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German Pages 392 [394] Year 2014
Jungen und Männer als Patienten bei einem Südtiroler Landarzt (1860–1900) von Alois Unterkircher MedGG-Beiheft 51
Franz Steiner Verlag Stuttgart
Jungen und Männer als Patienten bei einem Südtiroler Landarzt (1860–1900)
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 51
Jungen und Männer als Patienten bei einem Südtiroler Landarzt (1860–1900) von Alois Unterkircher
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2014
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH sowie mit Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung und der Interfakultären Forschungsplattform Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.
Coverabbildung: Beim Arzt. In: Hans Peter Defregger, Defregger. 1835–1921, Seite 118. © Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim 1983.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Satz: Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-10612-2 (Print) ISBN 978-3-515-10741-9 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.............................................................................................................
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1 Einleitung ................................................................................................... 1.1 Ausgangspunkte ................................................................................. 1.2 Forschungsfragen ............................................................................... 1.3 Begriffliche Erklärungen: „Krankheitsverhalten“ und „Patient“ ... 1.3.1 „Krankheitsverhalten“ ............................................................ 1.3.2 „Patient“ und „Patientengeschichte“ ..................................... 1.4 „Männergesundheit“ als Diskurs: die Medizin entdeckt die Männer ......................................................................................... 1.4.1 Von der Frauengesundheitsforschung ….............................. 1.4.2 … über die Gender Medicine …........................................... 1.4.3 … zur (historischen) Männergesundheitsforschung?........... 1.5 Krankenakten als Quellen: Dr. Franz v. Ottenthal und seine Historiae Morborum .............................................................................. 1.5.1 Die Historiae Morborum ........................................................... 1.5.2 Methodische Überlegungen...................................................
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2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten im ländlichen Raum (ca. 1860–1900): auf Spurensuche nach regionalen Ausprägungen des „gender gap“ ................................. 58 2.1 Das Tauferer Ahrntal – eine politische, topografische und sozialhistorische Beschreibung ......................................................... 61 2.2 Das Tauferer Ahrntal – eine Beschreibung des medikalen Raumes ............................................................................................... 76 2.3 Der theoretische Bezugsrahmen: das Modell der „epidemiologischen Transition“ ....................................................... 86 2.4 Lebenserwartung und Geschlecht: zwei Schritte vor und (k)einen zurück? ................................................................................. 93 2.5 Geschlechterspezifische Sterberaten ................................................ 97 2.6 Mortalitätsunterschiede zwischen den Geschlechtern: die Veränderung des Todesursachenspektrums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts............................................................... 102 2.7 Zwischenbilanz ................................................................................... 110 3 „Männergesundheit“ als Erfahrung: männliches Krankheitsverhalten in den verschiedenen Lebensphasen ....................................................... 111 3.1 Ein ungleicher Start ins Leben? Männliche und weibliche Säuglinge als Patienten in den Historiae Morborum zwischen den 1860er und den 1890er Jahren.................................................. 111 3.1.1 Das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt und bei den Totgeburten ............................................................................. 118
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Inhaltsverzeichnis
3.1.2 Geschlechterspezifische Unterschiede in der Säuglingssterblichkeit: die Auswertung der Sterbebücher des Tauferer Ahrntales ........................................................... 121 3.1.3 Die Veränderung des geschlechtsspezifischen Todesursachenspektrums bei Säuglingen ....................................... 129 3.1.4 Säuglinge als Patienten in den Krankenjournalen Franz v. Ottenthals und deren geschlechterspezifische Zusammensetzung in der Arztpraxis .................................... 136 3.1.5 Säuglingsernährung und der „kleine Unterschied“ ............. 143 3.1.6 „…wenn das Säugegeschäft nicht sehr günstig ausfällt“ ..... 146 3.1.7 Zwischenbilanz ........................................................................ 150 3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“: männliche und weibliche Kinder als Patienten Franz v. Ottenthals ............................................................................. 151 3.2.1 Melancholische Jungen und Mädchen, die von Heuböden springen: mit den Historiae Morborum auf geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen blicken ......................................... 156 3.2.2 „Dem Vernehmen nach soll im wohldortigen Bezirke unter den Kindern der Scharlach stark grassiren.“ – die Sterblichkeitsentwicklung bei Jungen und Mädchen im Verlauf des 19. Jahrhunderts ............................................ 160 3.2.3 „beim Schafehüten verunglückt“: das Todesursachenspektrum bei Jungen und Mädchen im Tauferer Ahrntal... 167 3.2.4 „…die wenigsten Eltern fühlen sich gedrungen, für ihre kranken Kinder ärztliche Hülfe in Anspruch zu nehmen…“: die Nachfrage nach ärztlicher Behandlung von Kindern in der Praxis Franz v. Ottenthals .................... 174 3.2.5 Die Konsultationsgründe: Schule und Kinderarbeit als unterschiedliche Gesundheitsrisiken für Jungen und Mädchen? ........................................................................ 182 3.2.6 Zwischenbilanz ........................................................................ 195 3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein: Gesundheitsgefährdungen und Krankheitsverhalten von jüngeren Männern an der Schwelle von der Jugend zum Mann-Sein....................................................... 198 3.3.1 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben und die Suche nach einer männlichen Geschlechtsidentität ........................ 204 3.3.2 Zur altersspezifischen Inanspruchnahme der Arztpraxis innerhalb der einzelnen Phasen des Erwachsenenalters .... 212 3.3.3 „laxari cupit“ und „timet phtysin“ – Zu den Konsultationsgründen der erwachsenen Patienten in den einzelnen Lebensaltern ............................................................................ 226 3.3.4 …denn sie wissen nicht, was sie tun? Knaben, Soldaten und altersspezifische Erfahrungen von Sexualität und Körperlichkeit .................................................................. 239
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3.3.4.1 Verletzliche Männerkörper I: Jungen und ihre sexuellen Aktivitäten ................................................... 239 3.3.4.1.1 Die „Lustseuche“ und die Stigmatisierung von Geschlechtskranken ............................. 244 3.3.4.1.2 Onanie, die „heimliche Sünde der Jugend“ ......................................................... 250 3.3.4.1.3 Die „stumme Sünde“ des mann-männlichen Begehrens .......................................... 255 3.3.4.2 Verletzliche Männerkörper II: Soldaten und die „militärische Männlichkeit“ ..................................261 3.3.4.2.1 Zur Spezifik der Tirolischen Wehrverfassung und der Heeresergänzung ........ 263 3.3.4.2.2 Verletzliche Soldatenkörper in Kriegszeiten ............................................................. 265 3.3.4.2.3 Verletzliche Soldatenkörper in Friedenszeiten ..............................................................272 3.3.5 Zwischenbilanz.......................................................................... 277 3.4 „81 ann […] vires corporis et animi decrescunt“: Erkrankungen im Alter und der Umgang mit der schwindenden Leistungsfähigkeit bei älteren Patienten Ottenthals ....................................... 280 3.4.1 „Von nun an ging’s bergab…“ – der Gang zum Arzt und das Krankheitsspektrum älterer Menschen im 19. und 20. Jahrhundert ............................................................... 282 3.4.2 Die Inanspruchnahme der Praxis Franz v. Ottenthals durch ältere Patientinnen und Patienten .............................. 289 3.4.3 „83 ann laborat senio“: Die Konsultationsgründe m hohen Alter ......................................................................... 297 3.4.3.1 Exkurs I: Wie häufig starben alte Menschen an Infektionskrankheiten? .......................................... 298 3.4.3.2 Exkurs II: „Altersschwäche“ und „Multimorbidität“ als medizinische Konzepte ......................................... 300 3.4.3.3 Die Veränderung der Konsultationsgründe bei über 65-Jährigen zwischen den 1860er und den 1890er Jahren ............................................... 302 3.4.4 Wohin mit den Alten? Beispiele familiärer und institutioneller Pflege für betagte Männer in den Historiae Morborum ................................................................... 315 3.4.4.1 „sui parum compos est, ut hinc filiam non agnoscat“: zur Versorgung in der Familie .................. 318 3.4.4.2 „Herberger in Prörlbadstube zu Luttach“: individuelle Unterstützungssysteme im Alter ............321 3.4.4.3 Institutionen der Altenfürsorge: Einlage und Versorgungshaus .......................................................... 325 3.4.5 Zwischenbilanz ........................................................................ 332 4 Jungen und Männer als Patienten? Ein Resümee .................................. 334
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Inhaltsverzeichnis
5 Verzeichnis der Anhänge .......................................................................... 347 6 Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................................... 6.1 Archivalien ......................................................................................... 6.2 Gedruckte Quellen und Literatur ..................................................... 6.3 Internetquellen ...................................................................................
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7 Tabellenverzeichnis ................................................................................... 7.1 Tabellen............................................................................................... 7.2 Grafiken .............................................................................................. 7.3 Abbildungen .......................................................................................
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Vorwort An welchen Orten und in welchen Räumen entsteht eigentlich Wissen? Beim Sinnieren über diese Frage kam mir unweigerlich ein Bild von Carl Spitzweg mit dem Titel „Der Bücherwurm“ in den Sinn. Spitzweg platzierte diesen Mann in ein Zimmer aus mächtigen Regalwänden, die über und über mit Büchern vollgeräumt sind. Versunken und verloren zugleich blättert der bereits ergraute Herr in einem Buch, während er ein zweites in der anderen Hand hält, ein drittes unter dem linken Arm geklemmt hat und ein viertes zwischen den Knieen. Auf einer kleinen Leiter stehend liest er so die Welt in seinen Büchern. Das Bild erweckt den Eindruck, die Aneignung und Generierung von Wissen ließe sich auf den Raum einer gut bestückten Bibliothek beschränken. Aus irgendeinem Grund war dies bei mir nicht so. Die Produktion jenes Wissens, das mit dieser Publikation seinen vorläufigen Abschluss findet, geschah bei mir in unterschiedlichen Räumen und Orten in drei verschiedenen Ländern. Im Gebäude des Staatsarchivs in Bozen verbrachte ich mehrere Monate, um das für diese Studie relevante Aktenmaterial zum Bezirk Taufers durchzusehen. Ein Stockwerk darüber befand sich das Südtiroler Landesarchiv, in dem ich immer wieder einen Blick in die originalen Krankenjournale Franz v. Ottenthals werfen konnte. Der Leiterin dieses Archivs, Dr. Christine Roilo, bin ich für die sachkundige Hilfe und die freundliche Aufnahme zu großem Dank verpflichtet, ebenso den MitarbeiterInnen in beiden Einrichtungen. Über diesen langen Zeitraum hinweg brachten sie mir geduldig die bündelweise georderten Akten an den Arbeitstisch. In Stuttgart wurde das Institut für Geschichte der Medizin aufgrund eines großzügigen Dissertationsstipendiums der Robert Bosch Stiftung für rund zweieinhalb Jahre mein wissenschaftliches Zuhause. Mit Univ.-Prof. Dr. Martin Dinges fand ich dort einen Betreuer, der für meine Fragen stets ein offenes Ohr hatte. Immer wieder zog er eine passende Monographie oder einen kürzlich erschienenen Artikel aus der Schublade, die mir bei der Beantwortung schwieriger Fragen weiterhalfen. Die inspirierende und diskutierfreudige Runde aus Institutsangehörigen, Gastvortragenden und anderen Doktoranden hatte einen maßgeblichen Anteil am Aufrechterhalten des Schreibprozesses. Die dortige Bibliothek hätte wohl Spitzwegs Bücherwurm zu Begeisterungsstürmen hingerissen, den Angestellten sei für die unkomplizierte Herbeischaffung unzähliger Titel herzlichst gedankt. Innsbruck aber stellte während der Arbeit an dieser Studie den wichtigsten Ort für mich dar. In den Projektzimmern des Instituts für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der dortigen Universität tippte ich während mehrerer Jahre Tausende von Krankengeschichten Franz v. Ottenthals in eine Datenbank, und der geradezu meditative Klang des Tastaturgeklappers brachte das Konzept für diese Arbeit mit zur Reifung. Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Dietrich-Daum von der Abteilung für Wirtschafts- und Sozialgeschichte stand mir als „Doktormutter“ die ganzen Jahre hindurch in allen Be-
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Vorwort
langen immer unterstützend zur Seite, wofür ich ihr an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Allen meinen KollegInnen bei den verschiedenen Projekten, an denen ich als Angehöriger des Instituts mitarbeiten konnte, sei ebenfalls für die Diskussionen und Anregungen gedankt, allen voran Marina Hilber, Andreas Oberhofer und Elena Taddei. Martin Mölgg und Ernst Hofer versorgten mich als „Personen vor Ort“ mit Informationen und Materialien zum Ahrntal und brachten mir den Lebens- und Wirkungsbereich Franz v. Ottenthal schnell nahe. Diese Publikation stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Sommer 2012 an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck eingereicht und mit der ich im Oktober 2012 promoviert wurde. Ohne die finanzielle Unterstützung von Seiten der Robert Bosch Stiftung, des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck sowie der dort angesiedelten Interfakultären Forschungsplattform Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen hätte diese Arbeit nie so schnell in publizierter Form erscheinen können. Allen Geldgebern möchte ich daher meinen Dank aussprechen.
1 Einleitung 1.1 Ausgangspunkte Lassen wir dieses Buch am besten mit einem Gedankenspiel beginnen. Stellen Sie sich vor, sie wären im Auftrag eines Gesundheitsmagazins in deutschen oder österreichischen Arztpraxen unterwegs, um für einen Artikel über männliches Krankheitsverhalten zu recherchieren. Die Frage nach dem genauen Anteil von männlichen Patienten an der gesamten Klientel der ausgewählten Praxen stünde wohl an oberster Stelle Ihres Interviewleitfadens. Nehmen wir also an, Sie sprächen Ärztinnen und Ärzte im beginnenden 21. Jahrhundert auf das Thema „Jungen und Männer als Patienten“ an. Vermutlich würden nicht wenige von ihnen das Gesicht in tiefe Falten legen, nachdenklich eine vor sich auf dem Schreibtisch liegende Krankenakte schließen und sich mit sorgenvollem Blick in den Sessel zurückfallen lassen. Denn die meisten der von Ihnen befragten Gewährsleute aus der Ärzteschaft dürften mit den einschlägigen Studien zur geschlechtsspezifisch ungleichen Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen vertraut sein. Vielleicht haben einige von ihnen sogar an diesen Studien mitgearbeitet, deren Inhalte und Ergebnisse populär aufbereitet und so den Weg in die Bestsellerlisten gefunden.1 Und falls nicht, würde Ihnen zumindest ein anschauliches Fallbeispiel aus der eigenen Praxis erzählt werden, das unterstreicht, welche seltene und schwierige Klientengruppe Jungen und Männer als Patienten im Vergleich zu den weiblichen Kranken darstellen. Frauen gehen eben zum Arzt und Männer nicht, so die einhellige Meinung. In der öffentlichen Debatte um die Männergesundheit werden diese Vorstellungen seit geraumer Zeit von vielen Seiten überprüft. So erhält diese Rede von der „Inanspruchnahmelücke“2 der Männer bei Arztbesuchen und bei der Nutzung medizinischer Angebote durch statistisches Zahlenmaterial eine zunehmend breite empirische Basis. Ein kurzer Beitrag aus den frühen 1980er Jahren problematisierte als eine der ersten Untersuchungen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Dienstleistungen aus einer dezidiert geschlechterspezifischer Perspektive.3 Da dieser Beitrag in einem Sammelband zur Frauengesundheitsforschung erschien, stand allerdings eine kritische Betrachtung des höheren Anteils von Frauen in den Wartezimmern im Mittelpunkt des Interesses.4 Die auf Grundlage von Material einer Allgemeinen Ortskrankenkasse erhobenen Daten zeigten, dass während des Untersuchungszeitraums zwar 74,4 Prozent aller bei die1 2 3 4
Vier aktuellere Publikationen seien hier genannt: Meryn/Kindel, Kursbuch (2000); Fischer, Frauen (2005); Voß, Frauen (2007); Kautzky-Willer/Tschachler, Gesundheit (2012). Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 297. Thiele, Inanspruchnahme, 52–59. Die Publikation aus dem Jahr 1981 war der erste Sammelband zum Thema Frauengesundheit und frauenspezifische Gesundheitsforschung im deutschsprachigen Raum. Schneider, Frauen.
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1 Einleitung
ser Einrichtung versicherten Männer mindestens einmal bei einem Arzt oder einer Ärztin waren. Bei den Frauen lag der Anteil mit 88,0 Prozent allerdings deutlich höher.5 Eine ähnliche Verteilung zwischen den Geschlechtern förderte die ebenfalls in den 1980er Jahren durchgeführte „Münchner Bluthochdruckstudie“ zutage, laut der 79 Prozent der männlichen Teilnehmer zwischen 30 und 69 Jahren einmal eine ärztliche Praxis aufgesucht hatten. Jedoch hatte auch bei dieser Untersuchung die Gruppe der Frauen in der entsprechenden Altersgruppe mit 92 Prozent bedeutend höhere Werte aufzuweisen.6 Auch hinsichtlich der stationären Aufenthalte kamen Männer auf deutlich geringere Werte, beispielsweise hatten sich diese in der erstgenannten Studie mit einem Anteil von 8,6 Prozent an allen Versicherten seltener für einen stationären Aufenthalt in ein Krankenhaus begeben als Frauen (10,2 Prozent).7 Doch nicht nur im Erkrankungsfall suchen Männer seltener medizinische Hilfe als Frauen. Wie einschlägige Studien zur Nutzung von Untersuchungen etwa zur Krebsfrüherkennung nachweisen konnten, nehmen Frauen auch bei präventiven Maßnahmen und Rehabilitationen nach operativen Eingriffen das vorhandene Angebot besser an. 1997 unterzogen sich zwar 63,2 Prozent aller anspruchsberechtigten Frauen in Deutschland (alte Länder) einer Vorsorgeuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, aber nur 16,7 Prozent aller Männer.8 Dementsprechend konnte die Rate bei der Krebsvorsorge bei Frauen verglichen mit dem Jahr 1985 einen Zuwachs von 20 Prozent verzeichnen, jene der Männer allerdings nur eine Steigerung von sechs Prozent.9 Zwar relativiert die Münchner Bluthochdruckstudie dieses geschlechterspezifische Ungleichgewicht etwas, indem sie einen Anstieg der Vorsorgeuntersuchungen bei Männern in den höheren Altersgruppen nachweist, wohingegen bei Frauen die Bereitschaft einer derartigen Maßnahme mit zunehmendem Alter sinkt.10 Trotzdem belegen diese Studien insgesamt, dass Männer Vorsorgeprogrammen offensichtlich ungleich skeptischer gegenüber stehen als Frauen. Dasselbe Bild ergibt sich für bestimmte Bereiche der Rehabilitation und der pflegerischen Nachversorgung, denen sich Männer vehementer als Frauen zu verweigern scheinen. Beispielsweise konnte hinsichtlich der Nutzung psychologischer Hilfe bei der Nachbetreuung kardiologischer Eingriffe im Zuge einer stationären Rehabilitation nachgewiesen werden, dass diese Dienste von Männern deutlich seltener nachgefragt wurden.11 Im Gegensatz dazu wurde der Frauenanteil in ambulanten „Herzgruppen“ als signifikant geringer beschrieben, was die Studienleiterin darauf zurückführte, dass Männer aufgrund weniger Verpflichtungen im Haushalt und bei der Versorgung von Angehörigen
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Thiele, Inanspruchnahme, 53 und 54 (Tab. 1). Härtel, Inanspruchnahme, 149. Thiele, Inanspruchnahme, 54 (Tab. 1). Vgl. Brähler/Goldschmidt/Kupfer, Männer, 24 (Tab. 13). Vgl. Kolip/Koppelin, Inanspruchnahme, 492 f. Vgl. Härtel, Inanspruchnahme, 150. Vgl. Worringen/Benecke, Inanspruchnahme, 512–514.
1.1 Ausgangspunkte
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sowie der größeren Mobilität mehr Ressourcen für diese Form der Nachbetreuung aufbringen hätten können.12 Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind in vielen Ländern der Europäischen Union regionale und nationale Gesundheitsberichte entstanden, die die gesundheitliche Lage von Frauen und vereinzelt auch jene von Männern13 in den Blick nehmen. Sie bestätigen die frühen Studien zur geschlechtsspezifisch ungleichen Nutzung ärztlicher Angebote, unterfüttern die „Negativstatistik“ der Männer hinsichtlich des Inanspruchnahmeverhaltens laufend mit neuem Zahlenmaterial und verleiten dazu, die männliche Unterrepräsentation in Arztpraxen gar als „gesamteuropäisches Phänomen“ zu deuten. Die Ärztin Gabriele Fischer beispielsweise beruft sich in ihrer Publikation auf eine Statistik von Eurostat, laut der im Jahre 2002 76 Prozent aller europäischen Frauen in der Altersgruppe zwischen 25 und 64 Jahren mindestens einmal im Jahr zum Arzt gingen, aber nur 69 Prozent aller Männer in der EU.14 Nun stellt die Inanspruchnahme ärztlicher Dienstleistungen einen wesentlichen Aspekt des Krankheitsverhaltens dar, mit dem die physische und psychische Gesundheit wieder hergestellt werden soll. Und wie es scheint, weisen bei diesem Verhalten die empirischen Studien in der Tat auf bedeutende geschlechtsspezifische Unterschiede hin. Wer könnte es den von Ihnen befragten Ärztinnen und Ärzten angesichts der zahlreichen Befunde also verübeln, wenn sie auf die gestellte Frage nach Jungen und Männern als Patienten mit einem resignierenden, vielleicht auch mitleidigen „Vorsorgemuffel“15, „Gesundheitsanalphabeten“16 oder „beratungsresistente Gesundheitsidioten“17 antworten. In Disziplinen wie der Medizinsoziologie oder den Gesundheitswissenschaften findet eine breit geführte Auseinandersetzung mit Aspekten der Männergesundheit erst seit den 1990er Jahren statt. In dieser frühen Phase der zeitgenössischen Männergesundheitsforschung wurden für die im Vergleich zu Frauen mangelnde Inanspruchnahme medizinischer Hilfe von Seiten der Männer in erster Linie männliche Rollenerwartungen und Geschlechtsstereotype verantwortlich gemacht, die Männer eben zu wenig gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen wie eine Nichtthematisierung von körperlichen Beschwerden verleiten würden. In den zahlreichen „Männerratgebern“ dieser Zeit bekam „mann“ schnell eine Antwort auf die Frage, welchen Einfluss Männlichkeitsbilder auf das geschlechtsspezifische Gesundheits- und Krankheitsverhalten hätten. Peter Lauster etwa, der Ende der 1980er Jahre eines der auflagestärksten Bücher dieses Genres geschrieben hatte, klärte den bewegten 12 13
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Vgl. Härtel, Unterschiede, 172 f. Als „Pionierarbeit“ gilt Rieder-Schmeiser/Kunze, Männergesundheitsbericht (1999); es folgten für Österreich noch Habl, Männergesundheitsbericht (2004), und für Deutschland Bardehle/Stiehler, Männergesundheitsbericht (2010). Fischer, Frauen, 25. Meryn/Kindel, Kursbuch, 29. Kautzky-Willer/Tschachler, Gesundheit, 71. Dinges, Männer [2009], 19 (allerdings als Frage formuliert).
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1 Einleitung
Mann auf, dass die traditionelle Männerrolle nach „Selbstbeherrschung, Disziplin, Gefühlskontrolle und Unterdrückung von Gefühlen der Hilflosigkeit, Unsicherheit und Angst“ 18 verlange. Und das wären nun einmal allesamt Anforderungen, die sich nur schwer mit einem Gefühl des „Ausgeliefertseins“ während einer ärztlichen Untersuchung vereinbaren lassen würden. Ist es demnach verwunderlich, wenn in der öffentlichen Debatte zur Männergesundheit großteils die Meinung vorherrscht, Männer würden generell einen sorglosen Umgang mit dem eigenen Körper pflegen und die Möglichkeit einer frühen Erkennung von Krankheiten durch entsprechende Vorsorgeuntersuchungen kaum zu schätzen wissen? Dass sie zu sehr am Ideal männlicher Selbstkontrolle und Selbständigkeit festhalten würden, um den frühzeitigen Gang in eine ärztliche Praxis nicht als unmännlich zu empfinden? Dass sie sich erst dann um ärztlichen Rat umsehen, wenn sie ernsthaft erkrankt sind?19 Das akribisch zusammengetragene Zahlenmaterial aus Krankenhäusern, Kliniken, Arztpraxen und Rehabilitationseinrichtungen würde eindrücklich belegen, dass Männer „an einer gesunden Lebensführung und an ihrer eigenen Gesundheit weit weniger interessiert [sind] als Frauen“20. Da Männer zudem dem Arzt oder der Ärztin gegenüber wenig Mitteilungsbedürfnis ihre Beschwerden betreffend entgegenbrächten und überhaupt selten über persönliche Befindlichkeiten sprechen möchten, seien sie eben prinzipiell „schwierige Patienten“21. Das Ergebnis dieser Orientierung an dem vorherrschenden Männlichkeitsmodell und dieser Wahrung von Geschlechterrollen könne aus unzähligen Statistiken, Berichten und Studienreihen der Gesundheitsämter deutlich abgelesen werden: Eine in den Industrieländern um rund sechs Jahre geringere Lebenserwartung von Männern gegenüber Frauen und spezifisch männliche Gesundheitsprobleme wie Lungenkrebs oder Herzinfarkt. 1.2 Forschungsfragen In den Geschichtswissenschaften und in der sozialgeschichtlich ausgerichteten medizinhistorischen Forschung rücken Fragestellungen und Themen, die sich mit der historischen Dimension von Gesundheit und Krankheit von Männern beschäftigen, ebenfalls erst seit gut zwei Jahrzehnten in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses.22 Untersuchungen zum Inanspruchnahmeverhalten von Männern in früheren Jahrhunderten und darüber, welche Auswirkungen die zu diesen Zeiten gängigen Vorstellungen von Männlichkeit auf deren
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Lauster, Irrtümer, 110. In dieser Häufung mehr oder weniger nachzulesen im entsprechenden Abschnitt bei Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 103–148. 20 Kautzky-Willer/Tschachler, Gesundheit, 15. 21 Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 136. 22 Vgl. dazu den diesbezüglichen Forschungsüberblick von Dinges/Weigl, Männergesundheit, 191–199.
1.2 Forschungsfragen
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krankheitsbezogene Verhaltensweisen hatten, sind demnach rar.23 Die ebenfalls noch überschaubaren Arbeiten zu historischen Arztpraxen untersuchten das Material nur selten auf diese geschlechtsspezifische Fragestellung hin. Und wurde die Frage nach der Geschlechterverteilung von Patientinnen und Patienten behandelt, beschränkten sie sich Großteils auf die kontrastierende Gegenüberstellung der weiblichen mit der männlichen Genusgruppe.24 Der deutsche Medizinhistoriker Martin Dinges unterzog die entsprechenden Daten zu historischen Arztpraxen erstmals einem systematischen Vergleich, um sich der Fragestellung nach dem geschlechtsspezifischen Patientenaufkommen zu nähern. Er stellte fest, dass sich der heute zu beobachtende Überhang an weiblichen Patienten eigentlich erst zwischen 1850 und 1870 in dieser deutlichen Form herausgebildet hatte.25 Von diesem Zeitraum an herrschte ein Verhältnis von rund 40 Prozent männlichen und 60 Prozent weiblichen Patienten in den ärztlichen Praxen, und zwar auffallend kontinuierlich bis heute. Vorher wären je nach spezifischem Aufgabenprofil eines Arztes (etwa in der Spezialisierung auf äußere Verletzungen) einmal Männer überrepräsentiert gewesen, ein anderes Mal Frauen. Für bestimmte Perioden wären zudem Männer ungleich häufiger in Arztpraxen vorzufinden gewesen als Frauen. Der von Martin Dinges herausgearbeitete Befund findet bei einer ersten Abfrage der jährlichen Zahlen zu Männern und Frauen in der in dieser Arbeit untersuchten Praxis des Südtiroler Landarztes Franz v. Ottenthal (1818–1899) eine Bestätigung. Wie Grafik 1.1 zur Geschlechterverteilung in dieser Arztpraxis zwischen 1850 und 1899 zeigt, übertraf in ausnahmslos allen Jahren die absolute Zahl der weiblichen Patienten jene der männlichen deutlich. Kann aufgrund dieser Grafik zur statistischen Verteilung des Patientenaufkommens daher schon für die Zeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts davon gesprochen werden, dass die (männliche) Bevölkerung des Tauferer Ahrntales einem hegemonialen Männlichkeitsmodell nacheiferte, nach dem auch schon „Indianer des 19. Jahrhunderts“ keinen Schmerz zeigen durften und die Sorge um den eigenen Körper weiblich, und somit unmännlich, konnotiert war? Wollten Männer in dieser Region jene gesellschaftlich an sie herangetragene Erwartung von Männlichkeit erfüllen, „that they schould be able to manage
23 Bislang sind im deutschsprachigen Raum nur zwei Dissertationen zu Themen der Männergesundheit aus historischer Perspektive erschienen. Schweig, Gesundheitsverhalten (2009), und Hoffmann, Alltag (2010). Die Magisterarbeit von Hoffmann zu den Einstellungen Ulrich Bräkers zu Gesundheit und Krankheit wurde 2005 publiziert. Eine einschlägige schwedische Studie aus dem Jahre 1999 ist nur für des Schwedisch Mächtige zu lesen, auch wenn eine englische Zusammenfassung über die wichtigsten Ergebnisse informiert. Willner, Det svaga könet, 283–298. Zahlreicher sind Beiträge und Artikel zu ausgewählten Aspekten, etwa von Schmidt, Arbeitsleute, 105–127, die jedoch allesamt in keine Monographie mündeten. 24 Vgl. etwa die Beiträge in einem Sammelband zu Arztpraxen von Papsch, Auswertung, 139; Hess, Alltag, 97 f.; Oberhofer, Landarztpraxis, 181 f. 25 Vgl. Dinges, Paradigmen, 31–33. Genaue Zahlenangaben zu den einzelnen Praxen bei Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 303–306.
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1 Einleitung
Grafik 1.1: Jährliche Verteilung der Patienten Franz v. Ottenthals nach Geschlecht (1850–1899) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1850–1899.
problems by themselves“26? Ist die Unterrepräsentation von Männern in der Praxis Ottenthals folglich Ausdruck eines spezifisch männlichen Umgangs mit Krankheit, der Männer bei der Bewältigung einer Erkrankung prinzipiell seltener ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen ließ als Frauen? Oder ist die Tabelle eher Ausdruck jener „asymmetrischen Medikalisierung“27, die den weiblichen Geschlechtskörper ungleich früher pathologisierte und als von Natur aus behandlungsbedürftiger ansah als den geschlechtlichen Körper des Mannes?28 Die in den aktuellen Debatten der Männergesundheitsforschung häufig vertretene These, Männer würden deswegen seltener in Arztpraxen anzutreffen sein, weil sie sich nicht so stark als verletzliches Geschlecht wahrnehmen würden wie Frauen, stützt sich auf ein spezifisches Bild von Männlichkeit. Dieses Leitbild des abgehärteten und selbstkontrollierten Mannes hätte sich im 20. Jahrhundert gesellschaftlich durchgesetzt und gilt allgemein als akzeptiert.29 Es hätte alternative Formen von Männlichkeit marginalisiert und nicht zuletzt durch die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert mit ihrer Propagierung eines soldatischen Männerkörpers seine hegemoniale Stellung erlangt.30 Wenn etwa Kautzky-Willer und Tschachler einen Abschnitt ihres 2012 erschienenen Buches über die männliche und weibliche Seite der Medizin mit dem 26 White/Witty, Men’s under use, 96. 27 Wöllmann, Andrologie [2004], 261. 28 Vgl. den „Klassiker“ zu dieser Thematik aus dem Jahre 1979 von Fischer-Homberger, Krankheit. 29 Vgl. dazu die Argumentation von Wolfgang Schmale in: Schmale, Geschichte, 195–203. Für das 20. Jahrhundert vgl. Hanisch, Männlichkeiten. 30 Einen Überblick über die Vielfältigkeit von Männerbildern gibt der Sammelband von Kühne, Männergeschichte. Die einzelnen Beiträge im Sammelband von Dinges, Männer – Macht – Körper, beleuchten alternative Männlichkeiten vor dem Hintergrund des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit.
1.2 Forschungsfragen
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Titel „Der Kämpfer und die Kümmerin“31 einleiten, so operationalisieren sie genau dieses Deutungsmuster von Männlichkeit für die Bereiche Gesundheit und Krankheit. Sehr verallgemeinernd kontrastieren sie die als homogen gedachte Gruppe der Männer mit jener der Frauen, denen jeweils spezifische Verhaltensweisen zugeschrieben werden. In ihren erläuternden Ausführungen reproduzieren sie dabei die These, Männer gingen sorglos mit ihrem Körper um, weshalb erste Symptome einer Beschwerde übergangen und verharmlost würden. Für die „Kämpfer“ seien Arztkontakte ein notwendiges Übel zu Reparierung von Schäden. Im Gegensatz dazu führe die Körpersensibilität von Frauen zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit kleinster Leiden, die unter Freundinnen besprochen und in der Arztpraxis ausführlich problematisiert würden. Auch wenn die Wortwahl dieses Zwischenkapitels ein breites Publikum ansprechen und vielleicht gerade durch die Plakativität zum Weiterlesen animieren soll, legen Worthülsen wie „der Kämpfer“ Assoziationen nahe. Nämlich jene, dass es sich dabei um ein für alle Männer in allen Zeiten gleiches Erziehungsziel handele, das sich als anthropologische Konstante durch die männliche Sozialisation ziehe. Diese These von einer generell geringeren Körperreflexivität von Männern wird in der vorliegenden Arbeit anhand der Krankenakten des Südtiroler Landarztes Franz v. Ottenthal (1818–1899) zu überprüfen sein. Nun zwingt bereits die Durchsicht einiger weniger Fallbeispiele in den Historiae Morborum zu einer differenzierten Betrachtung dieser aus aktuellen Befunden abgeleiteten These. Ein 45-jähriger Mann etwa suchte Franz v. Ottenhal über Jahre hinweg offenbar dermaßen häufig aufgrund von vagen Leiden, Beschwerden und Gesundheitsproblemen auf, dass der Arzt im Jahre 1866 den knappen Eintrag, der Patient litte an der Leber, mit dem Zusatz „Hypochonder“ kommentiert.32 Auch das Bedürfnis eines 45-jährigen Mannes, sich mit dem Arzt über seine Leiden zu unterhalten, stößt bei Ottenthal auf wenig Verständnis. „[U]t videtur hypochonder vult aeger esse et nequit symptomata morbosa adferre“ 33, notiert der Arzt im August 1870 über die in seinen Augen übertriebene Klagsamkeit seines Patienten. Männer nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Anzeichen einer Erkrankung also durchaus ernst und stuften diese als behandlungsdürftig ein. Ottenthal schien mit der seiner Ansicht nach übertriebenen Jammerei dieser Männer allerdings nur wenig anfangen zu können, was ihn dazu verleitete, diese schlichtweg als „Hypochonder“ zu bezeichnen. Keine Rede sein konnte von einer Verdrängung von Gesundheitsproblemen oder von einem fatalistischen Umgang mit dem Körper auch bei jenem 43-jährigen Mann, der im April 1860 Ottenthal präventiv um die Zusammenstellung eines Laxans ersuchte, weil er sich so vor einem vermutlich in seinem 31 Kautzky-Willer/Tschachler, Gesundheit, 62–89. 32 [„45 ann jam ex multis annis hepate patitur hypochonder“]. („45 Jahre der Hypochonder leidet schon seit vielen Jahren an der Leber“). HM 957/1866, Eintrag vom 10.8.1866. 33 („45 Jahre wie es scheint möchte der Hypochonder krank sein und er kann keine Krankheitssymptome anführen“). HM 961/1870, Eintrag vom 18.8.1870.
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1 Einleitung
Dorf gerade epidemisch herrschenden Typhus schützen wollte.34 Ein 30-jähriger Mann wiederum, der jeweils im April der Jahre 1858 und 1860 den neuerlichen Ausbruch einer bereits vor Jahren behandelten Syphilis fürchtete, handelte ebenfalls in größter Sorge um seine Gesundheit.35 Im Widerspruch zu der These, dass Männlichkeit durch eine „gesundheitlich ‚kontraproduktiv‘[e]“36 Selbstkontrolle und Emotionslosigkeit gekennzeichnet wäre, steht auch das Beispiel eines 58-jährigen Mannes, der 1866 wegen eines Durchfalls in der Praxis Ottenthals auftauchte. Der Arzt notierte im Zuge der Anamnese, dass der Mann von großer Trauer über den Tod seiner Gattin befallen wäre, und brachte die Verdauungsprobleme seines Patienten offensichtlich mit diesem emotionalen Ausnahmezustand in Zusammenhang.37 In den einzelnen Kapiteln der vorliegenden Arbeit werden noch zahlreiche weitere Krankengeschichten angeführt, die gegen die These der geringeren Thematisierung von Krankheit und Gesundheit und des rücksichtslosen Umgangs mit dem eigenen Körper durch Männer im Krankheitsfalle sprechen, und die eher dazu zwingen, den Kontext, in welchen die Männer ihre Beschwerden vorbringen, und die speziellen Bedürfnisse hinter ihrem Arztbesuch genauer in den Blick zu nehmen. Aber schon aus diesen wenigen Fallgeschichten ergeben sich einige Fragekomplexe, die ich in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit zu beantworten versuche. Lässt sich die aus Grafik 1.1 deutlich ablesbare Überrepräsentation von Frauen in der Arztpraxis Ottenthal eigentlich in jeder Altersgruppe finden oder gab es Lebensabschnitte, in denen Männer im Vergleich zu Frauen häufiger einen Arzt in Anspruch nahmen? Inwiefern ist der Umgang mit Krankheit von Männern in den unterschiedlichen Altersstufen mit für diesen Lebensabschnitt gesellschaftlich wirkungsmächtigen Männlichkeitsbildern verknüpft? Mit welchen spezifischen Bedürfnissen kamen Männer in den verschiedenen Lebensphasen denn nun überhaupt zu Franz v. Ottenthal? Schließlich ist davon auszugehen, dass sich die Gesundheitsgefährdungen und Erkrankungsrisiken eines Säuglings grundlegend von jenen eines gealterten Mannes unterschieden haben. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwiefern Ottenthals Funktion als privater Allgemeinarzt das geschlechtsspezifische Diagnosespektrum beeinflusst hat, beispielsweise indem sich die in einem Raufhandel verletzten Männer wegen eines ärztlichen Zeugnisses eher an den Gemeinde- und Gerichtsarzt Dr. Daimer wandten als an den Privatarzt Dr. Ottenthal.38 34 [„43 ann. laxans desiderat energicum quia typhum timet“]. HM 633/1860, Eintrag vom 29.4.1860. 35 HM 687/1858 und 522/1860, Einträge vom 30.4.1858 und vom 11.4.1860. 36 Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 145. 37 [„58 ann mörore adfectus ob mortem maritae ex 8 diebus diarrhoea“]. („58 Jahre von Trauer wegen des Todes der Gattin befallen seit 8 Tagen Durchfall“). HM 151/1866, Eintrag vom 24.2.1866. 38 Zur Bedeutung der Dienstleistung „Ausstellen eines ärztlichen Zeugnisses“ für einen von den Behörden damit beauftragten Arzt vgl. für den Kanton Bern Gafner, Zeugnisse, 95– 109.
1.3 Begriffliche Erklärungen: „Krankheitsverhalten“ und „Patient“
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1.3 Begriffliche Erklärungen: „Krankheitsverhalten“ und „Patient“ Am 11. Juni 1897 kam Stephan Mair unter der Eggen*39 in die Praxis Franz v. Ottenthals. Der 66-jährige Mann aus dem nicht weit vom Wohnort des Arztes entfernt liegenden Dorfe Uttenheim hatte wenige Tage zuvor vom Gemeindearzt des Bezirks, Dr. Erlacher, ein Senfpflaster „contra coxalgiam dextram“ 40 verschrieben bekommen. Da sich die Beschwerden aber nicht gebessert hatten, sondern im Gegenteil das aufgelegte Pflaster „malum auxit“ [“das Übel vergrößerte“], begab sich der bereits zum wiederholten Male von Gelenkschmerzen heimgesuchte Mann dieses Mal zu Ottenthal, von dem er sich wohl eine effektivere Hilfe erwartete. Ob die von diesem Privatarzt verabreichte Medikation dem Mann tatsächlich geholfen hat, ist aufgrund der lediglich einmaligen Inanspruchnahme Ottenthals durch diesen Patienten nicht überliefert. Schriftlich dokumentiert wurde allerdings, dass Mair unter der Eggen* hinsichtlich seiner Koxalgie41 offensichtlich ein bestimmtes Krankheitsverhalten an den Tag legte. Dazu gehörte das Bestreben, ein auftretendes Symptom durch das Aufsuchen professioneller medizinischer Hilfe zu beseitigen, bei ausbleibendem Erfolg der Behandlung den Arzt zu wechseln und eine andere Therapie einzufordern. Die moderne Gesundheitspsychologie würde diese Handlungsweise Mair unter der Eggens* hinsichtlich seiner Erkrankung wohl unter den Oberbegriff des „illness behavior“42 zu fassen versuchen. Für die historische Beschäftigung mit Gesundheit und Krankheit gehört diese Perspektive auf die Praktiken und Strategien von Erkrankten im Umgang mit ihren Leiden, zu den subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen mit dem kranken Körper seit den 1990er Jahren unter dem Schlagwort „Patientengeschichte“ zu den Paradigmen einer Sozialgeschichte der Medizin.43 Wie der Überblick zur relevanten Literatur aus diesem Feld der Medizingeschichte zeigen wird, legen allerdings nur wenige Autorinnen und Autoren dezidiert den Faktor Gender als Analysekategorie ihren patientenorientierten Forschungsarbeiten zugrunde. Der Titel der vorliegenden Untersuchung „Jungen und Männer als Patienten“ verweist somit auf eine bestimmte Perspektive, mit der ich mich in den qualitativen Teilen der Arbeit dem Fragenkomplex des männlichen Krankheitsverhaltens annähern möchte. Im Fokus stehen die (männlichen) Patienten, die weniger als passive „Opfer“ ihrer Erkrankung 39 Aus Datenschutzgründen handelt es sich bei einem mit * gekennzeichneten Säugling um ein Pseudonym. Dazu mehr auf Seite 55. 40 HM 776/1897, Eintrag vom 11.7.1897. 41 Unter „coxalgia“ wird ein Hüftschmerz bzw. Schmerzen im Hüftgelenk verstanden. Duden, Wörterbuch, 425. 42 Neben dem von David Mechanic geprägten Terminus des „Krankheitsverhaltens“ gehört der durch Talcott Parsons bekannt gewordene Begriff der „Krankenrolle“ zu den Leistungen der US-amerikanischen Medizinsoziologie der 1950er und 1960er Jahre. Vgl. Mechanic, Concept, 192 f. 43 Dinges machte in einem 2011 erschienenen Forschungsüberblick vier wegweisende Paradigmen aus, die die Sozialgeschichte der Medizin in den letzten 30 Jahren bestimmt hätten. Vgl. Dinges, Paradigmen, 11–15.
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1 Einleitung
denn als strategisch handelnde Subjekte Franz v. Ottenthal ihre Beschwerden und Leiden schilderten. Daher soll im Folgenden kurz erläutert werden, wie ich die beiden Begriffe „illness behavior/Krankheitsverhalten“ und „Patient/ in“ in dieser Arbeit verwende und inwiefern ich mit dieser Studie innerhalb einer Sozialgeschichte der Medizin einer patientenorientierten Medizingeschichtsschreibung verpflichtet bin. 1.3.1 „Krankheitsverhalten“ Der Begriff des „Krankheitsverhaltens“ wurde in den 1960er Jahren im Umfeld der frühen Medizinsoziologie geprägt und beschreibt die von einem Individuum gewählten Strategien, mit einem auf eine Erkrankung hindeutenden Symptom oder mit einer bereits ausgebrochenen Krankheit umzugehen.44 In der interdisziplinär ausgerichteten Verhaltensmedizin ist dieses Konzept von großer Relevanz, um etwa die Gründe für die im Gesundheitssystem häufig festgestellte Nichtbefolgung von ärztlichen Verordnungen (Non-Compliance) zu beleuchten oder um subjektive Einstellungen und Verhaltensweisen bei der Bewältigung von Krankheitserfahrungen (Coping) empirisch zu untersuchen.45 Die Gesundheitspsychologie ist sich mittlerweile einig, dass die Entscheidungsfindung, wie auf einen Zustand des sich krank Fühlens oder auf einen mitgeteilten klinischen Befund letzten Endes reagiert wird, in mehreren Phasen abläuft.46 In einem ersten Schritt nimmt die Person ein Symptom wahr und definiert dieses für sich als belastenden Zustand, der nicht dem sonstigen körperlichen Empfinden von „gesund“ entspricht. Aus dieser auf Wissen, Annahmen und Deutungen basierenden Interpretation47 heraus erfolgt eine Bewertung der Situation, welche die entsprechenden Verhaltensweisen in Gang setzt, wie auf die Symptome oder die Krankheit reagiert wird. Die gewählten Strategien können von medizinischer Selbsthilfe über religiöse Bittgänge bis hin zu ärztlicher Inanspruchnahme reichen, schließen aber auch das Ausbleiben jeglicher Versuche zur Linderung der erlebten körperlichen oder seelischen Beschwerden nicht aus. Mit diesem Fokus auf die Reaktionen auf ein subjektives Krankheitsgefühl bzw. nach der Mitteilung einer klinischen Diagnose unterscheidet sich das „illness behavior“ (Krankheitsverhalten) vom „health behavior“ (Gesundheitsverhalten). Denn dieser Begriff umfasst als „Oberbegriff für gesundheitsförderndes und für riskantes Handeln“48 jene Verhaltensweisen, einen als „ge44 Vgl. Renner, Krankheitsverhalten, 322; Muthny/Broda, Krankheitsverhalten, 210; von Troschke, Gesundheits- und Krankheitsverhalten, 529. 45 Vgl. Muthny/Broda, Krankheitsverhalten, 209–213. 46 Siehe dazu am Beispiel der Stressbewältigung die Erläuterungen bei Schwarzer, Psychologie, 137–202. 47 Zum Begriff der subjektiven Krankheitstheorie siehe Amann/Wipplinger, Relevanz, 157– 159. 48 Schwarzer, Psychologie, 5.
1.3 Begriffliche Erklärungen: „Krankheitsverhalten“ und „Patient“
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sund“ wahrgenommenen körperlichen und seelischen Zustand zu erhalten bzw. präventiv zu verbessern. Die gewählten Praktiken reichen von sportlicher Betätigung oder Einstellung des Rauchens bis zur täglichen Zahnpflege oder zum Kondomgebrauch.49 Die Verwendung von Begrifflichkeiten wie „Verhalten“ oder „Einstellungen“ betont dabei die Perspektive auf die Handelnden selbst sowie auf deren konkrete Strategien und Praktiken, mit Krankheit umzugehen bzw. auf einen Zustand von Unwohlsein mit kurativen Maßnahmen zu reagieren. In den Geschichtswissenschaften formulierte die Historikerin Francisca Loetz vor dem Hintergrund einer derartigen Wahrnehmung von Individuen als aktiv und bewusst handelnde Subjekte ihre Kritik an einer allzu machtzentrierten Medikalisierungsthese,50 der die Autorin anhand regionaler Quellen zum Herzogtums Badens des 18. bis 19. Jahrhunderts eine Medikalisierung „von unten“ entgegenhielt.51 Aus dieser handlungstheoretischen Perspektive erscheinen zudem auch vom konventionellen Medizinbetrieb als „irrational“ bewertete Bewältigungsstrategien wie Wallfahrten oder die Inanspruchnahme des medikalen Laiensystems als „angemessenes“ Verhalten bei der Bewältigung von Krankheit. Kritisch zu sehen ist an diesem aus der Zeit der 1960er Jahre stammenden Modell der Medizinsoziologie die implizite Annahme, einer subjektiven Beschwerde müsse immer ein eindeutiger medizinischer Befund folgen, der letztlich die Mechanismen zur definitiven Krankheitsbewältigung in Gang setze. Diese Vorannahmen führen v. a. dann zu Missverständnissen in der Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin, wenn für Schmerzen keine organische Grundlage gefunden werden kann. Vertreterinnen und Vertreter des Gesundheitssystems würden sich in derartigen Fällen mit Ausweichdiagnosen wie „Hypochondrie“ oder „Psychosomatik“ behelfen und von einem „unangemessenen Krankheitsverhalten“ sprechen. Im Gegensatz dazu sähe man die Nichtinanspruchnahme von medizinischer Hilfe und die Missachtung ärztlicher Ratschläge vereinfachend als „krankheitsverleugnendes Verhalten“.52 In der folgenden Untersuchung definiere ich Krankheitsverhalten in diesem Sinne allgemein als „Verhaltensweisen in der Auseinandersetzung mit eigenen Beschwerden und Befindlichkeitsstörungen, die als Krankheit interpretiert werden“53. Als ein Aspekt des „illness behavior“ gerät somit speziell die Inanspruchnahme der Privatpraxis des Südtiroler Landarztes Franz v. Ottenthals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Möglichkeit der Krankheitsbewältigung in den Blick. Denn wie die eingangs erwähnte Kran49 Vgl. von Troschke, Gesundheits- und Krankheitsverhalten, 530–551. Aus historischer Perspektive siehe die entsprechenden Abschnitte in der Untersuchung von Hoffmann, Alltag, 120–199. 50 Zur Verwendung des Konzepts der Medikalisierung in der Medizingeschichte siehe den Überblick bei Eckart/Jütte, Medizingeschichte, 312–318. 51 Loetz, Kranken, 227–252. 52 Muthny/Broda, Krankheitsverhalten, 218. 53 Von Troschke, Gesundheits- und Krankheitsverhalten, 529.
