diesem Wunsch nicht nur das Verlangen nach sozialer Sicherheit zu erkennen haben, sondern auch eine Bejahung des Staates als letzten Sorgeträgers, der vor allem in Krisenzeiten mehr Garantien für die Existenzgrundlage gibt als jede andere Einrichtung bzw. die Selbstvorsorge. Ebenso wie der öffentliche Dienst haben auch Großfirmen vielfach Zusatzversicherungen für ihre Beschäftigten abgeschlossen, so daß heute in der Bundesrepublik die Voraussetzungen für eine beamtenähnliche Versorgung immer umfangreicher werden. Was die Rentenversicherung so erstrebenswert macht, ist die Einführung der sogenannten Produktivitätsrente, nach der die Rentenleistungen gemäß der Entwicklung des Durchschnitts-Verdienstes aller Versicherten berechnet werden. J e nach der Entwicklung des Lohnniveaus steigen auch die Renten. Bei 40 Arbeitsjahren soll sidh dabei eine Rente von 60 v. H. des zuletzt bezogenen Bruttoverdienstes ergeben, was ungefähr 70 bis 80 v. H . des Nettoverdienstes ausmacht. Wer vorzeitig durch Erwerbsminderung ausscheidet, soll durch sogenannte Zurechnungszeiten eine ausreichende Rentenhöhe erreichen. Diese Rentenreform hat die Sozialversicherung in die Nähe der Beamtenversorgung gerückt. Jedenfalls sollte der Rentner am Fortschritt und Wachstum des Sozialprodukts

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unmittelbar beteiligt werden. Infolge dieser Berechnungsweise sind die Renten seit 1957 bis 1966 um 65 % gestiegen. Allerdings ist hier anzumerken, daß die Rentenerhöhungen heute weithin als Ausgleich der Preissteigerungen anzusehen sind und insofern die ursprüngliche Konzeption einer Beteiligung der Rentner am volkswirtschaftlichen Wachstum beeinträchtigt ist. Zu den ungelösten und bisher nicht bewältigten Fragen der weiteren Gestaltung der sozialen Sicherung gehört die jeweilige Erhöhung der Sozialleistungen, die bei dem sich verändernden Geldwert zu einem grundsätzlichen Problem geworden ist. Die für die Rentenversicherung vorgesehene Systematik der dynamischen Berechnung ist auch für die Unfallversicherung übernommen worden. Sie fehlt noch bei der Kriegsopferversorgung und bei den anderen sozialen Leistungsgesetzen. Audi ist die gegenseitige Anrechnung von Sozialleistungen eine zusätzliche Erschwerung, denn was die eine Leistungsart mehr gibt, wird bei einer anderen Leistungsart angerechnet, so daß sich f ü r diese Empfänger keine oder nur eine verspätete Erhöhung ergibt. Vor allem wird man die Empfänger solcher Kriegsopferrenten, die in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit so geschädigt sind wie die Empfänger von Unfallrenten, auf die Dauer von der dynamischen Anpassung ihrer Bezüge nicht ausschließen können. Dazu gehören auch die Kriegerwitwen, die für die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes vorwiegend auf ihren Rentenbezug angewiesen sind. Man wird die neuen Belastungen aus einer solchen Gleichstellung aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und auch in Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes des Grundgesetzes bejahen müssen. In der industriellen Ordnung ist ein solches System unentbehrlich, das in Zeiten ohne Arbeitsverdienst durch Sozialeinkünfte den erreichten Lebensstandard einigermaßen sichert, vor allem im Alter und für die Hinterbliebenen bei Tod des Ernährers. Auch die Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Wiederherstellung der angeschlagenen Leistungsfähigkeit müssen als integrierender Bestandteil eines solchen Sicherungssystems verstanden und bejaht werden. Doch ist die Frage der Grenze der finanziellen Belastung des Sozialhaushaltes sowohl nach der persönlichen als auch nach der volkswirtschaftlichen Seite hin als offenes Problem anzusehen. Und damit ist auch nach der Art und dem Ausmaß der staatlichen Daseins-Vorsorge zu fragen. Ist es für die industrielle Lebensform zwangsläufig, daß die Risikobewältigung sozialer Tatbestände nur in kollektiver Weise gegeben werden kann oder besteht auch für

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den sozialen Bereich die Möglichkeit, die Selbstverantwortung und Mündigkeit des einzelnen Staatsbürgers ebenso zu bejahen wie sie sonst die Grundlage unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Wirtschaftsform ist? Der frühere Bundesarbeitsminister Blank sagt in dem Tätigkeitsbericht der Bundesregierung 1964: „Moderne Sozialpolitik kann ihr Ziel nicht darin sehen, den einzelnen gegen sämtliche Lebensrisiken abzusichern. Sie muß vielmehr darauf bedacht sein, ihm möglichst viel persönliche Freiheit zu belassen. Sie muß die Voraussetzungen schaffen, die dem Menschen die Entfaltung seiner persönlichen Kräfte gestatten. Solches eigenverantwortliche Denken und Handeln entspricht seiner Freiheit und Würde, die zu wahren die eigentliche Aufgabe unserer Politik ist." Jedenfalls bleibt bei der heutigen Abgabenbelastung für eine eigenverantwortliche Sicherung der Lebensrisiken so gut wie kein Spielraum. Bei der heutigen Einkommensentwicklung und in Verbindung mit Maßnahmen einer breiter gestreuten Eigentumsbildung sollte es möglich sein, eine gewisse Einschränkung der allgemeinen Daseins-Vorsorge zu Gunsten der Eigenbewältigung wenigstens bei kurzfristigen sozialen Risiken (Krankheit) herbeizuführen. So könnte an ein gemischtes System von staatlicher Grundsicherung und eigenverantwortlicher Ergänzung gedacht werden. Auch bei den langfristigen Risiken könnte man eine staatliche Grundsicherung und eine Zusatzsicherung unterscheiden und die letztere bei einem Nachweis eigener Vorsorge wegfallen lassen bzw. dem Versicherten eine Mitverfügung über die angewachsenen Beiträge der Zusatzsicherung einräumen. Voraussetzung einer Mitverfügung ist die Verwendung der Gelder für eine in der Richtung der Bewältigung des betreffenden Risikos liegende Bestimmung, z. B. für den Hausbau als Sicherung für das Alter. Es ist die Aufgabe der Zukunft, eine grundsätzliche Neuordnung der sozialen Sicherungspolitik in Anpassung an die geänderten Lebensbedingungen vorzusehen und dabei für die Bewältigung der sozialen Risikotatbestände die Eigenverantwortung und die solidarische Gemeinschaftshilfe in sinnvoller Weise zu verbinden. Zu dieser Uberprüfung der bisherigen Methoden zwingt auch die Anspruchshaltung der Interessengruppen unserer Gesellschaft, die es immer besser verstehen, ihre Eigeninteressen als in voller Übereinstimmung mit dem Gesamtwohl stehend auszugeben. Die Aufgabe einer grundsätzlichen Neukonzeption der Sozialgesetzgebung wird seit Anfang der fünfziger Jahre unter dem Begriff der „Sozialreform" diskutiert. Außer Teilergebnissen, wie die schon erwähnte

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Einführung der Produktivitätsrente, hatten alle entsprechenden Vorschläge für eine Neugestaltung der Sozialgesetzgebung keine politische Resonanz. Es wurden verschiedene Gesamtkonzeptionen vorgelegt, genannt sei nur die Rothenfelser Denkschrift der vier Professoren, die auch vorgeschlagen haben, das gesamte Sozialrecht in ein einheitliches Gesetzeswerk, in eine Art Soziales Grundgesetz, zusammenzufassen. Eine in sich abgestimmte Gesamtkonzeption, welche die bestehenden Leistungen systematisch ordnet, ist auch vor Jahren von der SPD vorgelegt worden. Altbundeskanzler Adenauer hat im September 1965 in der Zeitschrift „Die politische Meinung" in einem Aufsatz von Mängeln unseres sozialen Leistungssystems gesprochen und eine „vereinheitlichte und vereinfachte Sozialgesetzgebung" gefordert. Auch der vom früheren Arbeitsminister Blank propagierte Stilwandel in der Sozialgesetzgebung hat keine gesetzgeberische Verwirklichung gefunden. Bundeskanzler Erhard hat in seiner Regierungserklärung vom 18. 10. 1963 das Thema aufs neue aufgenommen und gesagt: „Eine gründliche Durchleuchtung der heutigen Sozialgesetzgebung ist unabdingbar geworden. Darum wird die Bundesregierung unverzüglich die Durchführung einer Sozialenquete veranlassen, die die Grundlage dafür bilden soll, die sozialen Leistungen und Maßnahmen in ihrer Ganzheit und in ihren gegenwärtigen Beziehungen überschaubar zu machen." Die 1964 eingesetzten sieben Professoren für die Erarbeitung dieser Sozialenquete werden ihren Bericht im Sommer 1966 veröffentlichen, und es bleibt dann abzuwarten, welche gesetzgeberischen Konsequenzen die Bundesregierung ziehen wird. Schon die Tatsache, daß sechs Bundesministerien für die sozialpolitischen Gesetze zuständig sind, begünstigt isolierte Regelungen, und dadurch wird der Gesamtbereich der sozialen Sicherungspolitik immer mehr zu einer Angelegenheit der Experten und Sozialtechniker. Es geht um die Entwicklung einer Strategie der Sozialpolitik, die der freien Gesellschaft des 20. Jahrhunderts entspricht. Ohne ein gesellschaftliches Ordnungsbild wird es nicht möglich sein, den sozialen Umverteilungsprozeß so zu gestalten, daß er sowohl der sozialen Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl als auch den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten entspricht. Will man die gesamten Sozialleistungen der Bundesrepublik einer Beurteilung unterziehen, so darf man sich nicht auf die bisher behandelten Leistungen der Sozialen Sicherheit beschränken. Um den gesamten Umfang der nach sozialen Tatbeständen und Merkmalen gewährten Zuwendungen zu übersehen, sind noch eine Reihe von Maßnahmen zu 11

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erwähnen. In dieser Darstellung können diese nur summarisch genannt werden, nur bei einzelnen Leistungen soll nach der Berechtigung und den sonstigen Zusammenhängen gefragt werden. Zunächst sind die betrieblichen Sozialleistungen in ihrer vielfältigen Form zu nennen. Die zugesagten Pensionszahlungen der betrieblichen Altersversorgung werden mit 25 Mrd. angegeben und der Kontostand dieser Kassen mit 18 Mrd. Mark. Die jährlichen Zahlungen, die als Alters- und Unterstützungsgeld gegeben wurden, betrugen 1957 schon 1 Mrd. Mark. Im gleichen Jahr wurden für Wohnungshilfen, für Gesundheitsdienst und für sonstigen Sozialaufwand 950 Mill. gegeben, so daß 1957 der betriebliche Sozialaufwand mit annähernd 2 Mrd. Mark zu veranschlagen ist. Den von der Wirtschaft gegebenen zusätzlichen Sozialleistungen entsprechen die Sozialbeihilfen für Beamte, die als Rechtsanspruch gewährt werden und die 1963 ohne Bundesbahn und Bundespost (die ebenfalls diese Beihilfen gewähren) 750 Mill. betragen haben. Bei einer Gehaltssumme von 17 Mrd. sind das zusätzlich nahezu 5 Prozent. Vielfach wird auch die Beamtenpension als Sozialleistung betrachtet. Die Verpflichtungen allein des Bundes für die Versorgungslasten betragen 3, 3 Mrd. Mark im Jahre 1966. Weiter zu nennen sind die Ausbildungsbeihilfen, die durch Betriebe oder die öffentliche Hand gegeben werden. Zu erwähnen sind auch die in Verbindung mit Lohn und Gehalt gezahlten Kindergelder. So wird in mannigfacher Weise das Leistungsentgelt in der Wirtschaft und in den Verwaltungen aufgestockt durch Zahlungen im Zusammenhang des Familientatbestandes. In besonderer Weise werden die Familienbelastungen bei der Steuerzahlung berücksichtigt. Die über die Steuerermäßigungen aus sozialen Gründen gewährten Nachlässe sind zahlenmäßig in ihrer Gesamtheit nicht erfaßt. Es gibt nur einzelne Angaben; so haben 1965 die Steuernachlässe für Kriegsgeschädigte 240 Mill. betragen. In den als Subventionen gekennzeichneten Leistungen werden nicht nur Beiträge für Wirtschaftsförderung und Strukturverbesserung gegeben, sondern auch Leistungen sozialen Charakters. Soweit Subventionen als Umstellungs- und Anpassungsbeihilfen vorübergehend gewährt werden, sind sie legitime Instrumente der Wirtschaftspolitik. Sofern sie aber Einkommenshilfen darstellen und auf längere Dauer gegeben werden, sind solche Zuwendungen als Sozialleistungen zu werten. Die Höhe der Subventionen des Bundes erreichte 1965 den Betrag von 15 Mrd. Mark. Da-

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von erhielten allerdings die Sozialversicherungen 7,6 Mrd. Mark, die im allgemeinen Sozialhaushalt enthalten und auch ein Bestandteil der vorher schon genannten Zahlen sind. Von den Sozialversicherungsorganen werden diese Zuwendungen aus Steuermitteln nicht als „Subventionen" angesehen, sondern als Ausgleich der Vermögensverluste durch zwei Weltkriege, Inflation und Geldentwertung. Man wird diese Argumente nicht überzeugend finden, denn sonst müßte der Staat ja auch anderen Institutionen und Personen die aus den gleichen Ursachen entstandenen Verluste durch laufende Zahlungen ausgleichen. Nach der Sozialversicherung sind an den Subventionen die Landwirtschaft, die gewerbliche Wirtschaft und der Wohnungsbau beteiligt. Die Beihilfen für die Landwirtschaft und den Wohnungsbau enthalten mancherlei verdeckte Sozialleistungen. Auch in den Subventionen des Verkehrswesens (1965 waren es 448 Mill. Mark) sind Zuwendungen sozialer Art enthalten. Hauptempfänger der Verkehrssubventionen ist die Bundesbahn, deren Defizit auch dadurch zustande kommt, daß sie Fahrpreisermäßigungen nach sozialen Gesichtspunkten gibt. So wird die Bundesbahn durch ihre Sozialtarife zu einem Gehilfen für die Durchführung des Familienlastenausgleichs und sonstiger sozialer Maßnahmen. Zu erwähnen sind noch die Zuwendungen für den Bergbau. Die Aufwendungen für die verbesserten sozialen Beihilfen an Bergleute werden auf jährlich 33 Mill. geschätzt. Die Hälfte trägt der Bund, die andere Hälfte die Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl). Zu diesen Leistungen gehören Trennungsentschädigung, Familienheimfahrten, Umschulungsbeihilfen, Anlernzuschüsse, Lohnbeihilfen, Wartegeld und Übergangsbeihilfen sowie Abfindungen. Die Subventionen für das Wohnungswesen kommen vor allem dem sozialen Wohnungsbau zugute. 1966 steht dafür ein Betrag von 529 Mill. zur Verfügung. Seit 1951 wurden 9 Mill. Wohnungen gebaut, eine Bauleistung von 200 Mrd. Mark, an der die öffentliche H a n d mit 50 Mrd. Mark Darlehen und Zuschüssen beteiligt war. Durch die öffentlichen Wohnungsbauförderungsmittel sind die Mieten im sozialen Wohnungsbau sehr verbilligt. Wer als Mieter das Glück hat, eine solche Wohnung zu bekommen, hat durch die geringe Miete eine ständige Sozialleistung der öffentlichen H a n d , die vielfach einer Einkommenssteigerung von 10—20 Prozent entspricht. Das ergibt sich aus dem Unterschied des Mietpreises, der im sozialen Wohnungsbau pro qm D M 2,40 und weniger beträgt, während für die freifinanzierten Wohnungen der doppelte bis li»

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dreifache Betrag zu bezahlen ist. Auch die Mieter einer Altbauwohnung sind noch durch billige Mieten begünstigt, die aber zu Lasten der Hausbesitzer gehen. Der Mieter einer freifinanzierten Wohnung hat nicht nur durch seine hohe Miete erheblich höhere Lebenshaltungskosten, er muß auch durch seine Steuerzahlungen zur Finanzierung der billigen Mieten im sozialen Wohnungsbau mit beitragen. Es bleibt mehr als ein Schönheitsfehler, daß die Belegung von 4,5 Mill. Sozialwohnungen nicht ausschließlich oder doch vorwiegend den sozial Schwachen zukommt, und der Gesetzgeber keine Handhabe zur Korrektur der Belegung von Anfang an vorgesehen hat. (Bremen zahlt 4 bis 5000,— D M Prämie für die Räumung einer Sozialwohnung.) Vor allem ist es zu bedauern, daß die Sozial-Wohnungen heute nicht den jung verheirateten Ehepaaren angeboten werden können. Diese sind vielfach auf die freifinanzierten Wohnungen angewiesen und dadurch in den Aufbaujahren ihrer Ehe finanziell ungebührlich belastet. Hier liegt ein Tatbestand vor, der sich mit den Intentionen des Sozialstaates nicht vereinbaren läßt. Dies alles ändert nichts an der Feststellung, daß der Wohnungsbau nach 1945 eine epochale Leistung darstellt und als eine soziale Großtat angesprochen werden muß. Für 1965 sind unter den Subventionen für die Landwirtschaft 4Mrd. vorgesehen. Der Betrag der Steuerbefreiung für die Landwirtschaft ist mit 750 Mill. errechnet. Für die nächsten Jahre ist zunächst eine jährliche Steigerung der Agrarsubventionen mit 1,5 Mrd. jährlich in Aussicht gestellt. Die Verkaufserlöse der Landwirtschaft haben 1962 insgesamt 22 Mrd. betragen und dürften infolge der inzwischen erfolgten Preissteigerungen heute ca. 25 Mrd. ausmachen. 5 Mrd. Subventionen sind 20 %, die zu diesem Erlös von der Allgemeinheit hinzugegeben werden. Die der Landwirtschaft in vielerlei Form gegebenen Zuwendungen haben ihren Ausgangspunkt in der Sonderstellung dieses Erwerbszweiges in einem durch die Industrie geprägten Staatsgebilde. Maßnahmen, die der Förderung der Betriebs- und Marktstruktur und der Rationalisierung der Landwirtschaft dienen und die nicht auf die Dauer, sondern als Hilfe zur Umstellung gegeben werden, sind als Steigerung der Wirtschaftlichkeit voll gerechtfertigt. Aber Zahlungen, die als Ausgleich der Einkommensminderung der Landwirtschaft bzw. als Ausgleich zwischen dem Verdienst in der Landwirtschaft im Vergleich zur Industrie gegeben werden, sind Einkommenshilfen und können durchaus als Sozialunterstützungen gekennzeichnet werden. Diese Art der Zuwendungen ist unter den Sub-

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ventionen f ü r die Landwirtschaft vielfach vertreten. In der Kategorie der sozialen Risiken ist demnach das berufliche Tätigsein in einem weniger rentablen Wirtschaftszweig ein neuer Tatbestand, der die Allgemeinheit zu Sozialleistungen verpflichtet, in diesem Fall zumeist auch ohne Prüfung der individuellen Verhältnisse. Es bleibt in diesem Zusammenhang nur noch festzustellen, daß es etwas merkwürdig ist, wenn der Landkreistag bei der Neugestaltung des Fürsorgerechts, also beim Sozialhilfegesetz, sich gegen eine finanzielle Anpassung der Leistungen dieses Gesetzes aus „moralischen Bedenken" ausgesprochen hat. Offenbar werden Subventionszuwendungen, bei denen die individuelle Bedürftigkeit beim Empfänger nicht geprüft wird, als moralisch gerechtfertigtes Einkommen angesehen, während die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialhilfegesetz, die eine Einkommensprüfung voraussetzt, als moralisch bedenklich betrachtet wird. Auch die Länder geben Subventionen, allerdings nur in Höhe von 2,85 Mrd. (im Jahre 1966). O b und in welchem Umfang auch hier Zuwendungen sozialer Art enthalten sind, müßte nach dem Verwendungszweck der Subventionen in den Haushaltsgesetzen der Länder festgestellt werden. Die Länder geben auch Mittel f ü r soziale Aufgaben in unmittelbarer Weise. Dabei sind besonders Beihilfen und Darlehen für Krankenhausbauten, Altenheime, Wohnheime und Altenwohnungen zu erwähnen. Schließlich sind noch die sozialen Zuwendungen zu nennen, die von den Kommunen unabhängig von ihren gesetzlichen Verpflichtungen als Sozialhilfeträger gegeben werden. Um die Größenordnung dieses besonderen kommunalen Sozialaufwandes festzustellen, müßten entsprechende Untersuchungen vorgenommen werden. Gegenüber den Bundesausgaben für die sozialen Leistungen sind die entsprechenden Aufwendungen der Länder und der Kommunalkörperschaften gering, sie stellen aber in einer Sozialbilanz der Bundesrepublik doch einen beachtlichen Posten dar. Eine besondere Aufgabe innerhalb des Sozialbereichs ist die Errichtung und Unterhaltung der Krankenhäuser. Die Krankenhausträger sehen es als ihre Verpflichtung an, ihre Einrichtungen dem Fortschritt der Medizin anzupassen und diese auch sonst so zu gestalten, daß für die Patienten im Krankenhaus alle Voraussetzungen zur Gesundung gegeben sind. In den Jahren 1950 bis 1963 wurden in der Bundesrepublik insgesamt ca. 150 000 Betten neu geschaffen, das ist nahezu % des gesamten Bettenbestandes (615 685 Betten in 3644 Krankenhäusern). Dazu kommt eine große Zahl zwar nicht neu errichteter, aber infolge Moderni-

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sierung der Krankenhäuser doch neuwertiger Betten. Insgesamt wurden in den Jahren 1950 bis 1963 für Krankenhäuser Investitionen von 4,5 Mrd. vorgenommen; allein 1963 betrugen diese Aufwendungen 735 Mill. Mark. (Die Zahlen sind der Schrift „Sozialinvestitionen in der Bundesrepublik", Köln 1965, S. 24, entnommen.) Ein erheblicher Teil dieser Gelder ist durch die Länder und Kommunen unmittelbar zur Verfügung gestellt worden, stellt also keine Belastung des Pflegesatzes dar. Ohne Berücksichtigung der Zuschüsse würde sich in den neuen Krankenhäusern in den unteren Klassen ein Pflegesatz von 50—60 D M ergeben. Die tatsächlich bezahlten Pflegesätze liegen in etwa um die Hälfte niedriger. Vielfach werden den Krankenhäusern die nach Abzug der öffentlichen Zuschüsse noch verbleibenden tatsächlichen Selbstkosten nicht voll vergütet, sondern die Preisbildungsstellen setzen darunter liegende Sätze fest. Die zur Deckung dieses Betriebsabmangels für die kommunalen Krankenhäuser aus Steuermitteln der Gemeinden aufzubringende Summe betrug 1963 rund 750 Mill. Mark. Bei den freigemeinnützigen Krankenhäusern betrug die entsprechende Summe 250 Mill. (sie verfügen über 37 % der Betten = 227 257 Betten). Die Patienten erhalten aus diesen Gründen die Leistungen zu einem um ca. 15 % unter den Selbstkosten liegenden Preis. Der zusätzlich von den Krankenhäusern aufzubringende Betrag von 1 Mrd. jährlich stellt eine Sondersteuer dar, die den Trägern der Krankenhäuser auferlegt ist. Die kommunalen Krankenhausträger wälzen diese Last auf die kommunale Steuerkasse ab. D a ein großer Teil der Steuern aus den Verbrauchssteuern kommt, zahlen die Beitragszahler der Krankenkassen in dieser versteckten Form doch die dem Krankenhaus entstandenen Selbstkosten. Besonders ungünstig sind aber die freigemeinnützigen Krankenhäuser gestellt, die eine Abwälzung dieser ihnen auferlegten Kosten auf eine öffentliche Kasse nicht vornehmen können. Dieser Sachverhalt zeigt sich bei ihnen in einem erhöhten Schuldenstand. Schon bisher haben die freigemeinnützigen Krankenhäuser diese Last nur durch die in ihnen tätigen Dienstgemeinschaften der kirchlichen Schwesternverbände bewältigen können, da diese ihre Leistungen nicht „marktgerecht" vergütet erhalten. Ob die freigemeinnützigen Krankenhäuser diese Sonderbelastung noch lange durchhalten können, ist eine offene Frage. Dieser Verlust aus den ungenügenden Pflegesätzen geht so lange zu Lasten der Substanz der Häuser, bis diese aufgezehrt ist. Es ist ein grotesker Sachverhalt, daß Einrichtungen, die soziale und gesundheitliche Maßnahmen durchführen, für

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diese Leistungen selbst einen Teil aus ihren eigenen — und nicht vorhandenen Mitteln — bezahlen sollen. Für den Sozialstaat und die Wohlstandsgesellschaft ist das Ausnahmerecht, unter dem die freigemeinnützigen Krankenhäuser arbeiten, nicht in Ubereinstimmung mit den sonst vertretenen sozial- und gesellschaftspolitischen Grundsätzen zu bringen. Das Bild über den Umfang der sozialen Leistungen in der Bundesrepublik wäre unvollständig, ohne die Arbeit der freien Wohlfahrtsverbände zu würdigen. Ihre Tätigkeit ist sehr vielseitig und erstreckt sich auf alle Arbeitsformen des sozialen Bereichs. Allein auf dem Sektor der Heime und Anstalten verfügen sie in 10 690 Einrichtungen über insgesamt 765 302 Betten (die schon erwähnten Krankenhausbetten der freigemeinnützigen Träger sind hier mitgezählt, aber es bleiben noch über 500 000 Betten für die sonstigen Heime und Anstalten). Dazu kommen zahlreiche Dienststellen für die offene fürsorgerische Arbeit und soziale Beratung. Bei den kirchlichen Verbänden liegt ein weiterer Schwerpunkt in den Gemeindekrankenpflegestationen. Audi zahlreiche soziale Ausbildungsstätten werden von den freien Verbänden getragen. Ihre Bedeutung liegt heute darin, daß sie bei dem großen Mangel an Menschen, die in den fürsorgerischen, erzieherischen und pflegerischen Berufen tätig sind, aus ihrem jeweiligen Bereich Menschen für die Bewältigung der sozialen Aufgaben zur Verfügung stellen und dadurch einen wertvollen gesellschaftlichen Dienst leisten. Zum anderen sollen die freien Verbände aus ihrer jeweiligen Eigen- und Sonderart für die Menschen da sein, die im sozialen Bereich ihre Hilfe und ihren Dienst suchen. So sind die Wohlfahrtsverbände als Partner der öffentlichen H a n d in vielfacher Weise an der Bewältigung der heute gestellten sozialen Aufgaben beteiligt. Ihre Tätigkeit ist vor allem im Bereich des Sozial- und Jugendhilfegesetzes unentbehrlich. Nicht für alle, aber für viele Aufgaben, die sie durchführen, bekommen sie eine finanzielle Gegenleistung. Es liegt im Selbstverständnis dieser Verbände, daß sie auch im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Durchführung ihrer Arbeit Eigenmittel bereitstellen. Eine Zahlenangabe über die Gesamtleistung der Wohlfahrtsverbände ist nicht möglich, aber auch ihr Beitrag stellt in einer Sozialbilanz der Bundesrepublik einen bestimmenden Faktor dar. Betrachtet man die vom öffentlichen Etat erfaßten Leistungen mit 60 Mrd. und die sonst noch aus sozialen Ursachen gegebenen Zuwendungen, die mit weiteren 10 bis 15 Mrd. anzusetzen sind, so ist diese Größenordnung für die Bundesrepublik ein beachtlicher Ausdruck für die Wahr-

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nehmung der sozialen Verantwortung und für die Erfüllung des sozialen Verfassungsauftrages im Bereich der Sozialpolitik. Eine weitere Ausdehnung dieser Leistungen für den Sozial-Konsum wird nur noch in bedingter "Weise möglich sein, denn schon heute ist die soziale Einkommensverteilung und ihre Handhabung ein volkswirtschaftliches Problem. Bei allen weiteren Anforderungen wird man die Frage der Systematisierung und Umschichtung des schon jetzt gewährten Potentials überlegen müssen, wobei sowohl der Aufbringungsmechanismus als auch die Methoden der Zuteilung zu überprüfen sind. Auch ist es ein merkwürdiger Sachverhalt, wie es bei diesem U m f a n g unserer Sozialleistungen möglich ist, daß es immer noch soziale Aufgaben gibt, die nicht oder nicht ausreichend zu finanzieren sind. Es gibt noch weiße Flecken a u f der K a r t e der Sozialleistungen. Gerade für gezielte soziale Maßnahmen im Einzelfall fehlt es oft an Mitteln. Für bestimmte Gruppen, wie alte Menschen oder behinderte Kinder, sind keine ausreichenden Mittel vorhanden, um die für diese Gruppen erforderlichen Hilfsmaßnahmen durchzuführen. Unser allgemeiner Familienlastenausgleich wurde sehr ausgebaut, aber die wirtschaftliche Mehrbelastung für behinderte Kinder findet keinen entsprechenden allgemeinen Ausgleich, bzw. ist nur im Rahmen der Einkommensgrenzen des Sozialhilfegesetzes möglich. Auch die heute noch übliche Verwendung der das 19. Jahrhundert kennzeichnenden Finanzierungsform für soziale Aufgaben, die Wohlfahrtslotterie, zeigt an, daß es noch mancherlei Lücken im Bereich der öffentlichen Sozialfinanzierung gibt. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß mit Geld allein manche Aufgaben in der Sozialarbeit nicht zu lösen sind. Der Sozialstaat kann ohnedies nur die materiellen Voraussetzungen für die Bewältigung der sozialen Lebensrisiken geben, aber damit ist die persönliche Bewältigung dieser Tatbestände noch nicht gegeben. Die hier gegebenenfalls erforderliche H i l f e ist Aufgabe der in der Sozialarbeit tätigen Menschen. Der unmittelbare Dienst am Menschen kann nur aus der eigenen persönlichen Substanz heraus getan werden. Auch für die künftige Durchführung der Sozialpolitik liegt die Voraussetzung in einer ertragreichen wirtschaftlichen Entwicklung, wobei heute ein besonderes Anliegen ist, wie man Vollbeschäftigung und stetiges Wachstum der Wirtschaft mit stabilen Preisverhältnissen verbinden kann. Die beste Sozialpolitik ist die Erhaltung des Geldwertes — und daran mangelt es bei uns und in anderen Industriestaaten. Die Entwicklung der Preise ist ein unbestechlicher Maßstab, ob bei der Verteilung des Sozial-

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produkts mehr beansprucht und verteilt wird als vorhanden ist. Das volkswirtschaftliche Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage wird marktmäßig durch entsprechende Preis- und Geldwertveränderungen ausgeglichen. Dieser Ausgleich ist im Prinzip unsozial und ungerecht, denn er trifft mehr Gerechte als Ungerechte, er trifft die Sparer, die Verbraucher, die Lohn- und Gehaltsempfänger und vor allem die Bezieher von Sozialeinkommen. Sie alle werden bei einer Inflationsentwicklung empfindlicher getroffen als die Sachwertbesitzer. Das Ringen um einen entsprechenden Anteil am Sozialprodukt wird in der Inflationsentwicklung immer hartnäckiger, denn wer nicht einen „preisgerechten" Anteil erhält, kommt zu kurz. Als Beispiel der Preisveränderungen sei angegeben, daß die Wirtschaftsrechnung eines 4-Personen-Haushaltes pro Monat bei mittlerem Einkommen des Haushaltsvorstandes für Lebenshaltung von 1950 bis 1964 von monatlich 288,03 D M auf 853,86 DM, also um das Dreifache gestiegen ist (Statistisches Jahrbuch 1965, S. 529). Gewiß sind auch Löhne und Gehälter gestiegen und haben an der Wirtschaftsentwicklung teilgenommen, so daß die Geldwertverschlechterung dadurch ausgeglichen wird. Jedoch erhalten die Sparer für die Wertminderung ihrer Sparguthaben keinen Ausgleich. Die Spareinlagen werden für 1965 mit 104 Mrd. angegeben, dazu kommen Bausparverträge mit 18 Mrd. Mark. Auch die Lebensversicherungsraten für 113 Mrd. abgeschlossene Verträge in der Höhe von annähernd 30 Mrd. sind erwähnenswert. Rechnet man die festverzinslichen Wertpapiere bei privaten Anlegern und deren sonstige Geldforderungen hinzu, so ergibt sich ein Sparkapital von nahezu 200 Mrd. Mark. Eine Kaufkraftminderung von 4 % im Jahr beträgt 8 Mrd. Mark. Das ist der Betrag, um den die Sparer bei der derzeitigen Geldentwertung jährlich geschädigt werden und der von ihnen als „Preis" für die Überforderungen an unsere Wirtschaft bezahlt wird. Gerade durch die Sparleistungen wurde das Wirtschaftswachstum ermöglicht, so daß schon deshalb die Schädigung der Sparer ungerecht ist. Die Überforderungen an das Sozialprodukt ergaben sich nicht nur durch das Verhalten der Interessenverbände, vor allem haben die Regierungen und Parlamente des Bundes und der Länder, ebenso die kommunalen Verwaltungen und deren politische Vertretungen auf dem Gebiet der Währungspolitik zahlreiche Verstöße und Verfehlungen begangen. Auch die Bundesbank hat erst zu einem verspäteten Zeitpunkt entsprechende monetäre Gegenmaßnahmen getroffen. Eine ständige Geldentwertung hat nicht nur wirtschaftliche Folgen, sie zerstört auch die

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sittlichen Grundlagen des Staates und steht im Widerspruch zu der Sozialstaatsverpflichtung der Verfassung. Die Erhaltung des Geldwertes ist seit Bestehen der Bundesrepublik nach den Verlautbarungen aller politischen Parteien und aller Bundesregierungen eine unbestrittene Zielsetzung. Es ist die Aufgabe der politischen Instanzen, in einer Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl die Maßnahmen vorzunehmen, um den immer noch vorhandenen Trend zur weiteren Preissteigerung und Geldwertverschlechterung zu unterbrechen und dadurch wieder die Voraussetzungen für das Funktionieren der Sozialen Marktwirtschaft und für eine sinnvolle Entwicklung der Sozialpolitik zu schaffen.

(Abgeschlossen Mai 1966)

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Geplante Bildung — Freiheit des Menschen Bildungsplanung ist heute ein vielgebrauchtes Schlagwort. Aber es handelt sich nicht nur um ein oberflächliches Schlagwort, dem die einen zustimmen und das die anderen ablehnen. Hinter diesem Begriff steht ein tiefgreifender aktueller Tatbestand. U n d aus ihm folgt eine weitgespannte, auf unser Bildungswesen zielende Forderung.

I K u l t u r und Bildungswesen schienen sich in der Vergangenheit jeder Planung zu entziehen. Denn schon der Begriff der K u l t u r widersprach dem Gedanken eines dirigistischen Eingreifens und der vorschreibenden Lenkung. K u l t u r und Bildung leben v o m Wehen des menschlichen Geistes. Seine K r ä f t e entfalten sich im R a u m der Freiheit, denn zu seinem Wesen gehören Spontaneität und Phantasie. Diese können nicht befohlen werden. Deshalb will K u l t u r wachsen, und wie man das Wachstum der Pflanzen behindert, wenn man es ständig kontrolliert, so wollen auch K u l t u r und Bildung ihren eigenen, oft langfristigen und undurchschaubaren Wachstumsgesetzen folgen. E s gibt fruchtbare und ebenso auch sterile Kulturperioden, ohne daß m a n die G r ü n d e f ü r diesen Wechsel a u f weisen könnte. E s ist das Auftreten genialer Persönlichkeiten, das meist kumulativ erfolgt, das zu großen fruchtbaren Stunden in der K u l t u r geschichte der Völker führt. D e r Begriff der Bildungsplanung möchte hierzu schlecht passen. D i e geschilderte A u f f a s s u n g enthält etwas Wichtiges und m. E . auch Unaufgebbares, sie ist aber doch einseitig und schief. Sie übersieht den Unterschied zwischen K u l t u r b z w . Bildung und Bildungswesen. D a s Bildungswesen ist gleichsam die Infrastruktur der K u l t u r und der Bildung,

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die keineswegs Kultur und Bildung garantiert, geschweige denn mit Sicherheit hervorbringt. Aber ihr Vorhandensein ist eine entscheidende Voraussetzung für die Kultur und Bildung einer Nation und ihr Fehlen bedeutet zwar kein absolutes, wohl aber ein großes relatives Hindernis für die gesunde Entfaltung von Kultur und Bildung. Praktisch ist das Bildungswesen immer einmal geplant worden. Dies läßt sich leicht für die Zeit des aufgeklärten Absolutismus oder die Periode Wilhelm von Humboldts in Deutschland nachweisen. Damals sind für unser Bildungswesen die Gleise gelegt worden. Das Streckensystem, der Maschinenpark und der Fahrplan haben sich, um im Bilde zu bleiben, natürlich verändert und den Erfordernissen der Zeit besser anzupassen versucht. Aber im wesentlichen hat sich das Bildungswesen innerhalb des damals geplanten Schul- und Bildungssystems entfaltet und ist in ihm gewachsen. Dabei erleben wir heute im Bildungswesen das gleiche wie auf unseren Landstraßen: Wie die Landstraßen sich ohne die neuen Autobahnen als unzureichend erweisen, den modernen Verkehr zu bewältigen, so sind unsere Hochschulen und Schulen der Aufgabe, die die heutige Welt dem Bildungswesen stellt, nicht mehr gewachsen. Das Bildungswesen muß deshalb neu durchdacht und im Blick auf die veränderte Situation geplant werden. Ein wesentlicher Bestandteil der Kultur der Moderne sind N a t u r wissenschaft und Technik. Es wäre unsinnig, den Begriff der Kultur nur auf die Geisteswissenschaften und die Künste zu beschränken. Der Bereich der Naturwissenschaft und Technik ist aber ohne Planung und Organisation überhaupt nicht denkbar. Die Institutionen der Großforschung, insbesondere im Bereich der Physik, in den Vereinigten Staaten und in Rußland, aber auch bei uns, wie Cern in Genf, Desy in Hamburg, die Kernreaktoren in Karlsruhe und in Jülich sind Symbole hierfür. D a ß auch unsere, teils aus dem Mittelalter stammenden Universitäten der Planung bedürfen, sollen sie nicht verkümmern, sondern ihre Aufgabe in Forschung und Lehre erfüllen, hat die Arbeit des Wissenschaftsrates gezeigt. Hier hat nach 1957 eine systematische Planung des Aufbaus der Hochschulen eingesetzt und sich bereits als sehr hilfreich erwiesen. Den ersten Empfehlungen von 1960, die die erste Phase des Ausbaus veranlaßten, sind nun neue Erhebungen gefolgt. Es wird sichtbar, daß Wissenschaftsplanung heute nicht mehr ein einmaliger Akt ist, sondern eine die Arbeit der Wissenschaft ständig begleitende Aufgabe. Moderne Wissenschaft ist ohne Planung unmöglich.

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Diese Erkenntnis hat sich nicht von selbst durchgesetzt, denn allzutief war die Uberzeugung verankert, Kultur, Bildung und Wissenschaft als Produkte des freien Geistes entzögen sich der Planung. Erst der große Erfolg der russischen Naturwissenschaft, der durch das Aufsteigen des ersten Sputnik aller Welt sichtbar wurde, und der Schrecken in der Erkenntnis, daß dies nicht nur einen wissenschaftlichen Vorsprung des Kommunismus, sondern zugleich ein miltärisches und wirtschaftliches Uberholen zur Folge habe, hat dem Gedanken der geplanten Förderung der Wissenschaft auch im Westen voll zum Durchbruch verholfen. Die USA, die längst eine Wissenschaftsplanung betrieben, haben diese unvergleichlich forciert. Und auch wir in Europa und in der Bundesrepublik sind zu Maßnahmen der Wissenschaftsplanung übergegangen. Der von der Bundesregierung vorgelegte Forschungsbericht I ist ein erster großer Uberblick über die Maßnahmen von Bund und Ländern. Erst allmählich setzt sich der Gedanke durch, daß alle Forderungen der Forschung letztlich in der Luft schweben, wenn ihnen nicht ein entsprechend geplanter Aufbau des gesamten Bildungswesens entspricht. Denn Wirtschaft und Technik bauen auf der Wissenschaft auf und Wissenschaft auf dem Schulwesen. Die Erhebungen, die die O E C D über die Zahl der Abiturienten anstellte, zeigten uns, daß wir gegenüber anderen vergleichbaren Völkern, die ihr Bildungswesen planen, in gefährlichen Rückstand zu geraten drohen. Während die anderen in der Erkenntnis, daß die heutige Gesellschaft und Wirtschaft sehr viel mehr hochausgebildete Menschen braucht, ihre Abiturienten- und Studentenzahl steigern, stagnieren diese bei uns. Und die Bedarfsfeststellung der Kultusministerkonferenz zeigte, daß bei wachsendem Andrang von Schülern in unseren Schulen und bei Durchführung der notwendigen pädagogischen Maßnahmen zur Leistungssteigerung der Schulen, insbesondere durch Senkung der Klassenfrequenzen, uns in Kürze ein katastrophaler Lehrermangel droht. Darüber hinaus erlebt jeder von uns, der unmittelbar mit unserem Schulwesen zu tun hat, wie hier ständig Schwierigkeiten und Engpässe auftreten. In Baden-Württemberg mußten wir beispielsweise, um den geordneten Unterricht an den Gymnasien bei steigenden Schülerzahlen und bei sinkenden Zahlen der Gymnasiallehrer aufrechtzuerhalten, die Stundentafel in der Unterstufe einer schmerzlichen Kürzung unterziehen. Viele andere Beispiele ließen sich anführen. Die Wirtschaft, die unter dem Drude der technischen Entwicklung

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und der Konkurrenz steht, hat schneller als die Vertreter des allgemeinbildenden Schulwesens die Notwendigkeit der Umstellung erkannt. Schon die Teilautomation führt heute nach Angaben des Münchner Ifo-Instituts dazu, daß jährlich 1,5 Mill. Menschen freigesetzt werden und an neue Arbeitsplätze geleitet werden müssen. Die verbleibenden Arbeiter und Ingenieure müssen sich sehr viel schneller als früher auf neue Verfahren und Methoden umstellen. Während früher eine berufliche Spezialausbildung sich in 25 Jahren amortisieren mußte, muß sie es heute schon in 5 Jahren. D a s zwingt zu einem Neu-Durchdenken des Berufs- und Fachschulwesens mit seinen Lehrplänen und Methoden. Alle diese Erfahrungen kamen nicht von ungefähr. Sie weisen zurück auf den großen Wandlungsprozeß unseres gesamten Lebens, unserer Welt und ihrer Kultur. D a jedes Bildungswesen die A u f g a b e hat, der jeweiligen Gesellschaft in ihrem besonderen geschichtlichen A u f t r a g zu dienen, muß es der neuen Situation entsprechend überdacht und neu geplant werden. Unsere Kultur ist bereits im Begriff, durch die Schwierigkeiten und Engpässe unseres heutigen Bildungswesens Rückschläge zu erleiden. Wenn keine Gymnasiallehrer mehr nachkommen oder ein unzeitgemäßer, weil der technischen Entwicklung nicht mehr angemessener Berufsschulunterricht erteilt würde, wenn das Musische und der Sport in unseren Schulen verkümmern, weil keine Lehrer und keine Räume zur Verfügung stehen oder unsere Studenten in dem Massenbetrieb in gewissen Fächern der Hochschulen nur ungenügend ausgebildet werden, hat das seine negativen Folgen. U n d wenn wir wollen, daß die uns wertvoll erscheinende Überlieferung aus den Wurzeln der Antike, des Christentums und der deutschen Geschichte unter uns lebendig bleibt, werden wir die organisatorischen Voraussetzungen dafür in unserem Bildungswesen innerhalb der sich schnell technisierenden geschichtslosen Welt planen müssen.

II Es ist in der Öffentlichkeit oft der Vorwurf erhoben worden, die verantwortlichen Kulturpolitiker hätten die Stunde für die große Bildungsreform nicht rechtzeitig erkannt. Gern wird dieser Vorwurf gerade auch den von der C D U regierten Ländern gemacht. Hierauf ist zu antworten: Es ist richtig, daß man in den U S A und in Rußland sehr viel früher so weit war, das Schulwesen und die Wissenschaft zu planen. Ins-

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besondere in Rußland, das erst im letzten halben Jahrhundert die Masse seiner Bevölkerung aus dem Analphabetentum erhob, mußte das Bildungswesen großzügig geplant werden, und man hat darin erhebliche Erfolge erzielt. D a ß die Bundesrepublik, die auf eine im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von der Welt bewunderte Tradition des Bildungswesens zurückschauen konnte, die Notwendigkeit der Neuplanung erst später entdeckte, ist verständlich. Und das um so mehr als man nach 1945 zunächst mit dem Wiederaufbau auf dem Sektor des Sozialen und der Wirtschaft voll beschäftigt war. Dabei kann nicht von einem Gefälle zwischen den von der C D U und den von der SPD regierten Staaten gesprochen werden. Vielmehr muß man zwischen Stadtstaaten, die es sehr viel leichter haben, und Flächenstaaten in der Bundesrepublik unterscheiden. Und schließlich haben diese Länder im Ausbau ihres Bildungswesens die Akzente verschieden gesetzt. Manche, wie Hessen, haben die Volksschulen bevorzugt behandelt, andere wie Baden-Württemberg, die wissenschaftlichen Hochschulen. Vor allem aber gilt: Alle Bildungsplanung baut auf Bildungsforschung auf. Diese ist erst eine ganz junge Wissenschaft in der Bundesrepublik. Noch vor wenigen Jahren wußten auch unsere Pädagogen nichts von der Notwendigkeit einer großzügigen, weitgespannten Planung des Bildungswesens für die Zukunft. Auch sie rechneten nur mit der Gegenwart und forderten nur eine begrenzte Anpassung, wie sie auch von Politikern durch die Parlamente und Regierungen realisiert wurde. So sind Pädagogen und Politiker von der Entwicklung in gleicher Weise überrascht worden. Bedenkt man, daß die notwendigen, wenn auch noch sehr ungenauen statistischen Unterlagen erst seit 2—3 Jahren zur Verfügung stehen, so kann man nur sagen: Die Politiker und die Öffentlichkeit sind relativ schnell aufgewacht und zu Maßnahmen bereit gewesen. Das Charakteristische unserer heutigen Welt ist, daß sie für uns unüberschaubar geworden ist. Es gibt niemanden, der alle Lebensbereiche in ihrer Spezialisierung auch nur teilweise übersehen könnte. Noch viel weniger überschauen wir, was das Morgen uns bringt. Wenn wir bedenken, welche Veränderungen auf technischem Gebiet unsere Generation erlebt hat und wie tief diese in das Leben unserer Wirtschaft, aber auch in unser aller Privatleben eingegriffen haben, so müssen wir zugeben: Wir wissen nicht, wie die Welt morgen aussehen wird. Darin wird die Veränderung der Welt seit der Aufklärung gegenüber den früheren Jahrhunderten spürbar. Ehemals lebte der Mensch in einer

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relativ statischen Welt mit vorgegebenen sakrosankten Ordnungen. Gewiß, der geschichtliche Prozeß brachte auch Veränderungen, aber strukturell blieb die Welt, was sie war. Sie war stabil, man mußte ihre Ordnung anerkennen und sich ihr einfügen. Die A u f g a b e des Staates war es, diese Ordnung zu erhalten. Unsere Welt ist demgegenüber dynamischer. Sie gleicht einem über die U f e r getretenen Strom, er schwillt immer mehr an und fließt immer rascher und reißender dahin. Sein Ziel ist noch unerkennbar. Aber seine Strömungen und Kräfte zeichnen sich deutlich ab. Diese Entwicklung ist nicht nur eine vorübergehende wie auch früher in revolutionären Perioden. Sie ist vielmehr das Wesen unserer Welt, in die wir hineingestellt sind. Wir können nicht mit einem Abnehmen des Entwicklungstempos rechnen, sondern nur mit einem weiteren Anschwellen der Dynamik. Wenn dieses richtig ist, so müssen wir daraus Konsequenzen ziehen, auch in unserem Bildungswesen. Richard Behrendt sagt dazu: „In allen bisherigen Zeiten — die gesellschaftlich statische Zeiten waren — bestand das zentrale Anliegen aller Erziehung in der Weitergabe der Überlieferung, des gesicherten Schatzes von Wissen und Weisheit, gegründet auf Glauben und E r f a h rung. Jetzt zum erstenmal muß die Erziehung uns für eine neue, nie erlebte Welt fähig machen, also uns nicht nur mit unserer Herkunft verbinden, sondern auch auf eine neuartige Zukunft vorbereiten . . . Heute. . . hat die Schule eine ganz andere, entgegengesetzte Aufgabe: Der Befähigung junger Menschen zur Teilnahme an einer offenen, sich selbst steuernden, elastischen, pluralen Gesellschaft." 1 Der Übergang von der statischen zur dynamischen Weltsituation, der erst heute voll wirksam wird, muß sich auswirken auch in unserem Bildungswesen. Aber wie sollen wir planen, wenn wir die Welt von morgen noch nicht kennen und die Welt immer mehr in sich steigerndem Tempo ihr Gesicht verändert? Voraussetzung für unser Planen ist der Versuch der wissenschaftlichen Forschung, die zukünftige wissenschaftliche und technische und entsprechend wirtschaftliche und soziale Entwicklung wenigstens in ihren großen Linien und bestimmenden Kräften zu erkennen. Darum bemüht sich die junge Wissenschaft der Bildungsökonomie, wie sie von Prof. Edding in Berlin und Prof. Bombach in Basel vertreten wird, und die Bildungssoziologie von Prof. Dahrendorf in Tübingen. Gewiß könnte man auch viele andere nennen. Hier wird durch Demographie, durch Beobachtung der verschiedenen in der Gesellschaft wirksamen 1

Offene Welt — Zeitschrift für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft 1964, N r . 83, S. 24.