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1 Einleitung
kengeschichte des Mair unter der Eggen* und dessen Nutzung mehrerer Ärzte zeigte, konnten sich die von einem Leiden betroffenen Männer und Frauen im Tauferer Ahrntal zwar letzten Endes für die Nutzung der therapeutischen und medikamentösen Angebote des Privatarztes Ottenthal entscheiden, um auf die Bedrohung einer Erkrankung oder eines als gesundheitsbedrohend empfundenen Symptoms zu reagieren. Diese Möglichkeit stellte aber nur eine von mehreren Optionen im Umgang mit einer Erkrankung dar, oder wie Roy Porter es 1985 ausdrückte: „What we habitually call primary care is in fact secondary care, once the sufferer has become a patient, has entered the medical area.“54 1.3.2 „Patient“ und „Patientengeschichte“55 Mitte der 1980er Jahre kritisierte Roy Porter, dass in der bisherigen medizinhistorischen Forschung die vielfältigen Interaktionen zwischen Arzt und Kranken fast durchgehend aus dem Blickwinkel der Ärzte interpretiert wurden, und er forderte die Medizingeschichte auf „bringing the sufferers back in“56. Seither flochten viele Forschende diese eingeforderte Perspektive der Patientinnen und Patienten in ihre Untersuchungen mit ein und Tagebücher, Autobiographien, private Briefe und Patientenbriefe avancierten zu einer wichtigen Quelle, um sich früheren Auffassungen zu Gesundheit und Krankheit sowie vergangenem Krankheitserleben anzunähern.57 So werteten Jens Lachmund und Gunnar Stollberg über 700 gedruckte Autobiographien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert dahingehend aus, wie medizinische Laien ihre körperlichen Beschwerden reflektierten und im jeweils vorherrschenden medizinischen System verorteten.58 Diesen Interessenswandel weg von einer Geschichte der Institutionalisierung und Professionalisierung medizinischer Dienstleistungen hin zu Deutungen von körperlichen Vorgängen durch die betroffenen Subjekte selbst vollzogen auch Nachbardisziplinen wie die Sozialwissenschaften und die außereuropäischen und europäischen Ethnologien.59 54 Porter, Patient’s View, 194. 55 Dieser Abschnitt verwendet Samples aus einem 2007 erschienenen Artikel: DietrichDaum/Unterkircher, Medical History, 75–92. 56 Porter, Patient’s View, 175–198. 57 Einen aktuellen Überblick über eine „Medizingeschichtsschreibung von unten“ geben Eckart/Jütte, Medizingeschichte, 181–190 sowie Wolff, Perspektiven, 311–334. Auskunft über die Vielfalt möglicher Quellen zur Patientengeschichte geben die einzelnen Beiträge eines Sammelbandes, der aus einem 2007 abgehaltenen Stuttgarter Fortbildungsseminar entstanden ist. Vgl. Osten, Patientendokumente. 58 Lachmund/Stollberg, Patientenwelten. 59 Als ausgewählte Beispiele seien etwa erwähnt das interdisziplinäre Forschungsprojekt über LaienheilerInnen unter der Leitung des Soziologen Obrecht, Klienten, sowie die Arbeit der Grazer Volkskundlerin Haas, Leben. Aktuelle Forschungsschwerpunkte der „neuen Volksmedizinforschung“ reflektieren auch die Vorträge des bis 2009 alljährlich in Würzburg stattgefundenen Treffens des „Netzwerk Gesundheit und Kultur in der Volks-
1.3 Begriffliche Erklärungen: „Krankheitsverhalten“ und „Patient“
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„Denjenigen das Wort erteilen, die es normalerweise nicht ergreifen“, wollten etwa die beiden französischen Soziologinnen Claudine Herzlich und Janine Pierret in ihrer Arbeit aus dem Jahre 1991, für die sie neben historischen Dokumenten und literarischen Zeugnissen auch rund 300 Interviews, die sie im Verlauf von 20 Jahren mit Patientinnen und Patienten geführt hatten, nach Aspekten des Krankheitsverhaltens und der Krankheitsbewältigung auswerteten.60 Christine Holmberg untersuchte in ihrer Studie das Krankheitserleben von Frauen mit Brustkrebs und arbeitete heraus, wie die betroffenen Frauen durch die Maßnahmen und Kampagnen zur Früherkennung von Brustkrebs plötzlich mit dem Zustand des „Krankseins“ konfrontiert wurden, ohne sich tatsächlich krank zu fühlen.61 Denn das Verfahren der Mammographie spürt schon kleinste Tumore auf, die an sich im subjektiven Fühlen der Frauen keine körperlichen Beschwerden auslösen. Diese werden erst nach der Operation und der langwierigen Nachbehandlung für sie fühlbar. Vera Kalitzkus zeigte anhand ihrer Interviews mit Empfängern einer Organspende und von Angehörigen der Personen, die ein Organ spendeten, wie die ehemals Schwerkranken das Wissen um ein fremdes, in den eigenen Körper transplantiertes Organ verarbeiten und wie sehr dadurch das Körpererleben beeinflusst wird.62 Die Einbeziehung von Angehörigen der Organspender in die Studie, die eigentlich keine „Kranken“ oder „Patienten“ im klassischen Sinne darstellen, zeigt, welch ein weites Feld die Umsetzung einer Patientenperspektive zumindest in der medizinanthropologisch ausgerichteten Forschung mittlerweile eingenommen hat. Beide Autorinnen arbeiten dabei mit dem ethnologischen Methodenapparat der teilnehmenden Beobachtung und der narrativen Interviews. Durch diesen ethnologischen Blick von außen können die von den Forschenden im Erkenntnisprozess auftretenden „Fremdheitseffekte“63 nutzbar gemacht werden und vermeintlich Selbstverständliches am modernen System medizinischer Versorgung als spezifisch kulturgebundene Phänomene erkannt werden. Vor allem jüngere Vertreter und Vertreterinnen der Medizingeschichte sehen im theoretischen Zugang und in der Methodik der Kulturwissenschaften interessante Perspektiven, um den in der eigenen Forschungsdisziplin oftmals immer noch als Entität aufgefassten Untersuchungsgegenstand „Medizin“ auf produktive Wiese zu destabilisieren und zu dynamisieren.64 Allerdings stehen abgesehen von Forschungen zur Zeitgeschichte der Medizin in der Medizingeschichte früherer Epochen die beteiligten Akteurinnen und Akteure für Interviews und Befragungen aus einer patientenorientierten Perspektive nicht mehr zur Verfügung. Direkte Aussagen und subjektive Er-
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kundlichen Forschung“, die für einige Jahre in der Bremer Reihe „Volkskunde & historische Anthropologie“ auch publiziert vorliegen. Herzlich, Claudine/Pierret, Janine, Kranke gestern, Kranke heute. Die Gesellschaft und das Leiden, München 1991 (Zitat: 11). Holmberg, Diagnose. Kalitzkus, Leben. Eschenbruch, Überlegungen, 68. Vgl. Hofer/Sauerteig, Perspektiven, 117.
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lebnisberichte zu Krankheit und Gesundheit müssen daher über andere Quellen gesucht werden. Selbstzeugnisse in Form von Tagebüchern, privater Korrespondenz oder Gerichtsprotokollen rücken daher seit den 1990er Jahren vermehrt ins Interesse von medizinhistorisch Forschenden, um historisches Körpererleben, Krankheitserfahrungen und Gesundheitsverhalten zu untersuchen. Nahezu unüberblickbar sind mittlerweile die Arbeiten zur Körpergeschichte, die im Umfeld der historischen Anthropologie vergangene Körpererwahrnehmungen im alltäglichen Handeln zu beschreiben versuchen.65 Viele dieser Untersuchungen bauen auf die 1987 veröffentlichte und besonders im deutschsprachigen Raum breit rezipierte Doktorarbeit von Barbara Duden auf.66 Darin legt Duden anhand der exemplarischen Analyse der bis ins 19. Jahrhundert hinein beliebten Textgattung der ärztlichen Fallsammlung – es handelt sich dabei um die achtbändigen „Kranckheiten der Weiber“ des Eisenacher Arztes Johannes Storch (erschienen 1747–1752) – Körpervorstellungen und Krankheitsauffassungen seiner Patientinnen auf faszinierende Weise frei. Zugleich zeigt sich bei Dudens Buch aber auch die Problematik solcher Quellentexte für die Medizingeschichtsschreibung aus Sicht der Patientinnen und Patienten. Lässt sich die mitgeteilte Leibwahrnehmung der Kranken wirklich so eindeutig von der Sicht des behandelnden Arztes trennen? „Der Körper, den er darstellt, entsteht durch seine Aufzeichnung“67, weist Duden auf die sprachliche Überformung der von ihr untersuchten Körperbeschreibung durch Johannes Storch selbst hin. In seinem Buch zu Körperund Krankheitsdeutungen des 16. bis 18. Jahrhunderts wirft Michael Stolberg in Auseinandersetzung mit Dudens Körpergeschichte daher die Frage auf, inwiefern man „[…] über die Schilderungen des Arztes tatsächlich zur Körpererfahrung der betroffenen Frauen vordringen kann […]“68. Stolberg zieht die wörtliche Wiedergabe der Klagen durch Storch in Zweifel und vermutet zudem, dass dieser Arzt für die Zusammenstellung seiner veröffentlichten „Weiberkranckheiten“ nur jene Passagen aus der ärztlichen Praxis ausgewählt hat, die seinem eigenen medizinischen Modell am ehesten entsprachen. Um den Alltag in einer ärztlichen Praxis und die darin behandelten Beschwerden aus Patientensicht beschreiben zu können, stützt sich die Untersuchung Stolbergs daher ausschließlich auf an Ärzte gerichtete Briefe von besorgten Kranken.69 Patientenbriefe resultierten u. a. aus der Notwendigkeit einer schriftlichen Konsultation, wenn die Erkrankten räumlich zu weit entfernt von der Praxis des Arztes lebten, sodass ein persönliches Aufsuchen von Seite der Kranken
65 Vgl. den etwas älteren Überblick von Lorenz, Vergangenheit. 66 Duden, Geschichte. Über die ungebrochene Faszination des Buches 17 Jahre nach dessen Erscheinen berichtet Edith Saurer in der Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4 (2004), Heft 2, 120–123. 67 Duden, Geschichte, 205. 68 Stolberg, Homo patiens, 10. 69 Vgl. das Kapitel zu den verwendeten Quellen. Stolberg, Homo patiens, 21–32.
1.3 Begriffliche Erklärungen: „Krankheitsverhalten“ und „Patient“
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als auch des Arztes nur unter größter Anstrengung möglich war.70 Vielfach traten auch Angehörige und Verwandte als Verfasserinnen und Verfasser von Briefen in Erscheinung, wenn eine schwere Erkrankung den betreffenden Kranken am Schreiben hinderte und zur Bettlägerigkeit zwang. Vor allem im 18. Jahrhundert gehörte es aber auch zum gesellschaftlichen Code der bürgerlichen Kultur, mit berühmten Ärzten in brieflicher Korrespondenz zu stehen. Von den medizinischen Koryphäen dieser Zeit wie Albrecht von Haller (1708– 1777), André Tissot (1728–1797) oder Samuel Hahnemann (1755–1843) haben sich daher Tausende Patientenbriefe erhalten, die seit einem guten Jahrzehnt systematisch oder auszugsweise für die Rekonstruktion von Krankheits- und Körpererfahrungen herangezogen werden.71 Wie einige wenige erhaltene Briefe aus der Praxis Franz v. Ottenthals zeigen,72 erteilten auch weniger berühmte Ärzte schriftliche Konsultationen, die jedoch selten überliefert sind oder als in Privatbesitz befindlich im wahrsten Sinne des Wortes noch auf ihre Öffnung warten. Ottenthal selbst behandelte diese brieflichen Gesuche um ärztliche Hilfe im Zuge seiner Aufschreibpraxis wie persönlich stattgefundene Konsultationen und übertrug die schriftlich geäußerten Symptome der Kranken ebenso selbstverständlich ins Lateinische wie die mündlich vorgetragenen Beschwerden.73 Allerdings wird an jenen Briefen, die von Geistlichen oder Dorfbeamten stellvertretend für den Kranken verfertigt wurden, ein für die Patientengeschichte häufig auftretendes methodisches Problem sichtbar. Patientenbriefe sind auch im 19. Jahrhundert in erster Linie von Angehörigen der schreibgeübten, literarisierten Schichten zu erwarten.74 In Gegenden ohne ausgeprägte Schreibkultur dürfte eher der mündliche Botengang vorherrschend gewesen sein, der naturgemäß keine direkten Spuren in Archiven hinterlassen hat, aus den Historiae Morborum jedoch indirekt durch entsprechende Kommentare Ottenthals rückgeschlossen werden kann.75 Aber nicht nur die eigentliche Korrespondenz zwischen Ärzten und Erkrankten, auch private Briefwechsel und Briefe allgemein bieten einen unmittelbaren Zugang zu subjektiven Krankheitserfahrungen und zu persönlichen Einstellungen zu Praktiken der Gesundherhaltung, aber auch zur Bewertung 70 Als einer der ersten versuchte Michael Stolberg, Briefe für eine Medizingeschichte aus Patientenperspektive zu nutzen. Vgl. Stolberg, Orakel, 385–404. Inzwischen sind mehrere Monographien und Sammelbände zu Briefen erschienen. Vgl. Barras/Dinges, Krankheit; Schnalke, Medizin. 71 Vgl. Barras/Dinges, Krankheit, 8 f. 72 Zu den brieflichen Konsultationen Ottenthals siehe Taddei, Ottenthal, 103–111 u. 231– 246. 73 Vgl. zu diesem Aspekt Dietrich-Daum/Unterkircher, Medical History, 75–92. 74 Vgl. zu diesem Aspekt Stolberg, Homo patiens, 28; relativierend dazu aufgrund des eigenen Materials Schweig, Gesundheitsverhalten, 41 f. 75 Ottenthal wurde oftmals äußerst ungehalten darüber, dass die Vermittlerperson auf seine Nachfragen keine genaueren Angaben über weitere Beschwerden geben kann. [„dolor in latere dextro ex hesterna die sed num in thorace num in abdomine nescit nuntia“], klagt er beispielsweise 1871 über eine Botin. HM 976/1871, Eintrag vom 22.12.1871. („Seit dem gestrigen Tag Schmerz in der rechten Seite, ob aber im Thorax oder im Abdomen weiß die Botin nicht“).
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von Gesundheitsrisiken. Die meist geringe zeitliche Distanz zwischen der Leidensgeschichte und dem Verfassen (oder Diktieren) eines Briefes ermöglicht es, über das Krankheitsverhalten von Patientinnen und Patienten „aus erster Hand“76 unterrichtet zu werden. Liegen Briefe und Briefkonvolute von Schreibern aus unterschiedlichen sozialen Schichten und über längere Zeiträume vor, lassen sich Veränderungen und Kontinuitäten in der Wahrnehmung und den Handlungsweisen von ganzen Patientengruppen schicht- und geschlechterspezifisch untersuchen, wie dies etwa Nicole Schweig für die Zeit von 1800 bis 1950 für ausgewählte Aspekte des geschlechterspezifischen Gesundheitsund Krankheitsverhalten versucht hat.77 Ihr Interesse galt dabei dezidiert Briefen, die von Männern verfasst wurden. Auch wenn die in den Briefen behandelten Themen immer vor dem Hintergrund des Verhältnisses zwischen Briefschreibern und Adressaten zu bewerten sind, stellen sie für die Patientengeschichtsschreibung eine Quelle ersten Ranges dar. Daran ändert auch der Umstand wenig, dass Briefe entgegen ihres Anscheins von Privatheit keinesfalls unreflektierte Mitteilungen spontaner Gefühlszustände sind, sondern oftmals im Wissen um deren öffentliches Vorlesen in geselliger Runde verfasst wurden.78 Gewisse äußere Zensurmechanismen wirkten ebenfalls einer allzu offenherzigen Mitteilsamkeit entgegen, wie Nicole Schweig am Beispiel der von ihr ebenfalls herangezogenen Feldpost von Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs ausführt.79 Selbst wenn private Briefe keinen unverfälschten Zugang zu historischen „Patientenwelten“ eröffnen, vermitteln sie im Bewusstsein der erwähnten quellenkritischen Überlegungen einen überaus dichten Einblick in die Strategien, wie Kranke mit ihren Beschwerden umgingen und auf welche Weise sie diese zu beheben versuchten. Neben Briefen bilden Tagebücher die zentrale Quellengrundlage der 2007 publizierten Untersuchung von Katharina Ernst zur Krankheitswahrnehmung württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts und zum Einfluss dieser Glaubensrichtung, Krankheit und Sterben mit Sinn zu versehen und religiös zu deuten.80 Ernst konnte nach Durchsicht zahlreicher Selbstzeugnisse führender Pietisten herausarbeiten, wie Leidenserfahrungen als eine Art göttlicher Unterrichtung interpretiert wurden. Die den Krankheitsprozess oftmals begleitende „Zermürbung“ der Seele sollte diese formen und besonders empfänglich für Gott werden lassen. Die Autorin betont dabei ausdrücklich, dass selbst derartig subjektive Einstellungen vermittelnde Schriftstücke wie Tagebücher nur ein verzerrtes „Spiegelbild des ‚wahren‘ Ichs“81 wiedergeben könnten, da der Niederschrift immer eine gedankliche Reflexion vorausginge, welches Bild die Schreibenden denn eigentlich von sich gezeichnet haben wollten. Zudem bedinge zumindest für die frühe Neuzeit eine völlig andere 76 77 78 79 80 81
Barras/Dinges, Krankheit, 14. Schweig, Gesundheitsverhalten. Siehe dazu Barras/Dinges, Krankheit, 14–16; Stolberg, Homo patiens, 28–32. Schweig, Gesundheitsverhalten, 42–46. Ernst, Krankheit. Ernst, Krankheit, 32.
1.3 Begriffliche Erklärungen: „Krankheitsverhalten“ und „Patient“
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Grenzziehung zwischen „privat“ und „öffentlich“ eine gewisse Selbstzensur bei der Mitteilung intimster Gedanken. Schließlich waren sich die Pietisten bewusst, dass ihre Aufzeichnungen von Dritten gelesen werden konnten und, wie Katharina Ernst in ihrer Untersuchung ausführt, auch gelesen wurden. Immerhin kommt Tagebüchern im Gegensatz zu Autobiographien der Vorteil zu, dass in ihnen das Erlebte nicht am Lebensende rückblickend geordnet und somit die allmählich verblassenden Erinnerungen im Nachhinein durch schillernde Farben nachkoloriert wurden. Befasste sich Ernst in ihrer Studie quellenbedingt hauptsächlich mit der Führungsschicht der pietistischen Bewegung in Württemberg, bekam Susanne Hoffmann durch die Tagebücher eines Pietisten aus dem Schweizer Toggenburg Zugang zur Wahrnehmung und Deutung von Krankheit eines Angehörigen der bäuerlichen Unterschicht des 18. Jahrhunderts.82 Die umfangreichen Tagebücher (1770–1798), die Autobiographie (verfasst zwischen 1781 und 1785) sowie kleinere Schriften des erwähnten Ulrich Bräker (1735–1798) erlauben einen Einblick, wie dieser Mann Gesundheit und Krankheit für sich definierte, wahrnahm und deutete. Die Analyse Hoffmanns umfasst im Anschluss an diese Fragestellungen die konkreten Praktiken, die Bräker zur Erhaltung seiner Gesundheit bzw. im Krankheitsfall zur Wiederherstellung derselben anwandte.83 In ihrer Dissertation griff Susanne Hoffmann dann vermehrt auf Selbstzeugnisse aus dem 20. Jahrhundert zurück, indem sie anhand von 155 unveröffentlichten Autobiographien aus dem gesamten deutschsprachigen Raum der Frage nachging, wie Männer und Frauen vor dem Hintergrund ausgewählter Alltagsdiskurse zu Ernährung, Hygiene oder Freizeitaktivitäten geschlechtsspezifische Verhaltensstile entwickelten.84 Mit diesem methodisch höchst anspruchsvollen Ansatz gelingt es ihr, gesundheitliche Ressourcen und Risiken in ihrer Veränderung sichtbar zu machen. Somit stellt ihre Dissertation ganz im Sinne Porters „an alternative history of medicine, largely written from the patient’s point of view“85 dar. Ärztliche Praxisaufzeichnungen und Krankenjournale wurden von der Medizingeschichte zwar oft als Quellen benutzt, allerdings wurden sie lange Zeit vorrangig auf arztzentrierte Fragestellungen hin ausgewertet.86 Besonders vollständig erhaltene Serien oder zumindest über einen längeren Zeitraum überlieferte Journale boten sich für eine quantifizierende Analyse an und eröffneten neuen Erkenntnismöglichkeiten etwa zum Aufgabenprofil eines Arztes, zum Einzugsgebiet, zum Behandlungsort (Sprechstunde oder Visite) oder zu Fragen um Honorar und Abrechung der medizinischen Behandlungen und Medikation.87 Die Patientenschaft selbst hingegen wurde nur selten in den 82 83 84 85 86 87
Hoffmann, Gesundheit. Vgl. Hoffmann, Gesundheit, 81–138. Vgl. Hoffmann, Alltag, 26 f. Porter, Patient’s View, 176. Siehe Dinges, Arztpraxen, 38–46. Die Vielfalt möglicher Zugänge zu ärztlichen Krankenjournalen zeigen die einzelnen Beiträge in einem Sammelband zu historischen Arztpraxen. Vgl. Dinges/Jankrift/Schlegelmilch/Stolberg (eds.), doctor’s office [im Druck].
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Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt, in der Regel konzentrierten sich die Studien auf die Aufbereitung soziodemographischer Variablen wie Alter, Geschlecht oder Schichtzugehörigkeit.88 Die Niederschriften von Ärzten schienen auf den ersten Blick auch wenig geeignet für Fragestellungen, zu deren Beantwortung die Kranken selbst zu Wort kommen mussten. In seinen theoretischen und methodischen Überlegungen für eine patientenorientierte Medizingeschichtsschreibung bezeichnete Eberhard Wolff das Charakteristische an einer Sicht auf Gesundheit und Krankheit „von unten“, dass man „das Denken und Handeln von Patienten aus der Perspektive der spezifischen Situation bzw. „Logik“ heraus interpretieren [muss], so wie sie sich für die Patienten darstellt“89. Diese subjektive Sicht auf den Krankheitsprozess ist natürlich aus Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten, die von Kranken selbst verfasst worden sind, am leichtesten zu erheben. Bei ärztlichen Praxisaufzeichnungen hingegen stellt sich generell die Frage, inwiefern durch die Verschriftlichung der von den Patientinnen und Patienten (zumeist) mündlich vermittelten Leiden durch den Arzt der eingeforderte unmittelbare Zugang zur Krankheitswahrnehmung und zur Deutung krankheitsbedingter Körpervorgänge nicht versperrt bleibt. Eignet sich eine Quelle wie die Historiae Morborum daher überhaupt, um etwas über das Erleben körperlicher Zustände aus der Sicht der betreffenden Subjekte selbst zu erfahren?90 Werden die direkten Aussagen der Patientinnen und Patienten über ihre Beschwerden und Befindlichkeiten durch die ärztliche Perspektive auf den kranken Leib und die Übertragung ins Lateinische nicht gleich doppelt verschlüsselt?91 Homöopathische Ärzte maßen den ausführlichen Erzählungen der Hilfesuchenden einen großen Wert bei und forderten potentielle Patientinnen und Patienten geradezu auf, ihre subjektive Sicht zu Körpervorgängen und zu Krankheitsursachen detailliert zu schildern. Wie Anne Hilde van Baal in ihrer Untersuchung betont, erleichtert der homöopathische Zugang zu Beschwerden, wo „it is the sufferers telling their story rather than the physician revealing his observations“92, die Untersuchung von Krankheitserfahrungen aus einer patientenorientierten Perspektive. Aufgrund der Besonderheit in der Aufschreibpraxis homöopathischer Ärzte kommen daher sowohl van Baal in ihrer Studie zu dem in Gent wirkenden Gustave van den Berghe (1837–1902)93 als auch Marion Baschin in ihrer Dissertation zu dem in Münster ansässigen Clemens von Bönninghausen (1785–1864)94 den Vorstellungen, die Patientinnen und Patienten von Gesundheit hatten und wie sie Krankheitszustände für 88 So etwa bei Jütte, Patientenschaft, 32 f., oder in den Beiträgen von Papsch, Auswertung, 134–139, und Hess, Alltag, 97–100, im Sammelband zu den Arztpraxen. 89 Wolff, Perspektiven, 324. 90 Die Quelle wird in Kapitel 1.5.1 noch genauer beschrieben. 91 Diese Fragen wurden am Beispiel der Historiae Morborum erläutert in Dietrich-Daum/ Unterkircher, Medical History, 83–89. 92 Van Baal, Search, 7. 93 Siehe van Baal, Search. 94 Siehe Baschin, Homöopathen.
1.3 Begriffliche Erklärungen: „Krankheitsverhalten“ und „Patient“
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sich interpretierten, sehr nahe. Schon mit der Titelwahl zu ihrem Buch95 verweist Baschin darauf, dass sie keine arztzentrierte Fragestellungen an die ausgewählte Praxis herantragen will, sondern über die individuellen Krankheitsgeschichten zu den Deutungen und Erfahrungen der Kranken selbst vorzudringen versucht. Ein solcher Zugang bedeutet natürlich nicht, dass weder Baschin noch van Baal auf die Möglichkeit einer genauen Erfassung der Sozialstruktur der Patientenschaft dieser beiden Ärzte verzichten, was durch die serielle Überlieferung der bearbeiteten Quellen auch sehr gut möglich ist. Nun weist Eberhard Wolff zurecht darauf hin, dass bei einer Patientenperspektive nicht die Quellenart selbst „die eigentliche Ursache des Problems [ist], sondern die Herangehensweise an sie“96, und er hat den Erkenntnisgewinn eines solchen Perspektivenwechsels am Beispiel der unterschiedlichen Erwartungshaltungen gegenüber der Pockenschutzimpfung während der Einführungsphase in Württemberg gleich selbst meisterhaft vorgeführt.97 Mangels alternativer Quellen zieht Wolff in erster Linie von Ärzten verfasste Belehrungen, Physikatsberichte oder amtliche Schreiben als Quellengrundlage seiner Untersuchung heran. Dass mit einem Wechsel der Perspektive somit sehr wohl auch Krankenjournale von Allgemeinmedizinern eine ergiebige Quelle für Fragen einer Patientengeschichtsschreibung sein können, hat Jacalyn Duffin in ihrer richtungsweisenden Studie zum kanadischen Arzt James Langstaff (1825–1889) bewiesen.98 Ihr Zugang zu dessen Krankenjournalen eröffnet nicht nur den Blick auf die spezifischen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten hinsichtlich ärztlicher Therapien und auf die individuellen Strategien hinter der Nutzung von Langstaffs Diensten. Sie gewährt durch die Auswahl bestimmter Aufgabenfelder dieses Arztes (etwa die Behandlung von „Gemütskrankheiten“) einen Zugang zu den komplexen Beziehungsgeflechten zwischen Arzt, Kranken und Angehörigen als Mitgliedern einer regionalen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Weil durch diesen Zugang zur Quelle der Sicht der betroffenen Kranken neben der ärztlichen Perspektive genügend Raum gegeben wird, versteht Duffin ihre Studie als „‚biography‘ of a practice not a person“99. Auch wenn in den letzten Jahren eine Vielzahl von patientenorientierten Untersuchungen erschienen ist, bleibt festzuhalten, dass ein dezidiert frauenoder männerspezifischer bzw. ein geschlechtervergleichender Zugang zu Selbstzeugnissen und ärztlichen Krankenjournalen bis auf die bereits erwähnten Arbeiten von Schweig, Hoffmann oder in einzelnen Passagen bei Duffin und van Baal bislang nur selten versucht worden ist. In der Psychiatriegeschichte hingegen wurde eine patientenorientierte Geschichtsschreibung sehr oft aus einem frauenspezifischen Blickwinkel heraus geschrieben, was wohl mit der Faszination der Figur der Hysterikerin auf die zweite Frauenbewegung 95 96 97 98 99
„Wer lässt sich von einem Homöopathen behandeln?“ Wolff, Perspektiven, 328. Wolff, Maßnahmen. Duffin, Langstaff. Duffin, Langstaff, 6.
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1 Einleitung
und deren teilweisen Idealisierung als „Ausdruck einer Auflehnung gegen die ich-Vernichtung“100 in einer patriarchal geprägten Kultur zusammenhängen dürfte. So untersucht Karen Nolte am Beispiel von Krankenakten weiblicher Patienten in der psychiatrischen Landesheilanstalt Marburg, wie sich psychisch Kranke in derartigen Institutionen um 1900 das spezifische Krankheitskonzept der Hysterie angeeignet haben.101 Mit dieser Frage nach Aushandlungs- und Aneignungsprozessen von den als „hysterisch“ diagnostizierten Frauen gelingt es Nolte, die Strategien zu erfassen, mit denen sich diese Frauen mit den repressiven Strukturen in der Anstalt zu arrangieren versuchten. Da Nolte auch die Aneignungsprozesse zeitgenössischer Vorstellungen zur „Hysterie“ durch Anstaltsärzte und Angehörige der Patientinnen in den Blick nimmt, werden jene Abläufe nachvollziehbar gemacht, „wie aus dem Leiden […] eine Krankheit mit einer psychiatrischen Diagnose wurde“102. Interne Abläufe und Logiken des Alltags in psychiatrischen Anstalten stehen auch im Mittelpunkt der Forschungsarbeit von Monika Ankele.103 Am Material von 32 Krankenakten weiblicher Patienten mehrerer „Nervenanstalten“ in Deutschland und der Schweiz untersucht die Autorin, wie die Frauen um 1900 die vorgegebenen Strukturen in diesen Institutionen für sich nutzten und sich Räume und Ressourcen aneigneten. Da das in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg aufbewahrte Quellenmaterial neben schriftlichen (Selbst-) Zeugnissen auch textile Arbeiten, Collagen oder Skulpturen umfasst, gelingen Ankele in der Analyse dieser in der historischen Forschung meist unbeachteten materiellen Überlieferungen überraschende Antworten auf die Frage, wie Frauen mit Hilfe von weiblich konnotierten Alltagspraktiken (Nähen, Sticken) die überaus monotonen Abläufe in den Anstalten erträglicher gestalten konnten. Mit ihrem Interesse auf „die meist flüchtigen Details des Lebens“104 kann die Autorin darstellen, wie sich psychiatrische Frauen durch die Beschäftigung mit Handarbeiten eigene Handlungsspielräume im wahrsten Sinne des Wortes „erarbeiten“ konnten. Beide Studien zeigen, dass sich stationär behandelte psychisch Kranke im Anstaltsalltag durchaus Freiräume schaffen konnten, wenn auch nur im Rahmen der für „totale Institutionen“ (Erving Goffman) charakteristischen Kontrollmechanismen. Für die Psychiatriegeschichte wie für die Medizingeschichte allgemein eröffnet daher die Perspektive auf die Patientinnen (und Patienten) die Wahrnehmung von Kranken als strategisch handelnde Individuen und weniger als Opfer einer wie immer definierten nebulösen „Macht“. Da ich in meiner Arbeit allerdings Krankenjournale eines Privatarztes und nicht Aufzeichnungen von Anstaltsärzten verwende, verfolge ich einen ähnlichen patientenorientierten Zugang zur ärztlichen Praxis Franz v. Ottenthals wie Jacalyn Duffin mit ihrer „Praxisbiographie“. Indem das Inanspruchnahmeverhalten 100 101 102 103 104
Von Braun, NICHT ICH, 75 (Kursivsetzung im Original). Nolte, Hysterie. Nolte, Hysterie, 307. Ankele, Alltag. Ankele, Alltag, 25.
1.4 „Männergesundheit“ als Diskurs: die Medizin entdeckt die Männer
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der Praxis speziell von Männern untersucht wird, soll der Ansatz einer Patientengeschichtsschreibung zusätzlich um die Perspektive der Männergeschichte erweitert werden. 1.4 „Männergesundheit“ als Diskurs: die Medizin entdeckt die Männer Wenn ich mich in dieser Arbeit mit männlichem Krankheitsverhalten und Unterschieden zwischen Männern und Frauen bei der Inanspruchnahme eines Arztes beschäftige, reihe ich mich ein in eine lange Kette von Forschungen zur weiblichen und männlichen Seite der Medizin. Meine Fragestellungen lassen sich als Auseinandersetzung eines Medizinhistorikers mit Defizit- und Benachteiligungsdiskursen verstehen, die in der zeitgenössischen Männergesundheitsforschung bis vor kurzem dominierend waren und bis zu einem gewissen Grad auch gegenwärtig noch sind. Der Blick für manche „schiefe“ Argumentation in diesen Debatten wurde seinerseits geschärft durch die Lektüre einiger kritischer Anmerkungen von Martin Dinges, der als Männlichkeiten- und Gesundheitshistoriker stets die Bedeutung einer historischen Dimension bei der Interpretation männlicher Verhaltensweisen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit unterstrichen hat.105 Diese aktuellen Diskurse wiederum sind nicht zu verstehen ohne Hintergrundwissen über die Kritik der Frauengesundheitsforschung am ungleichen Zugang von Frauen zu Gesundheitsleistungen und an einer im Vergleich zu Männern bei bestimmten Erkrankungen auffälligen Unter- oder Fehlversorgung von Frauen in medizinischen Einrichtungen. Hätten sich Frauen aus der Frauengesundheitsbewegung der 1970er Jahre nicht Arbeitskreise und Professuren erstritten, wären vermutlich nur wenige wissenschaftliche Studien zu diesen Aspekten aus dem Umfeld der Gesundheitswissenschaften angeregt worden und es wären an medizinischen Fakultäten keine speziellen Lehrgänge zur gender medicine eingeführt worden. Diese Entwicklungen verliefen also in Reaktion auf- und zueinander und zeichneten sich durch eine starke Interdisziplinarität aus. Ich kann folglich der Einschätzung Susanne Hoffmanns nicht zustimmen, eine Medizingeschichtsschreibung aus dezidiert geschlechterspezifischer Perspektive wäre „parallel“106 zur Gender Medizin und zur Gesundheitsforschung entstanden.107 Im folgenden Abschnitt soll demnach kurz dargestellt werden, wie der Weg von der frühen Frauengesundheitsbewegung der 1970er Jahre über eine geschlechterspezifi-
105 In der Einleitung des ersten deutschsprachigen Sammelbandes zu verschiedenen Aspekten historischen Gesundheits- und Krankheitsverhaltens von Männern plädiert Martin Dinges daher schon im Titel „Für eine historische Dimension in der Männergesundheitsdebatte“. Vgl. Dinges, Dimension, 9. 106 Hoffmann, Alltag, 35. 107 Zur Entwicklung und zu den wichtigsten Publikationen einer geschlechterspezifisch ausgerichteten Medizingeschichte vgl. den Überblick von Eckart/Jütte, Medizingeschichte, 191–203.
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sche Gesundheitsforschung bis hin zur Männergesundheitsforschung der 1990er Jahre verlaufen ist. 1.4.1 Von der Frauengesundheitsforschung … Die medizinischen Disziplinen und Institutionen, die sich mit Gesundheit und Krankheit beschäftigten, mussten sich in den frühen 1970er Jahren zunehmend mit dem Vorwurf des Androzentrismus und der „Geschlechterblindheit“ auseinandersetzen.108 Die zweite Frauenbewegung kritisierte die Medikalisierung spezifischer Lebensabschnitte (Pubertät, Menopause), die Pathologisierung natürlicher Abläufe (Geburt) und die vor dem Hintergrund einer sich ausweitenden Reproduktionstechnologie behauptete „Entmachtung“ des weiblichen Körpers. „Das ‚Weibliche‘ galt gemeinhin als pathologisch“109, bringt Ulrike Maschewsky-Schneider die feministische Kritik der 1970er Jahre am Blick der Medizin auf den weiblichen Körper rückblickend auf den Punkt. Angriffsfläche bot die Wahrnehmung des weiblichen Geschlechts als schwächlich, kränklich und „gereizt“, als aufgrund seiner Biologie schlichtweg defizitär. Heißumkämpfte Themenfelder waren auch die Reglementierung und Kontrolle des weiblichen Körpers als Folge patriarchaler Gesellschaftsstrukturen.110 Vor allem die in den 1970er Jahren vielerorts auf die Straße getragenen Proteste gegen den Abtreibungsparagraphen stießen medial auf ein großes Echo.111 Problematisiert wurden zudem die fast völlige Abwesenheit von Ärztinnen in den Einrichtungen des Gesundheitssystems und die dort herrschenden Geschlechterverhältnisse zwischen Heil- und Pflegepersonal, die für die Fehl- und Unterversorgung von Frauen hinsichtlich ihrer spezifischen Bedürfnisse mit verantwortlich gemacht wurden.112 Ergebnis dieser Auseinandersetzungen und der ernüchternden Erfahrungen, dass die meisten Institutionen der Krankheitsversorgung bestimmte Bedürfnisse von Frauen vielfach ignorierten, war die Gründung von alternativen Einrichtungen.113 In diesen wurden Beratungsdienste und Informationen zu 108 Zur Geschichte der Frauengesundheitsbewegung und -forschung liegen mittlerweile einige Überblicksdarstellungen vor. Vgl. Kuhlmann/Kolip, Gender, 31–50; MaschewskySchneider, Frauen [1996b], 7–18; Helfferich, Perspektiven, 113–123; Kickbusch, Frauengesundheitsbewegung, 193–203; Kolip/Hurrelmann, Geschlecht, 13–15; Scheele, Geschlecht, 32–37. 109 Maschewsky-Schneider, Frauen [1996b], 7. 110 Vgl. Groth, Frauengesundheit, 83. 111 Vgl. Helfferich, Perspektiven, 115–117. 112 Vgl. Kuhlmann/Kolip, Gender, 46–49. „Hier hat niemand auf sie gewartet!“, mit diesem Spruch aus dem Alltag von Ärztinnen an der Medizinischen Klinik in Innsbruck betitelt die Internistin Margarethe Hochleitner ihre Studie zu Frauen in der Medizin, in der sie die ungleichen Ausschlussstrukturen vor allem in den prestigeträchtigen Fachgebieten wie der Chirurgie beschreibt. Vgl. Hochleitner, niemand. Genaue Zahlen zu diesem Ungleichverhältnis sind (für Ende der 1990er Jahre) zitiert bei: Mixa, Karrieren, 110. 113 Kickbusch, Frauengesundheitsbewegung, 194 f.
1.4 „Männergesundheit“ als Diskurs: die Medizin entdeckt die Männer
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als frauenspezifisch angesehenen Erkrankungen wie Essstörungen oder psychosomatischen Beschwerdekomplexen angeboten. Der in der ersten Phase der Gesundheitsbewegung intensive Austausch zwischen den Frauen über gesundheitliche Belange führte dazu, dass Frauen über ihren Körper zunehmend besser Bescheid wussten und die untersuchenden Ärzte als „informierte Laien“ dazu drängten, in die diagnostischen und therapeutischen Entscheidungsfindungsprozesse mit eingebunden zu werden.114 Die von der Frauengesundheitsbewegung der ersten Stunde initiierten Selbsthilfegruppen und Frauengesundheitszentren machten aus jenen Frauen, die diese Institutionen auch zu Rate zogen, somit schon früh „mündige Patientinnen“. In Österreich führten die Bestrebungen engagierter Frauen, alternative Formen einer frauengerechten und frauenspezifischen medizinischen Versorgung aufzubauen, relativ spät zur Einrichtung von Frauengesundheitszentren. In Wien und Graz entstanden erst in den frühen 1990er Jahren entsprechende Institutionen.115 Dies lag den Ausführungen von Sylvia Groth zufolge unter anderem daran, dass sich nur sehr wenige der in Österreich gegründeten Initiativen und Frauengruppen als eigenständige Zentren für Frauengesundheit zu institutionalisieren vermochten.116 Eine gesamtösterreichische Frauengesundheitsbewegung wie in Deutschland konnte aufgrund der regional unterschiedlich entwickelten Strukturen daher nicht entstehen. Nachdem einigen Vorkämpferinnen dieser Bewegung der Sprung in die Institutionen gelungen war, konnten sie gezielt frauen- und geschlechterspezifische Forschungen anregen und Studien etwa zur unterschiedlichen Entwicklung von Krankheiten bei Frauen und Männern oder zur geschlechtsspezifischen Abhängigkeit der Wirkung von Medikamenten durchführen.117 Mittlerweile liegen einige Überblicksdarstellungen zu spezifisch weiblichen Symptomatiken, Krankheitshäufigkeiten und Gesundheitsrisiken vor.118 Als Reaktion auf die lange dominierenden biologistischen Erklärungsansätze wurden die ermittelten Daten zu Geschlechtsunterschieden vorerst weniger als Folge genetisch-hormoneller Bedingungen gesehen, sondern vielmehr als Folge weiblicher Sozialisationsmuster. Die Erfüllung der gesellschaftlichen Rollenbilder, so der Konsens, führe bei Frauen zu spezifischen Belastungen, stelle aber auch in gewissem Umfang Ressourcen zu deren Bewältigung zur Verfügung.119 Rückblickend gesehen konnte die Frauengesundheitsforschung bestehende Diskriminierungen etwa beim Zugang zur Gesundheitsfürsorge aufdecken 114 115 116 117
Vgl. Kuhlmann/Kolip, Gender, 35–37. Vgl. dazu den Überblick bei Groth, Frauengesundheit, 82–95. Groth, Frauengesundheit, 84 f. Siehe Kolip/Hurrelmann, Geschlecht, 14 f.; Babitsch/Ducki/Maschewsky-Schneider, Geschlecht, 512. 118 Siehe die Monographie von Maschewsky-Schneider, Frauen [1997], sowie die Sammelbände von Maschewsky-Schneider, Frauen [1996a], Groth/Rásky, Frauengesundheiten und Maurer, Frauengesundheit. 119 Überaus einflussreich für diesen Diskurs war die 1985 erschienene Studie Christina von Brauns zur Hysterie als weiblicher Weg der Verweigerung patriarchaler Gesellschaftsstrukturen. Von Braun, NICHT ICH.
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und strukturelle Ungleichheiten bei medizinischen Einrichtungen benennen, die Gesundheitsgefährdungen von Frauen verstärkten und die Entwicklungen und Verläufe von Krankheiten für Frauen negativ beeinflussten.120 1.4.2 … über die Gender Medicine … Der frauenspezifische Blick auf die Medizin lieferte zahlreiche Belege dafür, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts eben nicht kränker als Männer sind, sondern einfach „anders krank“121, weshalb auch andere Strukturen der medizinischen Versorgung erforderlich seien. Allerdings wurden in den 1990er Jahren Stimmen in der Frauengesundheitsforschung laut, die die vehementen Ansprüche auf einen spezifischen Versorgungsbedarf von Frauen auch kritisch beurteilten, indem sie darin eine Fortschreibung des alten Bildes von der Frau als „pathologische Abweichung“ von einem (männlichen) Normkörper sahen.122 Zugleich wurden durch die Weiterentwicklung feministischer GenderKonzepte und die Erweiterung der Frauen- zu einer Geschlechterforschung123 bisherige blinde Flecken in der frauenspezifischen Gesundheitsforschung sichtbar. Die Angebote der Frauengesundheitszentren erreichten bei weitem nicht Frauen aus allen Gesellschaftsschichten, und innerhalb der weiblichen Geschlechtergruppe wiesen bestimmte Gruppen von Frauen höhere Morbiditätsraten bei Krankheiten auf als andere Gruppen. Mit der Zeit wurde daher offensichtlich, dass die einstmals gesellschaftspolitisch sinnvolle Strategie der Berufung auf eine als homogen vorausgesetzte Kategorie „Frau“ der Komplexität weiblicher Lebenslagen und den daraus resultierenden unterschiedlichen gesundheitlichen Belastungen nicht gerecht wurde. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass Frauen je nach sozialer Schicht oder spezifischen Lebensphasen mit speziellen Bedürfnissen an das Gesundheitssystem herantreten. Die frauenspezifischen Angebote richteten sich in der Folge immer stärker nach Lebenslagen von Frauen und differenzierten nach der jeweiligen Zielgruppe (Mädchen, Seniorinnen, Migrantinnen).124 Durch diese „Pluralisierung von Geschlechterkonzepten“125 verschob sich der Fokus von einer frauenspezifischen Gesundheitsforschung immer mehr zu einer geschlechtersensiblen Medizin. Dieser Perspektivenwechsel lenkte den Blick von Frauen als parallel zu sonstigen Programmen zu förderndes „Sondergeschlecht“ hin zu spezifischen Bedürfnissen beider Geschlechter und auf 120 Siehe Bargfrede/Pauli/Hornberg, Gesundheit, 523 f. 121 „Frauen sind anders krank“ lautet der Titel eines 1997 erschienenen „Klassikers“ zu diesem Thema. Vgl. Maschewsky-Schneider, Frauen [1997]. 122 Siehe dazu den entsprechenden Abschnitt bei Kuhlmann/Kolip, Gender, 51–71; Annandale, Feminismus, 36–44. 123 Maihofer, Von der Frauen- zur Geschlechterforschung, 64–77. 124 Vgl. Bargfrede/Pauli/Hornberg, Gesundheit, 524. 125 Kuhlmann/Kolip, Gender, 57.
1.4 „Männergesundheit“ als Diskurs: die Medizin entdeckt die Männer
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Benachteiligungen sowohl für Männer als auch für Frauen. Zusätzliche Anstöße erfuhr diese Orientierung durch das politisch geförderte Konzept des Gender Mainstreaming. Dieses Konzept zielt auf die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern und die Beseitigung struktureller Ungleichheiten ab, die den Zugang zu gesellschaftlichen Bereichen für ein bestimmtes Geschlecht erschweren bzw. gänzlich verstellen.126 Da Gender Mainstreaming 1997 im Amsterdamer Vertrag festgeschrieben wurde, war für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Umsetzung der damit verbundenen Maßnahmen in der Geschlechterpolitik per Gesetz verpflichtend vorgeschrieben. Politische Beschlüsse, Gesetzestexte und Maßnahmen sämtlicher staatlich-öffentlicher Einrichtungen waren von da an vorab dahingehend zu überprüfen, wie sich diese auf Männer und Frauen auswirken und ob sie Geschlechterungleichheiten hervorbringen. Für die Bereiche Gesundheit und Krankheit ergab sich daraus für die Länder die Verpflichtung, für Männer und Frauen den gleichen Zugang zu gesundheitlichen Versorgungsleistungen zu garantieren oder bei der Gestaltung etwa von Programmen zur Gesundheitsprävention auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Jungen und Mädchen Rücksicht zu nehmen.127 Die seit den späten 1990er Jahren zahlreich erschienenen Länderberichte zur gesundheitlichen Lage von Frauen (und vereinzelt jener von Männern), sind auch vor dem Hintergrund der rechtlichen Fixierung dieses Leitkonzeptes zu sehen.128 Die auf das Gender Mainstreaming aufbauende Richtung der Gender Medicine suchte gezielt nach Verzerrungen in der gesundheitlichen Versorgung, die sich geschlechtsneutral gab, tatsächlich aber an Gegebenheiten des männlichen Körpers ausgerichtet war.129 In den letzten Jahren viel diskutiert und auch von Seite der Medien gerne aufgegriffen wurden dabei die Studien zur Medikamentenverträglichkeit, laut denen viele Testreihen nur an männlichen Probanden durchgeführt und die Ergebnisse eins zu eins auf Frauen übertragen wurden.130 Auch bei der klinischen Versorgung bestimmter Beschwerden wie koronaren Herzerkrankungen wurde dieser sogenannte gender bias offensichtlich. Beispielsweise machte eine Studie zur kardiologischen Versorgung von Männern und Frauen an der Universitätsklinik Innsbruck131 deutlich, wie eine an männlichen Patienten ausgerichtete Diagnostik und Therapie zu Versorgungsdefiziten weiblicher Patienten mit Herzinfarkt führen kann, und wel126 Zum Konzept des Gender Mainstreaming für Public Health siehe Kuhlmann/Kolip, Gender, 77–81; Bargfrede/Pauli/Hornberg, Gesundheit, 525 f.; Scheele, Geschlecht, 37–40. 127 Vgl. Kuhlmann/Kolip, Gender, 77–81. 128 Bargfrede/Pauli/Hornberg, Gesundheit, 521. 129 Die erste Überblicksdarstellung zu den Aufgaben und Themen der Geschlechtermedizin erschien 2004. Vgl. Rieder/Lohff, Einleitung, 1–12. 130 So etwa als Coverstory des Profil im Jahre 2007. Profil 26 (2007), Klaus Kamolz, Return to Gender, 79 f. Vgl. auch Voß, Frauen, 101–110; Kautzky-Willer/Tschachler, Gesundheit, 164–172. Über die eigentlichen Hintergründe des Ausschlusses von Frauen aus derartigen Studien klären auf Kuhlmann/Kolip, Gender, 119–122. 131 Zu dieser Studie und den Nachfolgestudien vgl. Hochleitner, Geschlechtsunterschiede, 111–116.