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materiellen und geistigen Kräfte, durch Erforschung des voraussichtlichen Bedarfs in der Wirtschaft der Versuch gemacht, die Situation im Jahre 1980 oder gar 2000 zu prognostizieren. Natürlich ist das nur annähernd möglich und bedarf einer ständigen Korrektur. Aber diese Bildungsforschung schafft erst den Rahmen für Bildungsplanung. Deshalb müssen Bildungspolitiker und Bildungsforscher heute eng zusammenarbeiten. Hier liegt auch die Aufgabe des deutschen Bildungsrates, zusammengesetzt aus Forschern und Politikern nach dem Vorbild des Wissenschaftsrates. Der Bildungsrat, der im Frühjahr 1966 seine Arbeit aufgenommen hat, hat z. B. damit begonnen zu errechnen, welche finanziellen Anforderungen ein zeitgemäßer Aufbau unseres Bildungswesens stellen wird und wie diese Summen aufgebracht bzw. mit den Ansprüchen der Sozialpolitik, der Verteidigung und des Verkehrs abgestimmt werden können. Die Gefahr aller dieser Bemühungen liegt darin, daß sich die Bildungsforschung wesentlich auf die Statistik gründet, also auch Qualitatives in Quantitäten erfassen muß. Dadurch wird der Fehlschluß gefördert, als käme es letztlich nur auf die Steigerung der Zahlen an, also beispielsweise auf die Verdopplung unserer Abiturienten, statt auf die quantitative Seite, nämlich die Erziehung des Menschen zur eigenständigen Persönlichkeit und seine Ausrüstung mit einer selbständigen, hochqualitative Seite, nämlich die Erziehung des Menschen zur eigenständider Bildungsplanung darf der qualitative Gesichtspunkt nicht dem quantitativen geopfert werden. Tatsächlich bedingt das eine leicht das andere, sofern eine schnelle und überstürzte Steigerung der Quantität oft die Qualität senkt. Gerade das könnten wir uns in der Bundesrepublik am wenigsten leisten. Deshalb ist es die Aufgabe der Bildungsplanung, dafür Sorge zu tragen, daß in der durch die Technik dynamisierten Gesellschaft unsere Wurzeln in der Überlieferung nicht abgeschnitten werden. Denn keine Kultur kann ohne schwersten Substanzverlust ihre Wurzeln in der Geschichte vernachlässigen. Bildungsplanung wird sich also bemühen, ein auf die Zukunft ausgerichtetes Bildungswesen fest in der Geschichte und ihrer Uberlieferung zu verankern. Aber bedeutet nicht alles Planen eine Gefährdung unserer Freiheit? Nicht umsonst gehörte der Begriff der Planung in das Vokabular des Marxismus oder anderer totalitär denkender Systeme. Man stellte Pläne auf und unterwarf durch sie den lebendigen Menschen dem Staat und seiner Ideologie. Deshalb lehnten freiheitlich gesinnte Menschen die Pla12

Festschrift

Kunst

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nung ab, und das mit Recht. Heute haben wir es mit einem grundlegend veränderten Begriff der Planung zu tun. Insbesondere steht aber hinter der Planung eine diametral entgegengesetzte Intention. Ging es dem Marxismus darum, durch seine Planungen die Welt seiner Ideologie anzupassen und den Menschen diesem Schema zu unterwerfen, so sehen wir heute eine den Menschen und seine Menschlichkeit bedrohende Welt auf uns zukommen. Die Aufgabe der Planung ist es, ihm den Raum zu sichern, den er für freie Entfaltung seines Menschseins, zur Realisierung seiner sozialen Bezüge und zur Entfaltung seiner aus der Geschichte hervorwachsenden Kultur bedarf. Es gibt also auch Planung um der Freiheit willen. Wie sehr dies auch einer christlichen Grundhaltung entspricht, mag folgende Überlegung klarmachen: Wenn die moderne Welt jenem über die Ufer getretenen Strom gleicht, der alles wegzureißen droht, so haben wir Christen lange diese Entwicklung beklagt, weil wir die statische Welt früherer Jahrhunderte als die gottgewollte ansahen. Wir haben versucht, Dämme zu bauen und möglichst viel von der Vergangenheit aufrechtzuerhalten, aber zur modernen Entwicklung hatten wir nur wenig Zugang. Die Folge war, daß der Strom über uns hinwegging. Wir wurden zu Objekten und schalteten uns von der Mitgestaltung der Welt des Heute und Morgen immer mehr aus. Der Schöpfungsbefehl 1. Moses 1, 27 „Machet Euch die Erde Untertan" meint es anders; er will, daß wir nicht nur Objekte sind, sondern daß wir im Rahmen unserer Verantwortung vor Gott Subjekte werden, auch Subjekte der geschichtlichen Entwicklung. Wir sollten deshalb die dynamische Welt, in die wir gestellt sind, als unsere geschichtliche Aufgabe bejahen. Wir sollten erkennen, daß es die Pflicht des Menschen ist, an seinem Teil den Strom zum besten der Menschen mitzulenken, um dem Menschen die ihm gehörende Freiheit zu erhalten. Die Mitwirkung der Christen an dieser Bemühung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil der Glaube ein Doppeltes geben will: Er setzt uns frei von den ideologischen Bindungen und öffnet uns das Auge f ü r das Notwendige. Er will uns von uns selbst ab- und dem Nächsten zuwenden. So kann und will der Glaube zu absoluter Sachlichkeit in der von so vielen Interessen beeinflußten und bedrohten Bildungsplanung beitragen. Andererseits macht der Glaube bewußt, daß wir auch in unserer verwissenschaftlichten und technisierten Welt, die uns ungeahnte Macht-

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mittel in die H a n d gibt, nicht herrenlos sind. Auch diese Welt ist Gottes, selbst wenn wir nichts davon sehen, und alles Planen bleibt Stückwerk und begrenzt. Wer diese Grenze übersieht, wird die Menschen vergewaltigen und wird Illusionen verfallen. Planen kann nur fruchtbar werden, wenn es in einer Haltung von Demut geschieht, die um ihre Grenze weiß. Sie braucht deshalb nicht auf Kühnheit zu verzichten. So dürfen wir als Christen die Möglichkeiten der heraufziehenden Welt voll nützen. Wir sollten es ohne Illusionen und Enthusiasmus, aber mutig und zuversichtlich tun. Dietrich von Oppen hat in der Schrift „ D a s personale Zeitalter" herausgearbeitet, daß es nie eine Zeit gab, die den Menschen größere Vollmacht und Verantwortung gab als unsere. Diese Freiheit gilt es besser zu gebrauchen und somit den Schöpfungsauftrag zu erfüllen. Hierzu gehört auch die A u f g a b e der Planung unseres Bildungswesens für die dynamische Welt von heute und morgen.

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Aufgabe und Verantwortung der Erwachsenenbildung Auf einer Tagung in der evangelischen Akademie in Hofgeismar hat Bischof Kunst schon im Januar 1960 eine These vertreten, die einige Jahre später in die Regierungserklärung Ludwig Erhards eingegangen ist, nämlich die These, daß die Bildungsfrage für unsere Zeit denselben Rang hat wie für das 19. Jahrhundert die soziale Frage. Bischof Kunst hatte noch hinzugefügt, es sei zu befürchten, daß die evangelische Kirche gegenüber der zentralen Frage des 20. Jahrhunderts ebenso versage wie sie ohne Zweifel gegenüber den zentralen Frage des 19. Jahrhunderts versagt habe. Georg Picht hat diesen Satz 1963 in den Lutherischen Monatsheften dahingehend interpretiert, daß die evangelische Kirche so, wie sie heute ist, nicht in der Lage sei, in dieser Welt und für diese Welt die Verantwortung wahrzunehmen, die ihr im Evangelium aufgegeben sei. Da es in der Bildungsfrage um den Gesamtbestand unseres Staates, unserer Gesellschaft und der Kirche gehe, müsse diese aus dem Gehorsam ihres Glaubens heraus der geschichtlichen Situation in Freiheit begegnen und dieser Freiheit gemäß handeln, d. h. offenbar die Wandlung unseres Bildungswesens als Gegenstand der eigenen Verantwortung begreifen. Die aus diesem Ansatz heraus entwickelten Forderungen zum Engagement der Kirche in Bildungsfragen beruhen auf der Grundkonzeption, daß die Kirche heute die Verantwortung für die Welt nicht wahrnehmen kann, wenn sie den Sachverstand in weltlichen Geschäften den staatlichen Instanzen überläßt. Beide Kirchen haben erlebt, daß die soziale Frage an sich und die soziale Frage im internationalen Rahmen, d. h. die Entwicklungshilfe, Aufgaben darstellen, deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung auch über ihr Schicksal als Kirche entscheidet. Das problematische Bündnis von Kirche und Kolonialismus darf sich in unserem Jahrhundert auf dem Sektor der Bildung nicht in einem Bündnis mit der Bildung von gestern

A u f g a b e und V e r a n t w o r t u n g der Erwachsenenbildung

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wiederholen. Nichts wäre gefährlicher, als wenn die Kirche sich mit bestimmten herkömmlichen Bildungseinrichtungen identifizieren würde und nicht die Mitwirkung an einem zeitgemäßen A u f b a u des gesamten Bildungswesens als ihre Aufgabe begriffe. In diesem Zusammenhang geht es nicht, wie gelegentlich Pichts Schrift über die deutsche Bildungskatastrophe irrtümlich interpretiert wurde, primär um Bedarfszahlen, um Bildungsstatistik und um die quantitative Erweiterung des Bildungswesens. Zwar ist diese quantitative Erweiterung überfällig, aber die Bildungsreform als gesellschaftliche Aufgabe ist nicht mit der Realisierung der sozialen Startgleichheit gelöst. „Bildung als Bürgerrecht" (Dahrendorf) ist zwar eine notwendige Forderung, aber umfaßt nicht das Ganze der vor uns liegenden gesellschaftlichen Aufgabe. Es geht vielmehr darum, in einer Zeit, in der gesellschaftliche und technische Entwicklung sich so beschleunigen wie nie zuvor, der Schnelligkeit des sozialen Wandels, dem growing rate of change, dadurch Rechnung zu tragen, daß das Bildungswesen in seinem Gesamtverlauf in den Stufen seiner Entwicklung, in seinen Inhalten und Methoden der Zukunft gewachsen ist. Gerade weil Bildung nicht mehr abgeschlossen werden kann, kommt der Erwachsenenbildung eine besondere Rolle zu. Es gibt eine Vielfalt evangelischer Einrichtungen im Bereich dessen, was man herkömmlicherweise Erwachsenenbildung nennt. D a s reicht von der Vereinigung evangelischer Eltern und Erzieher bis zu den evangelischen Kirchenchören, von den evangelischen Akademien zur evangelischen Aktionsgemeinschaft für Arbeiterfragen, vom lebenskundlichen Unterricht in der Militärseelsorge bis zur evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Familienfragen, vom evangelischen Forum bis zur evangelischen Heimvolkshochschule. Der theologische Standort all dieser Institutionen, ihre historische und geistige Herkunft sind nicht eindeutig; manchmal kommen sie einem vor wie Ventile, die geöffnet sind, um dem vielfältigen Bedürfnis nach Erwachsenenbildung an bestimmten Punkten R a u m zu geben. Sie alle — auch die große Laienbewegung der evangelischen Kirche, der Evangelische Kirchentag — können aber nicht die Aufgabe erfüllen, die Bischof Kunst mit seinem Wort von der zentralen Frage des 20. J a h r hunderts angesprochen hat. Uns sollen hier nicht einzelne evangelische Einrichtungen beschäftigen, sondern die Gesamtaufgabe der Erwachsenenbildung, an der die evangelische Kirche mitzuwirken berufen ist, weil sich in ihrem Gelingen unsere Zukunft überhaupt entscheidet. Der gesellschaftliche Prozeß, aus dem im 12. Jahrhundert die Gotik

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erwuchs, hat zugleich die erste große Erwachsenenbildungsbewegung der europäischen Geistesgeschichte hervorgebracht: die Universitäten. Die Studenten in Paris und Bologna waren keine Studenten in unserem Sinne, sondern Erwachsene, die vor der Aufgabe standen, eine sich wandelnde Zeit lernend und lehrend geistig zu bewältigen. Erwachsenenbildung begegnet uns historisch zunächst in den Höhepunkten gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Auch Reformation und Humanismus waren in diesem Sinne Perioden der Erwachsenenbildung, Luthers Reden an die verschiedenen Stände ein besonderes Beispiel. In der Zeit der Aufklärung wurden Enzyklopädie, Bünde und Logen Zellen der Erwachsenenbildung. Die Wurzeln moderner Erwachsenenbildung liegen in der Aufklärung und im Pietismus. Das scheint zunächst ein Widerspruch, aber dieser Widerspruch erfüllt die Erwachsenenbildung, erfüllt auch die Institution Volkshochschule bis in unsere Tage. Nicht nur der Gedanke, daß Wissen Macht sei und daß Aufklärung frei mache, sondern zugleich die Tendenz der Verinnerlichung wirken hier zusammen. Diese Ausgangspunkte wirken bis zum heutigen Tage. Die Arbeitsteiligkeit der Industriegesellschaft und die Entscheidungsfähigkeit des demokratischen Staatsbürgers machten einen Ausbau der Erwachsenenbildung notwendig. Im 19. Jahrhundert verband sich das Streben nach beruflicher Qualifikation und politischsozialer Emanzipation mit dem Wunsch nach religiöser Erneuerung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts treten neben die Arbeiterbildungsvereine und die konfessionelle Bildungsarbeit volkstümliche Kurse der Universitäten und die „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung" mit einem ausgedehnten Vortrags- und Büchereiwesen und über 8000 körperschaftlichen Mitgliedern. Um die Jahrhundertwende werden Zweifel an der reinen Wissensvermittlung wach. Der Mensch als Ganzes und das ganze Volk werden als Bezugspunkt der Erwachsenenbildung angesehen. In den zwanziger Jahren tritt eine individualisierende Volksbildungsarbeit in den Vordergrund, die auf die besondere Situation bestimmter Menschen bezogen ist und ihre Mitarbeit ermöglicht. Die Arbeitsgemeinschaft als methodisches Prinzip ist ihr Grundgedanke. Als Beispiel wird die dänische Heimvolkshochschule angesehen; doch läßt sich auch im geistigen Aufbruch der Weimarer Republik der Grundtvig'sche Gedanke von der Erneuerung des Volkes aus dem Geiste der Bildung nicht auf Deutschland übertragen. Eine anspruchsvolle Theorie der Volksbildung entwickelt sich im Hohenrodter Bund. Hier wird die abstinente Neutralität früherer Formen der Volksbildung verlassen. Vertreter aller

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geistigen Richtungen versuchten zusammenzufinden. Am Ende dieser Zeit steht die Prerower Formel vom geordneten Unterricht als Aufgabe der Volkshochschulen 1931. Damals bestanden etwa 270 Volkshochschulen, die seit 1927 in einem Reichs verband zusammengeschlossen waren; daneben konfessionelle Bildungswerke und Heimvolkshochschulen, die — soweit sie evangelisch und bäuerlich bestimmt waren — überwiegend einem deutsch-nationalen Selbstverständnis zuzurechnen waren. In der geistigen Auseinandersetzung der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg um die Grundfragen der Erwachsenenbildung ragen W. H o f m a n n , R. Buchwald, A. Mann, W. Flitner, E. Rosenstock, W. Picht und Th. Bäuerle hervor. Der Widerstreit zwischen Idee und Institution wurde in dieser Zeit nicht überwunden. Nach 1933 war Bildung als Chance zur Selbstbildung und freien Entscheidung nicht mehr möglich. An ihre Stelle trat die nationalpolitische Schulung. Die Erwachsenenbildungseinrichtungen wurden entweder aufgelöst oder „gleichgeschaltet". Wenn die Kirchen sich auch in ihrem Kern der Gleichschaltung entziehen, so bleibt ihnen keine Kraft in dieser Zeit für breitere Wirksamkeit in der Erwachsenenbildung. Trotzdem sollte nicht verkannt werden, daß sich in der Bekennenden Kirche eine Gemeinschaft bildete, die zeitweise für die ihr Zugehörenden auch Aufgaben der Erwachsenenbildung wahrnahm. Während die allgemeine Erwachsenenbildung vor dem Zweiten Weltkrieg praktisch oft mehr ein Ausgleich für das in Schule oder Berufsbildung Versäumte war, wird sie seit 1945 in zunehmendem Maße in der ganzen Welt als eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren der modernen Gesellschaft begriffen. Erwachsenenbildung tritt gleichberechtigt als dritter großer Bildungszweig neben die Bildung der Kinder und die Berufsbildung. Das Ende der abgeschlossenen Bildung rückt in der ganzen Welt den Gedanken der education permanente, des life-long learning in den Vordergrund. Zugleich wird die alte Gegenüberstellung von Bildung und Ausbildung als falsche Alternative durchschaut. Die zunehmende Schnelligkeit des Wandels der Welt verlangt in allen Berufen eine ständige Weiterbildung, um die sich wandelnde Welt zu verstehen und auszuhalten. Niemand kann seine besondere berufliche Stellung in der modernen Welt ausfüllen, wenn er nicht immer neue Fertigkeiten erwirbt, um sich den neuen Situationen auch beruflich anzupassen. Die spezielle Ausbildung bedarf des Hintergrundes einer allgemeinen Weiterbildung, die sich oft an der speziellen Ausbildung konkretisiert. So entfällt heute der Gegensatz, der früher die theoretischen Auseinandersetzungen

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in der Erwachsenenbildung belastete. Bildung und Ausbildung werden eine Einheit. Schule und Berufsausbildung können in unserer Zeit keine abgeschlossene Bildung mehr geben, sondern nur die Grundlagen für ein Lernen das ganze Leben hindurch vermitteln. In unserer Zeit stellt sich die herkömmliche Schule daher darauf um, phasengerecht zu lehren und die Sättigung durch Stoff in einen Hunger nach Lernen zu verwandeln. Die Berufsausbildung hat aufgehört, auf Spezialkenntnisse hin abzurichten; sie gibt vielmehr Grundlagen für die Bewältigung immer neuer spezieller Aufgaben. In dieser Situation muß sich die Erwachsenenbildung darauf einstellen, zusätzliche Kenntnisse im Rahmen der in regelmäßigen Abständen notwendigen beruflichen Weiterbildung zu vermitteln. Zugleich sind die beruflichen Anforderungen unserer Zeit nicht mehr ohne eine ständige Entwicklung von Funktions- und Weltverständnis zu erfüllen. Daher ist in allen Altersstufen eine weiterführende Orientierung a u f dem Gebiet von Wissenschaft, Technik und Politik unvermeidlich. Unsere freiheitlich demokratische Ordnung ist davon abhängig, daß die in ihr lebenden Menschen informiert und entscheidungsbereit zugleich sind. Die Erwachsenenbildung hat die Aufgabe, den einzelnen in seiner beruflichen Existenz weiterzuführen, ihn als Staatsbürger zu orientieren, ihm als Person das Leben lebenswert zu machen. Sie ist für alle da, aber nicht alle können alles in der Erwachsenenbildung tun, sondern eine sorgfältige Studienberatung muß dem einzelnen zeigen, was für ihn notwendig ist. Erwachsenenbildung gibt Möglichkeiten, zu lernen, Möglichkeiten zur allgemeinen Orientierung und Information, Anregungen zur Selbstbetätigung und Lebensgestaltung. Jeder dieser drei Bereiche hat seine eigenen Arbeitsformen. D a s Lernen vollzieht sich in den strengen Formen des Unterrichts. D a z u gehören heute Leistungsbescheinigungen, denn die Ergebnisse wirklichen Lernens müssen auch beim Erwachsenen gemessen und der erreichte Erfolg bestätigt werden. Für die allgemeine Orientierung ist die wichtigste Form die Arbeitsgemeinschaft, in der der Teilnehmer durch Eigenbetätigung das ihm angebotene Wissen integriert. Dabei kommt es auf die Q u a l i t ä t des Angebotenen an. D i e Formen der Selbstbetätigung haben an Bedeutung in einer Zeit gewonnen, in der die Zunahme an Freizeit und die Verfremdung aller Lebensvorgänge, das Zurückgehen direkter Gestaltungsmöglichkeiten und die Verminderung physischer Anstrengungen immer zwingender die Notwendigkeit eines

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menschlichen Ausgleichs geschaffen haben. Zugleich muß die Kooperation, die die moderne Gesellschaft erfordert, im persönlichen Bereich geübt werden. Vielleicht kann man die Grundformen moderner Erwachsenenbildung auf Lernen, Information und Spiel zurückführen. Wichtig ist, daß diese drei Grundformen ihre eigenen Methoden entwickeln und nicht miteinander vermischt werden. Zu den herkömmlichen Hilfsmitteln der Erwachsenenbildung haben sich in neuerer Zeit die Taschenbücher, Rundfunk, Fernsehen und der Fernunterricht gesellt. Ohne sie ist moderne Erwachsenenbildung nicht mehr möglich. Diese Hilfsmittel enthalten in verschiedener Weise die Chance der Multiplikation von Qualität. Wieweit diese Chance in Bildung verwandelt wird, hängt von der Möglichkeit ab, das durch Taschenbücher, Rundfunk, Fernsehen und Fernunterricht Vermittelte in kleinem Kreise weiterzubearbeiten. Diese modernen Hilfsmittel stellen ein Bildungsangebot dar, das in kleinem Kreise in Bildung umgesetzt werden muß. Das Selbstverständnis der Erwachsenenbildung ist in einem Gutachten zusammengefaßt, das der Deutsche Ausschuß für das Erziehungsund Bildungswesen am 29. Januar 1960 veröffentlicht hat. Diesem Gutachten entspricht inhaltlich in den wesentlichen Grundgedanken der Bericht der UNESCO-Weltkonferenz über Erwachsenenbildung in Montreal vom August 1960, der von den 47 teilnehmenden Mitgliedstaaten der U N E S C O einstimmig angenommen worden ist. Die dialektische Einheit von Bildung und Ausbildung in der hochindustrialisierten Gesellschaft kommt in dem Bericht der Europäischen Erwachsenenbildungskonferenz der U N E S C O von 1962 zum Ausdruck. 1964 hat die Ständige Konferenz der Kultusminister in ihrer 99. Plenarsitzung einen Teil der Vorschläge des Gutachtens des Deutschen Ausschusses in Empfehlungen an die Kultusminister verwandelt. Die wichtigste Organisationsform der Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik ist die Volkshochschule, die im wesentlichen von den Kommunen getragen wird. Volkshochschulen sind sidier nicht die einzige Form von Erwachsenenbildung genauso wenig wie Universitäten die einzige Form von Wissenschaft. Trotzdem hat die Volkshochschule in den letzten 15 Jahren den wichtigsten Orientierungspunkt für die Entwicklung der Erwachsenenbildung dargestellt. Und wenn die Volkshochschule auch grundsätzlich offen für alle Richtungen ist, so gilt auch für sie, daß Auf-

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klärung und Protestantismus zu ihren geistigen Wurzeln gehören. Wenn heute etwa 1200 Volkshochschulen mit fast 5000 Außenstellen in der Bundesrepublik einer nach Millionen zählenden Hörerschaft dienen, dann bedeutet das jedoch noch nicht, daß sie die Aufgaben der Erwachsenenbildung in dieser Zeit hinreichend erfüllen. Wenn Bildung in Zukunft das ganze Leben begleiten soll, wenn jeder Beruf eine ständige Weiterbildung erfordert, wenn insbesondere das Alter in sich eine neue Bildungsaufgabe darstellt, dann sind die Volkshochschulen in ihrer bisherigen Form dafür noch ganz unzureichend ausgerüstet. Zwar sind sie in Deutschland die Vorkämpfer der Idee der education permanente, aber sie müssen sich selbst diesem Gedanken entsprechend neu organisieren. Die Volkshochschule erfährt die notwendige neue Profilierung nicht allein durch Selbstbesinnung, sondern durch Auseinandersetzung mit den großen Kräften der Gesellschaft. Erwachsenenbildung findet im Schnittpunkt der großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen statt. Auch die Volkshochschule kann daher nur arbeiten, wenn die verantwortlichen Träger der Gesellschaft sich unmittelbar an ihrer Entwicklung beteiligen. Dabei scheint es mir dem evangelischen Verhältnis zur Gesellschaft zu entsprechen, wenn die Kirche daran mitwirkt, daß in Deutschland eine Bildungsorganisation geschaffen wird, die in der Lage ist, die gegebenen Aufgaben der ständigen Weiterbildung zu erfüllen. Es wäre ein Mißverständnis, wenn die Kirche glauben würde, sie könne das primär durch spezifisch evangelische Organisation tun. D a s mindert nicht die große Bedeutung, die z. B. den evangelischen Akademien in der modernen Erwachsenenbildung zukommt. „Die Akademie versteht sich als Stätte der Begegnung zwischen Kirche und Welt, als Brücke zwischen beiden. Von hier aus entdeckt sie dann ihre Möglichkeit zur Überwindung auch von anderen Gegensätzen im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben der Gegenwart, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Regierung und Opposition, Landwirtschaft und Industrie, Ost und West, Industrie- und Entwicklungsländern." (Bolewski). Die evangelische Akademie wendet sich bewußt nicht nur an den kirchlich aktiven evangelischen Christen, sondern auch an den Andersgläubigen, an den Ungläubigen und nicht zuletzt an den „Protestanten ohne Kirche". Die Bedeutung der evangelischen Akademien in den Nachkriegsjahren für den gesellschaftlichen Integrationsprozeß in der Bundesrepublik muß hoch bewertet werden. Trotzdem ist diese F o r m ungenügend, um die soziale Aufgabe der Erwachsenenbildung, wie sie uns jetzt bevorsteht, zu bewäl-

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tigen. D a s war auch nie ihre Absicht. Die berufliche Weiterbildung, die notwendige allgemeine Orientierung und das Leben-lernen in der modernen Welt und in der freien Zeit, das sind Aufgaben, die überall organisiert werden müssen und die nicht von zwölf auf die ganze Bundesrepublik verteilten Einrichtungen, so wichtig sie als Gesprächsforen waren und sind, wahrgenommen werden können. Moderne Erwachsenenbildung verlangt eine bestimmte Art von Aktivität. U n d gerade zu dieser Aktivität kann der evangelische Christ einen besonderen Beitrag leisten. Es genügt hier nicht, im idealistischen Sinne Bildung anzubieten, sondern die gesellschaftliche Funktion von Erwachsenenbildung macht es erforderlich, daß die Bildungsinstitutionen dahin gehen, wo sie gebraucht werden: z. B. in die Bundeswehr, in die Fabrik, aufs Land. Erwachsenenbildung darf nicht warten, wer zu ihr kommt, sondern sie muß den aufsuchen, der sie braucht. Evangelische Verantwortung kann hier mithelfen, Vorurteile abzubauen und die Art von sachgemäßer Bildung zu verbreiten, wie sie nötig ist, wenn wir zugleich die Konsumentenhaltung gegenüber dem Bildungsangebot überwinden wollen. Dem Recht auf Bildung entspricht eine Pflicht zur Bildung, in die der Einzelne aber erst eingeführt werden muß. Erwachsenenbildung beruht heute in einem doppelten Sinn auf wissenschaftlicher Forschung. Sie vermittelt die Ergebnisse der Forschung und macht sie einem breiteren Kreise zugängig. Zugleich bedarf sie der wissenschaftlichen Forschung zu ihrer eigenen Kontrolle. Erwachsenenbildung ist nicht Teil der Verkündigung — weder christlicher Verkündigung noch der Verkündigung humanistischer Werte. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben uns gezeigt, daß der Bedarf nach Erwachsenenbildung mit erhöhter Schulbildung nicht abnimmt, sondern steigt. Die Konzeption von Erwachsenenbildung als H i l f e für die, die nicht genügend auf der Schule gelernt haben, ist veraltet. Mit der Ausdehnung der Skolarität, wie sie uns in den nächsten Jahren bevorsteht, wird das Bedürfnis nach Erwachsenenbildung erheblich zunehmen. Die Bildungserwartungen der Bevölkerung durch wissenschaftliche Untersuchungen kennenzulernen, darüber hinaus aber auch in Beispieluntersuchungen den E r f o l g von Erwachsenenbildung zu kontrollieren, ist eine der Aufgaben der Bildungsforschung. Gerade in einem Bereich, in dem immer nur ein Teil der Arbeit durch Leistungsbescheinigungen bestätigt werden kann, ist die wissenschaftliche Erfolgskontrolle dringend notwendig. Die wirklichen Bildungsbedürfnisse der freien Zeit, auf die uns Walter Dirks hingewiesen hat

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und die der französische Soziologe Jeoffre Dumazedier in seinem Buch „Vers une civilisation du loisir" so überzeugend dargelegt hat, wird man nur durch eine laufende wissenschaftliche Verfolgung dieses gesellschaftlichen Prozesses richtig feststellen können. Bildungsforschung und Erwachsenenbildung gehören daher zusammen, wenn wir in unserem Jahrhundert vom Zeitalter der sogenannten abgeschlossenen Bildung in die Zeit der ständigen Weiterbildung durch das Leben hindurch übergehen wollen. Joseph Rovan hat die Erwachsenenbildung eine Verschwörung für die Demokratie genannt. Das Wort Verschwörung klingt überraschend und ist vielleicht dem evangelischen Sprachgebrauch besonders fremd. Joseph Rovan denkt offensichtlich an die aktive Minderheit, die die Dinge in Bewegung hält; er denkt an die mündigen Menschen, die allein das Funktionieren der Demokratie gewährleisten; er denkt aber auch an das Maß an Öffentlichkeit, das nötig ist, wenn die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik, von der das Funktionieren der Demokratie heute abhängig ist, gelingen soll. In einer Zeit, in der Außenpolitik und Wirtschaftspolitik, Bildungspolitik und Strategie von wissenschaftlichen Vorarbeiten in einem Umfang abhängig sind wie nie zuvor, können wir der Gefahr der Technokratie nur durch ein höheres Maß an Aufklärung und Öffentlichkeit entgehen. Wenn man sich an die Entstehung des Protestantismus erinnert, wird deutlich, daß die Schaffung einer aufgeklärten Öffentlichkeit durch Erwachsenenbildung eine Aufgabe ist, in der sich beste evangelische Tradition realisieren kann. Die Erwachsenenbildung in Deutschland hat evangelische Wurzeln, aber sie ist zeitenweise einen eigenen Weg gegangen. Sie hat viel experimentiert und sie ist in ihren vorhandenen Institutionen den großen Aufgaben der Gegenwart so wenig gewachsen, daß sie jeder Hilfe bedarf. Es genügt nicht, daß hier der einzelne evangelische Christ handelt, so wichtig das auch ist. Auch die Kirche als Institution ist zur Mitwirkung an der großen gesellschaftlichen Aufgabe, die wir mit dem Worte Erwachsenenbildung umschreiben, aufgerufen.

GEORG PICHT

Der Begriff der Verantwortung Selten ist soviel von Verantwortung gesprochen worden wie in den beiden Jahrzehnten nach dem Kriege, aber fast nie wurde der Versuch gemacht, zu sagen, was der Begriff der Verantwortung bedeutet."' Fast sieht es so aus, als bestünde ein Interesse daran, diesem Begriff jene unbestimmte Vieldeutigkeit zu erhalten, die es jedem erlaubt, von Verantwortung zu reden, ohne daß er sich dadurch verpflichtet und bindet. Es gibt meines Wissens auch bisher keine Geschichte des Begriffes der Verantwortung und der verwandten Begriffe in anderen Sprachen. Nach Auskunft des Grimmschen Wörterbuches hat das erst im Mittelhochdeutschen auftretende Wort „verantworten" samt den dazugehörigen Ableitungen seinen Sitz im Rechtsleben. Eine Sache verantworten, heißt eine Sache verteidigen. Man kann für einen Anderen der „Verantworter" sein, * Die einzige mir bekannte Monographie über den Begriff der Verantwortung ist die Dissertation von Wilhelm Weischedel, „ D a s Wesen der Verantwortung" 2 Frankfurt 1958. Die Arbeit, die sich an Heideggers „Sein und Zeit" orientiert, begründet das Phänomen der Verantwortung auf die im Grunde der menschlichen Existenz wurzelnde Selbstverantwortlichkeit, die als die radikale Freiheit des Menschen interpretiert wird. Zum Begriff „Verantwortung" vgl. G. Picht, „Die Verantwortung des Geistes", Freiburg-Olten 1965 (Index, s. v.) und „Der Gott der Philosophen und die Wissenschaft der Neuzeit", Stuttgart 1966. Einen Beitrag zum Begriff der „verantwortlichen Gesellschaft" gibt H . E. Tödt in: G. H o w e / H . E. T ö d t : „Frieden im wissenschaftlich-technischen Zeitalter", Stuttgart 1966. In den Artikeln über den Begriff Verantwortung von K . E. Logstrup ( R G G 3 1962), O. Hammelsbeck (Evgl. Soziallexikon 5 1965) und R. Egenter ( L T h K 2 1965) findet sich weitere Literatur. Dem im Auftrage des Deutschen Evangelischen Kirchentages herausgegebenen „Pädagogischen Lexikon" von G. Stallmann und H . Groothoff fehlt das Stichwort. Die philosophische communis opinio formuliert das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe" ( 2 Frankfurt 1955) von J . Hoffmeister: „Verantwortung: das Aufsichnehmen der Folgen des eigenen Tuns, zu dem der Mensch als sittliche Person sich innerlich genötigt fühlt, da er sie sich selbst, seinem eigenen freien Willen zum Schluß zurechnen muß. Die Zurechnung der Tat begründet die Schuld des Täters und diese seine Verantwortung."

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das heißt man kann für ihn als Verteidiger auftreten; man kann aber auch sich selbst verantworten, das heißt sich selbst vor Gericht rechtfertigen. Ein Vergleich mit dem Sprachgebrauch des römischen Rechtes zeigt, daß der deutsche Gebrauch des Wortes „verantworten" im rechtlichen Sinne dem römisch-rechtlichen Sprachgebrauda entspricht. Das relativ späte Auftreten des Wortes legt die Vermutung nahe, daß es aus dem Lateinischen übernommen wurde. Möglicherweise hängt es rechtsgeschichtlich mit dem Vordringen der Form des Inquisitionsprozesses zusammen. Geantwortet wurde in der Verantwortung auf die Anklage. Der Begriff der Haftung ist mit dem Begriff der Verantwortung nicht unmittelbar, sondern nur dadurch verknüpft, daß die Anklage, auf die man antwortet, die Haftung impliziert. Man wird sich in der Regel nur zu verantworten haben, wenn man für die betreffende Sache auch einstehen muß. Häufig wird der Begriff der Verantwortung für die Rechtfertigung vor Gottes Richterstuhl gebraucht, und nur von hier aus läßt sich, wie mir scheint, erklären, daß der Begriff der Verantwortung in Deutschland, in England und in Frankreich vom Bereich des Rechtslebens auf den Bereich der gesamten Ethik übertagen wurde, während im Lateinischen diese Übertragung nicht vorkommt, weil der römischen Ethik der Gedanke fremd ist, daß man auch für sein moralisches Verhalten, ja sogar für seine bloßen Gedanken vor dem höchsten Richter zur Verantwortung gezogen werden könnte. Die christliche Ethik hingegen rückt alles menschliche Verhalten überhaupt unter den Spruch: „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richtstuhl Christi, auf daß ein Jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse" (2. Kor. 5, 10). Erst aus der Erwartung dieses letzten Gerichtes konnte der Gedanke entspringen, daß das menschliche Leben insgesamt der Vorbereitung auf diese letzte „Verantwortung" dienen müsse. Der Begriff der Verantwortung ist demnach als moralischer Begriff christlichen Ursprungs, genauer gesagt: er ist ein eschatologischer Begriff. Das mag auch die Verlegenheit erklären, in der sich die philosophische Ethik dem Begriff der Verantwortung gegenüber befindet. Auch der hier folgenden Untersuchung des Begriffes der Verantwortung sind durch die Feststellung der eschatologischen Herkunft dieses Begriffes ihre unüberspringbaren Grenzen gezogen. Der dunkle Begriff der Eschatologie bezeichnet vielleicht einen möglichen Horizont philosophischen Denkens, aber zugleich auch die absolute Grenze der Philosophie. Die hier versuchte philosophische Erörterung dieses Begriffes steht also unter einem selbstkritischen Vorbehalt, durch den, wie ich

Der Begriff der V e r a n t w o r t u n g

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meine, Philosophie, die ihren A u f t r a g ernst nimmt, nicht eingeschränkt, sondern als G e s t a l t der Vernunft ermöglicht w i r d . In dem Begriff der V e r a n t w o r t u n g liegt eine d o p p e l t e Verweisung: m a n ist verantwortlich für eine Sache oder für andere Menschen, und m a n ist verantwortlich vor einer Instanz, welche den A u f t r a g erteilt, der die V e r a n t w o r t u n g begründet — die gewählte R e g i e r u n g vor ihren Wählern, der B e a m t e v o r seinem Vorgesetzten, der Schüler v o r seinem Lehrer und seinen Eltern. V o n anderen rechtlichen oder moralischen Begriffen unterscheidet sich aber der Begriff der V e r a n t w o r t u n g dadurch, d a ß er in sich einen eigentümlichen Uberschuß enthält, der sich in die k l a r umrissenen Bezüge, die diese d o p p e l t e Verweisung zunächst bezeichnet, nicht einfangen läßt. Wenn m a n die Rechenschaft, die ein Untergebener seinem V o r gesetzten schuldig ist, „ V e r a n t w o r t u n g " nennt, so gibt m a n dieser Rechenschaft eine ethische B e g r ü n d u n g , die über d a s rechtliche Verhältnis des Untergebenen z u m Vorgesetzten hinausweist. D e r Vorgesetzte erscheint als R e p r ä s e n t a n t einer höheren O r d n u n g , die über die rechtlichen V e r pflichtungen hinaus eine prinzipiell u n a b g r e n z b a r e höhere Verbindlichkeit in Anspruch n i m m t . D a s gleiche zeigt sich bei der V e r a n t w o r t u n g f ü r eine Sache oder f ü r andere Menschen. Auch hier bezeichnet der Begriff der V e r a n t w o r t u n g eine nicht rechtlich, sondern ethisch begründete Fürsorgepflicht, die weit und wiederum prinzipiell u n a b g r e n z b a r über d a s hinausgreift, w o f ü r m a n h a f t b a r gemacht werden k a n n . D i e U n a b g r e n z b a r k e i t der V e r a n t w o r t u n g gehört, wie sich zeigt, z u ihrem Wesen. Sie erklärt sich geistesgeschichtlich daher, d a ß die V e r a n t w o r t u n g jedes Menschen schlechthin v o r dem Richtstuhl Christi alle jene Distinktionen durchbricht, deren d a s endliche D e n k e n des Menschen b e d a r f , u m rechtliche und m o r a lische O r d n u n g e n zu etablieren. Wir werden zu untersuchen haben, ob die U n a b g r e n z b a r k e i t der V e r a n t w o r t u n g nur eine jener K o n f u s i o n e n ist, die der Einbruch des theologischen D e n k e n s in die weltliche M o r a l zu erzeugen pflegt, oder o b sich die Unmöglichkeit, die V e r a n t w o r t u n g in einem klaren S y s t e m der rechtlichen u n d menschlichen H a f t u n g e n zu ordnen, aus der A n a l y s e des P h ä n o m e n s selbst ableiten läßt. A b e r auch der unabgrenzbare „ Ü b e r s c h u ß " , der im Begriff der V e r a n t w o r t u n g z u t a g e tritt, w i r d v o n der doppelten Verweisung der V e r a n t w o r t u n g a u f ein „ f ü r " und ein „ v o r " getragen. Diese Verweisung k o m m t zur V e r a n t w o r t u n g nicht nachträglich hinzu, sie macht vielmehr V e r a n t w o r t u n g ü b e r h a u p t erst möglich. D e r Begriff der V e r a n t w o r t u n g w i r d durch diese d o p p e l t e Verweisung konstituiert.

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Die Ethik der Neuzeit hat den Verweisungscharakter der Verantwortung auf eigentümliche Weise umgebogen. Weil sich in der mit Descartes beginnenden Epoche das Denken seiner möglichen Wahrheit nur durch den Rückbezug auf sich selbst und seine eigenen Prinzipien vergewissern kann, wird das denkende Ich selbst als die Instanz verstanden, vor der die sittliche Vernunft sich verantwortlich weiß. Deshalb wird die Verantwortung als Verantwortung vor dem eigenen Gewissen, das heißt als Verantwortung vor sich selbst, als Selbstverantwortung verstanden. Entsprechend begründet das neuzeitliche Denken alle Verantwortung für Menschen und Sachen auf die Verantwortung der sittlichen Vernunft für sich selbst, oder genauer: f ü r die Freiheit, die als Bedingung der Möglichkeit des vernünftigen Selbstseins des Menschen begriffen wird. Verantwortung des Menschen heißt nunmehr: Verantwortung des Menschen vor sich selbst und für sich selbst. Das Selbstsein, vor dem und f ü r das der Mensch verantwortlich ist, nennt man die autonome Vernunft. Die klassische Formel für den auf die autonome Vernunft zurückbezogenen Begriff der Verantwortung ist der kategorische Imperativ bei Kant. Aber der Rückbezug der Verweisungen, die den Begriff der Verantwortung bestimmen, auf das Subjekt, das die Verantwortung trägt, ist nicht erst eine Erfindung der Neuzeit. Die philosophische Ethik rekapituliert im Medium der säkularisierten Rationalität eine Figur der geistigen und geistlichen Bewegung, die in Theologie und Glaubenspraxis der christlichen Kirche seit Augustin ausgebildet worden ist. Theologie und Seelsorge der Kirche haben die Menschen des europäischen Kulturkreises dazu erzogen, Verständnis und Auslegung ihres eigenen Daseins auf dem Weg zur Heilsgewißheit der einzelnen Seele zu suchen. Die Rückführung der Seele zu ihrem Heil, die durch den Engpaß des Gewissens läuft, ist nach der herrschenden Tradition der einzige Weg, auf dem die Seele zu einem gläubigen Verständnis ihrer selbst und der Welt und damit auch zu einer christlichen Ethik gelangen kann. Die Selbstbesinnung in der Prüfung des Gewissens erschließt der Seele jenen Innenraum, in dem sich dann die europäische Moralität in ihren christlichen und säkularisierten Formen erst entfalten konnte. Der durch das Gewissen eröffnete Innenraum der einzelnen Seele ist als der O r t der Heilsgewißheit zugleich der Bereich, in dem die christliche Ethik, so wie die Überlieferung sie versteht, ihren Sitz hat. Die Ethik wurde deshalb stets als Individualethik verstanden. Als moralisch galt primär nicht das Handeln und nicht das Verhalten, sondern die Entscheidung, die dem Handeln und dem Verhalten

D e r Begriff der V e r a n t w o r t u n g

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zugrunde liegt; die Kategorie der Entscheidung mußte sich vordrängen, weil menschliches Dasein vom Endgericht her verstanden wurde, weil also unter der Frage nach der Heilsgewißheit jeder Gedanke und jeder A k t die Glaubensentscheidung ausspricht oder verleugnet, an die das Heil der Seele gebunden ist. Der Begriff für die dem Glauben entspringende Bewußtheit der Seele von ihrem eigenen Zustand heißt conscientia in der doppelten Bedeutung dieses Wortes, als Gewissen und als Selbstbewußtsein. N u r in der Rückverweisung aller Lebensbezüge auf die conscientia in diesem doppelten Sinn ist nach der Tradition der Kirche ein christliches Selbstverständnis und Weltverständnis möglich. Die Christenheit kann die eineinhalb Jahrtausende geistlicher Übung in der Besinnung auf das Heil der eigenen Seele nicht verleugnen. Aber es läßt sich nicht länger übersehen, daß diese Rückwendung der Seele in ihre eigene Innerlichkeit, als itinerarium mentis betrachtet, den Geist am Rande des Abgrundes entlangführt, und daß sie theologisch schwer zu rechtfertigen ist. Die Rückwendung der Seele in sich selbst ist nämlich der Weg einer incurvatio in se ipsum. Die Christenheit hat in dieser Grundbewegung das geschichtliche Erbe der spätantiken, vom Neuplatonismus bestimmten Auslegung ihres Glaubens übernommen. Sie hat in immer neuen Formen der Aneignung dieses Erbe zu ihrem eigenen Schicksal werden lassen. D a s Grundgesetz der neuzeitlichen Philosophie und Ethik — die Reflexion des denkenden Ich auf sein eigenes Denken — ist die säkularisierte Form der christlichen Sorge der Seele um ihr Heil und um ihre Wahrheit, die sich in der Dialektik von Gewissen und Bewußtsein eröffnet. Die Dialektik von Gewissen und Bewußtsein konstituiert den neuzeitlichen Begriff des Subjektes. Weil christliche Theologie die Wahrheit des Glaubens in der Spannung von Gewissen und Bewußtsein entfaltet hatte, wird in der neueren Philosophie die Subjektivität des Subjektes zum alleinigen Grund der möglichen Wahrheit des Denkens. Die neuere Philosophie unternimmt den Versuch, aus der ihr vorgegebenen christlichen Überlieferung die denkerischen Konsequenzen zu ziehen. Sie ist der gleichen Herkunft wie die Theologie. Deshalb hat auf der anderen Seite die christliche Theologie bisher nicht vermocht, einen Begriff der Verantwortung auszubilden, der sich dem kategorischen Imperativ kritisch gegenüberstellen ließe. Die Theologie ist wie die Philosophie der einfachen Erkenntnis bisher ausgewichen, daß die einem jeden aufgetragene Verantwortung den Menschen in zwiefacher Richtung aus sich selbst und seiner Innerlichkeit hinausverweist, 13

Festschrift

Kunst

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und daß deshalb die Kriterien der Verantwortung nicht aus dem Gewissen des Einzelnen zu gewinnen sind. Sollte es wahr sein, daß der Mensch nur deshalb fähig ist, moralisch zu handeln, weil er ein "Wesen ist, das Verantwortung trägt, so wäre der Mensch damit als ein Wesen bestimmt, das sein Selbstsein nicht in sich selbst, sondern außer sich hat. Der Mensch könnte dann sein Dasein nur erfüllen, indem er nach den Dimensionen, die in seiner geschichtlichen Verantwortung vorgezeichnet sind, den Auftrag verwirklicht, für den er da ist. Aber wir kennen noch nicht den Horizont des Denkens und Handelns, in dem dieser Gedanke zu entfalten wäre. Es ist uns bewußt, daß wir Verantwortung tragen, aber wir wissen nicht, was Verantwortung ist, und deshalb hat alles, was wir bisher Anthropologie oder Ethik zu nennen gewohnt sind, einen durchaus vorläufigen Charakter. D a der Begriff der Verantwortung sich durch seine Struktur der denkerischen Grundbewegung widersetzt, die von Augustin bis heute Theologie und Philosophie gemeinsam bestimmt hat, führt er ein eigentümliches Schattendasein. Es gibt, soweit ich sehe, weder eine philosophische noch eine theologische Ethik, die sich als „Verantwortungsethik" dadurch ausweisen könnte, daß alle ethischen Strukturen aus der Struktur der Verantwortung entwickelt würden. Es gibt keine Anthropologie, die davon ausginge, daß der Mensch der mögliche Träger von Verantwortung ist, mit anderen Worten: daß der Mensch ein Wesen ist, das sich allein durch seinen geschichtlichen Auftrag definieren läßt. Trotz der Geschäftigkeit, mit der man heute allenthalben die Karten der Anthropologie zu mischen versteht, ist man noch nicht darauf verfallen, den Menschen von seiner Verantwortung her zu bestimmen. Solange man aber das Wesen des Menschen nicht aus der Verantwortung des Menschen zu begreifen vermag, wird der Begriff der Verantwortung auch in der Ethik nur als ein äußerliches Versatzstück dienen, das billige Formeln an die Hand gibt, um die Individualethik überlieferter Prägung kurzschlüssig mit der Sozialethik zu vermitteln. Wir stellten fest, daß die Verantwortung durch jene doppelte Verweisung konstituiert ist, die wir in den Pronomina „ f ü r " und „vor" auszusprechen pflegen. Der Mensch ist durch die Verantwortung, die er trägt, aus sich hinaus verwiesen. Aber wohin verweist das „ f ü r " und das „vor"? Wo liegt das „draußen", in das der Mensch durch seine Verantwortung gewiesen wird? Was ist der Horizont dieser Verweisung? Was sind die Dimensionen ihres Verweisens?