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che praktischen Auswirkungen die Zuschreibung bestimmter Krankheitsbilder als typisch männlich oder weiblich im Klinikalltag nach sich zieht.132 Obwohl zum Zeitpunkt der Studie Frauen in Tirol beispielsweise gemäß der Mortalitätsstatistik bei koronaren Herzerkrankungen insgesamt betrachtet höhere Sterberaten aufwiesen, wurden Männer mit einem Herzinfarkt nicht nur häufiger auf die Intensivstation aufgenommen. Sie kamen im Falle einer verdächtigen Symptomatik auch ungleich schneller in die Notfallaufnahme als Frauen, da öfter ein Notarztwagen oder ein Rettungshubschrauber angefordert wurde.133 Einen höheren Männeranteil wies auch die Anwendung diagnostischer Verfahren zur Erkennung einer Herzerkrankung sowie die Entscheidung zu einer Bypass-Operation auf. Gemäß der Studie von 1995 wurden 74,3 Prozent aller entsprechenden Operationen an Männern durchgeführt und 25,7 Prozent an Frauen, die noch dazu deutlich seltener nach dem Klinikaufenthalt an ein Rehabilitationszentrum überstellt wurden.134 1.4.3 … zur (historischen) Männergesundheitsforschung? Bewegte Männer reagierten schon in den späten 1970er Jahren vereinzelt auf die Kritik der Frauenbewegung an der strukturellen Ungleichheit im Geschlechterverhältnis und auf die Beobachtung, die an sie herangetragene Erwartung als Männer nicht mehr so selbstverständlich wie früher leben zu können. In den entstehenden Männergruppen wurden problematische Sozialisationserfahrungen besprochen und alternative Männlichkeitsentwürfe ausprobiert. Ähnlich wie in den Anfängen der Frauenbewegung kreisten viele Themen um den eigenen Körper, der in den Männerrunden vielfach als durch diverse Institutionen zugerichteter und disziplinierter Körper wahrgenommen wurde. Eigentliches „Ziel“ dieser „Abhärtungsmaßnahmen“, so die einhellige Meinung, wäre die Austreibung eines positiven Gefühls der Männer zur eigenen Körperlichkeit gewesen. „Mein Körper ist mein Freund“135, verkündete folglich Volker Elis Pilgrim befreit in seinem Manifest (1977), einem der einflussreichsten Texte der frühen Männerbewegung. Wie einem ein Freund in Krisenzeiten mit gutem Rat zur Seite stünde, würde auch ihm sein Körper über Schmerzzustände wie Herzstechen oder Hodenpieken bei Entscheidungsfindungsprozessen dazu raten, ja mitunter geradezu auffordern, „einen anderen Weg zu nehmen“136. In Pilgrims Text finden sich erstmals gehäuft Belegstellen für die im nachfolgenden Männlichkeitsdiskurs immer wieder verwendete Metapher eines Panzers, der im Zuge der Mannwerdung und der Aneignung der männlichen Geschlechterrolle um den Körper gelegt werden 132 Vgl. Maschewsky-Schneider, Frauen [1997], 45–55; Kuhlmann/Kolip, Gender, 141–172. 133 Vgl. Hochleitner, Frauenherzen, 52 f. 134 Die Geschlechterzusammensetzung bei den Rehabilitationsverfahren betrug 13,3 Prozent Frauen und 86,7 Prozent Männer. Hochleitner, Geschlechtsunterschiede, 112 f. 135 Pilgrim, Manifest, 21. 136 Pilgrim, Manifest, 25.
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müsse. Von der damit verbundenen Verhärtung des Herzens bis zum Herzinfarkt sei es nur noch ein kleiner Schritt, weshalb die frühe Männerforschung die Warnung ausgab: „The Male Sex Role May be Dangerous to Your Health“137. Für den Soziologen Michael Meuser gilt der um diese Themen entstandene Männlichkeitsdiskurs als „Indikator einer schwindenden Fraglosigkeit“138. Das Fraglose, gegen dessen Verschwinden die Autoren der ab den späten 1980er Jahren boomenden Ratgeber- und Männerverständigungsliteratur verzweifelt anschrieben, war dabei jenes hegemoniale Männlichkeitsmodell, das für die Adressaten und Rezipienten dieser Bücher eben keine unhinterfragte Selbstverständlichkeit mehr darstellte. Meuser sieht dabei hauptsächlich die frühen Ratgeber einem Männlichkeitsdiskurs verhaftet, der den Mann ausschließlich als Mängelwesen verhandelt. Viele Aspekte am vorherrschenden Ideal von Männlichkeit, die wie etwa eine Ausrichtung auf den Beruf und Karrierestreben innerhalb dieses Modells als positiv und erstrebenswert galten, wurden plötzlich als Auslöser unzähliger Leidenserfahrungen verhandelt.139 Denn den gesellschaftlichen Erwartungen an die „Prinzenrolle“140 wären zunehmend mehr Männer nicht mehr gewachsen, was zu körperlichen und psychischen Krankheitsbildern führe. Die einseitige Ausrichtung auf den Beruf wurde nunmehr verantwortlich gemacht für die höheren Herzinfarktraten bei (jüngeren) Männern und für deren immense Suizidalität, deren Ursachen auch im Sinnverlust bei plötzlich eintretender Arbeitslosigkeit ausgemacht wurden.141 Der Mann, der weiterhin nach traditionellen Männlichkeitsmustern lebt, wird in diesem Diskurs im wahrsten Sinne des Wortes zum „Homo patiens“, zum leidenden Mann. Nun arbeitet Michael Meuser als ein Merkmal des in den Männerratgebern geführten Defizitdiskurses eine idealisierte Zeichnung von Weiblichkeit heraus, die „als positiver Gegenhorizont einer miserablen Männlichkeit“142 gegenübergestellt wird. Dementsprechend ist hinsichtlich der Themenbereiche Gesundheit und Krankheit in diesen Texten eine starke Tendenz festzumachen, diesbezügliche Verhaltensweisen von Männern und Frauen vergleichend abzuwägen.143 Die Waagschale der Männer zeige dabei stets nach unten, jene der Frauen stets nach oben, wodurch Frauen als nachzuahmendes Vorbild hinsichtlich des Gesundheitshandelns und des Krankheitsverhaltens erscheinen. Denn diese verfügten über „größere Widerstandskräfte“, „bessere 137 138 139 140
Harrison, Warning, 65–86. Meuser, Geschlecht, 13. Vgl. Meuser, Geschlecht, 135–147. So der Titel eines der erfolgreicheren Bücher der Kategorie „Männerratgeber“. Schnack/ Neutzling, Prinzenrolle. 141 Bezeichnenderweise war die Zahl der Unternehmer, die im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise etwa in Italien Selbstmord begingen, dermaßen angestiegen, dass im Frühjahr 2012 deren Witwen laut gegen weitere Sparmaßnahmen der italienischen Regierung demonstrierten. T[iroler] T[ageszeitung], 5.5.2012, 13; „Witwen geben Staat die Schuld“. 142 Meuser, Geschlecht, 141. 143 Vgl. Meuser, „kranke Mann“, 79–81.
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Abwehrmechanismen“ sowie eine „größere Vitalität und Ausdauer“144. Zugleich erholten sie sich ungleich rascher von Krankheiten als Männer. Folglich wären Frauen im Vergleich zu Männern gesünder, was Walter Hollstein, einer der bekanntesten Vertreter der Männerbewegung, neben höheren Prävalenzraten bei vielen Krankheiten letztlich an der geringen Lebenserwartung von Männern festmacht. Als eine Perspektive, um etwa dem typisch männlichen Schicksal eines frühen Herztodes zu entgehen, wird in vielen dieser Texte die „Feminisierung des Mannes“145 propagiert in dem Sinne, dass angeblich weibliche Eigenschaften wie Emotionalität, Körperlichkeit oder Wissen um die eigene Verletzlichkeit von den Männern (wieder) erlernt werden sollten. Meuser arbeitet in mehreren Beiträgen überzeugend heraus, dass diese idealisierte Vorstellung einer angeblich allen Frauen seit Urzeiten innewohnenden Körperverbundenheit auf eigentümliche Weise Dichotomien des bürgerlichen Geschlechterdiskurses des 19. Jahrhunderts fortsetzt, der Körperlichkeit mit Weiblichkeit verknüpfte, wohingegen dem Mann der Bereich des Verstandes zugewiesen wurde.146 Im Zuge dieser „Ordnung der Geschlechter“147 wurde der Mann zu jenem kopflastigen Wesen ohne Geschlechtskörper, von dem sich Pilgrim im eingangs erwähnten Manifest zu befreien versuchte. Meuser beleuchtet zudem, wie in den ersten Publikationen zu Aspekten der Männergesundheit aus den Jahren kurz vor und nach der Jahrtausendwende dieser defizitäre Blick auf Männlichkeit vielfach übernommen wurde.148 Dies ist insofern wenig verwunderlich, da in diesen Büchern die Veröffentlichungen Hollsteins nicht nur fleißig rezipiert wurden. Hollstein wurde als Gastautor oftmals selbst von den Herausgebern eingeladen, die Themenbereiche Gesundheit und Krankheit aus dem Blickwinkel der Männerforschung zu beleuchten.149 Folglich kommt etwa in einem der ersten Bücher mit einer ausdrücklich geschlechterspezifischen Betrachtung von Gesundheit und Krankheit von Hildegard Felder und Elmar Brähler (1992) an vielen Stellen ein Deutungsmuster von Männlichkeit zum Vorschein, demzufolge allein schon das „Mann-Sein“ an sich „die Ausbildung des so wichtigen Gesundheitsbewußtseins als Voraussetzung für Gesundheitshandeln und Gesundheitsverhalten“150 verhindern würde. In einem späteren Beitrag für den Sammelband von Kolip und Hurrelmann (2002) operiert Hollstein vor dem Hintergrund vorliegender Morbiditäts- und Mortalitätsraten in den westlichen Industriestaaten mit den Begriffen von Tä144 145 146 147
Hollstein, Herrscher, 130. Vgl. Hollstein, Herrscher, 239 f. Vgl. Meuser, Frauenkörper, 279–281. Dazu auch die Analyse von Honegger, Ordnung. Relativierend zu dieser zeitlichen Abfolge aber Kucklick, Geschlecht, 13–20. 148 Meuser, Mann, 170–173; Meuser, „kranke Mann“, 79–84. 149 Hollsteins Essays finden sich (hier chronologisch geordnet) in folgenden einschlägigen Sammelbänden und Themenheften wieder: Brähler/Felder, Weiblichkeit (1999; Erstauflage 1992), 72–81; Hurrelmann/Kolip, Geschlecht (1999), 53–66; Dr. med. Mabuse 125 (2000), 30–35; Franz/Karger, Männer (2011), 35–54. 150 Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 145.
1.4 „Männergesundheit“ als Diskurs: die Medizin entdeckt die Männer
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tern und Opfern.151 Hollstein argumentiert damit, dass Männer die Machtpositionen und Privilegien, die ihnen patriarchale Strukturen in der Gesellschaftspolitik zusichern, durchaus ambivalent erfahren würden. „Traditionelle Männlichkeit besteht aus Leistung, Härte, Distanz, Konkurrenz, Kampf und kontrollierter Emotion“152, so Hollstein. Das Opfer, das Männer für die Ausübung von Macht und Kontrolle erbringen müssten, wäre u. a. ein defizitäres Gesundheitsverhalten. Die für die Arbeit am Prestige- und Machterhalt erforderliche Selbstbeherrschung zwinge zur Ausblendung des Körpers, zur Verdrängung von körperlichen Warnsignalen und zum Anlegen eines emotionalen Panzers. Durch die einseitige Ausrichtung auf Arbeit werden nicht nur Gesundheitsrisiken wie Herzinfarkt in Kauf genommen, sondern der Aufbau emotionaler Beziehungen behindert, die im Bedarfsfalle Ressourcen zur Bewältigung zur Verfügung stellen. Daher wäre Männlichkeit eine „hochriskante Lebensform“153, und als „das kranke Geschlecht“154 würden Männer selbst zum Opfer ihres eigenen gesundheitsschädigenden Verhaltens. Aus der Sicht Hollsteins biete die Männergesundheitsbewegung Männern die Möglichkeit, Alternativen zu diesem durch Leistung und Selbstbeherrschung definierten Rollenbild zu entwickeln und sich den krankmachenden Erwartungen an Männlichkeit zu entziehen. Allerdings gibt es keine Untersuchungen dazu, wie hoch der quantitative Anteil der in der Männergesundheitsbewegung engagierten Männer, die das Aufbrechen eingeübter Männlichkeitsmuster aktiv vorantreiben, tatsächlich ist. Illustrierte wie Men’s Health können sich am Zeitschriftenmarkt zwar sehr gut behaupten und erreichen hohe Auflagen.155 Von einer sozialen Bewegung wie bei der Frauengesundheitsbewegung kann aber angesichts der nicht sehr zahlreichen Einzelinitiativen, die noch dazu diffus strukturiert und wenig vernetzt sind, nicht gesprochen werden.156 Zudem weist Sebastian Scheele in seiner kürzlich vorgelegten Studie zur Entstehung der Männergesundheitsförderung darauf hin, dass die auf Männer abzielenden gesundheitsfördernden Programme und krankheitsverhindernden Lifestyle-Schulungen weniger emanzipatorischen Ideen der männerbewegten Szene geschuldet sind als vielmehr den Interessen einer „neoliberalen Gesundheitspolitik“. Diese fügten den gängigen Männerbildern lediglich eine weitere Facette hinzu: nämlich jene des sexuell agilen, nicht alternden „Gesundheitsunternehmer[s] seiner selbst“157. Abgesehen von diesen Einwänden musste Hollsteins häufiger Rückgriff auf die Geschichte und auf eine „traditionelle Männlichkeit“ Historiker auf den Plan rufen, die die Entwicklung dieses Diskurses zunehmend kritisch verfolgten. Eine fundierte Replik ließ nicht lange auf sich warten, denn mit Mar151 152 153 154 155 156
Vgl. Hollstein, Mann [2002], 53–66. Hollstein, Mann [2002], 56. Hollstein, Männlichkeit [2000], 30. Hollstein, Männlichkeit [1999], 72. Zur Auflagenhöhe dieser und anderer Zeitschriften vgl. Meuser, Mann, 176, Fußnote 9. Kritisch zum „Aktivistenreservoir“ dieser Bewegung auch Kolip/Lademann/Deitermann, Männer, 222 f. 157 Scheele, Geschlecht, 17.
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1 Einleitung
tin Dinges schaltete sich bald eine kompetente Stimme an der Schnittstelle zwischen Männergeschichte und Medizingeschichte in die Diskussion ein und mahnte mit Ausrufungszeichen „eine historische Dimension in der Männergesundheitsdebatte“158 ein. Dinges kritisierte die Verwendung von Konzepten wie „traditionelle Männlichkeit“ und die im rezenten Männergesundheitsdiskurs zu beobachtende Tendenz, sich bei Forschungen zum geschlechtsspezifischen Gesundheits- und Krankheitsverhalten mit einen simplen Vergleich zwischen den Männern und den Frauen zufrieden zu geben.159 Dieser Blickwinkel würde wenig erklärende Dichotomien weiter fortschreiben, weshalb Dinges stärker binnengeschlechtlich ausgerichtete Fragestellungen, etwa nach Lebensphasen oder sozialer Schichtung, einfordert.160 So könnte etwa die eigentliche Funktion hinter dem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vorherrschenden Männlichkeitsideal des abgehärteten Körpers sowie dessen tatsächlicher Einfluss auf das Gesundheitshandeln unterschiedlicher sozialer Gruppen präziser herausgearbeitet werden. Zugleich würden dabei divergierende Strategien von Männern aus unterschiedlichen Schichten zur Vermeidung von Gesundheitsrisiken in den Blick geraten. Um den Blick für Veränderungen und die Wandelbarkeit gesundheitserhaltender oder -gefährdender Praktiken unterschiedlichster Gruppen von Männern zu schärfen, regte er Dissertationen an, die sich nicht nur mit spezifischen Aspekten wie männlichem Gesundheitsverhalten161, Krankheitserfahrungen sowie Gesundheitsrisiken und -ressourcen162 aus einer dezidiert historischen Perspektive beschäftigten. Schicht- oder altersspezifische Differenzierungen nehmen daher in den Arbeiten von Nicole Schweig und Susanne Hoffmann zu männlichem bzw. geschlechtsspezifischem Gesundheitsverhalten eine zentrale Stellung ein. Damit bricht dieser differenzierte Blick auf Unterschiede innerhalb einer Geschlechtergruppe die starre Konstruktion einer homogenen traditionellen Männlichkeit im gegenwärtigen Männergesundheitsdiskurs auf und hilft, „Gesundheitsstatus und Gesundheitsverhalten der Männer […] als Ergebnis historischer Prozesse“163 zu begreifen. Neben den Arbeiten von Schweig und Hoffmann und einigen Abhandlungen von Martin Dinges164 selbst liegen mittlerweile auch zwei von ihm (mit)herausgegebene Sammelbände zum Thema Männergesundheit aus historischer Perspektive vor165, die allesamt aufzeigen, wie vielfältig und komplex gesundheits- und krankheitsbezogene Verhaltensweisen von Männern waren. Männer waren mitnichten jene „Gesundheitsidioten“166, als die sie der Männergesundheitsdiskurs lange Zeit und bis in die Gegenwart immer wieder präsentierte. 158 159 160 161 162 163 164 165 166
Dinges, Dimension, 9. Dinges, Männer [2009], 20. Zuletzt in Dinges, Paradigmen, 35–38. Vgl. Schweig, Gesundheitsverhalten. Vgl. Hoffmann, Alltag. Dinges, Forschung, 6. Etwa Dinges, Männlichkeitskonstruktion, 99–125; Dinges, Männergesundheit, 24–33. Vgl. Dinges, Männlichkeit; Dinges/Weigl, Zeitschrift. So der Titel eines Beitrags von Dinges, Männer [2009].
1.4 „Männergesundheit“ als Diskurs: die Medizin entdeckt die Männer
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Mit der Frage allerdings, wie die Andrologie als spezifisch medizinisches Fachgebiet der Männerheilkunde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine dermaßen erfolgreiche Professionalisierung und Institutionalisierung erfahren konnte, dass der biologische Geschlechtskörper des Mannes zu Beginn des 21. Jahrhunderts in zunehmenden Maße als pathologisch und medikalisiert beschrieben werden kann,167 beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft deutlich seltener als die wissenschaftstheoretisch ausgerichtete Soziologie. Denn auch den geschlechtersensiblen Vertreterinnen und Vertretern dieses Faches blieben die öffentlichen und fachspezifischen Diskurse über die angebliche „Krise der Männlichkeit“ und das zunehmende Interesse unterschiedlichster Disziplinen am männlichen Körper nicht verborgen. Michael Meuser nimmt dabei die in der Männergesundheitsforschung sich abzeichnende Tendenz, den männlichen Körper zu pathologisieren und zu medikalisieren, mit einer gewissen Skepsis wahr.168 Für Meuser hat die These von einer gesundheitlichen Benachteiligung der Männer auch die Funktion, professionspolitische Interessen zu legitimieren und einen breiten gesellschaftlichen Konsens für gesundheitspolitische Maßnahmen zu schaffen. Torsten Wöllmann hat aus einer professionspolitischen und wissenssoziologischen Perspektive detailliert die Schritte nachgezeichnet, die von den Vertretern einer Andrologie als medizinischem Spezialgebiet seit den 1960er Jahren gesetzt wurden, um sich innerhalb der Fachdisziplinen zu etablieren und zu institutionalisieren.169 Vor allem seit den 1990er Jahren erfuhr die Andrologie einen großen Machtzuwachs und eine Expansion. Frühere Versuche, eine speziell auf Männer ausgerichtete Disziplin einzuführen, gingen über Einzelinitiativen nicht hinaus und setzten keine innerprofessionellen Diskussionen in Gang. An der Medikalisierung des männlichen Geschlechts hat die Andrologie seither durch die immer genauere Standardisierung der Ausbildung zum „Männerarzt“ wesentlichen Anteil und ist maßgeblich am Diskurs zur Männergesundheit beteiligt. Wöllmann arbeitet heraus, dass die ursprüngliche Konzentration auf Fertilitätsstörungen und die Wiederherstellung der Zeugungsfähigkeit des männlichen Geschlechtskörpers zunächst die gesellschaftliche Legitimation einer Männerheilkunde möglich machte, da sie mit einer regen Nachfrage von Seite der betroffenen Männer rechnen konnte.170 Durch die in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmende „Erosion der etablierten Geschlechterhierarchie“171 wurde das Bild vom „verletzlichen Mann“ schließlich derart diskursfähig, dass die Andrologie Arbeitsgebiete anderer Disziplinen für sich reklamieren konnte (Urologie, Dermatologie, Endokrinologie). In der Öffentlichkeit kam dabei der Frage, ob denn die 167 Mittlerweile sind mehrere Sammelbände zu spezifisch männlichen Gesundheitsproblemen aus dem Fachbereich der Medizin erschienen. Vgl. Klotz, Tod (1998); Jacobi, Praxis (2002); Kirby/Kirby/Farah, Männerheilkunde (2002; im engl. Original 1999). 168 Vgl. Meuser, „kranke Mann“, 73–86. 169 Wöllmann, Medizin, 90–99; Wöllmann, Medikalisierung, 174–179. 170 Vgl. Wöllmann Andrologie [2004], 272–275. 171 Meuser, Frauenkörper, 285.
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1 Einleitung
Andropause eine mit den Wechseljahren der Frau vergleichbare Folge des natürlichen Alterns wäre, die meiste Aufmerksamkeit zu.172 Wenn daher die beiden Ärzte Martin Meryn und Markus Metka 1999 selbstbewusst fordern konnten, „Ein Männerarzt muss etabliert werden!“173, so ist diese Verlautbarung nur vor dem Hintergrund einer bereits stark vorangeschrittenen Medikalisierung des männlichen Körpers zu verstehen. Indem aber die Andrologie ihre spezifischen Interessen nicht wie andere medizinische Fachdisziplinen über einzelne Organe oder Erkrankungen definiert, sondern über eine medizinische Behandlung des biologischen Männerkörpers in seiner Gesamtheit, sieht Wöllmann eine „Übersetzung des Systems der Zweigeschlechtlichkeit in die Biomedizin“174. Die im 18. Jahrhundert eingeleitete „asymmetrische Medikalisierung der Geschlechtskörper“175 wird somit über die andrologische Spezialdisziplin allmählich aufgehoben. Auch wenn in der öffentlichen Debatte überwiegend bestimmte Bereiche der Andrologie und gesellschaftlich hegemoniale Formen von Männlichkeit aufgegriffen werden (sexuelle Potenz, Verzögerung der Alterungsprozesse), sehen sowohl Meuser als auch Wöllmann in der Medikalisierung des Mannes die Tendenz, von dem als geschlechtsneutral konzipierten männlichen Körper abzurücken und den Mann mit einem biologischen Geschlechtskörper zu versehen.176 Nachdem die Frau seit dem späten 18. Jahrhundert mit Körperlichkeit assoziiert wurde, „bekommt“ im ausgehenden 20. Jahrhundert nun auch der Mann „einen Körper“177, so die Einschätzung dieser beiden Soziologen. Allerdings sollte nach den Ergebnissen der 2008 erschienenen Untersuchung von Christoph Kucklick über den schon vor 1800 geführten Diskurs über eine „negative Andrologie“ und die Folgen der Naturhaftigkeit des Mannes diese Periodisierung überdacht werden.178 Die Frage, ob „der Mann“ nicht auch schon im 19. Jahrhundert einen Körper „hatte“179, wird daher in den qualitativen Teilen dieser Arbeit am Beispiel der männlicher Fallgeschichten Franz v. Ottenthals mit erläutert werden müssen.
172 Das Buch von Meryn,/Metka,/Kindel, Mann, entwickelte sich 1999 zum Bestseller. Vgl. dazu Hofer, Climacterium, 123–138. 173 Meryn,/Metka,/Kindel, Mann, 18. 174 Wöllmann, Andrologie [2004], 272. 175 Wöllmann, Andrologie [2004], 261. 176 Meuser, „kranke Mann“, 181 f.; Wöllmann, Andrologie [2007], 101. 177 „Bekommt der Mann einen Körper?“ betitelt Michael Meuser einen Beitrag aus dem Jahre 2003. Vgl. Meuser, Mann, 169. 178 Kucklick stellt beispielsweise die in der Forschung verbreitete Meinung, Männer hätten im 18. Jahrhundert eine „Lizenz zum Verführen“ besessen, in Frage und sieht diese These als Ergebnis einer „Ausblendung“ der zeitgenössischen Debatten über die problematische Seite männlicher Sexualität. Vgl. Kucklick, Geschlecht, 117–133. 179 Ich beziehe mich hier auf die Frage von Barbara Duden, ob Menschen der Frühen Neuzeit einen Körper „hatten“ oder nicht vielmehr Körper „waren“ Duden, Geschichte, 20.
1.5 Krankenakten als Quellen
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1.5 Krankenakten als Quellen: Dr. Franz v. Ottenthal und seine Historiae Morborum Die Biographie Franz v. Ottenthals wurde von Elena Taddei bereits detailliert recherchiert und liegt seit 2010 publiziert vor,180 sodass an dieser Stelle lediglich die wichtigsten Eckdaten im Leben dieses Arztes in einem kurzen Überblick zusammengefasst werden. Geboren am 23. Mai 1818 als ältestes von drei Kindern einer Familie aus dem ländlichen Tiroler Kleinadel begann Ottenthal im Herbst 1837 mit einem Studium an der Medizinischen Fakultät in Wien. Sein Diplom als Doktor der Medizin erhielt er im Juni 1843, jenes als Doktor der Chirurgie im Oktober desselben Jahres. Da für die Bewerbung um eine potentielle Stelle im öffentlichen Sanitätsdienst auch eine geburtshilfliche Ausbildung notwendig war, legte er im Februar 1844 zusätzlich ein Rigorosum zu diesem Spezialgebiet ab. Zwischen 1844 und 1846 arbeitete er zunächst als Gemeindearzt im östlichen Nachbarbezirk des Tauferer Ahrntals, dem Bezirksgericht181 Windisch-Matrei (heute Matrei in Osttirol), ehe er den Sprung in die Selbständigkeit wagte. Im Jänner 1847 eröffnete er dann seine Privatpraxis in der zu dieser Zeit rund 740 Seelen zählenden Gemeinde Sand, dem Verwaltungssitz des Bezirksgerichts Taufers (ca. 10.000 Einwohner).182 Die Praxis befand sich direkt im Wohnhaus des Arztes, dem Ansitz Neumelans. Dieser im 16. Jahrhundert errichtete, mehrstöckige und weithin sichtbare Steinbau fungierte einst als Wohn- und Arbeitsort des Landrichters.183 Er fiel dem Vater Ottenthals im Erbwege von dessen Onkel zu, der als Pfleger im Auftrag der Grafen von Ferrari d’Occhieppo deren Agenden als Gerichtsherren vor Ort besorgte. Ottenthal führte seine Landarztpraxis ohne Unterbrechung bis zum 29. Jänner 1899, als er hochbetagt und nach rund 52 Jahren ärztlicher Tätigkeit im Bezirk Taufers verstarb. Zwischen 1861 und 1888 hatte er zusätzlich immer wieder provisorisch die Aufgaben des Gerichtsarztes zu übernehmen, wenn diese Stelle bis zur Neubesetzung vakant war. Wie ein Vergleich der Verteilung der Patientenzahlen Ottenthals eines Jahres auf die einzelnen Tage mit jener zu Praxen anderer Ärzte des 19. Jahrhunderts ergab, bewegten sich die Patientenkontakte mit rund acht Patientinnen und Patienten pro Tag etwas über dem Durchschnitt des damals üblichen Arbeitspensums eines Arztes (vgl. Tab. 1.1). Die Struktur und die Entwicklung der Ärztedichte im Sanitätsbezirk Taufers während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden im Kapitel 2.2 ausführlich erläutert. Es hat den Anschein, dass Ottenthal anders als viele seiner ärztlichen Kollegen in Städten mit medizinischen Fakultäten, Kliniken und Spitälern von 180 Taddei, Ottenthal. 181 Zur Entwicklung der Verwaltungsstruktur im 19. Jahrhundert und zu den unterschiedlichen Bezeichnungen der Gerichte siehe Kapitel 2.1. 182 Zahlen nach Staffler, Tirol, 245. 183 Zur Geschichte des Ansitzes Neumelans und jener der weiteren Ansitze im Dorf siehe Kulturmeile, 87–99.
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1 Einleitung
Tab. 1.1: Durchschnittliche Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte pro Tag in vier ausgewählten Arztpraxen des 19. Jahrhunderts
Arzt
Patientenkontakte pro Tag (Durchschnittswerte)
Stichjahre
Cäsar Adolph Bloesch, Allgemeinarzt, Biel/CH (1804–1863)
15 14 18
1841 1851 1861
Franz v. Ottenthal, Allgemeinarzt, Sand/A (1818– 1899)
7 8 13 7
1857 1867 1887 1897
Friedrich v. Bönninghausen, Homöopath, Münster/D (1828–1910)
8 6 2 2
1864–1867 1872–1875 1879–1882 1886–1889
James Langstaff, Allgemeinarzt, Richmond Hill/CAN (1825–1889)
3 9 8 9
1851 1861 1872 1882
Quellen: Ottenthal: eigene Berechnungen; Bloesch: freundliche Mitteilung von Philipp Klaas, Bern; Bönninghausen: freundliche Mitteilung von Marion Baschin, Stuttgart; Langstaff: Duffin, Langstaff, berechnet nach Angaben aus Tab. 5.1, 94.
keinem allzu großen Forschergeist beseelt gewesen war.184 Er hielt zwar Kontakt zu seinen Studienkollegen aus der Zeit in Wien, bemühte sich aber ansonsten nur wenig um Anschluss an die exklusiven Zirkel der medizinischen Community. Er veröffentlichte keine Beiträge in medizinischen Fachzeitschriften, war nie als Lehrender tätig, tauschte sich nur selten mit Ärztekollegen über aktuelle Fachdebatten aus185 und stellte vermutlich auch nie private Versuchsreihen zu einem medizinisch noch wenig erforschten Bereich an. Zielstrebiger als in den Angelegenheiten seiner wissenschaftlichen Vernetzung war er hingegen im Bemühen, in verschiedenen politischen Gremien vertreten zu sein. Als Gemeinderat seiner Heimatgemeinde und als Kassier des Gerichtsbezirks bekleidete er nicht nur in der kommunalen Politik immer wieder zentrale Ämter, zwischen 1861 und 1883 vertrat er als Landtagsabgeordneter der Liberalen auch den Wahlbezirk Bruneck im Tiroler Landtag.186 Diese Tätigkeit berührte seine Funktion als Arzt, weil er während der mehrwöchigen 184 Am Beispiel dreier Stadtärzte aus der frühen Neuzeit dazu Schilling/Schlegelmilch/Splinter, Stadtarzt, 99–133. 185 Lediglich mit seinen Kollegen aus dem Umkreis seines Einzugsgebiets diskutierte er gelegentlich komplizierte Krankengeschichten seiner Patientinnen und Patienten, wie seine Notizen in den Krankenjournalen immer wieder belegen. 186 Zu dieser Tätigkeit siehe Taddei, Ottenthal, 180–209.
1.5 Krankenakten als Quellen
45
Sitzungen des Landtags in Innsbruck einerseits seine Praxis in Sand geschlossen halten musste. Zum anderen konnte er mit diesem Mandat aber auch spezifisch sanitätspolitische Interessen verfolgen und vorantreiben. So trat er vehement für die Errichtung einer zweiten „Landesirrenanstalt“ im Süden Tirols ein, da er vermutlich die schwierige Situation bei der Versorgung psychisch Kranker auf dem Land aus seiner eigenen Praxis kannte.187 Nicht zuletzt aufgrund der Bemühungen Ottenthals wurde 1879 schließlich mit dem Bau einer zweiten Anstalt in Pergine im heutigen Trentino begonnen, nachdem die im Jahre 1830 in Hall in Nordtirol gegründete „Nervenheilanstalt“ den zahlreichen Gesuchen aus den Gemeinden um Aufnahme ihrer „Irren“ aus Platzmangel längst schon nicht mehr nachkommen konnte.188 Franz v. Ottenthal heiratete 1852 mit Katharina von Preu (1825–1893) standesgemäß die Tochter eines Landrichters und hatte mit ihr sieben Töchter und drei Söhne, von denen Emil v. Ottenthal (1855–1931) als überaus renommierter Historiker wohl der prominenteste Nachfahre dieser Familie werden sollte. Es hätte diesen Archivwissenschaftler der alten Schule sicherlich gefallen zu erfahren, dass die 244 Praxisjournale seines Vaters die vielen Jahrzehnte hinweg in einer Ecke auf dem Dachboden seines Geburtshauses nahezu unbeschadet überdauert haben und bis auf vereinzelte Hefte in kompletter Serie erhalten geblieben sind. Wie die eigentliche „Entdeckerin“ dieser Quelle und nunmehrige Direktorin des Südtiroler Landesarchivs, Dr. Christine Roilo, hätte wohl auch er sich bemüht, die von Ottenthal selbst als Historiae Morborum betitelten Praxisjournale für die Nachwelt zu sichern und so der Forschung zugänglich zu machen.189 Aus der Zeit der Tätigkeit Franz v. Ottenthals als Gemeindearzt in Windisch-Matrei haben sich 14 Hefte erhalten. Grundlage der vorliegenden Untersuchung bilden aber die Aufzeichnungen aus der privatärztlichen Praxis Ottenthals in Sand in Taufers zwischen 1847 und 1899. Aus diesem Lebensabschnitt haben sich 230 einzelne Hefte erhalten, wobei in den Anfangsjahren vier, in den späteren Jahren aufgrund der steigenden Patientenfrequenz dann sechs Hefte ein Jahr bildeten.190 Ein Heft besteht aus einzelnen vorgebundenen Bögen im Quartformat, die vom Umfang her stark variieren (anfänglich ca. 20 und am „Höhepunkt“ seiner Praxis bis zu 100 Seiten). Anders als dies etwa der Bieler Stadtarzt Cäsar Adolph Bloesch (1804–1863) praktiziert hatte,191 ließ Ottenthal die Hefte eines einzelnen Jahres nicht zu einem Jahresband mit festem Buchrücken binden, sondern verwahrte die Hefte lose auf. Um den Überblick zu behalten und um chronische Erkrankungen schneller 187 Vgl. dazu Dietrich-Daum/Taddei, Versorgung, 34–40. 188 Zur Geschichte dieser Anstalt siehe Griessenböck, Landes-Irrenanstalt, 131–156. 189 Die Krankenjournale und kleine Teile seines sonstigen Nachlasses liegen als Depositum im Südtiroler Landesarchiv in Bozen. Zur Überlieferungsgeschichte siehe Roilo, Historiae Morborum, 57–80. 190 Eine genaue Beschreibung der Krankenjournale und der Überlieferungsgeschichte findet sich bei Roilo, Medizin, 153–157, und Roilo, Historiae Morborum, 61–63. 191 Zu diesem Arzt und dessen Journalen vgl. die Angaben bei Boucherin, Krankengeschichten, 148.
46
1 Einleitung
Abb. 1.1: Franz von Ottenthal und seine Ehefrau Katharina von Preu Quelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck; Bibliothek W 25299
nachschlagen zu können, legte er jedes Jahr ein Register mit den Namen seiner Patientinnen und Patienten sowie deren Laufnummer in den betreffenden Heften an. Diese Blätter legte er dann jeweils in das erste Heft eines Jahres ein. 1.5.1 Die Historiae Morborum Martin Dinges bezeichnet die Bearbeitung ärztlicher Krankenjournale als „Königsweg zur Erforschung der ärztlichen Praxis“192. Diese spezifische Quellengattung bietet nicht nur eine umfassende Fülle von Informationen zur Nachfrageseite (patientenbezogene Daten wie Geschlecht, Alter, Herkunft, Beruf), sondern auch detaillierte Angaben über das ärztliche Krankheitsspektrum und Aufgabenprofil, über Therapie und Medikation. Wurden die Krankenjournale vom jeweiligen Arzt zugleich auch als internes Rechnungsbuch verwendet, kann aus ihnen auf die charakteristischen Abrechnungswege der erbrachten medizinischen Leistung und die Zahlungsmoral der Patientinnen und Patienten rückgeschlossen werden. Anders als ärztliche Fallsammlungen 192 Dinges, Arztpraxen, 38–46, Zitat 38.
1.5 Krankenakten als Quellen
47
– seien diese nun publiziert oder als unveröffentlichtes Manuskript überliefert – oder medizinische Topographien repräsentieren Journale keine vom Arzt bewusst nach Aspekten des medizinischen Neuigkeitswertes oder der Erfüllung obrigkeitlicher Vorgaben zur Erstellung statistischer Daten zusammengestellte Quelle, die meistens nach einem längerem Reflexionsprozess im Nachhinein aus dem vorhandenen Material ausgewählt wurden.193 Sie wurden vielmehr gleichzeitig mit oder unmittelbar nach der Konsultation niedergeschrieben und waren deshalb einer geringeren Filterung als andere Quellen ausgesetzt. Allerdings haben die rezenten Forschungen zu unterschiedlichen ärztlichen Aufschreibesystemen im zeitlichen Vergleich ergeben, dass die ärztlichen Einträge bisweilen nicht so unmittelbar sind, wie auf den ersten Blick zu vermuten ist.194 Sie wurden beileibe nicht immer Abend für Abend im stillen Studierzimmer des Arztes bei Kerzenlicht zu Papier gebracht. Praxisaufzeichnungen sind zudem über die Zeiten und Räume betrachtet auch keine homogene Quellengattung, sondern setzen sich über frühneuzeitliche observationes bis hin zu modernen vorgedruckten Blättern aus unterschiedlichsten Formaten zusammen.195 Dennoch vermitteln ärztliche Krankenjournale einen überaus gewinnbringenden Einblick in das, was für gewöhnlich den Alltag einer ärztlichen Praxis ausmachte, war dieser Alltag nun durch die Funktion als Stadtoder Landarzt, als Gemeinde- oder Privatarzt bestimmt. Auch für die eher patientenorientierte Fragestellung nach der „Bewältigung von Krankheit in einem sozialen System“196 bleiben sie trotz einiger methodischer Einwände weiterhin eine der wichtigsten Quellen. Für eine sozialhistorisch ausgerichtete Arztpraxisforschung sind Aufzeichnungen von Heilpersonen jedweder Qualifikation und Stellung deshalb in der Tat ein „Königsweg“. In den Historiae Morborum werden die Eintragungen zu den einzelnen Patientinnen und Patienten chronologisch geführt und präsentieren sich in einer tabellenförmigen Struktur aus zwei Zeilen und drei Spalten, die mit einem Bleistift von Ottenthal oder einer Hilfskraft vorgezeichnet wurde.197 In der ersten Zeile wurden die personenbezogenen Daten (Name, Wohnort, Wohnadresse) notiert, in der zweiten Zeile die Daten zu den einzelnen Konsultationen (Alter, Ergebnisse der Anamnese, die vom Erkrankten mitgeteilten Beschwerden und die vom Arzt gemachten Beobachtungen). Die erste Spalte wiederum war reserviert für die Laufnummer und das Konsultationsdatum, die zweite für die Konsultation und die dritte für das Honorar und die Verordnung (vgl. Abb. 1.2). Wurde durch die Vielzahl benötigter Konsultationen der 193 Vgl. dazu Stolberg, Homo patiens, 10 f. 194 Vgl. (allerdings mit Schwerpunkt auf die Entwicklung der Gattung „Krankenakte“ in Krankenhäusern) Hess, Beobachtung, 295–301. 195 Vgl. die konzeptionellen Überlegungen zur Vielfalt ärztlicher Krankenaufzeichnungen von Ärzten des 17. bis 19. Jahrhunderts von Hess/Schlegelmilch, Cornucopia [im Druck], sowie Hess/Mendelsohn, Case, 287–314. 196 Eckart/Jütte, Medizingeschichte, 29. 197 Christine Roilo geht etwas ausführlicher auf die Struktur der Hefte ein. Roilo, Medizin, 153–157, und Roilo, Historiae Morborum, 61–63.
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1 Einleitung
Abb. 1.2: Krankengeschichte mit der Laufnummer 644. Detail einer Seite aus dem Krankenjournal des Jahres 1866 Quelle: Südtiroler Landesarchiv [= SLA], Nachlass Ottenthal, HM 1866, Heft 2 (Ausschnitt)
vorgegebene Platz überschritten, begann Ottenthal ein neues Feld im Heft, das er mittels Verweisnummern markierte. So konnte er den Verlauf einer sich über mehrere Jahre hinziehenden chronischen Erkrankung verfolgen und die jeweils verabreichte Medikation leicht in dem Namensgewirr der einzelnen Hefte finden. Das Namensregister zu seinen Patientinnen und Patienten, das er am Ende jeden Jahres anfertigte und in das jeweils erste Heft einlegte, erleichterte ihm dabei die Suche. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die quantitativen Auswertungen und qualitativen Analysen nicht anhand der originalen Krankenaufzeichnungen im Südtiroler Landesarchiv gemacht wurden, sondern auf Grundlage der Daten in einer speziell für diese Quelle konzipierten und online abrufbaren Datenbank, in die die Journale dieses Arztes übertragen wurden. Dieses sogenannte „Historiae Morborum Abfrageportal“ wurde im Rahmen eines zwischen 2002 und 2007 am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck laufenden Forschungsprojektes (Interreg IIIA-Projekt zwischen der Europäischen Union, Nordtirol und Südtirol) erstellt.198 Sämtliche Krankenakten Ottenthals während seiner Zeit in Sand wurden im Rahmen dieses Forschungsprogramms quellengetreu in eine Oracle-Datenbank übertragen und stehen somit Forschenden weltweit für eine Nutzung zur Verfügung.199 198 Zu diesem Projekt siehe Dietrich-Daum, Historiae, 83–89. 199 Siehe die offizielle Homepage mit dem Link zur Datenbank. http://www.uibk.ac.at/ottenthal. Der Antrag für einen Zugangscode zum Abfrageportal kann über ein onlineFormular gestellt werden.
1.5 Krankenakten als Quellen
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1.5.2 Methodische Überlegungen Um Kontinuitäten und Brüche beim männlichen Patientenverhalten sichtbar zu machen, wurde für diese Arbeit ein Vergleich zwischen zwei Jahrzehnten gewählt. Die Jahre zwischen 1860 und 1869 dokumentieren die Phase der Konsolidierung der Praxis, als der Arzt schon gut 15 Jahre in Sand ansässig war und sich vermutlich einen gewissen Ruf erworben hatte. Die Jahre zwischen 1890 und 1899 stehen für das letzte Jahrzehnt der ärztlichen Tätigkeit, als die Zahlen der Patientinnen und Patienten wohl hauptsächlich aufgrund des hohen Alters und der verminderten Belastbarkeit des nunmehr hochbetagten Arztes rückläufig waren. Insgesamt wurden für diese Studie alle 83 Hefte aus den einzelnen Jahren der beiden Zeiträume 1860 bis 1869 und 1890 bis 1899 ausgewertet. In den 83 Heften hatte Franz v. Ottenthal knapp 30.000 Laufnummern vergeben, wobei jede einzelne Nummer für diese Arbeit auf relevante Aspekte (etwa Beschwerde/Diagnose/Konsultationsanlass) durchgesehen wurde. Hinsichtlich der quantitativen Analyse des Diagnosespektrums und der konkreten Beschwerdeanlässe, die zu einem Arztkontakt führten, wurden für die Altersgruppe der Säuglinge, Kinder und Senioren die Daten für beide Geschlechter erhoben. Für die Gruppe der jüngeren, mittleren und älteren Erwachsenen zwischen 14 und 65 Jahren konnten hingegen nur die Krankengeschichten der männlichen Patienten der beiden Jahrzehnte ausgewertet werden. Die enorme Menge an einzelnen Konsultationen in dieser (gemessen an der gesamten Patientenschaft) anteilsmäßig größten Klientengruppe Ottenthals erschwerte eine Analyse des Diagnosespektrums auch für die erwachsenen Frauen im Rahmen dieser Dissertation. Auch wenn für diese Altersgruppe lediglich die Datensätze der männlichen Patienten herangezogen und somit keine geschlechtervergleichenden Analysen durchgeführt wurden, bleiben genügend Anknüpfungspunkte für eine Auswertung. Für die bei dieser Altersgruppe relevante Fragestellung, welche Charakteristika das männliche Krankheitsverhalten innerhalb der eigenen Geschlechtergruppe je nach spezifischer Lebensphase aufweist, genügen die Einträge zu den männlichen Ratsuchenden vollkommen. In den 1980er und 1990er Jahren nahm die Frage nach ungleichen Auswirkungen von Machtverhältnissen innerhalb der eigenen Geschlechtergruppe in den Debatten der feministischen Geschichtswissenschaft breiten Raum ein.200 Die Vorstellung einer stabilen und homogenen Kategorie „Frau“, die sich durch gemeinsame Interessen, Ziele und Erfahrungen auszeichnet, wurde kritisch hinterfragt. Daraus resultierte die Erarbeitung flexiblerer Gender-Konzepte. Die neuen Erkenntnisse um die Vielschichtigkeit – nicht nur des weiblichen – Geschlechts führten zur Ausweitung der Frauen- zur Geschlechtergeschichte und eröffnete neue Achsen der Differenz. Die Frage, ob Faktoren wie etwa die soziale Schicht in bestimmten Bereichen nicht für grö200 Vgl. dazu den Überblick bei Griesebner, Geschichtswissenschaft, 153–158.