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Verantwortung verweist stets auf die Zeit. Das läßt sich an einer zweiten Bedeutung ablesen, in der das Pronomen „ f ü r " mit dem Begriff der Verantwortung verbunden wird. Man ist nicht nur verantwortlich für Menschen und Dinge, man ist auch verantwortlich für sein Handeln. Man ist verantwortlich für das, was man selbst in der Vergangenheit vollbracht oder unterlassen hat. Man ist verantwortlich für die Entscheidung, die man jetzt trifft oder der man jetzt ausweicht. Man ist verantwortlich für die zukünftigen Folgen vergangener oder gegenwärtiger Gedanken, Taten oder Versäumnisse. Von Verantwortung kann nur gesprochen werden, wo es einen Spielraum verschiedener möglicher Handlungen gibt, und dieser Spielraum ist dem Handeln dadurch gegeben, daß alles Handeln auf die Zukunft bezogen ist. Die Zukunft ist nämlich der Bereida der Möglichkeit. Möglichkeit gibt es nur innerhalb von Grenzen; wir bezeichnen als Möglichkeit den gesamten Bereich zwischen den Grenzen der Notwendigkeit auf der einen Seite und der Unmöglichkeit auf der anderen Seite. Auch diese Grenzen der Möglichkeit sind durch das Wesen der Zeit selbst gegeben. Sowohl die Notwendigkeit wie die Unmöglichkeit gründen nämlich in der Irreversibilität der Zeit. Ihrer Offenheit nach der Zukunft verdankt die Zeit ihre zweite Grundbestimmung: eine Richtung zu haben. Beide Grundbestimmungen der Zeit kehren in den Grundbestimmungen des Handelns und damit auch in den Grundbestimmungen der Verantwortung wieder. Handeln heißt: im Bereich des Möglichen eine Richtung wählen. Auch für das Handeln gibt es Möglichkeit nur, weil es zugleich Grenzen des Handelns gibt. Der Bereich des Notwendigen ist, wie der Bereich des Unmöglichen, dem Handeln verschlossen. Im Handeln bewährt sich die Verantwortung. Man ist verantwortlich nur im Bereich dessen, was möglich ist. Hingegen ist das, was notwendig oder unmöglich ist, der menschlichen Verantwortung immer entzogen. Die Richtung sowohl wie die Grenzen der Verantwortung bestimmen sich demnach aus dem Wesen der Zeit. Die Dimension der Verantwortung ist die Zeit. Die zweite Bedeutung des „für", auf die wir nun gestoßen sind, spricht eine Form der Verweisung aus, die uns bisher noch nicht begegnet ist. Man ist gewöhnt, auch diese Verweisung von dem moralischen Subjekt her zu interpretieren. Das Subjekt ist der Träger seiner Handlungen, und wenn man einen Menschen für seine Handlungen und deren Folgen verantwortlich macht, kommt darin, so meint man, eben dies zum Ausdruck: daß der Mensch im Unterschied zum Tier für seine Handlungen als 13'

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ein moralisches Subjekt einzustehen hat. Weil man gewöhnt ist, vom moralischen Subjekt her zu denken, interpretiert man gewöhnlich die Form der Verweisung, die wir jetzt untersuchen, als die Verantwortung des moralischen Subjektes für sein eigenes Handeln. Sieht man aber genauer zu, so stellt sich heraus, daß es durchaus nicht nur, ja nicht einmal primär, das eigene Handeln ist, für das man Verantwortung trägt; man ist vielmehr verantwortlich für alles, was im Zusammenhang mit bestimmten Menschen oder Sachen geschieht, und es gibt Fälle, wo man dieser Verantwortung am besten dadurch gerecht wird, daß man die Menschen und die Dinge in Ruhe läßt, daß man also nicht handelt, sondern sich des Handelns enthält. Trotzdem ist man verantwortlich für das, was geschieht, auch wenn sich dieses Geschehen weder unmittelbar noch mittelbar auf ein moralisches Handeln zurückführen läßt. Die konkreten Verhältnisse, in denen der Verweisungszusammenhang zwischen Geschehnissen und Menschen, die man für diese Geschehnisse verantwortlich macht, tatsächlich sichtbar wird, lassen sich also nach dem Schematismus der Handlungen eines moralischen Subjektes nicht interpretieren. Tatsächlich geht nämlich die Frage nach der Verantwortung für ein Geschehnis nicht vom Subjekt und seiner moralischen Entscheidung, sondern von dem Geschehnis aus. Ein Zug entgleist, und alsbald stellt sich die Frage: Wer ist dafür verantwortlich? D a s Entgleisen des Zuges ist keine moralische Handlung, es ist vielmehr die mechanische Folge eines Versäumnisses, also einer unterlassenen Handlung. Von einem Geschehnis, dem man von außen nicht ansehen kann, daß es in dem Handeln oder in dem Versäumnis eines bestimmten Menschen seinen Ursprung hat, wird auf den unmittelbar nicht beteiligten Träger der zugeordneten Verantwortung zurückverwiesen; auf Grund dieser Rückverweisung sagen wir dann, er sei für dieses Geschehnis verantwortlich. Der Träger der Verantwortung kann nur deshalb für ein bestimmtes Geschehnis verantwortlich gemacht werden, weil dieses Geschehnis aus sich selbst heraus auf ihn zurückverweist. Es verweist auch dann auf ihn zurück, wenn er sich seiner Verantwortung entziehen will und es ablehnt, moralisch d a f ü r einzustehen oder sich rechtlich d a f ü r haftbar machen zu lassen. Die Verantwortung ist also keine Sache des moralischen Bewußtseins, sondern sie ist in der Struktur der Geschehnisse vorgezeichnet. Die Struktur der Sachverhalte unterwirft die Menschen, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht, jenem Gefüge von Verweisungen, das die Verantwortung konstituiert. Soweit sich die Rückverweisung von einem Geschehnis auf den Trä-

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ger einer Verantwortung am Faden der einfachen Kausalität entlangführen läßt, solange es also um die unmittelbaren Folgen einer bestimmten Handlung geht, ist diese Rückverweisung noch durchsichtig. Aber in den meisten Fällen meldet sich die Erinnerung an die Verantwortung eines Menschen nicht dort, wo er etwas Bestimmtes getan, sondern dort, wo er etwas Bestimmtes versäumt hat. Dann verläuft die Kausalität der Geschehnisse so, wie sie verlaufen muß, wenn er nicht eingreift. Die Kausalität als solche verweist dann gerade nicht auf den Träger einer Verantwortung zurück; sie verweist vielmehr gleichsam ins Leere, nämlich in das bewußtlose Treiben jener Vorgänge, die nur noch der Wahrscheinlichkeit gehorchen. In solchen Fällen liegt der Verstoß gegen die Verantwortung darin, daß der Vorgang ohne Beteiligung des Trägers der Verantwortung abgelaufen ist, daß es also keine Kausalität gibt, die das Geschehen mit dem, der verantwortlich ist, verknüpft. Die Verweisung hat die Form der Negation: der Träger der Verantwortung wird darauf behaftet, daß nicht geschah, was im Sinne der Verantwortung hätte geschehen müssen. Diese Form der Rückverweisung widerspricht unseren Denkgewohnheiten, denn das neuzeitliche Denken wird nicht nur in der Physik, sondern auch in der Ethik von dem Schema der Kausalität beherrscht. D a ß sich an dem, was in der Welt geschieht, ein Gefüge von Verweisungen aufdecken läßt, das, ohne dem Kausalzusammenhang zu widersprechen, Verknüpfungen ganz anderer Art und anderer Richtungen herstellt, wird deshalb meistens übersehen, obwohl wir uns praktisch in diesem Gefüge bewegen. Wir haben die Struktur des Verweisungsgefüges, das die Möglichkeit von Verantwortung konstituiert, am Beispiel der Rückverweisung von dem Geschehen auf den, der f ü r das, was geschieht, verantwortlich ist, knapp demonstriert. Es läßt sich nun einsehen, daß das „für" im zweiten Sinne seinen Grund in dem Verweisungszusammenhang hat, der durch das „ f ü r " in der ersten Bedeutung bezeichnet wird. Weil der Träger der Verantwortung auf die Menschen und Sachen, für die er verantwortlich ist, schon verwiesen war, weist alles, was mit jenen Menschen oder mit jenen Sachen geschieht, auf ihn, den Träger der Verantwortung, zurück. Uberläßt er die Menschen oder die Sachen sich selbst, trägt er keine Vorsorge, die verhindert, daß geschieht, was dem Sinn der Verantwortung widerspricht, so geschieht, was nicht hätte geschehen sollen. Die Verweisung des ersten „ f ü r " wird unterbrochen, und dann wird gerade durch die Unterbrechung erst sichtbar, daß diese Menschen oder Sachen auf den

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Träger der Verantwortung angewiesen waren. Geschieht mit ihnen, was nicht hätte geschehen sollen, so wird er dafür verantwortlich gemacht. Die Rückverweisung des Geschehens auf den Träger der zugeordneten Verantwortung ist also darin vorgezeichnet, daß er durch diese seine Verantwortung mit dem betreifenden Bereich verbunden ist. Die Verantwortung für das eigene Handeln ( „ f ü r " in der zweiten Bedeutung) ist nur ein Ausschnitt aus dem sehr viel weiteren Bereich der Verantwortung für das, was geschieht. Die Verantwortung für das, was geschieht, gründet aber in der Verantwortung für die Bereiche, in denen die uns anvertrauten Menschen oder Sachen sich befinden ( „ f ü r " in der ersten Bedeutung). Es ist eine unzulässige Verkürzung des in der Struktur der Verantwortung vorgezeichneten Verweisungszusammenhanges, wenn man die Verantwortung einseitig als die Verantwortung des moralischen Subjektes für sein Handeln interpretiert. Trotzdem bleibt die Erkenntnis bestehen, daß dieser ganze Verweisungszusammenhang sich nur im Horizont der Zeit bestimmen läßt. Man ist nicht verantwortlich für das Objektsein von Objekten des Handelns, sondern man ist verantwortlich für das, was geschieht. Das Wort „Geschehen" muß, wie sich nun zeigt, in einem Sinn verstanden werden, der „Geschehnisse" innerhalb eines menschlichen Verantwortungsbereiches von Naturvorgängen unterscheidet, die in dem Sinne neutral sind, daß mögliche Verantwortung bei ihnen nicht ins Spiel kommt. Neutral gegen Verantwortung sind alle Vorgänge, die eindeutig determiniert und also notwendig sind. Neutral sind ferner alle Vorgänge, auf die der Mensch keinen Einfluß nehmen kann oder die seine Sphäre nicht berühren. Diese Grenze steht aber nicht fest, sondern ist verschiebbar. So wurden zum Beispiel durch die Raketentechnik Vorgänge im Weltraum in den Bereich möglicher menschlicher Verantwortung mit einbezogen. Im Unterschied zu allen Naturvorgängen, die gegen die menschliche Verantwortung neutral sind, verstehen wir unter „Geschehnis" einen Vorgang, der innerhalb der Reichweite menschlichen Daseins liegt. Dabei ist wichtig, daß wir als Geschehnis in diesem Sinne nicht nur Vorgänge bezeichnen, die von Menschen verursacht worden sind, sondern auch solche Vorgänge, die ohne menschliches Zutun verlaufen, aber in einen Bereich gehören, der dem möglichen Einfluß des Menschen unterliegt. Alle diese Vorgänge sind „Geschehnisse", gleichgültig, ob sie so verlaufen, wie es menschlicher Absicht entspricht (also wie das Gedeihen von Pflanzen in einer Kulturlandschaft), oder ob sie menschlicher Absicht zuwiderlaufen,

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aber durch menschliches Handeln hätten verhindert werden können. In diesem Sinne bezeichnet dann „Geschehnis" jeden Vorgang, der in den Bereich möglicher menschlicher Verantwortung fällt. Den Inbegriff aller Vorgänge in der Zeit, die in den Bereich möglicher menschlicher Verantwortung fallen, nennt man Geschichte. Das Wesen der Geschichte ist begründet in dem Wesen der Zeit, aber der Horizont der Zeit ist weiter als der Horizont der Geschichte, denn in der Zeit verlaufen auch jene Vorgänge, die dem Bereich der menschlichen Verantwortung entzogen sind, nämlich die Vorgänge der außermenschlichen Natur. Die Geschichte vermittelt also zwischen Mensch und Natur. Ist der Horizont der Verantwortung die Geschichte, so ist der Horizont der Geschichte die Zeit. Der Satz, die Verantwortung des Menschen und damit die Ethik sei durch den Verweisungszusammenhang, der sie konstituiert, in jenen Horizont menschlichen Daseins verwiesen, den wir Geschichte nennen, besagt also nicht, daß der Mensch als Träger sittlicher Vernunft aus dem Zusammenhang der Natur herausgerissen wäre. Der Mensch hat Geschichte, weil die Natur, dank ihrer Konstitution durch die Zeit, so angelegt ist, daß ein Naturwesen möglich ist, das Geschichte hat. Geschichte ist eine Möglichkeit in der Natur, die durch den Menschen überall dort verwirklicht wird, wo er seine Verantwortung erkennt und ihr gerecht wird. Weil der Mensch im Vollzug seiner Geschichte nicht aus der Natur heraus-, sondern in seine eigene Möglichkeit, in der Natur zu sein, erst wahrhaft hereintritt, deshalb vollzieht sich die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der „Eroberung" der Natur. Der Gang der Geschichte ist Schritt für Schritt durch den Bezug des Menschen auf die Natur vermittelt. Jede neue Stufe der geistigen Entwicklung, jede Phase im Prozeß der Gesellschaft und jede neue Form der politischen Ordnung wird durch die Erschließung neuer Bodenschätze, neuer Energiequellen und neuer Naturerkenntnisse, also immer im Durchgang durch neu eröffnete Bereiche der Natur vollzogen. Der Mensch verdankt es der Natur, daß er Mensch sein kann; und das gilt nicht nur für sein vegetatives Leben, sondern der Anteil der Natur am menschlichen Dasein potenziert sich auf jeder Stufe der geistigen Entwicklung. Die Geschichte der geistigen Entwicklung des Menschengeschlechtes ist die Geschichte eines fortschreitenden Heraustretens des Geistes in die Natur. Geschichte ist der Prozeß der Selbstentäußerung des Geistes. Weil die geschichtliche Verantwortung des Menschen ihn stets in die Natur hinausverweist, ist sie nicht nur Verantwortung für andere Men-

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sehen, sondern notwendig auch Verantwortung für Sachen. Sie ist im Zeitalter der Naturwissenschaft sogar zu einer Verantwortung für die Erhaltung der Natur überhaupt geworden. Wer die Verantwortung für Tiere, für Pflanzen, für Rohstoffe, für den Wasserhaushalt und demnächst vielleicht für das Klima aus der Definition der Verantwortung ausklammern will, weil diese Formen der Verantwortung sich aus dem Rückbezug auf das Subjekt nicht mehr interpretieren lassen, der verkennt das Wesen menschlicher Verantwortung bereits im Ansatz. Es sei wiederholt: der Mensch ist, insofern er Verantwortung trägt, als ein Wesen bestimmt, das sein Selbstsein nicht in sich selbst, sondern außer sich hat. Er hat sein Selbstsein durch die Geschichte vermittelt in der Natur; er hat sein Selbstsein durch die Natur vermittelt in der Geschichte. Weil Verantwortung in die Dimension der Geschichte verweist, hat sich das Bewußtsein der eigenen Verantwortung bei Menschen, die durch Schicksal oder Amt in eine exponierte geschichtliche Lage versetzt waren — bei Staatsmännern, Philosophen, Sehern, Dichtern —, seit jeher in besonderen Formen ausgesprochen. In vielfältiger Gestalt tritt der Gedanke auf, ein einzelner Mensch, eine Gruppe, ein Stand, ein Volk, ein Staat habe Verantwortung vor der Geschichte. Dieser Gedanke darf nicht so mißverstanden werden, als wäre die Geschichte eine Art von schlechtem Surrogat für Gott. In dem Bewußtsein der Verantwortung vor der Geschichte spricht sich vielmehr die Erkenntnis aus, daß es in der Geschichte der Völker und Staaten, aber auch in der Geschichte des Geistes Ereignisse gibt, die dem gesamten Schicksal einer Völkergemeinschaft oder eines Kulturkreises eine neue Wendung geben und damit auch den Sinn der bisherigen Geschichte verändern. Wer für ein solches Ereignis verantwortlich ist, der trägt damit eine Verantwortung vor der Geschichte, und zwar vor der vergangenen wie vor der zukünftigen Geschichte. Die Kriterien für diese Verantwortung bestimmen sich nach den Maßstäben, die die Geschichte selbst in ihrem bisherigen Gang hervorgebracht hat, und nach den Folgen, die ein Handeln, das diesen Maßstäben gerecht wird oder vor ihnen versagt, für die künftige Geschichte hat. Deshalb fungiert die Geschichte zugleich als Gerichtshof. Sie bringt die Folgen der Handlung an den Tag und enthält die Maßstäbe, nach denen sie zu beurteilen ist. Aber sie tritt nicht an die Stelle des Richters, sondern bezeichnet nur den Horizont, innerhalb dessen die Verantwortung definiert werden kann.

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Der Mensch hat eine Verantwortung vor der Geschichte nur, weil er eine Verantwortung für die Geschichte hat. D a ß die Menschheit insgesamt für ihre zukünftige Geschichte die Verantwortung trägt, und daß jedes Volk, jede gesellschaftliche Gruppe, ja sogar jeder Einzelne zu seinem Teil an der Verantwortung für die zukünftige Geschichte der Menschheit beteiligt ist: das ist ein schwer zu realisierender, aber leicht einzusehender Gedanke. Weniger leicht einzusehen, aber nicht weniger wahr ist die Erkenntnis, daß wir auch für die vergangene Geschichte eine Verantwortung tragen. Wir tragen sie in mehrfacher Hinsicht. Wir tragen sie zunächst insofern, als die Geschichte der vergangenen Geschlechter ein unserem Geschlechte anvertrautes Gut ist. Es gibt Verantwortungen, die man ablehnen kann. Aber die Verantwortung für die bisherige Geschichte können wir nicht ablehnen, weil unsere eigenen Möglichkeiten, Verantwortung zu tragen und in ihrem Sinn zu denken und zu handeln, durch die bisherige Geschichte bestimmt sind. Die Verantwortung, die wir heute haben, ist ein Produkt der bisherigen Geschichte, sie ist in ihren Möglichkeiten wie in ihren Grenzen durch die bisherige Geschichte bestimmt. Mit jeder Verantwortung, die wir überhaupt übernehmen, haben wir auch schon die Verantwortung für die bisherige Geschichte übernommen. Wer diese Verantwortung ablehnen will, wer die bisherige Geschichte vergißt, der beraubt in genau dem gleichen Maße, in dem er das tut, sich selbst der Möglichkeit, verantwortlich zu denken und zu handeln. N u n ist aber auch die vergangene Geschichte stets Geschichte gewesen, das heißt sie war als ein Vorgang in der Zeit immer auf eine Zukunft bezogen, die auch noch unsere Gegenwart und Zukunft ist und von uns gewonnen oder verspielt werden kann. Als eine zukünftige Möglichkeit, die Staatsmänner oder Denker vor Augen hatten, waren wir schon längst vor unserer Geburt an den Entwürfen und Plänen beteiligt, aus denen der weitere Gang der Geschichte hervorging. Weil alles menschliche Handeln einen Entwurf dessen, was kommen soll, voraussetzt, ist es prinzipiell unmöglich, die vergangene Geschichte als einen abgeschlossenen Bereich von objektivierbaren Tatsachen zu betrachten. Die objektivierende Wissenschaft des Positivismus versucht zwar, auch die Geschichte so zu betrachten, als gäbe es dort Abläufe und Fakten, die gegen unsere Verantwortung neutral sind. Sie betrachtet die Taten, die Gedanken und Werke einst lebender Menschen, als wären sie nicht Geschehnisse innerhalb des Verantwortungsbereiches der Geschichte, sondern bloße Naturvorgänge gewesen. Aber damit wird der Charakter des menschlichen Denkens und

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des menschlichen Handelns verfälscht. Alles, was Menschen tun, ist auf Zukunft bezogen, und die Zukünftigkeit dieser Zukunft kennt keine Grenzen. Deshalb tragen wir die Verantwortung für die Gedanken und die Werke jener Jahrtausende, die uns heute noch prägen. Die Geschichte hat uns aber nicht nur die positiven Möglichkeiten unseres eigenen Handelns vorgezeichnet, wir verdanken ihr nicht nur jene Maßstäbe, denen das heutige Geschlecht es schuldet, daß es den Begriff der Verantwortung zu denken vermag. Die Geschichte ist immer eine Geschichte der Verfehlungen und der Verirrungen, des Versagens und des Freveins von Menschen gewesen. Wir tragen die Schuld der Väter bis ins siebente Glied und weit über das siebente Glied hinaus. Ein einseitig moralisches oder gar juristisches Verständnis der Verantwortung hat gegen diesen Sachverhalt immer wieder rebelliert, denn man kann einen Menschen weder moralisch noch juristisch für Taten haftbar machen, die er nicht selbst begangen hat. Aber die von dem neuzeitlichen Denken beanspruchte Exemption des autonomen Subjektes der sittlichen Vernunft aus der Haftung für die Verfehlungen früherer Geschlechter ist eine Fiktion und kann nichts daran ändern, daß wir faktisch die Folgen geschichtlicher Schuld zu tragen haben, ob wir für sie haftbar gemacht werden können oder nicht. Deutschland wird noch in hundert Jahren a n den Folgen des Nationalsozialismus leiden müssen, und kein Protest gegen die Kollektivschuld vermag etwas daran zu ändern, daß wir faktisch so existieren, als ob wir haftbar wären. Der Protest gegen diesen Sachverhalt ist immer zweideutig gewesen, denn niemand hat je in glaubwürdiger Weise dagegen protestiert, die positiven Früchte der einst vergangenen Geschichte zu ernten und sich die Glorie unserer Väter zum eigenen Ruhme anzurechnen. Dieselben Gruppen, die sich dagegen sträuben, die Quittung für vergangene Freveltaten zu akzeptieren, pflegen mit Hingabe die Tradition vergangener Großtaten der deutschen Geschichte. Wer A sagt, wird aber auch B sagen müssen. Wer sich zur Tradition bekennt, wird auch das Fortwirken der Schuld nicht abstreiten dürfen. Man verfehlt nach beiden Seiten das Phänomen, wenn man den unzulänglichen Versuch unternimmt, die Verantwortung von der moralischen oder juristischen Haftung her zu interpretieren. Haftung ist möglich nur, wenn es Verantwortung gibt. Aber das bedeutet keineswegs umgekehrt, daß jede Form der faktischen Verantwortung auf Formen der Haftbarkeit zurückgeführt werden könnte. Moral und Recht sind durch die Verweisungszusammenhänge konstituiert, die wir unter dem Titel „Verantwortung" zu beschreiben

D e r Begriff der V e r a n t w o r t u n g

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versuchten. Weil es Verantwortung gibt, gibt es Moral und Recht. Aber es ist falsch, wenn man glaubt, daß umgekehrt Moral oder Recht von sich aus fähig wären, das Phänomen der Verantwortung zu begründen. Die Reichweite der Verantwortung ist prinzipiell weiter als die Reichweite jeder möglichen Moral und die Reichweite jedes möglichen Rechtes. Deshalb ist es nicht zulässig, im Namen der Moral oder des Rechtes und ihrer eingeschränkten Begriffe der Haftbarkeit gegen den Anspruch zu protestieren, der im Gedanken einer Verantwortung des Menschen für die Geschichte enthalten ist. In dem Maße, in dem wir uns als unfähig erweisen, für die Überlieferung der bisherigen Geschichte und für die Schuld der bisherigen Geschichte selbst die Verantwortung bewußt zu tragen, in demselben Maße sind wir unfähig, in unserer Gegenwart auch nur zu begreifen, was unsere Verantwortung für die zukünftige Geschichte ist. Ein Geschlecht, das vergißt, daß es die Möglichkeiten seines Denkens und Handelns der Überlieferung von Jahrtausenden verdankt, wird seinerseits nichts überliefern können, was spätere Geschlechter bewahren sollten. Ein Geschlecht, das nicht bereit ist, für die geschichtliche Schuld seiner Vorfahren einzustehen und ihre Folgen zu tragen, wird die Verantwortung, die es selbst für das Schicksal der kommenden Generationen hat, niemals begreifen. In beiden Richtungen wird etwas davon sichtbar, was der tiefste Sinn der menschlichen Verantwortung für die Geschichte ist. Der Mensch ist nämlich dafür verantwortlich, daß die Geschichte überhaupt im nunmehr deutlicher hervorgetretenen Sinn „Geschichte" sein und bleiben kann. Die Natur ruht in der Zeit und enthält deshalb in sich die Möglichkeit, daß sich innerhalb der Natur Geschichte ereignen kann. Aber das meiste, was in der Natur ist, hat deshalb doch noch nicht Geschichte in dem Sinn, in dem der Mensch Geschichte hat. Geschichte in diesem Sinn hat nur der Mensch, denn er allein hat die Möglichkeit, sein In-der-Zeit-Sein durch die Jahrtausende hindurch als einen einzigen Verantwortungszusammenhang zu begreifen. Nur dadurch, daß er das vermag, ist er ein Mensch — also ein Wesen, das Verantwortung tragen kann. Der Mensch hat aber stets die Möglichkeit, seine Verantwortungsfähigkeit zu verscherzen, und dies gilt nicht nur individuell, es gilt auch von der Menschheit im ganzen. Die Einheit der Zeit, die die Geschichte trägt, muß wahrgenommen, angeeignet und verwirklicht werden, damit Verantwortung überhaupt möglich ist. Aber menschliches Dasein ist stets von der unheimlichen Möglichkeit umspielt, Menschen und Dinge als bloße Objekte zu behandeln, Bewegungs-

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ablaufe zu neutralisieren, also Geschichte nicht geschehen zu lassen, und damit sich selbst der Möglichkeit zu berauben, Mensch zu sein und weiterhin zu bleiben. Verantwortung für die Geschichte bedeutet, daß es dem Menschen aufgegeben ist, dafür zu sorgen, daß die Geschichte im ganzen auch weiterhin Geschichte bleiben kann. Die so verstandene Verantwortung für die Geschichte ist mit der Verantwortung f ü r die Erhaltung der Menschheit identisch. Der im Begriff der Verantwortung enthaltene Überschuß sprengt, wie sich gezeigt hat, alle möglichen Formen der rechtlichen oder moralischen Haftbarkeit. Es liegt in ihm eine eigentümliche Gewalt, die alle abgrenzbaren Zuständigkeitsbereiche durchbricht; sie hat uns genötigt, solange fortzuschreiten, bis wir den universalen Horizont der Verantwortung der gesamten Menschheit für ihre eigene Geschichte erreicht hatten. Wir haben diese Universalität dem Begriff der Verantwortung nicht von außen oktroyiert, sondern es zeigte sich, daß das Verweisungsgefüge, das den Begriff der Verantwortung konstituiert, aus sich selbst heraus diesen universalen Zusammenhang erschließt. Sobald man eine rechtliche oder moralische Zuständigkeit als eine Verantwortung betrachtet, wird sie in jenen Horizont menschlichen Daseins gerückt, den wir als Geschichte beschrieben haben. Ebenso rücken die Phänomene der Geschichte, sobald man sie unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung betrachtet, in den Horizont der Universalgeschichte. N u n könnte man einwenden, die im Begriff der Verantwortung enthaltene Verweisung auf einen universalgeschichtlichen Horizont habe mit den realen Verhältnissen, in denen die Menschen faktisch leben und in denen das Wesen der Verantwortung zu bestimmen wäre, nichts zu tun; es stelle sich bei unserer Interpretation dieses Begriffes lediglich heraus, daß er schon seinem Ursprung nach ein eschatologischer Begriff sei. Eschatologische Begriffe seien aber nicht geeignet, anthropologische Zusammenhänge zu beschreiben. Mit dieser geistesgeschichtlichen Feststellung wäre dann zugleich der Begriff der Verantwortung seiner Verbindlichkeit entkleidet. Denn der Historismus hat uns daran gewöhnt zu glauben, daß alles, was sich geistesgeschichtlich herleiten läßt, eben weil es eine geschichtliche Herkunft hat, für uns heute nicht mehr verbindlich und also nicht wahr sei. Die heutige Menschheit hat zwar auf den Begriff der Verantwortung nicht verzichtet, aber sie betrachtet das menschliche Leben seit langem nicht mehr im Hinblick auf das Jüngste Gericht. Daraus scheint sich die Folgerung zu ergeben, die eschatologische Bedeutung, die dem Begriff der Verantwortung einmal

Der Begriff der Verantwortung

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angehaftet hat, müsse eliminiert werden, wenn man den Begriff so interpretieren will, wie es dem Bewußtsein des 20. Jahrhunderts entspricht. Da man die kritische Funktion der geistesgeschichtlichen Analyse nicht hoch genug einschätzen kann, bedarf dieser Einwand einer genauen Prüfung. Das ist uns bei dem Begriff der Verantwortung leichter gemacht als bei anderen ethischen und religiösen Begriffen, denn der Begriff der Verantwortung vermittelt durch seine Struktur zwischen der Geistesgeschichte und den massiven Sachverhalten der Politik und der Gesellschaft, ja er vermittelt sogar, wie wir gesehen haben, zwischen Geist und N a t u r ; wir können also die Rechtmäßigkeit seines Gebrauches stets an den realen Verhältnissen kontrollieren. Die universale Dimension des Begriffes der Verantwortung kann nur behauptet werden, wenn in den realen Verhältnissen unserer Welt eine universale Aufgabe vorgezeichnet ist, die eine universale Verantwortung der Menschheit faktisch begründet. Ist eine solche Aufgabe gegeben, dann muß es auch universale Verantwortung geben. Die Universalität dieses Begriffes ergibt sich dann nicht aus dem universalistischen H a n g christlichen Denkens, sondern aus der nackten Faktizität unserer Welt. Dann wären wir nicht durch die geistesgeschichtlichen Implikationen des Begriffes der Verantwortung dazu verführt, eine ethische Kategorie soweit auszudehnen, bis sie sich in der Ethik nicht mehr verwenden läßt. Wir würden vielmehr umgekehrt durch den harten Zwang der politischen und gesellschaftlichen Realitäten dazu genötigt, die eschatologische Reichweite des Begriffes der Verantwortung als eine historische Realität zu entdecken. Das ist tatsächlich unsere heutige Lage. Niemand kann abstreiten, daß im Atomzeitalter der Menschheit die Verantwortung dafür aufgezwungen ist, ob es eine zukünftige Geschichte der Menschheit geben wird oder nicht. Die Analyse der Verweisungszusammenhänge, die den Begriff der Verantwortung tragen, hat gezeigt, daß der Bereich möglicher Verantwortung durch die Reichweite möglicher menschlicher Handlungen bestimmt ist. Unsere Verantwortung reicht immer genau so weit, als wir durch unser Handeln oder unser Unterlassen den Gang der Geschehnisse beeinflussen können. Wo immer von unserem Denken und Handeln abhängig ist, was faktisch geschieht oder was unterbleibt, da sind wir, ob uns das bewußt ist oder nicht, für den Lauf der Geschehnisse mit verantwortlich; denn hätten wir uns anders verhalten, so wären die Geschehnisse anders verlaufen. Die menschliche Verantwortung reicht also genau so weit wie die Möglichkeit der Ausübung menschlicher Macht. Da durch

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die Entwicklung von Wissenschaft und Technik der Menschheit universale Machtmittel zur Verfügung stehen, kann sie sich auch der Universalität, die im Begriff der Verantwortung enthalten ist, nicht länger entziehen. Auch das individuelle Dasein wird von der Universalität ergriffen, die der Begriff der Verantwortung im 20. Jahrhundert erlangt hat. Dieselbe wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, der wir die Expansion der Machtmittel verdanken, hat auch die patriarchalische Ordnung umgestürzt, die es früheren Geschlechtern erlaubte, die Geschäfte der großen Politik den Königen, Fürsten und Staatsmännern zu überlassen und sich in ihrem privaten Bereich von der Mitverantwortung für den Gang der Geschichte entlastet zu fühlen. Wir durchschauen heute, wie die großen Entscheidungen aus gesellschaftlichen Prozessen resultieren, an denen jede, auch die kleinste Gruppe, ja sogar der Einzelne beteiligt ist. So ist zum Beispiel in den großen Industrienationen die Politik in eine wachsende Abhängigkeit von den Konsumbedürfnissen der Gesellschaft geraten, und das Versäumnis an Investitionen für die Infrastruktur und für die Entwicklungshilfe schwächt die ohnehin brüchige Stabilität einer Welt, die unter der Drohung einer atomaren Katastrophe lebt. Niemand kann sich der Mitverantwortung dafür entziehen, daß er durch sein persönliches Verhalten daran beteiligt ist, daß die Grundlagen einer höchst labilen Friedensordnung infolge der Unvernunft bei der Disposition unserer Mittel ins Gleiten geraten. Dieses Beispiel möge genügen, um zu zeigen, daß es nicht mehr möglich ist, den privaten Bereich gegen die Teilhabe an jener universalen Verantwortung abzuschirmen, die wie eine dunkle Wolke über uns hängt. Die Universalität der menschlichen Verantwortung ist im 20. Jahrhundert zu dem Medium geworden, in dem sich das öffentliche wie das private Bewußtsein, ob es das wahrhaben will oder nicht, faktisch bewegt. Diese Faktizität macht den Begriff der Verantwortung so beschwerlich. Wir haben ihn zwar und müssen ihn gebrauchen, aber unser Denken und unser Handeln kommt ihm nicht nach. Es wird jetzt einsichtig sein, warum es nötig war, den im Begriff der Verantwortung enthaltenen Verweisungen des „vor" und des „für" soweit zu folgen, bis wir in den universalen Horizont der Menschheitsgeschichte im ganzen versetzt wurden. Aber das ist nur die eine Seite des Problems. Der Begriff der Verantwortung wird nämlich durch eine schrankenlose Expansion nicht weniger verfehlt als durch den Versuch, ihn in den Maschen möglicher Haftbarkeit gefangen zu halten. Verantwortung verflüchtigt sich ins Unbestimmte, wenn sie nicht faktisch wahr-

Der Begriff der V e r a n t w o r t u n g

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genommen werden kann. Sie bedarf der Träger der Verantwortung, und als Träger der Verantwortung weist man sich dadurch aus, daß man für einen bestimmten Verantwortungsbereich zuständig ist. Wir sind bei der Analyse des die Verantwortung tragenden Verweisungszusammenhanges, ohne sie ausdrücklich zu explizieren, auch schon der Zuständigkeit des Trägers einer bestimmten Verantwortung begegnet. Wir sahen nämlich, daß in jedem Geschehnis (in dem oben festgelegten terminologischen Sinn) eine Rückverweisung enthalten ist, die dort, wo geschieht, was nicht hätte geschehen sollen, die Frage stellen läßt, wer hier zuständig ist. Erst wenn wir diese Rückverweisung betrachten, läßt sich der ethische und politische Sinn des Begriffes der Verantwortung so bestimmen, daß sich daraus die gebotenen Konsequenzen für das Verhalten von politischen Instanzen, gesellschaftlichen Institutionen, Gruppen und schließlich auch von Einzelnen ableiten lassen. Beziehen wir den Begriff der Verantwortung auf den Träger möglicher Verantwortung zurück, so geraten wir, wie es scheint, wieder auf die Bahn jener neuzeitlichen Ethik, die alles menschliche Denken und Handeln von seinem Rückbezug auf das Subjekt des Denkens und H a n delns her interpretiert. Deswegen kommt es darauf an, die Form dieser Rückverweisung genauer zu analysieren. Die Rückverweisung hatte die Form der Frage „Wer ist hier zuständig?" Hier, das bedeutet: in dem Bereich, in dem das betreffende Geschehnis sich begeben hat. Wo immer von Verantwortung gesprochen wird, geht man von der Voraussetzung aus, daß unsere geschichtliche Welt eine Struktur hat, die es erlaubt, in ihr Zuständigkeitsbereiche abzugrenzen. Diese ganz elementare Voraussetzung liegt jeder überhaupt möglichen gesellschaftlichen und politischen Ordnung zugrunde. Der Staat, die Kirche, der Verband, der Betrieb, ja sogar die Familie sind als Zuständigkeitsbereiche konstituiert und gliedern sich selbst wieder in Zuständigkeitsbereiche. Die Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche liegt jeder Arbeitsteilung zugrunde; auf ihr beruht deshalb nicht nur die Struktur der Gesellschaft, sondern auch die Struktur der Ökonomie. Die verschiedenen Zuständigkeiten befinden sich in einer unablässigen Kollision, die sich nicht nur aus dem Machtstreben der verschiedenen Gruppen, sondern auch aus der verschiedenen Struktur der sich überschneidenden Sachbereiche ergibt; jeder Versuch, sie ein f ü r allemal abzugrenzen, scheitert an der Dynamik der Geschichte, die weithin aus der Kollision von beanspruchten Zuständigkeiten hervorgeht. Trotzdem können Staat, Gesellschaft und Wirtschaft nur auf Grund der

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Verteilung von Zuständigkeitsbereichen bestehen. Und da „Zuständigkeitsbereiche" nur ein anderes Wort für Verantwortungsbereiche ist, bestätigt sich, daß es Gesellschaft, Wirtschaft und Staat, ja daß es Geschichte überhaupt nur gibt, wo es Verantwortung gibt. Aber was bedeutet der Begriff der Zuständigkeit? Zuständig ist man für einen Aufgabenkreis, und die Aufgaben zeichnen jeweils vor, was der Einzelne oder die Gruppe, die zuständig ist, kraft dieser Zuständigkeit zu leisten hat. Der Inhalt der Aufgaben bestimmt sich nicht aus dem souveränen Willen des Subjektes, das sich diese Aufgaben setzt, sondern er bestimmt sich durch die Struktur der Sachprobleme, die der jeweils Zuständige zu lösen bat, wenn er der ihm gestellten Aufgabe gerecht werden will. Die Struktur der Aufgabe, nicht die Struktur des Subjektes, zeichnet die Bahnen vor, in denen der Träger der Zuständigkeit sich darum bemühen muß, in seine Aufgabe, wie man zu sagen pflegt, „hineinzuwachsen". Nicht das Subjekt setzt sich die Aufgabe, sondern die Aufgabe konstituiert das Subjekt. Damit ist zugleich gesagt, daß jede Aufgabe ihr eigenes Subjekt konstituiert. Die Pluralität der Aufgaben erzwingt zu ihrer Lösung eine entsprechende Pluralität der kollektiven und individuellen Subjekte von je verschiedener Konstitution und Struktur. Die Aufgaben wechseln im Wandel der Geschichte. Jedes politische Gebilde verdankt sein Entstehen dem Umstand, daß Aufgaben gelöst werden mußten, die nur durch ein solches Gebilde gelöst werden konnten. Dies ließe sich etwa an der Ausbildung des klassischen Nationalstaates demonstrieren, der deshalb klassisch genannt zu werden verdient, weil er, wie Hegel gezeigt hat, die Struktur des neuzeitlichen Subjektsbegriffes rein repräsentiert. Aber sobald sich die Sachstruktur der jeweils gestellten Aufgaben verschiebt, werden die bisherigen Subjekte politischen Handelns handlungsunfähig, und es bilden sich neue Subjekte mit neuer innerer Gesetzlichkeit aus. Es kann auch der Fall eintreten, ja er ist sogar die Regel, daß in bestimmten geschichtlichen Konstellationen bestimmte Aufgaben vorgezeichnet sind, zu deren Lösung sich kein Subjekt konstituiert, weil man sie nicht erkennt oder weil niemand die Zuständigkeit übernehmen will. Das führt dann im großen wie im kleinen zu Krisen, zu Verfallsprozessen oder zu Katastrophen. Aber gerade an diesen negativen Beispielen wird sichtbar, daß nicht das Subjekt sich die Aufgabe setzt, sondern daß die Aufgabe das Subjekt konstituiert. Dieser Satz gilt auch für die Struktur der Person. Der Mensch wird dadurch „Person" — wenn dieser fragwürdige Begriff hier erlaubt ist —, daß er Aufgaben übernimmt, die ihm ge-

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stellt sind: als Vater, als Mutter, im Amt, im Beruf, in einer gesellschaftlichen Position, als Statsbürger oder in einer politischen Funktion. Mit der Aufgabe übernimmt er die in dieser Aufgabe vorgezeichnete Zuständigkeit, und als Träger der Zuständigkeit erfüllt er seine „ R o l l e " . D a ß der Mensch nur Person ist, indem er eine Rolle erfüllt: das ist der ursprüngliche Begriff der Person, und man hat eine falsche Vorstellung vom „Großen Welttheater", wenn man eine Betrachtungsweise anstößig findet, die das Leben mit dem Spielen einer Rolle vergleicht. Augustus hat auf seinem Totenbett gesagt, er habe den Mimus des Lebens gut gespielt. D a s bedeutet dasselbe, wie wenn ein heutiger Staatsmann sagen würde: Ich bin meiner Verantwortung gerecht geworden. Die Erkenntnis, daß man eine Rolle erfüllt, wenn man seiner Zuständigkeit für einen bestimmten Bereich gerecht werden will, ist wichtiger, als es zunächst erscheinen mag. U m eine Rolle erfüllen zu können, ist man genötigt aus sich herauszutreten; man ist beim Erfüllen der Rolle immer ein anderer als man selbst. Man spielt die Rolle, die man zu spielen hat, schlecht, wenn man sie um seiner selbst willen spielt. Der Dienst der Träger der Verantwortung erfordert ebenso wie das Spielen einer Rolle die Haltung der Selbstvergessenheit. Damit wird deutlich, in welchem Maße der Begriff der Verantwortung verfälscht wird, wenn man ihn auf die Selbstverantwortung zurückführt. Verantwortung ist Selbstentäußerung, denn sie geht in der gestellten Aufgabe auf und unterstellt sich der Fürsorge für jene Menschen und Sachen, die der Verantwortung anvertraut sind. Es ist aber kein Zufall, daß der Rückbezug der Verantwortung auf das Subjekt immer wieder so gedeutet worden ist, als sei das Subjekt der Herr seiner eigenen Verantwortung und damit auch der Herr über den seiner Verantwortung unterstellten Bereich. Wir haben nämlich bereits gesehen, daß der Aufgabenkreis, der eine bestimmte Verantwortung vorzeichnet, den Träger der Verantwortung als das Subjekt des der Aufgabe zugeordneten Handelns konstituiert. Jedes Subjekt, sei es ein kollektives oder ein individuelles Subjekt, ist aber an seiner Selbsterhaltung interessiert. Es widersetzt sich deshalb jenem geschichtlichen Prozeß, der ihm mit dem Wandel der gestellten Aufgaben auch seine Legitimation entziehen könnte. Daraus entspringt die Dialektik der Herrschaft. Solange die Zuständigkeit für einen Bereich von der gestellten Aufgabe her als Sorgepflicht verstanden wird, ist eine Form der Herrschaft gegeben, die der Priorität der gestellten Aufgabe vor dem Subjekt des Handelns be14

Festschrift

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wüßt ist. Der König ist dann der erste Diener seines Staates. Das Subjekt der Herrschaft wird aber bei diesem Dienst dessen gewahr, daß es, um seine Verantwortung erfüllen zu können, auf seine Selbsterhaltung bedacht sein muß. Damit verschiebt sich das Verhältnis zwischen dem Zuständigkeitsbereich und dem Träger der Zuständigkeit. Das Subjekt der Verantwortung wird nunmehr zuerst zum sekundären und schließlich zum primären Gegenstand seiner eigenen Sorge. Das läßt sich immer noch dadurch rechtfertigen, daß der zum Herren gewordene Träger der Zuständigkeit seine Verantwortung sonst nicht ausüben könnte. Schließlich wird dann die Stabilität des Amtes, der Funktion oder der Position ganz unverhüllt zum primären Ziel des Handelns. Das Bemühen um die Stabilität der jetzt rein als Herrschaft verstandenen Zuständigkeit muß danach streben, jede Kollision mit konkurrierenden Zuständigkeiten auszuschalten. So führt das Interesse ,an der Stabilisierung der eigenen Herrschaft zur Hierarchie. Eine Hierarchie ist ein System von Zuständigkeiten, in dem das Interesse an der Stabilität der Ämter den Vorrang über die Flexibilität der jeweils gestellten Aufgaben gewonnen hat. Umgekehrt ist die Anarchie ein Zustand, in dem keine Aufgabe mehr erfüllt werden kann, weil sich keine Subjekte der Verantwortung konstituieren können. Eine spezifische Perversion des Denkens liegt jenem Mißverständnis des Begriffes der Verantwortung zugrunde, das ihn dem totalitären Denken so anziehend macht. Das totalitäre Denken jeglicher Observanz, bei Hitler, bei Stalin, aber auch bei de Gaulle, huldigt dem Wahn, der ideale Zustand sei dann erreicht, wenn alle im Staat überhaupt mögliche Verantwortung sich aus der höchsten und alleinigen Verantwortung eines obersten Trägers der Staatsgewalt herleitet. Wäre Verantwortung immer als Selbstverantwortung zu interpretieren, so wäre diese politische Form in der Tat die reinste Verwirklichung der Struktur des Begriffes. Wir sahen aber schon, daß die Pluralität der Aufgabenbereiche eine Pluralität von Subjekten verschiedener Struktur konstituieren muß, weil die Verantwortung sich nicht aus dem Willen des Subjektes, sondern aus der spezifischen Form der je zu lösenden Aufgaben bestimmt. Die Verantwortung richtet sich nicht nach ihrem Träger, sondern der Träger muß sich nach seiner Verantwortung richten, weil jede überhaupt mögliche Verantwortung ihn in den beiden Richtungen des „ f ü r " und des „vor" aus sich selbst heraus verweist und zur Entäußerung zwingt. Wird die Verantwortung auf den herrschenden Willen reduziert, so löst sich die doppelte Verwei-

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sung auf. Der herrschende Wille versteht sich absolut. Der Bereich, für den er da sein sollte, verwandelt sich in einen Bereich, der für ihn da ist; und als die Instanz, vor der er verantwortlich sein sollte, versteht er nur noch sich selbst. Damit wird das Wesen der Verantwortung überhaupt aufgehoben. Der vermeintliche Träger der alleinigen Verantwortung ist also in Wahrheit absolut verantwortungslos. Wir haben versucht, in einem flüchtigen Umriß Struktur und Reichweite des Begriffes der Verantwortung zu skizzieren. Der Begriff der Verantwortung wird nur dann erfaßt, wenn man ihn so zu bestimmen vermag, daß verständlich wird, wieso es möglich ist, daß derselbe Begriff dazu dienen kann, die Struktur der Universalgeschichte, die Struktur von Politik und Gesellschaft und das ethische Verhalten des Einzelnen zu erhellen. Deshalb waren wir methodisch dazu genötigt, in immer neuen Durchgängen Geschichte, Politik, Gesellschaft, Moral und im Hintergrund auch die Theologie miteinander zu verbinden. Ein Begriff, der sich in allen Bereichen des menschlichen Daseins anwenden läßt, muß für das Wesen des Menschen konstitutiv, er muß ein anthropologischer Grundbegriff sein. Wir sahen: der Mensch hat deshalb Verantwortung, weil er ein Wesen ist, das sich in seinem jeweiligen Bereich vor immer wechselnde Aufgaben gestellt sieht, die er lösen muß. Weil es zum Wesen des Menschen gehört, sich immer neu vor unbekannte Aufgaben gestellt zu sehen, haben die Menschen als Gattung eine Geschichte, und jedes Individuum steht in dieser Geschichte. Der Begriff der Verantwortung ist also immer ein geschichtlicher Begriff, gleichgültig, ob man ihn auf die großen Staatsaktionen oder auf das Verhalten des Individuums bezieht. Geschichte haben wir als den Inbegriff aller Geschehnisse definiert, die innerhalb der Reichweite möglichen menschlichen Handelns liegen. Der Umkreis der Reichweite definiert jeweils den Bereich, für den ein Mensch oder eine Gruppe zuständig ist; deshalb ist alle Geschichte Geschichte der Macht. Innerhalb eines solchen Bereiches trägt der jeweils Zuständige die Verantwortung für die Vorgänge, deren Verlauf von seinem Handeln oder seinem Nichthandeln abhängig ist. Der Vielzahl der möglichen Vorgänge entspricht die Vielzahl der Aufgaben, die dem Träger der Verantwortung in seinem Bereiche gestellt sein können. Er kann diese Aufgaben erkennen oder auch nicht erkennen, und er kann sich der erkannten Aufgabe unterziehen oder ihr ausweichen. Aber gleichgültig, ob er die Aufgaben erkennt oder nicht, gleichgültig, ob er sie übernimmt oder nicht: in 14*

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jeder Aufgabe ist immer eine mögliche Verantwortung enthalten, und der gesamte Bereich möglicher Verantwortung ist immer unvergleichlich viel größer als der Bereich jener Verantwortung, die wirklich wahrgenommen wird. Schließlich gibt es auch Aufgaben, die in Bereichen liegen, für die niemand die Zuständigkeit übernehmen will. Auch in diesen Aufgaben ist eine mögliche Verantwortung vorgezeichnet, aber solange niemand zuständig ist, solange es also keinen Träger der Verantwortung gibt, kann diese mögliche Verantwortung sich nicht realisieren. In der Form der möglichen Verantwortung gibt es Verantwortung auch ohne Subjekt; aber damit eine solche Verantwortung wirklich wahrgenommen wird, muß sich ein Subjekt des Handelns konstituieren, das der zu lösenden Aufgabe gewachsen ist und deshalb die Verantwortung ausdrücklich in seine Zuständigkeit übernehmen kann. Trotzdem wird die reale Verantwortung der Menschen auch von der bloßen Möglichkeit von Verantwortung unmittelbar betroffen. Wir haben nicht nur die Verantwortung dafür, daß wir die Aufgaben erfüllen, für die wir zuständig sind; wir haben auch eine Verantwortung dafür, daß wir die neuen Aufgaben erkennen, für die noch niemand zuständig ist, von deren Lösung aber das Schicksal der Menschen, mit denen wir verbunden sind, der Gesellschaft, des Staates und vielleicht sogar das Schicksal der Menschheit abhängen wird. So steht zum Beispiel die Menschheit heute vor der Aufgabe, die wachsende Erdbevölkerung zu ernähren und ihr ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Die Lösung dieser Aufgabe verlangt eine die Welt umspannende Kooperation; sie verlangt die Herstellung eines politischen Zustandes, in dem eine solche Kooperation organisiert werden kann. Aber was bisher zur Lösung dieser Aufgabe geschieht, bleibt hinter dem, was nötig wäre, weit zurück, denn die Regierungen der Nationalstaaten müssen ihrer Konstitution nach erklären, sie seien für die Ernährung der Menschheit nicht zuständig. Es hat sich noch kein Subjekt konstituiert, das der möglichen Verantwortung gerecht werden könnte, die uns in dieser unabweisbaren Aufgabe vorgezeichnet ist; auch die Vereinten Nationen sind nur Nationen. Trotzdem ist es offenkundig, daß dieser Zustand nicht verantwortet werden kann. Zwar ist für die großen Weltprobleme niemand haftbar, aber wenn ihre Lösung nicht gelingt, werden die Folgen uns alle treffen, und spätere Generationen werden uns mit Recht für das, was versäumt worden ist, die Schuld zusprechen. Wie es eine Weltöffentlichkeit gibt, so gibt es auch ein Gewissen der Welt, das eine Verantwortung zu erkennen vermag, für die

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sich keine Regierung zuständig fühlt. Es gibt also eine Form der Verantwortlichkeit, die nicht nur die Grenzen möglicher Haftbarkeit, sondern sogar die Grenzen der Zuständigkeit übersteigt. Verantwortung kann man nur für Aufgaben tragen, für die man zuständig ist, aber die Verantwortlichkeit des Menschen reicht weiter als seine konkrete Verantwortung. Jeder denkende Mensch ist mitverantwortlich dafür, daß jene zukünftigen Aufgaben erkannt werden, für die es noch keine Träger gibt. Die Erkenntnis möglicher Verantwortung ist eine allen gemeinsame Verantwortlichkeit, der sich niemand entziehen darf. D a s ist die Verantwortung des Geistes, die alle Zuständigkeiten übersteigt, und die doch die Konstitution der Subjekte des Handelns und die Abgrenzung künftiger Zuständigkeitsbereiche erst möglich macht. Wir leben in einer Geschichtsepoche, in der die Mehrzahl der Probleme, von deren Lösung die zukünftige Geschichte der Menschheit abhängen wird, den Zuständigkeitsbereich der bisher bestehenden politischen Institutionen übersteigt. Wir leben also in einer Geschichtsepoche, in der es an Trägern jener Verantwortung fehlt, die in den heute schon sichtbaren großen Aufgaben der Geschichte der nächsten Jahrzehnte vorgezeichnet ist. Der Mangel an Trägern der Verantwortung hängt wesentlich damit zusammen, daß wir nur ungenügend erkannt haben, was der Begriff der Verantwortung bedeutet. In einer Zeit, in der der faktische G a n g der Geschichte den universalen Horizont der Eschatologie zu erreichen beginnt, ist unser Verständnis der Verantwortung im Bereich der Politik wie im Bereich der Ethik noch in den Denkformen einer versunkenen Epoche befangen. Man kann Verantwortung nur tragen, wenn man sich dieser Verantwortung bewußt ist. Man kann sich seiner Verantwortung nur bewußt sein, wenn man begriffen hat, was Verantwortung heißt. Deshalb schließt der Begriff der Verantwortung Theorie und Praxis zu einer unlösbaren Einheit zusammen. In der Verantwortung gründet die Einheit der Vernunft in allen ihren endlichen Gestalten. Weil der Mensch das Wesen ist, dem sich Aufgaben stellen, ist menschliche Wirklichkeit immer nur als erkannte Wirklichkeit möglich. D a s spricht der Begriff der Verantwortung aus. D e m rechten Verständnis dieses Begriffes entspringt deshalb unsere Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit.

HELMUT THIELICKE

Das Ost -West-Problem unter theologischem Aspekt Die permanente Ost-West-Krise, die ja vor allem an dem neuralgischen Punkt Berlin immer wieder manifest wird, hat jedenfalls den einen Vorzug, daß sie den Westen zur Selbstbesinnung treibt und ihn politisch weckt. Aber diese Krise ruft neben äußeren Gefahren, die uns ja klar sind, auch eine innere Problematik hervor: Ihre akute Bedrohlichkeit oder auch gewisse phantastische Chancen, die wir uns angesichts des Antagonismus von Peking und Moskau vielleicht ausrechnen mögen, könnten uns dazu verführen, nur auf die allernächste Zukunft fixiert zu sein. Daß wir so von wechselnden akuten Krisen gebannt sind und daß unsere Gedanken förmlich durch sie absorbiert werden, ist natürlich menschlich und psychologisch überaus verständlich. Doch könnte uns das — und darin liegt auf lange Sicht gewiß die größere Gefahr — vergessen lassen, daß die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in erster Linie geistiger Art ist und daß sie erst sekundär auf wirtschaftlichem, machtpolitischem oder gar militärischem Gebiet ausgetragen wird. Man mag hier mit nachsichtigem Lächeln einwenden, ein Theologe müsse wohl das Recht haben, ein wenig weltfremd zu sein. Erscheint es nicht in der Tat geradezu hinterwäldlerisch, von einer primär geistigen Auseinandersetzung zu sprechen, wenn einem rein physisch das Messer an der Gurgel sitzt und man nicht weiß, ob unser Planet demnächst in einer thermonuklearen Staubwolke durch das Universum schwebt? Ich würde mir freilich erlauben, diesem etwaigen Einwände nun meinerseits entgegenzuhalten, daß solche Angstvorstellungen möglicherweise mit dadurch bedingt sind, daß man sich die strategische Konzeption des Kommunismus in der Regel nicht klarmacht und daß man sozusagen nicht über die Rangstufen seines Aktionsprogramms Bescheid weiß. Er hat nämlich andere Vorstellungen von dem, was eine politische Realität ist, als wir sie allgemein im Westen haben: wir, die wir in der

D a s O s t - W e s t - P r o b l e m unter theologischem A s p e k t

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Regel nur machtpolitische Konstellationen, militärische Potenzen, Arbeitskämpfe zwischen den Tarifpartnern und ähnliches für Realitäten halten. Der Kommunismus — so paradox das auch ist — hält geistige Gegebenheiten, die er dann gerne „ideologische" Gegebenheiten nennt, durchaus für solche geschichtlichen, realpolitischen Potenzen. Es gehört zu den Prinzipien der kommunistischen Expansionspolitik und -methode, vor dem etwaigen infanteristischen Sturmangriff, vor einem Kriege also, den Gegner einer ausgiebigen Artillerievorbereitung auszusetzen. Dabei geht es nicht zuletzt um einen „ideologischen" Beschuß. Diese Vorbereitung erfolgt wiederum nach einer genau geplanten Regie. Sie verfolgt das Ziel, den Gegner geistig und weltanschaulich auszuhöhlen, sein soziales Gefüge zu erschüttern und sich dann in den so entstehenden VakuumRäumen anzusiedeln. Militärische Gewaltakte spielen — von spontanen, kasuistisch bestimmten Gelegenheiten einmal abzusehen — in der kommunistischen Programmatik nur insofern eine Rolle, als sie das derart mit ideologischer Artillerie beschossene Gelände, das „sturmreif" gewordene Gelände, dann vollends einnehmen. Das sowjetische Militär schüttelt gemäß seiner Programmatik jedenfalls nur reife Bäume. Es zieht nur das Fazit aus einer Summe, die vorher schon perfekt sein muß. Daraus ergeben sich nun für uns zwei klar umrissene Aufgaben. Es heißt erstens selbstverständlich, dieser Aushöhlung zu widerstehen. Dabei ist es wohl beachtenswert, daß sich solche Aushöhlungen durchaus nicht nur durch direkte Einflußnahmen der roten Mächte ergeben. Ich glaube, daß diese Art Einflußnahme im Augenblick nicht einmal so bedeutend bei uns ist. Wir sind gegenüber den propagandistischen Schalmeienklängen von drüben, die vor allem das Wort „Frieden" so ergreifend zu blasen wissen, ziemlich immun. Die Gefahren der Aushöhlung, die uns nicht sicher werden lassen sollten, ergeben sich bei uns selbst durch etwas ganz anderes: Einmal durch den Wohlstandsmaterialismus, durch den Vorrang des Verdienens gegenüber dem Dienen, durch die völlige Oberflächlichkeit unseres Lebensstils und durch die weithin bestehende Unfähigkeit, unsere Kinder zu erziehen. Das alles kann in bedrohlicher Weise dazu beitragen, daß bei uns jene Vakuum-Räume entstehen, in die die kommunistische Ideologie einströmen kann. Und ich meine: hier an diesen Stellen, die zunächst machtpolitisch gar nicht so sehr in Erscheinung treten und auch ideologisch im engeren Sinne gar kein Thema sind, liege die wirkliche und eigentliche Gefahr.

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Helmut Thielicke

Die zweite und auf lange Sicht ebenso schwere Aufgabe besteht in einer geistigen Überwindung des Kommunismus. Ich darf kurz erklären, was ich mit diesem etwas pathetischen Wort meine. Wer das Thema Wiedervereinigung nicht nur rhetorisch im Munde führt, sondern sie ernsthaft als Ziel anpeilt, muß natürlich die Frage im Auge haben, welche politischen Wege und Methoden einzuschlagen wären, um dieses Ziel auf lange Sicht zu erreichen. Freilich muß man sich auch — meine ich — Gedanken darüber machen, was nachher zu geschehen hätte. Wer das nämlich nicht tut, stellt ganz sicher auch vorher schon, nämlich bei der Ansteuerung dieses Zieles, die falschen Weichen. Es geht sozusagen gar nicht nur um den morgigen Tag, sondern es geht um das Plusquamfuturum, über das wir uns Gedanken machen müssen. Nach dem Tag der Erfüllung wird es zunächst um eine Fülle wirtschaftlicher und politischer Probleme gehen. Und die Art, wie man die zu lösen gedenkt, wird auch vorher schon für die Methode charakteristisch sein, wie man das gesamtdeutsche Problem überhaupt anpackt. Zu diesen Problemen gehört etwa die Frage: Wie können zwei völlig verschiedene, zwei heterogen gewordene Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme wieder zusammengeführt werden? Geht es hier um eine Synthese, eine mögliche Koexistenz oder um Integration des einen Systems in das andere und dann: welchen Systems in welches? Sollen die Kollektive wieder entflochten, sollen die volkseigenen Betriebe wieder reprivatisiert werden? — und vieles andere. Es leuchtet ein, daß diese Frage nach dem Hernach selbstverständlich schon die Anmarschverhandlungen für diesen Tag X wesentlich bestimmen müssen. Zu diesen Hernach-Fragen, über die man sich schon vorher im klaren sein muß, gehört nun vor allem das Problem: Wie werden wir die kommunistische Ideologie, die es trotz des Widerstandes der Bevölkerung drüben in Mitteldeutschland ja gibt, geistig bewältigen? Doch man müßte schon sehr weltfremd sein, wenn man sich der Illusion hingäbe, daß die geistigen Überwindungen nicht zu den realpolitischen Aufgaben ersten Ranges gehörten. Und hier frage ich mich allerdings sehr besorgt, ob wir an diesem Punkte nicht im Westen allzu sicher seien; ob wir uns nicht beklemmend wenig um jene Frage bekümmerten, die ich gern thematisch in den Mittelpunkt stellen möchte: welche Botschaft wir denn überhaupt der kommunistischen Welt zu bringen hätten. Denn daß es nicht bloß bei einem Nein bleiben kann, ist ja klar. Ich nenne für die westliche Fehlanzeige an diesem Punkt nur zwei Beispiele:

Das Ost-West-Problem unter theologischem Aspekt

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Erstens. Wir reden immer wieder sehr selbstsicher vom „freien Westen" und tun so, als ob wir das Privileg der Freiheit für uns gepachtet hätten. Natürlich sollte man an dieser Stelle nicht bloß querulieren, sondern sollte sich darüber klar sein, was es positiv heißt, daß es bei uns etwa Pressefreiheit gibt, und daß man ruhig schlafen kann. Eine Kritik westlichen Freiheitsverständnisses kann nicht nur Nivellierung von Ost und West zur Voraussetzung haben oder als Ziel anstreben. Aber wir sind bloße Konsumenten von Freiheit geworden. Und die Frage, die sich bei jedem Konsum ergibt, muß sich auch hier ergeben: Produziert man auch entsprechend? Das heißt: H a t man Nachschubquellen für die Freiheit oder verbraucht man nur das, was uns auf dem Wege der Tradition als Kapital zugeflossen ist? Jedenfalls: das Kapital verzehrt sich, wenn keine Nachschubquellen da sind. Wissen wir noch etwas von dem Wort des Evangeliums, daß Freiheit nicht identisch sei mit Willkür und Beliebigkeit, sondern mit Kindschaft, also mit der Gebundenheit an die letzte Instanz und mit einer Bindung, innerhalb deren Freiheit überhaupt legitim wirksam werden kann? Im Neuen Testament ist der Gegenbegriff zu Knechtschaft deshalb höchst charakteristischerweise nicht Willkür, nicht Autonomie und nicht Selbstbestimmung, sondern der Gegenbegriff zu Knechtschaft heißt Kindschaft oder genau: mündige Sohnschaft. Gerade wenn ich mir das klarmache und demgegenüber die H a u p t proklamatoren der Freiheitsidee in unserer Zeit, nämlich die Existentialisten, betrachte, fällt es mir auf, daß sie — ich denke etwa an Sartre —, die sozusagen die absolute Freiheit proklamieren, im Grunde in einer verfremdeten Welt leben, in einer Welt voller Angst, in einer knechtenden und vaterlosen Welt, die keine Kindschaft und Geborgenheit aus sich heraus gibt. Darum ist es sinnvoll, nach dem Rahmen und der Bindung zu fragen, innerhalb deren Freiheit überhaupt legitim wird, ohne zur exzessiven Willkür zu werden. Noch eine zweite Fehlanzeige ist zu erstatten. Wir sehen ein wenig verächtlich auf das Grau in Grau, auf die Armut und die Mißwirtschaft in der Zone herab und rühmen uns des Wohlstandes der Erfolgreichen. Droht aber unser Ruhm mit dem Lebensstandard nicht zu einer neuen Form von latentem und darum gerade so gefährlichem Materialismus zu führen? Wenn aber der junge Kommunist drüben möglicherweise einmal nur zwischen diesen beiden Gestalten des Materialismus zu wählen hätte (zwi-

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sehen dem westlichen und dem programmatisch-ideologischen Materialismus): glaubt man dann im Ernste, daß diese Wahl unbedingt zugunsten der westlichen Gestalt ausginge? Ich fürchte, wir könnten in die Lage kommen, uns sagen zu müssen, daß der östliche Materialismus ganz andere ethische Potenzen, einen ganz anderen idealistischen Enthusiasmus auszulösen vermag — nicht als das westliche Menschentum schlechthin, aber als diese Form des unter uns grassierenden Wohlstandsmaterialismus. Ich muß kurz begründen, warum ich der Meinung bin, daß, wenn schon zwei Materialismen zur Wahl stehen, dann die östliche Alternative vorzuziehen sei, jedenfalls den Vorzug finden werde: Im Osten haben wir zwar auch ein zumindest materialistisch akzentuiertes Traumbild: das der klassenlosen Wohlfahrtsgesellschaf!:. D a diese Utopie aber in eine ferne Zukunft hinein projiziert wird, entstehen sozusagen langfristige Zwischenstadien, in denen um dieses Idealbild gekämpft werden und in denen man deshalb an Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit appellieren muß. Darum wirkt dieses tausendjährige Reich der utopischen Gesellschaft nicht unmittelbar auf die materiellen Instinkte. Denn die jetzige Generation wird ja jener verheißenden Fleischtöpfe noch gar nicht teilhaftig. Vielmehr wirkt jenes utopische, eschatologische Reich, auf das man zugeht, im jetzigen Stadium der Geschichte gerade als altruistischer Appell. Es appelliert an die Selbstlosigkeit, späteren Geschlechtern das zukommen zu lassen, was man materialistisch träumt. Auf diese Weise ergibt sich die paradox erscheinende Synthese zwischen Materialismus und ethischem Enthusiasmus, zwischen dem Traum vom Wohlfahrtsstaat und der gleichzeitigen asketischen Bereitschaft, selber keine Wohlfahrt in Anspruch zu nehmen, sondern sich hinzugeben für eine utopische Zukunft. Bei den westlichen Wohlstandsgesellschaften hört in der Regel jene enthusiastische Entsagung zugunsten der inneren und äußeren Völlerei des Augenblicks abrupt auf. Aus diesem Grunde meine ich, daß die Alternative zwischen beiden Gestalten des Materialismus sehr eindeutig zu entscheiden ist hinsichtlich der geschichtlichen Potenz, die dahinter steckt. D a ist der westliche aus den genannten Gründen steril, der östliche aber geschichtsmächtig. Darum wird die Frage nur um so dringlicher, welche Botschaften dann der Westen überhaupt noch haben könne, wieso er überhaupt bevollmächtigt sein könne, innerhalb der Ost-West-Alternative zu bestehen. Ich würde zwei solcher Botschaften zu nennen wagen: Die erste würde ich nennen: die Botschaft vom Vertrauen.

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Es scheint mir nämlich entscheidend wichtig zu sein, Klarheit darüber zu gewinnen, warum die Menschen einer ideologischen Diktatur in Furcht, Vertrauenslosigkeit und Angst leben, und woher es andererseits kommt, daß wir trotz allem, worüber auch wir zu jammern pflegen, im Westen nicht die Nacht zu fürchten brauchen, in der es an die Haustür pocht. Die damit angerührte Frage können wir uns an der Geschichte vom Turmbau zu Babel klarmachen. Hier ist ein exemplarisches Modell aus archaischen Zeiten, an dem sozusagen wie an einer Planskizze das, was geschieht, und was gerade in der ideologischen Tyrannei geschieht, abgelesen werden kann. Die Menschen haben Gott abgesetzt. Indem sie das tun, wiederholt sich — man könnte es vielleicht so auszudrücken wagen — das tragische Gesetz des Atheismus: Wenn Gott abgesetzt ist, wird nämlich die obere Grenze entfernt, und das Haupt des Menschen schnellt nun titanenhaft in jene verlassenen Räume empor. Es ist sehr merkwürdig, daß immer dann, wenn Gott abgesetzt wird, die Proklamation vom Übermenschen um sich greifen muß. Der Übermensch aber ist ein Wesen, das sich selbst nicht traut. Denn im Grunde weiß er — um es mit einem etwas drastischen Worte Luthers zu sagen —, daß er doch ein armer „Madensack" bleibt, d. h. daß er der Endlichkeit preisgegeben ist und vergeht wie das Gras. Darum bedarf er sozusagen ständiger Legitimationen dafür, daß er doch der Übermensch ist, daß er doch über jene ihm gesetzte Grenze hinausgewachsen ist. Die Erbauung des Turms zu Babel ist nun gar nichts anderes als der architektonische Versuch, sich selbst eine Objektivierung der eigenen Monumentalität, der eigenen Übermenschlichkeit zu verschaffen. Der Mensch bekommt sozusagen die Gigantitis, um ständig sagen zu können: Dies ist dein Werk! und sich dann mit dem Werk zu identifizieren. Das ist die Ausflucht des Menschen, der den letzten Halt verloren hat: Er muß Großes vollbringen, um sich selbst für groß zu halten. Doch jetzt geschieht etwas, das ich ein erstes archaisches Aufblitzen von Humor nennen möchte. Es wird nämlich berichtet, Gott im Himmel habe irgendwie gemerkt, daß die Menschen ein kleines Attentat gegen ihn zu unternehmen gedenken. Aber er kann es nicht sehen. Es heißt, daß er zu sich selbst spricht: Laßt uns herniederfahren und sehen, was die Menschen da treiben. Also: Obwohl Gott allwissend ist und eigentlich mit bloßem Auge

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sogar die H a a r e unseres Hauptes zu zählen vermag, kann er doch nicht erkennen, was die Menschen da an Attentaten wider ihn unternehmen, daß sie nämlich dabei sind, den Himmel, d. h. seinen Wohnsitz, zu stürmen und ihn selber zu evakuieren. Er, der Allwissende, kann es nicht einmal sehen! D a s ist jene archaische Ironie, die ausdrücken soll: Das, was die Menschen in ihrer Gigantitis treiben, ist an den Maßen Gottes gemessen so mikroskopisch klein, daß es selbst der allwissende Gott mit „bloßem A u g e " nicht zu sehen vermag, sondern daß er sich zu einer Lokalinspektion in der Menschenwelt genötigt sieht. N u n fährt er also herunter. Dann heißt es, daß er die größenwahnsinnig gewordenen prometheischen Menschen — denn natürlich geht es hier um eine Parallele zum PrometheusMythos — zerstreut. Er zerstreut sie in alle Lande und verwirrt die Sprachen. So kommt es zur bekannten babylonischen Sprachverwirrung. Es wäre gewiß eine etwas irreführende Form von Mythologie, wenn wir uns diese Zerstreuung als einen mirakulösen Donnerschlag vorstellen würden. Ich würde vielmehr meinen, daß der biblische Bericht hier anspielt auf eine immanente Eigengesetzlichkeit der Geschichte, die jene zentrifugale Tendenz bewirkt. Wieso? Die Menschen haben — wie ich schon sagte — Gott abgesetzt. D a durch erleiden sie den „Verlust der Mitte". Sie haben kein Zentrum mehr, an das sie gebunden sind. D a s zeigt sich etwa in folgendem: Menschen, die die letzte Autorität preisgegeben haben, werden füreinander unberechenbar. Dostojewski sagt einmal: Wenn es Gott nicht gäbe, wäre alles erlaubt. Wenn aber alles erlaubt wäre, müßte man alles fürchten: Der Mensch etwa, von dem ich weiß, daß er an keine letzte Instanz mehr gebunden ist, wird für mich unheimlich. Ich weiß nämlich dann, daß er nur noch unter der Diktatur seiner Instinkte (etwa seines Machttriebes, seines Ehrgeizes, seines Opportunismus) steht und daß er über meine Leiche zu gehen bereit wäre, wenn es ihm opportun erschiene. So weiß ich nicht mehr, nach welchen Gesetzen der andere handelt. Es gibt jedenfalls keine Normen mehr, die ihn und mich gemeinsam bestimmen und die das Vertrauen einer Gemeinschaft zwischen uns bewirken könnten. So wird er für mich unberechenbar; darum wird er angsterregend. D a s Gegenbild zu dieser Geschichte des Vertrauensverlustes findet sich in den Josephs-Geschichten des Alten Testamentes. D a wird berichtet, wie Joseph seinen Brüdern auf die Nerven gegangen ist, weil er so ein eingebildeter Knabe war, und wie sie ihn schließlich nach Ägypten ver-

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kauften, um ihn loszuwerden. In Ägypten machte er aber Karriere. Denn durch Charakter und Können erregte er die Aufmerksamkeit des Pharaos, und der machte ihn zum Chef des Ernährungswesens und seines „Siebenjahresplanes". Joseph betrieb nun im Rahmen dieses Siebenjahresplanes eine sehr imposante Vorratswirtschaft, die ihn und sein Gastland für die dann folgenden sieben mageren Jahre autark machten. Die Folge war, daß in den Nachbarstaaten, in denen eine Hungersnot ausbrach, Exkursionen gestartet wurden zu jenem „Chef Joseph", um bei ihm Getreide zu hamstern. Zu diesem Heer, das sich aufmachte, gehörten auch seine Brüder. Die ahnten natürlich nicht, daß der Chef des pharaonischen Ernährungswesens ihr einst so schäbig und gemein verstoßener Bruder Joseph war. U n d als es nun zu einer Gegenüberstellung und zu einer Szene des Wiedererkennens kam, kriegten die Brüder es begreiflicherweise mit der Angst zu tun. Denn jetzt saß Joseph am längeren Hebelarm, jetzt konnte er seine Rache kalt genießen. Als Joseph diese Angst der Brüder beobachtete, sagte er ein unerhörtes Wort (und wegen dieser Pointe habe ich das Korreferat zur Geschichte vom babylonischen Turmbau hier berichtet). Er sagte nämlich: „Fürchtet euch nicht (er könnte genauso gut sagen: H a b t Vertrauen!); denn ich bin unter G o t t " ; und da ihr auch unter diesem Gott seid, also sozusagen die normative Instanz ebenfalls kennt und anerkennt, nach der ich lebe, wißt ihr, wie ich jetzt verfahren werde: daß ich euch nämlich zu vergeben habe, daß ihr nichts zu befürchten habt. D a wurden die Brüder ruhig. Joseph wollte also mit diesem Wort: „Ich bin unter G o t t ! " negativ ausdrücken: Ich bin nicht unter der Diktatur meiner Instinkte. Wäre ich unter dieser Diktatur, dann könnte es mir in der T a t Freude machen, meine Rache kalt zu genießen. Ich habe auch heißes Blut, und es ist eine tolle Situation, in der ich jetzt bin, wo ihr in meiner H a n d seid! Aber nein, ich bin eben nicht unter der Diktatur meiner Instinkte. Ich bin folglich nicht unberechenbar für euch, sondern ich bin für euch berechenbar. In dem Augenblick, wo der andere berechenbar ist — im Geschäftsleben der Konkurrent, im Privatleben der Nächste überhaupt —, kann es so etwas wie Vertrauen geben, während es das sonst nicht gibt. Jetzt verstehen wir das, was ich soeben die immanente Eigengesetzlichkeit nannte, nach der sich die zentrifugale Tendenz in Babylon ergab: Sie besteht nämlich darin, daß die Menschen, die von einer letzten Autorität emanzipiert sind, füreinander unberechenbar und sich darum unheimlich werden. So kann es gar nichts anderes geben als jene zentrifugale

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Tendenz. Die so entstehende innere Situation bezeichnet die Bibel als die Signatur unserer menschlichen Welt nach dem Sündenfall. Und damit diagnostiziert sie den Grund für ihre Gefährdung, für ihre ständigen geschichtlichen Katastrophen, für Krieg und Kriegsgeschrei. Nun entsteht natürlich sofort die Frage: Wenn das der innere Zustand ist, wenn also diese Diagnose stimmt, wie soll dann die Geschichte überhaupt weitergehen? Es muß doch weiter regiert werden und muß weitergelebt werden, während man andererseits sagen muß, der Mensch, der prinzipiell unberechenbar ist, sei überhaupt nicht mehr regierbar. Beim Nachdenken über diese Frage zeigt sich, daß es im Grunde drei Antitoxine in der Welt gibt, die jener Zerstreuung, jener zentrifugalen Tendenz und damit der Zersetzung des geschichtlichen Seins überhaupt entgegenzuwirken versuchen: Das erste Antitoxin ist der Terror. Terror bedeutet, daß die Menschen, die nicht durch eine letzte Vertrauensbindung an ihren Staat, an ihre Gesellschaft gebunden sind, einfach mit Gewalt gebändigt werden. Die zweite Gestalt des Antitoxins ist die Propaganda. Die Propaganda setzt immer dann als Herrschaftsmittel ein, wenn eine gemeinsame innere Bindung nicht existiert. Denn die Propaganda appelliert ja nicht an Uberzeugung, sie provoziert auch keine homogenen Gewissensreaktionen, sondern die Propaganda appelliert an das Nervensystem, etwa dadurch, daß sie stereotyp Worte wiederholt, oder dadurch, daß sie optische Blickfänge erstellt, daß sie durch Auge und Ohr in uns eindringt, daß sie unter Umständen sehr unterschwellig wirkt. (Wir kennen diese amerikanischen, psychoanalytisch gesteuerten Beeinflussungsmethoden!) Wer Propaganda macht — sagen wir einmal für einen Markenartikel, für Seife oder so etwas —, appelliert an eine bestimmte, allen Menschen gemeinsame Schicht von Instinkten, Wünschen und Ängsten: daß man sich etwa beliebt macht, daß man begehrenswert, erogen wird, wenn man jene Seife benutzt. Das wollen wir im Grunde alle gern. Es geht also hier nicht um letzte gemeinsame Uberzeugungen, auf die man sich verlassen kann, sondern es geht gerade um den Appell an eine Schicht des Menschen inmitten heterogen verschiedener. Denn die Nervenschicht ist und bleibt ja inmitten aller sonst bestehenden Pluralismen homogen. In einem Zirkus, wo ein Todesspringer von der Kuppel herunterspringt, atmen im entscheidenden Augenblick alle synchron und halten auch alle genau im gleichen Augenblick den Atem an, obwohl Kommunisten und CDU-Leute, Heilsarmee und Atheisten da beieinander

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sind. Sie haben sonst nichts gemeinsam, aber diese Schicht des Nervensystems haben sie gemeinsam. Und darum ist es charakteristisch, daß die Propaganda zum Herrschaftsmittel werden muß, sobald die babylonische Situation eingetreten ist. In ihr ist nur noch diese eine Schicht der Nervenreaktionen homogen. Hier kann man noch alle Menschen gemeinsam erreichen. Das dritte Antitoxin ist die Ideologie als Herrschaftsmittel. Die Ideologie bedeutet — so hat Lenin einmal gesagt — ein geistiges Instrumentarium der Macht. Es bedeutet, daß der Geist nicht mehr benutzt wird, um Wahrheiten auszusprechen, sondern um zu beeinflussen. Insofern ist die Ideologie wichtig gerade da, wo wiederum heterogene Gruppen in einer Gesellschaft beieinander sind. Es ist zwar möglich, daß der Terror sie zusammenprügelt, daß aber gleichwohl eine Art innerer Emigration und Opposition stattfindet. Der Mensch kann die Faust in der Tasche ballen. Das kann die Tyrannis aber nicht haben wollen, denn die Faust in der Tasche kann ja auch einmal eine aktiv ausgereckte Faust werden. Das ist ein potentieller Zustand, der sich revolutionär entladen, der virulent werden kann. Darum muß man sozusagen Partisanen, die hinter der Front des Bewußtseins abgesetzt werden, in die Sphäre des menschlichen Geistes einsickern lassen. Das aber sind die Ideologien. Terror, Propaganda und Ideologie — so sagte ich — seien die drei Antitoxine gegenüber der babylonisch verwirrten, inhomogen gewordenen Welt. Nun ist es ja charakteristisch, daß diese drei Größen zu den maßgeblichen Herrschaftsmitteln totalitärer Systeme gehören. Das scheint mir deshalb charakteristisch zu sein, weil sich zeigt, daß hier die letzte Autorität entlassen ist und daß man darum zu jenen drei Herrschaftsmitteln der nachbabylonischen Welt greifen muß. Und ich meine, daß man den Kommunisten von diesem Bilde aus ihre Situation deuten könnte. Allerdings wird es dann kaum genügen, vor ihnen und ihrer bangen vertrauenslosen Welt nur das westliche Ideal der Humanität zu beschwören. Es wird kaum anzunehmen sein, daß dieses durch lange Traditionen gefilterte und etwas vitaminlos gewordene Ideal imstande sein sollte, die robusten Grundsätze und Lebenspraktiken des Kommunismus abzulösen. Wir sollten eines unheimlich warnenden Wortes gedenken, das bekanntlich Grillparzer gesprochen hat: daß die Geschichte sich nämlich in einem Gefälle befinde von der Divinität, der Bindung an Gott, über die Humanität zur Bestialität. Das Wort ist deshalb so unheimlich, aber auch

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so prophetisch, weil es zum Ausdruck bringen soll, daß die Humanität ein Interimsstadium ist zwischen zwei verschiedenen anderen Stadien: daß nämlich die Humanität, die selber nicht mehr an Gott gebunden ist, auf die Dauer eben zur Bestialität werden muß. Sie kann den Menschen nur noch instrumental, als Subjekt von Funktionen, als Produktionsmittel verstehen. Die zweite Botschaft, die ich noch zu nennen hätte — neben dieser vom Vertrauen —, scheint mir die von einem neuen Menschenbilde zu sein, von einer Humanitas, die nicht mehr bloß zu charakterisieren wäre als jenes Interimsstadium zwischen Divinität und Bestialität. Jedes System, ganz gleich, ob es sich um ein gesellschaftliches Programm oder um eine weltanschaulich-ideologische Konzeption handelt, besitzt nämlich ein bestimmtes Menschenbild. Ich darf hierbei an den Nationalsozialismus erinnern, der in diesem Punkt eine ähnliche Struktur hat wie der Bolschewismus und uns als Modellbild ja noch näher liegt. Für ihn war der Mensch nur der Träger von Funktionen und biologischen Werten. Es gab hier, und es gibt auch in den anderen uns heute bedrängenden Ideologien nicht so etwas wie das, was Adolf von Harnack einmal „den unendlichen Wert der Menschenseele" genannt hat. Man beurteilt den Menschen vielmehr nach seiner Verwertbarkeit. Ist er für seine Funktion in der Gemeinschaft, im Kollektiv nicht mehr verwertbar, so gilt er als lebensunwert und wird liquidiert, oder wenn ich die Analogie zur Maschine bis zum bitteren Ende ausziehen darf: er wird verschrottet. Nicht der Mensch selbst, sondern die Funktion des Menschen ist allein wichtig und interessant. Entsprechend wird dann auch das Gewicht der Einzelperson abgewertet. Sie verliert ihre Bedeutung als einmalige Größe, auf die Gott den Akzent der Ewigkeit gelegt hat. Sie wird zum bloßen Blatt am Baum des Volkes oder zum Molekül im Kollektiv. Das Blatt mag verwelken, abgerissen werden, absterben. Das macht nichts (wir kennen ja noch dieses Bild aus den dreißiger Jahren), wenn nur der Baum des Volkes oder der Baum des Systems oder der Gesellschaft stehen bleibt. Denn Blätter wachsen nach, sind ersetzbar und auswechselbar. N u n habe ich seinerzeit als Seelsorger immer wieder mit Menschen zu tun gehabt, die in dieser Weltanschauung und in diesem Menschenbild ihren H a l t sahen, zum Teil als ehrliche Idealisten. Und ich sah, wie dieses Bild nun einfach nicht zureichen konnte, sobald persönlich-private Krisen kamen: wenn einer etwa mit seiner Ehe nicht fertig wurde, wenn der Sohn an Leukämie erkrankte oder wenn der Vater — nicht einmal auf dem

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Schlachtfelde — von seinen unmündigen Kindern wegstarb. D a s sind Fälle, an denen ich gerade dieses nicht Zureichende jener Anthropologie erfuhr. Denn der Mensch vermochte sich in seinem Schicksal sozusagen nicht unter diese Begriffe — Blatt und Baum — zu subsumieren. Es ist ja sehr charakteristisch, daß jede Weltanschauung — ganz gleich, ob man die nazistische nimmt oder die bolschewistische oder welche immer — , immer nach denselben strukturellen Prinzipien gebaut ist: so nämlich, daß sie eine bestimmte Schöpfungswirklichkeit verabsolutiert. Der Idealismus verabsolutiert den Geist; die Klassik verabsolutiert die individuelle Persönlichkeit. (Man denke nur an die Leiden des jungen Werther von Goethe, der einfach hauptberuflich Verliebter war und seine Persönlichkeit kultivierte. Ich habe manchmal gedacht: wenn er doch mal Werkstudent gewesen wäre, wäre es vielleicht nicht so weit mit ihm gekommen. Er ist gar nicht auf seine Umwelt bezogen, er kultiviert nur seine Entelechie.) Nachdem die Persönlichkeit des Menschen in diesem Sinne verabsolutiert worden ist, kommt es etwa im Hochidealismus bei Hegel dazu, daß das Individuum nun völlig beiseite geschoben wird (genau wie wir nach der Verabsolutierung des Gemeinschaftsmenschen im Nazismus nach dem Kriege einen entsprechenden Rückschlag zum Individualismus erlebten). So verabsolutiert jede Weltanschauung ein partielles Weltstück. Die Folge davon ist, daß — da der Mensch immer ein Ganzes bleibt, ganz gleich wie die Weltanschauungen ihn deuten — alle übrigen Bereiche seines Lebens von der Weltanschauung nicht erfaßt werden können. So mag der Mensch allenfalls im ökonomischen Bereich vom Bolschewismus und seiner Doktrin erfaßt sein. Doch daneben ist er ein Mensch, der verliebt sein kann, ein Mensch, der unter N e i d leidet und der sich über E r f o l g freut, der krank sein kann, der sterben muß. Doch das alles sind Daseinsdimensionen, die unter den Oberbegriff des homo oeconomicus nicht subsumiert werden können, folglich überhaupt nicht erfaßt werden und darum steuerlos umhergeistern. Nach meiner persönlichen Meinung wird sich der Untergang des Bolschewismus ebenso wie der der anderen Weltanschauungen, die man geschichtlich übersehen kann, vom Aufstand dieser nicht gesteuerten Daseinsbereiche her ergeben, die in jene Absolutierung nicht einzuverleiben sind. D a r u m wird vielleicht einmal die eigentliche Revolution im Bolschewismus von der Welt der Frau herkommen, weil sie der Ganzheit des Lebens vielfach näher ist und sich weniger als der politische Mann auf eine weltanschauliche Partikularität des Lebens reduzieren läßt. 15

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Wenn also eine Weltanschauung den Menschen nur hinsichtlich seiner Verwertbarkeit, seiner Funktion wertet, hat sie ihn nur partiell, dann hat sie ihn nur stückweise. Und er überragt das, was das System von ihm erfaßt, in Wirklichkeit weit. Ich darf das, was ich meine, an einem jungen Familienvater verdeutlichen, an den ich mich aus der Zeit des Krieges erinnere. D a wird ganz praktisch, was ich soeben nur theoretisch ausdrücken mußte. Er war ein Parteigenosse, den eine tückische Krankheit hinwegraffte. Ich hatte ihn damals zu beerdigen. Die Naziformationen der SA und die anderen Amtswalter, Kreisleiter und Schulungsfunktionäre standen um das Grab herum und warteten sichtlich sehr indigniert darauf, was der Pfaffe ihnen jetzt servieren würde. Ich habe ihnen dann auch etwas serviert und darf einige Sätze zitieren, die ich damals am Grabe sprach: „Ihr sagt, der Mensch sei nur ein Blatt am Baum des Volkes. Wer von Euch wagt es, an diesem offenen Grabe eines jungen verheißungsvollen, von den Seinen geliebten Menschen, wer wagt es im Angesicht der Witwe und der Kinder, die da um ihren Vater weinen, wer wagt es hier davon zu sprechen, daß dieser Mann nur ein Blatt am Baum des Volkes sei, ein Blatt, das also durch ein anderes ersetzt werden könnte? Gewiß, seine Arbeit, seine Funktionen kann ein anderer übernehmen. Der Mensch selbst aber ist unersetzbar, so wie Gott ihn schuf und leben ließ, wie er ihn Ehemann und Vater sein ließ. Vor Gottt nämlich ist jeder unendlich wert, weil er teuer erkauft ist und nun", so sagte ich, „mögt Ihr selber urteilen, wer recht hat: Gott, der seinen Menschen wert hält und dem keiner zu gering ist, nicht einmal der Geisteskranke in Bethel, oder die Menschen, die im anderen nur den Funktionsträger sehen und ihn entsprechend für austauschbar halten, die ihn nur für ein verwehendes Blatt halten." Ich glaube, diese Trauergemeinde war etwas betroffen, jedenfalls war sie ziemlich stumm, als sie auseinanderging. Diese Anthropologie, die im Menschen nur ein Molekül im Kollektiv, nur eine Potenz im Produktionsprozeß und nur eine Funktion materieller — sei es ökonomischer, sei es biologischer — Verhältnisse sieht, ist ganz einfach falsch. Denn sie reicht nicht zu, um das Innerste und Eigentliche des Menschen zum Thema werden zu lassen. Und angesichts von Schuld, Leid und Tod wird ja dieses Innerste zum Thema: Jeder von uns trägt z. B. seine je eigene Schuld. Dabei geht es gar nicht nur, wenn ich an den Schuldbegriff in den ideologischen Systemen

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denke, um die politische Schuld gegenüber der sozialistischen oder sonstigen Gesellschaftsordnung, der ich mich nicht hundertprozentig einpasse und der gegenüber ich Non-Konformist bin, sondern es geht vor allem um die eigene und persönliche Schuld, die ich selbst nur zum Teil und die Gott allein ganz kennt. Das ist jener Bereich, in dem ich meine verliehenen P f u n d e verschleudere und vergrabe, statt mit ihnen zu wuchern, wo ich meinen Nächsten Liebe schuldig bleibe, wo ich von Neid und Sorge zerfressen bin, und wo ich verleugne und stolz bin. Auch mein Leid — nicht nur die Schuld — ist ja wesensmäßig nur mein eigenes, das ich allein durchstehe. Obwohl im letzten Kriege Millionen Mütter ihre Söhne verloren haben, war das, was sie erlitten haben, gleichwohl kein Kollektivleid, sondern jede Mutter trug ihren Schmerz im Grunde trotz der Solidarität mit Millionen anderen allein und „individuell". Einfach deshalb trug sie ihn allein, weil sie ein unverwechselbares und einmaliges Verhältnis persönlicher Liebe zu ihrem Jungen hatte. Und diese einmalige Liebe teilte sie mit niemandem sonst. Darum konnte sie auch ihre Trauer nicht teilen und in einer allgemeinen Volkstrauer aufgehen lassen. Mir ist dies alles an einem ganz trivialen Erlebnis klar geworden: Ich sah eine Kompanie Soldaten über die Straße marschieren. Während die Sonne lachte, schmetterten sie ein Lied. Hierbei überfiel mich nun ein sehr merkwürdiger Gedanke. Ich dachte mir nämlich: Diese Kompanie ist ein einziger klingender und rhythmisch bewegter Körper. Der einzelne ist in dieses überpersönliche Gebilde sozusagen eingesaugt. Er hat gar nicht mehr seinen eigenen Schritt, seine eigene Stimme, sondern er ist in diesem überwölbenden, rhythmischen und klanglichen Ganzen aufgegangen. Und einen Augenblick durchzuckte mich sogar der Gedanke: Ist das nicht ein faszinierendes Symbol des Kollektivs? Du aber stehst hier am Straßenrand und glaubst als Christ, daß jeder Mensch personhaft einmalig und unverwechselbar, für Gott unendlich wertvoll sei? Ist dieses klingende, dröhnende und im Gleichschritt sich bewegende Gesamt nicht eine Widerlegung dieser christlichen Lehre vom einzelnen und seinem Gott? Als dann die Kompanie um die nächste Straßenecke bog und ihr Gesang allmählich verhallte, wurde mir klar: Nachher löst sich dieser geballte H a u f e wieder auf, und später kehrt jeder in seine Familie zurück, führt sein eigenes Leben, wird schuldig je auf seine Art, wird seinen Kummer und seine Freuden haben — je auf seine eigene Weise —, und schließlich wird er auch seinen Tod sterben, einsam und ohne Begleitung. 15*

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Sein letztes Stündlein wird einer Bahnsperre gleichen, durch die man immer nur allein und ohne Gepäck kommt. D a ist der klingende und rhythmisch-bewegte Körper des Kollektivs aufgelöst, und vor Gottes Thron hat kein Mensch mehr einen Nebenmann. Doch: er hat einen Nebenmann, einen, der dicht bei ihm steht und ihn nicht verläßt. Aber dieser Nebenmann ist von anderer Art, als es seine irdischen Gefährten waren. Es ist jener eine, zu dem wir bittend sagen — denken wir an den Choral aus der Matthäus-Passion —: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir." Das — würde ich meinen — ist das wahre Bild vom Menschen. Und in diesen entscheidenden Dimensionen lassen die Weltanschauungen den Menschen allein. Hier können sie ihn nicht ordnen, nicht halten und erst recht nicht trösten. Hier ist er von ihnen preisgegeben. Indem wir als Christen auf den wahren Menschen zugehen, indem wir von der Vergebung seiner Schuld, von der Überwindung des Leids und vom Siege über den Tod sprechen, weiß dieser Verlassene sich angerufen. Damit zielen wir auch (ich weiß das von vielen Seelsorgern drüben) auf die geheimen Verzweiflungen der Funktionäre. Indem wir aber das tun und einfach die Botschaft von der Vergebung und Weltüberwindung ausrichten, weichen wir die Weltanschauungen auf, da unterwandern wir sie. Ich würde allen Ernstes meinen, ohne das hier begründen zu können, daß das Evangelium gar nicht nur zum Thema; hat „Gott und die Seele", womöglich „Gott und die Einzelseele", sondern daß hier etwas von dem wahr ist, was Jesus mit dem Wort vom Salz der Erde meint und womit er auf eine kosmische Bedeutung anspielte, die dieses Wissen um Gott hat. Wir weichen die Weltanschauungen mit diesem Salz auf, wir unterwandern sie. Alle Streitgespräche, alle scharfsinnigen apologetischen Duelle mit den Repräsentanten der anderen Weltanschauungen sind nichts gegen das, was so mit Hilfe des ewigen Wortes geschieht. Es bricht in die Bastionen einer feindlich verschanzten Welt ein, weil der, der es spricht, sich barmherzig zu dem frierenden Menschen herniederneigt, der in seinem ideologischen System gefangen ist. Darüber gibt es viele Berichte. Das Evangelium hat nämlich, um es ganz direkt zu sagen, auch das wahre Menschenbild. Um diesen Dienst zu tun und den Sieg zu verkünden, der die Welt überwunden hat und der darum auch die Systeme der Weltbeherrschung überwindet, braucht man weder die Spalten der Zeitungen noch die

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Mikrophone des Rundfunks zu beherrschen. Es genügt — man möge sich russische Situationen in russischen Katen vorstellen —, wenn eine Großmutter ihren Enkel das Vaterunser und den Katechismus lehrt. Dann schenkt sie ihm nämlich nicht nur ein Mittel, das ihn gegen alle Ideologien immun macht, sondern sie übt damit — und die Bolschewiken wissen, was das heißt — den Akt der Unterwanderung, der Aufweichung der Systeme aus. Die Großmutter — hier als Symbol verstanden —, ja, die Frau überhaupt, die über die Seelen der Kinder wacht, ist nicht nur der Hüter der sogenannten „privaten Sphäre" und des „heimischen Herdes", sondern sie gehört zu den geheimen Mächten und Mitteln des Gottesreiches, das in der Öffentlichkeit wirkt und das Eis der gottlosen Systeme mit den schlichten und unscheinbaren Salzkörnern des ewigen Wortes auftaut. Wenn man weiß, wie es mit dem Familienproblem etwa in China steht, dann weiß man, was das bedeutet, welche Perspektiven damit aufgerissen werden, ich würde sagen: auch welche realpolitischen Perspektiven. Denn hier ist wieder ein Fall, wo die kleinen Dinge, wo die Welt des Details auf einmal in ihrer realpolitischen Potenz deutlich werden. Die Machthaber jedenfalls spüren das, was wir möglicherweise nur als eine Idylle des Privaten zu werten geneigt sind. Darum ist es auch eine Irrlehre zu meinen, daß die Frau ihre eigentliche Lebenserfüllung darin fände, daß sie in den Produktionsprozeß eingegliedert würde — so sagen es ja gerade die Chinesen —, während sie daheim am Kochtopf und an den Betten ihrer Kinder versklavt sei. Im Osten droht die Frau ihrer Berufung und ihrem königlichen A u f trag entfremdet zu werden, indem sie von der Familie hinweg in die Produktion gerufen wird. Im Westen aber geschieht das gleiche, nur wiederum — genau wie bei dem, was ich am Anfang bei der Analyse der beiden Materialismen sagte —, ganz unprogrammatisch, nur naiv und latent in Form eines unbewußten Gefälles. Ich sagte: Im Westen geschieht genau das gleiche, wenn die Frau, ohne aus N o t gezwungen zu sein, der Wohlstandsvöllerei frönt, den Klimbim des Zivilisationskomforts benutzt, um zur Doppelverdienerin zu werden, ihr Haus verläßt und heimatlose Schlüsselkinder zurückläßt. Ohne daß sie es ahnt, begeht sie damit Schlimmeres als den Verrat an ihrer persönlichen Lebenssphäre. Sie hilft unwissend, die Straßen zu planieren, auf denen die ideologischen Mächte einmarschieren, auf denen sie gut vorankommen und keinen Widerstand finden. Denn sie hat die Barriere der Familie niedergerissen, die jenen Mächten H a l t gebieten könnte.

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Unsere westliche Gefahr besteht nicht darin, daß wir keine Gegenideologie hätten. (Im Gegenteil: daß Geist und daß Überzeugung bei uns nicht pragmatisch verzerrt und zu bloßen Mitteln der Machtausübung werden sollen, ist sogar unsere Stärke.) Unsere tödliche Gefahr sitzt ganz woanders: daß wir nämlich in unserem Lebensstil, im konkreten Verhältnis zum Leben de facto und ohne Ideologie so existieren, wie das programmatisch und mit der Ideologie der Bolschewismus tut. D a s ist viel gefährlicher, weil es viel unerkennbarer ist. Sobald ein Lebensstil, ein Verhältnis zum Leben sich in Doktrinen objektiviert, hat man sie ja gegenüber, dann sind sie erkennbar geworden, so wie am Fieber eine Krankheit erkennbar wird. Unsere Probleme aber, besonders diese höchst latente Form von Verkommenheit, sind gerade deshalb gefährlich, weil sie unprogrammatisch auftauchen und überdies sehr verbreitet sind. Nicht nur die Steuermänner der Geschichte, nicht nur die weltgeschichtlichen Individuen sind es, die das Schicksal der Welt bestimmen, sondern gerade dieses latente Geschehen und dieses Geschehen in den Winkeln ist es, die stillen Hüter und Hüterinnen sind es — jene Leute vielleicht, denen ein K i n d oder ein Enkel oder ein Ehegefährte anvertraut ist. In diesen Bereichen sind die eigentlichen Stellwerke der Welt, und ihrer vor allem bedienen sich die „höheren Gedanken", von denen die Bibel spricht. Der „Fürst dieser Welt" ist, wie das Neue Testament sagt, machtlos, wenn hier Treue geübt wird, aber jeder noch so subalterne Teufel feiert Triumphe, wenn wir diese unscheinbaren Bastionen verlassen und d a f ü r um so pathetischer ins H o r n der Freiheit blasen. Gott macht seine Politik ganz woanders, als die Redakteure der Weltpresse es ahnen. D a s Entscheidende — um das es mir in diesem ja sehr vielgliederigen Gedankengang ging — ist im Grunde immer das gleiche: O b jener T a g der Wiedervereinigung ein T a g des Segens oder aber ein T a g des Fluches wird, ist eine offene Frage. Eine naive Vorfreude, die diesen T a g nur für die Schicht des Gemüts oder der vaterländischen Begeisterung aktuell sein läßt, geht in gefährlichster Weise am Ernst der wirklichen Probleme vorbei. Der T a g X würde ein T a g des Unsegens und der Gnadenlosigkeit sein, er würde zu verheerenden geschichtlichen Konsequenzen führen, wenn wir die Menschen jenseits der Mauer nur mit platter westlicher Selbstsicherheit „zum Anschluß" nötigen würden und sie gewisser Segnungen teilhaftig werden ließen, die in unseren Händen längst zu leeren

Das Ost-West-Problem unter theologischem Aspekt

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Schalen geworden sind. Er würde ein Tag des Segens werden, wenn wir im Angesicht der überzeugten Kommunisten uns selbst auf die Glaubwürdigkeit unserer eigenen Grundlagen befragen ließen, wenn wir harte Revisionen vornähmen. Jener Tag wird eine Fülle politischer, wirtschaftlicher und organisatorischer Aufgaben stellen. Diese alle aber würden das Pferd vom Schwänze her aufzäumen, wenn sie das erste und das letzte sein sollten. Es ist der heimliche Segen und der heimliche Auftrag dieses Tages, daß er uns zu dem Exerzitium nötigt, die letzten Fragen unseres eigenen Lebens zu bedenken. Denn so ist es ja wirklich: Es geht am Ende nicht einmal um das christliche Abendland — das ist nur ein geographischer und kulturgeschichtlicher Begriff —, sondern es geht um mich selbst. Und wenn ich mit dieser Schicksalsfrage zu tun habe, darf ich nur in der „ersten Person" reden, denn „ich bin bei meinem Namen gerufen".

GUSTAV W. HEINEMANN

Neue Fakten und Formen des politischen Engagements der evangelischen Kirche I Die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) über „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn" hat das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Klärung des Rechtes und der Grenzen kirchlicher Stellungnahme zu politischen Fragen außerordentlich verstärkt. Diese Denkschrift steht seit ihrer Veröffentlichung im Oktober 1965 im Mittelpunkt vielfältiger Auseinandersetzungen nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit sondern auch innerhalb der Kirche selbst. Es gibt keinen Einwand gegen ihren Inhalt, der nicht erhoben worden wäre. Es gibt keine noch so schmähliche Verdächtigung gegen ihre Verfasser oder gegen den Rat der E K D , die nicht ausgesprochen worden wäre. Im Protest gegen die Denkschrift hat sich sogar eine „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher" formiert, die sich um die Wahrung des überlieferten Verständnisses von Volk und Vaterland in der evangelischen Kirche bemühen will. Die Synode der E K D hat die Denkschrift im März 1966 erläutert und bei einer Stimmenthaltung einmütig gebilligt. Geblieben aber ist die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Besinnung über derartige kirchliche Verlautbarungen. Solche Besinnung muß zunächst in Erinnerung nehmen, daß die evangelische Denkschrift zu den Ostfragen kein vereinzelter Vorgang ist. Im gleichen Jahr 1965 gab es auch eine Denkschrift der E K D zur „Teilarbeitszeit der Frauen" und zur „Neuordnung der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland als gesellschaftliche Aufgabe" sowie Äußerungen der Familienrechtskommission der E K D zum Recht der unehelichen Kinder und der Strafrechtskommission der E K D zur Regelung der Religionsdelikte in einem neuen Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. Voraufgegangen waren u. a. im Jahre 1963 das Wort des

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Rates der E K D zu den NS-Verbrecherprozessen sowie 1962 die Denkschrift der E K D zur Eigentumsfrage in der Bundesrepublik Deutschland unter dem Titel „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung", an die sich ebenfalls sehr lebhafte Erörterungen angeknüpft haben. Besonders o f t äußerten sich kirchliche Organe im Laufe der Jahre zu den Fragen, die mit der Spaltung Deutschlands zusammenhängen. Auch aus dem anderen Teil Deutschlands wären kirchliche Verlautbarungen zu öffentlichen Fragen zu nennen. 1 Im Hinblick auf diese Vorgänge ist die Redeweise aufgekommen, daß die evangelische Kirche in ein „Zeitalter der Denkschriften" eingetreten sei. Dieser Ausdruck mag gelten, wenn sich damit die Einsicht verbindet, daß in der evangelischen Kirche in der Tat ein neues Kapitel ihres Selbstverständnisses angehoben hat. Dieses neue Selbstverständnis hat die evangelische Kirche sowohl in ein unmittelbares Engagement in innerdeutschen politischen Fragen als auch mittelbar über die Ökumene in das Engagement in internationalen politischen Fragen hineingeführt. Beides ist in seiner Art neueren Datums. Die Anfänge dieses Engagements greifen in die Zeit des Kirchenkampfes im Dritten Reich zurück. Damals hat ein Umbruch in der evangelischen Kirche eingesetzt, dessen grundsätzliche Bedeutung und dessen Tragweite nur auf dem Hintergrund unserer Kirchengeschichte verstanden werden kann. Es ist unumgänglich, mit einem Rückblick in die Geschichte des deutschen Protestantismus und seines Verhältnisses zum Staat und zur Politik anzusetzen (II), um daran anschließend die Grundsatzfragen kirchlicher Stellungnahme (III) und deren Arbeitstechnik (IV) zu behandeln. II Die Reformation Luthers in Deutschland im 16. Jahrhundert ist dadurch gekennzeichnet, daß Luther im Unterschied zu Vorläufern (Arnold von Brescia, Wiklif, Huss) den nachhaltigen Anschluß an weltliche Gewalt fand und in vielen der damaligen rund 500 deutschen Territorien ein Bündnis mit Fürsten und Magistraten reichsfreier Städte, insbeson1

H. Merzyn, Kundgebungen — Worte und Erklärungen der E K D 1945—1959, 1959 — G. Heidtmann, Hat die Kirche geschwiegen?, 1964 4 — G. W. Heinemann, Wiedervereinigung Deutschlands—Die Stellungnahme der Kirche, in „Evangelisches Staatslexikon", 1966.

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dere mit seinem eigenen Kurfürsten von Sachsen, eingehen konnte. Die kaiserliche Zentralgewalt, die an der alten Kirche festhalten wollte, war nicht stark genug, alle Reichsstände auf die Vollstreckung der Reichsacht gegen Luther festzulegen. Der Kaiser war in Bedrängnissen durch Frankreich, den Papst und die Türken und mußte es auf dem Reichstag zu Speyer 1526 hinnehmen, daß sich die Territorialgewalten der Religionsfrage bemächtigten, indem sie sich nicht einheitlich sondern unterschiedlich gegenüber Luther einstellten. In einem entscheidungsträchtigen Augenblick deutscher Geschichte behielt damals die religiöse Sonderung nach Reichsständen die Oberhand gegenüber der alten Einheit von Reichs wegen. Wir können auch sagen: die Kulturhoheit glitt 1526 aus der Hand der Zentralgewalt in die Hand der Länder, wo sie bis heute verblieben ist. Die Territiorialgewalten, die es mit Luther hielten, waren gleichzeitig sein Schutz wie auch die Organisatoren und damit die Träger der jungen protestantischen Landeskirchen. Weltliche und geistliche Gewalt flössen ineinander. Thron und Altar gingen jenes Bündnis ein, das an die 400 Jahre protestantischer Kirchengeschichte geprägt hat. Luther mochte wohl erwartet haben, daß aus dem Schutz und aus der Hilfe der weltlichen Gewalt für die Reformation der Kirche alsbald lebendige Gemeinden und eigenständige Kirchen erwachsen würden, — wir wissen im Nachhinein, daß das Beharrungsvermögen der staatskirchlichen Anfänge bis zum Zusammenbruch der alten landesherrlichen Gewalten im Jahre 1918 die Oberhand behielt. Dieser hier nur im groben Strich und unter Außerachtlassung besonderer Entwicklungen, wie etwa am Niederrhein, skizzierte Geschichtsverlauf hat dem deutschen Protestantismus ein Gepräge gegeben, über das noch einige zusätzliche Feststellungen zu treffen sind. Zum Bild des deutschen Protestantismus vor 1918 gehört es, daß er nicht zu einem Gegenüber zum Staat und damit auch nicht zu einer eigenen Verantwortung in den öffentlichen Fragen der Politik oder der Gesellschaftsordnung oder gar in internationalen Fragen durchzudringen vermochte. Man war vaterländisch, — das versteht sich. Man begleitete das, was der Staat im Frieden oder Kriege tat, treulich mit dem Worte Gottes. Man unterschied Kriege zwar lehrmäßig in gerechte und ungerechte Kriege, praktizierte den Unterschied aber in keinem Falle. Der Treueid auf den Träger der weltlichen Gewalt galt höher als alle Bedenken gegen seine Taten. Man konnte auch nationalistisch überschäumen,

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wenn man mit dem Volke eine Stunde der großen Geschichte zu erleben vermeinte. Man war halt, um es ganz einfach zu sagen, immer dabei, und genoß dafür die Privilegien, die die Welt stets zu geben bereit ist, wenn eine Kirche folgsam mitgeht. Hinsichtlich der Gesellschaftsordnung war der deutsche Protestantismus vor 1918 eindeutig konservativ. Es genüge hier, daran zu erinnern, daß die Kirche für die im 19. Jahrhundert aufgebrochenen sozialen Fragen aus der Industrialisierung, der Lohnarbeit, der Ausbeutung von Frauen und Kindern in den Fabriken, dem Wohnungselend usw. auf das Ganze gesehen kein Verständnis hatte. Freilich gab es achtbare caritative Bemühungen. Aber die Gesellschaftsordnung als solche stand für die Kirche außerhalb des Bereiches ihrer Mitverantwortung. Dieses Bild wird aber dann erst rund, wenn man hinzunimmt, daß nicht nur von Staats wegen, sondern auch durch die Kirche im Verein mit den gesellschaftlichen Kräften den Bürgern wie den Gliedern der Kirche von Generation zu Generation eine Geisteshaltung der Untertänigkeit als gottgewollter Inhalt des Evangeliums anerzogen wurde. Koppelungen von Thron und Altar haben zu jeder Zeit und überall dazu geführt, daß das treue Dienen in dem von Gott verordneten, d. h. in der Regel in dem vom leiblichen Vater überkommenen Berufsstand, sowie der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit besondere Akzente in der Unterweisung durch Kirche und Schule annahmen. In einem Kirchenlied aus dem Jahre 1566 begegnet der Vers: „Verleih audi dass die Untertan fromm sind, treu und gehorsam. Leist jeder sein Pflicht in seinem Stand Gott, seinem Herrn und seim Land".