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ßere Ungleichheiten verantwortlich wären als die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, wurde gestellt. Angeregt durch die Debatten aus der Frauenforschung, entwickelte der australische Soziologe Robert Connell für die Männerforschung das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“.201 Mit diesem Konzept wollte Connell den Blick dafür schärfen, dass auch innerhalb der gesellschaftlich privilegierten Geschlechtergruppe der Männer durch Faktoren wie etwa Sexualität oder Schichtzugehörigkeit Ungleichheiten begründet werden. Alle diese Konzepte stimmen darin überein, dass „Geschlecht eine relationale Kategorie ist, die sich in Beziehung zum Anderen herausbildet“202. Neben dem Geschlecht existiert folglich eine Reihe anderer Kategorien, die Identitäten herstellen und Differenzen markieren. Alter, Ethnie, Religion oder Klasse/Stand sind derartige Klassifikationssysteme, nach denen Individuen von anderen wahrgenommen, bewertet, aus spezifischen sozialen Räumen ausgewiesen oder auf solche Räume begrenzt werden. Wenn „Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie“203 daher mit anderen Kategorien wie etwa dem Alter verbunden wird, treten weitere Faktoren in den Blick, die neben der Zugehörigkeit zum weiblichen oder männlichen Teil der Bevölkerung Erfahrungen von Ungleichheit bestimmen. Im Bereich der Gesundheitswissenschaften entfaltet „Geschlecht als relationale Kategorie“ beispielsweise dann eine gewisse Brisanz, wenn zielgruppenspezifische Präventionsprogramme etwa für Migrantinnen und Migranten ausgearbeitet werden sollen.204 Für diese Gruppen kann die Kategorie „Ethnie“ mehr Einfluss auf bestimmte Aspekte des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens haben als die Kategorie „Geschlecht“, indem der Zugang zu Angeboten des Gesundheitssystems aus unterschiedlichsten Gründen erschwert ist oder spezifische Gesundheitsprobleme und Erkrankungen auftreten. Für den Bereich der Männergesundheitsforschung hat Martin Dinges schon sehr früh die Tendenz kritisiert, verallgemeinernd von „den“ Männern als homogenen Block zu sprechen und damit unter Anderem binnengeschlechtliche Differenzen von Männern etwa hinsichtlich gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen aus den Augen zu verlieren.205 Am Beispiel des Krankheitsverhaltens der männlichen Bevölkerung in der hier untersuchten ländlichen Region des Tauferer Ahrntals im 19. Jahrhundert würden diese kritischen Überlegungen bedeuten, verschiedene Faktoren der Differenz in die Auswertung der Historiae Morborum einfließen zu lassen. So ist etwa hinsichtlich des Alters zu vermuten, dass ein junger arbeitsfähiger Knecht gewisse Handlungsspielräume innerhalb des Arzt-Patienten-Kontak201 Connell, Mann. 202 Martschukat/Stieglitz, Junge, 72. Im Hinblick auf die Umsetzung für eine Geschichte der Männlichkeiten siehe den Abschnitt 72–75. 203 Griesebner, Geschlecht, 133. 204 Zur Relevanz dieser feministischen Theorien für die Gesundheitswissenschaften und zur praktischen Umsetzung dieser Konzepte in Public Health-Programme siehe Kuhlmann/ Kolip, Gender, 51–71. 205 Vgl. Dinges, Männer [2009], 20.
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tes hatte, wenn die Behandlungskosten, wie in vielen Fällen üblich, vom dienstgebenden Bauern übernommen wurden. Diese Spielräume dürften sich anders gestaltet haben, wenn derselbe Mann Jahrzehnte später, als nun altersschwach gewordener Knecht und als Einleger von Hof zu Hof ziehend, nur noch rudimentär auf Kosten des Armenfonds vom Arzt versorgt wurde. Ebenso kann man vermuten, dass Franz v. Ottenthal seine wohlhabende Klientel wie den Landrichter des Bezirks oder die Frau des Barons von Zeilheim anders behandelte als seine weniger begüterte, sei es dass er diesem Personenkreis teurere Medikamente verschrieb oder sich mehr Zeit für Hausbesuche nahm. Nun kann dieser, zahlenmäßig allerdings nicht sehr große Personenkreis an Landadel und Beamten noch einigermaßen leicht in der Datenbank abgefragt werden. Da Ottenthal in den Historiae Morborum aber keinerlei Hinweise für eine Zuordnung eines Ratsuchenden zur Schicht der Groß-, Mittel- und Kleinbauern oder zu Kleinhäuslern/Tagelöhnern notiert hat, ist die Frage nach sozial bedingten Unterschieden einer ärztlichen Behandlung für andere Bevölkerungsschichten nicht so leicht zu beantworten. Auch die Frage, ob sich die sozioökonomische Position der Patientinnen und Patienten auf deren Nachfrage nach einem Arzt auswirkte, kann aus den Angaben in den Krankenjournalen selbst nicht beantwortet werden. Dazu hätte die Schichtzugehörigkeit als „Kategorie der Differenz“ erst mühsam aus anderen Quellen erhoben werden müssen, eine Aufgabe, die im Rahmen dieser Dissertation nicht geleistet werden konnte. Fragen der religiösen Zugehörigkeit mögen auf der Ebene landespolitischer Debatten über das Recht von „Akatholiken“ zur Religionsausübung im Tiroler Raum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben.206 Für den Alltag in der ärztlichen Praxis Ottenthals hatte dieser Streit um die „Glaubensfreiheit“ jedoch keinerlei Bedeutung, da die Bevölkerung in dessen Einzugsgebiet nahezu ausnahmslos katholisch war. Entsprechende Vermerke in den Krankenakten zur Konfession waren daher nicht notwendig. Zwar hatte die Bevölkerung des Ahrntals durch die Übergänge ins Zillertal und in das Pinzgau in früherer Zeit Kontakte zu den dort bis zu ihrer Vertreibung Ende des 18. Jahrhunderts lebenden Protestanten, und auch durch das Kupferbergwerk in Prettau kamen über die Arbeitsmigration aus deutschen Bergbaugebieten einst Knappen protestantischer Konfession in diese Region.207 Allerdings waren Familien, die sich im Bezirk Taufers zum protestantischen Glauben bekannt haben, nie sehr zahlreich und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entweder schon längst ausgewandert oder zum katholischen Glauben übergetreten. Wie Nicole Schweig in ihrer Arbeit gezeigt hat, war auch der Zivilstand eine relevante Kategorie bei der Erzeugung von Ungleichheiten im Bereich Gesundheit und Krankheit.208 Allerdings notierte Ottenthal Angaben zum Zivilstand (etwa Witwe/Witwer, Mutter mit unehelichem Kind) nur vereinzelt und führte diese weder einheitlich noch konsequent bei allen Personen durch, 206 Vgl. dazu den Abschnitt bei Taddei, Ottenthal, 187–191. 207 Dazu mehr bei Innerhofer, Taufers, 214–221. 208 Vgl. Schweig, Gesundheitsverhalten, 29 f.
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sodass auch diese Kategorisierung nicht für repräsentative Aussagen verwendet werden kann. Als einziges, direkt aus den Quellen zu erschließendes Kriterium der Differenz neben dem Geschlecht bleibt somit nur das Alter übrig. Die einzelnen Abschnitte in dieser Forschungsarbeit richten sich daher nach den einzelnen Altersstufen bzw. Lebensabschnitten: Säuglinge (0 – unter 1 Jahre) in Kapitel 3.1.; (Klein-)Kinder (über 1 – unter 14 Jahre) in Kapitel 3.2.; jüngere, mittlere und ältere Erwachsene (über 14 – unter 25; über 25 – unter 45; über 45 – unter 65) in Kapitel 3.3; Alte (über 65) in Kapitel 3.4 Die Altersgrenzen innerhalb der einzelnen Altersgruppen waren bereits durch die Eingabekriterien bei der Erstellung der Datenbank vorgegeben209 und konnten nur bedingt für die in dieser Arbeit zu bearbeitenden Fragestellungen adaptiert werden.210 Diese einzelnen Lebensphasen werden im Hauptteil dieser Arbeit (Kapitel 3.1 bis 3.4) ausführlich analysiert, wobei zuerst immer eine quantitative Auswertung der Historiae Morborum hinsichtlich der Geschlechterverteilung seiner Patientenschaft und des Diagnosespektrums in den zwei Vergleichsjahrzehnten durchgeführt wurde. Im Anschluss an diesen statistischen Teil wurde für jede Lebensphase ein qualitativer Zugang zu den Krankenjournalen versucht. Die Fragestellung an die einzelnen Fallgeschichten richtete sich dabei an für die jeweilige Altersgruppe besonders relevante Gesundheitsgefährdungen und Krankheitsrisiken. Diese wurden in den Kontext der in dem jeweiligen Alter spezifischen Erwartungen und Anforderungen an die „Männerrolle“ und an zeitgenössische Männlichkeitsmodelle gestellt und in Bezug zu möglichen Auswirkungen auf das Krankheitsverhalten gesetzt. Im Folgenden wird nun in einem ersten Abschnitt (Kapitel 2.1) ein kurzer Überblick über die sozioökonomische und politische Entwicklung des Gerichtsbezirks Taufers gegeben, in dem sich die Praxis Franz v. Ottenthals befand und aus dessen einzelnen Gemeinden sich das Einzugsgebiet seiner Patientinnen und Patienten zu einem großen Teil rekrutierte. Dieser sozial- und wirtschaftsgeschichtlich ausgerichteten Darstellung folgt anschließend ein Überblick über die sanitätspolitische Entwicklung dieser Region (Kapitel 2.2). Der Bezirk Taufers war trotz seiner Abgeschiedenheit und seiner schwierigen topografischen Gegebenheiten keine „medizinische Wüste“, sondern Franz v. Ottenthal musste sich als privater Allgemeinarzt den medizinischen Markt mit anderen Ärzten und Wundärzten, Hebammen, Laienheilerinnen und Laienheilern teilen und sah sich mit den vielfältigen Formen medizinischer Selbsthilfe konfrontiert. Wie sich dieser Markt im Verlauf des 19. Jahrhunderts ver209 Zum Problem des Alters siehe den entsprechenden Abschnitt im „Manual“ zur Handhabung der Ottenthal-Datenbank. http://www.uibk.ac.at/ottenthal/deutsch/manual_deu. pdf (Abschnitt 2.2.13 auf Seite 12). 210 So konnte die Gruppe der Kleinkinder und der Kinder zwar problemlos gemeinsam in einer Abfrage ausgewertet werden, eine Zusammenführung der Datenbankfelder etwa zu den Jugendlichen (14–18) und den jüngeren Erwachsenen war jedoch nicht möglich. Die Zuordnung zur entsprechenden Altersgruppe musste für jede Person einzeln vorgenommen werden.
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ändert hat und ob die zunehmende Ärztedichte in dieser Gegend auch zu einer höheren Medikalisierung der Talbevölkerung geführt hat, wird dort näher beleuchtet. Im letzten Kapitel dieses Abschnitts (Kapitel 2.3) steht die Entwicklung des Sterblichkeitsgeschehens im Bezirk Taufers zwischen 1870 und 1910 im Mittelpunkt. Auf Grundlage einer Analyse der Sterbematrikel der einzelnen Gemeinden in diesem Bezirk und der amtlichen Statistiken zum gesamten Bezirk Bruneck sollen für ausgewählte Stichjahre Unterschiede in der geschlechterspezifischen Sterblichkeit erhoben werden, um vor dem Hintergrund der in dieser Region herrschenden Sterblichkeitsmuster die krankheitsbezogenen Verhaltensweisen von Männern und Frauen besser einordnen zu können. Wie stark waren geschlechterspezifische Mortalitätsdifferentiale, die in der aktuellen Diskussion unter dem Begriff des gender gap211 diskutiert werden, bereits bei den Bewohnerinnen und Bewohnern Südtirols vor gut eineinhalb Jahrhunderten ausgeprägt? Im umfangreichen nächsten Abschnitt werden geschlechtsspezifische Verhaltensmuster hinsichtlich des Krankheitsverhaltens von Männern (und Frauen) in den einzelnen Lebensabschnitten untersucht. Das erste Kapitel (3.1) widmet sich daher dem Säuglingsalter und wirft die Frage auf, inwiefern männliche Säuglinge im Tauferer Ahrntal der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ungleich schlechteren Voraussetzungen ins Leben starteten als weibliche. Denn es ist ein nahezu weltweit zu beobachtendes und historisch konstantes Phänomen, dass die Sterblichkeit und die Krankheitsanfälligkeit männlicher Säuglinge signifikant höher liegen als jene von weiblichen Neugeborenen. Dementsprechend ist deren Anteil in ärztlichen Praxen auch durchwegs geringer als jener von Unter-Einjährigen männlichen Geschlechts. Dem Abschnitt liegt die aus diesen Befunden abgeleitete Hypothese zugrunde, dass auch die Eltern in dieser ländlichen Region Südtirols ihre neugeborenen Söhne häufiger dem Arzt Franz v. Ottenthal vorstellten als ihre Töchter. Kritisch zu hinterfragen wird dabei sein, ob dieser Überhang männlicher Säuglinge tatsächlich durch deren größeres Ausgesetzt-Sein gegenüber Gesundheitsgefährdungen und deren höhere Anfälligkeit bestimmten Krankheiten gegenüber zu erklären ist, oder ob dem männlichen „Stammhalter“ eine fürsorglichere Pflege zuteil wurde als einer Tochter. In den gegenwärtigen Debatten zur Männergesundheit werden (ältere) männliche Kinder als „Problemgruppe“ begriffen, die sowohl physisch als auch psychisch gegenüber dem weiblichen Geschlecht zahlreiche Defizite aufweisen. Jungen fallen in der Schule vielfach hinter den Leistungen der Mädchen zurück, zeigen mehr Verhaltensauffälligkeiten und landen öfter in Sonderschulen. Untersuchungen, wonach Jungen im Kinderalter häufiger einem Arzt vorgestellt werden als Mädchen, veranlassen einige in der Jungenarbeit Tätige zu der Behauptung, „Jungs“ seien eigentlich das gesundheitlich schwächere Geschlecht. Am Beispiel der Gruppe der vier bis 14-jährigen Patientinnen und Patienten in den Historiae Morborum wird im zweiten Kapitel (3.2) zu 211 Vgl. dazu Weigl, „gender gap“, 23–40.
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überprüfen sein, ob männliche Kinder auch vor rund 150 Jahren schon häufiger in einem ärztlichen Wartezimmer herumzappelten, oder ob die Infektionskrankheiten, die im 19. Jahrhundert das Mortalitätsgeschehen dieser Altersgruppe dominierten, zu einer anderen Verteilung des Geschlechterverhältnisses in dieser jüngeren Altersgruppe geführt haben. Sollten in den statistischen Auswertungen signifikante Geschlechtsunterschiede etwa hinsichtlich bestimmter Krankheitsbilder sichtbar werden, muss der Blick auf mögliche biologische oder soziale Faktoren für diese Benachteiligung gerichtet werden. Pubertät und Adoleszenz stellen für männliche und weibliche Jugendliche eine Lebensphase dar, in der sie nicht nur die sich vollziehenden körperlichen Veränderungen verarbeiten müssen. Sie sollten sich in dieser Periode auch zunehmend mit den gesellschaftlich vorherrschenden Bildern von Männlichkeit und Weiblichkeit auseinander setzen und eine eigene Position zu diesen Geschlechtsrollenmustern finden. Im Gegensatz zu den eher geschlechtervergleichenden Analysen der beiden vorigen Abschnitte richtet sich im dritten Kapitel (3.3) das Interesse allerdings auf binnengeschlechtliche Unterschiede im Krankheitsverhalten der jüngeren, mittleren und älteren männlichen Erwachsenen. Als These wird dabei formuliert, dass männliche Jugendliche ungleich riskantere Verhaltensweisen an den Tag legen als Männer im mittleren Lebensabschnitt, die aufgrund von Heirat und Familiengründung zu weniger riskanten Verhaltensweisen neigen und auch versuchen dürften, Gesundheitsrisiken bewusst zu vermeiden. Dieser Wechsel müsste sich im Krankheitsspektrum niederschlagen, etwa durch einen geringeren Anteil an verletzungsbedingten Behandlungen. Freilich gilt es zu überprüfen, ob die aus aktuellen Studien zur Jungengesundheitsforschung und Jugendsoziologie gewonnenen Befunde über jene „kollektiv-kompetitiven Spiele“, die Michael Meuser zufolge über ein Risikohandeln Männlichkeit generieren und reproduzieren,212 auch für junge Erwachsene in einer ländlichen Region in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zutreffen. Von einer „Jugendphase“ als Konzept wird gemeinhin erst im späten 19. und für breitere Bevölkerungsgruppen erst im 20. Jahrhunderts gesprochen, nachdem sich der Beginn des „Habitus eines Erwachsenen“ durch immer längere Ausbildungsphasen zeitlich immer weiter nach hinten verschoben hat. Eine Frage wird daher sein, inwiefern sich in einer ländlichen Gesellschaft die heute als „Adoleszenzkrisen“ bezeichneten Problemlagen männlicher Jugendlicher überhaupt entwickeln konnten. Der letzte Abschnitt (3.4) schließlich umfasst die Lebensphase des Älterwerdens und des Alt-Seins. Es dürfte interessant sein zu untersuchen, inwiefern die in der heutigen „alternden Gesellschaft“ so dominanten chronischen Krankheiten bereits die damals zahlenmäßig viel geringere Gruppe der alten und hochbetagten Tauferer Ahrntaler des 19. Jahrhunderts vor spezifische Problemlagen stellte, und wie sich das Wissen um die Nicht-Heilbarkeit von Erkrankungen etwa der Atemwege (Bronchitis) auf das männliche Krankheitsverhalten in dieser Altersgruppe ausgewirkt hat. 212 Meuser, Strukturübungen, 309–323.
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Zuletzt sei noch auf einige formale Aspekte hingewiesen: Sämtliche in dieser Arbeit erwähnten Patienten und Patientinnen aus den Historiae Morborum sind zwar mit einem Vornamen und einem Nachnamen angeführt, tragen aber ein * am Ende. Dieser Stern zeigt an, dass es sich bei diesen Namen um ein Pseudonym handelt. Da die italienischen Behörden die Krankenakten Ottenthals als hochsensibles Datenmaterial eingestuft haben,213 mussten sämtliche Personen ungeachtet des langen historischen Zeitraums aus Datenschutzgründen anonymisiert werden. Da meiner Ansicht nach Namen aber sehr viel über eine Region und über kulturelle Gegebenheiten aussagen, habe ich mich nicht wie in ähnlichen Fällen üblich zur Abkürzung des Nachnamens entschlossen, sondern zur Verwendung eines Pseudonyms. Dieses ist sprachlich an die gängigen Nachnamen in dieser Region angelehnt und führt die historischen Akteurinnen und Akteure dem Leser und der Leserin von Sprachmelodie und Typologie näher an die untersuchte Region heran als ein Buchstabe mit Punkt. Wenn die Namen nicht durch ein * gekennzeichnet sind, entstammen die Belege nicht aus dem Nachlass Ottenthals und somit aus Quellen, die nicht den strengen Auflagen der Behörden unterlagen. Des Weiteren tragen Hinweise zu Tabellen im Text mitunter den Buchstaben „A“. In diesem Fall handelt es sich um Tabellen oder Grafiken, die sich im Anhang am Ende dieser Publikation befinden und dort gesucht werden sollten. Jede Untersuchung, die sich mit historischen Krankheitsbezeichnungen beschäftigt und versucht, diese vor dem Hintergrund heute in der Medizin gebräuchlicher Klassifikationen zu kategorisieren und in eine schematische Darstellung zu bringen, sieht sich mit dem Problem der retrospektiven Diagnostik konfrontiert.214 Die Wahl jenes (methodischen) Weges, der einigermaßen sicher durch dieses Minenfeld der Medizingeschichte führt, hängt dabei von der Beschaffenheit der benutzten Quellen und dem jeweiligen Erkenntnisinteresse ab.215 Während sich Untersuchungen zum Wandel der Todesursachen bei der Zuordnung auf zeitgenössische Einteilungen der amtlichen Statistik stützen können, haben Forschungen zu Arztpraxen das Problem, dass Ärzte auch im 19. Jahrhundert noch vielfach nur Symptome und keine Diagnosen notierten. „Physical Signs at the Bedside“ nannte Jacalyn Duffin sinnigerweise jenen Abschnitt ihres Buches über James Langstaff, der sich mit der Diagnostik dieses Arztes beschäftigt.216 Ich habe mich daher entschieden, in dieser Arbeit ein Kategorisierungssystem aus der Zeit Franz v. Ottenthals zu verwenden. Jene Krankheitsgruppen, die der deutsche Arzt und medizinische Statistiker Friedrich Oesterlen 213 Diese strenge Handhabung hängt auch damit zusammen, dass es sich bei diesem Bestand um eine dem Südtiroler Landesarchiv von einer Privatperson offiziell als Depositum überlassene Quelle handelt. 214 Dazu grundlegend: Leven, Krankheiten, 153–185. Für weitere Literatur siehe den Überblick bei Eckart/Jütte, Medizingeschichte, 325–333. 215 Vgl. für das Krankheits- und Todesursachenspektrum des Juliusspitals in Würzburg (1821–1829) die Überlegungen von Bleker, Funktion, 123–144. 216 Duffin, Langstaff, 59.
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(1812–1877) in seinem 1865 veröffentlichten „Handbuch der medicinischen Statistik“217 vorgenommen hat, ließen sich dabei sehr gut auf die Historiae Morborum anwenden. Oesterlen dürfte als Zeitgenosse Ottenthals nicht nur dieselben medizinischen Fachtermini verwendet, sondern mit diesem auch das hinter diesen Begrifflichkeiten stehende Krankheitsverständnis weitgehend geteilt haben. Zudem strebte dieser Arzt mit seinem Handbuch sowohl eine statistische Erfassung der Mortalität als auch der Morbidität von Bevölkerungen an. Todesursachen und Krankheiten wurden somit mit denselben Termini bezeichnet und derselben Systematik zugeordnet (vgl. Abb. A.1.2a-c). Das Schema Oesterlens konnte also nahezu unverändert für die Tabellen zum altersspezifischen Todesursachenspektrum und zu den Konsultationsgründen in der Ottenthalschen Praxis übernommen werden, lediglich drei Einteilungen des Handbuchs erfuhren für diese Arbeit eine geringfügige Adaption: 1. Die von Oesterlen unter die Krankheiten der Geschlechtsorgane subsummierten „Krankheiten“ betreffend eine Schwangerschaft, eine Geburt oder das Wochenbett wurden von mir in die elfte Kategorie „nicht krankhafte Ursachen“ eingeteilt. 2. Die von Oesterlen verwendete Kategorie Rasche, plötzliche Todesfälle wurde nicht übernommen, da für diese Kategorie in den Historiae Morborum keine Entsprechung gefunden werden konnte. 3. Zur Aufgabe Ottenthals gehörte die Ausstellung von Gutachten, Attesten oder Zeugnissen, bzw. kamen Personen deswegen zu Ottenthal, um etwa ein Zeugnis zur Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Folglich erschien die Einführung einer zusätzlichen Kategorie sinnvoll, die ausschließlich derartige Konsultationsgründe umfasst. In dieser Rubrik finden sich auch die von den Patientinnen und Patienten vorgebrachten Medikamentenwünsche. In diesen meist sehr knappen Notizen des Arztes werden außer dem Wunsch keine spezifischen Symptome genannt („laxans desiderat“, „laxari cupit“). In den frühen 1970er Jahren schrieb eine der ersten Gruppen von Frauen, die sich in den USA zu einer Selbsthilfeinitiative zur Frauengesundheit zusammengeschlossen und unter dem Namen The Boston Women’s Health Book Collective das erste Handbuch „von Frauen für Frauen“ geschrieben hatte, „[….] Wir würden gerne ein Buch über den Mann und seinen Körper lesen.“218 Ich hoffe, rund 40 Jahre nach dieser Forderung, mit meiner Arbeit zur Erfüllung dieses Lesewunsches beitragen zu können. Bevor wir uns jedoch mit Hilfe der Historiae Morborum historisch weit zurück in die Zeit um 1860 begeben, um etwa mehr über die Körpererfahrungen und den Umgang mit körperlichen Beschwerden von Männern (und Frauen), zu erfahren, soll die Region des Tauferer Ahrntals, in der ein Großteil der in dieser Arbeit untersuchten Menschen zuhause war, etwas genauer nach ihren sozioökonomischen, sanitätspolitischen und epidemiologischen Strukturen für den Untersuchungszeitraum zwischen 1860 und 1900 beschrieben werden. 217 Oesterlen, Handbuch, XIV–XVIII (hier wurde die Zweitauflage von 1874 verwendet). 218 Zitiert nach Kuhlmann/Kolip, Gender, 42.
Allgemeine chronische Krankheiten Allgemeine acute Krankheiten Krankheiten des Nervensystems Krankheiten der Circulationsorgane Krankheiten der Athmungsorgane Krankheiten der Verdauungsorgane Krankheiten der Harnorgane Krankheiten der Geschlechtsorgane Krankheiten der Bewegungsorgane Krankheiten der Hautdecken Nicht krankhafte Todesursachen: Mängel der ersten Entwicklung Altersschwäche Auessere Gewalt [Plötzliche Todesfälle] Unbestimmte Todesursachen [Keine Entsprechung]
Erste Abtheilung, Erste Classe, Erste Gruppe Erste Abtheilung, Erste Classe, Zweite Gruppe Erste Abtheilung, Zweite Classe, Erste Gruppe Erste Abtheilung, Zweite Classe, Zweite Gruppe Erste Abtheilung, Zweite Classe, Dritte Gruppe Erste Abtheilung, Zweite Classe, Vierte Gruppe Erste Abtheilung, Zweite Classe, Fünfte Gruppe Erste Abtheilung, Zweite Classe, Sechste Gruppe Erste Abtheilung, Zweite Classe, Siebente Gruppe Erste Abtheilung, Zweite Classe, Achte Gruppe
Quelle: Oesterlen, Handbuch, XIV–XVIII.
Zweite Abtheilung, Erste Gruppe Zweite Abtheilung, Zweite Gruppe Zweite Abtheilung, Dritte Gruppe [Zweite Abtheilung, Vierte Gruppe] Zweite Abtheilung, Fünfte Gruppe [Keine Entsprechung]
Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch nach Kategorien
Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch nach Gruppen
Tab. 1.2: Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch und deren Adaption für Ottenthal
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen
[nicht übernommen] 12. Sonstige 13. Gutachten, Atteste u. ä.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Einteilung der Krankheitsursachen bei Ottenthal gemäß Oesterlen
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2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten im ländlichen Raum (ca. 1860–1900): auf Spurensuche nach regionalen Ausprägungen des „gender gap“ Im Jahre 2007 konnten Südtirolerinnen und Südtiroler im Durchschnitt mit einer Lebenserwartung von 80,84 Jahren bei der Geburt rechnen.1 Die Wahrscheinlichkeit, nach einem erfüllten Leben an einer bösartigen Tumorerkrankung oder an einer Krankheit des Kreislaufsystems zu sterben, war für sie überaus hoch: in diesem Jahr gingen der amtlichen Statistik zufolge rund 70 Prozent aller registrierten Sterbefälle allein auf das Konto dieser beiden Todesursachengruppen. Infektionskrankheiten, u. a. auch klassische Kinderkrankheiten wie Masern, Scharlach oder Keuchhusten, schlugen gemeinsam mit parasitären Krankheiten mit lediglich 1,2 Prozent zu Buche. Der Anteil der über 70-Jährigen an der Gesamtzahl aller Verstorbenen lag bei 76,7 Prozent, wohingegen in den jüngsten Altersklassen von 0 bis 14 Jahren nur 28 Personen (0,7 Prozent) vom Tod ereilt wurden. Die rohe Sterberate betrug im gewählten Stichjahr 7,6 je 1.000 Einwohner, die Säuglingssterblichkeit 4,2 Promille. Mit diesen Daten zu Lebenserwartung, Sterblichkeit und ausgewählten Todesursachen lag Südtirol im oberen Mittelfeld der Staaten der europäischen Union.2 Rund 150 Jahre früher hatte ebenfalls in Südtirol, genauer in der damals rund 400 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Gemeinde Lappach im Tauferer Ahrntal, der Brunecker Bezirksarzt Dr. Thavonati gerade seinen Zwischenbericht über eine dort grassierende Scharlachepidemie fertig gestellt. Thavonati notierte: „Ich war in Lappach und habe dort mehrere scharlachkranke Kinder angetroffen. Bisher sind dort 14 Kinder an dieser ansteckenden Krankheit gestorben. Die Schule bleibt geschlossen und ich habe die zur Verhinderung einer Weiterverbreitung dieser ansteckenden Krankheit nöthigsten Vorsichtsmaßregeln getroffen.“3 Die Sterberate in diesem Dorf betrug 1865 aufgrund dieser außergewöhnlichen Epidemie 50,1 je 1.000 Einwohner, die Sterblichkeit unter Säuglingen 13,3 Prozent.4 Von den insgesamt 20 Verstorbenen dieses Jahres waren zwei unter einem Jahr, 15 im Alter zwischen 1 und 14 und drei Personen über 70 Jahre. Bis auf zwei Ausnahmen fielen sämtliche Tote im Säuglings- und Kindesalter einer Infektionskrankheit zum Opfer, 1
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Diese sowie sämtliche weiteren Zahlen für 2007 im folgenden Abschnitt sind entnommen aus: Statistisches Jahrbuch für Südtirol 2008/Annuario statistico della Provincia di Bolzano 2008. Vgl. die entsprechenden Angaben bei Statistisches Jahrbuch für die Republik Österreich 2009 (Tab. 39.08 u. 39.09: die Zahlen beziehen sich bei den meisten Ländern auf das Jahr 2006) oder Lebenserwartung und Mortalität, 79–88. ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 160/2; N. 543, liegend in N. 1781; E.7/1865; „Mitteilung des Dr. Thavonati vom 27.3.1865 an das BA Taufers“. Diese und folgende Ziffern sind eigene Berechnungen auf Grundlage des Sterbebuches Lappach von 1865 und amtlichen Statistiken zur Bevölkerungsentwicklung.
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überwiegend dem Scharlach; im Falle des 82–jährigen Joseph Untergasser notierte der Pfarrer die Todesursache „Schlagfluß“ in das Totenbuch. Nur zwei der ältesten Erwachsenen starben an Altersschwäche bzw. Entkräftung und somit – zumindest in den Augen des zuständigen Totenbeschauers – als einzige Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner in diesem Jahr eines „natürlichen Todes“. Dieser am Beispiel Südtirol exemplarisch vorgeführte radikale Wandel im Sterblichkeitsgeschehen, im Todesursachenspektrum sowie bei den grundlegenden demografischen Messzahlen im Verlaufe von nur 150 Jahren wird in einschlägigen Studien für viele europäische Länder ähnlich beschrieben. Diese Publikationen tragen oftmals Überschriften wie „Die gewonnenen Jahre“, „Der Rückzug des Todes“ oder „Die Stabilisierung der Mortalität“5, und in ihnen werden verschiedene Erklärungsmodelle für diese Veränderungen abgewogen. Mit dem in den 1970er Jahren von Abdel Omran entwickelten Modell der „Epidemiologischen Transition“ steht dabei ein theoretisches Konzept zur Verfügung, mit dem die auf Grundlage staatlicher und regionaler Samples gewonnenen Ergebnisse abgeglichen werden können.6 Obwohl diese Studien neben den langfristigen Entwicklungen der Sterblichkeit auch die Ungleichheit vor dem Tod nach Alter, Schicht und Geschlecht in zahlreichen Tabellen und Statistiken herausarbeiteten, wurde das in den sich industrialisierenden Staaten festgestellte Phänomen des Auseinanderdriftens der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, kurz und prägnant „gender gap“ genannt, nur selten einer gesonderten Analyse unterzogen.7 Dabei sind Unterschiede in der Mortalität zwischen Männern und Frauen nicht zu übersehen, wie ein geschlechtersensibles Blättern im eingangs zitierten Südtiroler Handbuch aus dem Jahr 2007 sehr deutlich zeigt: die Lebenserwartung von Frauen lag bei 83,70 Jahren, diejenige der Männer bei lediglich 77,98.8 Es starben mit 267,8 zu 210,8 Gestorbenen je 100.000 Einwohner deutlich mehr Männer an bösartigen Neubildungen als Frauen, und auch der Anteil der männlichen Säuglinge an allen Verstorbenen in der Altersgruppe von 0 bis 1 übertraf mit 66,7 Prozent jenen der weiblichen Babies bei weitem. Selbst wo sich wie beim Todesursachenkomplex der Kreislauferkrankungen die Frauen vor den Männern gereiht wiederfanden, weist die Statistik den männlichen Geschlechtsgenossen letztlich ein früheres Sterbealter zu. Bestimmte Krankheiten endeten demnach für Männer nicht nur häufiger mit dem Tod als für Frauen; das Risiko, im Falle einer Erkrankung daran zu ster5 6 7
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So die Titel der einschlägigen Publikationen von Imhof (1981), Spree (1998) und Flinn (1974). Omran, Transition. Zuletzt etwa von Luy, Sterblichkeitsunterschiede, 412–429; frühere Beiträge mit Fokus auf die weibliche Übersterblichkeit stammen etwa von Imhof, Übersterblichkeit, 487– 510 oder Gehrmann, Übersterblichkeit, 71–83. Vgl. dazu die allgemeinen Anmerkungen von Weigl, gender gap, 23 f. Vgl. dazu und zu den nachfolgenden Zahlen Statistisches Jahrbuch/Annuario statistico 2007, 131, Tab. 3.27; 138, Graf. 4a; 129, Tab. 3.25.
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2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
ben, setzte für Männer schon deutlich früher ein. Doch inwiefern lassen sich derartige geschlechterspezifische Mortalitätsdifferentiale, die allesamt unter dem Begriff „gender gap“ subsumiert werden, auch bei den Bewohnerinnen und Bewohnern Südtirols vor gut eineinhalb Jahrhunderten feststellen?9 Im Folgenden soll den Unterschieden in der Sterblichkeit zwischen Männern und Frauen und den Ausprägungen möglicher geschlechterspezifischer Handlungsmuster im Krankheitsverhalten am regionalen Beispiel des Tauferer Ahrntals als dem eigentlichen Wirkungsgebiet Franz v. Ottenthals nachgegangen werden. Bevor allerdings eventuelle Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der Lebenserwartung, der Mortalität und des Todesursachenspektrums für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht und auf geschlechtsspezifische Besonderheiten hin analysiert werden, soll der eigentliche Untersuchungsraum dieser Arbeit kurz vorgestellt werden. Denn das Tauferer Ahrntal weist sowohl von seiner geografischen Lage, seinen sozioökonomischen Strukturen als auch von den kulturellen Prägungen seiner Bevölkerung Charakteristiken auf, die den Umgang mit Gesundheit und Krankheit und Strategien der Bewältigung von Krankheitserfahrungen formten. Die topografisch extreme Lage der im Hochgebirge liegenden Dörfer des hinteren Ahrntals etwa zwang die Bewohnerinnen und Bewohner zur Überwindung großer Distanzen auf teilweise schlecht ausgebauten, streckenweise steil abfallenden Serpentinenwegen, um bis nach Sand in die Praxis Ottenthals zu gelangen. Die Ausrichtung auf eine extensive Viehwirtschaft ließ nicht nur spezifische Formen des Zusammenlebens in einer Hausgemeinschaft entstehen, sie prägte auch das Selbstverständnis vieler Männer als Viehhändler, die sich einen speziellen „männlichen Habitus“ aneigneten. Dieser unterschied sich wiederum von jenem der Männer, die als Knappen im Prettauer Kupferbergwerk arbeiteten und sich stark über die homosoziale Zusammenschlüsse einer Knappschaft definierten. In den Worten des aus dem Tauferer Ahrntal stammenden Heimatdichters Joseph Oberkofler (1889–1962) werden die Eigenheiten des Pustertals im Vergleich zu den anderen Regionen Südtirols in einer recht bildlichen, allerdings auch genretypisch überaus pathetischen Sprache folgendermaßen beschrieben: „Statt der spielerischen Abwechslung und der fröhlichen Buntheit des mittleren und unteren Eisacktales, statt des berauschenden Überflusses des Bozener Landes, statt der verlockend hingestreuten Schätze des Burggrafenamtes und statt der steigenden und abnehmenden Fruchtbarkeit des Vintschgaues […] trägt das Pustertal die Züge ruhiger und verhaltener Kraft.“10 Diese Geografie trage dazu bei, dass der durchschnittliche Pustertaler – und hier verknüpft Oberkofler in bester volkskundlicher Tradition der Nachkriegszeit eine Landschaft implizit mit dem „Wesen“ seiner Bevölkerung – „kühl und nie erregt“ sei. Der nun folgende erste Abschnitt nimmt daher den Bezirk Taufers als politischen, geografischen und sozioökonomischen Lebensraum in den Blick 9 Einen ersten Denkanstoß in diese Richtung für Deutschland gibt Dinges, Männergesundheit, 24–33. 10 Oberkofler, Südtirol, 59.
2.1 Das Tauferer Ahrntal – politische, topografische sozialhistorische Beschreibung
61
und zeigt den Wandel auf, dem diese Region im Verlauf des 19. Jahrhunderts unterlag. Der daran anschließende Abschnitt fokussiert hingegen vor dem Hintergrund der Medikalisierungsthese11 auf die sanitätspolitische Struktur und die Veränderungen der medikalen Landschaft während des Wirkens Franz v. Ottenthals als Privatarzt von ca. 1850 und 1900. Nach diesen an den klassischen Fragestellungen einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie einer Sozialgeschichte der Medizin ausgerichteten Überblickskapiteln werden die grundlegenden Parameter herausgearbeitet, die das Mortalitäts- und Morbiditätsgeschehen in diesem Bezirk während des Untersuchungszeitraums bestimmten. Besonderes Interesse gilt dabei den Veränderungen des allgemeinen Sterblichkeitsgeschehens und des Todesursachenspektrums. Erst vor dem Hintergrund der „alltäglichen“ Gesundheitsgefährdungen und häufigsten Erkrankungen sowie der vertrauten, weil von den Menschen in den Gemeinden selbst erfahrenen oder an anderen beobachteten Krankheitsbilder werden die Beweggründe für eine Inanspruchnahme des Arztes in Sand verständlich. Da statistisches Material zur Bezirkshauptmannschaft Taufers, der die einzelnen Gemeinden dieses weitläufigen Tals administrativ zugeschlagen waren, aus dem 19. Jahrhundert selten gedruckt vorliegt und erst in langwieriger Forschungsarbeit mühsam ermitteln werden muss, wurde für diesen Abschnitt auf die nächst höhere Verwaltungsebene, den Bezirk Bruneck, zurückgegriffen. Für die einzelnen Bezirke der Monarchie und somit auch für jene Tirols stehen nämlich mit den Statistiken der Sanitätsverwaltung und anderer Behörden ausreichend Daten zur Verfügung, um Sterberaten oder Anteile an bestimmten Todesursachengruppen berechnen zu können. 2.1 Das Tauferer Ahrntal – eine politische, topografische und sozialhistorische Beschreibung Das Tauferer Ahrntal bildete während der Praxistätigkeit Franz v. Ottenthals von 1847 bis 1899 eine weitgehend stabile politische Verwaltungseinheit, nachdem es zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine größere Veränderung erfahren hatte.12 Im Jahre 1810 legte die bayerische Regierung nach der Annexion Tirols die vier bestehenden territorialen Verwaltungen zu einem einzigen staatlichen Landgericht zusammen.13 Nach der Wiedereingliederung Tirols in die österreichische Monarchie wurden die früheren Verhältnisse kurzzeitig wieder herge11 12
13
Zu dem Paradigma der Medikalisierung in der Medizingeschichte siehe den Überblick bei Eckart/Jütte, Medizingeschichte, 312–318. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die Beiträge zur Geschichte der politischen Verwaltungsstruktur von Grass, Verwaltungsgeschichte, 6–18, und für die Zeit nach 1868 von Gschließer, Einführung, 20–34. Innerkofler und Neuhauser gehen detaillierter auf den Bezirk Taufers ein. Vgl. Neuhauser, Beschreibung, 6–8 und 24; für die frühe Neuzeit siehe auch Innerhofer, Taufers, 152–155. Dabei handelte es sich um die zwei ausgedehnten Patrimonialgerichte Gais und Taufers sowie die zwei kleinflächigen Burgfrieden Neuhaus und Gießbach. Vgl. Innerhofer, Taufers, 254–260.
62
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
stellt und die Patrimonialgerichte an die einstigen Adelsgeschlechter zurückgegeben. Allerdings arbeitete die österreichische Regierung an einer Reformierung der allgemeinen Verwaltung in den Ländern, aus der 1829 schließlich das „k.[aiserlich] k.[önigliche] Landgericht Taufers“ als nunmehr staatliches Gericht unter der Führung eines beamteten Landrichters hervorging. 1849 wurde das Landgericht im Zuge einer generellen Neuverteilung der richterlichen Kompetenzen nominell in ein Bezirksgericht umgewandelt und mit fünf weiteren Bezirksgerichten der übergeordneten Bezirkshauptmannschaft Bruneck unterstellt. Bei der letzten großen Reform 1868 wurden die zwei geographisch etwas abseits liegenden Gerichte im südlichen Einzugsgebiet aus dieser Struktur herausgelöst und zu einem eigenen Verwaltungsbezirk zusammengeführt. Taufers bildete fortan gemeinsam mit den Gerichten Bruneck, Enneberg und Welsberg bis zum Ende der Habsburgermonarchie den politischen Bezirk Bruneck mit der gleichnamigen Kleinstadt als Verwaltungssitz (vgl. Abb. 2.1).14 Auf kommunaler Ebene erfuhren die im Gerichtsbezirk Taufers befindlichen Gemeinden mit Ausnahme vereinzelter Abtretungen entlegener Weiler an Nachbargerichte bis 1918 nur wenige Veränderungen. Im Zuge der Angliederung Südtirols an den italienischen Staat wurde die alte „k. u. k. Struktur“ der Bezirkshauptmannschaften und der Bezirksämter aufgelöst und der Bezirk Taufers im Jahre 1926 verwaltungsmäßig in zunächst drei Großgemeinden aufgeteilt. 15 Im Verlaufe der nachfolgenden Jahrzehnte
Abb. 2.1: Der politische Bezirk Bruneck und seine vier Gerichtsbezirke 1910 Quelle: Karte entnommen aus: Tirol-Atlas, Blatt F 13
14 15
Einen Überblick über alle Tiroler Bezirkshauptmannschaften gibt Gschließer, Einführung, 30 f. Vgl. Innerhofer, Taufers, 320 f. und Neuhauser, Beschreibung, 24.
2.1 Das Tauferer Ahrntal – politische, topografische sozialhistorische Beschreibung
63
erhielten zwei Gemeinden aufgrund ihrer geographischen Abgeschiedenheit eine eigenständige Verwaltung. Seit dem Landesgesetz von 1974 zur Ordnung der Verwaltungseinheiten unterstehen diese allesamt der Bezirksgemeinschaft Pustertal, die wiederum eine der acht Bezirksgemeinschaften der Autonomen Provinz Südtirol darstellt. Die fünf heutigen Großgemeinden Gais, Sand, Mühlwald, Ahrntal und Prettau decken sich somit mit jenem historischen Gebiet, das zur Zeit Ottenthals als „Bezirksamt Taufers“ zumindest in politischer Hinsicht das eigentliche Einzugsgebiet seiner Patientinnen und Patienten repräsentierte. Zu Beginn der Tätigkeit Ottenthals als privater Allgemeinarzt in Sand im Jahre 1847 umfasste das „k. k. Landgericht Taufers“ 19 Gemeinden, von denen einige jedoch sehr klein waren und teilweise nicht einmal über eine eigene Kirche oder ein Schulgebäude verfügten. Diese 19 Gemeinden waren von Bruneck aus in nördlicher Richtung verlaufend: Gais, Lanebach, Neuhaus, Uttenheim, Kematen, Mühlen, Sand mit Moritzen, Drittelsand, Ahornach, Mühlbach, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, Weißenbach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter und Prettau. Aufgrund ihrer geringen Ausdehnung schlossen sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts einige der Gemeinden zusammen, sodass in der letzten Phase des Bestehens der Ottenthalschen Praxis schlussendlich 15 Gemeinden zum politischen Bezirk Taufers gehörten.16 In seiner zeitweisen Funktion als Gemeinde- und Gerichtsarzt war Franz v. Ottenthal verpflichtend für die medizinischen Belange der Bewohnerinnen und Bewohner dieser 15 Gemeinden zuständig, was etwa hinsichtlich der ärztlichen Abrechnung der Behandlungskosten mit den Armenfonds der jeweiligen Gemeinde von Bedeutung war. Zwischen 1770 und 1900 schwankte die Bevölkerungszahl des Tauferer Ahrntals zwischen rund 11.000 und 8.500 Einwohnern, wobei der Rückgang in den ersten und in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts am höchsten ausfiel.17 Um die Jahrhundertmitte erholte sich der Bevölkerungsstand etwas, allerdings vermochte dieser Bezirk auf längere Sicht hin viele seiner Einwohner nicht in der Region zu halten. Wolfgang Messner konnte in seiner Magisterarbeit für den Zeitraum von 1839 bis 1900 einen Rückgang der Bevölkerung in nahezu allen Dörfern um durchschnittlich 16,5 Prozent errechnen, in den fünf Gemeinden des Ahrntals fiel der Verlust mit 21,7 Prozent noch drastischer aus.18 Das Tauferer Ahrntal stellte dabei keinen regionalen Sonderfall dar, denn nahezu sämtliche Talschaften in dieser Bezirkshauptmannschaft wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert zu klassischen Abwanderungsgebieten, wie die Zahlen in Tabelle 2.1 nahelegen.
16
17 18
Vgl. etwa die entsprechenden Angaben zu den kommunalen Verwaltungseinheiten des Gerichtsbezirks Taufers auf Grundlage der Ergebnisse der Volkszählung von 1880. K. K. Central-Commission, Ortschaften-Verzeichniss, 165. Siehe dazu etwa die Zahlen bei Neuhauser, Beschreibung, 24–27. Vgl. Messner, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 21–24.
64
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Tab. 2.1: Entwicklung der Bevölkerung in den einzelnen Bezirksämtern der Bezirkshauptmannschaft Bruneck nach den Volkszählungen von 1869 bis 1900
Bezirksamt/ Bezirkshauptmannschaft
anwesende Bevölkerung in den Jahren 1869
1880
1890
1900
BA Bruneck BA Enneberg BA Taufers BA Welsberg
10.925 5.755 9.151 9.392
11.333 5.600 8.893 9.683
11.182 5.466 8.926 9.401
11.212 5.289 8.436 9.341
BH Bruneck
35.223
35.509
34.975
34.278
Quellen: 1869: K. K. Central-Commission, Bevölkerung, 96; 1880 und 1890: K. K. CentralCommission, Ergebnisse, 38; 1900: K. K. Central-Commission, Gemeindelexikon, 38.
Wir können also im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die drei stark agrarisch geprägten Amtsbezirke Taufers, Welsberg und Enneberg eine stetige Abwanderung der Bevölkerung feststellen, wohingegen sich die Bevölkerungszahl im Umfeld der Stadt Bruneck erhöhte. Aus diesem gemeinhin als „Landflucht“19 bezeichneten Prozess ging demnach diese Kleinstadt als Gewinnerin hervor, indem sie als einzig „urbanes“ Zentrum der Region eine starke Anziehungskraft vor allem auf die ländlichen Unterschichten aus den umliegenden Tälern ausübte. Tagelöhner, Knechte und Mägde, nicht erbberechtigte Bauernsöhne und -töchter sowie arbeitslos gewordene Knappen des 1894 aufgelassenen Bergwerks in Prettau mussten außerhalb ihrer Heimatgemeinden neue Erwerbsmöglichkeiten suchen, die ihnen durch die zunehmend auf einen überregionalen Markt ausgerichtete landwirtschaftliche Produktionsweise der bäuerlichen Betriebe nicht mehr offen standen.20 Denn wie statistische Daten zu Tirol belegen, war etwa zwischen 1890 und 1910 hauptsächlich der Anteil der Unselbständigen in der Land- und Forstwirtschaft gesunken, wohingegen die Zahl der Selbständigen im primären Sektor sogar angestiegen war.21 Vermutlich wurden die verfügbaren Stellen für bäuerliche Dienstboten immer unattraktiver, gleichzeitig hatten viele Großbauern angesichts des marktwirtschaftlichen Konkurrenzdrucks zunehmend Probleme, einigermaßen gut bezahlte und dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse anzubieten. Allerdings sind die Zusammenhänge zwischen diesen Bevölkerungsverlusten, beginnender Industrialisierung, Kommerzialisierung der Landwirtschaft und Umstrukturierung des Transportwesens durch neue Eisenbahnlinien22 erst 19 Vgl. Mathis, Umwälzung, 22–24. 20 Zu den Folgen der zunehmenden Kommerzialisierung der Landwirtschaft vgl. Sandgruber, Agrarrevolution, 196–201. 21 Vgl. die Angaben bei Dietrich-Daum, Überblick, 65 (Tab. 8). 22 Der Bau der Pustertalbahn wurde 1871 fertiggestellt. Das immer dichtere Eisenbahnnetz und der nach der Jahrhundertwende massiv betriebene Ausbau des Straßennetzes führte auch in den Randgebieten des Landes zur Versorgung dieser Wirtschaftsgebiete mit aus-
2.1 Das Tauferer Ahrntal – politische, topografische sozialhistorische Beschreibung
65
ansatzweise untersucht worden, ebenso das tatsächliche Ausmaß der Abwanderungsbewegung aus den Gemeinden des Tauferer Ahrntals.23 Wie etwa ein Schreiben aus dem Jahre 1860 belegt, strömten junge Arbeitswillige nicht ausschließlich wegen des Mangels an Arbeitsmöglichkeiten aus dem Tal. Im April dieses Jahres sah sich der überwiegend aus vermögenden Bauern bestehende Gemeinderat von Lappach genötigt, den Bezirksrichter in Sand um die behördliche Einschränkung der in ihren Augen ausufernden saisonalen Wanderarbeit anzurufen. „Die nämliche Bitte erlauben sich die Gehorsamst Gefertigten in Betref [sic] jener jungen Burschen zu stellen, die im Herbste oder zu einer andern Jahreszeit ins Etschland auf Arbeit sich begeben wollen. Nicht Allen will man dies verwehren, aber doch Einigen, die hier in der Heimath nothwendig sind, u. die dort nur das Saufen und das unordentliche Leben lernen.“24 Wie in vielen anderen Gebirgstälern Tirols scheint sich auch im Einzugsgebiet Franz v. Ottenthals das Muster der saisonalen Wanderung zunehmend in eine dauerhafte Abwanderung aus dieser Region gewandelt zu haben. Wie erwähnt sind die 15 Gemeinden des ehemaligen Amtsbezirks Taufers gemäß der heutigen italienischen Verwaltungsstruktur auf fünf Großgemeinden aufgeteilt. Diese fünf Gemeinden umfassen die Region nördlich der Kreisstadt Bruneck, die im Osten an den Bezirk Osttirol, im Westen an Gemeinden der Bezirkshauptmannschaft Brixen und im Norden an den Tiroler Bezirk Schwaz sowie an den südwestlichen Ausläufer des Salzburger Pinzgaus grenzt.25 Topografisch-geologisch gesehen teilt sich die Landschaft in zwei charakteristische Zonen, nämlich in das offene Tauferer Becken und das enge und sich steil auftürmende Ahrntal. Von diesen beiden Haupttälern zweigen drei größere Seitentäler ab (Mühlwald-, Rain- und Weißenbachtal). Das gesamte Tal nimmt von Bruneck bis zum Talschluss an der Birnlücke eine Länge von etwa 46 km ein. Die Region wird von drei gewaltigen Gebirgsgruppen umschlossen, und zwar den Zillertaler Alpen im Norden, der Rieserferner Gruppe im Südosten und der Venedigergruppe im Osten. Diese großen Gebirgsmassive schließen das Tal in drei Richtungen ab und verleihen ihm den Charakter eines inneralpinen Hochtales. Die natürlichen geografischen Begrenzungen bedeuten allerdings nicht, dass die Mobilität der Bevölkerung nur entlang des südlichen Zugangs über Bruneck verlaufen wäre. Durch mehrere, allerdings überaus hoch gelegene Übergänge konnte in den wärmeren Jahreszeiten das Nordtiroler Zillertal (Hörndl Joch, Hundskehl Joch, Hl. Geist Joch), das Salzburger Pinzgau (Birnlücke) und das Osttiroler Defereggental (Klamml Joch) erreicht ländischen Produkten und im Inland hergestellten Waren und Rohstoffen und brachte viele Bauern in Bedrängnis. Vgl. Dietrich-Daum, Überblick, 73 f. 23 Etwa in der Magisterarbeit von Messner, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 21–49. 24 ASBz, BA Taufers 1860, Bündel 146/2, Zl. 1051; F. a. 43 ex 1860. „Schreiben der Gemeinde Lappach an das Bezirksamt in Taufers vom 20.4.1860“. 25 Zur Beschreibung des Bezirks siehe Dietrich-Daum/Oberhofer, Historiae Morborum, 204–209.
66
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Abb. 2.2: Der Tauferer Boden und Sand als Gerichts- und Verwaltungsort des Bezirks Taufers. Hinter Schloss Taufers beginnt das Ahrntal. Quelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck; Bibliothek Postkartensammlung: Sand i. Taufers
werden.26 So wagten Frauen in den Erntemonaten den Weg über diese Jöcher, um als Jäterinnen und Schnitterinnen bei den Zillertaler und Pinzgauer Bauern zu arbeiten, während sich die Männer bei denselben Arbeitgebern als Holzarbeiter verdingten. Zur Blütezeit des Prettauer Kupferbergbaus in der frühen Neuzeit strömten wiederum Arbeitssuchende aus den nördlich angrenzenden Tälern in das Ahrntal, um dort in den Gruben der Gewerken einen Verdienst zu suchen. Der Übergang über die Birnlücke war vor dem Ausbau der Eisenbahn zudem eine beliebte und viel begangene Transitroute für Händler, die eine schnelle Verbindung zwischen Italien und Deutschland suchten. In seiner Talbeschreibung von 1832 betonte Augustin von Leys daher, dass „eben deswegen in den früheren Jahren bey dem noch bestandenen Saumschlage die italienischen Früchtenhändler [sic] diesen Weg mit ihren beladenen Maulthieren in großen Schaaren gemacht haben.“27 Das Tauferer Ahrntal hat generell eine relativ hohe Siedlungslage, und auch heute noch befinden sich einige der höchstgelegenen Dauersiedlungen Südtirols mit einer Seehöhe von bis zu 1.775 Metern in dieser Region.28 Die einzelnen Weiler des Dorfes Rein etwa liegen durchwegs auf 1.500 bis 1.650 26 Auf die Pässe des Ahrntals als wichtige Übergänge siehe von Hartungen, Ahrntal, 11–18. 27 Neuhauser, Beschreibung, 54. 28 Siehe dazu die Daten bei Messner, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 8–10.
2.1 Das Tauferer Ahrntal – politische, topografische sozialhistorische Beschreibung
67
Metern, wodurch im Falle einer Inanspruchnahme der Arztpraxis Ottenthals in Sand nicht nur eine Wegstrecke von rund drei Gehstunden zurückgelegt werden musste29, sondern immerhin auch gute 800 Höhenmeter zu überwinden waren. Nach einer ausführlichen Beschreibung der geografischen Gegebenheiten des Bezirks schloss der ausführende Bearbeiter, Dr. Josef Daimer, seinen Bericht an die Handelskammer in Bozen aus dem Jahre 1863 daher mit folgenden Worten: „Aus dieser Vorstellung erhellt sich von selbst, wie tief dieser Bezirk in die primitive Central-Gebirgskette des Landes Tirol eindringt, und wie bei seiner hohen Lage überhaupt, und durch die im Nordosten sich durch mehrere Meilen hinziehende Fernerkette die klimatischen Verhältnisse im Allgemeinen sich keineswegs gut gestalten können.“30 Welche Möglichkeiten boten sich daher im 19. Jahrhundert der Talbevölkerung, um in einer derartigen geografischen und ökologischen Ungunstlage ihr Auskommen zu finden, und wie wirkten sich die begrenzten Ressourcen an nutzbarer Ackerfläche letztlich auf die Sozialstruktur der einzelnen Gemeinden aus? Roman Sandgruber kommt nach Analyse der historischen Erwerbsstruktur der österreichischen Bevölkerung zum Schluss, dass die Habsburgermonarchie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als „agrarisch ausgerichteter und von agrarischen Interessen dominierter Staat“31 anzusehen ist. Im Jahre 1850 waren rund 72 Prozent der Bevölkerung Zisleithaniens in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, im Jahr der Volkszählung von 1869 immerhin noch etwa 64 Prozent.32 Dieser sinkende Anteil kündigt zwar erste Transformationsprozesse an, allerdings betrug der Anteil der in der Land- und Forstwirtschaft Tätigen an der Gesamtzahl der Beschäftigten um 1900 immer noch über 50 Prozent. Erst kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs arbeiteten im sekundären und tertiären Sektor mehr Menschen als im primären. Wie aus Tabelle 2.2 zur Erwerbsstruktur der Bevölkerung in Tirol, Vorarlberg und der Bezirkshauptmannschaft Bruneck im Jahre 1869 ersichtlich wird, war in Relation zu den landesweiten Durchschnittswerten daher auch im Bezirk Bruneck die Mehrzahl der Bewohner in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt. 455,95 von 1.000 der anwesenden Bevölkerung hatten eine Stelle im primären Sektor inne, in Tirol lag dieser Wert bei durchschnittlich 404, 66.33 Wie stark agrarisch geprägt die einzelnen Bezirke dieses „Landes im Gebirge“ dabei im Generellen noch waren, geht aus einem direkten Vergleich mit dem um die Mitte des 19. Jahrhunderts schon stark industrialisierten Vorarlberg hervor. Dort beschäftigte die Land- und Forstwirtschaft 1869 nur noch 29 Diese Entfernung in Stunden zwischen Sand und Rein hatte Augustin von Leys in seiner Talbeschreibung 1832 genannt. Vgl. Neuhauser, Beschreibung, 67. 30 ASBz, BA Taufers 1863, Bündel 155/1, Zl. 666, liegend in F. q. ex 1863. „Bericht an die Handelskammer Bozen über die Forstkultur vom 7.6.1863“. 31 Sandgruber, Agrarevolution, 197. 32 Vgl. Sandgruber, Agrarevolution, 242 f., sowie die Grafiken 1–4 bei Mathis, Wege, 33 f. 33 K. K. Central-Commission, Bevölkerung, 96. Bei der dort angeführten Statistik ist zu beachten, dass Personen unter 14 Jahren extra ausgewiesen wurden und in der Zählung nicht enthalten sind. Ältere Kinder mussten aber vielfach bereits in den Familienbetrieben mithelfen oder wurden schon an fremde Höfe verdingt.
68
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Tab. 2.2: Berufstätige in den verschiedenen Sektoren nach der Volkszählung von 1869 Bezirk/ Land
Von 1.000 Anwesenden waren beschäftigt in der/im Land- und Forstwirtschaft
Berg- und Hüttenwesen
gewerbliche Industrie
Handel, Transport, Bankenwesen
Andere (Geistliche, Beamte, Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler u. ä.)
Bruneck
455,95
4,91
93,22
9,99
9,90
Tirol
404,66
2,83
96,19
15,88
22,95
Vorarlberg
335,17
0,02
222,36
9,82
22,42
Quelle: K. K. Central-Commission, Bevölkerung, 96.
335,17 von 1.000 Anwesenden. Dementsprechend hoch fiel in Vorarlberg die Rate der in der gewerblichen Industrie Tätigen aus, die einen nahezu doppelt so hohen Wert wie im wenig industrialisierten Tirol erreichte. Allerdings lag durch das Kupferbergwerk in Prettau und dem dazugehörigen Schmelzwerk der Anteil jener Personen, die im Berg- und Hüttenwesen beschäftigt waren, in diesem Bezirk deutlich über dem Tiroler Durchschnitt, wohingegen der Anteil der beim Handel, Transport oder Bankenwesen Beschäftigten mit 9,99 pro 1.000 der anwesenden Bevölkerung nicht an den Gesamttiroler Durchschnittswert herankam. Die Randlage des Bezirks Bruneck abseits der boomenden Zentren geht besonders deutlich aus den Zahlen zu den Beschäftigten in anderen Berufen wie etwa Ärzte, Rechtsanwälte oder Künstler hervor, die in diesem Bezirk mit 9,90 von 1.000 Anwesenden einen überaus niederen Wert erreichten. Sowohl in Tirol als auch in Vorarlberg fanden im Durchschnitt mehr als doppelt so viele Personen in diesen zumeist akademischen und bürgerlichen Berufen eine Beschäftigung. Im Vergleich zu anderen Ländern der Monarchie muss Tirol im Gesamten und das Tauferer Ahrntal im Besonderen demnach als wenig industrialisiert und überwiegend agrarisch geprägt bezeichnet werden. Dabei war Tirol anders als etwa die Donauländer hinsichtlich der klimatischen und ökologischen Gegebenheiten strukturell benachteiligt: Eine Statistik aus dem Jahre 1883 weist für Tirol (und Vorarlberg) zwar 83 Prozent land- und forstwirtschaftliche Nutzfläche aus.34 Weit über die Hälfte dieser produktiven Fläche bestand jedoch aus Wald, und selbst von den verbleibenden knapp 50 Prozent konnte nur ein verschwindend geringer Teil als Ackerfläche genutzt werden. Der weitaus größte Anteil diente als Weide oder setzte sich aus Almflächen zusammen. Laut einer Erhebung aus dem Jahre 1873 verfügten annähernd 74 Prozent aller Gemeinden des damaligen Deutsch-Tirol über Almen, der flächenmäßige Anteil der Almgebiete an der Gesamtfläche nahm dabei im Pustertal einen Anteil von 31,59 Prozent ein, womit dieser Bezirk nur geringfügig 34 Vgl. Dietrich-Daum, Landwirtschaft, I/151 (Tab. 1).
2.1 Das Tauferer Ahrntal – politische, topografische sozialhistorische Beschreibung
69
unter dem Gesamttiroler Durchschnittswert von 34 Prozent lag.35 Die Betriebsgröße der Tiroler Bauernwirtschaften war zudem von Klein- und Zwergbetrieben geprägt: 1902 erbrachte eine landwirtschaftliche Betriebsgrößenzählung, dass mehr als die Hälfte der Höfe weniger als zwei Hektar zur Verfügung hatten, weitere rund 22 Prozent zwischen zwei und fünf Hektar. Lediglich rund acht Prozent waren als bäuerliche Großbetriebe zu bezeichnen.36 Die Erträge der landwirtschaftlichen Ackerflächen deckten daher gerade den Eigenbedarf der bäuerlichen Höfe, ein Produzieren für den überregionalen Markt konnten nur wenige großbäuerliche Betriebe bewerkstelligen. Der Import von Getreide, etwa Weizen aus dem Südwesten Deutschlands, hatte in Tirol eine lange Tradition.37 Exportgewinne ließen sich nur mit Milchprodukten (Käse, Butterschmalz), Fleisch und Holz erzielen, aus deren Erlös nicht selbst produzierte Waren eingekauft wurden. In den hochalpinen Seitentälern der großen Haupttäler Tirols wie dem Ahrntal war eine rationelle Landwirtschaft überhaupt nur schwer möglich und die Produktionsbedingungen auf den höher und ungünstig liegenden Berghöfen äußerst hart. Beispielsweise hieß es über die am höchsten gelegenen Dörfer des Bezirks Taufers im Jahre 1832, dass das rauhe Klima sogar den Anbau relativ unempfindlicher Getreidesorten wie dem Roggen unmöglich machte, und dass es aufgrund der wenigen Sonnentage mitunter vorkam „daß die oft grünen Gersten und Haberschöber [= Hafer, A. U.] auf Schlitten in die Scheine gebracht werden müßen“38. Wie Tabelle 2.3 zu den Ernteerträgen des Jahres 1864 im Tauferer Ahrntal zeigt, erwirtschafteten die dortigen Bauern nur hinsichtlich der auch in hohen Lagen gut gedeihenden Getreidesorten Gerste und Hafer einen Überschuss, wohingegen die Bevölkerung bei Roggen und Buchweizen, vor allem aber beim empfindlicheren Weizen und Mais auf Importe von außerhalb angewiesen war. Ebenfalls aus der regionalen Produktion versorgt werden konnte die Bevölkerung mit Kartoffeln und Rüben, für die aufgrund der gleichmäßigen und reichen Niederschläge im Pustertal und den durch die extensive Viehwirtschaft ausreichend vorhandenen Dünger ideale Bedingungen herrschten.39 Für einen ausgedehnten Obstanbau wie in den westlichen Landesteilen lagen hingegen die klimatischen Verhältnisse weniger günstig, auch wenn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Ebene des Tauferer Beckens Versuche zu einem professionellen Anbau von Obst in Angriff genommen wurden.40 Tabelle 2.3 deutet schon an, dass in den Ebenen entlang der Flüsse Ahr und der Rienz eine durchaus beachtliche ackerbauliche Nutzung für den Ge35 Die Daten beziehen sich nur auf Deutsch-Tirol. Vgl. von Inama-Sternegg, Alpenwirthschaft, 2 f. 36 Vgl. Dietrich-Daum, Überblick, 67 (Tab. 9). 37 Zu den Getreideimporten siehe etwa Mathis, Wege, 27 f. 38 Neuhauser, Beschreibung, 50 f. 39 Siehe auch die annähernd gleichen Ergebnisse zur landwirtschaftlichen Produktion in der Region Pustertal für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Leidlmair, Bevölkerung, 156–159. 40 Vgl. Neuhauser, Beschreibung, 28 f.
70
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Tab. 2.3: Ernteerträge verschiedener Getreide- und Gemüsesorten und Hackfrüchte im Bezirk Taufers vom Jahr 1864
Gattung
Ernteertrag in Metzen
Bedarf
Überschuss
Abgang
9.800
11.000
1.200
400
4.800
4.400
Roggen
30.000
30.500
500
Gerste
8.500
7.600
900
Hafer
6.000
3.400
2.600
Weizen Mais
100
200
100
Erbsen
1.800
1.900
100
Fisolen
50
250
200
13.500
13.500
0
2.300
2.300
0
100
2.500
Buchweizen
Kartoffeln Rüben Obst
2.400
Quelle: ASBz, BA Taufers 1864, Bündel 159/2.41
treideanbau, in erster Linie für die Kartoffelpflanze, erreicht werden konnte. In den klimatisch weniger begünstigten Hochtälern dominierte hingegen die Viehhaltung, die neben der Erzeugung von Milchprodukten und Fleisch eine starke Ausrichtung auf die Zucht einnahm. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass wie in anderen Regionen auch die bäuerlichen Betriebe in Tirol im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Sog einer auf den Markt ausgerichteten Wirtschaftsweise gerieten.42 Eine Folge der Ausrichtung auf einen überregionalen Markt war die Spezialisierung der Bauern auf jene Produkte, die sich aufgrund der ökologischen Bedingungen in der jeweiligen Region am effektivsten erwirtschaften ließen. In den einzelnen Landesteilen Tirols erreichten daher die unterschiedlichsten Zweige der agrar- und viehwirtschaftlichen Produktion eine spezifische Intensität. Aufgrund der speziellen klimatischen Gegebenheiten dieser Räume hatten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die bäuerlichen Betriebe im Südwesten des heutigen Südtirol auf die Produktion von Obst und Wein spezialisiert, während in den hoch gelegenen Tälern im westlichen Landesteil eine Konzentration auf die Viehhaltung stattgefunden hatte. Für die Pustertaler Betriebe war hingegen eine gewisse Vielfalt der Produktionszweige weitaus charakteristischer als eine Spezialisierung. Der Wirtschaftshistoriker Alfred Leidlmair spricht daher für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts davon, dass in Südtirol die Vieh- und 41
ASBz, BA Taufers 1864, Bündel 159/2, o. Nr., liegend in N. 1559/B.10 ex 1864. „Übersicht der Ernte-Ergebnisse vom Jahre 1864 vom 18.10.1864“. 42 Für einen Überblick über die Auswirkungen des zunehmenden Konkurrenzdrucks in der Landwirtschaft auf Österreich-Ungarn siehe Sandgruber, Agrarrevolution, 196–201.
2.1 Das Tauferer Ahrntal – politische, topografische sozialhistorische Beschreibung
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Waldwirtschaft, der Weinbau sowie der Obstanbau die Grundpfeiler des bäuerlichen Einkommens darstellten.43 Das Tauferer Ahrntal war durch die geografischen und klimatischen Bedingungen, die eine Nutzung der produktiven Flächen hauptsächlich als Wiese und Weide sowie als ausgedehnte Almweiden erlaubten, prädestiniert zu einer ausgedehnten Viehwirtschaft. In einer Beschreibung der ökonomischen Verhältnisse der fünf Gemeinden des Ahrntals hieß es im Jahre 1867 etwa: „Findet man auch im Innern dieses Thales eine umso geringere Vegetation je mehr sich das Thal hebt u. den Eisgebirgen nähert, so besteht doch daselbst der Holzhandel, eine ausgedehnte Viehzucht und Milchwirthschaft, Nahrungsquellen, welche die Natur den Bewohnern dieses Thales in reichlicher Fülle angewiesen hat.“44 Neben der Milchwirtschaft nahm vor allem die Aufzucht von Jungvieh in diesen Bezirk eine ökonomisch überaus bedeutende Stellung ein und erklärt die in den Historiae Morborum häufig notierten Verletzungen durch Kuhtritte, von Hörnern verursachten Stichwunden oder Abstürzen in unwegsamem Almgelände. Am 27. Juni 1891 etwa musste sich ein 61-jähriger Mann aus Uttentheim aufgrund einer derartigen Verletzung in die Behandlung Ottenthals begeben („ante 2 dies tundebatur a cornu tauri in hypochondrio dextro quae regio attactu et labore agresti intense dolet non tumet“ 45). Die Mastochsen aus dem Pustertal waren nicht nur auf den österreichischen Viehmärkten des 19. Jahrhunderts begehrt, sondern wurden bis nach Venetien verkauft. Die überregionale Bedeutung des jährlich im Oktober abgehaltenen Steegener Viehmarktes nahe Bruneck ist Ausdruck für die dominierende Position der Viehhaltung in dieser Region.46 Dementsprechend rangierte der Pustertaler Kreis bei einer statistischen Erfassung der Almprodukte im Vergleich zu den anderen Regionen in den hinteren Rängen. Da viele Almen zur Alpung des Jungviehs und weniger als Melkalmen betrieben wurden, orientierte sich die anfallende Arbeit an diesen Produktionsverhältnissen. 1873 wurden in dieser Region nur 3,84 Prozent der Butter und 3,1 Prozent der gesamten Käseproduktion Tirols hergestellt, das Unterinntal hingegen mit seinen beachtlichen Betriebsgrößen hielt dabei einen Anteil von über 50 Prozent.47 Auf der kommunalen Ebene nahm der Sennereibetrieb auf den Ahrntaler Almen innerhalb der nur für den gesamten Bezirk erstellten Statistik aber sicher eine höhere Bedeutung ein, denn viele Almen befanden sich auf Nordtiroler und Salzburger Gebiet und wurden traditionell als Melkalmen geführt. So war noch um 1930 die Rede davon, dass während der Almsaison von Mitte Juni bis Mitte September die Träger aus dem Ahrntal Lasten von bis zu 100 kg 43 Vgl. zu den Südtiroler Betriebstypen Leidlmair, Bevölkerung, 224–229. 44 ASBz, BA Taufers 1867, Bündel 167/1, Nr. 321, liegend in N. 1534, L. 16 ex 1867. „Gesuch der Gemeinden des Ahrnthales wie der Ahrnerhandelsgewerkschaft um Errichtung eines Postamtes in Steinhaus vom 21.10.1867“. 45 („Ihm wurde vor zwei Tagen vom Horn eines Stieres in das rechte Hypochondrium gestoßen, diese Region schmerzt bei Berührung und bei Landarbeit, ist aber nicht angeschwollen“). HM 999/1891, Eintrag vom 27.6.1891. 46 Leidlmair, Bevölkerung, 211. 47 Vgl. von Inama-Sternegg, Alpenwirthschaft, 9.
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Abb. 2.3: Blick auf St. Johann im Ahrntal. Deutlich sichtbar die steilen Hanglagen in diesem Talabschnitt Quelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck; Bibliothek Postkartensammlung: St. Johann im Ahrntal
über die steilen Krimmler Tauern und das Krimmler Achental hinüber ins Ahrntal tragen mussten.48 Dieser relativ starke Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der Erwerbsstruktur der Bevölkerung des Tauferer Ahrntals bedeutete allerdings nicht, dass sich in diesem Bezirk nicht in bescheidenem Ausmaße eine gewerbliche Struktur entwickeln hätte können. Auch wenn sich in der Tiroler Bevölkerung erst um die Jahrhundertwende Transformationsprozesse in Richtung einer industrialisierten Gesellschaft abzuzeichnen begannen und daher im Vergleich zu anderen Kronländern mitunter von einer „Industrialisierung im Nachziehverfahren“49 gesprochen wird, bildeten sich etwa in traditionellen Bergbauorten wie Prettau und Steinhaus mit seinem Kupferbergwerk durch die notwendige Arbeitsteilung der Förderung, Verhüttung und Weiterverarbeitung der Rohstoffe durchaus frühe Formen einer „Industrie- und Lohnarbeiterschaft“ aus. Erste Bestrebungen zu einer „Industrialisierung“ Österreichs lassen sich schon im Zeitalter des Merkantilismus finden, als Maria Theresia und Jo48 Keidel, Almen, 53; von Hartungen, Ahrntal, 15–18. 49 Mathis, Wege, 28.
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seph II. mit wirtschaftspolitischen Reformen und spezifischen Privilegien die Ansiedlung von Manufakturen in den einzelnen Ländern der Monarchie zu fördern suchten.50 Nahmen sich die Erfolge dieser Förderpolitik im nördlichen Tirol schon sehr bescheiden aus, waren sie im südlichen Landesteil nahezu gar nicht vorhanden. Dort dominierten gewerbliche und handwerkliche Kleinst- und Kleinbetriebe bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die Landschaft. Laut den statistischen Angaben einer frühen Volkszählung aus dem Jahre 1774 lag der Anteil der in einem Gewerbe und Handwerk beschäftigten Personen im Pustertal gerade einmal bei 5,93 Prozent, wohingegen das Oberinntal aufgrund des gut ausgebauten, allerdings überwiegend verlagsmäßig organisierten Textilwesens mit einem Anteil von 21,01 Prozent zu dieser Zeit die besten Voraussetzungen zu einem take off in Richtung Industrialisierung gehabt hätte.51 Für Tirol im Gesamten lagen die Durchschnittswerte bei 11,63 Prozent. Fabrikmäßige Betriebe waren in den Tälern entlang von Etsch, Eisack und Rienz folglich eine Ausnahmeerscheinung, sodass der Tiroler Statistiker Johann Staffler (1783–1868) in seiner Landesbeschreibung aus den 1840er Jahren für Nordtirol 26 fabrikähnliche Produktionsstätten, für Vorarlberg 30, für das Trentino 49, für Südtirol aber keinen einzigen derartigen Betrieb ausfindig machen konnte.52 Eine im Jahre 1848 nahe Bozen gegründete Baumwollfabrik gilt daher bis ins späte 19. Jahrhundert hinein als einziges industriell produzierendes Unternehmen südlich des Brenners.53 Als größte Hemmnisse für die Gründung von Manufakturen und Fabriken erwiesen sich weniger die ungünstigen geographischen Gegebenheiten des Landes als vielmehr das Fehlen kapitalkräftiger und risikofreudiger Unternehmer.54 Jene gesellschaftlichen Schichten, die wie die Handels- und Kaufmannschaften in den Städten oder einige adelige Großgrundbesitzer auf ausreichend Kapital zurückgreifen hätten können, waren Fabrikgründungen gegenüber jedoch kritisch eingestellt. Die Bozner Kaufmannschaft etwa fürchtete den Verlust ihrer führenden Stellung hinsichtlich des Transithandels zwischen den deutschen und den italienischen Handelszentren. Denn aufgrund gewisser Steuerprivilegien für Manufakturen und Fabriken hätte eine Reihe von Waren direkt im Inland billig hergestellt und vertrieben werden können. Der Adel wiederum sah in der Figur des kapitalistischen Fabrikbesitzers seine gesellschaftliche und kulturelle Vormachtstellung gefährdet. Aufgrund des in Tirol nur äußerst schwach ausgebauten Bankwesens55 konnten innovative Einzelpersonen nur schwer das Kapital für die Betriebsgründungen und die ersten Jahre des Anlaufens fabrikmäßiger Produktionen aufbringen. Wie der Wirtschaftshistoriker Helmut Alexander herausgearbeitet hat, scheiterte eine 50 Vgl. zu dieser frühen Förderungspolitik Alexander, Geschichte, 32–39; Meixner, Handwerk, I/156–I/176; Dietrich-Daum, Überblick, 68–70. 51 Meixner, Handwerk, I/164. 52 Angaben nach Leidlmair, Bevölkerung, 231. 53 Alexander, Geschichte, 106. 54 Zu diesem Aspekt ausführlich Alexander, Geschichte, 82–86. 55 Siehe dazu Zörner, Geldanstalten, dabei speziell zur Sparkasse Bruneck Bd. I, 99–111.
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„Industrialisierung“ Tirols in der Frühphase daher zu einem großen Teil an der ablehnenden Haltung gewisser gesellschaftlicher Eliten Fabriken gegenüber sowie an deren spezifischen wirtschaftlichen Interessen.56 Für die bestehende gewerbliche Wirtschaft Tirols war eine klein- und mittelbetriebliche Struktur typisch. Nur die wenigsten Betriebe hatten über ein Dutzend Mitarbeiter, meistens hielt sich neben dem Meister nur ein Geselle oder Lehrjunge in der Werkstatt und den Produktionsräumen auf. Großbetriebe mit über hundert Angestellten waren die Ausnahme. Eine Aufstellung der Beschäftigtenzahlen aus dem Jahre 1902 weist für einen Tiroler Betrieb im Durchschnitt 2,6 Mitarbeiter aus, in den österreichischen Alpenländern hingegen lag dieser Wert bei 3,8.57 In Niederösterreich gingen wegen des dichten Industriegürtels um das Wiener Becken durchschnittlich 4,4 Personen einer Arbeit in einem Betrieb in Industrie und Gewerbe nach, womit das relative Nachhinken Tirols in der industriellen Entwicklung noch deutlicher wird. Bis zur Jahrhundertwende hatten sich im südlichen Landesteil gewerbsmäßige und industrielle Betriebe am ehesten im Umfeld der Holzindustrie, der Nahrungsmittelproduktion (Obst und Wein) und hinsichtlich der Energiewirtschaft entwickelt.58 Durch die Errichtung von Wasserkraftwerken und den aus dem boomenden Fremdenverkehr resultierenden Neu- und Ausbau von Hotels und Fremdenzimmern erlebte auch das Baugewerbe einen beachtlichen Aufschwung. Eine nennenswerte mechanische, metallurgische und chemische Industrie entstand südlich des Brenners allerdings erst durch die Schaffung der Bozner Industriezone in den 1930er Jahren.59 Zur Zeit der Praxistätigkeit Franz v. Ottenthals muss die Wirtschaft des Bezirks Bruneck daher als kleinst- und kleingewerblich strukturiert angesehen werden, und in den Landgemeinden des Tauferer Ahrntals dominierten die traditionellen dörflichen Handwerksbetriebe eines Schusters oder eines Schmieds. Der erste Landrichter des neu eingeführten k. k. Gerichts Taufers, Augustin von Leys, versuchte in seiner Talbeschreibung aus dem Jahre 1832 die Erwerbsstruktur der ansässigen Bevölkerung statistisch zu erfassen.60 Laut seinen Angaben wären um 1830 344 Personen in einem Gewerbe beschäftigt gewesen, wobei das Bergwerk in Prettau und das dazugehörige Schmelzwerk mit seinen rund 240 Beschäftigten den Großteil der Arbeiter in diesem Sektor stellte. 1.345 Bauern, 1.870 Dienstboten und 266 Tagelöhner waren den Angaben von Leys zufolge in der Landwirtschaft tätig. Neben diesen Berufsgruppen wurden noch neun Beamte, 27 Geistliche und neun Adelige angeführt. Im Staatsarchiv Bozen haben sich für einige Gemeinden des Tauferer Ahrntales Wählerlisten anlässlich der Gemeinderatswahlen im Jahre 1865 erhalten, in denen sämtliche wahlberechtigen Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen 56 Vgl. Alexander, Geschichte, 82–86. 57 Kessler/Meixner, Industrie, I/181. 58 Vgl. dazu die grafische Darstellung zur regionalen Verteilung der Gewerbezweige in Tirol (für 1912) bei Alexander, Geschichte, 142. 59 Vgl. dazu Leidlmair, Bevölkerung, 24 f. 60 Vgl. Neuhauser, Beschreibung, 27 f.
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aufgeführt wurden. Aus den Angaben zu den zu entrichtenden Grund- und Erwerbssteuern kann die Sozialstruktur dieser Dörfer relativ gut rekonstruiert werden, auch wenn die große Gruppe der nicht zur Wahl zugelassenen Dienstboten darin nicht aufscheint.61 So befanden sich unter den 49 Stimmberechtigten des Dorfes Lappach drei Weber, zwei Schuster und zwei „Bötinnen“. Die restlichen 42 Personen gehörten der bäuerlichen Unter-, Mittel- und Oberschicht an, wobei drei der vermögenden Bauern auch eine Gastwirtschaft unterhielten. Im Dorf Rein wiederum gehörten unter den 42 Wahlberechtigten nur zwei Personen den gewerblichen Berufen an, nämlich ein Schmied und ein Schlosser.62 Auch in diesem Dorf betrieb ein Bauer zusätzlich eine Wirtschaft, zwei weitere Bauern besaßen eine Säge und waren somit auch als kleine „Unternehmer“ in der Holzverarbeitung tätig. Die wenigen verfügbaren wirtschaftshistorischen Daten auf der Bezirksebene machen allerdings deutlich, dass die von Helmut Alexander als für das 19. Jahrhundert charakteristisch beschriebene Herausbildung einer modernen Klassengesellschaft im Bezirk Bruneck und im Gerichtsbezirk Taufers sich nur äußerst langsam vollzog.63 Ein finanzkräftiges Industrie- und Handelsbürgertum war nicht zu finden, der Bergbau lag als „Ahrner Handel“ in den Händen zweier adeliger Unternehmer64 und die wirtschaftliche Grundlage der Gewerbe- und Handwerktreibenden war abgesehen von der Kleinstadt Bruneck zu schwach, um den Habitus eines mittelständischen Kleinbürgertums auszubilden. Eine Arbeiterschaft, die ihre Körperkraft gegen Lohn verkaufte, existierte mangels fabrikähnlicher Produktionsbetriebe ebenfalls nicht. Folglich setzte sich die Sozialstruktur der meisten Gemeinden in diesem Bezirk über nahezu die gesamte Periode des 19. Jahrhunderts hinweg aus einer bäuerlichen Ober- und Mittelschicht, aus handwerklichen Zwerg- und Kleinbetrieben und aus einer breiten Unterschicht aus Tagelöhnern und Dienstboten zusammen. Hinzu kam eine kleine gesellschaftliche Elite aus Adeligen, Vertretern der staatlichen und kirchlichen Verwaltung sowie wenigen Akademikern, zu denen auch Franz v. Ottenthal als diplomierter Allgemeinmediziner zu zählen ist. Die Frage nach der Erwerbsstruktur der Bevölkerung des Tauferer Ahrntals ist hinsichtlich einer sozialen Verortung der Patientenschaft Ottenthals natürlich zentral. Nahmen bäuerliche Schichten diesen Arzt seltener in Anspruch als Angehörige eines Gewerbes, oder verschrieb der Arzt seinen Patientinnen und Patienten aus der Beamten- und der Adelsschicht komplexere Medikamentenzusammensetzungen in dem Wissen, dass sich diese soziale Gruppe derartige Rezepte auch leisten konnte? Die Beantwortung der Frage nach ei61
ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 160/2, Beilage A, L. 24 ex 1865. „Wahlliste der Gemeinde Lappach“. 62 ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 160/2, Beilage B, liegend in N. 717, L. 20 ex 1865. „Liste der wahlberechtigten Gemeindebürger, und Angehöriger zum Behufe der Wahl der Gemeinderäte in Rein vom 21.5.1865“. 63 Alexander, Geschichte, 37. 64 Vgl. Tasser/Scantamburlo, Kupferbergwerk, 7 f.
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ner Berufszugehörigkeit seiner Patientenschaft und somit auch nach der Sozialstruktur als „Sammelbegriff für das gesamte innere Gefüge einer Gesellschaft“65 kann allerdings allein auf der Basis der Historiae Morborum nicht geleistet werden. Denn leider führte Ottenthal Berufsangaben ausschließlich bei Vertretern eines Handwerks oder Gewerbes (Schneider, Schmied, Knappe) an oder bei Beamten der regionalen Verwaltung (Pfarrer, Gerichtsdiener). Aber selbst in diesen Fällen notierte der Arzt die Berufsbezeichnungen nicht konsequent bei jedem hilfesuchenden Beamten oder Knappen. Die große, überaus inhomogene Gruppe der im Agrarbereich Arbeitenden wurde beruflich überhaupt nicht ausgewiesen und noch weniger nach unter-, mittel- oder großbäuerlicher Schichten sowie nach Taglöhnern und bäuerlichen Dienstboten differenziert. Methodisch schwer zu lösen ist das Problem, inwiefern es sich beispielsweise bei der Berufsangabe „Weber“ nicht um eine für damalige dörfliche Gesellschaften typische Mischökonomie aus Handwerk und Landwirtschaft gehandelt hat. Ziel einer schichtspezifischen Auswertung der Patientenschaft wäre ja nicht zuletzt auch das Herausfiltern berufsbedingter Gesundheitsbelastungen, eine Fragestellung, die eigentlich in dieser Form und allein auf Grundlage der Historiae Morborum nur für die Gruppe der Berg- und Schmelzhüttenarbeiter einigermaßen zufriedenstellend beantwortet werden könnte. Noch problematischer ist die soziale Verortung seiner weiblichen Patienten, denn Berufsangaben zu Frauen waren sehr selten und bezeichneten, wenn sie angeführt wurden, eher einen Zu- oder Nebenerwerb, etwa als Näherin oder „Bötin“. Insgesamt betrachtet verunmöglichen in erster Linie die sowohl quantitativ als auch qualitativ dürftigen Angaben zu den bäuerlichen Schichten eine quantifizierende und vergleichende Analyse der Berufsgruppen, da ja auch bei in einem Gewerbe Beschäftigten nicht bei allen Patienten der Beruf mit der gleichen Konsequenz mitgeteilt wurde. Ohne Referenzquellen können daher keine repräsentativen und differenzierten Aussagen zur sozialen Schichtung der Patientenschaft Franz v. Ottenthals gemacht werden.66 2.2 Das Tauferer Ahrntal – eine Beschreibung des medikalen Raumes Als Franz v. Ottenthal im Jahre 1844 als frischgebackener Doktor der Medizin, Doktor der Chirurgie und Magister der Geburtshilfe die Gemeindearztstelle in Windisch-Matrei antrat, war der Stand der Heilpersonen überaus heterogen zusammengesetzt und der Markt für medizinische Dienstleistungen stark segmentiert. Neben den promovierten Doktoren der Medizin, die für diesen Titel in Österreich ein Studium an einer der Medizinischen Fakultäten in Wien, Prag oder Krakau (deutschsprachig) oder an einer der Universitäten in Pavia, Padua oder Pest (fremdsprachig) zu absolvieren hatten, gab es noch 65 Wehler, Vorüberlegungen, 9. 66 Vgl. dazu die methodischen Überlegungen von: Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann, Patients [in Druck].
2.2 Das Tauferer Ahrntal – eine Beschreibung des medikalen Raumes
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die Magister und Patrone der Chirurgie.67 Während angehende Wundärzte zur Erlangung eines Magistertitels ein Gymnasium und ein vierjähriges Studium an einer chirurgischen Lehranstalt durchlaufen mussten, erhielten sie den Patronatstitel nach der Lehr- und Gesellenzeit bei einem Wundarzt und anschließendem dreijährigen Studium an einer der Schulen in Wien, Salzburg, Graz, Innsbruck, Olmütz, Lemberg, Pavia, Pest oder Klausenburg.68 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts konnte die Bevölkerung im Falle einer Erkrankung demnach auf unterschiedlich ausgebildete und therapeutisch spezialisierte Heilpersonen zurückgreifen, die entweder innere Kuren, chirurgische Behandlungen von Wunden und Knochenbrüchen oder den Einsatz von Blutegeln und Aderlassschnepper anboten. In den 1890er Jahren hingegen, als für Ottenthal der letzte Abschnitt seines langen Arztlebens angebrochen war, waren die chirurgischen Lehrinstitute schon seit gut zwei Jahrzehnten geschlossen und nur noch die Ausbildung zum Doktor der gesamten Heilkunde möglich. Angehende Ärzte durchliefen nun weitgehend dieselben Institutionen, wurden beruflich annähernd gleich sozialisiert und bildeten durch diese gemeinsamen Erfahrungen trotz der oftmals unterschiedlichen sozialen Herkunft zunehmend einen einheitlichen „Stand“. Die „medici puri“, denen Ottenthal zu Beginn seines Studiums in den 1840er Jahren vielleicht noch vereinzelt in Wien begegnet war, hatten sich am Ende seines ärztlichen Lebens kurz vor der Jahrhundertwende allesamt zu Allgemeinpraktikern gewandelt und befanden sich „auf dem Weg zum professionellen Experten“69. Auch hinsichtlich der Organisation und Administration des Medizinalwesens war es im Verlauf der rund 50-jährigen Tätigkeit Ottenthals als Privatarzt in Sand zu grundlegenden Veränderungen gekommen. Nach dem Revolutionsjahr von 1848 wurden nicht nur die Ausbildungswege des Heilpersonals an den medizinischen Fakultäten und chirurgischen Lehranstalten mehrmals umgestellt, sondern auch die medizinische Infrastruktur wurde durch eine Reihe von Gesetzeserlässen nach und nach reformiert. Die straffe Hierarchisierung des Sanitätspersonals in mehrere Verwaltungsebenen sollte dabei eine effiziente Durchsetzung sanitätspolitischer Agenden aus der Zentrale in Wien hin zu den lokalen Ämtern garantieren. Dazu wurde mit Erlass des Gesetzes von 1850 ein Sanitätsreferent an die Spitze der sanitären Verwaltung der Monarchie gestellt, der dienstrechtlich den Rang eines Ministerrats bekleidete und dem Ministerium für Inneres unterstand.70 Zu seinem Mitarbeiterstab gehörte eine ständige Expertenkommission aus höheren Medizinalbeamten, die 67 Zur Geschichte der Ausbildungswege vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Burg, Volk, 97–107. 68 Die Angaben geben den Stand der universitären und chirurgischen Ausbildungsstätten in der Monarchie des Jahres 1851 wieder. Vgl. Hain, Handbuch, 654. 69 Huerkamp, Aufstieg, 119. Ihre Studie zum Aufstieg der Ärzte zu einem überaus homogenen Berufsstand (am Beispiel Preußens) gilt als richtungsweisend. Huerkamp, Aufstieg. 70 Vgl. im Folgenden allgemein Burg, Volk, 53–74, sowie speziell für Tirol und den Bezirk Bruneck Taddei, Ottenthal, 82–86.
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dem Referenten beratend zur Seite stand. Den Landessanitätsräten wiederum oblagen die medizinischen und sanitätspolitischen Agenden in den Verwaltungen der jeweiligen Länder, den Statthaltereien. Auch diesen stand eine Kommission bei, die sich aus einer gemäß dem Bevölkerungsstand des jeweiligen Landes berechneten Anzahl von Doktoren der Medizin, einem Wundarzt, einem Apotheker und einem Tierarzt zusammensetzte. Die nächstfolgende Ebene wurde von den jeweiligen Kreisärzten der um 1850 ebenfalls eingerichteten Kreisämter gebildet, in Tirol waren dies drei Kreisregierungen mit den Verwaltungssitzen Innsbruck, Brixen und Trient. Durch die Einrichtung der Bezirksärzte als unterste „sanitätspolizeiliche Admininistratoren“71, die den einzelnen Bezirkshauptmannschaften unterstanden, reichte der lange Arm des obersten Sanitätsreferenten bis in die unterste Stufe der Gemeinden. Die Aufgaben und Kompetenzen ähnelten sich auf jeder Amtsebene und umfassten vereinfacht gesagt vier grundlegende Zuständigkeitsbereiche: Überwachung des dem jeweiligen Amt unterstehenden Sanitätspersonals, Überprüfung der sanitären Zustände im betreffenden Verwaltungsgebiet, Durchsetzung der sanitätspolizeilichen Vorschriften etwa beim Ausbruch von Epidemien sowie eine ausführliche Berichterstattung durch Abfassung periodischer Berichte an die übergeordnete Behörde. Nach mehreren kleinen Anpassungen erfuhr mit dem Reichssanitätsgesetz vom 30. April 1870 (RGBl. 1870, Nr. 6872) die Kompetenzverteilung der einzelnen Organe des staatlichen Sanitätsdienstes eine neue Ausrichtung, wobei vor allem die Aufgabe der untersten Ebene der Bezirke und Gemeinden genauer definiert wurden. So mussten die regionalen Kreis- und Distriktsärzte dafür sorgen, dass die Bevölkerung vor Ort auf ein ausreichend dichtes Netz verfügbarer Heilpersonen zurückgreifen konnte. In jedem Gerichtsbezirk sollte zumindest ein Gerichts- und Gemeindearzt angestellt werden, der gegen ein entsprechendes Wartgeld auf den Hilferuf einer erkrankter Person „warten“, die amtliche Totenbeschau vornehmen oder die notwendigen Schritte beim Ausbruch ansteckender Krankheiten in einem Dorf (Isolierung, Überstellung in ein Krankenhaus) in die Wege leiten sollte. Dieser Erlass aus den 1870er Jahren hatte u. a. auch die sanitätspolitische Institution der Sanitätssprengel zur Folge, deren Einrichtung in Tirol durch die Gesetzesvorlage vom 20. Dezember 1884 (LGBl. 1885, Nr. 173) beschlossen wurde. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser administrativen Vorgaben der obersten Sanitätsbehörde in Wien, etwa die Bereitstellung der Wartgelder für die geplanten Ärzte, hatten dabei die Bezirksämter als „Scharniere der Verwaltung zwischen der Landesbehörde und der Lokalverwaltungen“74 alleine zu lösen. Auch im Bezirk Bruneck führte dieses Gesetz nach jahrelangen Verhandlungen zwischen allen Beteiligten zur Bildung von Sanitätssprengeln mit fix besoldeten Gemeindearztstellen. Die um 1880 bestehenden über 50 Ortschaf71 72 73 74
Burg, Volk, 61. Zum genauen Wortlaut siehe Schranz, Sammlung, 1–7. Abgedruckt bei Schranz, Sammlung, 63–66. Taddei, Ottenthal, 82.
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ten dieses Bezirks schlossen sich zu acht großen Sprengeln zusammen, die Stadt Bruneck bildete aufgrund ihrer hohen Einwohnerzahl eine eigenständige „Sanitätsgemeinde“. Im Stichjahr 1893 etwa weist das Ärzteverzeichnis für den Bezirk Bruneck neben dem amtlichen Tierarzt zwölf Heilpersonen aus.75 Von diesen waren sechs Doktoren und zwei Wundärzte als Gemeindeärzte direkt von den Kommunen angestellt und einer als Bezirksarzt vom Land. Die Stadt Bruneck stattete ihr Spital mit einem Arzt und einem Wundarzt aus, ferner befand sich in dieser Stadt die einzige Apotheke des Bezirks. Franz v. Ottenthal hingegen war 1893 der einzige Privatarzt in diesem weitläufigen Gebiet. Diese klaren gesetzlichen Rahmenbedingungen führten nicht nur hinsichtlich vieler sanitätspolitischer „Standardaufgaben“, etwa der Impfung, der Leichenbeschau und der Epidemiekontrolle, zu spürbaren Verbesserungen. Auch das Inanspruchnahmeverhalten der Bevölkerung schien dadurch beeinflusst worden zu sein, wie aus einem Anfang des Jahres 1890 verfassten Schreiben des Brunecker Bezirkshauptmanns hervorgeht. Denn dieser meinte in seinem Bericht an die Statthalterei, dass durch die Neuordnung des Gemeindesanitätsdienstes „die Zugänglichkeit der ärztlichen Hilfe für Alle, auch die Armen der Gemeinden, leichter und regelmäßiger [geworden wäre]“76. Die optimistische Einschätzung des Bezirkshauptmanns bezüglich einer leichteren Erreichbarkeit von Ärzten findet durch einen Blick auf die gesamtösterreichischen Statistiken zur langfristigen Entwicklung des Sanitätspersonals eine gewisse Bestätigung. In der Tat waren in den späten 1880er Jahren die Studierendenzahlen und die Promotionen an den Medizinischen Fakultäten stark angestiegen, was in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts in allen Ländern der Monarchie zu einer regelrechten „Ärzteschwemme“ geführt hatte. Im Vergleich zum vorangegangenen Jahrzehnt betrug die durchschnittliche Zuwachsrate während dieses Zeitraums 47 Prozent.77 Allerdings konnte schon zwischen 1860 und 1880 die Mehrheit der Länder in der österreichischen Reichshälfte eine stetige Zunahme an Heilpersonen verzeichnen, im Jahrzehnt zwischen 1860 und 1880 etwa lag der Zuwachs im Durchschnitt bei rund neun Prozent. Im nachfolgenden Jahrzehnt war es jedoch mit Ausnahme von Niederösterreich, Galizien und Dalmatien zu einer markanten Abnahme an Ärzten und Wundärzten gekommen. Das Minus betrug bei einem Vergleich mit dem vorangegangenen Jahrzehnt durchschnittlich etwa sechs Prozent und wurde als dermaßen gravierend wahrgenommen, dass manche Sanitätsbeamte schon ein „Aerztedeficit“78 herauf beschworen und eine heftige Debatte über unbesetzt bleibende Arztstellen vom Zaun brachen.79
75 Verzeichniß, 1893, 3 f. 76 TLA, Akten Statthalterei 1890, Sanität; Nr. 2078 ad Z. 5199/565, liegend in Z. 2615 „Bericht der k. k. Bezirkshauptmannschaft Bruneck vom 1.3.1890 an die k. k. Statthalterei“. 77 Vgl. die Tabelle bei Bratassevic, Bewegung, 810. 78 Presl, Gesundheitspflege, 409. 79 Vgl. etwa N. N., Sanitätspersonale, 123–129.