Diesen Vers greife ich deshalb heraus, weil er noch 1964 auf einem großen Männertreffen einer deutschen Landeskirche gesungen wurde. Er steht nämlich auch heute noch im Gesangbuch dieser Kirche. Auf dem Hintergrund solcher Erziehung wird die Anekdote von einem Schneidermeister verständlich, der vor 150 Jahren in einer kleinen deutschen Stadt lebte und sich an der Begrüßung des regierenden Fürsten mit einer Schrift an seinem Haus beteiligte: „Lieber Landesvater, — unter Deinen Flügeln kann ich ruhig bügeln." Diese Mentalität ist in unserer bisherigen Geschichte nie recht überwunden worden. Es mag dahinstehen, ob auch eine richtig verstandene lutherische Theologie zu den skizzierten Verhaltensweisen hinführt oder ob bloße Mißverständnisse Luthers einige — reparable — Fehlentwicklungen ver-

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ursacht haben. Hier kann die marxistische Erkenntnis, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, aufschlußreicher sein. Wo Staat und Kirche sich miteinander verkoppeln, werden auf der Grundlage jeder Theologie die Obrigkeit überbetont und die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse verfestigt. Deshalb ist die rechte Zuordnung von Kirche und Staat so wichtig. Die Revolution von 1918 war Zusammenbruch, nicht Aufbruch. Aus den Trümmern der Monarchien und aus der Unhaltbarkeit der alten Standesvorrechte konnte nur Demokratie herausführen. Sie kam ohne christlichen Anstoß und hatte zu ihren Widersachern nicht nur die alten gesellschaftlichen Kräfte sondern weithin auch die evangelische Kirche mit ihrem Anhang. Das hätte auch anders sein können, wie die angelsächsische Geschichte eindrucksvoll beweist. 2 Hier aber, in Deutschland, blieben Kirche und Theologie aufs Ganze gesehen auch dann noch rückbezogen auf den Patriarchalismus und auf staatskirchliche Privilegien, als mit der Weimarer Republik eine neue Zeit angebrochen war. Man fand kein positives Verhältnis zur Demokratie, begegnete ihr vielmehr sehr reserviert, ja sogar mit Abscheu. Alles was sich über ihre Mängel oder gar Gefahren sagen ließ, wurde gründlicher ausgebreitet, als was über ihre Bedeutung für Gerechtigkeit, Menschenwürde und Rechtsstaat zu sagen möglich gewesen wäre. Wenn der Göttinger Theologe Trillhaas noch 1956 schreiben konnte, daß die Demokratie das eigentlich unbewältigte Thema der lutherischen Theologie sei,3 so galt das erst recht für die Weimarer Zeit. Vollends beklagenswert, ja verhängnisvoll war, daß man im evangelischen Bereich die Verteidiger der Demokratie gegen ihre Feinde nicht nur weithin im Stich ließ, sondern aus traditioneller Neigung zu autoritären Staatsauffassungen sogar mit dem Nationalsozialismus sympathisierte. Als Hitler die Macht ergriff, fehlte es leider nicht an überschwenglichen Hymnen und Segenswünschen aus dem Munde evangelischer wie katholischer Kirchenmänner. Die Gabe der Unterscheidung der Geister (1. Kor. 12, 10) war diesen Kirchenmännern offensichtlich nicht gegeben. Der Nationalsozialismus, der alle Organisationen und Körperschaften der Gleichstellung unter seine Führung und Prinzipien unterwarf, wollte auch die evangelische Kirche nicht auslassen. Sie sollte sich oben2

3

vgl. G. W. Heinemann, Demokratie — Diktatur — Kirche, in „Die Neue Gesellschaft" 1961 H e f t 2. Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, herausgegeben von Dombois und Wilkens, 1956, S. 26.

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drein einem arischen Gottesglauben öffnen, jedenfalls aber vom biblischen Evangelium des im jüdischen Volk erschienenen Christus ablassen. Mit dem darüber aufgebrochenen Kampf der Bekennenden Kirche stehen wir am Anfang des Weges, der zu der eingangs erwähnten Ostdenkschrift der E K D geführt hat. Am 29. Mai 1934 trat in Barmen die erste Synode der Bekennenden Kirche zusammen. Sie umfaßte unter ihren 138 Mitgliedern in gleicher Weise unierte, lutherische und reformierte Kirchen und Gemeinden. Ihre Erklärung — die Barmer Erklärung — vom 31. Mai 1934, die heute zu einem Bestandteil unserer Kirchenordnungen und Lehraussagen geworden ist, kennzeichnet wesentliche Korrekturen oder Ergänzungen des evangelischen Verständnisses der Schrift und der Kirche. Für unser Thema ist die These V von besonderem Belang. Sie lautet: a) „Fürchtet Gott. Ehret den König!" (1. Petr. 2,17) b) Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt. c) Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. d) Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden."

Diese These führt in mehrfacher Hinsicht über das bis dahin Gewohnte hinaus. Sowohl der Staat als auch die Kirche erscheinen nach ihrer altgewohnten Verkoppelung deutlicher in ihren Besonderheiten und von daher zugleich auch in ihren Unvereinbarkeiten oder notwendigen Geschiedenheiten. Der Staat darf nicht Kirche sein wollen, die Kirche darf sich nicht staatliche Funktionen aneignen wollen. Wohl aber weist die These V der Kirche ein Aussage über den Staat und sein Tun zu. Die Kirche steht dem Staat gegenüber und rückt ihn in das Licht der ihm von Gott zugemessenen Funktion. Die tiefste Korrektur gilt den Regierten. In Abkehr von der jahrhundertelangen Pflege eines Untertanengeistes und in scharfem Kontrast zum nationalsozialistischen Führerprinzip erinnert die These V an die Mitverantwortung auch der Regierten für den Staat und das öffentliche Geschehen. Sie öffnet damit — im Dritten Reich!

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— auch von der reformatorischen Theologie her den Weg, die Probleme der Demokratie als Gestaltungsfrage der Staatlichkeit in unserer Zeit anzugehen. Aus der These II schneidet hier die Aussage ein, daß es keinen Lebensbereich gibt, der der Herrschaft Jesu Christi entzogen sein könnte. Die These II lautet: a) „ J e s u s Christus ist uns gemacht v o n G o t t zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur H e i l i u n g und zur E r l ö s u n g " (1. K o r . 1, 30). b) Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so u n d mit gleichem E r n s t ist er auch Gottes k r ä f t i g e r Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn w i d e r f ä h r t uns frohe B e f r e i u n g aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, d a n k b a r e m Dienst an seinen Geschöpfen. c) Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen H e r r e n zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und H e i l i g u n g durch ihn b e d ü r f e n . "

Zuspruch — Anspruch: Gottes Gabe fordert unsere Antwort. Indem er vergibt, erhebt er Anspruch auf unser Leben. Indem er aus falschen Bindungen befreit, ruft er uns in den Dienst an den Mitmenschen. Was immer wir tun, — wir bleiben in dem Herrschaftsbereich Jesu Christi. Weil aus Luthers Unterscheidung der beiden Reiche des Evangeliums und des Gesetzes weithin eine Eigengesetzlichkeit, d. h. ein nicht vor Gott zu verantwortendes Handeln in Staat und Politik geworden ist, rückt die These II mit besonderer Eindringlichkeit die Lückenlosigkeit des Anspruches Jesu Christi in die Erinnerung. Diesen Anspruch hat die Kirche zu bezeugen, und zwar nicht nur in unser privates Leben, in unser Familien- und Berufsleben hinein, sondern auch in unser aller öffentliches Tun und Lassen hinein. Mit der Barmer Erklärung waren Positionen markiert, die es fortan auszufüllen und zu praktizieren galt. Wie weit dies gelungen ist — oder richtiger gesagt, wie weit auch die Bekennende Kirche im Verlauf des Kirchenkampfes hinter sich selbst zurückgeblieben ist, — kann hier nicht erörtert werden. Klar ist jedenfalls, daß die Barmer Erklärung einen Wandel im Selbstverständnis der evangelischen Kirche anzeigt. Sie stellt eine Abkehr von alten Positionen und eine Hinwendung zu neuen Positionen von großer Tragweite dar. Das für den evangelischen Volksteil entgegen aller geschichtlichen Erfahrung neue Erlebnis einer Glaubensbedrückung durch die eigene Obrigkeit mußte auf jeden Fall eine nachhaltige Wirkung allein schon dadurch auslösen, daß sich die evangelische Kirche fortan nicht nur aus der Koppelung mit dem Staat entlassen, sondern in ein spannungsvolles und sogar feindseliges Gegenüber zur

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eigenen Obrigkeit gerückt sah. Die Zeit ihrer Mündigkeit und Mitverantwortung in den Fragen der Staatsordnung und Staatsführung war gekommen. Solche Verantwortung zu betätigen und die nationalsozialistischen Machthaber auf Gottes Gebot anzureden, war genug Anlaß vorhanden. Aber auch die Bekennende Kirche blieb zunächst immer wieder bei dem stehen, was sie selber als Kirche und die Gemeinden betraf. Ihre öffentlichen Erklärungen richteten sich gegen den Ansturm der nationalsozialistischen Weltanschauung und gegen die Verwüstung der kirchlichen Ordnungen. Und doch passierte auch das Andere, — die Anrede der Obrigkeit auf ihre Verantwortung für Recht und Gerechtigkeit. Die erste „Denkschrift" in solcher Richtung darf nicht vergessen werden. Im Mai 1936 richteten die geistlichen Mitglieder der Vorläufigen Kirchenleitung (Müller, Albertz, Böhm, Forck, Fricke) zusammen mit dem Rat der Deutschen Evangelischen Kirche (Asmussen, Lücking, Middendorf, Niemöller, v. Thadden) an Hitler eine Denkschrift gegen den Totalitätsanspruch des Staates, die sich nicht nur mit Weltanschauungsund Kirchenfragen befaßt, sondern auch einen Abschnitt „Sittlichkeit und Recht" enthält. Darin werden u. a. die Auflösung des Rechtes durch den Grundsatz „Recht ist, was dem Volke nützt", die Hypertrophie der Eidesleistungen sowie der Wahlterror behandelt. Wörtlich heißt es: „Das evangelische Gewissen, das sich für Volk und Regierung mit verantwortlich weiß (!), wird aufs härteste belastet durch die Tatsache, daß es in Deutschland, das sich selbst als Rechtstsaat bezeichnet, immer noch Konzentrationslager gibt, und daß die Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei jeder richterlichen Nachprüfung entzogen sind. . . . Die evangelische Christenheit sieht auch in diesen Dingen die Gefahr, daß in unserem sittlich-rechtlichen Denken ein antichristlicher Geist zur Herrschaft kommt." Wenn von einem in der evangelischen Kirche angebrochenen „Zeitalter der Denkschriften" die Rede sein soll, so wäre es mit dieser Denkschrift vom Mai 1936 eröffnet worden. Sie sollte aber auch deshalb nicht vergessen werden, weil sich mit ihr die Ermordung des vormaligen Landesgerichtsdirektors Friedrich Weissler verbindet. Er hatte an der Denkschrift mitgearbeitet und sie gegen den Willen der Kirchenleitung an die ausländische Öffentlichkeit gelangen lassen. Im Februar 1937 wurde er in Sachsenhausen umgebracht. Nach dem Zusammenbruch von 1945 haben zwei Gegebenheiten ein

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Fortschreiten der evangelischen Kirche auf dem mit Barmen markierten Weg gefördert. Als eine der wenigen handlungsfähigen und geachteten Institutionen fiel neben der katholischen Kirche auch der evangelischen die Aufgabe zu, sich um Elend und Wiederaufbau durch Wort und Tat zu kümmern. Die „Stuttgarter Erklärung" des Rates der EKD vom Oktober 1945 hatte dazu eine neue Gemeinschaft auch mit den protestantischen Kirchen der Siegerstaaten ermöglicht und u. a. deren Beteiligung an einem großen Hilfswerk aufgeschlossen. Zum anderen fand die evangelische Kirche damit zugleich den Weg in die außerhalb Deutschlands auch während des Krieges fortgeschrittene ökumenische Bewegung, die 1948 zur Konstituierung des Weltrates der Kirchen führte. Die damalige Weltkirchenversammlung in Amsterdam stand unter dem Thema „Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan". Eine ihrer Bemühungen galt der sog. Verantwortlichen Gesellschaft, die seitdem ein Schlüsselwort des ökumenischen Gesellschaftsdenkens geworden ist4 und auch die deutsche Sozialethik befruchtet hat. 5 Mit dem Beitritt der EKD zum Weltrat der Kirchen ergab sich eine Ausweitung des politischen Engagements auf die großen internationalen Fragen. In allen Organen der Ökumene wirken Repräsentanten der EKD und ihrer Gliedkirchen mit. Es liegt in der Natur der Sache, daß die ökumenischen Organe sich nicht mit Vorgängen von nur begrenzter Bedeutung, sondern mit Vorgängen von allgemeinem Belang befassen, als da sind Kriegsgefahren, Weltorganisation, Rassenfragen, Völkermord, internationales Ethos und dergl. So hat beispielsweise der Zentralausschuß des Weltrates der Kirchen in Genf im Februar 1966 eine Erklärung zu Vietnam abgegeben, der eine gründliche ausgewogene Vorarbeit durch die Kommission für internationale Angelegenheiten des Weltrates der Kirchen zugrunde liegt und deren Intention im März 1966 von der Synode der EKD bejaht und unterstrichen worden ist. Dieses Beispiel illustriert das Geflecht der ökumenischen Beteiligung der EKD am internationalen politischen Engagement der Kirchen. Auch die Genfer ökumenische Konferenz „Kirche und Gesellschaft" (Juli 1966) ist hier zu nennen, die der Bemühung gewidmet war, ein neues Gefühl für eine weltumfassende Solidarität zu wecken und den Weg zu einer verantwortlichen Weltgesellschaft aufzuzeigen. 4

vgl. Abrecht, Verantwortliche Gesellschaft in „Weltkirchenlexikon", 1960 •' vgl. Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, herausgegeben von J. Beckmann u. a., 1946 — H. D. Wendland, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 1956.

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III Die Rechtfertigung kirchlicher Stellungnahme zu sozialethischen Fragen im weitesten Sinne liegt in dem Auftrag an die Kirche, den Zuspruch und Anspruch Jesu Christi in alle menschlichen Lebensbereiche hinein wirksam zu machen. Der Einwand, daß das Neue Testament nichts von politischer Diakonie der christlichen Gemeinde zu berichten wisse, denaturiert die Mahnung zur Fürbitte für die Könige und ihre Amtleute (1. Tim. 2) zu dem bloßen Untertansein, wie es so lange aus Römer 13 abgeleitet worden ist. Wird aber das Gebet für den Staat ernst genommen, so drängt es schon im Obrigkeitsstaat zu einem mitverantwortlichen Eintreten für den Staat. „Kann ein ernsthaftes Gebet auf die Länge ohne die entsprechende Arbeit bleiben? Kann man Gott um etwas bitten, das man nicht in den Grenzen seiner Möglichkeiten herbeizuführen im selben Augenblick entschlossen und bereit ist? . . . Gerade im Blick auf den intimsten und zentralsten Gehalt der neutestamentlichen Mahnung würde ich also sagen, daß wir uns, wenn irgendwo, dann gerade in der Verlängerung der neutestamentlichen Linie im Sinne des „demokratischen" Staatsbegriffes auf dem Boden legitimer Auslegung befinden" (Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, in „Eine Schweizer Stimme", 1945, S. 54). Barth fügt hinzu, daß „die Christen den irdischen Staat nicht nur erdulden, sondern w o l l e n müssen, und daß sie ihn nicht als Pilatus-Staat, sondern nur als R e c h t s s t a a t wollen können", und „daß für den Charakter als Rechtsstaat ein jeder von ihnen mit h a f t b a r ist." Von hier aus ist es nur noch ein naheliegender Schritt zur Betonung der exemplarischen Funktion der Christengemeinde für die Bürgergemeinde. 6 Aber auch aus anderer theologischer Richtung werden die neutestamentlichen Aussagen aus ihrer Orientierung am Obrigkeitsstaat gelöst, so z. B. bei Thielicke. 7 Er schreibt: „Die Kirche hat im politischen Bereich die Aufgabe, die Gebote und Verheißungen Gottes aus ihrer f a l s c h e n Beschränkung auf die persönliche und private Sphäre zu befreien und in ihrem öffentlichen Anspruch geltend zu machen." 8 Insgesamt darf gesagt 6

Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1946.

7

Theologische Ethik II 1 und 2, 1955/58.

8

a a O II 1 Ziffer 2 0 7 9 — Ferner E. Wilkens, Theologie und Politik, 1962. — E . Wilkens, Politik in „Evangelisches Staatslexikon", 1966.

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Festschrift

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werden, daß die evangelische Theologie heute in breiter Front diese Aussagen teilt. Sie ist ebenso in breiter Übereinstimmung darüber, daß es zum Auftrag der Kirche gehört, in der ihr gemäßen Weise auch zu politischen Vorgängen und Fragen Stellung zu nehmen. Dazu ist im Einzelnen folgendes zu sagen: Die evangelische Theologie spricht in doppeltem Sinne von der Kirche. Für sie ist Kirche einmal die Christenheit, d. h. das über die Welt verstreute Volk Gottes. Zum anderen ist Kirche die sich in Ordnungen und Ämtern darstellende Institution. Wenn also von Aussagen der Kirche die Rede ist, nehmen entweder Christen als solche oder Organe der institutionellen Kirche als solche Stellung. Ob dabei dies oder das Stimme der Kirche ist, hängt davon ab, ob es sich als Zeugnis der Wahrheit Gottes erweist. Dafür gibt es — sozusagen im voraus — keine Garantie von der Person oder von der Position des oder der Sprechenden her. Nicht nur Konzilien sondern auch Synoden und Kirchenleitungen können irren. Dennoch sind die rechtens bestellten Organe der institutionellen Kirche in erster Linie berufen, die Stimme der Kirche als ein Zeugnis von der Wahrheit Gottes zu erheben. Evangelischerweise kann es dabei immer nur die Repräsentation einer konfessionell und/oder regional begrenzten Kirche sein, die als solche nicht mit der Kirche Christi identisch zu sein vermag, wohl aber glauben kann, daß sie gliedhaft zu dieser gehöre. Dennoch bleibt ein Unterschied zwischen der Stellungnahme eines einzelnen Christen, selbst wenn er ein Amt in der Kirche bekleidet, und der eines kirchlichen Organs. Nicht als ob das Organ eine größere Verheißung hätte, Gottes Wahrheit zu bezeugen, wohl aber so, daß es eine größere Verantwortung hat und darum sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche ein stärkeres Gehör erwarten kann. Was kann die Kirche sagen? Hier ist zunächst negativ festzustellen, daß es nach evangelischem Verständnis keine aus der Natur des Menschen oder aus der Schöpfung ableitbaren Ordnungen im Sinne eines Naturrechtes gibt. Für evangelisches Verständnis hat Gott sich nicht in zeitlose Ordnungsnormen oder Wesensbestimmungen gefangen gegeben. Er ist vielmehr der stets von neuem handelnde Herr alles Geschehens. Daher kann Gottes Gebot nicht zeit- und raumlos fixiert werden. Wirklicher Gehorsam geschieht vielmehr im stets neuen Wagnis der rechten Antwort auf die Frage, was Gott in der gegenwärtigen Situation heute und hier

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von uns will. Die Aussage der Kirche kann deshalb nur eine Hilfestellung sein, in der es darum geht, die Umstände der geforderten Entscheidung recht zu erkennen, insbesondere die entgegengesetzten Positionen in ihrer Interessenlage oder Interessengebundenheit und in ihren ethischen Intentionen zu durchschauen, um dazu den rechten christlichen Standpunkt zu gewinnen. Die Entscheidung hat der zum Handeln gerufene Politiker — im weitesten Sinne verstanden — selber zu vollziehen. Die Aussage der Kirche soll darum bei aller Nähe zu den Sachfragen nicht kasuistisch werden, so daß sie als vorgeformte Entscheidung der Kirche die von dem Politiker zu vollziehende Entscheidung aufheben würde. Bei den vielen Erklärungen, mit denen die evangelische Kirche die fortschreitende Spaltung unseres Volkes nach 1945 mit Mahnungen zur Bewahrung der Einheit um der Menschen und um des Friedens willen begleitet hat, ist sie sich der Grenze ihrer Aussage stets bewußt geblieben. So heißt es z. B. in dem Ruf der Synode von Espelkamp vom 11. März 1955 zum Frieden: „ . . . Wir sind nicht in der Lage, in der Vollmacht der Kirche den politischen Weg aufzuzeigen, der die Erreichung dieses Zieles verbürgte . . . Vor allem aber können wir nicht eine politische Erkenntnis, und sei sie noch so richtig, in der Autorität des Wortes Gottes geltend machen. Wir müssen vielmehr davor warnen, eine politische Meinung als Gottes Wahrheit ausgeben zu wollen. . . . " Das Hören auf das Wort der Kirche ist also etwas anderes als Gehorchen. Bindende Weisung kann es nur dort geben, wo ein verbindliches Lehramt geglaubt wird. In der evangelischen Kirche gibt es das nicht. Deshalb ist für evangelisches Verständnis die Frage, ob die zu einem bestimmten Thema abgegebene Erklärung eines kirchlichen Organs bindend sei, ein für alle mal fehl am Platze, auch wenn sich solches Fragen fast bei jedem Vorgang wiederholt. Wesentliche Orientierungspunkte für kirchliche Aussagen zu politischen Fragen sind: der Mensch als Gottes Geschöpf und Ebenbild, die Gerechtigkeit und die Bewahrung des Friedens. Die Denkschriften der E K D weisen aus, daß sie auf diese Orientierungspunkte hin angelegt sind. So hat z. B. die umstrittene Ostdenkschrift der E K D den Menschen in doppelter Weise im Visier. Sie legt dar, was das Schicksal der Vertreibung aus der Heimat für die Betroffenen bedeutet und was die Gemeinschaft — sowohl der Kirche als auch des Volkes — den Vertriebenen schuldet, wobei besonders hervorgehoben wird, was heute immer noch 16»

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zu tun notwendig ist. Die Denkschrift will aber auch den Politikern helfen, indem sie ihnen den Weg zu einer gewissenhaften Entscheidung in persönlicher Verantwortung aus allen kollektiven Bindungen sowie aus völkerrechtlichen oder theologischen Wunschvorstellungen freizumachen versucht. Es geht der Denkschrift um Gerechtigkeit sowohl für die Vertriebenen als auch für das deutsche und das polnische Volk, um eine Versöhnung aufzuschließen, aus der allein eine dauerhafte Friedensordnung erwachsen kann. Die Denkschrift von 1962 zur „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung" befaßt sich mit Ungerechtigkeiten in der Vermögensverteilung aus dem Wiederaufbau nach 1945 und dem Fortgang der ständigen Vermögensbildung in einer prosperierenden Volkswirtschaft. Hier werden die Gesichtspunkte der sozialen Gerechtigkeit zur Diskussion gestellt. Andererseits wendet sich die Erklärung des Rates von 1963 zu den NS-Verbrecherprozessen vornehmlich den Menschen, — den Angeklagten, den Richtern, aber auch uns allen — zu, um Verständnis für Schuld und Sühne im Angesicht Gottes und seiner Gnade zu wecken. Es mag sich erübrigen, auch die sonstigen Erklärungen durchzugehen; sie sind alle auf die oben genannten Orientierungspunkte angelegt. Ein entscheidendes Element kirchlicher Glaubwürdigkeit ist die Solidarität mit den Angesprochenen. Nur indem die Redenden sich erkennbar bewußt sind, daß sie der gleichen Mahnungen bedürftig bleiben wie die Angeredeten, daß sie nicht Richter an Gottes statt sind, und daß sie selber mit in die Schuld verstrickt sind, die diese gefallene Schöpfung gefangen hält, kann das Wort der Kirche darauf hoffen, daß sich die Angeredeten ihm öffnen. Sowohl die Erklärung des Rates von 1963 zu den NS-Verbrecherprozessen als auch die Stuttgarter Erklärung von 1945 sind Beispiele solcher Solidarität. Solidarität schließt es aus, daß sich das Wort der Kirche als das Wort einer Ideologie darstellt, etwa einer Ideologie des Antikommunismus. Eine Aussage ist längst noch nicht christlich, wenn sie antikommunistisch ist. Christus ist nicht gegen Karl Marx gestorben sondern für uns alle. Wo das Christentum als Schutzimpfung gegen etwas verstanden wird, können sich Karl Marx und seine Jünger nur bestätigt fühlen, die sie der Religion bekanntlich vorwerfen, sie habe nichts mit Wahrheit sondern nur mit Nützlichkeit zu tun. Darin ist zugleich enthalten, daß sich die Kirche auch nicht positiv auf eine bestimmte Staats- oder Gesellschaftsordnung so fixieren darf, als wäre nur diese eine Ordnung von Gott her vorstellbar. „Das Evan-

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gelium läßt sich nicht mit einer westlichen oder östlichen Weltanschauung verkoppeln . . . Das Evangelium widerstreitet jedem Versuch, eine bestimmte menschliche Gesellschaftsordnung als absolut zu behaupten und sie mit Gewalt als letztes Ziel der Menschheit durchzusetzen . . S o gewiß die christliche Gemeinde einen freiheitlichen Rechtsstaat mit der Gewährleistung freier Verkündigung gegenüber einem sie bedrängenden Weltanschauungsstaat bevorzugt, so wenig kann doch auch der freiheitliche Rechtsstaat als ein Gebot Gottes dargestellt werden. Es kann ja auch so sein, daß Gott seine Gemeinde nicht ohne Absicht in die Bedrängnis stellt, um sie dessen bewußt zu machen, wie sehr sie allein aus seiner Vollmacht lebt. In der Bundesrepublik Deutschland ist der christlichen Gemeinde ein freiheitlicher Rechtsstaat geschenkt. Ihn theologisch zu würdigen und als zeitgebotene Abkehr vom Patriarchalismus zu verstehen, ist eine Aufgabe, die der protestantischen Theologie heute obliegt. 10 Dazu gehören die Entfaltung der Grundrechte, wie etwa der Gewissensfreiheit und der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, sowie der allgemeinen Grundsätze des sozialen Rechtsstaates im Zusammenwirken mit den anderen Kräften unserer pluralistischen Gesellschaft. Der Staat kann in einer Gesellschaft von großer Vielfalt der religiösen und weltanschaulichen Auffassungen der Verfassung entsprechend nur neutral sein, d. h. die Kirche darf ihn nicht einseitig überfordern. Sie darf ihn nicht als Vorspann für Auffassungen in Anspruch nehmen, die Teile der Bürger in ihren Glaubens- oder Gewissensüberzeugungen kränken würden. Die Kirche muß m. a. W. bei aller klaren Wahrung ihrer Botschaft heute ein Nebeneinander verschiedener Faktoren unserer modernen Gesellschaft gelten lassen. In einer Welt, in der ein Drittel der Menschheit zumal in den totalitären Ostblockstaaten unter Gewissenszwang lebt und in der die übrige Menschheit sich in vielerlei Religionen und Weltanschauungen aufteilt, ist alles daran gelegen, daß der Geist der Vergewaltigung überall gebannt wird. Darum ist es ein Vorgang von außerordentlicher Tragweite, daß sich auf dem Vatikanischen Konzil auch die Katholische Kirche zur Religionsfreiheit bekannt hat. 9 10

Aus der theologischen Erklärung der Synode der E K D vom 29. Juni 1956. vgl. G. W. Heinemann, Der Rechtsstaat als theologisches Problem, in »Frankfurter Hefte" 1965, 475 f, sowie in „Der Bürger und das Redit", herausgegeben vom Vorstand der SPD 1965 — U. Scheuner, E. Wolf, H. Simon, Der Rechtsstaat als Angebot und Aufgabe, = Theologische Existenz heute, Bd. 119, 1964.

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IV Die kirchliche Arbeitstechnik bei der Behandlung gesellschaftlicher und politischer Fragen wird durch die Aufgabe bestimmt, die mit der öffentlichen Stellungnahme der Kirche verbunden ist. Diese Stellungnahme darf sich, wenn sie hilfreich sein soll, nicht auf schöne Grundsätze und Allgemeinheiten beschränken, sondern muß erkennen lassen, daß die Kirche das Sachproblem kennt und daß sie zu den darin enthaltenen Sachfragen aus der Besonderheit des kirchlichen Auftrages spricht. Es muß m. a. W. eine konkrete Situation in das Licht der christlichen Glaubenssätze gerückt werden, wobei vernünftige Sachlichkeit und gewissenhafte Verantwortung in der Weise bedacht sein wollen, daß die Entscheidung der Sachfrage dem Politiker nicht abgenommen wird. Diese Aufgabe erfordert ein Zusammenwirken kirchlicher Leitungsorgane mit Fachgremien. Die Kirchenleitungen bedürfen der Zuarbeit aus der Sachkunde in den verschiedenen Lebensbereichen. Dementsprechend sind dem Rat der EKD eine Reihe sog. Kammern — für öffentliche Verantwortung, für soziale Ordnung, für publizistische Arbeit, für Erziehung, Bildung und Unterricht, für Jugendfragen — und Kommissionen — z. B. für Familienrecht, Strafrecht, Strafvollzug — zugeordnet. In ihnen arbeiten Sachkenner und Praktiker der einschlägigen Lebensbereiche mit Theologen zusammen, die sich diesen Bereichen besonders zugewandt haben. Außerdem werden von Fall zu Fall weitere Sachverständige zugezogen. Ähnliches gilt von einer noch weiteren Gruppe von Ausschüssen — z. B. für Fragen der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, für Atomfragen, für Ostvertriebene. Alle diese Kammern, Kommissionen und Ausschüsse11 sind innerkirchliche Arbeitskreise, die ihre Aufträge von der Kirchenleitung empfangen und diese beraten oder durch Vorlagen unterstützen. Sie sollen nicht nach außen sprechen. Für die Präsentation der Arbeitsergebnisse dieser Kammern, Kommissionen und Ausschüsse in der Öffentlichkeit gibt es verschiedene Formen. Der Rat der EKD kann sich eine Vorarbeit so zu eigen machen, daß er sie von sich aus als Erklärung des Rates ausspricht. Er kann eine Vorlage als Votum des Fachgremiums mit einem Geleitwort an die Öffentlichkeit geben. Er kann es dem Gremium überlassen, seine Arbeit als eine evangelische Stimme selber zu publizieren ohne sich als Rat der EKD zu 11

vgl. H. Merzyn, Organe und Amtsstellen der EKD, 1965 5 .

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engagieren. Welche Form gewählt wird, hängt davon ab, wie stark sich der Rat der E K D selber binden will. Außer dem öffentlichen Wort der Kirche gibt es naturgemäß auch einen nicht öffentlichen Umgang mit Regierungen, Parteien, Verbänden und dergl. Der Rat der E K D ist bei der Bundesregierung durch einen ständigen Bevollmächtigten vertreten, der den Standpunkt der evangelischen Kirche in Bonn und .anderwärts auf sozusagen diplomatischem Wege vertritt. 12 In besonderen Fällen führt der Rat oder ein Teil seiner Mitglieder auch selber das Gespräch mit den Partnern. Auf der ökumenischen Ebene ist die Arbeitsweise ähnlich. Audi hier stehen den Leitungsgremien vielerlei zuarbeitende Gremien und Institute zur Seite. Hervorzuheben ist die Kommission für internationale Angelegenheiten des Weltrates der Kirchen, die insofern ein neuartiges Experiment darstellt, als sie ein erhebliches Maß an Selbständigkeit des Handelns genießt, weil die von ihr zu betreuenden Fragen ständig im Fluß sind, die ökumenischen Organe aber sich nur in erheblichen Zeitabständen versammeln können. Diese Kommission von etwa 50 Mitgliedern besteht überwiegend aus Laien, umfaßt aber erste Praktiker des öffentlichen Lebens aus allen Kontinenten, die selber mitten in den internationalen Fragen wie Sicherung des Friedens, Abrüstung, Weltorganisation, Entwicklungshilfe, internationales Ethos, Religionsfreiheit, Lebensverhältnisse der Rassen, der Flüchtlinge usw. stehen. Die Kommission hat einen Stab ständiger Mitarbeiter. Sie pflegt den Kontakt zwischen dem Weltrat der Kirchen und den Vereinten Nationen. Sie ist präsent in vielen Ländern der Erde, in denen es nationale Untergliederungen gibt. 13 Uber ihre Arbeit berichtet sie öffentlich. Auch hat sie der Weltkirchenversammlung Rechenschaft zu geben.

V Die evangelische Kirche erhebt nicht den Anspruch, daß ihr Umgang mit politischen Fragen keiner Verbesserung fähig wäre. Sie steht vor einem noch jungen Gebiet der Bewährung, auf dem sie Erfahrung sam12

13

Die Regierung der D D R läßt seit 1958 einen Bevollmächtigten der E K D nicht mehr gelten. vgl. Grubb, Kommission für internationale Angelegenheiten, in „Weltkirchenlexikon" 1960

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mein muß und auf dem es gilt, sich stets erneut an den unverrückbaren Kern ihres Auftrages zu erinnern. „Es ist eine Folge aus der mitverantwortlichen Solidarität, daß die evangelische Kirche nun begonnen hat, — zum ersten mal in ihrer Geschichte — statt der bloßen caritativen Tätigkeit im sozialen Bereich, statt der bloßen „Liebestätigkeit" sich bewußt, — wenn auch im einzelnen noch tastend, — den Problemen der sozialen Rechtsordnung zuzuwenden, die sie lange Zeit nicht als Aufgabe ihres Dienstes an der Welt erkennen und anerkennen wollte." (E. Wolf, Kirche und Öffentlichkeit, in J . Rovan, F. Herr, G. Jacobi, E. Wolf, A. Arndt, Christlicher Glaube und politische Entscheidung, 1957,129.)

JOACHIM BECKMANN

Kirche und Kriegsdienstverweigerung im 20. Jahrhundert Das Problem des Krieges, und zwar einer Stellungnahme zum Krieg überhaupt wie der Beteiligung am Krieg durch den Dienst mit der Waffe, hat die Kirche auf ihrem langen Weg durch die Geschichte begleitet. Nie ist es ganz zur Ruhe gekommen, wenn es auch lange Zeiten gab, in denen es so scheinen konnte, als sei nun das Problem eindeutig und endgültig gelöst. Immer wieder kam es zu neuer Fragestellung, ob es dem Christen von Gott erlaubt sei, die Waffe zu ergreifen und den Feind zu töten. Immer wieder wurde der Versuch wiederholt, den Krieg trotz aller Fragwürdigkeit zu rechtfertigen. Ebenso jedoch wurde die Rechtfertigung des Krieges wieder verworfen. Das J a und Nein zur Verweigerung des Kriegsdienstes insbesondere stand immer wieder gegeneinander, wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß das Nein zur Verweigerung des Kriegsdienstes die Regel, das Nein zum Krieg und Waffendienst die Ausnahme war. Die großen Volkskirchen haben seit den Zeiten Konstantins bis heute in der Regel die Pflicht des Christen zum Kriegsdienst bejaht, jedoch meist ihre Priesterschaft davon entbunden. Nur die wenigen und zahlenmäßig unbedeutenden sogenannten „historischen Friedenskirchen" machten die Verweigerung des Kriegsdienstes dem Christen zur Pflicht, wie auch die ethische Verwerfung des Krieges als Sünde ein wesentlicher Bestandteil ihrer Kirchenlehre war. Es waren dies die Mennoniten, die Quäker und die amerikanische Kirche der Brüder. Diese Kirchen erlitten deswegen von ihren Mitchristen aus den katholischen und protestantischen Kirchen lange Zeit hindurch Bedrängnis und Verfolgung, erst das Zeitalter der Aufklärung mit ihrer Toleranzidee machte dem ein Ende, und die modernen Staaten haben den Mitgliedern dieser Kirchen oft sogar durch Sondergesetz die Befreiung vom Kriegsdienst gewährt, während dies Privileg den Mitgliedern der Volkskirchen nicht zugestanden wurde. Das Problem der Kriegsdienstverweigerung stellte sich auch für die

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Joachim Beckmann

Kirchen ganz neu, als in der Neuzeit, seit der französischen Revolution die allgemeine Wehrpflicht in den meisten europäischen Staaten eingeführt wurde. Wie nicht anders zu erwarten war, verteidigten die Kirchen seither zumeist das Recht des Staates — damals des monarchischen, aber auch später des demokratischen Staates — , seine Bürger allgemein zum Waffendienst heranzuziehen, ja sie hatten eine durchaus positive Stellung zum stehenden Heer, zum Waffendienst der ganzen Nation, und natürlich auch zum nationalen Krieg als einer gottgewollten, ethisch schlechthin zu bejahenden Aufgabe der Völker und Staaten zur Stärkung ihrer Kräfte, zur Bewährung ihres Amtes und zur Bewahrung ihrer Würde und Macht untereinander. Aufgrund dieser theologischen Belehrung und geistlichen Prägung ihres Lebens war es dann auch kein Wunder, daß die christlichen Kirchen 1914 mit Begeisterung in den großen Krieg eintraten in der festen Uberzeugung, daß diese Stunde der Erprobung durch den Herrn der Geschichte ihren vollen Einsatz in ihren Völkern erfordere. Kriegsdienstverweigerung als eine christlich mögliche Entscheidung lag völlig außerhalb dieser Geisteswelt. Mit Recht hätte ein Kriegsdienstverweigerer als Feind des Volkes, ja als Sünder vor Gott und den Menschen sein Leben verwirkt. Erst nach dem Ende des ersten Weltkrieges bahnt sich in der Christenheit ganz langsam und zuerst sehr schüchtern hervortretend ein Wandel an. In den zwanziger Jahren kann man es wagen, die Fragen auch in den Volkskirchen aufzuwerfen, ob das traditionelle J a der Kirche zum Krieg und zum Kriegsdienst wirklich unbestreitbar sei, ob nicht vielleicht in der Verurteilung des Krieges seitens einiger Freikirchen ein Körnlein Wahrheit stecke, und zwar deswegen, weil auch im Neuen Testament die Grundrichtung der Nachfolge Christi eher im Dienst am Frieden auf Erden als in der selbstverständlichen Bejahung des Krieges und einer christlich zu verantwortenden Beteiligung an Kriegen zu erblicken sei.

I Kriegsdienstverweigerung

in der ökumenischen

Diskussion

Als 1925 in Stockholm zum ersten Male die Weltkonferenz für „Leben und W e r k " der Kirchen zusammenkam und damit eine neue Epoche ökumenischer Bewegung der Kirchen eröffnet wurde, wurde zwar an dem denkwürdigen 25. August das Thema verhandelt „Was kann die

Kirche und Kriegsdienstverweigerung im 20. Jahrhundert

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Kirche tun, um den Frieden zu fördern und die Kriegsursachen zu beseitigen?", aber trotz der zum Teil guten Referate zur Friedensaufgabe der Kirche, die über die traditionellen Anschauungen hinausgingen, kam die Konferenz zu keinem Entschluß in dieser Sache. Selbst damals also war die Stunde noch nicht reif, ein Neues zu pflügen. Vielmehr währte es noch mehr als ein Jahrzehnt, bis endlich 1937 in Oxford das Thema „Kirche und Krieg" gründlich neu bedacht und in den Entschließungen der „Weltkonferenz für Leben und Werk der Kirchen" einen kräftigen Niederschlag fand. In dem Bericht der V. Sektion wird zunächst die einmütige Verurteilung des Krieges durch die Kirche ausgesprochen. „Der Krieg, die Möglichkeiten, die zum Kriege führen können, und jede Lage, die die Tatsächlichkeit eines Konflikts unter dem täuschenden Schein äußeren Friedens verbirgt, sind kennzeichnend für die Welt, in der die Kirche das Evangelium der Erlösung zu verkündigen beauftragt ist. Zum Krieg gehört erzwungene Feindschaft, teuflische Vergewaltigung der menschlichen Persönlichkeit und willkürliche Verzerrung der Wahrheit. Der Krieg ist ein besonders eindrückliches Zeichen für die Macht der Sünde in dieser Welt und ein Hohn auf die in Jesus Christus dem Gekreuzigten offenbarte Gerechtigkeit Gottes. Wir dürfen nicht erlauben, daß durch irgendeine Rechtfertigung des Krieges diese Tatsache verborgen oder verharmlost wird." 1 Danach aber tritt heraus, daß die Vertreter aus den verschiedenen Kirchen nicht einig werden konnten über die Frage nach der Beteiligung des Christen am Krieg. Zwei weitgehend unvereinbare Standpunkte in der Kriegsfrage werden festgestellt: „Die einen hoffen, den Krieg in der Kraft des in der Geschichte wirkenden Gottes durch religiöse und moralische Belehrung der Menschen und durch Betätigung des freien Willens aus der Welt zu schaffen; die anderen dagegen sehen den Menschen so in die Zwänge einer sündigen Welt verstrickt, daß der Krieg erst als Folge der Wiederkunft Jesu Christi in Herrlichkeit endgültig beseitigt werden wird." 2 Hieraus ergeben sich drei verschiedene praktische Stellungnahmen: „1. Einige meinen, daß der Krieg, vor allem in seiner modernen Form, in jedem Fall Sünde ist. Er steht im Widerspruch mit dem 1

2

Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, Oxford, Genf 1938, S. 250. a. a. O., S. 251.

Bericht

der Weltkirchenkonferenz in

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Joachim Beckmann

Wesen Gottes, das Liebe ist, mit dem durch das Kreuz bezeichneten Weg der Erlösung und mit der Gemeinschaft des Heiligen Geistes." „Die Kirche kann nur dann ein schöpferisches, erneuerndes und versöhnendes Werkzeug zur Gesundung der Völker werden, wenn sie dem Krieg ganz und gar absagt. Die Vertreter dieser Haltung müssen deshalb die Teilnahme am Krieg für sich selber verweigern, unter ihren Mitmenschen für die gleiche Ächtung des Krieges zugunsten einer besseren Methode eintreten und aktive Friedensarbeit an die Stelle bewaffneter Gewalt setzen. 2. Andere wieder würden nur an einem ,,gerechten' Kriege teilnehmen. Unter ihnen kann man wieder mindestens zwei Ansichten unterscheiden, die von der Definition dessen abhängen, was ein g e rechter' Krieg ist. (A) Einige sind der Meinung, daß Christen nur an solchen Kriegen teilnehmen dürfen, die vom Völkerrecht her zu rechtfertigen sind. Sie meinen, daß in einer sündigen Welt der Staat die Aufgabe hat, im Gehorsam gegen Gott Gewalt anzuwenden, wenn Recht und Ordnung gefährdet sind. Kriege gegen internationale Vertrags- und Friedensbrecher sind mit Polizeimaßnahmen zu vergleichen, und die Christen haben die Verpflichtung, daran teilzunehmen. (B) Andere würden einen Krieg dann als ,gerecht' betrachten, wenn er unternommen wird, um einen von ihnen als wesentlich angesehenen christlichen Grundsatz zu verteidigen. Um den Opfern eines unprovozierten Angriffes zu Hilfe zu kommen oder Unterdrückten Freiheit zu verschaffen, würde es ihnen, wenn alle anderen Mittel versagt haben, als christliche Pflicht erscheinen, zu den Waffen zu greifen. 3. Andere wieder betonen zwar, daß der Christ verpflichtet ist, für den Frieden und das gegenseitige Verstehen der Völker zu wirken, doch sind sie der Uberzeugung, daß keine Bemühung dieser Art den Krieg in dieser Welt beseitigen kann. J a , sie sehen zwar, daß politische Autorität häufig in selbstischer und unsittlicher Weise ausgeübt wird; nichtsdestoweniger glauben sie, daß der Staat das von Gott dazu eingesetzte Organ ist, ein Volk vor den schädlichen Auswirkungen anarchistischer und verbrecherischer Neigungen seiner Angehörigen zu schützen und seine Existenz gegen die Angriffe seiner Nachbarn zu behaupten. Es ist daher die Pflicht des Christen, der Staatsgewalt soweit als möglich zu gehorchen und alles zu unter-

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lassen, was sie schwächen könnte. Das bedeutet, daß normalerweise der Christ für sein Land die Waffen tragen muß. Nur wenn er unbedingt gewiß ist, daß sein Land für eine ungerechte Sache kämpft (z. B. im Falle eines ungerechtfertigten Angriffskrieges), hat der einfache Bürger ein Recht, Kriegsdienst zu verweigern." 3 Die bedeutsame Folgerung, die die Konferenz aus dieser Lage zieht, ist nun die, daß sie erklärt: „Wir behaupten nicht, daß eine dieser Stellungnahmen vom christlichen Standpunkt aus als die einzig mögliche Haltung bezeichnet werden kann. Die Kirche muß es deutlich aussprechen, daß diese ungeklärte Lage ein Zeichen der Sünde ist, in die ihre Glieder verstrickt sind. Sie kann sich aber nicht auf die Dauer mit dem Weiterbestehen dieser Meinungsverschiedenheit als etwas Unvermeidlichem abfinden, sondern muß alles tun, was in ihren Kräften steht, um ein gemeinsames Studium dieser Frage dadurch zu fördern, daß sie Vertreter verschiedener Auffassungen zusammenführt, die bei ihrem Bemühen, den in Jesus Christus offenbarten Willen Gottes zu verstehen, voneinander lernen können. In klarer Erkenntnis der Tatsache, daß ihre Glieder auch im Raum von Volk und Staat zu leben haben und daß daher im Kriegsfall ein Widerstreit der Pflichten unvermeidlich ist, muß die Kirche diesen helfen, Gottes Willen zu erfassen, und dann ihre gewissenhafte Entscheidung achten, gleichviel, ob sie nun dazu geführt werden, am Krieg teilzunehmen oder nicht. Sie muß mit beiden in gleicher Weise die volle Gemeinschaft des Leibes Christi aufrechterhalten. Sie muß sie auffordern, Buße zu tun und gemeinsam die Erlösung von dem sie verstrickenden Bösen zu suchen, die in Christus allein gefunden werden kann." 4 Entsprechend heißt es nun auch in der „Botschaft der Konferenz an die christlichen Kirchen": „Darum muß die Kirche Christi, die ihre Glieder in allen Völkern hat, den Krieg ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung verurteilen. Krieg ist immer Folge und Ausbruch der Sünde. Dieser Satz hat Gültigkeit, was immer die Pflicht eines Volkes sein möge, das zwischen dem Krieg und einer Politik, die es als Verrat an seinem Recht empfindet, wählen muß, oder was immer die Pflicht des ein» a. a. O . , S. 2 5 1 ff. 4

a. a. O . , S. 2 5 3 ff.

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zelnen christlichen Staatsbürgers sein möge, dessen Land in einen Krieg verwickelt ist. Die Verurteilung des Krieges bleibt bestehen, ebenso wie die Verpflichtung, Mittel und Wege zu finden, die Menschheit von seinen physischen, moralischen und geistigen Verheerungen zu befreien."5 Das Ergebnis der ökumenischen Diskussion in Oxford 1937 ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ein entscheidender Durchbruch nach vorn ist gelungen. Die traditionelle Stellung der großen Kirchen zu Krieg und Kriegsdienstverweigerung ist erschüttert, wenn auch noch keine neue gemeinsame Stellung errungen werden konnte. Der Krieg ist den Kirchen ganz neu zu einem ernsten und unausweichlichen Problem geworden. Das ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Krieg. Das Urteil über den Krieg ist einhellig negativ. Wir hören keinerlei Verherrlichung des Krieges, auch keine Rechtfertigung des Krieges, sondern seine Verurteilung ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung. Der Dienst am Frieden, an der Verhinderung des Krieges, der Bekämpfung seiner Ursachen ist darum die Aufgabe der Kirche. Nur in der Frage der ethisch zu verantwortenden Beteiligung am Kriege kommt es zu keiner Einigung. Es bleibt bei dem Gegenüber des pazifistischen und nichtpazifistischen Standpunktes. Die einen verwerfen grundsätzlich aus Gehorsam gegen Gottes Willen jede Beteiligung am Krieg, die anderen bejahen grundsätzlich die ethische Möglichkeit einer Beteiligung am Krieg — wenn auch nicht im bedingungslosen Gehorsam gegen die Obrigkeit und unter allen Umständen, so doch im Regelfall. Jedoch die Möglichkeit einer konkreten Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird von niemand bestritten. Auch wird — und das ist am bedeutungsvollsten — von allen die verschiedene Stellungnahme der Christen zum Krieg als eine solche anerkannt, die aus christlicher Verantwortung geschieht. Es erscheint in der Tat als eine Erkenntnis von weittragenden Folgen, wenn in der Kirche gegensätzliche ethische Entscheidungen als christliche Möglichkeiten des versuchten Gehorsams gegen das Gebot Gottes respektiert werden. Freilich wird darin nicht das letzte Wort gesehen, im Gegenteil, dieser Tatbestand wirkt beunruhigend und fordert eine weitere Vertiefung der Erkenntnis der Wahrheit des Wortes und Willens Gottes in seiner Kirche. 5

a. a. O., S. 262.

Kirche und Kriegsdienstverweigerung im 20. Jahrhundert

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Zwei Jahre nach O x f o r d begann der zweite Weltkrieg. Als 1945 die Waffen wieder ruhten, ging die ökumenische Bewegung, durch die Kriegsjahre zwar lange aufgehalten, aber nicht zerstört, aufs neue ihre Bahnen zur Vertiefung der Gemeinschaft unter den Kirchen. 1948 in Amsterdam wurde der ökumenische Rat der Kirchen begründet. Auf dieser ersten Vollversammlung kam begreiflicherweise auch das große Thema: Kirche, Krieg und Kriegsdienstverweigerung wieder zur Verhandlung. Man hoffte über O x f o r d hinaus weiterzukommen, zumal die furchtbaren Geschehnisse im zweiten Weltkrieg mit dem Einsatz moderner Massenvernichtungsmittel eine deutlichere und entschlossenere Stellung der Kirche zum Krieg notwendig machten. Wenn man die Ergebnisse von Amsterdam prüft, wird man allerdings nicht sagen können, daß man in der ökumenischen Diskussion und Stellungnahme wesentlich weitergekommen ist, als man schon in Oxford gestanden hatte. Immerhin war auch der ökumenische Raum der Beteiligung christlicher Kirchen an der Aussprache in Amsterdam bei weitem größer als in Oxford. Das Problem des Krieges erscheint unter dem Thema der Sektion IV „Die Kirche und die internationale Unordnung". In dem von der Vollversammlung geprüften und den Kirchen zu ernster Erwägung und geeignetem Vorgehen empfohlenen Bericht heißt es zunächst von dem Krieg": „Der Krieg kommt daher, daß die Menschen sich um Gott nicht gekümmert haben. Eben darum aber ist er nicht unvermeidlich, wenn die Menschen sich nur wieder zu Gott wenden, Buße tun und seinen Geboten gehorchen wollten. Es gibt keine Flut, der man nicht widerstehen könnte und von der man sich der Vernichtung entgegentreiben lassen müßte. Kein Ding ist unmöglich bei Gott! Wir wissen sehr wohl, daß Kriege bisweilen von Ursachen herkommen, auf die Christen keinen Einfluß haben. Und doch brauchen wir nicht blind oder einsam unsere Arbeit zu tun. Wir sind Gottes Mitarbeiter. Er hat uns in unserem Herrn Christus den Weg gezeigt, wie dämonische Kräfte in der Geschichte der Menschen überwunden werden können. Jeder Mensch hat in Gottes Plan seinen Platz. Gott hat ihn nach seinem Bild geschaffen und ihm gilt die Erlösung durch die ewige Liebe, die in Jesus offenbar geworden ist. So muß er denn auch frei sein, den Ruf Gottes zu hören und eine Antwort darauf zu geben. 6

Amsterdamer D o k u m e n t e , Bethel 1948, S. 57—67.