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Der in den 1880er Jahren beklagte Ärztemangel resultierte jedoch nicht so sehr aus der Entscheidung angehender Akademiker, ein juristisches oder philosophisches Studium jenem der Medizin vorzuziehen. Denn die Zahl der Ärzte (Doktoren der Medizin) hatte während des Zeitraums zwischen 1860 und 1900 sowohl absolut als auch prozentual (21,7 Prozent) zugenommen.80 Vielmehr stand dieser langsamen, aber stetigen Zunahme bei den akademischen Ärzten eine massive Abnahme der Wundärzte um 75,9 Prozent gegenüber, was eigentlich nur mit der Schließung der Chirurgischen Lehranstalten im Studienjahr 1871/72 zu erklären ist. Offensichtlich konnten sich viele Söhne aus weniger begüterten Familien, denen gerade noch die Ausbildung zum Wundarzt finanziert werden konnte, das ungleich kostspieligere Studium an einer Medizinischen Fakultät nicht mehr leisten. Sie mussten auf andere Berufe wie Lehrer oder Priester ausweichen.81 Der von den medizinischen Fakultäten produzierte Nachwuchs reichte somit zwar aus, um die durch Tod, Wegzug oder Pensionierung frei werdenden Arztstellen nach zu besetzen. Er konnte allerdings den „biologisch“ bedingten Schwund an Wundärzten, der durch die Abschaffung dieses Berufsstandes zudem nicht mehr aus sich selbst heraus rekrutiert werden konnte, bei weitem nicht auffangen. Es benötigte offenbar eine gewisse Orientierungsphase, bis sich bildungshungrige Söhne auf die reformierten Studienordnungen eingestellt hatten und die Zahl der Heilpersonen nicht nur wieder anstieg, sondern ein Studium der Medizin so attraktiv wurde wie nie zuvor. Betrug die Anzahl der Hörer der Medizin an österreichischen Universitäten im Wintersemester 1880/81 2.175 Personen, so hatte sich deren Zahl bis zum Wintersemester 1884/85 nahezu verdoppelt (4.292 Inskribierte).82 Nicht wenige ärztliche Standesvertreter begannen nunmehr über eine „Überfüllung des Standes“ zu klagen.83 Zur vermehrten Attraktivität des Medizinstudiums hatte die Einrichtung von Sanitätssprengeln, die auf eine lukrative Stelle als staatlich besoldeter Amtsarzt hoffen ließen, sicherlich mit beigetragen. Trotz dieser günstigen Entwicklung der Ärztezahlen ab den 1890er Jahren hatten promovierte Mediziner immer noch ein überaus großes Einzugsgebiet zu betreuen, wobei das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Ärzten und ansässiger Bevölkerung regional sehr stark schwanke. Im Stichjahr 1895 beispielsweise entfielen im österreichischen Durchschnitt drei Ärzte auf 10.000 Einwohner.84 Am schlechtesten mit approbierten Doktoren versorgt waren dabei die Bukowina, Galizien und Krain, wo im Schnitt ein Arzt für die Behandlung von 10.000 Einwohnern zuständig war. In Niederösterreich hingegen lag der Wert aufgrund der hohen Ärztedichte in Wien am höchsten (8,29), auch Tirol 80 Bratassevic, Bewegung, 810. 81 Eine ähnliche Beobachtung machte auch Huerkamp für die Entwicklung der Ärztezahlen in Preußen. Vgl. Huerkamp, Aufstieg, 65–76. 82 Bratassevic, Sanitätspersonale, 810. 83 Relativierend dazu vgl. Dietrich-Daum, Klage, 203–208. 84 Hierzu und für die folgenden Zahlen vgl. Österreichisches Statistisches Handbuch (1897), 38 (Tab. 1).
2.2 Das Tauferer Ahrntal – eine Beschreibung des medikalen Raumes
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(inklusive Vorarlberg) übertraf den österreichischen Durchschnitt von drei Ärzten deutlich (5,04) und nahm unter den Alpenländern die Spitzenposition ein.85 Von einer Sättigung des medikalen Marktes mit Ärzten konnte folglich auch um die Jahrhundertwende in vielen Gegenden der Monarchie noch keine Rede sein. Wie Tabelle 2.4 zur Ärztedichte im Bezirk Bruneck, der Stadt Bozen und Tirol zeigt, haben diese Wellenbewegungen bei den Ärztezahlen auch auf der regionalen Ebene einen Niederschlag gefunden. Musste in Gesamttirol ein Arzt im Jahre 1875 noch 1.553 Personen versorgen, so waren es im Jahre 1890 am Höhepunkt des „Ärztemangels“ bereits 1.921. Erst in der letzten Dekade vor der Jahrhundertwende begann das Verhältnis Heilperson pro Einwohner allmählich zu sinken und die niedergelassenen Ärzte mussten ein immer kleineres Einzugsgebiet abdecken. Eine ähnliche Tendenz ist sowohl für den Bezirk Bruneck als auch für die Stadt Bozen zu beobachten. Deutlich zu sehen ist der Rückgang des Wundarztberufs, der hinsichtlich einer ärztlichen Behandlung der ländlichen Bevölkerung quantitativ spätestens ab den 1880er Jahren in die relative Bedeutungslosigkeit verschwand und dessen letzter Vertreter in Bozen in den frühen 1890er Jahren seine Praxis dicht gemacht hatte. Wundärzte spielten demnach um die Mitte der 1890er Jahre für die medizinische Versorgung der Bevölkerung nur noch eine marginale Rolle, lediglich in Salzburg, Niederösterreich und der Steiermark erreichte deren Dichte mit ein bis zwei Wundärzten pro 10.000 der Bevölkerung immer noch eine nennenswerte Größe.86 Wie Tabelle 2.4 zeigt, übertraf im Bezirk Bruneck erst um die Mitte der 1880er Jahre die Zahl der Ärzte jene der Wundärzte. Zu dieser Zeit lag das Verhältnis in Gesamttirol bereits bei 27,7 zu 72,3 Prozent auf Seiten der Doktoren.87 Der Bezirk folgte hier eher dem österreichischen als dem Tiroler Trend, denn die Umkehr des Verhältnisses Arzt zu Wundarzt zeichnete sich in der Österreichischen Reichshälfte erstmals um 1880 in den Statistiken deutlich ab. 1880 entstammten von 100 Heilpersonen nur noch 38,3 Prozent dem Wundarztstand, knapp über 60 Prozent hatten sich schon an einer medizinischen Fakultät zum Arzt promovieren lassen.88 In den nun folgenden 20 Jahren wurde der Wundarzt zunehmend zum „Exoten“ unter den Heilberufen, um 1900 hatte nicht einmal mehr ein Zehntel aller Heilpersonen eine dementsprechende Ausbildung absolviert. Wie ein Blick in die Akten der regionalen Verwaltung zeigt, wurden durch die von Wundärzten bekleideten Gemeindearztstellen dabei nach Freiwerden dieser Stellen bevorzugt mit promovierten Ärzten besetzt. So waren 1884 sowohl die Gemeindearztstelle des Sprengels 85 Vermutlich trugen die – auch geografisch bedingten – günstigen Verhältnisse bei der Arztdichte im italienischsprachigen Landesteil erheblich zu dieser Spitzenposition bei. 1896 umfasste dort ein Sprengel 64 Quadratkilometer, in Nordtirol immerhin 140 und in Mitteltirol [= heutiges Südtirol] sogar 148. Vgl. N. N., Fortschritte, 485. 86 Vgl. den Stand des Heilpersonals im Jahre 1895 in: Österreichisches Statistisches Handbuch (1897), 38 (Tab. 1). 87 Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 1879. Vgl. N. N., Sanitätspersonale, 134. 88 Bratassevic, Bewegung, 814.
82
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Tab. 2.4: Sanitätspersonal im politischen Bezirk Bruneck und im Tiroler Durchschnitt für ausgewählte Jahre 1 Doktor der Medizin auf … Einwohner in
1 Wundarzt auf … Einwohner in
1 Heilperson überhaupt auf … Einwohner in
Jahr
Bruneck (Bezirk)
Bozen (Stadt)
Tirol
Bruneck (Bezirk)
Bozen (Stadt)
Tirol
Bruneck (Bezirk)
Bozen (Stadt)
Tirol
1875 1880 1885 1890 1895 1900
5.032 4.409 5.040 4.342 3.473 3.392
780 1.024 853 869 869 715
2.257 2.297 2.337 2.421 1.907 1.734
4.403 4.409 7.056 11.578 17.367 16.962
3.118 3.414 10.241 11.292 0 0
4.976 6.537 8.570 11.497 18.291 30.106
2.348 2.205 2.940 3.158 2.894 2.827
624 788 788 807 869 715
1.553 1.699 1.836 1.921 1.727 1.640
Quelle: Statistik des Sanitätswesens für das Jahr 1875–1900.
Ahrntal (in Steinhaus) als auch jene des Sprengels Enneberg (in Piccolein) zunächst mit Wundärzten besetzt (vgl. Tab. 2.5). Gut zehn Jahre später hatten zwei Doktoren der Medizin diese Stellen inne. Auch die in den frühen 1890er Jahren noch von einem Wundarzt ausgeübte Funktion als Chirurg im Brunecker Spital war 1899 an einen promovierten Mediziner gegangen. Lediglich in den zum Bezirksamt Welsberg gehörigen Sprengeln Niederrasen und Toblach wirkten um 1900 zwei zu diesem Zeitpunkt bereits betagte Wundärzte (Franz Meyer hatte seine Stelle in Niederrasen bereits seit 1868 inne), die allerdings nach deren Ableben ebenfalls mit Doktoren besetzt wurden.89 Aus den Zahlen zu diesem Bezirk wird die Benachteiligung ländlicher Regionen hinsichtlich der Versorgung mit universitär ausgebildeten Medizinern besonders deutlich, denn akademische Ärzte ließen sich tendenziell in Städten und bevölkerungsreichen Ortschaften nieder, wohingegen Wundärzte hauptsächlich in Gemeinden bis zu 2.000 Einwohnern ansässig waren.90 Erst die Neuordnung des Gemeindesanitätsdienstes, der Ärzten auch in kleineren Gemeinden mit armer Bevölkerung aufgrund des fixen Wartgeldes eine gewisse Grundsicherung garantierte, sollte Ärzte dazu bewegen, Praxen auf dem Land zu übernehmen oder neu zu eröffnen. Zudem wurde für junge Ärzte durch den „Ärzteboom“ der 1890er Jahre der Konkurrenzdruck in den Städten spürbar größer. Tabelle 2.5 verdeutlicht ebenfalls, dass die Dichte an Heilpersonen im Bezirk Bruneck zwischen ca. 1830 und 1900 im Gesamten betrachtet nach einem leichten Anstieg in den Jahren nach 1850 wieder rückläufig war und in den letzten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts stagnierte.91 Dabei war die Zahl 89 1906 etwa übernahm Dr. Emil Bilgeri die Gemeindearztstelle in Toblach. Vgl. Sanitätssprengel, 13. 90 Vgl. die entsprechenden Angaben bei Bratassevic, Bewegung, 816. 91 Ein Verzeichnis des Heilpersonals aus dem Jahre 1873 weist zwar erstmals drei Ärzte im Bezirk Taufers aus, allerdings handelte es sich bei dem neu hinzugekommenen Arzt um Dr. Josef Daimer jun., den Sohn des Gemeindearztes, der seinen „greisen Vater […] in
83
2.2 Das Tauferer Ahrntal – eine Beschreibung des medikalen Raumes
Tab. 2.5: Zahl der akademischen Ärzte und Wundärzte im politischen Bezirk Bruneck in ausgewählten Jahren Gerichtsbezirk
1827 1843 1852 1859 1868 1873 1877 1880 1884 1893 1899*
Bruneck Doktoren Enneberg der Medizin Taufers im Jahr Welsberg
2 0 0 0
3 0 1 1
2 0 2 1
2 0 2 1
1 0 2 1
3 0 3 1
2 0 3 1
3 0 3 2
5 0 1 1
3 1 3 2
4 1 2 2
Bruneck Enneberg Taufers Welsberg
5 1 2 2
5 2 2 3
4 2 1 2
4 2 1 3
4 2 1 4
4 1 1 4
3 1 1 4
3 2 1 2
1 1 1 2
1 0 0 2
0 0 0 2
12
17
14
15
15
17
15
16
12
12
11
Wundärzte im Jahr Summe alle Heilpersonen
Quellen: für 1827 bis 1884: Daimer, Sanitäts-Bericht, Tab. 54, 252 f.; für 1893 und 1899: Verzeichniß[s], 3 f. u. 4. (* Ottenthal verstarb am 29. Jänner 1899 und wurde in der Liste nicht mehr angeführt).
der Doktoren langsam, aber stetig gestiegen. Unterhielten 1827 gerade einmal zwei Doktoren der Medizin eine Praxis in einer der Gemeinden des Bezirks, so ordinierten dort 1899 bereits neun Ärzte. Demgegenüber war hauptsächlich die Zahl der Wundärzte allmählich, seit den 1870er Jahren jedoch rasant von zwölf (1827) auf zwei (1899) zurückgegangen. Diese ungleiche Entwicklung verweist darauf, dass die stark landwirtschaftlich geprägte Region entlang der Rienz mit ihren vielen hochalpinen Seitentälern akademischen Ärzten bis auf die einigermaßen gut dotierten Gemeindearztstellen wenige Anreize bot, sich dort niederzulassen und eine Praxis zu eröffnen. Die wenigen Doktoren, die dennoch den Sprung aufs Land wagten, konnten die rasche Abnahme der wundärztlichen Praxen allerdings nicht kompensieren. Im Zuge der Abschaffung der Wundarztausbildung und der Reformierung des Gemeindesanitätswesens war es daher vor allem in dem geografisch entlegensten Bezirk Enneberg zu einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung gekommen. In einer derartigen Randlage des alpinen Siedlungsgebietes hatten die Bezirksder Ausübung seines gemeindeärztlichen Berufes“ unterstützte, wie es im Nachruf hieß. N. N., Nachruf, 33. Vermutlich führte der Sohn die Praxis seines Vaters, der 1883 verstarb, vorerst selbständig weiter, ehe er die Karriereleiter innerhalb der verschiedenen Sanitätsabteilungen bis zum Sektionsrat im Wiener Ministerium nach oben stieg. Zwischen 1877 und 1883 hatte ein gewisser Dr. Josef Liebl die Gemeindearztstelle inne, den es allerdings nicht lange in dieser Stelle gehalten hatte. Denn Franz v. Ottenthal übernahm nach dem Ausscheiden Liebls im Jahre 1884 vorerst provisorisch die Agenden des Gemeindearztes, die er dann allerdings über mehrere Jahre hinweg (bis 1888) ausübte. Vgl. Taddei, Ottenthal, 145 f. Erst 1888 kam mit Dr. Alois Kortleitner ein neuer Gemeinde- und Gerichtsarzt ins Tal. TLA, Akten Statthalterei 1888, Sanität; Zl. 22.685/2.453, liegend in 91: „Schreiben des Landeshauptmanns an die Bezirkshauptmannschaft Bruneck vom 19.10.1888“.
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2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
ärzte weniger mit einer „Überfüllung“ ihres Berufsstandes zu kämpfen, als vielmehr mit der Sorge, für eine ausgeschriebene Stelle überhaupt einen Bewerber zu finden.92 Aufgrund der schwierigen Bedingungen für junge Ärzte in den entlegenen Ortschaften blieben selbst die verhältnismäßig lukrativen Gemeindearztstellen lange vakant oder waren von einer hohe Fluktuation bestimmt, sodass viele Gemeinden die Wartgelder ständig erhöhen mussten, um zumindest zeitweise einen Arzt in die Gegend zu locken. Für die freie Stelle im Sprengel Ahrntal etwa wurde im Jänner 1891 ein Wartgeld von 400 Gulden geboten und mangels Bewerbungen bei der neuerlichen Ausschreibung im April 450 Gulden.93 Nach einem kurzen Intermezzo durch Dr. Franz Lutz versuchte man im August 1894, den zukünftigen Arzt durch eine neuerliche Erhöhung auf 500 Gulden etwas länger im Tal zu halten.94 Nachdem trotz langer Suche kein Kandidat gefunden werden konnte, mussten die einzelnen Ortschaften des Ahrntales im April 1895 schließlich nochmals zusätzliche 60 Gulden aus den nicht gerade üppig gefüllten Gemeindekassen aufbringen95, ehe die Gemeindearztstelle mit dem kurz zuvor in Innsbruck zum Arzt promovierten Dr. Cyprian Pescosta wieder besetzt werden konnte.96 Die Sanitätsbehörden in Innsbruck waren über die finanzielle Lage dieser ruralen Gemeinden ebenso informiert wie über die Bedürfnisse vieler junger Ärzte nach „geselliger Zerstreuung“, wie entsprechende Passagen in den Tiroler Sanitätsberichten der 1880er Jahre zeigen. So meinte etwa der damalige Landessanitätsrat: „Die ärztliche Praxis im Gebirge ist weder verlockend noch lohnend, sie stellt sehr grosse Anforderungen an die physische Leistungsfähigkeit des einzelnen Individuums, der Verdienst steht nirgends im Verhältnisse zur Leistung, die Armut der Bevölkerung zwingt häufig genug, auf eine Entlohnung freiwillig oder unfreiwillig zu verzichten. Ferne von einem anregenden Verkehr ist der Arzt auf dem Lande zumeist auf sich angewiesen, er entbehrt fast Alles, was ihm während der Studienjahre in der Stadt geboten war und scheut sich darum der junge Arzt, der dieses Verhältnisse sieht, auf das Land hinauszugehen.“97 Von der Nachfrageseite her betrachtet bedeutete das unaufhaltsame Verschwinden der Wundarztpraxen, dass durch die Verschlechterung der Relation von Heilpersonen und der ansässigen Bevölkerung das 92 Vgl. dazu Taddei, Bestellungsverfahren, 232–235. 93 Siehe die Stellenausschreibungen vom 29.1.1891 und 30.4.1891 im Beiblatt zu „Das Österreichische Sanitätswesen 3 (1891)“. Zur Beteiligung des Prettauer Bergbauunternehmens an den finanziellen Kosten für den Arzt in Steinhaus vgl. Tasser, Ärzte, 50–54. 94 Stellenausschreibung vom 16.8.1894 im Beiblatt zu „Das Österreichische Sanitätswesen 6 (1894)“. 95 Stellenausschreibung vom 11.4.1895 im Beiblatt zu „Das Österreichische Sanitätswesen 7 (1895)“. 96 TLA, Akten Statthalterei 1895, Sanität; Zl. 26.138/1.955, liegend in 95; „Bericht der k. k. Bezirkshauptmannschaft Bruneck mit den Stand-Tabellen des Dr. Cyprian Pescosta in Steinhaus und des Magisters Max Schelle in Bruneck vom 11.10.1895“. 97 Daimer, Sanitäts-Bericht, 256 f. Zu den facettenreichen Anforderungen eines Landarztes vgl. auch Huerkamp, Aufstieg, 185–189.
2.2 Das Tauferer Ahrntal – eine Beschreibung des medikalen Raumes
85
Abb. 2.4: Der Ansitz Neumelans: Wohnhaus und Praxis Franz v. Ottenthals Quelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck; Bibliothek Postkartensammlung: Sand i. Taufers
Angebot an medizinischen Dienstleistungen durch approbierte Doktoren zunächst zurückging.98 Da sich die neuen Gemeindeärzte zudem bevorzugt an den Hauptorten des Sprengels niederließen, bedeutete dies für viele Bewohnerinnen und Bewohner einen erheblichen Mehraufwand für die Inanspruchnahme einer Arztpraxis. Franz von Ottenthal beobachtete vermutlich genau, dass die Gesamtzahl der Heilpersonen im Bezirk Taufers wie in den Nachbarbezirken im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stagnierte, wenn auch die freiwerdenden Wundarztstellen nach und nach durch promovierte Ärzte ersetzt wurden. Die Ärztedichte in diesem Bezirk blieb vorerst aber trotz der gesetzlichen Neuordnungen des Gemeindesanitätsdienstes gering, sodass Ottenthal sicherlich keinen übermäßigen Konkurrenzdruck verspürte. Er sah in seinen Kollegen wohl eher eine Erleichterung für die im Zuge seines fortschreitenden Alters immer beschwerlicher werdende Praxis. Vor allem die weiten Wege über steile, im Winter oftmals gefährliche Pfade zu den entlegenen Weilern bereiteten dem betagten Arzt gegen Ende seiner beruflichen Tätigkeit zunehmend größere Probleme, wie einige Briefwechsel zwischen Ottenthal und den übergeordneten 98 In Preußen war die Situation ähnlich. Vgl. Huerkamp, Aufstieg, 147–153, besonders die Tab. 11 und 12.
86
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Behörden in Elena Taddeis Biographie belegen.99 Ein massenhaftes Abwandern seiner Patientinnen und Patienten war mangels Alternativen nicht zu befürchten, sodass er nach rund 50 Jahren als Privatarzt im Tauferer Ahrntal zu den anderen Medizinern eine kollegiale Freundschaft entwickelt hatte.100 Darauf deutet nicht zuletzt die in den Krankenjournalen der späten Praxisjahre gut dokumentierte Zusammenarbeit mit anderen Ärzten aus der unmittelbaren Umgebung hin.101 Der von Andreas Oberhofer erstmals statistisch nachgewiesene Rückgang von Ottenthals Patientenzahlen ab den 1890er Jahren102 ist folglich dahingehend zu interpretieren, dass er seine Patientenfrequenz freiwillig reduziert hatte und der „alte Franz“ sich einem geringeren Konkurrenzkampf ausgeliefert sah als der „junge Franz“. Denn wenn laut Tabelle 2.5 der Bevölkerung im Jahre 1852 plötzlich ein promovierter Arzt mehr im Bezirk Taufers zur Verfügung stand als im Jahre 1843, dann musste Ottenthal als dieser Neuling seinen Kundenstock erst durch Beweis seiner fachlichen Kompetenz und seines Wissens vom alteingesessenen Gemeindearzt „erobern“.103 2.3 Der theoretische Bezugsrahmen: das Modell der „epidemiologischen Transition“ In den letzten drei Jahrzehnten sind mehrere grundlegende Studien erschienen, die den historischen Sterblichkeitswandel und die Entwicklung der Todesursachen deutschsprachiger Länder in den Fokus ihrer Forschungen gerückt haben.104 Diese Untersuchungen arbeiteten wichtige Faktoren, die die Sterblichkeit in einer längerfristigen Perspektive beeinflusst haben, heraus und stellten ein in vielen europäischen Staaten ähnlich verlaufendes Muster fest. Demzufolge lässt sich generell im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Stabilisierung der Mortalität und ein Sinken der hohen Sterberaten konstatieren, die im ausgehenden 19. Jahrhundert nochmals einen rasanten Abwärtstrend erfuhren 99 Etwa jenes Schreiben vom 26.2.1895. Abgedruckt bei Taddei, Ottenthal, 163. 100 Dietrich-Daum sieht dementsprechend die im ausgehenden Jahrhundert losbrechende „Klage der Ärzte“ über das Überhandnehmen ihres Berufsstandes als typisches Phänomen der (groß-)städtischen und weniger der ländlichen Ärzte. Vgl. Dietrich-Daum, Klage, 207. 101 So etwa mit dem Gemeindearzt Dr. Josef Liebl [„iterum anasarca crescit, med. Coll. Liebl non cedens“]. HM 1481/1881, Eintrag vom 5.10.1881) oder dessen Nachfolger Dr. Alois Kortleitner [„consult. c. Dr Kortleitn. vomitus intrat“]. HM 1927/1888, Eintrag vom 4.10.1888). 102 Vgl. Oberhofer, Landarztpraxis, Diagramm 1, 181. 103 Zu den Anfangsschwierigkeiten nach der Gründung einer Arztpraxis vgl. Klaas/Steinke/ Unterkircher, business [im Druck]. 104 Grundlegend dabei: Spree, Ungleichheit; Imhof, Jahre; Lee, Mechanism; Vögele, Sozialgeschichte; Weigl, Wandel [2000a]; Vögele/Woelk, Stadt. Richtungsweisend für historisch-demografisch arbeitende Forschende waren die Grundlagenarbeiten des an der FU Berlin tätigen Arthur E. Imhof. Vgl. die darauf aufbauenden Überblicksdarstellungen bei Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 57–63; Gehrmann/Sokoll, Demographie, 154–161; Vögele, Demographie, 292–297; Eckart/Jütte, Medizingeschichte, 230–232 sowie von Imhof selbst. Imhof; Einführung, 12–35.
2.3 Der theoretische Bezugsrahmen: das Modell der „epidemiologischen Transition“ 87
und bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter 10 Sterbefälle pro 1.000 Lebende gefallen waren. Unterbrochen wurde dieser stetige Sterblichkeitsrückgang allerdings von einer Periode sinkender Lebenserwartung ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, was mit Industrialisierungsschüben und beginnender Verstädterung in Verbindung gebracht wird.105 Dieses modellhafte Verlaufsmuster ist allerdings aus den dokumentierten Daten zu großen Länderkomplexen wie Großbritannien, den skandinavischen Ländern oder Preußen resp. dem Deutschen Reich abgeleitetet worden. Auf der Mikroebene einzelner Regionen etwa oder für spezifische Konglomerate wie urbane Zentren konnte dieses Verlaufsmuster hinsichtlich der Chronologie oder der Schwere von Mortalitätskrisen erheblich variieren. Es erscheint für den folgenden Abschnitt daher sinnvoll, nicht nur den historischen Wandel des Sterblichkeitsgeschehens in Gesamttirol und in der westlichen Reichshälfte der Monarchie (Zisleithanien) in den Blick zu nehmen, sondern die entsprechenden Daten zum Bezirk Bruneck sowie zur Bezirkshauptmannschaft Taufers zu erheben.106 Erst am regionalen Beispiel können lokale Besonderheiten und Abweichungen vom sowie Korrelationen mit dem Landestrend sichtbar gemacht und die Anwendbarkeit verallgemeinernder Modelle überprüft werden. In ihren Bemühungen, generelle Periodisierungen für den Wandel der Sterblichkeit zu finden, greifen die meisten Demografen dabei auf das Modell der „epidemiologischen Transition“ zurück. Dieses Modell wurde vom USamerikanischen Demografen Abdel Omran in den 1970er Jahren entwickelt und stellt einen Versuch dar, den langfristigen Verlauf des historischen Sterblichkeitswandels anhand spezifischer Kriterien (z. B. Sterberate, Lebenserwartung) in einzelne Phasen zu untergliedern.107 Diesem Modell zufolge bestimmte im „Zeitalter der Seuchen und Hungersnöte“ eine hohe und von starken Schwankungen geprägte Sterblichkeit die Bevölkerungsentwicklung. Sterberaten zwischen 30 und 50/1.000 drückten die Lebenserwartung bei der Geburt, die zwischen 20 und 40 Jahren lag. Im „Zeitalter der rückläufigen Epidemien“ wurden die für Mortalitätskrisen ausschlaggebenden, schweren und überregionalen Epidemiejahre seltener und blieben schlussendlich ganz aus. Die Lebenserwartung begann von 30 auf ca. 50 Jahre zu steigen. Als Charakteristikum der letzten Phase seines Modells definierte Omran schließlich eine relativ niedrige Sterblichkeit und eine Lebenserwartung bei der Geburt von 70 Jahren. Da viele der klassischen Infektionskrankheiten (etwa Cholera, Pocken, Tuberkulose108) in dieser Epoche aus den Listen der Todesursachen in Europa verschwunden und von chronisch-degenerativen Krankheiten verdrängt worden sind, bezeichnet er diese Periode als „Zeitalter der degenerativen und gesellschaftlich verursachten Krankheiten“. 105 Vgl. dazu etwa Gehrmann/Sokoll, Demographie, 193 f., Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 35–38, Spree, Rückzug, 7 f. 106 Vgl. dazu auch das „Plädoyer“ für vergleichende Mikrostudien von Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 115, Anm. 46. 107 Omran, Transition. 108 Die Tuberkulose „verschwand“ dabei erst in der Zwischenkriegszeit.
88
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Für Omran ist dieser idealtypisch konzipierte Übergang von hohen Sterberaten (über 30) sowie hohen Geburtenraten (um die 40) hin zu einer Sterbeziffer von unter 10 und einer Geburtenziffer von weniger als 20 charakteristisch für den Großteil der (west-)europäischen Länder auf ihrem Jahrhunderte währenden Weg in die Moderne. Sozialhistorikerinnen und Sozialhistoriker, die zum Wandel moderner Gesellschaften im 19. Jahrhundert forschen, interessierten sich in erster Linie für die zweite Phase als die eigentliche Übergangsphase eines durch Epidemien geprägten Todesursachenpanoramas hin zu degenerativen Todesursachen. Zudem werden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die amtlichen Bevölkerungsstatistiken vermehrt nach einheitlichen Klassifikationen erstellt, was eine quantifizierende Auswertung der Todesursachenregister erheblich erleichtert. Dementsprechend wurde dieses Modell von Vertreterinnen und Vertretern einer sozialgeschichtlich ausgerichteten Medizingeschichte rasch aufgegriffen, in vielen Punkten konkretisiert und bestätigt, in einigen Punkten allerdings auch kritisiert.109 Im deutschsprachigen Raum ließen sich Arthur Imhof, Reinhard Spree, Jörg Vögele und Andreas Weigl von Omrans Konzept inspirieren,110 wobei sie versuchten, die von diesem mitunter unscharf gebrauchten Begrifflichkeiten („große Seuchen“, „Epidemien“) unter Zuhilfenahme vergleichbarer Indikatoren zu präzisieren sowie die Anfangs- und Endpunkte der jeweiligen Phasen zeitlich exakter zu definieren. Arthur Imhof beispielsweise ließ für das Deutsche Reich die erste Periode mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert enden, reservierte für den Abschnitt der eigentlichen Transition die relativ kurze Zeitspanne der Jahrhundertwende und sah die Bevölkerung Deutschlands schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in die letzte Phase hinübergleiten.111 Wichtigste Bezugsgröße war für Imhof die Entwicklung der Lebenserwartung, die erst Ende des 19. Jahrhunderts den Schwellenwert von 50 Jahren überschritten und sich bereits in den 1930er Jahren der Marke von 70 Jahren genähert hätte. Spree und Vögele sahen hingegen in der merklichen Verstetigung des Bevölkerungswachstums und in dem sich allmählich abzeichnenden Wandel im Todesursachenspektrum die geeigneten Indikatoren für eine Periodisierung.112 Gemäß dieser Messzahlen schien sich der Übergang in Phase 2 für Deutschland bereits in den 1820/30er Jahren anzubahnen, und an der Wende zum 20. Jahrhundert bzw. in den 1920er Jahren war der Übergang in die letzte Phase großteils vollzogen.113
109 Vgl. etwa die Überlegungen von Flinn, Stabilisation, 285–318, und Kunitz, Speculations, 349–364. 110 Vgl. die Ausführungen in den entsprechenden Kapiteln bei Imhof, Jahre, 198–212; Spree, Rückzug, 10–12; Vögele, Sozialgeschichte, 32–44; Weigl, Wandel [2000a], 162– 204; sowie die Publikation von Vögele/Woelk, Stadt, die verschiedene Detailstudien zur Anwendbarkeit dieses Modells auf Mikroregionen und Städte versammelt. 111 Imhof, Jahre, 199. 112 Spee, Rückzug, 11 f.; Spree, Veränderungen [1986], 78 f. und Vögele, Sozialgeschichte, 35. 113 Spree, Rückzug, 12 f.
2.3 Der theoretische Bezugsrahmen: das Modell der „epidemiologischen Transition“ 89
Allerdings lassen sich abseits derartiger, auf große Staatsgebiete bezogener Befunde für kleinere Regionen oder Gebilde wie Großstädte divergierende Entwicklungen feststellen. Für Baden-Württemberg etwa wählt Andreas Kozlik ungefähr die Mitte des 19. Jahrhunderts als eigentlichen Beginn der zweiten Phase, da erst ab den 1860er Jahren ein stetiges Absinken der Sterberaten festzustellen wäre sowie – etwas früher – die Lebenserwartung bei der Geburt zu steigen begonnen hätte.114 In den im 19. Jahrhundert rasant zu Metropolen wachsenden europäischen Großstädten erhielt die Entwicklung der Sterblichkeitsverhältnisse überhaupt eine spezielle Prägung.115 In seiner Studie zu Wien im Modernisierungsprozess erachtet es Andreas Weigl daher als sinnvoll, die erste Phase nochmals in eine von recht günstigen vormodernen Mortalitätsverhältnissen geprägte Periode (1710–1873) zu untergliedern.116 Diese sei durch einen „frühtransitorischen Mortalitätsanstieg bei gleichzeitiger Abnahme der jährlichen Mortalitätsschwankungen“117 gekennzeichnet und zudem typisch für urbane Metropolen des 19. Jahrhunderts. Der Verlauf in urbanen Zentren führte zu einer im Vergleich zu vielen Kleinstädten und ländlichen Regionen längeren Unterbrechung der Mortalitätstransition und zum späteren Eintritt in die eigentliche transitorische Phase, die Weigl für Wien zwischen 1874 und etwa 1920 datiert.118 Hinsichtlich des Beginns des posttransitorischen Zeitalters in den 1920er Jahre stimmt er mit Imhof, Spree und Vögele überein. Ein ähnliches Muster ist für die Kleinstadt Esslingen festzustellen, wo das Todesursachenspektrum im 19. Jahrhundert kaum mehr von großen Seuchenzügen geprägt war und wo sich Infektionskrankheiten wie die Pocken oder Scharlach nur noch zu kurzen pandemischen Kinderkrankheiten auswuchsen bzw. wie im Falle von Typhus oder Ruhr endemisch in wenigen Hausepidemien auftraten. Doch trotz dieser günstigen Voraussetzungen hielt sich der Anstieg der Lebenserwartung während des Untersuchungszeitraumes (1808–1875) in Grenzen und wies im Gegenteil mitunter erhebliche Schwankungen auf.119 Die angeführten Studien belegen, dass die Bevölkerungen Europas nicht geschlossen in den epidemiologischen Übergang eintraten. Der Prozess verlief vielmehr überaus vielschichtig, setzte je nach Region zeitlich früher oder später ein und erfasste die einzelnen Altersstufen, sozialen Klassen und die Geschlechter in unterschiedlicher Intensität. So profitierten im Deutschen Kaiserreich die jüngsten Altersstufen ungleich stärker vom Rückgang der Sterblichkeit zwischen ca. 1870 und ca. 1930 als Erwachsene der mittleren Altersgruppe: 41 Prozent des gesamten Rückgangs entfiel allein auf die Zugewinne der Unter-Einjährigen.120 Viel beachtet wurde in diesem Zusammenhang etwa 114 115 116 117
Baschin/Kozlik, Studien, 176 f. Zu diesem „großstädtischen“ Sonderweg vgl. Weigl, Wandel [2000b], 117–122. Weigl, Wandel [2000a], hier v. a. 162–168. Zu dieser Datierung kommt Weigl auf Grundlage der Indikatoren Lebenserwartung, rohe Sterberate sowie Variationskoeffizient. Vgl. Weigl, Wien, 164. 118 Weigl, Wandel [2000a], 166 f. 119 Baschin/Kozlik, Studien, 103. 120 So zeitgenössische Berechnungen für das Deutsche Reich von Freudenberg, Ursachen, 219–221. Siehe auch Imhof, Jahre, 81–83.
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2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
die 1981 publizierte Studie von Reinhard Spree mit seinen äusserst differenzierten Analysen zur Säuglingssterblichkeit in Preußen sowie dem Einfluss von sozialer Schicht und Beruf der Eltern auf das Mortalitätsrisiko dieser besonders gefährdeten Altersgruppe. Spree konnte zeigen, dass die Säuglingssterblichkeit bei preußischen Beamten zwischen 1880 und 1900 von 18 Prozent auf 15 Prozent sank und bis zum Jahre 1913 ein Niveau von 8 Prozent erreicht hatte. Bei ungelernten Arbeitern hingegen war die Säuglingssterblichkeit in diesem letzten Stichjahr auf 17 Prozent gesunken, einem Wert also, der dem der Beamten rund 30 Jahren früher entsprochen hatte.121 In Wien zählten wie in anderen rasant wachsenden Städten junge Erwachsene mit Migrationshintergrund durch die sich gerade in den urbanen Zentren verschlechternden hygienischen Bedingungen zu den großen Verlierern.122 Eine Studie zu ausgewählten Regionen in Schweden konnte noch dazu starke geschlechterspezifische Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Migranten aufzeigen. Offensichtlich profitierten dort viele in die Städte strömende jüngere Frauen von den neuen städtischen Arbeits- und Lebensbedingungen, während die in den Städten verfügbaren Jobs als Tagelöhner und gewerbliche Arbeiter in Industriebetrieben vielen jüngeren Männern vom Land Nachteile brachten.123 Ebenfalls nicht vom allgemeinen Sterblichkeitsrückgang zwischen 1876 und 1901 profitieren konnten Angehörige bestimmter Berufssparten, etwa die im Kohlebergbau und in der Schwerindustrie beschäftigten Männer über 40 im preußischen Oppeln, deren Sterblichkeit sich im Vergleich mit anderen Regionen um unterdurchschnittliche 5 Prozent verringerte. In der Altersklasse der 50 bis 60-Jährigen erhöhte sich die Sterblichkeit sogar um 3 Prozent.124 Die durch entsprechende Forschungen zutage geförderte Komplexität und Vielschichtigkeit des Sterblichkeitsrückgangs hinsichtlich Region, Alter oder Geschlecht, den Omran noch modellhaft verallgemeinernd dazustellen versucht hatte, führt dazu, dass neuerdings weniger von einem einheitlichen Verlaufsmuster als vielmehr „von einem Bündel unterschiedlicher Prozesse“125 gesprochen wird. Im Folgenden soll nun herausgearbeitet werden, wie sich das Sterblichkeitsgeschehen im Bezirk Bruneck in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Grafiken 2.1a und A.2.1b geben die seit den 1840er Jahren jährlich gedruckt vorliegenden Angaben der kirchlichen Schematismen zu den Geburten und Sterbefällen im Bezirk Bruneck bildlich wieder.126 Kurz nach Einsetzen des Beobachtungszeitraums 1839 hat sich die Sterblichkeit im Vergleich zu den 121 122 123 124 125
Vgl. Spree, Ungleichheit, 56–66 und 171 (Tab. 4). Weigl, Wien, 166. Brandström, Lebenserwartungen, 335–363. Spree, Veränderungen [1986], 83 (Tab. 3). Gehrmann/Sokoll, Demographie, 193. Spree seinerseits erachtet es als positiv, dass angesichts der divergierenden Verlaufsmuster des Sterblichkeitsgeschehens Omrans Modell zunehmend davon befreit würde, „sämtliche Übergangsphänomene abdecken zu müssen.“ Spree, Veränderungen [1986], 76. 126 Vgl. Schematismen. Zur Problematik kirchlicher Schematismen als Quelle zur Bevölkerungsentwicklung siehe Kustatscher, Alltag, 37 f. und insbesondere Fußnote 181.
2.3 Der theoretische Bezugsrahmen: das Modell der „epidemiologischen Transition“ 91
Grafik 2.1a: Geborene und Gestorbene des Bezirkes Bruneck im 5-jährigen Trend, 1839–1914 Quelle: Schematismen der Diözese Brixen 1839–1914; eigene Berechnungen.
erheblichen jährlichen Schwankungen früherer Perioden beruhigt und ist nun durchwegs geringer als die Gebürtigkeit. Lediglich zu Beginn dieses Jahrzehnts findet sich noch ein ausgeprägter Sterbegipfel mit einer Sterberate von knapp 30 je 1.000 Einwohner, der durch die Umsetzung als gleitender Durchschnitt in Grafik 2.1a allerdings nur als minimaler Sterbeüberschuss sichtbar wird. Diese günstige Entwicklung wird in weiterer Folge allerdings von mehreren verheerenden Pocken-, Masern- und Scharlachepidemien unterbrochen, die in den späten 1850er, Mitte der 1860er und in der ersten Hälfte der 1870er Jahre in meist mehrjährigen Seuchenzügen im Bezirk wüteten. Die durch diese Epidemien verursachten Sterblichkeitsgipfel waren dermaßen hoch, dass sie innerhalb eines Zeitraumes von nur 20 Jahren drei Mal als Sterbeüberschüsse sichtbar werden (vgl. Grafik 2.1a). Nach Abflauen der letzten europaweiten Pockenepidemie, die zwischen 1874 und 1875 als direkte Folge des Deutsch-Französischen Krieges auch die meisten Tiroler Bezirke heimgesucht hatte127, ist wieder eine Abnahme der Sterblichkeit feststellbar. Entgegen dem Gesamttiroler Trend kam es aber nicht zu einer Verstetigung und zu einer Stabilisierung des Mortalitätsrückgangs: Vielmehr stiegen die Sterberaten seit Mitte der 1880er Jahre erneut an und verharrten bis in die 1890er Jahre auf hohem Niveau, auch wenn zwischenzeitlich eine kurze Erholung eintrat. Für die hohe Sterblichkeit der frühen 1890er Jahre waren besonders schwere Diphtherie- und Keuchhusten-Epidemien verantwortlich. 127 Zu den einzelnen Pockenepidemien in ganz Österreich vgl. Daimer, Todesursachen, 100–109.
92
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Wenn also Teibenbacher für das Kronland Tirol als Gesamtheit den Eintritt in die eigentliche Phase der epidemiologischen Transition in den späten 1870er Jahren ansetzt, so erreichte diese Phase den Bezirk Bruneck mit gut 15–20-jähriger Verzögerung.128 Denn Grafik 2.1a markiert eindeutig die letzte Dekade des 19. Jahrhunderts als den Beginn kontinuierlich sinkender Sterbeziffern. Diese Entwicklung erweist sich schlussendlich auch als fortwährende Abnahme: Der letzte große Mortalitätsgipfel im Bezirk vor dem Ersten Weltkrieg, ausgelöst durch massive Todesfälle an Keuchhusten um das Jahr 1900129, wird im gleitenden Durchschnitt gar nicht mehr erkennbar. Somit befindet sich der Bezirk Bruneck tatsächlich mitten im „Zeitalter der rückläufigen Epidemien“.130 Die Gebürtigkeit wiederum, die in den 1820 und 1830er Jahren in Tirol noch auf sehr hohem Niveau lag131, ebbte im Bezirk Bruneck in den 1850er Jahren ab. Die Geborenenziffern zeigten fortan über ein Jahrzehnt lang eine sinkende Tendenz bzw. stagnierten bis weit in die frühen 1870er Jahren hinein. Erst ab diesem Zeitpunkt zeichnete sich wieder ein kräftiger Anstieg ab, der allerdings Ende der 1880er Jahre plötzlich für längere Zeit zum Stillstand kam. Um die Jahrhundertwende erfuhr die Geburtenrate schließlich eine erneute, diesmal überaus rasante Zunahme, die sich im Unterschied zu früheren Perioden als anhaltend erwies. Der Bezirk Bruneck begann seinen Aufholprozess gegenüber dem gesamten Kronland Tirol somit nicht nur mit einer Verspätung von rund zehn Jahren,132 er hatte im Vergleich zu anderen Bezirken von nun an auch anhaltend hohe Geburtenraten und zweistellige Geburtenüberschussziffern zu verzeichnen.133 Noch im sechsjährigen Mittel zwischen 1932 und 1941 zählten der Bezirk und das Tauferer Ahrntal im Besonderen zu den geburtenstärksten Regionen Südtirols mit einer Geborenenziffer von rund 30 je 1.000 Einwohnern.134 In Nordtirol hatte diese Ziffer in dieser Zeit bereits den Wert von 17,8 (1931–1937) erreicht (vgl. Tab. A.2.1b). Die vorliegenden Ergebnisse zur Sterblichkeitsentwicklung bestätigen also für die untersuchte Mikroregion Robert Lees Schlusskommentar von 1974 zur allmählichen Stabilisierung der Mortalität in Europa: „Right through to the nineteenth century what was most normal about western European mortality was its instability.“135 Im folgenden Abschnitt soll nun versucht werden, mit Hilfe der Indikatoren Lebenserwartung, Sterberate und Wandel des Todesursachenspektrums diesen vorerst nur grob skizzierten langjährigen Verlauf der Sterb128 Teibenbacher, Bevölkerungsbewegung, 265 f. 129 Vgl. Österreichische Statistik LXVII. Band, 116 f. (Tabelle XXI). 130 Allerdings hat Brigitte Niederkofler die Geburten und Sterbefälle für drei Gemeinden im Tauferer Ahrntal grafisch aufgearbeitet, sodass zumindest für diese drei Dörfer ein Vergleich mit den hier gezeigten Ergebnissen bis zu einem gewissen Grade möglich ist. Vgl. Niederkofler, Lebenserwartung, 72–74 (Tab. 1–9). 131 Teibenbacher, Bevölkerungsbewegung, 264 (Graphik 3). 132 Vgl. Dietrich-Daum, Überblick, 59–62, Teibenbacher, Bevölkerungsbewegung, 256 f. und 269 (Tab. 4), Niedenzu/Preglau, Entwicklung, 14–16 und Tabellen 1 bis 3. 133 Vgl. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, 2. Band, 9 (Tab. 6) und 21 (Tab. 21). 134 Vgl. dazu die aufschlussreiche Abbildung 20 bei Leidlmair, Bevölkerung, 95. 135 Lee, Stabilisation, 317.
2.4 Lebenserwartung und Geschlecht: zwei Schritte vor und (k)einen zurück?
93
lichkeitsentwicklung im Bezirk Bruneck hinsichtlich des Geschlechts und des Alters präziser nachzuzeichnen. Für Andreas Weigl stellen diese Kriterien wichtige Komponenten dar, um die Rolle der Sterblichkeit auf das Bevölkerungswachstum herauszuarbeiten.136 Er folgt damit Reinhard Spree, der eine Ausdifferenzierung der zentralen Variablen von Omrans Konzept – die durchschnittliche Sterberate – in weitere Kategorien als dringend notwendig erachtet.137 2.4 Lebenserwartung und Geschlecht: zwei Schritte vor und (k)einen zurück? 2.4 Lebenserwartung und Geschlecht: zwei Schritte vor und (k)einen zurück? Für einen Vergleich des Sterblichkeitswandels zwischen verschiedenen Ländern und Zeiträumen stellt die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt eine besonders aussagekräftige Messzahl dar. Üblicherweise werden Berechnungen zur Lebenserwartung auf Grundlage einer vorliegenden Altersklasseneinteilung der Bevölkerung gemacht, daher sind Daten vor Einführung amtlicher Statistiken bzw. zu kleineren Gerichtsbezirken wie dem Tauferer Ahrntal nur schwer zu bekommen, wenn sie nicht in aufwändigen Mikrostudien zu einzelnen Pfarreien anhand der Kirchenmatriken selbst erhoben werden.138 Dasjenige Material allerdings, das von Statistikern und Bevölkerungstheoretikern des 19. Jahrhunderts aufbereitet wurde, lässt sich mit dem oben angeführten Verlaufsmuster der Sterblichkeit in den meisten europäischen Ländern in Einklang bringen. So konnte die Bevölkerung der deutschen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit einer Lebenserwartung von 40 Jahren rechnen. Diese ging jedoch während der 1830er Jahre stetig zurück und erreichte um 1865 einen Tiefstand. Obwohl die Lebenserwartung in den folgenden Jahren wieder zu steigen begann, schlossen Frauen erst 1875 mit einem Wert von rund 40 Jahren wieder an das Niveau der „pre-urban-penalty“-Phase an, Männer gar erst 1895.139 Ein ähnlicher Trend lässt sich für England140 und für die Österreichische Monarchie feststellen: Wurde dort ein Kind in die Jahre zwischen 1830 und 1847 hineingeboren, so konnte dieses mit einer mittleren Lebensdauer von 27,74 Jahren rechnen, in der Periode 1851–1864 hingegen mit 25,31. Der geschlechterspezifische Unterschied belief sich in beiden Zeiträumen auf ca. 2–3 Jahre zuungunsten der Männer.141 Bis zum Jahrzehnt 1870–1880 war die Lebenserwartung auf 32,4 Jahre gestiegen, ehe sie um die Jahrhundertwende transitorische Werte erreichte (41,8 Jahre für 1906–1910).142 Mit dem für Omran ausschlaggebenden Schwellenwert von rund 50 Jahren 136 Zu den Begründungen vgl. Weigl, Wandel [2000a], 164. 137 Spree, Rückzug, 13. 138 So wie etwa in den einschlägigen Studien von Knodel, Demographic behaviour, 53–60, Imhof, Lebenserwartungen, 208–213, oder Medick, Weben, 375–327 und 651 f. 139 Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 36 f. 140 Sokoll/Gehrmann, Demographie, 217. 141 Schmitt, Statistik, 111. 142 Prinzing, Handbuch, 357.
94
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
konnte die Bevölkerung in den 1930er Jahren rechnen, und zwar „Frau Österreicher“ früher als „Herr Österreicher“. Diese Unterbrechung der positiven Entwicklung kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, die der Berliner Statistiker Ernst Engel in den 1860ern erstmals für das gesamte preußische Verwaltungsgebiet zusammenstellte und in Tabellenform goss, war für Engels fortschrittsgläubige Zeitgenossen mehr als überraschend. Seinen Berechnungen zufolge hatte sich das durchschnittliche Sterbealter der Bevölkerung bis 1821–1830 auf 28,39 Jahre erhöht, war von da an jedoch bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes 1851–1860 auf 26,4 Jahre gesunken. Für Engel selbst war der statistische Beleg einer signifikanten Verschlechterung der Lebensumstände „ein bitteres Resultat“143, auch wenn nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen davon betroffen waren. Mit diesem Nebensatz wird schon angedeutet, dass sich hinter diesen summarischen Zahlen zur Gesamtbevölkerung große regionale, soziale, geschlechtssowie altersspezifische Unterschiede verborgen haben. Für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Lebenserwartung etwa zwischen der männlichen und der weiblichen Stadtbevölkerung sei auf die Studie von Vögele verwiesen. Er konnte am Beispiel dreier preußischer Städte im Stichjahr 1877 nicht nur eine deutlich geringere Lebenswartung für Männer allgemein feststellen. Im relativ gesunden Düsseldorf verlebten sogar Männer weniger fernere Lebensjahre als Frauen im ungesunden Breslau.144 Für die Österreichische Monarchie ist hinsichtlich der Lebenserwartung ein ausgeprägtes Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle zu konstatieren, das erst im länderinternen Vergleich zu Tage tritt. Die mittlere Lebensdauer bei der Geburt war den Daten aus dem 19. Jahrhundert zufolge in den Alpenländern (Kärnten, Steiermark, Salzburg, Oberösterreich, Vorarlberg und Tirol) erheblich größer als in den östlichen Länderkomplexen. Während in der Periode 1830 bis 1847 die Lebenserwartung in Galizien bei 24,5 oder im Triester Gebiet, verursacht durch die Funktion Triests als Kriegs- und Handelshafen, bei durchschnittlich 24,9 Jahren lag, konnten Tiroler und Vorarlberger Frauen mit 35,3 Jahren rechnen, deren männliche Geschlechtsgenossen mit 32,2.145 In Kärnten erreichte die Lebenserwartung damals mit 34,8 Jahren einen Spitzenwert, den die Alpenländer in ihrer Gesamtheit erst in den 1880er Jahren überbieten konnten.146 Diese regionalspezifischen Unterschiede zwischen östlichen und westlichen Alpenländern lassen sich auch heute noch nachweisen. Im Jahre 2001 wiesen die Bundesländer Wien, Burgenland und Niederösterreich mit 78,3 Jahren einen deutlich niedrigeren Wert bezüglich der Lebenserwartung auf als die übrigen Bundesländer (79,2), wobei auch innerhalb der Gruppen der Männer selbst geringfügig größere Unterschiede bestanden.147 143 144 145 146 147
Engel, Sterblichkeit, 28. Vögele, Sozialgeschichte, 107 f. Dieser Befund gilt jedoch nicht für das Säuglingsalter! Hain, Handbuch, 468. Statistisches Jahrbuch für die Republik Österreich N. F. 59 (2009), 82. Habl, Männergesundheitsbericht, 77 f. So lag etwa die Lebenserwartung von Ostösterreichern 2001 bei 75, 5 Jahren, jene von Westösterreichern aber bei 76,4.
2.4 Lebenserwartung und Geschlecht: zwei Schritte vor und (k)einen zurück?
95
Leider stehen serielle Daten zur Lebenserwartung weder für Tirol, den Bezirk Bruneck oder das Tauferer Ahrntal in aufbereiteter Form zur Verfügung, sodass gesicherte Aussagen über die Entwicklung dieses Indikators meist aus indirekten Belegen, etwa über das mittlere Sterbealter, rückgeschlossen werden müssen.148 Quellenzeugnisse wie jenes durch die Pfarrchronik von St. Jakob um 1900 festgehaltene Kommentar des seinerzeitigen Kooperators, die Schäflein seiner Gemeinde besäßen „eine zähe Gesundheit“ und „ein hohes Alter“149, verweisen zwar darauf, dass der Kirchenmann den hohen Anteil an Ältesten durchaus als außergewöhnlich wahrgenommen hatte. Der subjektive Eindruck des Seelsorgers, dass „[v]iele beiderlei Geschlechts […] die achziger Jahre [erreichen]“, besitzt ohne weitere statistisch abgesicherte Bezugsgröße jedoch nur anekdotischen Charakter. Berechnungen des mittleren Sterbalters zufolge scheint Tirol (und somit wohl auch der Bezirk Bruneck) im Vergleich zu den östlich gelegenen Bundesländern bzw. den anderen Ländern Zisleithaniens verhältnismäßig früh in die eigentliche transitorische Phase eingetreten zu sein, vorausgesetzt man nimmt allein die Lebenserwartung als Bezugsgröße einer Terminisierung. Innerhalb der einzelnen Landesteile Tirols dürften die Bewohnerinnen und Bewohner des wenig industrialisierten Bezirks Bruneck zudem eine durchschnittlich höhere Lebenserwartung gehabt haben. Zumindest legt eine Studie zum interregionalen Vergleich zwischen steirischen Industrie- und Landwirtschaftsbezirken, die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ein durchwegs früheres Sterbealter für steirische Industrie- und Bergbaubezirke belegt, einen solchen Schluss nahe.150 Ein derartiges Sterblichkeitsmuster scheint nicht ungewöhnlich für vom Bergbau geprägte Regionen gewesen zu sein, denn auch im Sächsischen Freiberg erreichten um 1860 von 10.000 Personen ein Alter von 90 Jahren innerhalb der Gruppe der Bergleute von den Männer 1 und von den Frauen 12, hingegen innerhalb der Gruppe der Nichtbergleute von den Männern 10 und von den Frauen 26.151 Eine Detailanalyse des durch Bergbau und Großviehwirtschaft geprägten Ahrntals und des Landwirtschaftsbezirks Tauferertal könnte in dieser Hinsicht möglicherweise interessante Sterblichkeitsunterschiede sowohl zwischen als auch innerhalb der Geschlechter ergeben, kann im Rahmen dieser Studie aber nicht durchgeführt werden. Durch die Untersuchungen von Vögele und Weigl ist jedenfalls gesichert, dass Männer in nahezu allen Altersstufen sowohl in Städten Deutschlands und in Wien als auch auf dem Land (für Preußen) eine durchschnittlich geringere Lebenserwartung als ihre weiblichen Geschlechtsgenossen hatten – zumindest 148 Dies ist bei einigen Mikrostudien zu Dörfern und Tälern im Tiroler Raum möglich, etwa für die Reschengegend bei Pinggera/Riegler/Dal Cero/Gögele, Gene, 80,118 und 159, oder für das Zillertal bei Troger, Bevölkerungsgeographie, 89–923. 149 Pfarrgemeinde-Chronik, fol. 42. 150 Teibenbacher, Entwicklungsmuster, 126 f. 151 Kolb, Handbuch, 535. Laut Auszählung der Ahrntaler Kirchenbücher waren rund 60 Prozent der im 19. Jahrhundert dort verstorbenen Männer entweder direkt in den Bergund Hüttenbetrieben oder indirekt beim sogenannten „Ahrner Handel“ beschäftigt. Vgl. Steinhauser, Knappen, 109.
96
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
in der eigentlichen Übergangsphase der epidemiologischen Transition ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.152 Eine weibliche Übersterblichkeit v. a. in ländlichen Regionen wird für die Zeit vor der Industrialisierung angenommen, die in einigen Altersstufen sogar bis nach der Wende zum 20. Jahrhundert feststellbar war.153 Mögliche Erklärungsversuche reichen dabei von einer hohen Müttersterblichkeit über die Bevorzugung von Männern etwa bei der Versorgung mit Lebensmitteln bis hin zu Mehrfachbelastungen der Bäuerinnen, Mägde und Tagelöhnerinnen durch die schweren körperlichen Arbeiten in der Landwirtschaft.154 Generalisierbar ist eine durchgängige weibliche Übersterblichkeit allerdings nicht, nicht einmal für die reproduktiven Altersstufen. Eine Auswertung entsprechender Daten in Imhofs Studie zu ausgewählten deutschen Gebieten für das Stichjahr 1750 und für die Altersstufe der 15 bis 45-Jährigen ergab denn auch eine höhere Lebenserwartung für Frauen im westfälischen Hartum, dem Saarland und dem württembergischen Herrenberg, nicht aber für die hessische Schwalm, die heutige baden-württembergische Ortenau und Ostfriesland. Im Stichjahr 1800 wiederum konnten Männer zwischen 15 und 45 in Herrenberg, der Ortenau und der Schwalm mit einer höheren ferneren Lebenserwartung rechnen, nicht jedoch im Saarland, in Ostfriesland und ab dem 25ten Lebensjahr in Hartum.155 Auch die Daten zu drei Dörfern im Südtiroler Vinschgau weisen darauf hin, dass die fernere Lebenserwartung von Frauen erst im Verlaufe der 1840er Jahre jene der Männer zu übersteigen begann.156 Trotz der aufgezeigten, die Geschlechter unterschiedlich treffenden Entwicklungen für einzelne Altersstufen bleibt eine Konstante über sämtliche Zeiträume bestehen: die Lebenserwartung bei der Geburt war aufgrund der größeren Sterblichkeit von männlichen Säuglingen traditionell für die weiblichen Neugeborenen höher. In vielen Ländern steht das Sinken der Lebenserwartung bei der Geburt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings in direktem Zusammenhang mit dem Anstieg der Säuglingssterblichkeit.157 Gleichzeitig ist für die immensen Sprünge der durchschnittlichen Lebenserwartung während der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende das massive Zurückdrängen der Sterberate von UnterEinjährigen verantwortlich. Berechnungen zur Republik Österreich zufolge können 30 Prozent des Anstiegs der Lebenserwartung bei der Geburt zwischen 1880 und 1980 alleine dem Rückgang der Mortalität bei den UnterEinjährigen zugeschrieben werden. Auf das Konto des Sterblichkeitsrückgangs der Kleinkinder (1–5 Jahre) gehen weitere 20 Prozent.158 Die überaus rasche Verminderung der Säuglingssterblichkeit um die Jahrhundertwende – für das 152 Vgl. Vögele, Sozialgeschichte, 97–108; Weigl, Wandel [2000a], 165. 153 Vgl. allgemein Luy, Sterblichkeitsunterschiede, 412 f., und differenzierter Weigl, gender gap, 22–40. 154 So etwa bei Imhof, Übersterblichkeit, 493 f. 155 Imhof, Lebenserwartungen, 264 f., 300 f., 336 f., 372 f., 402 f. und 444 f. 156 Vgl. Pinggera/Riegler/Dal Cero/Gögele, Gene, 80,118 und 159. 157 Vgl. Vögele, Sozialgeschichte, 132 f. 158 Köck/Kytir/Münz, Risiko, 17, Anm. 4.
2.5 Geschlechterspezifische Sterberaten
97
österreichische Staatsgebiet von 25,7 Prozent (1871–1880) auf 12,4 Prozent (1926–1928) – musste sich demnach zwangsläufig in eine Erhöhung der Lebenserwartung niederschlagen.159 Auch die Säuglinge in den deutschen Großstädten profitierten so vom zwischen 1877 und 1907 eintretenden Sterblichkeitsrückgang mit einem Zugewinn von rund 15 Jahren, wohingegen sich die gewonnenen Jahre bei jungen Erwachsenen zwischen 15 und 30 Jahren innerhalb desselben Zeitraumes „lediglich“ auf fünf Jahre beliefen.160 Derselbe Befund lässt sich etwas zeitverzögert auch für das Gebiet des heutigen Österreichs feststellen.161 Um 1910 schließlich hatte sich die Sterbewahrscheinlichkeit der Säuglinge in den Alpenländern und den übrigen Ländern der Monarchie nahezu angeglichen, Wien erzielte nun sogar bessere Werte als alle anderen Länder.162 Seit Mitte der 1980er Jahre ist aufgrund des Wandels gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und geschlechterspezifisch unterschiedlich wirkender Veränderungen in den Lebensstilen für die meisten hochindustrialisierten Länder wieder eine leichte Schließung dieser Schere zu beobachten: so hatte sich etwa in Deutschland die Differenz zwischen männlicher und weiblicher Lebenswartung zwischen 1990 und 2003 geringfügig von 6,5 Jahren auf 5,7 Jahren zugunsten der Männer verringert.163 2.5 Geschlechterspezifische Sterberaten Im vorigen Abschnitt wurde deutlich, wie wichtig die Kenntnis von Sterberaten für die Einschätzung des Wandels im Sterblichkeitsgeschehen ist. Wie also entwickelte sich die regionale Sterbeziffer im Tal im Vergleich zu Gesamttirol für die Zeit von ca. 1850 bis 1900? Durch eine bevölkerungsgeografische Dissertation von Heinrich Irschara aus dem Jahre 1971 stehen zur Beantwortung dieser Frage die Sterberaten für die Bezirkshauptmannschaft Taufers zur Verfügung und können der allgemeinen Entwicklung im Kronland Tirol sowie in Zisleithanien gegenübergestellt werden.164 Wie aus Tabelle 2.6a ersichtlich begannen die Sterberaten in der Monarchie ausgehend von einem sehr günstigen Niveau im Vormärz bis zur Jahrhundertmitte zu steigen, wo sie im Jahrzehnt 1841 bis 1850 mit 33,3 pro 1.000 der Bevölkerung den höchsten Durchschnittswert in diesem Jahrhundert erreichten. Von da an begannen die Sterberaten allmählich wieder zu sinken, ehe die positive Entwicklung in den 1870er Jahren durch eine ausgedehnte 159 Prinzing, Handbuch, 375. In Preußen belief sich der Rückgang von 23,4 Prozent auf 9,6 Prozent. 160 Vögele, Sozialgeschichte, 99. Siehe dazu auch die Studie von Sigrid Stöckel. Stöckel, Säuglingsfürsorge. 161 Vgl. Tabelle 4 bei Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 112. 162 Österreichisches Statistisches Jahrbuch 35 (1916–1917), 44. 163 Lange, Lebenserwartung, 20. 164 Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie.
98
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Tab. 2.6a: Durchschnittliche (rohe) Sterberate für die österreichische Monarchie, Tirol und die Bezirkshauptmannschaft Taufers auf 1.000 der Bevölkerung
BH Taufers1
Jahrzehnt
Monarchie (Zisleithanien)
Tirol (1819–1870 inkl. Vorarlberg)
1819–1830
28,92
25,72
k. A.
1831–1840
31,8
27,8
26,9
1841–1850
33,3
27,5
25,6
1851–1860
31,2
26,6
24,1
1861–1870
31,0
25,6
26,4
1871–1880
31,6
25,2
26,8
1881–1890
29,7
25,6
26,8
1891–1900
26,83
23,75
28,5
1901–1910
23,4
21,4
25,0
1911–1913
20,9
20,66
23,7 (1911–1920)
1921–1930
15,24
15,17
19,5
1931–1937
13,4
12,27,8
15,7 (1931–1940)
Quellen: 1: Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, Tab. 16, 17 (1831–1940); 2: Daimer, Geburten- und Sterblichkeitsverhältnisse, 44 f. (1819–1890); 3: Öst. Stat. Handbuch 1912, Tab. 2, 452 (1891–1913); 4: Stat. Handbuch 1954, Tab. V.1, 13 (1921–1937); 5: Mathis, Umwälzung, Tab. 6, 38 (1891–1910); 6: Öst. St. Handbuch 1916–17, Tab. C.7, 34 (1911–1913); 7: Stat. Jahrbuch 1938, Tab. 4a, 29 (1921–1930; 1931–1936); 8: Stat. Handbuch 1972, Tab. 3.18, 37 (1937); teilweise eigene Berechnungen.
Choleraepidemie in Wien 1873 sowie die ausgedehnte Pockenepidemie im Gefolge des Deutsch-Französischen Krieges, die zwischen 1872 und 1875 nahezu alle Kronländer durchzog, unterbrochen wurde. Doch schon unmittelbar nach diesem Seuchenzug der Pocken setzte ein merklicher und anhaltender Sterblichkeitsrückgang ein. In Folge dieser Entwicklungen konnten innerhalb weniger Jahrzehnte die traditionellen Unterschiede zwischen den meisten Kronländern der Monarchie nivelliert werden,165 sodass sich die Sterberaten in Tirol kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur noch minimal vom Durchschnittswert unterschieden. In den 1920er Jahren erreichte die Sterberate posttransitorische Werte und glitt getreu Omrans Modell in die dritte Phase über. In Tirol, wo die Sterbeziffer generell eine der niedersten innerhalb aller im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder war, verlief die Entwicklung der Sterberate ähnlich.166 Nach dem Anstieg der Sterberaten im Vormärz ist ein stetiger Abwärtstrend zu beobachten, der ein Jahrzehnt verspätet zum 165 Zur Entwicklung der Sterberaten in den einzelnen Kronländern vgl. Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung, 110–115. 166 Vgl. etwa am Beispiel der Infektionskrankheiten Presl, Gesundheitspflege, 382.
2.5 Geschlechterspezifische Sterberaten
99
Durchschnittswert 1871–1880 gestoppt wurde. Zu den Mortalitätskrisen dieser Periode trug eine ausgedehnte Pockenepidemie in Vorarlberg in der ersten Hälfte der 1880er Jahre bei, wohingegen das Sterblichkeitsgeschehen in Tirol zu dieser Zeit von einer schwer verlaufenden Masern- und Scharlachepidemie beherrscht wurde.167 Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begannen die Sterberaten zu sinken, um von da an dem allgemeinen Muster des Durchschnittswerts der gesamten Monarchie zu folgen. Diesem grundsätzlichen Verlaufsmuster der Sterblichkeitsentwicklung entgegengesetzt verlief nun die Sterberate im Tauferer Ahrntal: im Unterschied zur Monarchie sank die Sterblichkeit bis zur Jahrhundertmitte, um sich in den folgenden Jahrzehnten auf dem relativ hohen Niveau von 26,8 Promille einzupendeln. Das letzte Jahrzehnt brachte die höchste durchschnittliche Sterberate im gesamten 19. Jahrhundert, und diese fiel auch viel langsamer als im Durchschnitt. Erst in den 1930er Jahren erreichte sie posttransitorische Werte von rund 15 Promille. Es bleibt festzustellen, dass der Mortalitätsrückgang sowohl innerhalb des Kronlandes Tirol als auch in der gesamten Monarchie zwar sehr eng mit der für das Deutsche Reich erarbeiteten Sterblichkeitsentwicklung korreliert, für die Bezirkshauptmannschaft Taufers ist ein „Rückzug des Todes“ (Spree) nach diesem Muster allerdings nicht zu beobachten – vorausgesetzt die Ergebnisse von Irschara sind korrekt. Leider sind die von Irschara auf Grundlage der Kirchenbücher berechneten Werte im Zehn-Jahres-Durchschnitt nicht ohne immensen Arbeitsaufwand zu überprüfen, doch scheinen die mit der Methodik der Innsbrucker Schule der historischen Bevölkerungsgeographie168 gewonnenen Sterberaten solide berechnet zu sein. Für die Jahre 1873 bis 1879 liegen jedenfalls von der staatlichen Statistik berechnete Sterberaten – allerdings für den gesamten Bezirk Bruneck zusammengestellt – für eine Überprüfung vor, die im Sieben-Jahresschnitt eine Sterbeziffer von 24,3 pro 1.000 der Bevölkerung ausweist und somit unter jener des Tauferer Ahrntales mit 26,8 (für 1871–1880) lag.169 Demnach müsste die Bezirkshauptmannschaft Taufers im Vergleich zu den drei anderen Hauptmannschaften dieses Bezirkes (Bruneck, Enneberg und Welsberg) ein äusserst ungünstiges Sterblichkeitsgeschehen aufgewiesen haben. Zu der im Vergleich zu Gesamttirol ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert so ungleichen Entwicklung der Sterberate im Tauferer Ahrntal könnte aber auch die überdurchschnittlich hohe Geburtenrate in dieser Region wesentlich beigetragen haben (vgl. Tab A.2.1b) – und zwar über eine dadurch bedingte höhere Säuglingssterblichkeit.170 Die Geburtenziffer in der Bezirkshaupt167 Vgl. dazu den Überblick bei Daimer, Todesursachen, 108 und 127. 168 Prägende Figur dieser Schule war der am Institut für Geographie tätige Professor Franz Fliri (1918–2008), vgl. Kustatscher, Alltag, 25–27. 169 Statistik des Sanitätswesens für die Jahre 1873–1879. Eigene Berechnungen. Die Bevölkerungszahlen sind der Volkszählung von 1869 entnommen. 170 So hat Leidlmair für das Mittel 1900–1910 für Nordtirol zwar eine höhere Zahl an Geburten als für Nordtirol berechnet, allerdings lag südlich des Brenners aufgrund der höheren
100
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
mannschaft bewegte sich schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert über dem Landesmittel und betrug laut Tabelle A.2.1b im Jahrzehnt 1891– 1900 32,2 pro 1.000 Lebende (Tirol 28,5) und 1901–1910 35,5 (Tirol 30,2).171 Bis in die 1920er Jahre hatte sich die Geburtenrate des Tales im Vergleich zu jener der Nordtiroler Landesteile immer weiter auseinander entwickelt (34,1 zu 24,0).172 Nun verringern rückläufige Geburtenziffern den Anteil von Säuglingen und Kleinkindern an der Gesamtbevölkerung und damit auch den Anteil an jenen Bevölkerungsgruppen, die selbst um die Jahrhundertwende immer noch am meisten von Krankheit und Tod betroffen waren. Immerhin entfiel im Jahrzehnt 1891–1899 für die gesamte Monarchie betrachtet nahezu die Hälfte aller Verstorbenen auf Kinder vor Vollendung des fünften Lebensjahres. In Tirol starben in diesem Zeitraum durchschnittlich 287 von 1.000 Lebenden in dieser Altersgruppe,173 ein hoher, aber im Vergleich zu anderen Kronländern immer noch sehr günstiger Wert. Selbst 1910 stellten in Tirol (mit Vorarlberg) Kinder bis zu fünf Jahren noch 31 Prozent aller Sterbefälle.174 Und auch wenn die Sterblichkeit bei Säuglingen und Kleinkindern seit der Jahrhundertwende merklich zurückzugehen begann, war sie immer noch hoch genug, um sich weiterhin massive auf die Höhe der Gesamtmortalität auszuwirken.175 Aber wich abgesehen von der Geburtenrate auch die Säuglingssterblichkeit in den Tauferer und Ahrntaler Gemeinden überhaupt dermaßen vom Landesdurchschnitt ab, dass die Todesfälle bei Unter-Einjährigen die Sterberaten derart negativ beeinflussen konnten (vgl. Grafik 2.2)? Nun widersprechen die verstreut vorliegenden und dokumentierten Daten auf Bezirksebene der Annahme, der Bezirk Bruneck hätte über eine höhere Säuglingssterblichkeit verfügt als andere Bezirke des Bundesgebietes: Zwar konnte die Säuglingssterblichkeit für kurze Perioden den Durchschnittswert für Tirol tatsächlich geringfügig überschreiten (1890–1892 starben 23,7 zu 22,1 Prozent, 1900–1902 21,5 zu 20 Prozent).176 Werden hingegen längere Zeiträume als Grundlage herangezogen, lag die Säuglingssterblichkeit im Bezirk unter dem Landesdurchschnitt (1881–1890: 213 zu 215 auf 1.000 Lebendgeborene).177 Die auffallend different verlaufende Sterberate im Tauferer Ahrntal kann also mit einer überdurchschnittlich hohen Geburtenrate allein nicht begründet werden.178
171 172 173 174 175 176 177 178
Sterblichkeit der Säuglinge die Zahl der Todesfälle höher. Vgl. Leidlmair, Bevölkerung, 90. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, 2. Band, 9 (Tab. 6); Statistisches Handbuch 1938, 28. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, 2. Band, 9 (Tab. 6); Statistisches Handbuch 1938, 28. Vgl. auch die Ausführungen von Leidlmair, Bevölkerung, 90–95. Daimer, Geburten- und Sterblichkeitsverhältnisse, 72. Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung, 114. Köck/Kytir/Münz, Risiko, 17–19; für Deutschland vgl. Spree, Ungleichheit, 30 f. Rosenfeld, Säuglingssterblichkeit, 692. Daimer, Geburten- und Sterblichkeitsverhältnisse, 68. Teibenbacher, Bevölkerungsbewegung, 269 (Tab. 4).
2.5 Geschlechterspezifische Sterberaten
101
Grafik 2.2: Verhältnis der rohen Sterberate in der Monarchie zu jener in Tirol und dem Tauferer Ahrntal, 1819–1937 Quelle: siehe Tab. 2.6a.
Vielmehr scheint mir ein weiterer Faktor mit ausschlaggebend gewesen zu sein: Wie einige Demografen am Beispiel ihres Städtesamples aufgezeigt haben, hängt die Sterberate stark vom Altersaufbau einer Bevölkerung ab.179 Da die Sterblichkeit in den jüngsten und in den höheren Altersstufen weitaus größer ist als bei den relativ gesunden Erwachsenen, könnte sich der spezifische Altersaufbau der Tauferer Ahrntaler Bevölkerung auf die Höhe der Sterberaten ausgewirkt haben. Wie im früheren Abschnitt zur sozialen und ökonomischen Entwicklung des Bezirks Taufers bereits ausführlich dargestellt wurde, entwickelte sich das Tal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zu einem klassischen Abwanderungsgebiet, das laut zeitgenössischen Angaben zwischen 1846 und 1900 rund ein Fünftel seiner Bevölkerung verloren hatte.180 Die kräftigen, jungen Erwachsenen verließen auf der Suche nach Arbeit ihre Heimatdörfer, strömten in andere Regionen und ließen die krankheitsgefährdeten Säuglinge, Kleinkinder und Älteren im Tal zurück. Diese verzerrten wiederum mit ihrer relativ hohen Zahl an Todesfällen das Sterbegeschehen, auch wenn die sonstigen Altersgruppen der Tauferer Ahrntaler Bevölkerung keine Übersterblichkeit aufzuweisen hatten. Dies scheint mir die plausibelste Erklärung für die auffällige Abweichung vom Gesamttiroler Durchschnittswert zu sein.
179 So etwa Vögele, Sozialgeschichte, 93–97 und 165–170, für Preußen und Weigl, Wandel [2000a], 166, für Wien. 180 N. N., Wanderbewegung, 30.
102
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
2.6 Mortalitätsunterschiede zwischen den Geschlechtern: die Veränderung des Todesursachenspektrums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Um einen ersten Überblick über den Anteil einzelner Todesursachen am Rückgang der Sterblichkeit und deren geschlechterspezifische Komponente zu gewinnen, soll im folgenden Abschnitt die Veränderung des Todesursachenspektrums zwischen ca. 1870 und 1910 herausgearbeitet werden, und zwar für die einzelnen Länder der Monarchie (Zisleithanien), für Tirol (mit Vorarlberg) im Gesamten und für den Bezirk Bruneck im Besonderen. Die Darstellung einer Entwicklung der Mortalitätsverhältnisse aus einer langfristigen Perspektive wird allerdings durch ein sich häufig änderndes Kategorienschema in der amtlichen Todesursachenstatistik erschwert.181 Für eine vergleichende Analyse setzte eine brauchbare Statistik für die Österreichische Monarchie erst mit der Neuorganisation des Sanitätswesens und der Einrichtung einer Stelle des Obersten Sanitätsrates im Jahre 1870 ein. 1873 wurde eine neue Todesursachenstatistik anstelle des bisher gebräuchlichen, aber wenig differenzierten Mortalitätsschemas eingeführt.182 Allerdings erfuhr diese Statistik innerhalb der folgenden Jahrzehnte immer wieder Erweiterungen und Umbenennungen, was eine vergleichende Analyse erschwert bzw. für einzelne Todesursachen verunmöglicht. Beispielsweise wurde Diphtherie inklusive Krupp erst 1877 als eigene Rubrik aufgenommen und den Infektionskrankheiten zugerechnet; 1895 der Flecktyphus als eigenständige Todesursache eingeführt und somit klar vom Bauchtyphus unterschieden.183 In diesem Jahr wurden auch sämtliche tuberkulöse Erkrankungen unter der Sammelkategorie „Tuberkulose der Lungen oder anderer Organe“ vereinigt. Davor war nur „Lungentuberkulose“ ausgewiesen und die übrigen Tuberkulosesterbefälle den „Sonstigen Erkrankungen“ zugerechnet.184 Weniger Probleme bereiten hingegen Umbenennungen (z. B. ersetzten „Entzündliche Krankheiten der Atmungsorgane 1895 die „Lungenentzündung“), auch wenn dadurch vereinzelt Lungenerkrankungen hierin gegeben wurden, die vorher ebenfalls den „Sonstigen Todesursachen“ zugeschlagen worden waren. Bei jeder Interpretation des Sterblichkeitswandels muss zudem berücksichtigt werden, dass Kategorien wie „Sonstige Krankheiten“ oder „Altersschwäche“, die nicht selten als „bequemes Auskunftsmittel“185 für nicht eindeutig kategorisierbare Todesursachen fungierten, stets die größte Zahl an Todesfällen stellten.186 So gingen in Tirol/Vorarlberg 1889 12,3 Prozent aller To181 Zur Entwicklung der Todesursachenstatistik im Deutschen Reich vgl. die Ausführungen bei Spree, Rückzug, 18–25, und Vögele, Sozialgeschichte, 63–75. 182 Vgl. Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung, 157 f. 183 Einen Überblick über die jeweiligen Überarbeitungen der Statistik gibt N. N., Reform, 155–160. 184 Vgl. zu diesem Aspekt Dietrich-Daum, Reporting Death, 149–155. 185 Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung, 160. 186 Der Historiker Christoph Conrad spricht in einem Beitrag regelrecht von einer „Karriere“ der „Altersschwäche“ als Todesursachenbezeichnung im 19. Jahrhundert. Vgl. Conrad, Sterblichkeit, 218–222.
2.6 Mortalitätsunterschiede zwischen den Geschlechtern
103
desfälle auf „Altersschwäche“ zurück, 31,2 Prozent wurden in der Rubrik „Sonstige Krankheiten“ zusammengefasst.187 Ein Wert, der sich auch 1910 nicht verändert hatte, obwohl Altersschwäche als eigenständige Kategorie nicht mehr gesondert ausgewiesen wurde.188 Eine derart konzipierte Sterbeursachenstatistik, bei der in ausgewählten Stichjahren mitunter knapp 45 Prozent aller Todesursachen nicht namentlich zuzuordnen sind, kann nur eine bedingte Aussagekraft besitzen. Vergleiche verschiedener Stichjahre sind ebenfalls nur eingeschränkt möglich. Zur Abbildung langfristiger Trends im Sterblichkeitsgeschehen eignet sich die Todesursachenstatistik der Obersten Sanitätsbehörde allerdings sehr wohl, abgesehen davon, dass diese Quellengattung für den Untersuchungszeitraum „das bei weitem differenzierteste und zugleich relativ sicherste Informationssystem“189 der erst noch jungen Sanitätsstatistik darstellt. Für die Analyse der Veränderung innerhalb des Todesursachenspektrums wurden die drei Stichjahre 1873, 1889190 und 1910 ausgewählt. Für die ausgewählten Jahrzehnte sind Daten auf der Bezirksebene, für Tirol/Vorarlberg sowie für die im Reichsrat vertretenen Königreiche verfügbar. Da für diese Jahre aufgrund der in denselben Jahren durchgeführten Volkszählungen die ansässige Bevölkerung leicht ermittelt werden kann, ist eine Berechnung sowohl der Sterbeziffer je 100.000 Lebende (vgl. Tab. A.2.7a–c) als auch des prozentualen Anteils einer Todesursache an der Gesamtsumme aller Sterbefälle (vgl. Tab. 2.7a–c) möglich. Die ausgesprochene Inhomogenität im Mortalitätsschema machte eine Beschränkung auf fünf ausgewählte Todesursachengruppen notwendig, denen allerdings im damaligen Gesundheitsdiskurs eine gewichtige Rolle für die Sterblichkeit zugeschrieben wurden. Für die drei Stichjahre wurden Tuberkulose, Lungenentzündung und krebsartige Neubildungen ausgewählt, zudem erschien es sinnvoll, zwischen „water-borne-diseases“ (Typhus, Cholera, Ruhr) und „human-crowd-diseases“ (Pocken, Scharlach, Masern, Keuchhusten, Diphtherie) zu unterscheiden.191 Die aufgezählten Krankheiten nahmen im 19. Jahrhundert unter allen benannten Todesursachen immer die größte Rolle ein – wenn auch in veränderter Reihung, sodass anhand dieser Stichprobe ein wichtiger Teil des Sterblichkeitsgeschehens während des „Epidemiologischen Übergangs“ nachgezeichnet werden kann. Ein quellenkritisches Problem ist hingegen die Genauigkeit der dokumentierten Todesursache selbst: Die Angaben in den Sterbematriken kamen durch die Aussagen des entsprechenden Totenbeschauers zustande, generell sollte die „Leichenbeschau“ in den jeweiligen Kronländern der Monarchie den gültigen 187 188 189 190
Oesterreichisches Statistisches Handbuch 10 (1891), 30 f. Österreichisches Statistisches Handbuch 30 (1911), 20 f. Spree, Veränderungen [1981], 243. Das Jahr 1890 konnte nicht herangezogen werden, da die Todesursachenstatistik für die einzelnen Tiroler Bezirke im Statistischen Jahrbuch von 1890 von mir nicht aufgefunden werden konnte. 191 Die Auswahl orientiert sich dabei nicht nur aus inhaltlichen Gründen an jene von Teibenbacher, Entwicklungsmuster, 132 f. Vielmehr können so die Ergebnisse des Bezirkes Bruneck mit den einzelnen steirischen Bezirken verglichen werden.
104
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Regelungen gemäß von Ärzten oder Wundärzten ausgeübt werden.192 In ländlichen Regionen, in denen Ärztemangel herrschte bzw. die geografische Lage das Hinzuziehen eines Arztes erheblich verkomplizierte, konnten ausgewählte Laien die Totenbeschau vornehmen. Diese mussten zwar des Lesens und Schreibens kundig sein und über einen unbescholtenen Lebenswandel verfügen, dennoch dürfte sich die Treffsicherheit einer Diagnose v. a. bei schwer erkennbaren Krankheiten selbst bei erfahrenen Totenbeschauern in Grenzen gehalten haben. So führte der damalige Sanitätsrat Johann Pircher die zu Beginn der 1870er Jahre festgestellten, teils recht erheblichen Schwankungen bei Krebserkrankungen zwischen Vorarlberg, dem deutschsprachigen und dem italienischsprachigen Tirol darauf zurück, dass „die Todtenbeschauer in manchen Gegenden nur Laien sind, welche nach eigenem Gutdünken ihre Diagnose fabriciren“193. Allerdings bewegte sich die Zahl jener Todesfälle, die in Tirol zwischen 1895 und 1899 nicht ärztlich beglaubigt wurden, lediglich zwischen 5 und 8 Prozent – bei einem österreichischen Durchschnittswert von über 30 Prozent.194 Für Tirol können diesbezüglich demnach äusserst günstige Verhältnisse konstatiert werden, auch wenn die Zuverlässigkeit zwischen Stadt und Land, zwischen einzelnen Todesursachen und sozialen Schichten schwanken konnte.195 Doch nicht nur Laien scheiterten oftmals an der von den Sanitätsbehörden und Medizinalstatistikern angemahnten Sorgfalt und Genauigkeit bei der Diagnose der Todesursache. Vielfach wurde die Praxis von Ärzten beklagt, nicht die den Tod letztlich verursachende Hauptkrankheit als vielmehr eine vorausgehende Erkrankung als Todesursache registrieren zu lassen.196 In den Matriken des Tauferer Ahrntals wird dies teilweise ersichtlich, wenn beispielsweise „Wassersucht in Folge der Masern“ in die Sterbebücher eingetragen wird.197 Quantitativ weniger häufig dürften jene Fälle gewesen sein, bei denen Ärzte die eigentliche Todesursache verschwiegen „aus Rücksicht auf die Familie“, wie dies Friedrich Presl 1888 umschrieb.198 Besonders im Falle eines Selbstmordes ließen sich Ärzte, vor allem aber Geistliche anscheinend dazu drängen, die Selbsttötung als plötzlich eingetretenen Tod zu verschleiern.199 Nicht zuletzt wies Teibenbacher in seiner Studie zur Steiermark darauf hin, dass die individuelle Entscheidungsfindung der Ärzte zu einer Diagnose, bestimmte Todesursachen ohne deutlich interpretierbaren Symptomverlauf den großzügig ausgelegten Sammelrubriken zuzuordnen, offensichtlich regional unterschiedlichen Mustern folgte. So stellte er fest, dass 1890 nur 17 Prozent aller Todesfälle der Stadt 192 Knappe Informationen dazu bei Presl, Gesundheitspflege, 380. Einen guten Überblick über die Chronologie der Gesetzgebung hinsichtlich der Todesursachenstatistik gibt Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 42–44. 193 Pircher, Mittheilungen, 288. 194 Vgl. den Überblick bei Daimer, Geburten- und Sterblichkeitsverhältnisse, 80 f. 195 Vgl. Bratassevic, Todesfälle, 238–240. 196 Dieses Problem wird angerissen etwa bei Oesterlen, Handbuch, 361. 197 SLA, Totenbuch St. Jakob (5. August 1864); Totenbuch St. Johann (9., 14. und 17. April 1866). 198 Presl, Reform, 260. 199 Zu diesem Aspekt Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung, 173.
105
2.6 Mortalitätsunterschiede zwischen den Geschlechtern
Wien als „Altersschwäche“ diagnostiziert, in der Stadt Graz hingegen 32 Prozent aller Todesfälle dieser Rubrik zugeordnet wurden.200 Die folgenden Tabellen 2.7a bis 2.7c sind nach dieser Quellenkritik daher nicht als fehlerfreie StaTab. 2.7a: Anteil der jeweiligen Todesursachengruppe an den Gesamtsterbefällen in Prozent im Jahre 1873
1873 Monarchie (Zisleithanien) Tirol/Vorarlberg Bezirk Bruneck
1
2
3
4
5
씹
13,7
씸
14,7
18,0
9,1
7,4
0,7
17,9
8,6
7,0
1,0
씹
7,3
6,2
10,5
10,8
2,1
씸
7,4
6,1
10,3
9,9
2,5
씹
5,9
8,9
8,4
10,0
1,1
씸
7,1
11,2
5,0
8,7
2,3
Tab. 2.7b: Anteil der jeweiligen Todesursachengruppe an den Gesamtsterbefällen in Prozent im Jahre 1889
1889 Monarchie (Zisleithanien) Tirol/Vorarlberg Bezirk Bruneck
1
2
3
4
5
씹
12,7
3,4
12,9
10,5
1,6
씸
13,3
3,4
13,3
10,2
2,2
씹
4,9
1,5
11,0
12,3
3,2
씸
5,7
1,4
11,9
12,3
3,3
씹
6,3
1,2
11,2
12,1
3,9
씸
6,3
1,0
10,3
11,3
3,3
Tab. 2.7c: Anteil der jeweiligen Todesursachengruppe an den Gesamtsterbefällen in Prozent im Jahre 1910
1910 Monarchie (Zisleithanien) Tirol/Vorarlberg Bezirk Bruneck
1
2
3
4
5
씹
6,6
0,8
13,3
9,5
3,3
씸
6,7
0,9
13,9
9,3
4,1
씹
1,9
0,4
12,5
8,5
5,6
씸
2,7
0,4
13,2
7,9
5,7
씹
1,0
0,8
6,2
11,7
5,7
씸
1,7
0,8
6,9
13,3
5,0
Quelle: Österreichisches Statistisches Handbuch 1873, 1889, 1910; 1 (Pocken, Scharlach, Masern, Keuchhusten, Diphtherie); 2 (Typhus, Cholera, Ruhr); 3 (Tuberkulose); 4 (Lungenentzündung); 5 (Krebs). Eigene Berechnungen. 200 Teibenbacher, Entwicklungsmuster, 131 f.
106
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
tistik im modernen Sinne zu lesen, vielmehr geben sie einen Trend wieder, wie sich das Todesursachenspektrum im Zuge der Epidemiologischen Transition gewandelt hat. Im Untersuchungszeitraum zwischen 1873 und 1910 wies der Anteil der „akuten Exantheme“ (Pocken, Masern, Scharlach) inklusive Diphtherie und Keuchhusten an der Gesamtzahl der Sterbefälle einen markanten Rückgang auf. Dieser Rückgang deutete sich zwar in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts allmählich an, vermochte jedoch erst nach der Jahrhundertwende sein ganzes Potential zu entfalten. So verursachten im Bezirk Bruneck diese klassischen Infektionskrankheiten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stets über 6 Prozent der Todesfälle, wohingegen 1910 nur noch 1,4 Prozent aller Sterbefälle den angeführten Krankheiten zuzuschreiben war. Damit glich sich der Bezirk in diesem Stichjahr in etwa an die Durchschnittswerte der beiden Ländergebiete Tirol und Vorarlberg an: alle drei Regionen lagen jedoch deutlich unter den Werten der Monarchie von 6,6 Prozent, die in jener späten Phase überwiegend durch die ungünstige Entwicklung in der Bukowina und in Galizien beeinflusst wurden. Einen ebenfalls signifikanten Rückgang bezüglich des Anteils an der Gesamtsterblichkeit verzeichneten die „water-borne-diseases“ Cholera, Typhus und Ruhr, die ausgehend von einem hohen Niveau schon rund zwei Jahrzehnte später nur noch eine marginale Position in der Todesursachenstatistik inne hatten. Bis zum Jahre 1910 stellten die drei Krankheitsbilder nicht einmal mehr 1 Prozent der Sterbefälle. Die überaus hohen Werte für die Monarchie von rund 18 Prozent zu Beginn des Untersuchungszeitraums gehen dabei auf das Konto der letzten großen Choleraepidemie mit über 100.000 Toten im gesamten Reichsgebiet.201 Tirol inklusive Vorarlberg wies dabei im Vergleich vor allem zu den östlichen Reichsländern stets unterdurchschnittliche Werte auf, insgesamt scheinen Typhus und Ruhr im Bezirk Bruneck jedoch verhältnismäßig mehr Opfer als im Landesdurchschnitt gefordert zu haben. Hinsichtlich des Anteils von tuberkulösen Erkrankungen an der Gesamtsterblichkeit ist sowohl für Tirol/Vorarlberg als auch für die Monarchie ein stetiges Ansteigen der Rate zu bemerken. Die recht günstigen Werte der Tuberkulosemortalität von 8,9 Prozent (Monarchie) bzw. 10,4 Prozent (Tirol/Vorarlberg) an der Gesamtmortalität des Jahres 1873 pendeln sich bis 1910 auf relativ hohe Werte von 13,6 Prozent (Monarchie) bzw. 12,9 Prozent (Tirol/Vorarlberg) ein. Sowohl in den beiden westlichsten Kronländern als auch im gesamten Reichsgebiet stellen tuberkulöse Erkrankungen ab der Jahrhundertwende die größten „Killer“ unter den fünf ausgewählten Krankheiten dar. Allerdings werden die in der Tabelle für Tirol und Vorarlberg gemeinsam berechneten Raten von den äußerst schlechten Werten in Vorarlberg beeinflusst, denn Vorarlberg hatte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchwegs doppelt so hohe Raten aufzuweisen als sein im Osten angrenzender Nachbar: Zwischen 1873 und 1875 beispielsweise waren in Tirol 80,4 von 1.000 Todesfällen durch Tuberkulose 201 Vgl. Presl, Gesundheitspflege, 392, sowie exemplarisch für Wien Weigl, Wandel [2000a], 237–242.
2.6 Mortalitätsunterschiede zwischen den Geschlechtern
107
verursacht, in Vorarlberg hingegen 159,3 von 1.000. In der Periode 1895–1900 beliefen sich die entsprechenden Zahlen auf 91,5 bzw. 191,8 pro 1.000 Todesfälle.202 Vorarlberg wies, bedingt durch die sehr früh auf industrielle Fertigung ausgerichteten Textilbetriebe, einen ungleich höheren Industrialisierungsgrad als Tirol auf, weshalb ein Zeitgenosse Ottenthals 1871 auch die „für die Fabriksbevölkerung und die mit den Stickereien auf dem Tambourin sich beschäftigenden Familien Vorarlbergs, die häufig ungenügende Nahrung, sitzende Lebensweise in dumpfigen Lokalen und bis spät in die Nacht dauernde Beschäftigung“ als den entscheidenden Faktor für die höheren Tuberkuloseraten des westlichen Nachbarn ausmachte.203 Das Kronland Tirol zählte generell zu jenen Ländern der Monarchie mit den niedersten Sterberaten an Tuberkulose204, was auch die ermittelten niederen Werte für den Bezirk Bruneck bestätigen. Denn die Werte für den Bezirk stiegen zwar von 6,7 Prozent (1873) auf 10,8 Prozent (1889) an, entgegen dem allgemeinen Trend ist der Anteil der Tuberkulose an der Gesamtmortalität 1910 jedoch nicht gestiegen, sondern auf den überaus niederen Wert von 6,6 Prozent gesunken.205 Eine ähnliche Entwicklung bezüglich des Todesursachenspektrums nahm während des zur Beobachtung gewählten Zeitraums die Todesursache „Lungenentzündung“. Auch ihr Anteil an der Gesamtsterblichkeit stieg in allen drei Beobachtungsräumen von relativ niederen Werten (unter 10 Prozent) bis zur Jahrhundertwende stetig. Von diesem Zeitpunkt an fielen die Raten sowohl in der Monarchie als auch in Tirol inklusive Vorarlberg und waren im Jahre 1910 nur noch zu 8–9 Prozent an der Gesamtsterblichkeit beteiligt. Allerdings wichen die Werte für den Bezirk Bruneck erheblich davon ab, denn die für den Pustertaler Bezirk ermittelten Raten stiegen noch bis 1910 an. Zu diesem Zeitpunkt hat die Todesursache „Lungenentzündung“ mit 12,5 Prozent den ersten Rang unter den Infektionskrankheiten eingenommen. Wenig überraschend fand eine stetige Erhöhung des Anteiles der „manmade-disease“ Krebs an der Gesamtmortalität statt: die nur marginalen Prozentanteile um 1870 von 1–2 Prozent steigerten sich in allen drei Ländersamples bis 1910 auf 3–5,5 Prozent. Die stets über dem Durchschnittswert der Monarchie liegenden Zahlen auf Bezirksebene dürften dabei in erster Linie mit dem im Vergleich zu den östlichen Reichsländern viel höheren Anteil an von Ärzten beglaubigten Todesfällen zusammenhängen.206 Wie die Tabellen 2.8a und A.2.8b zeigen, trugen die fünf ausgewählten Todesursachen recht unterschiedlich zum säkularen Sterblichkeitsrückgang im Bezirk Bruneck zwischen 1873 und 1910 bei, wobei dieser Wandel bei Männern und Frauen unterschiedlich stark zur Geltung kam. Bei beiden Ge202 Siehe die Tabelle bei Daimer, Todesursachen, 165. Dort die Angaben allerdings pro 10.000 Todesfälle. 203 Pircher, Mittheilungen, 285. 204 Vgl. dazu den Länderüberblick in Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 126. 205 Zur regionalen Tuberkulosesterblichkeit in Tirol vgl. auch Dietrich-Daum, Geschichte, 175 f. (Tab. 3). 206 Rosenfeld, Krebsstatistik, 186–189; Freudenberg, Ursachen, 222 f.