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Wir sind gefordert, daß wir Glauben halten und gehorsam sind, was daraus wird, steht bei Gott. So möge denn jedermann sich in den Dienst des Friedens stellen und darauf vertrauen, daß er, was immer auch geschieht, nicht verloren ist und kein unnützes Werk treibt; denn Gott, der Allmächtige, sitzt im Regiment! In solchem Vertrauen bezeugen wir der ganzen Welt einmütig: I. Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Die Rolle, die der Krieg im heutigen internationalen Leben spielt, ist Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen. Gerade jetzt sieht sich die Christenheit vor besonders brennende Fragen in bezug auf den Krieg gestellt. Der Krieg bedeutet heute etwas völlig anderes als früher. Wir haben jetzt den totalen Krieg. Jeder Mann und jede Frau wird jetzt zum Kriegsdienst aufgeboten. Dazu kommt der ungeheure Einsatz der Luftwaffe und die Entdekkung der Atombombe und anderer neuer Waffen. Dies alles führt in einem modernen Krieg zu unterschiedslosen Zerstörungen in einem Umfang, wie ihn die Welt bei früheren Kriegen nicht gekannt hat. Die herkömmliche Annahme, daß man für eine gerechte Sache einen gerechten Krieg mit rechten Waffen führen könne, ist unter solchen Umständen nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es mag sein, daß man auf Mittel der Gewalt nicht verzichten kann, wenn das Recht zur Geltung gebracht werden soll. Ist der Krieg aber erst einmal ausgebrochen, dann wird die Gewalt in einem Umfang angewandt, der dem Recht seine Grundlage zu zerstören droht." Aus dieser grundsätzlichen Verurteilung des Krieges wird nun die entscheidende Folgerung gezogen, indem die Frage gestellt wird: „Kann der Krieg heute noch ein Akt der Gerechtigkeit sein?" An dieser Stelle erwartet man eigentlich ein Nein. Aber — auch die Amsterdamer Versammlung kann sich dazu nicht einmütig bekennen: „Auf diese Frage können wir freilich keine einmütige Antwort geben. Drei verschiedene Grundhaltungen werden in unserer Mitte vertreten." „1) Da sind zunächst jene, die die Uberzeugung haben, daß, wenn der Christ auch unter bestimmten Umständen wird in den Krieg ziehen müssen, ein moderner Krieg mit seinen allumfassenden Zerstörungen niemals ein Akt der Gerechtigkeit sein kann. 2) Da es gegenwärtig unparteiische, übernationale Instanzen nicht gibt, so meinen andere, militärische Maßnahmen seien das letzte Mittel, um dem Recht Geltung zu verschaffen, und man müsse

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die Staatsbürger klar und deutlich lehren, daß es ihre Pflicht ist, das Recht mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. 3) Wieder andere lehnen jeden Kriegsdienst irgendwelcher Art ab und sind überzeugt, daß Gott von ihnen verlangt, bedingungslos gegen den Krieg und für den Frieden Stellung zu nehmen, und nach ihrer Meinung müßte die Kirche im gleichen Sinne sprechen." „9) Wir bekennen offen, daß es uns schwer ist, so verschiedene Meinungen in dieser Sache unter uns zu haben. Wir bitten alle Christen dringend, sie möchten es als ihre Pflicht ansehen, dauernd um diese schwierige Frage zu ringen und in aller Demut Gott zu bitten, er wolle ihnen den rechten Weg zeigen. Wir glauben, daß hier die Theologen die besondere Verpflichtung haben, den theologischen Fragen nachzugehen, um die es sich hier handelt. Derweilen darf die Kirche nicht aufhören, alle, die eine dieser drei Meinungen mit Ernst vertreten und die bereit sind, sich von Gott erleuchten zu lassen und sich seinem Willen zu unterwerfen, als ihre Brüder und Schwestern anzusehen. 10) Bei aller Verschiedenheit der Meinungen aber gibt es gewisse Grundsätze, in denen wir alle übereinstimmen. Da es ein unparteiisches Organ für die Sicherung des Rechtes nicht gab, sind Völker in den Krieg gegangen in dem Glauben, eben damit der Gerechtigkeit zu dienen. Wir sind der Überzeugung, daß sowohl im internationalen Leben als auch im Leben der einzelnen Nationen Gerechtigkeit walten muß. Auch die Völker müssen sich frei machen von dem Verlangen, „das Gesicht zu wahren". Denn dies Verlangen ist ein Zeichen von falschem Stolz und ist gefährlich. Aufgabe der Kirchen ist es, die sittlichen Grundsätze geltend zu machen, die der Gehorsam gegen Gott im Kriege wie im Frieden fordert. Sie dürfen ihre geistlichen und sittlichen Kräfte vom Staat weder im Kriege noch im Frieden dazu mißbrauchen lassen, um eine bestimmte Ideologie zu propagieren oder irgendeine Sache zu unterstützen, der sie nicht von ganzem Herzen zustimmen können. Wenn Krieg ist, müssen sie lehren, daß wir unsere Feinde lieben und für sie beten sollen; und wenn der Krieg vorüber ist, müssen sie dafür eintreten, daß Sieger und Besiegte sich versöhnen. 11) Die Kirchen müssen sich darum bemühen, daß das, was geändert werden muß, auf friedliche und gerechte Weise geändert 17

Festschrift

Kunst

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wird, und müssen eben dadurch den Ursachen des Krieges zu Leibe gehen. Sie müssen dafür eintreten, daß Treu und Glauben gewahrt und daß das einmal gegebene Wort gehalten wird. Sie müssen den überheblichen Ansprüchen imperialistischer Mächte Widerstand entgegensetzen und für die allseitige Verminderung der Rüstungen eintreten. Sie müssen dagegen ankämpfen, daß sich angesichts der Erfahrung, daß Kriege zu nichts führen, Gleichgültigkeit und Verzweiflung breitmachen. Sie müssen jedem einzelnen Christen zum Bewußtsein bringen, daß ein geistiger Widerstand, wenn er auf einer weitverbreiteten festen Uberzeugung beruht, eine Macht ist, die vom Kriege abhalten kann." Angesichts dieser Erklärung wird man sagen können: Die Verwerfung des Krieges ist stärker und eindrucksvoller als bisher: Der Krieg ist gegen Gottes Willen. Er ist Sünde. Es kann keine Rechtfertigung f ü r ihn als Mittel der internationalen Politik mehr geben. Andererseits wird der Einsatz der Kirche für den Frieden dringlicher gefordert, während das Problem der Verweigerung des Kriegsdienstes dadurch zurücktritt. Es werden in neuer Formulierung die verschiedenen Stellungnahmen zur Frage der Beteiligung am Krieg wie in O x f o r d nebeneinandergestellt, wobei die Oxforder besonderen Differenzierungen nicht wiederkehren. Aber im Ergebnis hat sich nichts geändert. Die Diskussion ist gerade hier nicht vorwärtsgekommen. Dies veranlaßte die historischen Friedenskirchen zu einem gemeinsamen Schritt an den ökumenischen Rat der Kirchen, zumal die Amsterdamer Erklärung die Theologen gebeten hatte, angesichts der schwer zu tragenden Differenzen zwischen den Kirchen über den Kriegsdienst den theologischen Fragen nachzugehen. Dieser „Aufruf", 1953 unter dem Titel „Gottes Wille ist der Friede" erschienen, ist ein eindrucksvolles Zeugnis des christlichen Pazifismus, das eine stärkere Kenntnisnahme und Antwort seitens der Kirchen des ö k u menischen Rates verdient hätte. Leider ist es nicht recht gehört und darum auch nicht kritisch verarbeitet worden. Infolgedessen gab es auch auf der zweiten Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Evanston 1954 keinen Niederschlag einer theologischen Auseinandersetzung über die Frage der christlich zu verantwortenden Beteiligung am modernen Krieg. Der Bericht der Sektion IV „Internationale Angelegenheiten" verhandelt das Problem des Kriegs unter dem Thema: „Die Sehnsucht nach Frieden und die Angst vor dem Krieg". In dieser Darbietung heißt es7: 7

Evanston Dokumente, Witten 1954, S. 92—94.

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„Die Christen haben sich überall dem Weltfrieden als einem Ziel verschrieben. „Friede" heißt für sie jedoch mehr als das bloße „Fernsein des Krieges"; er ist positiv gekennzeichnet durch Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe. Für einen solchen Frieden muß die Kirche arbeiten und beten. Die Entwicklung von Atomwaffen macht aus diesem Zeitalter ein Zeitalter der Angst. Wahrer Friede kann nicht auf Angst beruhen. Es ist müßig zu denken, die Wasserstoffbombe oder ihre Entwicklung garantiere den Frieden, weil die Menschen sich davor fürchten, in den Krieg zu ziehen; auch stellt Angst keine ausreichende Sicherung gegen die Versuchung dar, eine solch entscheidende Waffe in der Hoffnung auf totalen Sieg oder in der Verzweiflung der totalen Niederlage zu benutzen. Der Gedanke an einen Atomkrieg auf der ganzen Linie ist in der Tat grauenerregend. Ein solcher Krieg stellt eine neue moralische Herausforderung dar. Der Gedanke daran hat dazu geholfen, die öffentliche Meinung aufzuschrecken, und hat das Wissen darum vertieft, wie dringlich es ist, Mittel zur Vorbeugung zu finden. Der Einzelne kann sich nicht länger den Folgen eines Krieges entziehen; die gesamte Menschheit ist einem Unheil ausgesetzt, vor dem es kein Entrinnen gibt. Die oberste Verantwortung der Kirche in dieser Lage weist ohne Zweifel dahin, die umwandelnde Macht Jesu Christi in den Herzen der Menschen zur Wirkung zu bringen. Die Christen müssen mit größerer Hingebung für den Frieden beten, müssen ernsthafter für ihr persönliches und gemeinsames Versagen gegenüber der Aufgabe der Schaffung einer internationalen Ordnung Buße tun und sich in weit stärkerem Maße darum bemühen, weltweite Verbindungen im Dienst der Versöhnung, Gemeinschaft und Liebe herzustellen. Die Tatsache, daß sehr oft erhabene Ziele ausgedacht wurden, um den Krieg zu rechtfertigen, kann die Wahrheit nicht verbergen, daß sein gewaltsamer und zerstörerischer Charakter durch und durch böse ist. Deshalb dürfen sich die Christen, ein jeder in seinem Lande, zu diesem Betrüge nicht hergeben, sondern müssen ihn aufdecken. Es reicht nicht aus, wenn die Kirchen verkünden, der Krieg sei etwas Böses. Sie müssen aufs neue die christlichen Wege zum Frieden studieren und dabei beides in Rechnung setzen, christlichen

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Pazifismus als eine Möglichkeit des Zeugnisses und die Uberzeugung anderer Christen, daß unter besonderen Umständen militärisches Eingreifen zu rechtfertigen ist. Welchen Standpunkt Christen in diesen Fragen auch einnehmen mögen, sie müssen die psychologischen und sozialen, die politischen und die wirtschaftlichen Ursachen des Krieges ergründen, analysieren und sie zu beseitigen helfen. Ohne ihre Uberzeugung aufzugeben, daß alle Waffen des Krieges böse sind, sollten die Kirchen auf Zurückhaltung in ihrem Gebrauch drängen. Christen in allen Ländern müssen bei ihren Regierungen dafür eintreten, geduldig und ausdauernd nach Mitteln zur Rüstungsbeschränkung und Förderung der Abrüstung zu suchen." „Vor allem rufen wir die Nationen dazu auf, sich zu verpflichten, von jeder Drohung mit und jedem Gebrauch von Wasserstoff-, Atom- und allen anderen Waffen der Massenvernichtung sowohl wie von dem Einsatz jeglicher anderen Machtmittel gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit irgend eines Staates Abstand zu nehmen. Die Kirchen müssen die planmäßige Massenvernichtung von Zivilpersonen in offenen Städten, gleichviel mit welchen Mitteln und zu welchen Zwecken, verurteilen. Die Kirchen sollten über die C.C.I.A. und andere Kanäle auf den automatischen Einsatz von Friedensausschüssen der Vereinten Nationen in Gebieten voller Spannungen drängen, die feststellen, wenn sich irgendwo eine Aggression vollzieht; die Christen müssen unablässig auf soziale, politische und wirtschaftliche Maßnahmen zur Verhinderung des Krieges drängen." Man erkennt aus diesen Auszügen, die nur ein Teil der umfangreichen Erörterungen zum Problem des Krieges sind, daß man sich vor allem den zahlreichen praktischen Aufgaben zur Verhütung des Krieges zugewandt hat, wobei sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß hier der Nachdruck des Dienstes der Kirche am Frieden auf Erden liegen muß, demgegenüber die Frage der Verweigerung des Kriegsdienstes durchaus als zweitrangig erscheint. Statt sich in aussichtslose und darum unfruchtbare Diskussionen über die Kriegsdienstverweigerung als christliche Entscheidung gegen den Krieg einzulassen, hat man sich den dringenden Aufgaben des Tages zugewandt und möchte den Kirchen nahelegen, sidi für ein „Zusammenleben in einer entzweiten Welt", für „internationale Ord-

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nungen", f ü r eine „Weltgemeinschaft der Völker", für ein „internationales Ethos", insonderheit den „Schutz der Menschenrechte" einzusetzen, da allein auf diesen Wegen der Ausbruch eines „dritten Weltkrieges" verhindert werden kann, worauf es gegenwärtig entscheidend ankommt. In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal ausdrücklich die Rede von der Kriegsdienstverweigerung, und zwar als Recht, das die Staaten gewähren sollen. Dabei kann auf ein Dokument verwiesen werden, das die Rechtsfragen der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu klären sich bemüht. Dementsprechend heißt es im Bericht: „Der Kampf für die wesentlichen Freiheiten des Menschen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verteidigt werden, ist der Kampf für den Frieden. Die gegenwärtige Untersuchung des ökumenischen Rates der Kirchen über das Recht der Kriegsdienstverweigerung und dessen Unterstützung, wie sie 1951 vom Zentralausschuß gutgeheißen wurde, ist ein notwendiger Schritt in der Richtung nationalen und internationalen Vorgehens zu dessen Sicherung. Bis dahin müssen die Kirchen soweit wie möglich für gerechte Beurteilung und menschliche Behandlung derer eintreten, die sich zu diesem „persönlichen Zeugnis für den Frieden" berufen wissen." 8 An diesen Bericht schließt sich ein „Appell des ökumenischen Rates der Kirchen" an, der sich an die Regierungen der Völker wie an die Kirchen in aller Welt mit eindringlichen Worten wendet, den Frieden auf Erden zu wahren und zu festigen. Er gibt dazu eine Reihe von Hinweisen, was unbedingt geschehen muß, um in unserer heutigen bedrohten und gespaltenen Welt den Krieg zu verhüten und den Frieden zu sichern. Damit ist die Erörterung des Kriegsproblems im ökumenischen Feld nicht zu Ende gekommen. Vielmehr hat sich nach Evanston der Zentralausschuß des ökumenischen Rates immer wieder mit den Fragen des Atomkrieges und der Verhütung des Krieges im atomaren Zeitalter befaßt, nicht jedoch mit dem Problem der Kriegsdienstverweigerung als theologisch-ethischer Frage der Kirche. Auch in Neu Delhi, bei der S.Vollversammlung des ökumenischen Rates, kam diese Frage nicht anders zur Sprache als in Evanston, jedoch noch knapper und nur am Rande. Der einzige Satz im Bericht von Neu Delhi hierzu lautet: „Es ist nötig, die Kriegsdienstverweigerer zu verstehen und ihre 9

a. a. O., S. 100.

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Rechte als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen im Atomzeitalter anzuerkennen." 9 Dieser Satz macht deutlich, wie wenig in der ökumenischen Diskussion des letzten Jahrzehnts die Frage der Verweigerung des Kriegsdienstes als Problem der christlichen Ethik eine Rolle gespielt hat. Sie hat offensichtlich ihre frühere Bedeutung mehr und mehr verloren, ohne daß von einer Lösung in irgendeiner Richtung die Rede sein kann. Immerhin könnte man eine gewisse Einmütigkeit der im ökumenischen Rat vertretenen Kirchen in folgenden Punkten feststellen: Eine fraglos selbstverständliche Beteiligung des Christen am Krieg auf Grund des von Gott gebotenen Gehorsams gegen die Obrigkeit kann nicht mehr als eine Forderung christlicher Ethik gelten. Andererseits jedoch kann auch die Forderung der bedingungslosen Verweigerung des Kriegsdienstes nicht als ein allgemeingültiger Satz christlicher Ethik gelten. Dagegen wird die Möglichkeit einer konkreten Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gründen einer Gewissensentscheidung gegen die staatliche Forderung der militärischen Teilnahme an einem Krieg als eine christlich zu bejahende und ethisch verantwortliche Handlung allgemein bejaht. Darüber hinaus kann jedoch auch die Forderung an alle Staaten, der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen Raum zu geben und diese Möglichkeit auch rechtlich zu ordnen, als eine allgemein vertretene Uberzeugung der Kirchen angesehen werden. Zum Abschluß nur noch eine Bemerkung. Keine Klarheit im ökumenischen Gespräch konnte bisher erzielt werden über die eigentlichen Ursachen, aus denen die Differenzen zwischen den „pazifistischen" und „nichtpazifistischen" Überzeugungen herzuleiten sind. Liegen sie in einem ganz verschiedenen Verständnis der Hl. Schrift oder nur in einer entgegengesetzten Auffassung über Gottes Gebot, über die Herrschaft Christi in der Welt, über die Aufgabe der Kirche und das Verhältnis von Kirche und Welt (Zwei-Reiche-Lehre), oder sind es auch ganz „untheolologische" Faktoren, die für die Entscheidung maßgeblich sind? Wir können hier die Fragen nur aufwerfen. Ihnen müßte im ökumenisch-theologischen Gespräch ganz anders nachgegangen werden, wenn man zu Klärungen kommen wollte.

• Neu-Delhi 1961, Stuttgart 1962, S. 290.

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II Die Stellungnahme der Evangelischen Kirche in zur Kriegsdienstverweigerung

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Deutschland

Wir verlassen nunmehr den Bereich der ökumenischen Diskussion über unser Thema, obwohl hier noch auf viele wichtige Auseinandersetzungen und kirchliche Stellungnahmen aufmerksam gemacht werden könnte. Hingewiesen sei nur auf das seit Jahren geführte Gespräch zwischen den historischen Friedenskirchen mit Vertretern der reformatorischen Volkskirchen in der sogenannten Puidoux-Konferenz, bei dem es gerade um die Klärung der theologischen Grundfragen des Themas geht. Auch verdient die gründliche und ausführliche Stellungnahme der Generalsynode der Nederlandse Hervormde Kerk vom 26. Juni 1962 unter dem Titel „Das Problem der Atomwaffen" besondere Beachtung10. Leider können wir auch auf diese gewichtige und entschiedene kirchliche Äußerung der Verurteilung des mit atomaren Waffen geführten Krieges nicht eingehen. Wir müssen uns jetzt der Erörterung des Themas in der Evangelischen Kirche in Deutschland zuwenden, da uns dieser Bereich begreiflicherweise besonders angeht. Als die Synode der E K D im April 1950 die Frage behandelte: „Was kann die Kirche für den Frieden tun?", zeichnete sich ein Wandel in der Geschichte des deutschen Protestantismus ab. Bisher war so noch nie die Friedensfrage als Aufgabe der Kirche in den Blick eines amtlichen Organs der evangelischen Christenheit Deutschlands gekommen. Erst recht wird die Wende deutlich, wenn man den Synodalbeschluß als Ganzes ins Auge faßt. Für unser Thema genügt es jedoch zu sehen, wie hier zum ersten Male ausdrücklich die Möglichkeit einer Verweigerung des Kriegsdienstes anerkannt wird, und zwar steht dies in folgendem Zusammenhang der Erklärung der Synode: „Was kann die Kirche für den Frieden tun? Unser Herr Jesus Christus sagt: Selig sind, die Frieden stiften, denn sie sollen Gottes Kinder heißen. Als solche, die an den Friedensbund Gottes mit der Welt glauben, wissen wir uns berufen, Frieden zu suchen mit allen Menschen und für den Frieden der Völker zu wirken gemeinsam mit allen, die ihn ernstlich und ehrlich wollen. Wir bitten deshalb alle Glieder unseres Volkes, wie wir es 19

Kirche, Krieg und Frieden. Polis 16, Zürich 1 9 6 3 .

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schon in unserer Botschaft von Eisenach im Jahre 1948 getan haben: Haltet Euch fern dem Geist des Hasses und der Feindseligkeit! Laßt Euch nicht zum Werkzeug einer Propaganda machen, durch die Feindschaft zwischen den Völkern gefördert und der Krieg vorbereitet wird, auch nicht zum Werkzeug irgendeiner Friedenspropaganda, die in Wirklichkeit Haß sät und den Krieg betreibt! Verfallt nicht dem Wahn, es könne unserer Not durch einen neuen Krieg abgeholfen werden! Wir rufen allen Gliedern unseres Volkes im Westen und im Osten zu: Werdet eindringlich und unermüdlich vorstellig bei allen, die in politischer Verantwortung stehen, daß sie nicht in einen Krieg willigen, in dem Deutsche gegen Deutsche kämpfen. Wir legen es jedem auf das Gewissen, zu prüfen, ob er im Falle eines solchen Krieges eine Waffe in die Hand nehmen darf." 1 1 Wenn man von den ökumenischen Diskussionen herkommt, wirkt der Anlaß, aus dem auf der Berliner Synode der Kriegsdienstverweigerung recht gegeben wird, schlechthin überraschend. Es scheint so, als ob hier lediglich der denkbare Bürgerkrieg Deutscher gegen Deutsche ethisch durchschlagender Grund zur christlich verantwortbaren Verweigerung des Waffendienstes sei. Aber vielleicht muß man doch zur Entschuldigung der Synode darauf hinweisen, daß der Hintergrund dieses Krieges eine auf ideologischer Gegnerschaft beruhende weltumspannende Auseinandersetzung zwischen dem „Westen" und dem „Osten" ist. Jedenfalls wird hiermit von der Synode der auch im ökumenischen Bereich vorhandene Standpunkt bejaht, daß es eine konkrete Kriegsdienstverweigerung geben kann auf Grund einer in actu zu treffenden Gewissensentscheidung, d. h. also aktueller, nicht prinzipieller Pazifismus. Aber die Synode geht darüber hinaus, indem sie in einem späteren Abschnitt ihres Beschlusses sich ausdrücklich an die Staaten wendet mit der Bitte, für rechtlichen Schutz der gewissensmäßigen Kriegsdienstverweigerer Sorge zu tragen. „Wir beschwören die Regierungen und Vertretungen unseres Volkes, sich durch keine Macht der Welt in den Wahn treiben zu lassen, als ob ein Krieg eine Lösung und Wende unserer Not bringen könnte. Wir begrüßen es dankbar und voller Hoffnung, daß Regierungen durch ihre Verfassung denjenigen schützen, der um seines Gewissens willen den Kriegsdienst verweigert. Wir bitten alle Regierungen der Welt, diesen Schutz zu gewähren. Wer um des Gewissens 11

Kundgebungen, Worte und Erklärungen der E K D 1945—59, Hannover o J . , S. 95 ff.

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willen den Kriegsdienst verweigert, soll der Fürsprache und der Fürbitte der Kirche gewiß sein." 12 Die Folgerungen aus diesem Beschluß haben die Evangelische Kirche in Deutschland durch die Jahre seither immer mehr beansprucht, vor allem nach der Wiederaufrichtung der allgemeinen Wehrpflicht im Westen und Osten Deutschlands. Zum ersten Male zeigte sich dies schon, als im August 1950 das offizielle Angebot der Bundesregierung an die Westmächte in Richtung eines Wehrbeitrags der Bundesrepublik für die westliche Verteidigung die Öffentlichkeit überraschte. Während des Essener Kirchentages nahm der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in einer „Erklärung zur Wiederaufrüstung" dazu Stellung. In ihr hieß es in Ziffer I I I : „Einer Remilitarisierung Deutschlands können wir das Wort nicht reden, weder was den Westen noch was den Osten anbelangt. Die Pflicht der Kirche kann es immer nur sein, die schwergerüsteten Mächte der Welt wieder und wieder zu bitten, dem heillosen Wettrüsten ein Ende zu machen und friedliche Wege zur Lösung der politischen Probleme zu suchen. In jedem Fall aber muß derjenige, der um seines christlichen Gewissens willen den Dienst mit der Waffe verweigert, die Freiheit haben, sein Gewissen unverletzt zu erhalten." 13 Es wurde also angesichts der zu erwartenden Wiederaufrüstung die Forderung der evangelischen Kirche auf eine rechtliche Ordnung der Wehrpflicht angemeldet, in der dem Verweigerer des Waffendienstes dazu von Rechts wegen die Befreiung von der Wehrpflicht gewährt wird. Die leidenschaftliche Diskussion der fünfziger Jahre über die Wiederaufrüstung in Deutschland, die allen unvergeßlich bleiben wird, die daran beteiligt waren, kann hier nur erwähnt werden, weil daraus auch verständlich wird, wie sehr die Evangelische Kirche in Deutschland immer wieder auch auf ihren Synoden sich um diese Frage und damit natürlich auch um den ganzen Komplex der Kriegsfrage gestritten hat, ohne allerdings zu einer vollen Einmütigkeit zu kommen. Zu unserem Thema wurde jedoch auf einer Synode nur noch einmal Stellung genommen, und zwar 1952 in Elbingerode angesichts der Tatsache, daß im „Osten und Westen deutsche Streitkräfte aufgestellt werden, die gegeneinander eingesetzt werden können". Die Synode ruft „in aller unserer eigenen Ohnmacht 12

a. a. O . , S. 9 6 .

13

a. a. O . , S. 1 0 4 .

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und Ratlosigkeit noch einmal zu Taten des Friedens". Sie wendet sich nacheinander an die „Brüder im Osten" und „im Westen" und schließt daran die folgenden Worte an alle: „Wir alle, ob wir nun im Osten oder im Westen den Ort unseres Dienstes und unserer Bewährung haben, dürfen mit allen Christen in der ganzen Welt gewiß sein, daß in dem Herrn zusammengehören, die Ihm gehören. Wir dürfen an dem Platz, auf den uns Gott gestellt hat, in der Verantwortung für unseren Nächsten ausharren, in der Gewißheit, daß wir in Christus bleiben und leben werden, auch wenn wir stürben. Wir dürfen einer für den andern einstehen gerade auch da, wo es die Gewissensnot des andern gilt. Wir achten jede Gewissensentscheidung, die vor Gottes Angesicht im Blick auf den Gehorsam, den die Obrigkeit fordert, getroffen wird. Wir sind auch nicht in der Lage, einen für alle in gleicher Weise verbindlichen Gewissensrat zu geben. Den vielen aber unter euch, die sich in einer Lage sehen, in der sie nur mit verletztem Gewissen zur Waffe greifen könnten, sagen wir noch einmal, daß wir gewillt sind, nicht nur in der Fürbitte vor Gott, sondern auch vor den politischen Instanzen für die einzutreten, die aus Gründen des Gewissens den Kriegsdienst verweigern." 1 4 „Eintreten auch vor den politischen Instanzen" für die, „die aus Gründen des Gewissens den Kriegsdienst verweigern", das ist die eigentliche Entscheidung der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Frage der Kriegsdienstverweigerung. D a s ist die Form der kirchlichen Bejahung der sittlichen Berechtigung auf Verweigerung des Waffendienstes. Die Folgerung, die der R a t der Evangelischen Kirche in Deutschland 1955 angesichts der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik zog, war die Einsetzung eines Ausschusses zur Ausarbeitung der kirchlichen Vorschläge zur gesetzlichen Regelung der Kriegsdienstverweigerung in Ausführung des Grundrechtes auf Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen, wie dies in Artikel 4 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949 niedergelegt war. D a s Ergebnis dieser Ausschußarbeit wurde als „Ratschlag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer" am 16. Dezember 1955 veröffentlicht. Dies ist das wichtigste Dokument der Evangelischen Kirche in Deutschland, das zur Frage der Kriegsdienstverweigerung geschaffen 14

a. a. O., S. 145.

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wurde. Es hat freilich in dem Memorandum des ökumenischen Rates der Kirchen zur rechtlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerung von 1951 einen beachtlichen Vorgänger, dessen Gedanken auch in dem Dokument der Evangelischen Kirche in Deutschland mit verarbeitet worden sind, aber es ist doch mit seiner ausführlichen Begründung, die mit dem Ratschlag publiziert wurde, durchaus von eigener theologisch begründeter Prägung 15 . In der Begründung werden vor allem die Stellung des Christen zum Krieg in der Gegenwart, das Problem der allgemeinen Wehrpflicht sowie die Frage des Gewissens und seiner Prüfung durch ein menschliches Tribunal eingehend erörtert. Die Bedeutung des Ratschlags der Evangelischen Kirche in Deutschland läßt es als geboten erscheinen, die acht Punkte im vollen Wortlaut folgen zu lassen: „1. Die erschreckende Ausweitung des modernen Krieges und die geschärfte Verantwortung gegenüber Waffengewalt und Krieg legen jedem Christen die Frage in das Gewissen, ob der Krieg als ein letztes Mittel der Verteidigung und die Teilnahme am Kriege oder die Vorbereitung dafür erlaubt sein kann. Wenn der Staat die Befugnis zur Heranziehung seiner Bürger zum Wehr- und Kriegsdienst in Anspruch nimmt, so steht er vor der Frage, ob er nicht um der Würde des Menschen willen und als ein Zeichen eigener staatlicher Selbstbegrenzung darauf verzichten muß, von Menschen den Kriegsdienst zu fordern, die dadurch in ernste Gewissensnot geraten. Die Kirche bittet die Regierenden in Ost und West unseres Landes, für eine zureichende Gesetzgebung zum Schutz derjenigen Sorge zu tragen, die aus Gewissensgründen den Kriegs- und Waffendienst verweigern. 2. In Ausführung der in Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland niedergelegten grundrechtlichen Gewährleistung, daß niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf, erscheint es erwünscht, die nähere rechtliche Ordnung der Kriegsdienstverweigerung in den Rahmen des Wehrpflichtgesetzes einzufügen. Das würde der Besorgnis entgegenwirken, eine besondere gesetzliche Regelung der Kriegsdienstverweigerung könne diskriminierende Nachteile gegenüber der allgemeinen Wehrpflichtgesetzgebung enthalten. 3. Der Schutz des Kriegsdienstverweigerers sollte nicht auf den 13

Kirchen und Kriegsdienstverweigerung, München 1 9 5 6 .

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Fall des eigentlichen Krieges beschränkt werden, sondern wäre auch auf die Teilnahme an der militärischen Ausbildung im Frieden zu erstrecken. 4. An den Staat ist die dringende Bitte zu richten, in seinem Bestreben, praktisch anwendbare Abgrenzungen zu schaffen, den Kreis der Gewissensbedenken, denen er Gehör schenkt, nicht eng oder gar schematisch (z. B. in Beschränkung auf Angehörige bestimmter Gruppen und Gemeinschaften) abzustecken, damit er nicht Gewissenszwang an vielen übt, die solchen Festsetzungen nicht entsprechen. Die evangelische Kirche muß daran erinnern, daß für den evangelischen Christen die Stimme des Gewissens in einer konkreten Lage vernehmbar wird und nicht an allgemeinen Maßstäben zu messen ist. Wenn der Staat, eingedenk dessen, daß es nicht das Amt des menschlichen Richters ist, über das Gewissen zu urteilen, objektiv feststellbare Momente für die Anerkennung der Haltung des Kriegsdienstverweigerers fordert, sollte doch das staatliche Gesetz die Möglichkeit offen lassen, auch der konkreten Gewissensentscheidung im Einzelfall eines unlösbaren Gewissenskonflikts Raum zu gewähren. Der Wertung der Persönlichkeit des Dienstverweigerers und dem Gewissensernst seiner Stellungnahme gebührt dabei Berücksichtigung. In der weitherzigen Rücksichtnahme auf die Gewissensnot gewährt der Staat die Gewissensfreiheit, der er in Art. 4 Abs. 3 G G besonderen Schutz zugesagt hat. Angesichts des in manchen Fällen auftretenden Widerstreites zwischen der evangelischen Anschauung vom Gewissen und den Forderungen einer praktisch zu handhabenden Gesetzesregelung werden Fälle vorkommen können, in denen echte Gewissensbedenken vor den staatlichen Stellen keine Anerkennung finden. Die Möglichkeit einer geordneten Seelsorge gerade in diesen Fällen muß gewährleistet sein. 5. Bei der Einrichtung und Zusammensetzung der Stellen, die über die Zulässigkeit und Ernsthaftigkeit der Ablehnung des Kriegsdienstes um des Gewissens willen entscheiden, sind die Grenzen menschlichen Urteils und die Notwendigkeit besonderer Qualifikation der zur Entscheidung Berufenen zu bedenken. Nicht den Wehrersatzbehörden, sondern von ihnen auch in der personalen Zusammensetzung unabhängigen Stellen sollte die Entscheidung gegeben werden. Sie sind durch unabhängige Persönlichkeiten mit den erfor-

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derlichen Erfahrungen in richterlicher Praxis und mit umfassender Menschenkenntnis zu besetzen. Den Dienern der Kirche ist auf Verlangen des Kriegsdienstverweigerers die Möglichkeit des persönlichen Zeugnisses über ihn im Verfahren zu eröffnen. Eine unabhängige richterliche Berufungsinstanz ist offenzuhalten. 6. Es sind verfahrensrechtliche Möglichkeiten vorzusehen, daß der Wehrpflichtige Gewissensbedenken, die ihn zu der Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe zwingen, auch nach der Einberufung zum Wehrdienst geltend machen kann, wenn er die Ernsthaftigkeit des Gewissensanstoßes glaubhaft zu machen vermag. 7. Finden die Gewissensbedenken Anerkennung, so kann der Wehrpflichtige, wenn er sich dazu bereit findet, zum waffenlosen Dienst in der Truppe (z. B. Sanitätsdienst) einberufen werden. Andernfalls ist er zu einem unter ziviler Leitung stehenden Ersatzdienst von gleicher Zeitdauer und gleicher Schwere wie der Wehrdienst einzuziehen. Die Möglichkeit der Ableistung eines „Friedensdienstes" zu gleichen Bedingungen in besonderen Einrichtungen kirchlicher oder freier Organisationen ist vorzusehen. Dem zum waffenlosen Dienst oder Ersatzdienst Herangezogenen soll ein Rechtsmittel gegen Heranziehung zu einer von ihm als militärische Tätigkeit betrachteten Dienstleistung gegeben werden. 8. In seiner Versorgung und Betreuung während des Ausgleichsdienstes muß der Kriegsdienstverweigerer denen, die Kriegsdienst mit der Waffe oder eine entsprechende Ausbildung ableisten, gleichgestellt sein. Jede bürgerliche oder staatsbürgerliche Benachteiligung des Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen ist auszuschließen. Das gilt auch für die Wiedereinstellung in die frühere Beschäftigung und das berufliche Fortkommen." Damit konnte die Evangelische Kirche in Deutschland überzeugt sein, ihre Zusage von 1950 eingelöst zu haben. Der Ratschlag wurde beiden Regierungen in Deutschland übergeben, und im Frühjahr 1956 wurde an die Volkskammer der D D R noch zusätzlich die Bitte gerichtet, in der Verfassung der D D R analog der Bestimmung des Grundgesetzes der Bundesrepublik eine ausdrückliche Anerkennung des Rechtes auf Verweigerung des Waffendienstes vorzusehen 16 . „Die Evangelische Kirche ist der Meinung, daß ein Recht auf " Kundgebungen, S. 212.

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KriegsdiensverWeigerung aus Gewissensgründen zu den verfassungsmäßig zu verankernden Grundrechten des Staatsbürgers gehört, unabhängig davon, ob in einem Staat Wehrpflicht besteht oder nicht." Der Vorschlag der Verfassungsänderung lautete folgendermaßen: „Kein Bürger darf an kriegerischen Handlungen teilnehmen, die der Unterdrückung eines Volkes dienen. Der Dienst zum Schutz des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen ist eine ehrenvolle nationale Pflicht des Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik. Jedoch darf ein Bürger zum militärischen Dienst nicht herangezogen werden, wenn er dagegen Gründe vorbringt, die ihn nach seinem religiösen Glauben oder nach seiner sittlichen Uberzeugung in seinem Gewissen binden." Leider blieb dieser Vorschlag unbeachtet, zumal damals in der D D R keine allgemeine Wehrpflicht bestand. Dagegen hat sich der Ratschlag bei den Beratungen des Bundestages in Bonn weithin positiver ausgewirkt, wenn auch nicht alle Wünsche der Kirche berücksichtigt wurden. Aufs Ganze gesehen konnte die Evangelische Kirche in Deutschland mit der Regelung des durch das Grundrecht geschützten Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen in der Bundesrepublik zufrieden sein. Immerhin hat die E K D seither nicht nachgelassen, sich um Verbesserungen der gesetzlichen Regelung, des Verfahrens zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer sowie der Durchführung des „Ersatzdienstes" zu bemühen. Sie hat dafür auch einen besonderen Beauftragten eingesetzt und in der „Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung" ein Organ der Zusammenarbeit aller für diese Fragen Verantwortlichen begründet. Die Synode der E K D hat sich auf einer westlichen Sondertagung in Frankfurt a. M. November 1965 einen .ausführlichen Bericht über die Lage und die Arbeit der Organe und Ämter der E K D auf diesem Gebiet geben lassen, wobei die Fragen des Anerkennungsverfahrens, der Durchführung des Ersatzdienstes und der Seelsorge an Wehrdienstverweigerern und Ersatzdienstpflichtigen im Vordergrund standen. Viele Fragen der Praxis sind bis heute noch nicht befriedigend gelöst, und sie werden darum zwischen Kirche und Staat unaufhörlich erörtert, wobei die wesentlichen Wünsche und Anregungen von der Kirche ausgehen, die es als einen Bestandteil ihrer Zusage an die Wehrdienstverweigerer ansieht, ihnen in ihrer nicht immer leichten Situation Beistand zu leisten. Die Entwicklung nahm in der D D R nach Errichtung der Mauer 1961 eine erschwerende Wendung durch die plötzliche Einführung der allge-

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meinen Wehrpflicht für die Nationale Volksarmee. Jetzt war die Kirche aufs neue herausgefordert, Wehrdienstverweigerern beizustehen. Ein wichtiges Dokument zu dieser Sache ist die Erklärung der Ostberliner Regionalsynode der Berlin-Brandenburger Kirche vom 16.3. 1962 „Zum Wehrdienst und zur Wehrdienstverweigerung 17 : „Die Evangelische Kirche in Deutschland hat lange vor einer drohenden Aufrüstung der beiden deutschen Teilstaaten ihre Stimme gegen die Wiederbewaffnung der Deutschen erhoben. Trotz aller Bitten und Warnungen ist nun doch die Wehrpflicht in beiden Hälften Deutschlands eingeführt worden. Damit ist die Frage der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen auch im Raum der Deutschen Demokratischen Republik in ein neues Stadium eingetreten. Angesichts dieser Situation bekennt sich die Synode, die das Verteidigungsrecht eines Staates in seiner Verantwortung für das Recht und den Frieden bejaht, nach wie vor zu den Erklärungen der Synoden der Evangelischen Kirche in Deutschland von Weißensee und Elbingerode." Hier folgen dann die oben zitierten Beschlüsse. Dann fährt die Erklärung fort: „Die Synode, die alle jungen Christen, die den Wehrdienst leisten, an das über allem gültige erste Gebot erinnert, erklärt gleichzeitig ihre Bereitschaft, für diejenigen einzutreten, die aus prinzipiell oder situationeil bestimmten Gewissensgründen glauben, den Dienst mit der Waffe nicht leisten oder den Eid in der geforderten Form nicht ablegen zu können. Die Synode hofft, daß die Bemühungen der Regierungen, auch der unserer Deutschen Demokratischen Republik, dazu führen möchten, in der Absage an alle Massenvernichtungsmittel auf dem Wege über eine allgemeine Abrüstung die Ächtung des Krieges zu erreichen. Die Synode bittet die Beauftragten der Kirchenleitung, bei den Räten der Bezirke im Sinne dieser Grundsätze dafür einzutreten, daß der Staat eine Regelung schafft;, bei der die echten Gewissensgründe derer respektiert werden, die auf ihre Weise bereit sind zum Einsatz für die Gemeinschaft, zu der sie gehören." Die Bemühungen der evangelischen Kirchen in der D D R ließen nicht nach, obwohl es aussichtslos erschien, bei der Regierung irgend17

Günther H e i d t m a n n , H a t die Kirche geschwiegen? 3. Aufl., Berlin 1964, S. 359.

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etwas zu erreichen. In den 10 Artikeln über „Freiheit und Dienst der Kirche", verabschiedet von der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der D D R 1963, heißt es wiederum 18 : „Der Dienst der Versöhnung verpflichtet uns auch, für den Frieden unter den Völkern ehrlich und ernstlich zu wirken. Angesichts der Massenvernichtungsmittel ist der Krieg weniger denn je eine Möglichkeit zur Lösung politischer und ideologischer Spannungen zwischen den Völkern und Machtblöcken. Die Kirche setzt sich f ü r den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein, wie sie auch für ihre Glieder, die Soldaten werden, den Auftrag zur Seelsorge behält. Wer wegen seines Dienstes für die Versöhnung leiden muß, darf der Treue Gottes gewiß sein und soll die Hilfe und fürbittende Liebe der Gemeinde erfahren." Ein Jahr später, im Herbst 1964, ergab sich für die Kirche in der D D R eine neue Lage, als durch eine „Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates über die Aufstellung von Baueinheiten" (vom 7. September 1964) seitens des Staates eine Lösung des Problems der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen versucht wurde. Durch die Aufstellung von Gruppen waffenloser „Bausoldaten" im Rahmen der Armee sollte den Wünschen der Kirche entgegengekommen werden. Allerdings erwies sich diese Lösung durchaus nicht als befreiend und befriedigend, da keine echte Trennung des Waffendienstes von der Bauarbeit — oft für militärische Zwecke! — vollzogen wurde. So gab es denn auch Verweigerer unter den Bausoldaten und darauf natürlich Gefängnisstrafen. Aus diesem Grunde versuchte die Kirche immer wieder, den Staat für eine Verbesserung dieser an sich nicht grundsätzlich verwerflichen Regelung willig zu machen, leider bisher ohne Erfolg. Deswegen sah sich die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der D D R veranlaßt, eine Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen zu erarbeiten, die unter dem Titel „Zum Friedensdienst der Kirche" am 1. 11. 1965 verabschiedet wurde 1 ". In dieser ganz hervorragend gearbeiteten Handreichung wird im ersten Teil theologisch über den „Friedensdienst der Kirche" nachgedacht, der aus dem zentralen Schriftzeugnis des Friedensbundes Gottes mit der Welt heraus entwickelt wird. „Unter den geschichtlichen Lebensbedingungen der 13 19

a. a. O., S. 395. Als Vervielfältigung der K o n f e r e n z erschienen.

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noch bestehenden alten Welt, die ohne Androhung und Ausübung von Gewalt als Mittel der Rechtswahrung nicht auskommen kann, bezeugt die Gemeinde den zum Sieg kommenden Gottesfrieden in Wort und T a t . " Noch ein paar Zitate seien hinzugefügt: „Weil Christus, der dienende Herr, seine Gemeinde unter der Verheißung seines Friedensbundes und mit seinem Gebot als Dienende in die Welt sendet, kann die Gültigkeit des Friedensgebotes nicht individualethisch verengt und auf den Bereich der Gemeinde begrenzt werden." „Christlicher Friedensdienst unterscheidet sich damit grundsätzlich von der Begründung des Pazifismus in den historischen Friedenskirchen." „Wenn wir heute erkennen, daß bewaffnete Auseinandersetzungen unter den Bedingungen des technischen und atomaren Zeitalters kein sinnvolles Mittel der Politik mehr sein können, so ist dies eine Einsicht der politischen Vernunft, die sich in der gegenwärtigen Weltsituation in diesem Punkt mit der Glaubenserkenntnis und dem Glaubensgehorsam trifft." „Von dieser Erkenntnis des Friedenszeugnisses der Schrift her trat die Kirche erstmals für die Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen ein und befreite sie damit von der Mißdeutung, in einer schwärmerischen Verirrung des Gewissens befangen zu sein. Sie gab dieser Entscheidung den legitimen Ort im Zusammenhang des der ganzen Kirche gebotenen Friedensdienstes und erkannte sie als einen Schritt des Gehorsams in diesem Dienst an, ohne die Wehrdienstverweigerung zur allgemein verbindlichen N o r m zu erheben und damit dem einzelnen die persönliche Entscheidung in der konkreten Situation abzunehmen." Der zweite Teil bemüht sich um eine „Situationsklärung" des Wehrdienstproblems angesichts der atomar bewaffneten Heere der Großmächte im Osten und Westen der Welt bis hin zu der Frage des verschiedenen Verhaltens der wehrpflichtigen Christen in der D D R . Der dritte Teil behandelt die „Aufgaben der Kirche" 1. in ihrem Zeugnis vom Frieden in Predigt und Unterweisung, 2. in ihrer Seelsorge an Wehrpflichtigen, besonders an den Wehrdienstverweigerern, 3. in ihrem Verhältnis zum Staat. Aus dem letzten Abschnitt sei das Wort der Kirchen an den Staat 18

Festschrift

Kunst

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wegen seiner Bedeutung für unser Thema in seinen wichtigsten Sätzen wörtlich wiedergegeben: „Die Mitverantwortung um den Schutz und die Bewahrung der Menschen unseres Landes zwingt die Kirche angesichts der verheerenden Folgen eines atomaren Krieges, ihren Staat immer wieder mahnend darauf hinzuweisen: Es gibt keinen denkbaren Grund, der einen Krieg rechtfertigen würde. Ein Krieg muß auf jeden Fall verhindert werden. Die Kirche muß mit ihrem Zeugnis den Staat auf die Gefahren des Wettrüstens und der H a ß p r o p a g a n d a hinweisen, die unmittelbar die Entwicklung zum bewaffneten Konflikt fördern, und sie muß ihn mahnen, ständig um die Errichtung einer internationalen Friedensordnung bemüht zu sein. Sie wird ihm zubilligen müssen, daß er nicht einseitig auf jede Rüstung verzichten kann, und sie wird ihn bestärken müssen bei allen Ansätzen echter Verhandlungsbereitschaft und allen Bemühungen um die Abrüstung und die Bewahrung des Friedens. Die Kirche wird bei einer verantwortlichen Unterstützung der den Frieden erhaltenden und fördernden Schritte des Staates aber immer bedenken müssen, daß sie ihn nicht in seinen Vorurteilen bestärken und in seinen Zwangsvorstellungen und seinem Mißtrauen belassen darf. Die Kirche hat ihr Zeugnis zum Frieden dem Staat auch in ihrem Eintreten für die durch die Wehrdienstpflicht bedrängten Gewissen zu geben. Sie wird ihm geduldig und unbeirrbar den legitimen Glaubenscharakter dieser Entscheidungen zu bezeugen haben und ihn um Respektierung dieser Auffassungen bitten müssen. Auch sollte die Kirche dem Staat konkrete Vorschläge zur Gestaltung eines zivilen Ersatzdienstes unterbreiten. Die Kirche wird den Staat mahnen, den Gewissensentscheidungen auch einen gesetzlichen R a u m zu geben und die ihre Entscheidung praktizierenden Glieder der Kirche in den bewaffneten Organen, in den Baueinheiten oder in den Gefängnissen als Christen existieren zu lassen. Die Kirche muß dem Staat aus ihrer Mitverantwortung deutlich machen, daß eine Bedrängnis des Gewissens gewissenloses Verhalten züchtet und den Staat als Ganzes untergräbt. Die Kirche hat aber auch für die einzelnen bedrängten Gewissen gegenüber dem Staat einzutreten und im konkreten Einzelfall dem Gemeindeglied, dessen Entscheidung zugleich Zeugnis der Kirche ist, zur Seite zu stehen."

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Diese Handreichung macht deutlich, daß unter dem Druck der besonders schweren Probleme in einem totalitären Staat die theologische Vertiefung der Erkenntnisse heranreift, die für die gesamte Kirche fruchtbar gemacht werden muß. Gerade in dieser Handreichung ist viel mehr enthalten als eine praktische Anweisung zur Seelsorge, hier wird die Frage des Krieges und der Verweigerung des Wehrdienstes aus einer theologischen Perspektive erhellt, die auch im ganzen ökumenischen Bereich wirklich weiterhilft über die bisherigen Gegensätze hinweg. In den Jahren 1957—1959 hat eine auf Anregung von Hermann Kunst gebildete Kommission der Evangelischen Studiengemeinschaft über das Thema „Krieg und Frieden im Atomzeitalter" gearbeitet 20 . Der Beitrag dieser Kommission zur Klärung unseres Themas „Kirche und Kriegsdienstverweigerung" soll diesen Aufsatz beschließen, weil er für den Stand der Sachfrage überaus charakteristisch ist, aber auch weil die Ergebnisse dieser Kommission in ihren 11 Thesen bei der Synodaltagung der Evangelischen Kirche in Deutschland in Frankfurt 1965 kritisch zur Sprache gekommen sind, wobei in der Entschließung der Synode von dem „vorläufigen Charakter" der 11 Thesen gesprochen wird, die „als erster Versuch einer Antwort auf eine paradoxe Lage notwendigerweise fragmentarisch" sind, und deren Gebrauch des Begriffs „Komplementarität" in der „Anwendung auf ethische Fragen" nicht genügen könne. In der These 6 war dies so versucht worden. „Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen." 21 Das wird dann in den Thesen 7 und 8 entwickelt. Die These 7 lautet: „Die Kirche muß den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen"22, und die These 8 fährt fort: „Die Kirche muß die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen." 23 Zum Verständnis der für unser Thema besonders wichtigen These 7 fügen wir abschließend den Text der Erläuterung bei, den die Kommission verfaßt hat: 20

21 22 23

Günther Howe, Atomzeitalter — Krieg und Frieden, Witten 1959. Neuauflage (Ullstein-Buch 614) Frankfurt 1963. a. a. O., S. 229. a. a. O., S. 230. a . a . O . , S. 231.

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„Der absolute Waffenverzicht der Friedenskirchen ist in früheren Zeiten von den herrschenden Kirchen verurteilt worden. Die Überzeugung bereitet sich heute auch bei denen aus, die nicht Pazifisten sind, daß dieser Verzicht als eine dem Christen mögliche H a l tung anerkannt werden muß. Die Schrecken der Atomwaffen sind so groß, daß wir es als unbegreiflich empfinden müßten, wenn sich ihnen gegenüber ein Christ nicht wenigstens ernstlich prüfte, ob der Verzicht auf sie, ohne Rücksicht auf die Folgen, nicht unmittelbar verständliches göttliches Gebot ist. Die einzige uns begreifliche Rechtfertigung des Besitzes von Atomwaffen ist, daß ihre Anwesenheit heute den Weltfrieden vorläufig schützt. Ihre Anwesenheit wirkt aber nur, wenn mit ihrer Anwendung für bestimmte Fälle gedroht wird. Die Drohung wirkt nur, wenn die Bereitschaft, Ernst zu machen, vorausgesetzt werden kann. Eine Rechtfertigung ihres tatsächlichen Einsatzes durch die traditionelle Kriegsethik vermögen wir aber nicht mehr zu geben. Dieser Gedankengang hat nach unserer Ansicht jedenfalls eine allgemeine und eine individuelle Konsequenz. Die allgemeine Konsequenz ist, daß die Unmöglichkeit einer grundsätzlichen Rechtfertigung des Atomkrieges nach der Lehre vom gerechten Krieg ausdrücklich anerkannt werden muß. Uber die Frage, ob Atomrüstung gleichwohl gerechtfertigt werden kann, siehe These 8. Die individuelle Konsequenz ist, daß jeder, den sein Gewissen drängt, hieraus die Konsequenz eines vollen freiwilligen Verzichts auf jede Beteiligung an diesen Waffen zu ziehen, von der Kirche in dieser Haltung anerkannt werden muß. Audi wer die entgegengesetzte Entscheidung trifft, weiß nicht, ob nicht jener den Weg gewählt hat, der mehr im Sinne des Evangeliums ist. In Lagen wie diesen erschließt oft genug erst das Wagnis die Erkenntnis, zeigt erst der getane Schritt den festen Boden, auf den der Fuß beim nächsten Schritt gesetzt werden kann. D a ß diese Entscheidung die einzige dem Christen mögliche sei, behaupten wir jedoch nicht. O b oder unter welchen Umständen sie von der des vollen Verzichts auf jeden Kriegsdienst noch getrennt werden kann, erörtern wir nicht."

GÜNTER HOWE

Kirche und Atomfrage 1 I Die Bedeutung der Atomfrage begegnet uns in den von ihr gestellten militärischen und politischen Aufgaben, auf deren Vorgeschichte wir zunächst kurz eingehen. Der Preußische Staat Friedrichs des Großen erschien seinen Zeitgenossen als das Muster eines fortschrittlichen Rechtsstaates. Dennoch enthielt dieser Staat noch wesentliche Elemente alter Feudaltraditionen. Sie zeigten sich zum Beispiel in dem stehenden Heere, dessen Führer zumeist adelige Offiziere waren. Hier trat die von den alten Hochkulturen herrührende Durchdringung von Staatsverfassung und Kriegsverfassung mit besonderer Schärfe hervor. Eine Hoffnung, eben dieses Ineinander von Staatsverfassung und Kriegsverfassung überwinden zu können, keimte in den Anfängen der industriellen Revolution auf. Man mag ihren Beginn etwa auf das Jahr 1776 ansetzen; damals wurde die erste Dampfmaschine fabrikmäßig hergestellt. Die Hoffnung war, daß mit der heraufkommenden Wandlung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen eine Welt des ewigen Friedens verwirklicht werden könnte. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden" war ein besonders eindrucksvolles und bis heute mahnendes Zeichen jener Hoffnung. Im ersten Abschnitt dieser Schrift forderte Kant zum Beispiel die Abschaffung der stehenden Heere. Die Heere der französischen Revolution machten bald deutlich, daß der ewige Friede noch nicht begonnen hatte. Im Gegenteil: der bürgerliche 1

Die hier vorgelegten Überlegungen wurden zum größten Teil im Januar 1966 entworfen und konnten wegen der Folgen einer schweren Erkrankung zumeist nicht weiter vorangetrieben werden. Für nachdrückliche Hilfe bei der Herstellung des Textes hat der Verfasser Frau Dr. phil. Ilse Tödt zu danken.

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Nationalstaat, der auf die Masse der wehrfähigen Männer zurückgriff, konnte auf eine sehr viel effektivere Weise Krieg führen als der aufgeklärte Absolutismus, der auf ein vergleichsweise kleines und empfindliches Söldnerheer angewiesen war. Rund ein halbes Jahrhundert später, im amerikanischen Sezessionskrieg 1861—1865, griff die moderne Technik in einen Entscheidungskampf um die Existenz der kriegführenden Parteien ein. Diese Lehre über die Macht der Technik fand in Europa zunächst kaum Beachtung. Im 1. Weltkrieg aber wurde diese Macht dann auf eine schmerzliche Weise am eigenen Leibe erfahren. Die damalige deutsche Kriegswirtschaft, die schärfste zu dieser Zeit mögliche Verknüpfung von Kriegs-, Wirtschaftsund Staatsverfassung, lieferte Lenin das Modell für den Aufbau des kommunistischen Staates. Der in unserem Zusammenhang wichtigste Grund dafür, daß die bürgerliche Welt den ewigen Frieden nicht hat erringen können, ist in dem Glauben an die absolute Verfügungsgewalt des Menschen über die Natur zu suchen. Dieser Glaube entstammt der klassischen Physik und war vor allem der ersten Phase der technischen Revolution eingestiftet. Er eröffnete den Weg zu einer indirekten, aber dafür auch weitgehend der menschlichen Züge entbehrenden Herrschaft des Menschen über den Menschen, und die damit gegebenen organisatorischen und technischen Möglichkeiten führten zu einer Steigerung und nicht zu einer Überwindung des Kriegsgeschehens. Immerhin wurden die Kriege seltener, da sich nach einem Worte von Oswald Spengler die Rivalitäten der Völker zum Teil vom Krieg in den Rüstungswettlauf verlagerten.

II Den Höhepunkt und zugleich den Umschwung dieser politisch-militärischen Vorgeschichte der Atomfrage bildete der 2. Weltkrieg. Wir können ihn schon zu der zweiten Phase der technischen Revolution rechnen; umgekehrt können wir auch sagen, daß er dieser zweiten Phase der technischen Revolution zum Durchbruch verholfen hat. Ein Ineinander von Wissenschaft und Technik, das vorher noch nicht da war, bewirkte eine nochmalige Intensivierung des Kriegsgeschehens. Zugleich machte es eine weiträumige Leitung möglich, die praktisch den ganzen Erdball umfaßte. Mit Hilfe eines solchen Ineinanders von Wissenschaft und Technik, mit

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der Operations researcb, wurde zum Beispiel der U-Boot-Krieg abgewehrt. Gerade die Demokratien vermochten die Kräfte der Wissenschaft für die Verteidigung der Freiheit zu aktivieren. Der Nationalsozialismus hingegen hat diese Kräfte, die in einem vormals blühenden Kulturlande vorhanden waren, innerhalb weniger Jahre verschüttet, zerstört und zu einem umfassenden Einsatz im Kriege unwillig gemacht. Bezeichnet der Name Atomzeitalter, den man unserer Zeit verliehen hat, das Gesamtphänomen der zweiten Phase der technischen Revolution in angemessener Weise? Wir brauchen hier darüber nicht zu rechten. Die Atomfrage entzündete sich in einer Wissenschaft, in der Physik, die bald nach der Jahrhundertwende in eine Grundlagenkrise geriet, deren Höhepunkt und deren vorläufiger Abschluß in die Jahre von 1924 bis 1927 fällt. Im Winter 1938/39 entdeckten Hahn und Straßmann, aufbauend auf Erkenntnisse, die in dieser Grundlagenkrise gereift waren, die Möglichkeit der Kernspaltung. Die Doppelgesichtigkeit dieses Geschehens liegt darin, daß die gleiche Grundlagenkrise der Physik, durch die, wie wir hier nicht darlegen können2, der Glaube an die absolute Verfügungsgewalt des Menschen über die Natur zerstört worden ist, zugleich die Macht des Menschen über die Natur sprunghaft gesteigert und dadurch freilich auch ad absurdum geführt hat. Die amerikanischen Atomstädte, das erste geschichtliche Beispiel der später so bezeichneten „big science" (Projektwissenschaft), setzten die Kernspaltung vom Laboratorium in den industriellen Maßstab um. Damit aber übertrugen sie auch die Grundlagenkrise von der Physik in die Strategie und die Politik. Hiroshima und Nagasaki (1945) waren erste welterschütternde Krisenzeichen. Die Erprobung der Wasserstoffbombe in den Jahren von 1952 bis 1954 offenbarte eine noch weit gesteigerte Zerstörungskraft. Mit Schrecken mußte die Welt zur Kenntnis nehmen, daß die neuen Kriegsmittel das politische Gefüge auf unserem Planeten in Mitleidenschaft ziehen würden; mit solchen Waffen könnte ein Krieg die geschichtliche Kontinuität der beteiligten Nationen, ja sogar einer ganzen Zivilisation zerstören. * Der Glaube an die totale Objektivierbarkeit der Dingwelt und damit auch ihrer Verfügbarkeit wurde durch die sog. „Kopenhagener Deutung der Quantentheorie" in Frage gestellt. Heisenbergs These von dem Versagen der dinglichen Objektivierbarkeit ist gleichbedeutend mit dem von Niels Bohr aufgestellten Prinzip der Komplementarität. Vgl. hierzu z. B. die in „Atomzeitalter — Krieg und Frieden" (3. Aufl. 1962) S. 160 ff. gegebene kurze Zusammenfassung.

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Fünf bis zehn Jahre nach der ersten Erprobung der Wasserstoffbombe waren solche Zerstörungsmittel in genügender Zahl und mit zunehmendem Wirkungsgrad hergestellt und interkontinentale Träger in Gestalt von Düsenflugzeugen und Raketen bereitgestellt. Grundsätzlich aber war schon seit der Erprobung dieser Bombe der Krieg kein rationales Mittel der Politik mehr. III Trotz der Warnungen hervorragender Physiker wie Niels Bohr oder James Franck vermochten die Staatsmänner und Soldaten, die 1945 über den militärischen Einsatz der ersten Atombomben zu entscheiden hatten, in der Atomwaffe ganz im Sinne der klassischen Physik nur eine nochmalige Steigerung der menschlichen Verfügungsgewalt über die Kräfte der N a t u r zu sehen, und eben dadurch haben sie die militärische Grundlagenkrise so beschleunigt, daß ihr die traditionellen Träger der Militärtheorie nicht mehr zu folgen vermochten 3 . Die zunächst aufgestellte Theorie der „massive retaliation", die Eisenhower, J . F. Dulles und Admiral R a d f o r d aus den negativen Erfahrungen des Koreakrieges entwickelt hatten, erwies bald ihre geradezu verzweifelte Unzulänglichkeit. Sie wurde überwunden von einer Gruppe von amerikanischen Gelehrten 4 und hohen Heeresoffizieren. Man wird diese Leistung, die durch eine neue Kombination von Wissenschaft, Strategie und Außenpolitik errungen worden ist, als eine der bemerkenswertesten unserer Zeit auffassen dürfen. Die neue Theorie, die in den Jahren von 1954 bis 1960 entwickelt wurde, die Theorie der „controlled response" und der „flexible response", wurde dann durch John F. Kennedy und Robert M c N a m a r a politische Wirklichkeit. Während die „massive retaliation" den einlinigen, programmierten Ablauf der „thermonuklearen A p o k a l y p s e " vorsah, will die „controlled response" und die „flexible response" die Ereignisse ständig in der Kontrolle des Staatsmannes halten; ihm wird ein System immer neuer Optionen bereitgestellt, damit er in jeder Lage, selbst in den späteren Phasen eines Krieges, jede Friedenschance nutzbar machen kann. 3

D a s zeigte sich z. B. in der zunächst fehlenden geistigen B e w ä l t i g u n g des K o r e a Krieges ( 1 9 5 0 — 1 9 5 3 ) , dessen K a m p f h a n d l u n g e n nicht mehr auf die absolute N i e d e r w e r f u n g des Gegners gerichtet sein konnten.

4

D a b e i konnten sich die Wissenschaftler v o r allem auf u m f a s s e n d e Arbeiten R A N D - C o r p o r a t i o n und anderer entsprechender big-science-Institute stützen.

der

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In den Jahren etwa von 1955—1960 beunruhigte die Möglichkeit von Überraschungsangriffen mit Atomwaffen Völker und Militärverwaltungen besonders stark. U m solche Schläge sinnlos zu machen, entwickelte J . B. Wiesner um 1959 die Theorie des sogenannten „Raketenpatt". Beide Großmächte sollen ihre eigenen Raketen so einbetonieren, daß auch nach einem überraschenden Vernichtungsschlag noch eine „posthume Vergeltung" möglich ist. Wiesners Hoffnung, das Raketenpatt zu einer schrittweisen Abrüstung und einer damit gekoppelten politischen Entspannung ausnutzen zu können, ist jedoch bisher nicht in Erfüllung gegangen. IV Man darf sich durch die revolutionäre Uberwindung der Theorie der „massive retaliation" nicht darüber täuschen lassen, daß die M c N a mara-Strategie einen sehr konservativen Kern 5 enthält: Während die „massive retaliation" die Abdankung des Staatsmannes zugunsten des militärischen Apparats in dem Augenblick bedeutete, in welchem die Abschreckung versagt hatte, zielt die McNamara-Strategie darauf, diesen A p p a r a t auch für den schlimmsten Fall der späteren Stadien eines thermonuklearen Krieges in die Verfügung des Staatsmannes zurückzunehmen. Ferner verletzte die „massive retaliation" den Grundsatz der Lehre vom gerechten Krieg, daß der A u f w a n d der militärischen Mittel der Größe der zu bekämpfenden Rechtsverletzung entsprechen solle, und eben diese Proportionalität versucht die „flexible response" wiederherzustellen, indem sie für den Staatsmann eine breite Skala von konventionellen, nuklearen (und auch politischen) Antworten bereitstellt. Die wirkliche, selbstverständlich nicht auf Amerika allein beschränkte Revolution besteht darin, daß auch die konventionellen Kräfte voll in die Strategie der Abschreckung integriert werden: Die Streitkräfte zeigen ihre Bedeutung, etwas verkürzt ausgedrückt, nicht erst dann, wenn es einen einmal ausgebrochenen Krieg zu führen gilt, sondern werden gerade mit ihrer momentanen Bereitschaft Werkzeuge einer äußerst verfeinerten Diplomatie, die das Kriegsgeschehen schon im Frieden zu beeinflussen und möglichst zu verhindern hat 6 . 5

s

Vgl. Leonard Beaton, The Western Alliance and the M c N a m a r a Doctrine, London August 1964, S. 1. Samuel P. Huntington, The Common Defense, N e w York und London 1961 S. 25 ff.

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Niemand ist sich darüber klarer als die Exponenten der amerikanischen Militärtheorie, daß der Krieg auch auf diesem Wege nicht wieder zu einem rationalen Mittel der Politik gemacht werden kann. Wir verdanken den Leistungen der neuen Militärtheorie, die wir hier nur in ihren amerikanischen Aspekten darstellen konnten, die relative politische Stabilität in der Mitte der sechziger Jahre. McNamara hat es oft genug ausgesprochen, daß die ungeheuerliche Herausforderung, vor die die Menschheit durch die Wasserstoffbombe und ihre interkontinentalen Träger gestellt worden ist, nicht allein durch strategische Konzepte bewältigt werden kann. Der hier notwendige, viel umfassendere militärisch-politische Ansatz muß einfach um unseres Überlebens willen noch in diesem Jahrhundert gefunden und verwirklicht werden. Auch die heutige waffentechnische Situation hat Anteil an der gegenwärtigen relativen Stabilität. Bleibt aber das gegenwärtige politische System auf unserem Planeten so, wie es gegenwärtig ist, dann können wir mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß politische Krisen periodisch wiederkehren werden. Eine davon wird dann über kurz oder lang zu einer großen, vielleicht sogar zu einer globalen Katastrophe führen — und dann die jetzt schon notwendige politische Strukturwandlung erzwingen, freilich auf eine äußerst fragwürdige Weise.

V Bereits in unserer Gegenwart hört der Staat auf, im bisherigen Sinne Staat zu sein. An der Spitze seines Machtgebrauchs ist er geknickt, da er die Atomwaffe nicht ohne die Gefahr der Selbstzerstörung einsetzen kann. Ein gefährlicher Ausweg ist die subversive Kriegführung. Um seine Macht durchzusetzen, greift der Staat zu illegalen Mitteln; und er kann sich nicht eingestehen, daß er, um sich zu behaupten, seine eigene Rechtsstaatlichkeit untergräbt. Fragwürdig ist auch das Mittel der revolutionären Volkserhebung; je stärker eine Steuerung von außen seitens einer Macht, die sich durchsetzen will, erscheint, desto unglaubwürdiger wird sie. Audi die marxistisch-leninistische Theorie, daß der Krieg nur der guten Sache zum Durchbruch verhilft, erweist sich angesidits der AtomWeitere Literatur zu den militärischen Fragen vgl. „Technik und Strategie im A t o m zeitalter" in „Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr" hrsg. v o n Georg Picht, S. 178 ff.

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waffe als unhaltbar. Malenkow und nach ihm Chrustschow haben — wenn auch gegen scharfen Widerstand — der Auffassung zugeneigt, daß ein kommender globaler Krieg für beide Partner und nicht nur für den Kapitalismus katastrophal sein werde. Immer wieder flammt in der Sowjetunion der K a m p f um den Vorrang der Schwerindustrie a u f und ebenso um die Beibehaltung eines auf starke Kriegsreserven gestützten überlegenen Landheeres, dessen Vorhandensein man auch nach einem thermonuklearen Krieg noch voraussetzt und das dann die feindlichen Staaten besetzen soll, um dort die neue Gesellschaftsordnung einzuführen. Diese Auseinandersetzungen zeigen, wie schwer sich die Sowjetunion gerade um des Zieles der klassenlosen Gesellschaft willen von wesentlichen Elementen der im 19. Jahrhundert entwickelten bürgerlichen Kriegsverfassung zu lösen vermag. Es ist deutlich genug: das überkommene Ineinander von Staatsverfassung und Kriegsverfassung ist ins Schwanken geraten, eine neue politische Ordnung unseres Planeten tut not, und auch die innenpolitische Struktur der Staaten wird ohne einschneidende Veränderungen nicht auskommen.

VI Wir beschließen den ersten Teil unserer Überlegungen mit den Thesen, die C . F. v. Weizsäcker in seinem Frankfurter Vortrag vom 13. O k t o ber 1963 formuliert hat: 1. D e r Weltfriede ist notwendig; denn die Welt der vorhersehbaren Zukunft ist eine wissenschaftlich-technische Welt. 2. Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter, sondern sein H e r annahen drückt sich in der allmählichen Verwandlung der bisherigen Außenpolitik in Welt-Innenpolitik aus. 3. D e r Weltfriede fordert von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung; denn wir müssen überhaupt erst eine Ethik des Lebens in der technischen Welt entwickeln 7 . D e r Weltfriede, den Weizsäcker in diesen Thesen kennzeichnet, ist zunächst eine Antwort auf die Atomfrage. W i r können hier nicht ausführen, wie die politischen Probleme sich in den Ländern mit schnellem sozialen Umbruch verschärfen; auch in der Notsituation dieser Länder 7

„Bedingungen des Friedens" S. 8.

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aber böte, wenn überhaupt etwas, dann eine neue Welt-Innenpolitik Möglichkeiten zur Lösung. Gegenwärtig müssen die Völker 5 bis 1 0 % ihres Bruttosozialprodukts für Waffen der Abschreckung aufwenden (die Militärhaushalte vor 1914 betrugen ca. 1 % des Bruttosozialprodukts); Geld und qualifizierte Menschen, die hierdurch festgelegt sind, fehlen für eine wirksame Entwicklungshilfe. Und solange etwa afrikanische Länder in der Meinung, Vorteile für sich zu erreichen, zwischen den Machtblöcken hin- und herlawieren, setzen sie sich selbst der Gefahr aus, daß die ohnehin unzureichend vorhandenen Mittel nicht in sachgemäßer Weise verwandt werden.

VII „Kirche und Staat" lautet das Gesamtthema des vorliegenden Bandes. Die Atomfrage ist eine Frage an den Staat; wir haben im ersten Teil unserer Darlegungen (Abschnitt I bis VI) versucht, ihre politisch-militärischen Implikationen und den Zusammenhang zwischen der physikalischen und der politischen Grundlagenkrise aufzuzeigen. Die Atomfrage ist aber auch eine Frage an die Kirche. Wir fragen im folgenden nach der kirchlichen und theologischen Relevanz des Atomproblems. Die deutsche Diskussion über die theologischen Aspekte der Atomfrage ist in den Jahren von 1957 bis 1959 ausgefochten worden, in den gleichen Jahren, in denen der amerikanischen Militärtheorie die geistige Uberwindung der „massive retaliation" und der Durchbruch zu dem neuen Konzept der „controlled response" und „flexible response" gelang. Erwin Wilkens hat 1959 über die deutsche Diskussion einen Bericht erstattet, der von beiden Seiten als sachgerecht anerkannt worden ist8. Wir beschränken uns darauf, hier die auf dem Höhepunkt des Kampfes entstandene Entschließung der EKiD-Synode vom 30. April 1958 zu wiederholen: „Die unter uns bestehenden Gegensätze in der Beurteilung der atomaren Waffen sind tief. Sie reichen von der Uberzeugung, daß schon die Herstellung und Bereithaltung von Massenvernichtungsmitteln aller Art Sünde vor Gott ist, bis zu der Uberzeugung, daß Situationen denkbar sind, in denen in der Pflicht zur Verteidigung der Widerstand mit gleich8

In: Atomzeitalter — Krieg und Frieden, S. 108 ff. Vgl. auch G. Niemeier: Ev. Stimmen zur Atomfrage, 1958.

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wertigen Waffen vor Gott verantwortet werden kann. Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindung dieser Gegensätze. Wir bitten Gott, er wolle uns durch Sein Wort zu gemeinsamer Erkenntnis und Entscheidung führen." Man wird sich in aller Nüchternheit eingestehen müssen, daß bisher weder in der theoretischen Durchdringung noch in der praktischen Verwirklichung ein wesentlicher Schritt über die damals viel getadelte „Ohnmachtsformel" hinaus getan ist. Immerhin ist es gelungen, die Fragestellung von verschiedenen Gesichtspunkten aus wesentlich zu präzisieren, und wir schildern die wichtigsten dieser Versuche einfach in der chronologischen Reihenfolge.

VIII Der Exekutivausschuß der Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten formulierte im August 1958 in Nyborg zwei Aufgaben: 1. die theologische Interpretation des neuen Wesens des Atomzeitalters, und 2. die Erforschung des furchtbaren Dilemmas zwischen den Forderungen, das irdische Leben zu erhalten und Gerechtigkeit und Ordnung aufrechtzuerhalten 9 . Es ist ein Verdienst des Exekutivausschusses, die erste Frage formuliert zu haben, da man sich leicht dem Vorwurf aussetzt, das Gebot Gottes mit dem Gebot der Stunde verwechselt zu haben, und der Hinweis auf den erschreckenden Mißbrauch geschichtstheologisdier Überlegungen im Frühjahr 1933 liegt nahe. Nach einer Bemerkung von H . Gollwitzer 10 ist es aber das Dilemma unserer Zeit, die Zeit eines Überganges zu sein, eines Uberganges, der vor allem durch das Aufkommen der Atomwaffe erzwungen wird, und so kann nur der Gesamtzusammenhang unserer Überlegungen erweisen, ob es eine theologisch legitime und relevante Aufgabe ist, das neue Wesen des Atomzeitalters theologisch zu interpretieren. Wir hatten schon in Abschnitt II auf die Doppelgesichtigkeit hingewiesen, die für die Bändigung der Kernenergie kennzeichnend ist, und 8 10

Studiendokument „Christen und die Verhütung des Krieges im Atomzeitalter", S. 49. Atomzeitalter — Krieg und Frieden, S. 247/248.

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wir beschränken uns zunächst darauf, zwei weitere Aspekte dieser Doppelgesichtigkeit zu geben: a) Die Erdbevölkerung wird im J a h r 2000 auf mindestens fünf bis sechs Milliarden Menschen angewachsen sein. Um sie zu versorgen, bedürfen wir unter anderem Atomreaktoren. In Karlsruhe wird z. B. gegenwärtig ein neuartiger T y p von Reaktor entwickelt, der „schnelle Brüter". Reaktoren dieser Art müssen über die Welt verbreitet werden. Mit der Verbreitung aber wächst auch die Gefahr, daß immer weitere Mächte nach der Atomwaffe greifen. Das würde die politisch-militärischen Probleme, von denen im ersten Teil die Rede war, fast unabsehbar komplizieren. Der Satz, den C. F. von Weizsäcker vor rund einem Jahrzehnt prägte, bleibt weiterhin aktuell: „Wer die Atomwaffe abschaffen will, muß mehr wollen als nur die Abschaffung der Atomwaffe." b) Im Abschnitt II ist gesagt worden, daß mit der Erprobung der Wasserstoffbombe der Krieg aufgehört hat, ein rationales Mittel der Politik zu sein. Seither sehen sich die Staaten genötigt, sich in der extremsten möglichen Form mit den neuen Waffen zu bedrohen, eben gerade um diesen unsinnig gewordenen Krieg zu verhindern. Eine Drohung aber kann wiederum nur wirksam sein, wenn der potentielle Angreifer mit der Bereitschaft des Angegriffenen, die Waffen auch tatsächlich einzusetzen, rechnen muß. Die bisherige Diskussion in der Kirche hat gezeigt, wie unangemessen die philosophische oder theologische Ethik der Vergangenheit in dieser Situation ist. Appelle prallen wirkungslos an der Aporie der wirklichen Lage ab, und Vorschläge wie, daß man mit diesen Waffen zwar drohen, aber sie grundsätzlich niemals anwenden dürfe, zeigen nur ihre eigene H i l f - und Sinnlosigkeit. Zu der zweiten 1958 in Nyborg gestellten Aufgabe, das furchtbare Dilemma zwischen der Erhaltung des Lebens und der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung theologisch zu durchdringen, hat vor allem H. Gollwitzer eine These vertreten, die wir hier wiederholen: die heutigen Waffen hören auf, Waffen des Rechts zu sein, weil sie mit großer Wahrscheinlichkeit die Rechtsgüter zerstören werden, zu deren Schutz sie bestimmt sind. Eine Lösung des Dilemmas ist wohl nur auf dem Wege des Übergangs der bisherigen Außenpolitik in eine Welt-Innenpolitik zu suchen. Eine solche neue Politik vermag gewiß nicht die Konflikte aus der Welt zu schaffen. Sie kann aber neue Formen der Kanalisierung von Konflikten entwickeln und dadurch die bisherige Weise ihrer Austragung verhindern.

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So können wir das theologische Wesen des Atomzeitalters vorläufig dahin bestimmen, d a ß uns in dieser Übergangszeit die Überwindung des Dilemmas aufgetragen ist zwischen der Erhaltung des irdischen Lebens und der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, und eben das ist der umfassende Sinn des in jüngster Zeit viel gebrauchten Wortes „Überleben". Bestimmte Ordnungen des politischen und überhaupt des menschlichen Zusammenlebens haben in der Vergangenheit lange Zeit Schutz gewährt; obwohl sie offenkundig fragwürdige Züge hatten, konnten sie von den Christen als Gnadengeschenke Gottes betrachtet werden. Dieselben Ordnungen beginnen heute zu versagen, ja geradezu zu einer Gefahr f ü r das Leben der Menschen zu werden. Wir müssen Ausschau halten nach neuen Formen institutionalisierter Verhaltensweisen; sie erscheinen uns aber wie ein rettendes U f e r jenseits eines unüberschreitbaren Grabens. Wir müssen hinüber; das Damoklesschwert des totalen Atomkrieges schwebt über uns. So werden von Staatsmännern und Völkern immer neue, vorerst vergeblich scheinende Schritte unternommen, um den notwendigen neuen Formen näherzukommen. Auf unserer Seite des Grabens kann man nicht vorweg f ü r das andere U f e r allgemeine Regeln oder gar allgemein verbindliche christliche Grundsätze aufstellen, welches die zur Festlegung der Grundstrukturen des Handelns geeigneten Ordnungen sind. Es gehört zum Dilemma der Übergangszeit, d a ß die Bedingungen unseres Handelns erst im H a n d e l n selbst erkannt werden können. N u r zum verbindlichen Erheben einer Forderung kann das Christentum sich wohl als berechtigt erachten: nämlich der Forderung nach Frieden. Der Weltfriede, und zwar ein Weltfriede in menschlich erträglicher Gestalt, erscheint als das eine unaufgebbare Ziel vor uns. An ihm müssen sich alle Handlungen von Staatsmännern und Völkern und auch jedes einzelnen Menschen messen lassen. Ihn zu fördern, bietet der Initiative aller verantwortungswilligen Kräfte weiten Raum.

IX Bedeutet der Satz im Schlußteil der Spandauer Erklärung vom 30. 4. 1958 „Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen" nur die gegenwärtige Duldung der unversöhnbaren Gegensätze zwischen dem

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Waffenverzicht und der vorläufigen Beibehaltung von Atomwaffen, um einen Frieden in Freiheit zu sichern? In den zusammenfassenden Thesen von „Atomzeitalter — Krieg und Frieden" ist der Versuch gemacht worden, für die beiden entgegengesetzten Entscheidungen einen gemeinsamen Grund anzugeben, von dem aus verstanden sie einander nicht nur widersprechen, sondern auch bedingen. Mit einem aus der Physik entlehnten Wort kann man eine solche Situation eines gegenläufigen Handelns als komplementär 11 bezeichnen. Das bedeutet freilich keineswegs, daß nun alle möglichen entgegengesetzten Handlungsweisen christlich gerechtfertigt wären, so daß wir damit einer angesichts des Ernstes gerade der Atomfrage ganz unhaltbaren Beliebigkeit von Ermessensentscheidungen ausgeliefert wären. Handlungen können nur dann und insoweit als komplementär anerkannt werden, als sie durch das gemeinsame Ziel der Erringung des Weltfriedens zusammengehalten werden. Die Forderung einer einfachen Abschaffung der Atomwaffen unter Beibehaltung der bisherigen politischen Zustände genügt diesem Kriterium ebensowenig wie das Pochen auf das in CA X V I ausgesprochene Recht des Staates, gerechte Kriege zu führen. Der Begriff der Komplementarität sollte dazu helfen, das Verständigungsproblem in der Kirche einzufangen, das in der vorhin zitierten Entschließung der Synode in Spandau 1958 in großer Schärfe zum Ausdruck gebracht worden ist. Rückschauend kann man diesen Versuch vielleicht so interpretieren: Die Atomwaffen haben eine politische Grundlagenkrise verursacht, die so weit in die Zukunft hineinwirkt, daß wir entsprechend weit in die Zukunft hineingreifen müssen, um die Krise zu überwinden. Es ist kein Zufall, daß sich dazu gerade der Begriff der Quantentheorie anbot, der am deutlichsten das Ende des Rechnens auf die unbedingte Verfügungsgewalt über die Natur bezeichnet. Im Grunde aber ist der Begriff der Komplementarität eine physikalische Einkleidung für den Ubergang zu einer Logik zeitlicher Aussagen. Kann ein Begriff aus dem Zentrum der physikalischen Diskussion auf ein Problem der theologischen Ethik anwendbar sein? Viele Kritiker haben das mit Ernst Wolf 12 bestritten. Karl Barth hat diese Möglichkeit für zentrale Themen der Dogmatik, insbesondere der Gotteslehre und auch der ethischen Prinzipienlehre, in mündlichen Gesprächen durchaus u 12

Atomzeitalter — Krieg und Frieden, S. 226 ff., insbes. S. 231. Zur Frage der „Komplementarität", Junge Kirche, Jan. 1960.

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bejaht, für die praktische Anwendung der Ethik im „Ethos" jedoch verneint. Wie die Frage zu beantworten sein wird, hängt auch von der weiteren Entwicklung der Forschung an der Grenze von Physik und Logik ab. Wir möchten uns in einer späteren Veröffentlichung damit noch auseinandersetzen. Umgekehrt müssen diejenigen, die die Verwendung einer solchen Denkstruktur wie dieses zeit-logischen Begriffes der heutigen Physik in der theologischen Ethik für unmöglich halten, dartun, wie sie die uns mit einer bisher so nicht gekannten Radikalität begegnenden Probleme der Geschichte mit einer Logik bewältigen wollen, die an einem zeit- und geschichtslosen Verständnis der Wahrheit orientiert ist. Gollwitzer hat demgegenüber bemerkt, daß es die Ethik mit der jeweiligen geschichtlichen Wirklichkeit zu tun habe und nicht mit einer zeitlosen Grundsätzlichkeit im irdischen Bereich. Auf dieser Linie hat die Kommission gearbeitet, die Ende April 1959 die elf Thesen des Buches „Atomzeitalter — Krieg und Frieden" aufstellte 13 .

X Wir erwähnten bereits in Abschnitt VII, daß der große und politisch folgenschwere Durchbruch der neuen amerikanischen Militärtheorie etwa in den gleichen Jahren 1957 bis 1959 erfolgte, in denen die deutsche theologische Diskussion über die Atomfrage ausgefochten wurde. Im Herbst 1960 wurden in einer Sondernummer der Zeitschrift „Daedalus" unter dem Titel „arms control" diejenigen Gesichtspunkte der amerikanischen Militärtheorie zusammengefaßt, die in der herkömmlichen Terminologie als Abrüstung, Sicherheit usw. bezeichnet werden. Darüber hinaus aber kann der neu von der Kybernetik her geprägte Begriff „arms control" eine multilaterale Rüstungspolitik bedeuten, die der Sicherheit aller dient, ja sogar eine radikale Einschränkung des Waffengebrauchs in einem totalen Kriege. 1961 erschien eine erweiterte Ausgabe in Buchform, 1962 eine abermals erweiterte deutsche Ausgabe unter dem Titel „Strategie der Abrüstung" 14 . Es bedarf keines Nachweises, in welchem Grade die deutsche Diskussion der Jahre 1957 bis 1959 unter der mangelnden Orientierung über 13 14

19

Atomzeitalter — Krieg und Frieden, S. 247. Herausgegeben von U w e Neriich. Festschrift K u n s t

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die mit der Atomfrage gestellten militärischen und politischen Probleme gelitten hat. C. F. v. Weizsäcker, der als einziger in Deutschland bereits die Synopse zwischen der amerikanischen Militärtheorie (insbesondere auch ihrer auf „arms control" zielenden Gesichtspunkte) und der deutschen theologischen Diskussion besaß, hat freilich für seine im Frühsommer 1958 erschienenen „Zeit"-Aufsätze „Mit der Bombe leben" zumeist nur Unverständnis geerntet, ohne daß es ihm gelungen wäre, der auf beiden Seiten herrschenden emotionalen Argumentation zu einer Basis der Sachkenntnis zu verhelfen. Es erübrigen sich Prognosen darüber, wann und unter welchen (auch politischen) Voraussetzungen die 1959/60 versandete deutsche Diskussion fortgeführt werden wird. Sicher ist aber, daß man dann an wissenschaftlichen Leistungen von solcher Bedeutung, wie sie etwa in der „Strategie der Abrüstung" vorgelegt sind, nicht länger wird vorübergehen können 15 .

XI Der wichtigste kirchliche Gesprächsbeitrag seit dem Versanden der Diskussion in Deutschland ist die Schrift, die am 26. Juni 1962 von der Generalsynode der Nederl. Herv. Kerk angenommen wurde: „Het Vraagstuk van de Kernwapenen". Sie erschien 1963 in deutscher Ubersetzung unter dem Titel „Kirche, Krieg und Frieden". Vor allem in der Rheinischen Kirche hat sie starke Zustimmung gefunden 18 . Hier hat sich zum ersten Male eine der großen reformatorischen Kirchen der Stellungnahme angenähert, wie sie von den kirchlichen Bruderschaften in ihren bekannten 10 Thesen vom Februar 195817 bezogen worden ist, jedoch auf Grund von viel differenzierteren Überlegungen. Wir zitieren zunächst nur einen einzigen, freilich entscheidenden Abschnitt: „Die Welt muß wissen, daß die Christen und ihre Kirche der Meinung sind, daß Atomwaffen auch im äußersten Fall nicht gebraucht wer15

14

17

Der Verfasser hat versucht, in „Technik und Strategie im Atomzeitalter" (vgl. Anm. 6) einige der notwendigen sachlichen Informationen für eine solche Diskussion zusammenzustellen. Beschluß der Landessynode vom 14. Januar 1965 zur Stellungnahme ihres Öffentlichkeitsausschusses. Niemeier a.a.O. S. 57.

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den dürfen, und daß die Christen es nicht mit ihrem an Gottes Wort und Verheißung gebundenen Gewissen vereinbaren können, an einem atomaren Kriege mitzuarbeiten. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis müssen bedacht werden. Eine dieser Konsequenzen ist die Uberzeugung der Christen, daß der Obrigkeit und ihnen persönlich keine andere Möglichkeit bleibt als die des Verzichts auf Vergeltung mit Atomwaffen, auch wenn der Feind wider alle Erwartungen und Berechnungen doch einen Krieg mit Einsatz von Atomwaffen beginnen würde." (S. 50) In dem Nachwort der schweizer Herausgeber der deutschen Ausgabe heißt es: „Der Bericht hat in der holländischen Öffentlichkeit unmittelbar nach seinem Erscheinen größtes Aufsehen erregt. Eine der angesehensten holländischen Tageszeitungen hat ihn ,ein revolutionäres Ereignis erster Ordnung' genannt und darüber geurteilt: Revolutionär nicht so sehr, weil der Inhalt der Schrift . . . so erschreckend neu und originell wäre, sondern weil die Kirche sich damit direkt den allgemein anerkannten Grundprinzipien entgegenstellt, als deren Bundesgenosse und Stützpfeiler, wenn nicht als deren Magd sie jahrhundertelang gegolten h a t . . . Die Kirche hat sich mit diesem Beschluß von den letzten Resten einer Identifizierung mit der bestehenden Ordnung freigemacht.'" (S. 107) Das bedeutet, daß die traditionellen Fronten zwischen den Friedenskirchen und den reformatorischen Kirchen, die den absoluten Waffenverzicht verwerfen, neu in Bewegung geraten sind. Wir müssen heute tief in theologische Grundüberlegungen hinabsteigen und uns darauf vorbereiten, daß Abkehr von manchen von uns als konstitutiv empfundenen kirchlichen Entscheidungen gefordert ist, wenn wir die heute gestellten Aufgaben bewältigen wollen. Wie steht es aber mit den bereits vorhandenen und laufend vermehrten und verbesserten Kernwaffen diesseits und jenseits des eisernen Vorhangs? Wegen der grundlegenden Schwierigkeiten der Abrüstung, die wir hier nicht diskutieren können, wird man die Abschaffung der Kernwaffen, wenn überhaupt, nur in mehreren Schritten und aller Voraussicht nach nicht an einem Tage vollziehen können. „Wenn wir uns als Christen unter allen Umständen gegen den Gebrauch dieser Waffen aussprechen müssen, wenn wir sogar erklären, daß man nicht mit uns rechnen darf, wenn der apokalyptische Augenblick unverhofft doch kommen sollte, ist es dann keine logische Konsequenz, daß Christen und Kirchen sich gegen die fortschreitende Herstellung und Vervollkommnung dieser ,Waffen' und gegen die Versuche mit ihnen wenden 19*

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müssen? Müssen sie nicht einfach ,abgeschafft' werden? Wir haben den Eindruck, daß die Worte ,einfach' und ,abschaffen' hier doch nicht ganz am Platze sind. Die Probleme sind durch die Tatsache, daß die Kernwaffen nun einmal vorhanden sind, zu kompliziert, als daß diese einfachen Feststellungen genügen könnten." (S. 51) Hier zeigt sich der wichtigste Unterschied zwischen „Kirche, Krieg und Frieden" und den 10 Thesen der Bruderschaften: „Kirche, Krieg und Frieden" distanziert sich ausdrücklich von dem zwingenden Charakter logischer Konsequenzen, dem sich die Bruderschaften jedenfalls noch in den 10 Thesen vorbehaltlos meinten anvertrauen zu können. Manche Anzeichen sprechen jedoch dafür, daß sich die Verfasser von „Kirche, Krieg und Frieden" der Frage nicht gestellt haben, ob zur Bewältigung eines Problems von so eminenter Geschichtlichkeit auch neue, dieser Aufgabe angemessene Formen des Denkens erforderlich seien. Umgekehrt zeigen vereinzelte Äußerungen aus dem Kreise der Bruderschaften, insbesondere von Gollwitzer, daß man auch dort darauf aufmerksam geworden ist, welches Maß an Zeit und Geduld in jedem Falle die Abschaffung der Atomwaffe erfordern werde18, und ebenso hat Gollwitzer bemerkt, daß die Bruderschaften niemals einen einseitigen Verzicht der USA auf Atomwaffen als medianische Konsequenz aus ihrer Verwerflichkeit gefordert hätten 1 '. Später hat Gollwitzer noch ausdrücklicher auf die Diskrepanz hingewiesen, die zwischen einer als absolut erkannten Forderung und der Unmöglichkeit besteht, aus ihr sogleich logische Folgerungen ziehen zu können 20 . Das ist die Grenze, an der die deutsche Diskussion gescheitert ist und die auch die verdienstvollen Verfasser von „Kirche, Krieg und Frieden" nicht haben überschreiten können, obwohl der holländische Beitrag wegen des Mutes und der Weite seiner Gedanken die künftige Diskussion noch wesentlich beeinflussen wird.

18

Gollwitzer, Die Christen und die Atomwaffen 1957 S. 32. Vgl. ferner die vor allem von Dieter Georgi inaugurierte Stellungnahme der Badisdien Bruderschaften in: E . Wolf, Christusbekenntnis im Atomzeitalter 1959, S. 109 ff. insbes. S. 136 f.

19

Vgl. Atomzeitalter — Krieg und Frieden S. 117.

20

Atomzeitalter — Krieg und Frieden S. 256 f.

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XII Wenn wir unsere Überlegungen an dieser Stelle nicht einfach abbrechen, so folgen wir damit der im Sommer 1965 in einem Heidelberger Seminar ausgesprochenen Mahnung eines Studenten, sich durch die hier vor uns stehende vorläufig undurchdringliche Problem-Schallmauer nicht schrecken zu lassen, sondern die Schwierigkeiten mit einer neuen Nüchternheit ins Auge zu fassen und das heute Mögliche zu sagen und zu tun. Dabei wird freilich das uns gestellte Thema „Kirche und A t o m f r a g e " noch stärker als bisher in die umfassendere Frage „Der Friede als Lebensbedingung des technischen Zeitalters" einmünden, wobei wir vor allem den Beitrag zu prüfen haben, den die Christenheit zu leisten schuldig ist. Warum aber ist diese Schallmauer so undurchdringlich? Gollwitzer hat mit Recht bemerkt, daß die Kapitulation vor der soeben genannten Diskrepanz ein Zeichen einer unzulänglichen Theologie sei. Wie aber müßte eine zulängliche Theologie aussehen? Ist nicht vielmehr das Fehlen geeigneter theologisch-logischer Denkformen zur Bewältigung dieser Diskrepanz nur ein Zeichen einer sehr viel tieferen Unzulänglichkeit? Wir können nur so vorgehen, daß wir in lockerer Folge einige der Aufgaben aufzählen, vor die uns der zu erringende Weltfriede stellt, und wir werden feststellen, daß jede dieser Aufgaben oft überraschende theologische Aspekte besitzt. Schon das Ziel des Weltfriedens selbst ist aus einem theologischen Kontext kaum zu lösen. „Früheren Zeiten mußte der Weltfriede als ein wahrscheinlich unerreichbares Ideal erscheinen. Christen mußten geneigt sein, ihn erst mit dem Jüngsten Gericht zu erwarten. Für unser technisches Zeitalter aber wird er zur Lebensbedingung. Er beginnt heute genau deshalb möglich zu werden, weil er notwendig wird." 2 1 Wenn wir hier zu theologischen Aussagen vordringen wollen, so stoßen wir wieder auf die soeben erwähnte Problem-Schallmauer. Wohl hat die Christenheit in ihren maßgebenden Denkern gewußt, daß die Mitarbeit des Christen auch am irdischen Frieden über eine Eindämmung oder Verhinderung von Kriegen hinausgeht. Dennoch hat sich die Christenheit aufs Ganze gesehen damit abgefunden, daß Kriege auch unter christlichen Völkern praktisch unvermeidbar sind, und selbst die Gedan21

Atomzeitalter — K r i e g und Frieden S. 226.

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ken Augustins oder Luthers erreichen die Frage des Weltfriedens schwerlich in ihrer heutigen geschichtlichen Radikalität. Wenn wir aber sagen, daß ein Ziel, welches die Christenheit bislang dem eschatologischen Handeln Gottes vorbehalten sah, jetzt im Bereich menschlicher Geschichte und ihrer Fragwürdigkeit verwirklicht werden muß — entleeren wir damit nicht die Universalität des eschatologischen Heils und vor allem auch des Gerichts? Dennoch nötigt uns die Offenheit unseres heutigen Horizonts, den Gedanken der cooperatio dei cum homine auch dann auf das Welthandeln Gottes auszudehnen, wenn es über die Erhaltung bestehender Ordnungen hinausgeht. Wird Gott der Herr auch angesichts der Atomgefahr seine Schöpfung vor dem Chaos bewahren, indem er ihr neue Wege eröffnet? Wird der Mensch, Gottes beauftragter Mitarbeiter in der Schöpfung, die ihm durch die Notwendigkeit des Weltfriedens zufallende neue Weltverantwortung ergreifen? Welchen besonderen Auftrag hat die eschatologische Gemeinde, die in Christus von dem Frieden, der höher ist als alle Vernunft, herkommt und auf die Vollendung dieses Friedens hoffend zugeht? Trotz der heute noch unlösbaren Fragen können wir vielleicht die Formulierung wagen: Gott der Herr selbst scheint eine neue verantwortliche Mitarbeit des Menschen zu wollen, da uns die Atombombe ein Verweilen in den bisherigen politischen und gesellschaftlichen Formen verwehrt, während der Wille Gottes nach dem Verlust aller naturrechtlichen oder ordnungstheologischen Orientierungsmarken in einer viel tieferen Weise unerkennbar erscheint als früheren Generationen. „Wenn die Ziele des Welthandelns Gottes dem Blick des Menschen entzogen sind, und wenn dem Menschen mit der Ubersicht über den Weltplan auch die Möglichkeit, in geistiger Verfügung über diesen Plan zu handeln, fehlt, so wird er auf seine eigene, menschliche Erkenntnis und das beschränkte Feld menschlicher Praxis zurückverwiesen und hier verantwortlich gemacht. Das heißt: er wird zur Mündigkeit berufen. Mündigkeit bedeutet nicht: selbstherrliche und selbstmächtige Autonomie." 22 Zu einer Selbstherrlichkeit ist darum um so weniger Anlaß, als wir täglich die Unzulänglichkeit aller menschlichen Mittel erkennen, die uns in Richtung auf den Weltfrieden weiterführen könnten, selbst wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der von uns zu erreichende Weltfriede nicht das goldene Zeitalter, sondern eine sehr irdisch-menschliche Sache sein wird. 22

H . E. Tödt in: G . H o w e und H . E. Tödt, Frieden Zeitalter S. 28 f.

im wissenschaftlich-technischen

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XIII N u r die weltumspannende Macht der Wissenschaft und der Technik kann uns auf dem Wege zum Weltfrieden weiterführen, und die Inadäquatheit dieses Mittels zeigt sich schlagend darin, daß wir von der gleichen Wissenschaft, die uns durch die Atombombe in äußerste Gefahr gebracht hat, auch den entscheidenden Beitrag zum Überleben in dem früher erläuterten umfassenden Sinne erhoffen müssen. Hier aber stehen wir vor der wohl tiefsten Bedeutung der Atomfrage: Die Wissenschaft, die die gesellschaftlichen und politischen Strukturen verwandeln soll, muß zuvor diese Wandlung beispielhaft an sich selbst vollziehen. Die Atombombe ist von einer Wissenschaft geschaffen worden, die dem Ideal der reinen Erkenntnis verpflichtet war und sich selbst als wertneutral betrachtete, und ebenso verstand man die mit ihr verbundene Technik als rein instrumental. Seit den Vorbereitungen zum Abwurf der ersten Atombomben ist eine Bewegung unter den Physikern entstanden, die mit zunehmender Dringlichkeit nach der Verantwortung der Wissenschaft fragt, und es ist die vielleicht wichtigste Frage für das Überleben der Menschheit, wie weit von Physikern und Technikern, aber auch von allen anderen Wissenschaften erkannt wird, daß die Wissenschaft es lernen muß, in einem umfassenderen Verständnis ihres eigenen Wesens die Folgen ihres Handelns zu bedenken. Die äußere Verwandlung der Wissenschaft ist allein durch die rasante Ausweitung ihres personellen und organisatorischen Rahmens augenfällig genug. Als McNamara in seiner Ann-Arbor-Rede vom 16. Juni 1962 die Grundzüge der neuen amerikanischen Militärpolitik darlegte, wies er einleitend darauf hin, daß von allen Menschen, die sich in der Geschichte mit Wissenschaft beschäftigt haben, 80 % noch am Leben, also unsere Zeitgenossen sind23. N u r auf dieser Basis ist die mit den amerikanischen Atomstädten einsetzende Entwicklung der „big science", der Projektwissenschaft möglich geworden. Wir können hier die speziellen Probleme der big science nicht darstellen 24 und bemerken nur, daß bei Projekten von solchen Größenordnungen wie z. B. bei der zuerst von J. von Neumann vorhergesag23 24

Deutsche Übersetzung in Europa-Archiv 1962 D. S. 363 ff. Vgl. den grundlegenden Artikel von Wolf Häfele in R A D I U S , September 1965 S. 3 ff. oder die kurze Zusammenfassung in „Frieden im wissenschaftlich-technischen Zeitalter" S. 50 ff.

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ten weltweiten Wetterbeeinflussung25 die Absicht der Weltveränderung unmittelbar sichtbar wird und damit auch die Verantwortung, die eine Wissenschaft auf sich nimmt, die solchen Zielen nachjagt. Die alle diese Projekte durchdringende Frage des Uberlebens bringt einen in der Wissenschaft so bisher unbekannten Zeitdruck mit sich, der gerade die „exakten Wissenschaften" innerhalb bestimmter Grenzen zu einer Reduktion der Exaktheit zwingt, so daß Zeitdruck und Exaktheit in ein reziprokes Verhältnis geraten. Wenn nun aber der Physiker, der von seinem Studium her in keiner Weise auf solche Fragen vorbereitet ist, bei einer philosophischen oder theologischen Ethik Hilfe für die Artikulierung der ihn bedrängenden Fragen sucht, so findet er dort zumeist den gleichen individualistischen Grundansatz, um dessen Uberwindung er sich müht, und jede Ethik, die die Technik als wertneutral oder instrumental interpretiert, ist dem Geiste, der die Atombombe geschaffen hat, so verwandt, daß sie zur Lösung der heutigen Fragen zu spät kommt. Das Friedensproblem muß noch in unserem Jahrhundert bewältigt werden26. Auch die Theologie muß sich fragen, ob sie angesichts dieser drängenden Aufgabe in ihrem bisherigen Bewußtsein einer akademischen Zeitlosigkeit verharren will oder den soeben dargelegten tiefsten Appell der Atomfrage zu hören bereit ist, ohne daß wir die Konsequenzen eines solchen Schrittes hier auch nur anzudeuten vermöchten.

XIV In der Aufklärung hatte der Mensch begonnen, mit Entschlossenheit seine bisherige Unmündigkeit zu überwinden und seine eigene Mündigkeit zu erkämpfen. Diese Mündigkeit hat Dietrich Bonhoeffer neu auch und gerade in das theologische Bewußtsein gerückt und gefordert, daß die Christenheit sie als eine legitime Haltung der Welt zu respektieren hätte. Unsere letzten Überlegungen haben aber die zuerst von H . E. Tödt aufgestellte These bestätigt, daß Mündigkeit heute noch keineswegs eine 25

„Can we survive tedinology?" in: Fortune 1955.

26

Vgl. Hans Schmidt „Einberufung zum Frieden" S. 20 ff.

in: R A D I U S

September

1965

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volle Gegebenheit, sondern ein erst mit dem Weltfrieden zu erreichendes Ziel ist27. Die Wissenschaft hat, wie wir gesehen haben, zu dieser Mündigkeit durch die Erkenntnis und die Praktizierung ihrer eigenen Verantwortung beizutragen. Nicht minder wichtig ist die Einsicht in die Grenzen der Wissenschaft, eine Einsicht, die durch die großen Erfolge der Einzelwissenschaften verschüttet worden ist und nur durch eine Begegnung mit einem allerdings ebenfalls erneuerten christlichen Glauben in der heute nötigen Tiefe wiedergewonnen werden kann. Besonders erschreckend ist, daß unser wie nie zuvor von Wissenschaft durchdrungenes und beherrschtes Jahrhundert zugleich das Jahrhundert der Konzentrationslager, der Massenaustreibungen und der Massenmorde, der Gehirnwäsche und der planmäßigen Folterungen geworden ist — alles Auswirkungen tiefer geistiger Verfinsterungen, die sich gleichsam im Rücken einer hochspezialisierten Wissenschaft ansiedeln konnten 28 . Diese Verfinsterungen sind durch die Atomfrage gewiß nicht hervorgerufen worden. Wohl aber bringt die bloße Möglichkeit, die Atomwaffe anwenden zu müssen, die Gefahr der Verteufelung des Gegners mit sich, und niemand kennt die irreversiblen seelischen Veränderungen, die vielleicht schon der Abwurf einer einzigen Wasserstoffbombe in Regierungen und Völkern hervorbringen wird. Umgekehrt führt die Unmöglichkeit, einen Krieg schnell durch den Einsatz von Atomwaffen entscheiden zu können, etwa wie in Vietnam zu einem Kriegsgeschehen, das man noch weniger geistig zu bewältigen vermag als seinerzeit den Koreakrieg und das jenen Verfinsterungen die Tore öffnet. Im Kampf gegen die kollektiven Verfinsterungen ist die bisherige Psychotherapie der verschiedenen Schulen gewiß keinesfalls ausreichend, um Breitenerfolge zu erzielen. Der von der Psychotherapie entdeckte Kontinent menschlicher Existenz ist noch längst nicht vollständig kartographiert. Die Theologie darf dieses Gebiet aber nicht in solchem Grade wie bisher ignorieren; sonst verfällt sie einem Provinzialismus, in dem sie vollends unfähig wird, etwas gegen die kollektiven Verfinsterungen zu unternehmen. „Wir brauchen eine Therapie der geschichtlichen Welt, wir brauchen eine Therapie der Gesellschaft, und das einzige Medium dieser Therapie, das wir besitzen, ist die Vernunft — aber eine Vernunft, 27 28

a.a.O. S. 30. Vgl. den Frankfurter Rundfunkvortrag von Georg Picht „Was heißt Aufklärung?" vom 22. März 1964.

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die den Weg der Aufklärung so radikal vollzogen hat, daß sie auch ihre eigenen Grenzen zu erkennen vermag, also eine vom Glauben erleuchtete Vernunft 29 ." XV Es ist gut, von diesen sehr vielschichtigen Überlegungen noch einmal zu sehr elementaren, aber nicht weniger wichtigen Aufgaben zurückzulenken, vor die sich die Christenheit gestellt sieht: Der Weltfriede setzt voraus, daß weltumspannende Gemeinsamkeiten als vordringlich wichtig anerkannt werden. Auf dem Wege zu neuer Gemeinsamkeit befinden sich auch die christlichen Kirchen. Der Weg der ökumenischen Bewegung über Amsterdam, Evanston und NeuDelhi kann von evangelischen Christen mit Dankbarkeit gesehen werden, und Ähnliches gilt von dem Aggiornamento, das die römisch-katholische Kirche im II. Vatikanischen Konzil zu vollziehen versucht hat. Wir sollten uns aber mahnen lassen von der noch nicht erreichten Gemeinsamkeit. Bietet die Christenheit in ihrer immer noch andauernden Zersplitterung und unüberwindbar scheinenden Gegensätzlichkeit ein Bild, das die Völker zum Abbau der zwischen ihnen aufgerichteten Mauern ermutigen könnte? C. F. v. Weizsäcker hat in seiner dritten These von der Notwendigkeit einer außerordentlichen moralischen Anstrengung zur Erringung des Weltfriedens gesprochen. Gewiß werden auch Bewegungen von weltweitem Ausmaß nur von kleinsten Anfängen ausgehen können. Wo aber sind Kräfte in der heutigen, zahlenmäßig doch etwa ein Viertel der Menschheit umfassenden Christenheit sichtbar, die den Problemen der modernen Massengesellschaft adäquat sind und die sie im Blick auf das vor uns stehende Ziel zu verwandeln vermöchten? Es kann nicht die Aufgabe eines Nichttheologen sein, auszuführen, wie der Fluchtpunkt aller Linien, die wir hier angedeutet haben, die Gottesfrage ist. Die Gottesfrage erweist sich, im Unterschied zu mancher früheren Zeit, als die zentrale Frage der heutigen Christenheit. Ulrich Scheuner hat 1957 während der Beratungen der Kommission „Atomzeitalter — Krieg und Frieden" diese Erkenntnis in die Worte gefaßt: „Wir werden die Atomfrage nur lösen, wenn wir der Gottesfrage in einer neuen Tiefe begegnen." 29

Georg Picht in: Bedingungen des Friedens S. 36.

WOLF GRAF VON BAUDISSIN

Gedanken zur evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr I D e r Entschluß, die Bundesrepublik im R a h m e n der Verteidigung der freien Welt zu bewaffnen, traf eine unvorbereitete Öffentlichkeit. Ideologie, P r o p a g a n d a und G e w a l t a k t e hatten Deutschland seit 1933 von der Wirklichkeit der Welt isoliert. D e r Nationalsozialismus war in vordergründige Vereinfachungen geflohen, während sich das Leben in Wahrheit mehr und mehr differenzierte und in seinen Grundlagen veränderte. N a c h dem B a n k r o t t dieser Weltanschauung, der spätestens 1945 f ü r jedermann offen zutage lag, sehnte sich das erschöpfte, um die primitivsten Lebensvoraussetzungen ringende Volk nach einem U r l a u b von der Geschichte. Stattdessen präsentierte nun die mögliche Aufstellung von westdeutschen Divisionen und Geschwadern nicht nur ein kompliziertes Geflecht v o n drängenden außenpolitischen, gesamtdeutschen, verfassungsrechtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftspolitischen und — nicht zuletzt — sittlichen Verantwortlichkeiten, sondern auch eine unbewältigte Vergangenheit. Z u ihr mußte das rechte Verhältnis erst gefunden werden, bevor die Zukunft beginnen konnte. Im Lichte der F r a g e nach erneutem Waffenbesitz in einer chaotischen und in ihrer Existenz bedrohten Welt erwiesen sich plötzlich bisher in Deutschland f ü r absolut gehaltene Werte als f r a g w ü r d i g . M i t dem Zusammenbruch der überkommenen R a n g o r d n u n g von Politik und Moral, O r d n u n g und Freiheit, Souveränität und Lebensrecht anderer Völker, Pflichten und Rechten des Bürgers hatte auch der S t a a t seinen mythischen G l a n z verloren. D a s ganze A u s m a ß der Krise, in welche die Welt geraten w a r , wurde vielen Deutschen in diesem Augenblick bewußt. Unter heftigen Diskussionen formierten sich bald zwei Lager. Im

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Wolf Graf von Baudissin

einen sah man die Aufrüstung als etwas Normales, weil Staaten in dieser Welt über Streitkräfte verfügen müßten, um Staaten zu sein, oder wenigstens als Notwendigkeit in einer vom Totalitären bedrohten Welt; im anderen lehnte man deutsche Streitkräfte leidenschaftlich ab, weil der Gewaltmißbrauch durch das Dritte Reich und die durch ihn verschuldete Teilung Deutschlands eine Wiederbewaffnung ausschlössen. Der Schnitt ging quer durch alle Schichtungen; er ging mitten durch die Herzen der Nachdenklichen. In beiden Lagern fanden sich Christen wie Freidenker, unverbesserliche Nationalsozialisten wie engagierte Demokraten, Nationalisten wie Europäer, Flüchtlinge wie Eingesessene, ehemalige Soldaten und Heranwachsende, Angstgetriebene und Sorglose. Bei aller Scheu vor Verallgemeinerungen kann festgestellt werden: eine so kurz nach der Katastrophe an Deutschland gerichtete Einladung zur Teilnahme an einem Militärbündnis war für manchen Befürworter der Wiederbewaffnung wenn nicht gar ein erster Schritt auf dem Wege zurück zur Großmacht, so doch eine Bestätigung seiner Überzeugung, daß die Anklagen gegen das Dritte Reich und insbesondere gegen die Wehrmacht nichts anderes als tendenziöse Diffamierung gewesen waren. Man konnte — mit Recht — darauf hinweisen, daß sich ihre Truppenteile bis zuletzt unter den widrigsten Umständen tapfer geschlagen hätten, und folgerte daraus, daß die Wehrmacht trotz aller sittlichen, politischen und menschlichen Konflikte intakt geblieben sei und daher als zeitloses Vorbild auch für Streitkräfte eines neuen Staates gelten müsse. Zweifellos spielte dabei auch der verständliche Wunsch eine Rolle, aus der durch den Mißbrauch von Gutgläubigkeit, Vertrauen, Fleiß und Opferwillen heraufbeschworenen Katastrophe wenigstens etwas ungeschmälert herüberzuretten. Diesen wenig Geläuterten standen, bei gleicher Ratlosigkeit gegenüber der neuen Lage, die konsequenten Ablehner einer „Remilitarisierung" entgegen. Ohne Frage gehörte ein Teil von ihnen zu jener Gruppe, die aus allgemeiner Staatsverdrossenheit und der begreiflichen Sehnsucht, endlich ein Privatleben zu führen, gegen jede staatliche Forderung rebellierten; sie protestierten gar nicht primär gegen die Wehrpflicht, sondern gegen jeden staatlichen Anspruch schlechthin. Sie hatten noch nicht zur Kenntnis genommen, daß sie inzwischen Bürger eines grundsätzlich anders gearteten Staates geworden waren; sie zogen aus den Erfahrungen unter Hitler die Lehre, daß „der" Staat böse sei, daß Aufrüstung zwangsläufig zum Kriege führe und daß Streitkräfte eine demokratische Erneuerung gefährdeten.

G e d a n k e n z u r e v a n g e l i s c h e n M i l i t ä r s e e l s o r g e in d e r B u n d e s w e h r

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Neben einer bunten Skala von Ressentiments aller Schattierungen traf man auf eine Reihe sehr ernst zu nehmender Argumente und Sorgen. Ist denn, so wurde gefragt, unser Volk dieser schweren Verantwortung bereits gewachsen? Nähme es nicht endgültigen Schaden an seiner Seele und damit den Opfern ihren letzten Sinn, falls es schon wieder nach Waffen griffe? Wie würde sich diese Verklammerung mit dem Westen auf die Möglichkeit einer Wiedervereinigung auswirken, und welchen Schock müßten Waffen in deutschen Händen auf die Bevölkerung der Satellitenstaaten ausüben — und schließlich: ist eine Verteidigung mit den heutigen Massenvernichtungswaffen überhaupt noch zu rechtfertigen? Mit edlem Pathos wurde die Forderung erhoben, sich doch der Tragik unserer Geschichte zu stellen und den Frieden radikal ernst zu nehmen. Als Sühne für das, was im Namen Deutschlands und durch Deutsche der Welt angetan war, und aus Verpflichtung für die Zukunft müsse Deutschland — so forderten die konsequentesten Gegner der Wiederbewaffnung — beispielhaft den Weg der Gewaltlosigkeit beschreiten. Reinhold Schneider formulierte diesen Anspruch in seiner Düsseldorfer Friedensrede: „Wir müssen an etwas glauben, etwas zu tun versuchen, was gegen alle Wahrscheinlichkeit ist, was aller bisher bekannten Geschichte widerspricht: das ist der ungeheuere, zerbrechende und wieder ermutigende Auftrag des Augenblicks." Zwischen diesen beiden Lagern hin- und hergerissen standen Menschen, die, trotz mannigfaltiger Bedenken, die Wiederbewaffnung für das geringere Übel hielten oder doch bereit waren, eine politische Entscheidung zu respektieren und ihre Folgerungen zu durchdenken, um vorbereitet zu sein. Gar mancher von ihnen teilte die Überzeugung der Rüstungsgegner, daß die besondere Situation ernste Einkehr, Besinnung, gründliche Bestandsaufnahme und das Wagnis des Griffes in's Unbekannte fordere.

II Auch innerhalb der Evangelischen Kirche entbrannten scharfe Auseinandersetzungen, die aber weithin mit Fairneß geführt wurden. Die Widerstreitenden waren sich bewußt, daß es auch den Andersdenkenden nur um den wirksameren Weg zur Erhaltung des brüchigen Friedens ginge und daß es keine Patentlösung gäbe.

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W o l f G r a f v o n Baudissin

Bald gewann die Frage, ob die aufzustellenden Streitkräfte eine eigene Militärseelsorge haben müssten bzw. haben sollten, besondere Bedeutung. Als der Staat in Gestalt der „Dienststelle Blank" an die Kirchen mit diesem Angebot herantrat, war der Entscheidung nicht mehr auszuweichen. Während ab 1953 eine Kommission unter Leitung des Landesbischof D.Bender nach einer Konzeption für eine mögliche Militärseelsorge suchte, die Staat und Kirche gleichermaßen gerecht würde, entflammten allenthalben bewegte und bewegende Diskussionen über das „ob überhaupt". Die Bedenken konzentrierten sich auf folgende Punkte: —sanktioniert die Kirche durch Einrichtung einer besonderen Militärseelsorge nicht die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zu einer Zeit, da alles getan werden sollte, den Krieg durch Abrüstung endgültig zu überwinden; —bedingt die Militärseelsorge für Streitkräfte der Bundesrepublik nicht die endgültige Spaltung der Evangelischen Kirche in Deutschland mit einschneidenden Folgen für die Gemeinden jenseits der Demarkationslinie; — f ü h r t eine so enge Zusammenarbeit mit dem Staate nicht zwangsläufig in die unheilvolle „Thron- und Altar "-Verbindung? Auch die Befürworter einer Militärseelsorge verkannten diese Gefahren nicht. Doch meinten sie, die Kirche müsse im Vertrauen auf ihren Herrn Mißverständnisse und Risiken in Kauf nehmen, um nicht sich selbst und ihrem Auftrag untreu zu werden. Überdies würde die sorgsame Trennung der kirchlichen und staatlichen Verantwortungen einem Mißbrauch der Militärseelsorge zu nichtkirchlichen Zwecken weitgehend vorbeugen können. Ausschlaggebend war jedoch die Erkenntnis, daß die überlasteten Pfarrer der Ortsgemeinden nicht in der Lage sein würden, diese zusätzliche und spezifische Aufgabe auf sich zu nehmen. Wehrpflichtige in entscheidenden Entwicklungsjahren, herausgerissen aus Heimatgemeinde und Jugendverband, Familie und Freundeskreis, stehen schwierigen Lebensfragen o f t hilflos gegenüber. Nicht einmal die längerdienenden Soldaten mit ihren Familien finden ohne weiteres Anschluß an die Ortsgemeinden; häufige Abwesenheit, Versetzung, Wohnverhältnisse und Besonderheiten des Dienstes verhindern ihre Verwurzelung. Soldaten im Ausland und auf Schiffen, die nicht einmal theoretische Möglichkeiten haben, sich einer Gemeinde anzuschließen, sind nur extreme Beispiele. Ohne eine Militär-

G e d a n k e n z u r evangelischen Militärseelsorge in d e r B u n d e s w e h r

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seelsorge wären also die Soldaten vom Beistand ihrer Kirchen mehr oder minder ausgeschlossen, obwohl sie ihrer, der Berufs- und Gesellschaftssituation nach, besonders bedürfen. Es lag auf der H a n d , daß der Soldat, ähnlich wie Student und Industriearbeiter, vor eine Reihe von schwerwiegenden Fragen gestellt werden würde, bei deren Lösung die Kirche ihn weder sich selbst, noch anderen, womöglich fragwürdigen Einflüssen überlassen durfte. Auch hier wäre die Ortsgemeinde gewöhnlich überfordert. Sicher ist die Ideologie von der Eigengesetzlichkeit der militärischen Welt ein Aberglaube; denn auch im Leben des Soldaten geht es um nichts anderes als um das Ethos menschlichen Miteinanders, d. h. für den Christen um die Bewährung im Glauben, um die Konsequenzen seines Glaubens für das tägliche Leben. Doch lehrt Erfahrung, daß der Wehrdienst den einzelnen mit gewissen allgemeinmenschlichen Problemen konfrontiert, an denen er als Zivilist häufig vorbeilebt. Erwähnt sei nur die Treuepflicht gegenüber dem Staate, der sich vorher nur beim Lohnsteuerabzug bemerkbar machte. Doch zeigen bereits Musterung und Einberufung, wie konkret und folgenreich die Forderungen des Staates sind. Bei dieser plötzlichen Begegnung mit neuen Pflichten und Verantwortungen beginnt ein heilsames Fragen; die Antworten können das fernere Leben bestimmen. Aber es fragt ja nicht nur der junge Soldat. Das liegt einmal an dem Beruf selbst, der auf das Äußerste an Einsatz und Gewaltanwendung angelegt ist, verschärft sich aber in unserer Lage dadurch, daß die deutsche geschichtliche Entwicklung dem Soldaten bisher die Antwort auf entscheidende Fragen allzu einfach machte. Diesen Fragen muß sich die Kirche mit den Soldaten gemeinsam stellen. Hier hilft kein Ausweichen.

III 1957 wurde der „Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Regelung der Evangelischen Militärseelsorge" unterzeichnet, durch die Synode der Evangelischen Kirche mit Zweidrittelmehrheit angenommen und durch den Deutschen Bundestag einstimmig ratifiziert. Er war das Ergebnis jahrelanger Beratungen innerhalb der Kirche wie auch zwischen Staat und Kirche und ist von dem Leitgedanken getragen, die Militärseelsorge organisatorisch,

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personell und methodisch den staatlich-militärischen Gegebenheiten anzupassen, um den Pfarrern die seelsorgerische Einwirkung auf den Soldaten zu ermöglichen, ohne ihre kirchliche Unabhängigkeit einzuschränken, die Voraussetzung für unverfälschte Verkündigung und glaubhafte Seelsorge ist. Artikel 2 des Gesetzes über die Militärseelsorge lautet: „ 1. Die Militärseelsorge als Teil der kirchlichen Arbeit wird im Auftrag und unter Aufsicht der Kirche ausgeübt. 2. Der Staat sorgt für den organisatorischen Aufbau der Militärseelsorge und trägt ihre Kosten." Um die enge Verbindung der Militärseelsorge zu Landeskirchen und Ortsgemeinden zu gewährleisten, sieht das Gesetz vor, daß die Militärpfarrer von ihren Landeskirchen für 6-8 Jahre zu diesem Dienst abgestellt werden, doch deren Disziplinargewalt und Lehrzucht unterworfen bleiben. Damit verlieren die Landeskirchen keine Pfarrer mit besonderen Gaben und Erfahrungen; gleichzeitig verhindert diese Regelung jegliche Art von „Militarisierung" der Seelsorge. Abgesehen von wenigen, durch besondere Verhältnisse bedingten Militärkirchengemeinden, sind die Seelsorgebereiche für Soldaten praktisch Bezirke der Ortsgemeinden. Die Militärpfarrer halten im Turnus Gottesdienste in den anderen Gemeindebezirken und werden Mitglieder der Presbyterien und Pfarrkonferenzen. Die Grenzen zwischen den beiden Bereichen sind fließend. Soldaten und ihre Familien beteiligen sich auch am Gottesdienst und dem Leben der zivilen Gemeinde. Von einer „Militärkirche" zu sprechen ist irreführend. Um nicht exterritorial zu bleiben und z. B. aus Geheimhaltungsgründen gerade vom Einblick in Dienstzweige ausgeschlossen zu sein, die seine Gemeindeglieder am tiefsten bewegen, erhält der Militärpfarrer den Status des Beamten auf Zeit bzw. auf Lebenszeit. Doch ist er weder Untergebener noch Vorgesetzter von Soldaten. Diese Ansiedlung außerhalb der militärischen Hierarchie sichert ihm die Plattform, auf der er für jeden Soldaten erreichbar ist und von der aus er zu Soldaten aller Dienstgrade mit gleicher Autorität sprechen kann. Dem Kommandeur ist er auf Zusammenarbeit zugeordnet; mit ihm verbindet ihn die Verantwortung für die einzelnen Soldaten, aber auch die Sorge um die innere Verfassung des Verbandes, die den Kommandeur freilich in erster Linie vom Gesichtspunkt der Einsatzbereitschaft, den Pfarrer lediglich als Atmosphäre, d. h. als Voraussetzung für die Entwicklung der einzelnen angeht. Um es etwas zu überspitzen: dem Vorgesetzten geht es um das reibungslose Funktio-

Gedanken zur evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr

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nieren des Ganzen, selbst falls es auf Kosten der menschlichen Entwicklung von einzelnen geschieht; dem Pfarrer hingegen um die christliche und sittliche Existenz des einzelnen, auch wenn dies die sachliche Zusammenarbeit kompliziert. Dieser gegensätzliche Auftrag führt freilich zu Spannungen. Sie sind umso fruchtbarer, wenn der Kommandeur als Christ und der Pfarrer als engagierter Staatsbürger den gleichen Konflikt auch in der eigenen Brust austragen.

IV Inzwischen sind zehn Jahre vergangen, seit die Militärseelsorge ihre Arbeit aufnahm. In diesen Jahren hat sich erwiesen, wie unbarmherzig und verantwortungslos es gewesen wäre, die Soldaten in einer Berufswelt allein zu lassen, die — wie so manche andere auch — von den Grundlagen her infrage gestellt ist; mehr noch, in der die veränderte Wirklichkeit sich krasser niederschlägt, als in den meisten anderen Bereichen. Wie nicht anders zu erwarten, litt die Truppe in den ersten Jahren unter mannigfaltigen dienstlichen und privaten Provisorien, Unklarheiten und Mängeln. Auch diejenigen, die gemeint hatten, unbekümmert dort fortfahren zu können, wo sie einmal aufgehört hatten, wurden unsicher unter dem Ansturm neuartiger Probleme; auch sie begannen zu f r a gen. Resignation und Verbitterung drohten sich mancherorts auszubreiten — zumal, als der Schwung der Reform verebbte. In dieser Situation war es schwer, von oben und außen zu helfen; man mußte dazugehören, um gehört und verstanden zu werden. Freilich waren auch die Geistlichen nicht in der Lage, in allen Nöten sachgemäß zu raten; aber sie konnten bezeugen, daß alle Lebensgebiete der Herrschaft Christi unterworfen sind und daß sich gerade in der Bedrängnis ein Gnadenangebot verbirgt. Sie konnten helfen, das Letzte vom Vorletzten, das Wichtige vom weniger Wichtigen zu scheiden, und Maßstäbe sichtbar machen, die ein vertrauensvolles Miteinander ermöglichen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß sich dem Soldaten gewisse Fragen mit größerer Dringlichkeit und unter besonderen Aspekten stellen. Zieht man in Betracht, daß in den einzelnen Verbänden Soldaten divergierender Weltanschauungen, H e r k u n f t und Funktion, unterschiedlichen 20

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Alters und Charakters aufs engste zusammenleben, wird deutlich, mit welcher Behutsamkeit Kommandeure und Geistliche sich auf die Fragenden einstellen müssen, um Allgemeingültiges zu sagen, ohne dabei ungenau und unverbindlich zu werden. Dem widerspricht nicht die militärische Sachforderung nach klaren menschlichen Verhältnissen und reibungslosem technischen Funktionieren. Im Gegenteil, gerade die Tendenz, Tatbestände und Zusammenhänge auf — meist wirklichkeitsfremde — Formeln zu verkürzen, führt menschlich ins Unverbindlich-Verkrampfte und sachlich zu Pannen der komplizierten Apparatur. Ein zentrales Thema ist der Umgang mit Macht und Gewaltmitteln. Er umspannt ein weites Gebiet, das bei dem oft beträchtlichen Einfluß auf Kameraden beginnt und über die Disziplinargewalt, die Befehlsbefugnis von Vorgesetzten aller Art, die Handhabung von Waffen und Gerät während der Ausbildung bis zu deren Einsatz gegen Menschen im Kriege reicht. Dabei handelt es sich immer um Überwindung von Widerstand, um Unterwerfung, um Selbstbehauptung, um die wechselseitige Beziehung also zwischen Machtausübendem und Machtunterworfenem, um Legitimation, Inhalt und Grenzen von Macht und Gewalt. D a ß dem Zeitalter der Technik schneidige, vortechnisch-feudale Traditionen nicht mehr angemessen sind, leuchtet ein. Aber auch die unkontrollierte Freude am Funktionieren, die heute fast gleichbedeutend ist mit sittlicher Resignation vor der technischen Automatik, ist nicht weniger bedenklich, weil sie den skrupellosen, maximalen Macht- und Gewalteinsatz nahelegt. Damit widerspricht sie nicht nur den Maximen freiheitlicher Grundordnung, sondern auch den Gegebenheiten des heutigen Krieges, in dem Ethik und Vernunft darin übereinstimmen, jede Gewaltanwendung auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Selbst Staaten, die das ganze Arsenal heutiger Vernichtungswaffen anwendeten, wären nicht mehr in der Lage, ihren politischen Willen durchzusetzen; sie würden mit dem Gegner sich selbst vernichten. Insofern fordert das Übermaß moderner Waffenwirkung neben präziser Kenntnis der Folgen auch Einsicht, Zucht und Demut von dem, der sie möglicherweise einsetzen muß. Die gleiche Forderung gilt für die Menschenführung in der Truppe, den Umgang mit Menschen überhaupt und die H a n d habung des Materials. Hier wird die Aufgabe der Militärseelsorge besonders deutlich: negativ und positiv. Da die Kirche Verantwortung vor Gott für alle Menschen trägt — f ü r Christen wie Nichtchristen und ohne Rücksicht auf

G e d a n k e n zur evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr

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Nationalität, Farbe, Beruf oder R a n g kann sie sich nicht in den Dienst einer bloßen Erhöhung der K a m p f k r a f t stellen. Sie kann nicht zu dem berühmten guten Gewissen verhelfen für jedes Befehlen und Gehorchen, wenn sich dieses nur vordergründig von der Sache und dem A u f t r a g her ableiten läßt. Der Kirche geht es um den Menschen und um sein Verhältnis zu Gott. So hat sie auch den Soldaten mit dem Gebot zu konfrontieren, daß man Gott mehr gehorche denn den Menschen, d. h., sie muß die Gewissen schärfen, statt sie zu beruhigen. Dieses kann zu schweren Konflikten zwischen Kirche und Staat, zwischen Militärgeistlichen und Soldaten, zwischen Christen als Untergebenen und ihren Vorgesetzten führen. Auch dazu hat die Kirche etwas zu sagen. Die Vorbereitung auf das Gelöbnis und die Eidleistung gibt dazu vor allem Gelegenheit. Die Diskussionen um die Wiederbewaffnung hatten bereits gezeigt, welche Trübung das Eidverständnis erfahren hat. Für viele bedeutete der Eid das notwendige, für andere das leidenschaftlich abgelehnte Mittel, den Einzelnen mit H a u t und H a a r zu bedingungslosem Gehorsam zu verpflichten. In Vergessenheit war geraten, daß der vor Gott abgelegte Eid den Menschen genau vor solcher Ausweglosigkeit schützt; ihm nicht einmal erlaubt, ihn erst recht nicht zwingt, Verantwortung und Gewissen an Staat, Regierung, Vorgesetzte oder Untergebene zu delegieren. In solcher Situation rieten gute Gründe dazu, einer Eidforderung in der Bundeswehr zu entsagen — um so mehr, als der Verzicht keine praktischen Konsequenzen gehabt hätte. Wer sich dem Staat und seiner soldatischen Umgebung verpflichtet weiß, wird seine Pflicht auch ohne Eid erfüllen. Wer den Gehorsam verweigert, die Befehlsgewalt mißbraucht, wer Fahnenflucht oder Meuterei begeht, wird hierfür, nicht aber wegen Eidbruch bestraft. Der Gesetzgeber hielt die Vereidigung indessen für unerläßlich. D a mit gehört es zu den wesentlichen Aufgaben der Militärgeistlichen, auf die Heiligkeit des Eides wie auch des Gelöbnisses zu weisen; dem Rekruten den Ernst der Übernahme seiner Dienstpflichten auf sein eigenes Gewissen, zugleich aber auch die von Gott gesetzten Grenzen jeder und auch dieser Verpflichtung aufzuzeigen. Gelöbnis und Eid werden ihm zu einem Zeitpunkt abgefordert, da viel Fremdes, Überwältigendes auf den jungen Soldaten einstürmt. Spektakuläre Feiern in großem Rahmen drohen die existentielle Bedeutung dieses Geschehens zu verwischen. Der einzelne fühlt sich im Kollektiv zur Schau gestellt, gleichermaßen neugierig betrachtet, doch nicht persönlich angesprochen und mit dem vereidigenden 20'

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Vorgesetzten durch den Lautsprecher nur mittelbar verbunden; er steht in diesem Augenblick weder Kameraden, noch Vorgesetzten — und wohl kaum der göttlichen Autorität — Auge in Auge gegenüber. Umso entscheidender ist es f ü r den Soldaten, sich im lebenskundlichen Unterricht oder im Einzelgespräch mit dem Geistlichen über die Bedeutung dieses Schrittes klar zu werden und sich im Gottesdienst darauf vorzubereiten. Die Tatsache, daß die Geistlichen bei der militärischen Vereidigungsfeier nicht mehr aktiv mitwirken, markiert übrigens deutlich die Grenze, die sich die Kirche steckte. Schon bei diesen Vorbereitungen taucht eine Reihe anderer, mit dem Eid zusammenhängender Komplexe auf. Da ist z. B. die Frage nach dem „Vaterland" — wobei es hier um den Inhalt, nicht um das Wort gehen soll. Die Militärseelsorger werden vor den beiden Extremen warnen müssen: dem Verabsolutieren und dem Negieren dieses Aspektes menschlicher Existenz. Denn er ist dem Menschen nur als einer neben vielen anderen — politischen, beruflichen, familiären und persönlichen — Verantwortungsbereichen aufgegeben. Dabei darf nicht idealisierend verheimlicht werden, daß das Leben nicht selten in erhebliche Konflikte zwischen den Pflichten gegenüber diesen verschiedenen Bindungen führt. Auch an seine Verantwortung gegenüber dem Gegner wird die Kirche den Soldaten erinnern müssen. Entgegen jeder Verteufelung des Feindes, ob sie nun nationalistischen oder ideologischen Wurzeln entspringen mag, gegenüber jeder Kreuzzugsideologie und Überhöhung der eigenen Sache, die in die Entartung des Hasses führt, hat sie dem Soldaten zu sagen, daß das Evangelium allen Menschen gilt. Sie muß immer wieder eindringlich ausrichten, was dem Christen von Gott zugesagt ist: Du bist mir lieb und unersetzlich als mein Kind — aber du darfst nie vergessen, daß mir jeder Mensch ebenso lieb und unersetzlich ist, auch wenn er selbst noch nichts davon weiß oder wissen will. Das gilt auch für den Gegner. Die Erkenntnis, daß alle Menschen Mitgeschöpfe und Kinder Gottes sind, befreit von Gegenideologien aller Art, führt aus dem Anti zum Pro und wahrt damit auch unter dem drohenden Schatten eines kriegerischen Zusammenstoßes die Grundlage menschlichen Miteinanders. Sie führt zur notwendigen Relativierung des eigenen Standpunktes und in ein Verhältnis zum Gegner, das nicht zwangsläufig zum Kriege drängt, vielmehr in einem Kampf noch Raum für Menschlichkeit läßt. Freilich ist dieser Raum — sofern in einem heutigen Krieg überhaupt noch vor-

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handen — klein geworden. Doch ist die Bereitschaft, ihn einzuräumen und nach Möglichkeit zu nutzen, ein Kriterium für die sittliche Verfassung von Streitkräften. Selektive Anwendung ethischer Normen nach Freund-Feind-Kategorien kann allenfalls f ü r Räuberbanden gelten, hat mit fundiertem Soldatentum aber nichts mehr zu tun. Die Funktionsgesetze der technischen Apparatur haben die strenge vortechnische Hierarchie in ein Netz vieler vertikaler und horizontaler Abhängigkeiten aufgelöst. Die Formen des modernen Gefechts verlagern beträchtliche Verantwortung auf die unteren Dienstgrade. Wo bisher Kommando und Befehl dem einzelnen oder der Gruppe einen starren Handlungsrahmen setzten, tritt jetzt der Auftrag, der im Zusammenspiel von Technik und Taktik aus eigener Initiative auszuführen ist. Damit entwickelt sich ein anderes Verhältnis zwischen „oben" und „unten", Offizieren. Unteroffizieren und Mannschaften. Diese veränderte Zuordnung verlangt einen neuen Führungsstil, sowohl innerhalb als außerhalb des Dienstes; sie fordert die Erziehung zur Mündigkeit. Perioden des Stilwandels sind kritische Zeiten für jede menschliche Gemeinschaft und Institution; freiheitliche Partnerschaft — und zu nichts anderem zwingt bereits die technische Entwicklung — stellt an Untergebene und mehr noch an Vorgesetzte erhöhte Anforderungen. Diese lassen sich nur bewältigen, wo die vorbehaltlose Respektierung der menschlichen Würde und Leistung zur selbstverständlichen Voraussetzung jedes Miteinander wurde. Erst diese Haltung vermittelt den sicheren Grund für ein belastbares Zusammengehörigkeitsgefühl, aber auch für Distanz und Spielraum, die der andere f ü r seine Entwicklung zum mündigen, verantwortungsbereiten Menschen braucht. Gerade hier hat die Militärseelsorge manches anzubieten — und nicht nur von der Kanzel herab. Am Beispiel gemeinsamer, allen bekannter Erlebnisse in der Truppe läßt sich verbindlich und einleuchtend angemessenes und fragwürdiges Verhalten illustrieren. In der Arbeitsgemeinschaft der Offiziere haben die Geistlichen beider Kirchen Gelegenheit, allgemeine Probleme darzulegen und an einzelnen Vorkommnissen den Weg zu einer gewissenhaften, die Menschenwürde wahrenden Entscheidung mit den Offizieren durchzudenken. Im lebenskundlichen Unterricht für Unteroffiziere und Mannschaften lassen sich für Beruf und Privatleben praktische Folgerungen aus dem Glauben ziehen. Darüber hinaus hat der Pfarrer in seiner Sprechstunde und in Einzelgesprächen Gelegenheit, klärend, ausgleichend und mahnend zu wirken

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bei mancherlei Spannungen und Schwierigkeiten. Es versteht sich von selbst, daß ein Militärpfarrer mit gleicher Unbefangenheit einem Bejaher wie einem Verneiner des Dienstes mit der Waffe — und manchem jungen Soldaten werden solche Fragen erst mit Beginn seines Dienstes dringend — als ernsthafter Gesprächspartner zur Verfügung steht. Hier weist ihn sein A u f t r a g auf H i l f e zu persönlicher Klärung und Vertiefung des Gewissens, während der militärische Vorgesetzte auf eine Bejahung der einem Soldaten zugewiesenen A u f g a b e dringen wird. Die Kirche hat dem Soldaten zu helfen, unter „Gewissen" nicht ein starres, moralisches Koordinatensystem zu verstehen, sondern eine täglich lebendige und stärkende Bindung an seinen Herrn. Sie wird dabei immer im Auge behalten, daß Gewissensentscheidungen bei gleichstarker Bindung an den gleichen Herrn im Einzelleben jeweils verschieden ausfallen können. Sie wird also niemals ein vorbehaltloses prinzipielles „ J a " zum Dienst des Soldaten als die einzige christliche Möglichkeit annehmen können — und ebensowenig das Gegenteil. Doch darf es auch der militärischen Führung nicht gleichgültig sein, ob sie mit Soldaten zu tun hat, deren Nachdenken und Handeln in den Bereichen des Gewissens wurzelt, oder solchen, die zu einem oberflächlichen Funktionieren und zu Bequemlichkeit in Fragen der Gewissenhaftigkeit neigen. D a ß — im Gegensatz zu früher — ein beträchtlicher Teil der Arbeit des Militärpfarrers den Offizieren als Trägern der größeren Verantwortung gewidmet ist, zeigt deutlich, wie anders die Kirche ihren A u f t r a g heute sieht. J e folgenschwerer Entschlüsse und Handlungen der einzelnen Soldaten werden, desto stärker muß ihr Ethos von der Verantwortung her bestimmt sein. Falls diese nur funktional und juristisch gesehen wird, d. h. die Sache in jedem Fall über dem Menschen steht, werden Streitkräfte zur Gefahr. Soldaten sind dann zu Kampfmitteln ohne menschlichen Zusammenhalt und Gewissen degradiert; mit ihnen wird jede Gewalttat möglich. Verantwortungsbereitschaft als sittliche Haltung finden wir bei Christen und Nichtchristen. Doch ist es vielleicht eine besondere Aufgabe der Kirchen, auf die konkrete Haftung vor dem lebendigen Gott zu weisen, an dessen Gericht und Gnade alle Menschen ausgeliefert sind. So kann der Militärgeistliche nicht nur auf die Schwere der A u f gabe hinweisen — er darf auch Mut geben, sich ihr zu stellen und sie zu übernehmen.

Gedanken zur evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr

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V Aber die Militärseelsorge kann dem Soldaten auch noch in anderer Hinsicht beistehen: bei der Suche nach dem rechten Verhältnis zur Umwelt und schließlich zu seinem eigenen Beruf. Die Soldaten, vor allem die Vorgesetzten, sind weithin durch eine Vielzahl drückender, z. T. neuartiger Aufgaben überfordert, auf die sie nicht immer genügend vorbereitet werden konnten. Das Gefühl, den Anforderungen nur unvollkommen gerecht zu werden, hat zu einer Überempfindlichkeit gegenüber jeder Kritik geführt und zu einer Abwehrstellung gegen alles, was die Unübersichtlichkeit und Kompliziertheit des modernen Lebens angeblich verschuldet. Dieses Unbehagen verdichtet sich nicht selten zu einem Ressentiment gegenüber der parlamentarischen Kontrolle, der öffentlichen Meinung, dem Rechtsstaat, der freien Gesellschaft, dem Lebensgefühl der jungen Generation, der Verwaltung, aber auch gegenüber den internationalen Abhängigkeiten und dem Wandel des Kriegsbildes. In scharfem Kontrast zu einer düsteren Gegenwartsschau steht häufig das überglänzte Bild der Vergangenheit, in der alles „einfach", „anständig" und „problemlos" war. Mit dieser Schau tritt der Soldat in einen eigentümlichen Gegensatz zu der Welt, der er angehört und die er schützen soll. Auch verhindert solche Flucht in das Irrationale die Erkenntnis, daß wir in allen Lebensbereichen — vom internationalen bis zum familiären — an Strukturproblemen, d. h. unter Anpassungsschwierigkeiten leiden, die mit hergebrachten Mitteln nicht zu überkommen sind. Sie fördert ein Gefühl der Isoliertheit, wo gerade engste Zusammenarbeit über alle fiktiv gewordenen Schranken hinweg gefordert ist, und legitimiert ein Selbstmitleid, das alle Autorität — und obendrein die Freude an der Arbeit — zerstört. Um dieses gestörte Verhältnis zur Wirklichkeit zu verstehen, ist vielleicht folgendes zu bedenken: Der Soldat, vor allem der Offizier gehörte — gesellschaftlich gesehen — lange zu den Privilegierten. Die Begründung für seine Sonderstellung bot die erhöhte Gefährdung, der er — stellvertretend für die Nation — im Ernstfalle ausgesetzt sein würde. So lebte der Soldat im Frieden gewissermaßen von Vorschußlorbeeren, ohne indessen ganz sicher zu sein, die Bewährungsprobe auch zu bestehen. Das erhöhte den Spielcharakter seiner Friedensarbeit und förderte ein Sehnen nach der endlichen Bestätigung auf dem Schlachtfeld.

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Aus diesem Gehege ist der Soldat herausgerissen. Bereits im Frieden verschwimmen die sauberen Grenzlinien zwischen Militär und Zivil. Militärische Probleme sind derartig mit zivilen verwoben, daß ihre Lösung nur in enger Zusammenarbeit mit den Fachleuten aller Ressorts gefunden werden kann. Unter den Soldaten selbst wachsen Zahl und Bedeutung der Wissenschaftler, Juristen, Techniker und Spezialisten aller Art ständig; die einzelne Laufbahnsparte findet ihre Entsprechung in Ausbildung, Tätigkeit und Haltung weit eher im zivilen als im militärischen Bereich. In einem modernen Kriege sind alle Menschen gleich stark bedroht. Bereits im letzten Weltkrieg überstiegen die zivilen Verluste diejenigen der Streitkräfte; in Vietnam nimmt diese Verkehrung der altgewohnten Verhältnisse einen rasanten Lauf. Dazu gesellt sich die Erkenntnis, daß große Kriege — zumindest in Europa — naturwissenschaftlich berechenbare Katastrophen heraufbeschwören, die sich durch kein verantwortbares politisches Ziel rechtfertigen lassen. Diese gewandelte Wirklichkeit verändert auch Sinn, Auftrag und Stellung des Soldaten in bestürzender Weise, sie fördert aber andererseits seine Integrierung in unsere Gesellschaft. Die technische Zivilisation hat die Archetypen aufgelöst und neue Kategorien geschaffen. Es gilt, sie zu erkennen und mit Leben zu erfüllen. Angeblich ist die Spannung zwischen der Bereitschaft zu entschlossener Verteidigung und der Begeisterung für den Frieden nicht erträglich; auch wird behauptet, bestimmte Haltungen und Normen, die vortechnisch-autoritären Epochen entstammen, seien unauflöslich mit dem Soldaten verbunden. Hier liegen große seelsorgerische Aufgaben bereit. Der Geistliche kann dem Soldaten helfen, die Gegebenheiten und Notwendigkeiten von heute im Lichte des Gebotes der Nächstenliebe und der Ehrfurcht vor der Wirklichkeit als Abschnitt der Heilsgeschichte zu sehen. Gelingt diese Entmythologisierung, kann auch die Einsicht nicht schwerfallen, daß es lohnt, der Erhaltung des Friedens zu dienen und notfalls ein ausbrechendes Feuer mit dem eigenen Leibe zu ersticken, bevor es zum Weltbrand auflodert. Wem das zu wenig ehrenvoll erscheint, sollte an die Verheißungen erinnert werden, die demütigem Dienen zugesagt sind. Es kann gewiß nicht Sache der Militärseelsorge sein, die Bundeswehr — insbesondere die Offiziere — in großen Erziehungsprogrammen aufzuklären und auf den rechten Weg zu bringen. Eine solche Führungsaufgabe widerspräche dem kirchlichen Auftrag und verwechselte Staat-

G e d a n k e n z u r evangelischen Militärseelsorgc in d e r B u n d e s w e h r

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liehe mit kirchlichen Kompetenzen. Kirchliche Arbeit wendet sich im Rahmen der christlichen Gemeinde zuallererst an den einzelnen. Auf weltliche Institutionen kann die Kirche nur über ihre Glieder Einfluß nehmen, die sich in ihren Berufen als Christen betätigen und bewähren. Die Kirche kann und soll ihre Glieder — wie es in der Militärseelsorge geschieht — im Glauben stärken und für ihre Aufgaben rüsten. Doch vollzieht sich die Berufsausübung in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes zwar in der Nachfolge Christi, aber nicht im Auftrage der Kirche und überdies mit und unter Nichtgläubigen. Hier stoßen wir auf die Grenzen der Militärseelsorge. Sie begleitet die Christen in Uniform mit Rat und Tat, Wort und Sakrament und hilft auf solche Weise gewiß auch manchem, der kein Glied der Gemeinde ist; sie kann sogar — als Kirche oder durch den Mund des Pfarrers — in bestimmten Fällen warnend ihre Stimme erheben. Doch ist es weder ihre Aufgabe, sich gegen ablehnende militärische Vorgesetzte durchzusetzen, noch gegenüber einer gefährlichen Führungstendenz. So gewiß es ihr Auftrag ist, immer wieder den Weg zu weisen, so wenig kann sie verantwortlich sein für die innere Entwicklung der Bundeswehr. Diese Selbstbeschränkung behindert nicht ihren Dienst am einzelnen, der ihres Beistandes in Einheiten mit ungutem Klima besonders bedürftig ist. Erläge die Kirche der Versuchung, aus noch so einleuchtenden Gründen ihre Distanz zum Staat aufzugeben, verlöre sie Kraft und Bedeutung. Ließe sie sich staatliche Aufgaben zuschieben oder übernähme solche, um schlimmeres zu verhüten, gäbe sie sich selber auf; sie spräche ohne Vollmacht. Das gewandelte Kriegsbild, die Eingliederung in einen freiheitlichen Rechtsstaat und in die industrielle Gesellschaft fordern den Soldaten zu Besinnung und zu nüchterner Überprüfung seines Standortes. Zum ersten Mal in der Geschichte ist die vollkommene Selbstvernichtung der Menschheit in Menschenhand gegeben. Damit hat der Krieg seine Rationalität verloren. Der Soldat, als Verwalter der Zerstörungsmittel hat einen neuen, opfervollen aber gerade deshalb verheißungsvollen Auftrag erhalten. Da er sich der Erhaltung des Friedens verpflichtet hat, muß er lernen, so gewissenhaft und sparsam wie möglich mit der Macht umzugehen. Die Erkenntnis, daß die Menschheit nur bei bewußtem Verzicht auf Gewaltanwendung und durch Besinnung auf eine verpflichtende, alle umfassende Sittlichkeit weiterbestehen kann, sollte ihm leichter fallen als anderen.

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Die Leitgedanken der Reform wurden bisher nicht allgemein verbindliche N o r m ; ihre Institutionen und Regelungen bleiben umstritten. Das wird niemanden wundern, der die Mächtigkeit bestimmter Traditionen kennt. Doch wiegt diese Tatsache schwer. Neue, tiefgreifende Fragen kommen herauf; sie lassen sich nur in der Weiterentwicklung des freiheitlichen Ansatzes beantworten, will man nicht in obrigkeitsstaatliche Vorstellungen und Lösungen einer ständisch-vortechnischen Vergangenheit zurückfallen. Die Welt ist in Bewegung geraten, der Ost-West-Konflikt nicht mehr der alleinbestimmende Faktor, Europa und damit Deutschland rücken aus dem Mittelpunkt des Interesses der Weltmächte; das atlantische Bündnis und Europa scheinen einen loseren Rahmen zu bieten, als viele erhofften; Abrüstung und Rüstungskontrollen erhalten zunehmend Bedeutung; Industrialisierung und Technik verändern Gesellschaft und Beruf in immer stärkerem Ausmaß; um Strategie, Kriegsbild und Auftrag der Bundeswehr entzündet sich erneut eine heftige Diskussion. Auf dieser Suche nach neuem Selbstverständnis, Ethos und Stil begleitet die Militärseelsorge den Soldaten. Sie wird und darf keine Lösungen vorschreiben. Doch ist ihr Beitrag überall notwendig, wo es um das Menschenbild geht — an ihm scheiden sich die Geister bei der Antwort auf fast alle der hier gestellten Fragen. Soldaten wie Geistliche haben voneinander gelernt und noch zu lernen. Auch die Militärseelsorge nahm Abschied von manchem Liebgewordenen und einst Bewährten, um ihren zeitlosen Auftrag an den Soldaten von heute auszurichten. Die Erfahrungen des Kirchenkampfes, manche theologische Erkenntnis der letzten Jahrzehnte und die mit der Diskussion der Wiederbewaffnung einsetzende Besinnung auf die innere und äußere Situation der Soldaten gaben hilfreiche Wegweisung. Die Kirche ging ohne Zweifel ein Risiko ein, indem sie mit ihrem Dienst zu diesen Männern ging. Doch wer sollte risikofreudiger sein, als die Kirche Jesu Christi, wenn es gilt, mit bedrohten Brüdern Neuland zu betreten?

Ein Brief als Nachwort Sehr verehrter, lieber H e r r Bischof Kunst! Wenn ich midi unter Ihren Gratulanten einfinde, dann um Ihnen einmal öffentlich dafür zu danken, daß Sie an so vielen Stellen der Eine gewesen sind, der sah, was getan werden mußte, und es tat. Ich tue das um so lieber, als die Öffentlichkeit die meisten dieser Stellen, dem Wesen der Sache nach, nicht unmittelbar sehen kann. Zur Berufstugend des Seelsorgers wie des Diplomaten gehört die Verschwiegenheit. Aus Ingredienzien dieser beiden Berufe aber war Ihre Arbeit in den letzten Jahrzehnten gemischt; und die Verschwiegenheit bringt mit sich, daß niemand im einzelnen weiß, wie oft Sie dort, wo Sie diplomatisch agierten, in Wahrheit Seelorger waren. Im einzelnen weiß auch ich es nicht, aber ich ahne es aus den Beispielen, die ich gesehen habe. Dafür, daß Sie wußten, was getan werden mußte und es taten, greife ich nur ein Beispiel heraus, das ans Licht der Öffentlichkeit getreten ist. Vielleicht darf ich unter dem persönlichen Blickwinkel schildern, unter dem ich es gesehen habe. 1957 gelangte in der Bundesrepublik das P r o blem der Atombewaffnung ins öffentliche Bewußtsein, und auf der Spandauer Synode 1958 drohte es die Einheit der evangelischen Kirche zu zerreißen. Blicke ich heute auf die damaligen Diskussionen zurück, so empfinde ich noch stärker als damals schon, daß ihr Hauptmerkmal große, oft echte Leidenschaft, verbunden mit Mangel an Sachkenntnis auf beiden Seiten war. Sie aber sahen, was getan werden mußte, und taten es. Ich höre noch den Klang Ihrer Stimme, als Sie damals in einem Gespräch sagten, Sie könnten Ihr Amt als Militärbischof nicht wahrnehmen, wenn diese F r a gen ungeklärt blieben. Ich habe gerade in diesem Gedanken eine authentische Interpretation dieses Amts gefunden. In alten Zeiten mag die Militärseelsorge eben nur die überall gleiche Aufgabe der Seelsorge im

Ein Brief als N a c h w o r t

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besonderen Bereich des Militärs gehabt haben; so problematisch uns heute im Rückblick die Selbstverständlichkeit einer solchen Auffassung schon für damals erscheinen mag. Heute ist das Militär wohl derjenige Bereich des öffentlichen Lebens, in dem die Anwendung überkommener Kategorien auf die veränderte Realität am allerfragwürdigsten ist. Die Gefahr besteht, daß Offizier und Truppe diese Spannung, gerade weil sie so hoffnungslos groß scheint, aus ihrem Bewußtsein verdrängen. Seelsorge enthält immer die Funktion, der Seele zum Bewußtsein über sich selbst zu verhelfen. So muß Militärseelsorge heute dem Soldaten helfen, zu verstehen, in welcher Lage er ist. Dem sollten die Arbeiten dienen, die Sie angeregt haben. Dabei ist es nur natürlich, daß die Leser solcher Untersuchungen nicht aufs Militär beschränkt waren, sondern daß die ganze Kirche berührt war und darüber hinaus weite Kreise, die, mögen sie formal zu einer der Kirchen gehören, vom innerkirchlichen Blutkreislauf kaum mehr erreicht werden. Den äußeren Hergang der Ereignisse brauche ich kaum zu schildern. Sie baten die Evangelische Studiengemeinschaft, einige Kommissionen, als erste eine Kommission über Fragen der Atombewaffnung, zu gründen. An den Arbeiten dieser ersten Kommission habe ich teilgenommen. Die K o m mission enthielt Vertreter der beiden streitenden Ansichten. Sie war also, so konnte es scheinen, so zusammengesetzt, daß sie zu keinem Ergebnis kommen konnte. In den heißen Debatten innerhalb der Kommission war das große Erlebnis nicht die selbstverständlicherweise verbleibende Divergenz der Ansichten, sondern die Möglichkeit des Gesprächs auf einem gemeinsamen Grund. In diesen Fragen muß ein Bewußtsein ausgearbeitet werden, das noch niemand besitzt; und daß bei entgegengesetzten Meinungen doch die gemeinsame Arbeit an diesem Bewußtsein möglich ist, war die Erfahrung dieser Gespräche. Daß der Band, der das Ergebnis vorlegte, seinerseits wieder Diskussionen ausgelöst hat, und daß sich die Streitenden zum Teil gemeinsam gegen den Friedenstifter einig fanden, das gehört für mein Empfinden mit zu diesem bewußtseinsbildenden Prozeß. Ich bin als Mitverfasser eben um dieses Prozesses willen für alle Kritiken dankbar gewesen. Dieselben Betrachtungen könnte ich wiederholen an späteren Beispielen, so anläßlich Ihrer Beteiligung an den Gesprächen um das „Tü-

Ein Brief als N a c h w o r t

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binger Memorandum". Aber diese Dinge sind uns heute noch näher; die Erinnerung braucht da keine Auffrischung, und ich möchte hier nicht ins Breite gehen. Ich schließe mit dem Wunsch, daß Ihnen zu Ihrem Wirken weiterhin Kraft, Gesundheit und Erfolg gegeben werden möge. Ihr Carl-Friedrich v. Weizsäcker

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Die Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und den Evangelischen Landeskirchen in Hessen unter besonderer Berücksichtigung des Hessischen Kirchenvertrages vom 1 8 . 2 . 1 9 6 0 . Von H A N S - U L R I C H K L O S E . XLIV, 1 9 8 Seiten. 1 9 6 6 . D M 3 4 , -

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Paulus. Von M A R T I N D I B E L I U S . Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben und zu Ende geführt von W. G. KÜMMEL. 3., durchgesehene Auflage. KleinOktav. 156 Seiten. 1964. DM 3,60 (Sammlung Göschen Bd. 1160)

Luther. Von FRANZ L A U . 2., verbesserte Auflage. Klein-Oktav. 153 Seiten. 1966. DM 3,60 (Sammlung Göschen Bd. 1187)

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Seiten. Klein-Oktav.

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Geschichte des christlichen Gottesdienstes. Von WILLIAM N A G E L . Klein-Oktav. 215 Seiten. 1962. DM 5,80 (Sammlung Göschen Bd. 1202/1202a)

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Theologia Viatorum X. Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Berlin 1 9 6 4 / 6 5 . Herausgegeben von U L R I C H WILCKENS. Groß-Oktav. V I , 3 3 9 Seiten. 1 9 6 6 . Ganzleinen DM 38,—