108
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
Tab. 2.8a: Der Wandel bei ausgewählten Todesursachen im Bezirk Bruneck, 1873–1910 (eine Zunahme wird dabei durch ein Minus gekennzeichnet)
Todesursache
Rückgang 1873–1910 bei Männern
Rückgang 1873–1910 bei Frauen
absolut
prozentual
absolut
prozentual
Pocken, Scharlach, Masern, Keuchhusten, Diphtherie
137
22,5
137
34,5
Typhus, Cholera, Ruhr
225
36,9
252
63,5
Tuberkulose
99
16,2
-19
-4,8
Lungenentzündung
26
4,3
-59
-14,9
Krebs
-90
-14,7
-45
-11,3
Alle Ursachen
610
100
397
100
Quelle: Österreichisches Statistisches Handbuch 1873, 1910; eigene Berechnungen.
schlechtern fand der größte Rückgang bei auf die Verdauungsorgane wirkenden Infektionskrankheiten (Cholera, Typhus, Ruhr) und bei akuten Infektionskrankheiten (Pocken, Masern, Scharlach, Keuchhusten, Diphtherie) statt. Innerhalb der Gruppe der Frauen lag der anteilsmäßige Rückgang bei diesen beiden Krankheitskomplexen höher als bei den Männern (34,5 bzw. 63,5 zu 22,5 bzw. 36,9). Auffallend ist dabei, dass der Hauptanteil des Rückgangs bei der „water-borne-diseases“-Gruppe noch weit vor der Jahrhundertwende erreicht wurde (vgl. Tab. A.2.8b). Da der Bezirk Bruneck im Gegensatz etwa zu den italienischsprachigen Teilen im Süden des Landes in diesem Zeitraum nicht mehr von Choleraepidemien heimgesucht wurde, ging dieser Rückgang überwiegend auf Erfolge bei der Bekämpfung der Ruhr-, hauptsächlich aber der Typhustodesfälle.207 Die akuten Exantheme, Keuchhusten und Diphtherie hingegen konnten erst kurz vor Anbruch des 20. Jahrhunderts effizient eingedämmt werden. Dies trifft allerdings nicht für die Pocken zu, denn deren Anteil an der Mortalität der Tiroler Bevölkerung lag schon 1888–1894 bei marginalen 0,1 je 1.000, wohingegen der Anteil 1873–1880 noch 0,4 je 1.000 betragen hatte.208 Der bedeutendste geschlechterspezifische Unterschied betrifft allerdings die beiden Atemwegserkrankungen Tuberkulose und Lungenentzündung: Während die männlichen Bewohner des Bezirkes im Zeitraum zwischen 1873 und 1910 mit 16,2 einen recht ansehnlichen Rückgang bei tuberkulösen Erkrankungen verbuchen konnten, musste die weibliche Bevölkerungsgruppe einen leichten Anstieg hinnehmen (-4,8). Allerdings hatten beide Geschlechter 207 Der letzte Choleraausbruch in Tirol wurde 1873 verzeichnet und führte nur zu 26 Toten. Vgl. Presl, Gesundheitspflege, 392. Zur Typhus- und Ruhrsterblichkeit vgl. ebenda, 390 f. 208 Presl, Gesundheitspflege, 388.
2.6 Mortalitätsunterschiede zwischen den Geschlechtern
109
ein größeres Ansteigen der Tuberkulosesterbefälle in den 1870 und 1889er Jahren zu verkraften, wohingegen in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraumes insgesamt ein Rückgang zu verzeichnen war (vgl. Tab. A.2.8b). Diese Ergebnisse für den Bezirk Bruneck bestätigen somit den für nahezu alle Kronländer festgestellten Trend, dass die Sterblichkeit an Tuberkulose vorrangig zwischen 1875 und 1894 zunahm, nach dem „Wendejahr“ 1895 aber in den meisten Ländern im Sinken begriffen war.209 Doch war dieser Anstieg in der ersten Hälfte (1873 bis 1889, vgl. A.2.8b) für Frauen offenbar dermaßen hoch, dass er die günstige Entwicklung um die Jahrhundertwende gänzlich zu überlagern vermochte. Dennoch lenkt der Umstand, dass bei den Frauen auch die Sterbefälle an Lungenentzündung anteilsmäßig überaus stark zulegten (-14,9), wohingegen die Todesfälle an dieser Erkrankung bei Männern sogar leicht zurückgegangen waren (4,3), den Blick auf im ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhundert die Geschlechter ungleich beeinflussende Lebensbedingungen im Bezirk Bruneck. Diese Rubrik hatte in den gewählten Stichjahren noch dazu mehrere Änderungen in der Klassifikation erfahren. So wurden die Diphtheriefälle erst 1877 als eigene Kategorie geführt und 1895 die Lungenentzündung aus der vorherigen „entzündliche Krankheiten der Atmungsorgane“ herausgenommen, was vielleicht auch die starke Abnahme der rohen Sterberate der Monarchie und Gesamttirol zwischen 1889 und 1910 erklärt (vgl. Tab. A.2.8b und A.2.8c).210 Beiden Krankheitskomplexen muss jedenfalls bei einer geschlechterspezifischen Untersuchung des „Rückgangs des Todes“ besondere Aufmerksamkeit zu Teil werden, womit auch die Hypothese Imhofs, die „agrare Revolution“ der zweiten Jahrhunderthälfte hätte sich wegen der zusätzlichen Arbeitsbelastung hauptsächlich auf erwachsene Frauen negativ ausgewirkt,211 am regionalen Beispiel des Tauferer Ahrntals zu überprüfen sein wird. Wenig überraschend ist die Entwicklung der fünften Todesursache innerhalb des gesamten Todesursachenspektrums: bei beiden Geschlechtern ist der Anteil der Krebstodesfälle an der Gesamtzahl aller Ursachen aufgrund der präziseren Diagnostik gestiegen, ausgeprägte geschlechterspezifische Unterschiede sind bei dieser Erkrankung allerdings nicht festzumachen.212
209 Vgl. Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 125 (Tab. 10) und 126. 210 In einer nach Ländern geordneten Zusammenstellung von Daimer, Todesursachen, 160, ist der Effekt dieser Änderung in der Nomenklatur jedenfalls deutlich wahrzunehmen. 211 Vgl. Imhof, Übersterblichkeit, 491–494. Vgl. dazu auch die Übersterblichkeit von Frauen an Tuberkulose in Gemeinden unter 2.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. DietrichDaum, Wiener Krankheit, 124 (Tab. 9). 212 In Hinsicht auf die gesamte Monarchie unterteilt Rosenfeld, Krebsstatistik, 179–221, seine Ergebnisse sehr genau nach Geschlechtern.
110
2 Geschlechtsspezifische Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten
2.7 Zwischenbilanz Die Entwicklung von Bevölkerungen wird im Wesentlichen durch die Summe der Geburten (Natalität), der Eheschließungen (Nuptialität), der Sterbefälle (Mortalität) sowie dem Ausmaß von Wanderungsbewegungen (Migration) bestimmt. Lange Zeit konzentrierte sich die historisch-demografische Forschung auf die langfristigen Entwicklungstendenzen des generativen Verhaltens (west-)europäischer Populationen. Der Einfluss der Variable Mortalität auf die Bevölkerungsgeschichte rückte hingegen in den 1980er und 1990er Jahren vermehrt in den Fokus sozialhistorisch ausgerichteter Untersuchungen. Zusammenfassend seien für das Gebiet der Monarchie (Zisleithanien) sowie für Tirol mit Vorarlberg nochmals die überaus markante Abnahme der „klassischen“ akuten Infektionskrankheiten sowie die deutliche Abnahme der Lungenentzündung (nach einer vorübergehenden Erhöhung ihres Anteiles in der ersten Phase der Untersuchungsperiode) an der Gesamtmortalität zwischen 1873 und 1910 hervorgehoben. Signifikant sind weiterhin die stetige Abnahme von tuberkulösen Erkrankungen und die hohen Zuwachsraten bei Krebs. Diese Entwicklungen im Sterbegeschehen finden ihre Entsprechung zwar auch auf Bezirksebene, allerdings läuft hier die rasante Abnahme der Tuberkulose kurz nach der Jahrhundertwende und das Verharren der Lungenentzündung auf hohem Niveau dem allgemeinen Trend entgegen. Den lokalen Behörden scheint es im Vergleich zu jenen anderer Bezirke weniger gut gelungen zu sein, den v. a. im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts herrschenden Epidemien effizient zu begegnen und die Mortalität an akuten Infekten der Atemwege dauerhaft zu senken. Im Vergleich zu Gesamttirol trat der Bezirk Bruneck demnach mit einer Verzögerung in die zweite Phase des epidemiologischen Übergangs ein. Die überaus dichte Abfolge an Sterbeüberschüssen in den Jahren um die Jahrhundertmitte weist zudem auf eine länger anhaltende Krisenzeit in diesem Bezirk hin. Durch die geografische Besonderheit dieses Raumes und die isolierte Lage vieler Seitentäler war die Dichte des niedergelassenen Sanitätspersonals wie vorher beschrieben sowieso schon geringer als in anderen Gebieten Tirols,213 auch wenn zu dieser Zeit ärztliche Behandlungen bei den meisten Erkrankungen nicht sehr effektiv gewesen sein dürften.214 Zudem wirkte die noch stark agrarisch strukturierte Ökonomie mit ihrem hohen Anteil an bergbäuerlichen Gebieten in extremen Höhenlagen, ihrem schwachen Industrialisierungsgrad und den sich fast nur in der Holzwirtschaft oder in saisonaler Abwanderung bietenden Möglichkeiten zum Nebenerwerb nachteilig auf eine günstige Bevölkerungsentwicklung.
213 Siehe dazu Taddei, Ottenthal, 84–86. 214 Vgl. etwa nur die anschaulichen Schaubilder zum Rückgang der Todesraten an Lungenentzündung in England und Wales bei McKeown, Bedeutung, Schaubilder 8.5–8.7, 141–143.
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung: männliches Krankheitsverhalten in den verschiedenen Lebensphasen 3.1 Ein ungleicher Start ins Leben? Männliche und weibliche Säuglinge als Patienten in den Historiae Morborum zwischen den 1860er und den 1890er Jahren1 Am 10. Mai 1891 schloss Dr. Franz v. Ottenthal die Krankenakte des sechs Monate alten Franz Innerhofer*2 aus dem damals rund 500 Einwohner zählenden Dorf Ahornach mit der Notiz „† ½ 9 früh Bronchialkatarrh“.3 Erst einen Tag zuvor hatte Ottenthal noch versucht, den Beschwerden des erkrankten Säuglings – ein seit Wochen anhaltender Husten, Atemnot, Neigung zu Krämpfen sowie schwindender Appetit – mit einer Kombination symptomlindernder Medikamente beizukommen. Doch auch die ärztliche Medikation konnte Franz Innerhofer* im Kampf gegen seine schwere Atemwegserkrankung, an der er laut eines früheren Eintrages vom 15. Februar 1891 „ex omni vita“4 gelitten hatte, nicht mehr helfen. Der Säugling starb nach der Konsultation am darauf folgenden Morgen. Ein knappes Jahr später erhielt die ebenfalls halbjährige Maria Früh* aus Mühlen aufgrund derselben Diagnose von Ottenthal eine Laufnummer in den Historiae Morborum.5 Dieser Fall von catarrhus bronchialis wurde durch Erbrechen verkompliziert und führte zu „großem Wehklagen“ des Babys. Doch beim weiblichen Säugling schlug die Behandlung sehr gut an, denn der nächste Eintrag zu dieser jungen Patientin findet sich erst Monate später, als Ottenthal einen hartnäckigen Husten notierte. Wie bei der vorherigen Konsultation schien den Eltern ein einmaliges Aufsuchen des Arztes zu genügen, zudem dürften sie äußerst zufrieden mit dessen Heilbehandlungen gewesen sein: Maria Früh* scheint 1893 und 1898 erneut als Patientin der Ottenthalschen Praxis auf, das erste Mal wurde heftiger Durchfall, das zweite Mal Zahnschmerzen diagnostiziert.6 Laut einer (nachträglich hinzugefügten) Notiz im Taufbuch von Mühlen verstarb sie 1951 in Sterzing. Eine geschlechtersensible Interpretation möglicher Gründe, warum ein und dasselbe Krankheitsbild bei dem einem Säugling mit dem Tod geendet hatte, während der andere recht schnell genesen war, führt schnell in das Feld geschlechtlich unterschiedlich wirkender biologischer und soziokultureller Faktoren. Verfügte Maria Früh* durch eine umsichtigere Ernährung und 1 2 3 4 5 6
Dieses Kapitel basiert auf einen 2007 publizierten Beitrag, der vollkommen neu bearbeitet und erheblich erweitert wurde. Unterkircher, Start, 53–72. Aus Datenschutzgründen handelt es sich bei einem mit * gekennzeichneten Säugling um ein Pseudonym. HM 481/1891, Eintrag vom 10.5.1891. HM 250/1891, Eintrag vom 15.2.1891. HM 462/1892, Eintrag vom 22.2.1892. HM 288/1893, Eintrag vom 16.2.1893; 138/1898, Eintrag vom 3.2.1898.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Pflege über einen besseren Schutz gegenüber Infektionen? Zögerten die Eltern von Franz Innerhofer* eine ärztliche Zuhilfenahme allzu lange hinaus, da ihnen nach einem nicht enden wollenden Winter der steile Weg von ihrem auf 1.400 Metern liegendem Hof hinunter nach Sand zu gefährlich erschien, wohingegen die Eltern von Maria Früh* den im Nachbarort ansässigen Arzt innerhalb kürzester Zeit erreichen konnten? Vielleicht waren die Eltern des Knaben insgeheim aber auch erleichtert, wenn die große Schar zu versorgender Kinder um einen Esser verkleinert wurde, zumal es sich bei dem Buben um den immer schon kränkelnden Letztgeborenen handelte und zudem schon mehrere Söhne im Haushalt lebten? Wollten die Eltern des Mädchens hingegen zur Rettung ihres einzig verbliebenen Kindes alle Hebel in Bewegung setzen, nachdem ihnen alle vorherigen Kinder bereits verstorben waren? Oder war Franz Innerhofer* schlichtweg „Opfer“ seiner Gene und Hormone und somit seines biologischen Geschlechts, das männliche Säuglinge generell mit einem höheren Mortalitätsrisiko ausstattet als weibliche Neugeborene? Betrachtet man die von der Bevölkerungsgeschichte zur Verfügung gestellten Tabellen zum Wandel der Säuglingssterblichkeit genau, erscheint Maria Früh* wegen ihres Geschlechts als kein außergewöhnlicher Fall. Rein statistisch gesehen hatten neugeborene Mädchen gegenüber ihren männlichen Geschlechtsgenossen hinsichtlich der Überlebenschance stets die Nase vorn. Wie etwa die in historisch-demografischen Mikrostudien zu einzelnen Ortschaften in ganz Deutschland gewonnen Daten von Arthur Imhof zur Lebenserwartung zeigen, hatten männliche Unter-Einjährige in sämtlichen Stichjahren des 18. und 19. Jahrhunderts eine durchwegs höhere Mortalität.7 In der österreichischen Monarchie betrug 1882 die Sterblichkeit für männliche Säuglinge 27,6 Prozent, für weibliche hingegen nur 23,4 Prozent.8 Dieser geschlechterspezifische Unterschied blieb ungeachtet des um die Jahrhundertwende einsetzenden allgemeinen Sterblichkeitsrückgangs bei Säuglingen bestehen, denn 1904 war die Sterblichkeit bei den Knaben unter einem Jahr auf 22,7 Prozent, bei den Mädchen auf 19,2 Prozent gesunken.9 Auch in den damaligen Tiroler Verwaltungskreisen fand dieses Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern seinen statistischen Niederschlag: 1868/69 etwa starben in Deutschtirol 24,24 Prozent aller männlichen und 19,12 Prozent aller weiblichen, in Wälschtirol 32,33 Prozent der männlichen und 26,86 Prozent der weiblichen Säuglinge. In Vorarlberg war in diesem Verwaltungsjahr die Differenz mit 31,66 Prozent zu 24,61 Prozent sogar noch ausgeprägter als in den beiden anderen Kreisen des Landes.10 Für flächen- und bevölkerungsmäßig kleinere Regionen wie die Bezirkshauptmannschaft Taufers bestätigt sich dieser nationale Trend, auch dort fiel die Säuglingssterberate sowohl im Jahrzehnt zwischen 1860 und 1869 mit 202 zu 163 pro 1.000 Geborener als auch im Jahrzehnt zwischen 1890 und 7 Vgl. die Tabellen zu Ostfriesland, Hartum, der Schwalm, dem Saarland, Herrenberg und der Ortenau bei Imhof, Lebenserwartungen, 219–464. 8 Rosenfeld, Säuglingssterblichkeit, 640. 9 Rosenfeld, Säuglingssterblichkeit, 640. 10 Göhlert, Entwicklung, 60.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
113
1899 mit 255 zu 194 deutlich zuungunsten der Knaben aus.11 Dieser historisch nahezu konstant bleibende Geschlechtsunterschied in der Mortalität schon unmittelbar beim Start ins Leben führte dazu, dass in den medizinischen Schriften männlichen Neugeborenen generell eine schwächlichere Konstitution bescheinigt und als hauptsächlicher Faktor dieser Benachteiligung die Biologie identifiziert wurde.12 Da also hinsichtlich der geschlechterspezifischen Sterblichkeit „die Statistik den Weibern eine grössere Lebensfähigkeit zuerkennt als den Männern“13, erscheint es auf den ersten Blick wenig verwunderlich, wenn auch in der Praxis Ottenthals die Zahl der männlichen Säuglinge jene der weiblichen Säuglinge überwog. Die Graphiken 3.1.1a und 3.1.1b zeigen deutlich, dass in den beiden für diese Studie ausgewählten Jahrzehnten der 1860er und 1890er Jahre hinsichtlich der Geschlechterzusammensetzung der allerjüngsten Patientinnen und Patienten Franz v. Ottenthals deutlich mehr männliche als weibliche Säuglinge in den Praxisjournalen aufscheinen. In absoluten Zahlen dargestellt hat sich die Differenz in der neunten Dekade im Vergleich zur sechsten Dekade sogar noch vergrößert.
Grafik 3.1.1a: Patienten und Patientinnen Ottenthals 1860–1869: Säuglinge (0–1 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869
11 12 13
Eigene Berechnungen auf Grundlage der Sterbe- und Taufbucheinträge der Gemeinden des Dekanats Taufers. „[…] es ist eine Erfahrungstatsache, dass Knaben schwerer aufzuziehen sind als Mädchen“, so etwa Prinzing, Handbuch, 387 f. Gerhardt, Lehrbuch, 44.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Grafik 3.1.1b: Patienten und Patientinnen Ottenthals 1890–1899: Säuglinge (0–1 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899
Doch kann dieser festgestellte Überhang männlicher Säuglinge in der Arztpraxis allein auf die geringere Widerstandsfähigkeit neugeborener Knaben und die daraus resultierende häufigere Notwendigkeit einer ärztlichen Inanspruchnahme zurückgeführt werden? Könnte dieses Ergebnis nicht auch Ausdruck einer Diskriminierung von weiblichen Neugeborenen sein, die bezüglich Gesundheitsversorgung, Ernährung und Pflege eine andere Behandlung erfuhren als ihre männlichen Geschlechtsgenossen? Damit müssten bei einer Interpretation der ermittelten Geschlechterzusammensetzung neben den biologischen Faktoren auch die sozioökonomischen Strukturen und kulturellen Traditionen im Tauferer Ahrntal in eine Analyse miteinbezogen werden. Immerhin zeigen zeitgenössische Untersuchungen für Gesellschaften, in denen Söhne aus ökonomischen und religiös-kulturellen Gründen höher bewertet werden als Töchter, dass die pränatale Diagnostik inzwischen bevorzugt auch für die Geschlechtsbestimmung des Ungeborenen eingesetzt wird, was in weiterer Folge zu einer vermehrten Abtreibung weiblicher Föten geführt hat. So ergab eine Studie zur selektiven Abtreibung in Indien aus dem Jahre 1999, dass von 8.000 abgetriebenen Föten einer Klinik in Bombay 7.999 weiblichen Geschlechts waren.14 In China haben durch die restriktive EinKind-Politik geschlechtsspezifische Abtreibungen mittlerweile solche Ausmaße angenommen, dass Demografen eindringlich vor Verschiebungen des Geschlechterverhältnisses und deren Auswirkungen auf das Gesellschaftsgefüge warnen.15 In Zeiten, in denen der Blick in den schwangeren Leib mittels 14 15
Savulescu/Dahl, Junge, 277. Steinberger, Die Verlorenen, 13.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
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medizinischer Techniken noch nicht möglich war, könnten hingegen andere Strategien zur Bevorzugung männlicher Säuglinge wirksam geworden sein. Angesprochen wurde schon ein nach dem Geschlecht differierendes Pflegeund Ernährungsverhalten, etwa bei der Wahl der Nahrung oder bei der Länge der Stillzeiten. Verena Pawlowsky konnte in ihrer Studie über das Wiener Gebär- und Findelhaus belegen, dass unter denjenigen älteren Kindern, die im Stichprobenjahr 1799 den Kostfamilien wegen schlechter Pflege wieder abgenommen wurden, 60–70 Prozent Knaben waren.16 Sie stellte daraufhin zur Diskussion, ob die Inspektoren hinsichtlich der Versorgung männlicher Säuglinge vielleicht strengere Maßstäbe anlegten als bei weiblichen. Eine statistisch nachweisbare, wenn auch geringe Bevorzugung von Knaben wies Pawlowsky auch hinsichtlich der Abgabe an die sogenannten „Brustparteien“ nach. Eine geschlechterspezifisch differierende „Sorge“ um das Neugeborene könnte sich auch daran bemerkbar gemacht haben, dass Eltern im Falle einer Erkrankung ihrer Söhne schneller und häufiger einen akademischen Arzt in Anspruch nahmen als bei ihren erkrankten Töchtern. Ländervergleichende Studien zur Epidemiologie bestimmter Infektionskrankheiten ergaben, dass in Ländern Nordafrikas, des Nahen und des Mittleren Osten die Mortalität an Masern aufgrund geschlechterspezifischer Zugänge zur medizinischen Versorgung für Mädchen höher liegt als für Knaben.17 Geschlechtsunterschiede in der medizinischen Versorgung lassen sich aber nicht nur in Kulturen und Gesellschaften fernab von Europa finden, denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts merkte der deutsche Arzt Karl Düsing an, dass mehr Buben zum Arzt gebracht werden, „da den Eltern an der Erhaltung ersterer weit mehr gelegen ist.“18 Generell scheinen Säuglinge nicht zur „bevorzugten“ Klientel Franz v. Ottenthals gezählt zu haben. Wird seine Patientenschaft nach den in der Forschung üblichen Altersgruppen systematisiert, können in der Dekade von 1860 bis 1869 4,5 Prozent aller Patientinnen und Patienten der Altersgruppe 0–1 zugeordnet werden. In der Dekade 1890 bis 1899 ist mit 6,1 Prozent ein geringfügig höherer Anteil festzustellen (vgl. Grafik 3.1.2). Interpretationen dieses Zuwachses etwa dahingehend, dass der ältere Ottenthal aufgrund seiner langen ärztlichen Erfahrung für die Eltern als „Pädiater“ nunmehr interessanter geworden wäre, oder dass er mit zunehmendem Alter die für Kinderärzte so wichtig erachtete „grosse Geduld und Sanftmuth“19 im Umgang mit 16 17
18 19
Vgl. Pawlowsky, Mutter, 146 und 192. Auf 100 männliche Masernsterbefälle in der Altersgruppe 0–4 kamen in Europa 101,7 und im Mittleren Osten 121,3 weibliche. Garenne, Sex Differences, 636 (Tab. 2). Umgekehrt wird die höhere Rate an Darmerkrankungen bei männlichen Babies mit der ihnen zugestandenen größeren Bewegungsfreiheit in Verbindung gebracht, weil mit dem ungebändigten Krabbeldrang zugleich die Gefahren eines möglichen Kontaktes mit Infektionsherden erheblich vergrößert werden. Vgl. Waldron, Krankheit, 165. Der Zusammenhang zwischen Stillen und Höhe der Säuglingssterblichkeit wird in Kapitel 3.1.5 und 3.1.6 ausführlicher behandelt. Düsing, Regulierung, 745. Einen zahlenmäßigen Beleg bleibt der Autor allerdings schuldig. So etwa Biedert, Lehrbuch, 21.
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Grafik 3.1.2: prozentualer Anteil der Säuglinge (0–1 Jahre) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals in den Jahrzehnten 1860–1869 und 1890–1899 Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen.
Kindern entwickelt hätte, müssen allerdings relativiert werden. Denn wie die Ausführungen zur Entwicklung der Bevölkerungsbewegung im Tauferer Ahrntal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezeigt haben, korreliert diese Zunahme mit einem Anstieg der Geburtenziffern im Tal.20 Es sind somit in der letzten Dekade dieses Jahrhunderts mehr Kinder geboren worden als zwischen 1860 und 1869, wodurch sich der Anteil der Säuglinge an der Gesamtbevölkerung zu deren Gunsten verschoben hat. Dies hat unweigerlich auch die Zahl potentieller jüngster Patientinnen und Patienten erhöht. Ein Vergleich des aus den Ottenthalschen Quellen gewonnenen Bildes mit anderen Arztpraxen wird dadurch erschwert, dass die meisten dieser Studien aufgrund ungenauer Altersangaben in den ausgewerteten Praxistagebüchern die Gruppe der Säuglinge nicht gesondert ausweisen. Vielfach wird daher eine Gesamtgruppe „Kinder“ gebildet, die sämtliche Altersstufen von 0–14 Jahren umfasst. Für das 18. Jahrhundert zeigten altersspezifische Detailanalysen zur Klientel von Ärzten wie Albrecht von Haller (1708–1777)21 in Bern oder dem
20 Zu den Geburtenraten vgl. Tab. A.2.1b im Anhang. 21 Vgl. Ritzmann, Sorgenkinder, 106 f.
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in Thüringen wirkenden Johann Friedrich Glaser (1707–1789)22, dass sich der Anteil von Kindern in diesen Praxen um die 20 Prozent bewegt hatte. Martin Dinges konnte für Arztpraxen des 19. Jahrhunderts Anteile zwischen 7 und 14 Prozent bei den bis zu 14-Jährigen errechnen23, womit europäische Ärzte deutlich weniger Kinder zu ihren Klienten gezählt hätten als ihre nordamerikanischen Kollegen.24 Einen grundsätzlich geringeren Anteil allerjüngster Altersgruppen hatten hingegen homöopathische Ärzte vorzuweisen, wie die kürzlich vorgelegte Untersuchung von Marion Baschin zu Clemens von Bönninghausen (1785–1864) zeigen konnte.25 Dieser Homöopath aus Münster lag mit durchschnittlich 11 Prozent allerdings noch über den Prozentwerten etwa des jungen Hahnemann (1755–1843).26 Hinsichtlich der Geschlechterzusammensetzung notierte Bönninghausen dabei wie sein Südtiroler Kollege Ottenthal bei Kleinkindern bis fünf Jahren deutlich öfter ein männliches Geschlecht in seine Praxisjournale als ein weibliches.27 In folgendem Kapitel sollen nun die ermittelten Auffälligkeiten in der Geschlechterzusammensetzung der jüngsten Patientengruppe Franz v. Ottenthals vor dem Hintergrund biologischer und sozioökonomischer Erklärungsmodelle interpretiert werden. Meine Fragestellung ist dabei, ob sich geschlechterspezifische Unterschiede in der Anfälligkeit für bestimmte Krankheitsbilder bei den in die Praxis gebrachten Säuglingen nachweisen lassen, und ob sich in den Krankenjournalen Ottenthals Hinweise auf die Benachteiligung eines bestimmten Geschlechts, etwa in Hinblick auf Ernährungsweise und Pflege, finden lassen. Vorausgeschickt sei, dass die Morbidität bei vielen Krankheitsbildern ein anderes Muster zeigt als die Mortalität, beide aber nicht lösgelöst voneinander betrachtet werden können. Für Reinhard Spree trugen „diejenigen Strukturen sozialer Ungleichheit, durch die die Pflege und der Aufwuchs von Säuglingen und Kleinkindern geprägt werden“, wesentlich zu den ermittelten Differentialen in der Säuglingssterblichkeit im Preußen des Kaiserreichs bei.28 Um eventuelle geschlechterspezifische Morbiditätsunterschiede besser einschätzen zu können, wird daher vergleichend auch das Todesursachenspektrum der Unter-Einjährigen auf Geschlechtsunterschiede untersucht. Dazu wurde anhand der Sterbebücher der einzelnen Gemeinden der Bezirkshauptmannschaft Taufers die Mortalität in dieser Altersgruppe erhoben. Das daraus entstehende komplexe Bild müsste einige jener biologischen und so22 Die Berechnung des prozentualen Anteils nach den absoluten Zahlen ergab 17,8 Prozent. Hess, Alltag, 97. 23 Vgl. die Angaben bei Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 303 f. (Tab. 3). 24 Dieser Einschätzung liegt allerdings bislang nur eine ausgewertete Arztpraxis aus Nordamerika zugrunde. Der nahe Toronto wirkende Langstaff behandelte in den untersuchten Stichjahren zwischen 1849 und 1883 zwischen 21 und 32 Prozent Kinder. Vgl. Duffin, Langstaff, 94. 25 Vgl. Baschin, Homöopathen, 156–162. 26 Baschin, Homöopathen, 156. Für die späteren Jahre in Köthen wird ein Anteil von 16 Prozent mitgeteilt. Vgl. Papsch, Auswertung, 137 f. 27 Baschin, Homöopathen, 158 f. und Schaubild 8. 28 Spree, Ungleichheit, 50.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
zioökonomischen Faktoren, die Geschlechtsunterschiede in der Mortalität und Morbidität von Säuglingen im Tal geprägt und somit auch auf die Zusammensetzung der Praxis Ottenthals rückgewirkt haben, deutlicher zum Vorschein bringen. 3.1.1 Das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt und bei den Totgeburten Dieser Hinweis auf strukturelle Geschlechtsunterschiede bei der Säuglingspflege erscheint plausibel, doch der vermehrte Zulauf des männlichen Geschlechtes während des frühesten Lebensjahres könnte auch mit der simplen Tatsache erklärt werden, dass stets mehr männliche Säuglinge geboren werden als weibliche. Auf das Überwiegen von Knaben bei den Geburten waren schon die frühen Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts wie John Graunt (1620–1674) oder Johann Süßmilch (1707–1767) nach eingehendem Studium der Geburts- und Sterbetafeln verschiedenster Länder gestoßen.29 Nach zahlreichen statistischen Untersuchungen der im 19. Jahrhundert aufstrebenden „Populationistik“ galt bald der Grundsatz, dass diese Verhältniszahl in den erfassten Ländern zwischen 105 und 107 schwankte.30 Trotz des gesellschaftlichen Wandels und der flächendeckenden medizinischen Versorgung hat sich dieses Geschlechtsverhältnis bis heute nur geringfügig verändert, denn auch im 15-jährigen Mittel von 1989 bis 2004 wurden in Südtirol auf 100 Mädchen 105,24 Knaben geboren, wobei die Anzahl der geborenen Mädchen jene der Knaben nur einmal (1993) um fünf Säuglinge überstieg.31 Historisch scheint ein Knabenüberschuss bei der Geburt für nahezu alle Zeiten, die statistisch erfassbar sind, und für nahezu alle Regionen eine konstante Größe darzustellen. Im konkreten Fall der Praxis Franz v. Ottenthals scheint dieser „natürliche“ Überhang allerdings nicht auszureichen, um die markante Differenz bei der ärztlichen Inanspruchnahme zwischen männlichen und weiblichen Säuglingen zu erklären. Es müssen folglich neben den biologischen noch weitere Erklärungsmodelle Anwendung finden, die in kulturellen Verhaltensmustern der Bevölkerung und in Traditionen bei der Säuglingspflege zu suchen wären. Der Ausschluss kulturell bedingter Bevorzugungen von Säuglingen eines bestimmten Geschlechtes und das Wirken rein biologischer Anlagen kann nur für Totgeburten angenommen werden. Tatsächlich lässt sich auch unter den Totgeborenen ein deutlicher und historisch konstanter Knabenüberschuss nachweisen. Eine kurz nach 1900 zu29 Vgl. Ritzmann, Sorgenkinder, 126–129. 30 Vgl. Schwarzenbach, Geschlechtsverhältnis, 1–21. Noch in einer Einführung zur Bevölkerungssoziologie aus dem Jahre 1997 wird darauf hingewiesen, dass unter „natürlichen“ Bedingungen auf 100 weibliche Geborene um die 105 männliche Geborene kommen. Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, 172. 31 Vgl. Statistisches Jahrbuch 1990–2003. Für die Bereitstellung der fehlenden Daten für 1999, 2000 und 2004 danke ich Frau Francesca Speziani (ASTAT). Für die Berechnung danke ich Dr. Gerald Hessenberger.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
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sammengestellte Übersicht zu Totgeburtenziffern mehrerer deutschsprachiger Länder ergab für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts einen nahezu konstanten Überhang an Totgeburten männlichen Geschlechts von 17 bis 20 Prozent. „Man ist überrascht über die Gleichmäßigkeit der Ergebnisse“, kommentierte der Autor diese Tabelle.32 Im Zeitraum zwischen 1862 und 1874 betrug der Knabenüberschuss für die österreichischen Länder 1.271 zu 1.000,33 und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte der Arzt Siegfried Rosenfeld fest, dass in Österreich im Durchschnitt ein Viertel mehr Knaben tot geboren werden als Mädchen.34 Für das Tauferer Ahrntal hat Irschara in seiner bevölkerungsgeografischen Dissertation den Anteil der Totgeburten an der Gesamtzahl aller Geburten zwischen 1801 und 1966 ermittelt und kam für die gewählten 25-Jahresschnitte pro 100 Geburten auf Werte zwischen 1,1 im Minimum (1826–1850) und 2,1 im Maximum (1901–1925).35 Diese ermittelten Anteile erscheinen im länderspezifischen Vergleich überaus niedrig: Prinzing erwähnte für Österreich zwar einen Wert von 2,9 Prozent (1891–1900)36, und für Gesamttirol ist für einen annähernd gleichen Zeitraum eine Totgeburtenziffer von 2,3 überliefert.37 Allerdings kritisierten schon die Zeitgenossen Franz v. Ottenthals diese Ziffern als Resultat einer ungenauen Registrierung.38 Daher muss sowohl bei den Angaben von Irschara als auch von Prinzing entweder von einer Unterregistrierung der Totgeburten in den Kirchenbüchern ausgegangen werden oder von der v. a. in katholischen Gegenden weit verbreiteten Praxis, tot geborenen Kindern zumindest während des Vorgangs der Nottaufe einige Lebensminuten zuzugestehen, um ihnen somit den direkten Gang durch die Himmelspforte zu ermöglichen. Der von Irschara festgestellte Anstieg der Totgeburtenziffer kurz vor der Jahrhundertwende dürfte denn auch nur bedingt mit der höheren Zahl an Geburten zusammen hängen. Die größeren Anteile sind vermutlich Ergebnis einer 1895 in Österreich durchgeführten Reform der Matrikenführung und einer dadurch eingetretenen größeren Genauigkeit beim Eintragen von Totgeburten in die Kirchenbücher und somit in die offiziellen Statistiken.39 Offenbar hatte auch der Pfarrer von St. Peter damit zu kämpfen, was denn nun genau als Totgeburt bezeichnet werden sollte, denn am 17. März 1893 schrieb er bei einem männlichen Säugling in die Spalte für das Sterbealter: 32 33 34 35
36 37 38 39
Knöpfel, Sterblichkeit, 232. Stark, Geschlechtsverhältniss, 49. Rosenfeld, Totgeburten, 319. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, Bd. 2, 20 (Tab. 19). Herangezogen wurden für diese Arbeit nur jene Jahre, in denen Südtirol Teil des Kronlandes Tirol war (bis 1919). Prinzing, Ursachen, 22. Rosenfeld, Totgeburten, 298 f. So etwa Prinzing, Handbuch, 53–55. Zur Änderung der Registrierung von Totgeburten in Österreich vgl. Rosenfeld, Totgeburten, 294 f. Auch Teibenbacher interpretiert den zwischen 1880 und 1910 feststellbaren Anstieg der Totgeburten in der Steiermark als Folge der genaueren Erhebung. Teibenbacher, Entwicklungsmuster, 132–134 (Tab. 45 und 46).
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„1 Stunde laut Todtenbeschau eigentlich aber todtgeboren“.40 Selbst Franz v. Ottenthal war sich bei der Bestimmung eines Kindes als lebend- oder totgeboren manchmal recht unsicher, denn als er am 18. September 1896 einer Frau aus Mühlen bei ihrer Geburt beistand, notierte er anschließend „partus Entwicklung des Kopfes eines todten Kindes noctu“ in deren Krankengeschichte.41 Für das Mädchen legte er allerdings eine eigene Laufnummer an und schrieb als dazugehörigen Vermerk: „5 Minuten mox post partum †“.42 Im Sterbebuch der Pfarre wurde der Säugling dennoch als totgeboren eingetragen.43 Doch selbst wenn konfessionelle Unterschiede im Umgang und länderspezifische Besonderheiten in der korrekten Erfassung von Fehl- und Totgeburten eine exakte Berechnung der Totgeburtenziffer erschwerten, am eindeutigen Geschlechterunterschied zwischen männlichen und weiblichen Ungeborenen änderte dies wenig. Eigene Erhebungen zu den Kirchenbüchern der einzelnen Gemeinden des Bezirks Taufers ergeben für die 1860er Jahre fünf männliche, drei weibliche und zwei Totgeburten unbekannten Geschlechts, und für die 1890er Jahre 23 männliche und 12 weibliche Totgeburten. In einem Fall konnte das Geschlecht nicht angegeben werden. Männliche Föten dürften somit auf Gefährdungen der letzten Schwangerschaftsperiode und auf Risiken sowie Widrigkeiten schwieriger Geburtsvorgänge empfindlicher reagieren als weibliche. Für den Großteil der Schwangerschaften und die Phasen kurz vor und während der Geburt gilt ein biologischer Nachteil für männliche Ungeborene als gesichert. Die heutige genetische Forschung sieht diesen Nachteil dabei im XYChromosom der Männer begründet, da ein möglicher Defekt im X-Chromosom nicht wie bei den Frauen durch das idente zweite Chromosom ausgeglichen werden kann und betroffene Föten daher vom austragenden Körper als „defekt“ ausgeschieden werden.44 Im ausgehenden 19. Jahrhundert führten Ärzte den häufigeren Abgang männlicher Föten hauptsächlich auf die größere Körpermasse und den damit verbundenen höheren Energiebedarf von Knaben zurück, wodurch der Fötus auf Krisen während der Schwangerschaft sensibler reagieren würde.45 Ebenso hätte sich der größere Schädelumfang bei komplizierten Geburten, die bei der hohen Zahl von rachitischen Frauen in Form verengter Becken keine Seltenheit waren, als nachteilig erwiesen. Männliche Ungeborene konnten von der verbesserten sozialen Lage der schwangeren Frauen und von deren gesundheitlicher Konstitution sowie von den Fortschritten in der Entbindungstechnik mehr profitieren als weibliche Ungeborene, wie Schwarzenbach anhand einer geschlechterspezifischen Auswertung der Schweizer Totgeburtenstatistik zwischen 1871 und 1968 belegen kann. 40 41 42 43 44
SLA, Sterbebuch St. Peter 1893. HM 1209/1896, Eintrag vom 18.9.1896. HM 1210/1896, Eintrag vom 19.9.1896. SLA, Sterbebuch Taufers 1896. Vgl. die Erläuterungen von Waldron, Krankheit, 162 f., oder Eickenberg, Männergesundheit, 8. 45 Prinzing, Ursachen, 25.
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Immer mehr Säuglinge, die in früheren Zeiten tot zur Welt gekommen wären, konnten nun lebend zur Welt gebracht werden.46 3.1.2 Geschlechterspezifische Unterschiede in der Säuglingssterblichkeit: die Auswertung der Sterbebücher des Tauferer Ahrntales Aus der Perspektive genetischer Erklärungsmodelle führt also der „kleine Geschlechtsunterschied“ vor allem in den letzten Monaten der Schwangerschaft zu einem „großen Unterschied“ hinsichtlich des Risikos, als Frühgeburt abzugehen bzw. an den Folgen einer komplizierten Geburt zu sterben.47 Doch in welchem Verhältnis stehen die Sterblichkeitsverhältnisse zueinander, wenn die Hebamme das Geschlecht des Neugeborenen erst einmal verkündet hatte und somit zusätzlich zu biologischen Bedingungen kulturelle Verhaltensweisen hinsichtlich der Bevorzugung eines Geschlechts bei den Eltern direkt wirksam werden konnten? Einen ersten Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage liefern geschlechterspezifische Sterberaten, die entweder für männliche oder für weibliche Säuglinge auffallend hohe Anteile ausweisen. Auswertungen der einzelnen Sterbebücher der Tauferer Ahrntaler Gemeinden ergaben für das Jahrzehnt 1860 bis 1869 deutlich mehr Sterbefälle für männliche Babies als für weibliche (279 zu 205), derselbe Befund ist für das Jahrzehnt 1890 bis 1899 (392 zu 282) festzustellen (vgl. Grafik 3.1.3a und 3.1.3b). Sind in diesen Zahlen also Muster männlicher Benachteiligungen zu erkennen? Die Höhe der Säuglingssterblichkeit gilt im Allgemeinen „als einer der klassischen Indikatoren des Gesundheitsstatus einer Bevölkerung“48. Die auf regionaler Ebene erhobene Anzahl der Sterbefälle drückt demnach den ökonomischen Entwicklungsstand und die allgemeinen Lebensbedingungen der Bevölkerung im Tauferer Ahrntal aus. Ein Vergleich mit anderen europäischen Staaten soll klären, ob der über Sterbeziffern definierte Gesundheitsstatus dort geborener Säuglinge als überdurchschnittlich gut eingeschätzt werden kann, oder ob diese gegenüber anderen Regionen benachteiligt waren. Die quantitative Dimension der Säuglingssterblichkeit und deren Entwicklung innerhalb der letzten beiden Jahrhunderte ist sowohl auf lokaler als auf nationaler Ebene mittlerweile sehr gut dokumentiert. Wie die Angaben bei Prinzing zeigen, lag die Sterblichkeit der Unter-Einjährigen in Österreich etwa für das Jahrzehnt 1861 bis 1870 bei 25,6 Prozent49 und somit über jener 46 Vgl. Schwarzenbach, Geschlechtsverhältnis, 83–92. Dass diese dann allerdings oftmals in den ersten Lebenswochen verstarben, wie die Verschiebung des Anteils der perinatalen Sterblichkeit an der gesamten Säuglingssterblichkeit in Österreich von rund 25 auf rund 60 Prozent zwischen 1926 und 1975 nahelegt, steht diesem Befund entgegen. Vgl. dazu Köck/Kytir/Münz, Risiko, 37 f. 47 Vgl. für Deutschland: Merbach/Brähler, Daten, 69, sowie die Ausführungen bei Ritzmann, Frage, 51–71. 48 Elkeles, Prävention, 267. 49 Prinzing, Handbuch, 25 f.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Grafik 3.1.3a: Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1860–1869: Säuglinge (0–1 Jahre) Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869
Grafik 3.1.3b: Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1890–1899: Säuglinge (0–1 Jahre) Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1890–1899
des Tauferer Ahrntal, die laut Irschara im Mittel der Jahre von 1851 bis 1875 22,2 Prozent betrug.50 Die für das gesamte Staatsgebiet der Monarchie berechnete Rate galt allerdings schon unter den Zeitgenossen als ungebührend hoch 50 Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, Bd. 2, 20 (Tab. 17).
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
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und lag deutlich über jener anderer europäischer Staaten wie den Niederlanden (19,9 Prozent), Frankreich (17,8 Prozent), England (15,4 Prozent) oder den skandinavischen Ländern, deren Raten schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf unter 15 Prozent gedrückt werden konnten. Die Überlebenschancen von Säuglingen im Deutschen Reich waren mit einer Sterberate von 23,4 Prozent (allerdings für die 1870er Jahre) zwar höher als die ihrer österreichischen Nachbarn,51 doch zeigt sich gerade bei diesem Beispiel das Problem der für gesamte Staatsgebiete aggregierten Zahlen zur Säuglingssterblichkeit besonders deutlich. Die Unterschiede zwischen geografisch weit auseinander liegenden Räumen waren mitunter enorm, und zahlreiche Lokalstudien der letzten Jahrzehnte stellten eine große Varianz hinsichtlich der Höhe und der Entwicklung der Säuglingssterblichkeit fest. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Säugling im Osnabrücker Kirchspiel Belm der 1850er Jahre vor Erreichen des ersten Lebensjahres verstarb,52 war mit einem Wert von 15 Prozent um ein Vielfaches niederer als für einen zur selben Zeit geborenen Säugling etwa im württembergischen Weberort Laichingen (41,6 Prozent) oder im inmitten der Schwäbischen Alb liegenden Böhringen mit 37,3 Prozent im Mittel der Jahre 1825 bis 1849.53 Generell legen die verfügbaren Daten für das Deutsche Reich sowohl ein NordSüd-Gefälle als auch ein Ost-West-Gefälle nahe, wenn auch der Befund einer allgemeinen Übersterblichkeit von in süddeutschen Ländern Geborenen nicht zulässig ist. Denn selbst innerhalb geografisch unmittelbar angrenzender Regionen existierten mitunter erhebliche kleinräumige Unterschiede, wie die Sterbeziffern in den einzelnen bayerischen Bezirken zeigen. Um 1870 starben in Oberbayern mit 406 pro 1.000 Lebendgeborenen fast doppelt so viele Neugeborene im ersten Jahr als in Oberfranken mit 215.54 Die Einschätzung Josef Ehmers, dass selbst noch „im frühindustriellen Europa kleinräumige demographische Besonderheiten die Strukturen der Mortalität [prägten]“55, trifft auch auf die österreichischen Länder und einzelne Tiroler Bezirke zu. Derartige regionale Besonderheiten waren nicht zuletzt zeitgenössischen Sanitätsbeamten aufgefallen, die um 1900 über die unterschiedlichen Mortalitätsniveaus der Säuglinge innerhalb und zwischen den jeweiligen Kronländern debattierten. Sowohl die Höhe als auch der unterschiedlich einsetzende Rückgang der Sterbeziffern ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren dermaßen auffällig, dass regelrecht von einem „breiten Streifen“ gesprochen wurde, der die Monarchie in Zonen niedriger und hoher Sterblichkeit der Unter-Einjährigen trennte. Dieser Gürtel verlaufe beginnend vom niederösterreichischen Amstetten über neun oberösterreichische Bezirke nach vier Bezirken in Salzburg, weiter südlich über die Steiermark (2) und Kärnten (3) 51 Prinzing, Handbuch, 25. 52 Schlumbohm, Lebensläufe, 153 (Tab. 3.16b). 53 Medick, Weben, 356 (Tab. 4.16) und 637 (Tab. A.4.10). Zur hohen Säuglingssterblichkeit in Württemberg siehe auch Baschin/Kozlik, Studien, 170 f. 54 Westergaard, Lehre, 161. 55 Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 93.
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nach Tirol mit 12 Bezirken bis an die westlichste Grenze der drei Vorarlberger Landesteile.56 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Säuglingssterblichkeit im Bezirk Bruneck in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts im Vergleich zum Gesamttiroler Trend nachteilig entwickelt hatte. Zwischen 1886 und 1895 wies Bruneck mit 21,81 Prozent fast die höchste Rate aller Nordtiroler Bezirke auf, lediglich die Städte Innsbruck und Bozen sowie deren Umlandgemeinden hatten eine größere Sterblichkeit ihrer Säuglinge.57 Nun waren die Überlebenschancen von Neugeborenen in größeren Städten noch um die Jahrhundertwende ungünstiger als von jenen auf dem Land,58 zudem ist anzunehmen, dass das Gebärhaus im damals noch nicht nach Innsbruck eingemeindeten Wilten einerseits sowie die von Bozen in die umliegenden Dörfer zur Pflege abgegebenen Kinder für die dortigen hohen Raten verantwortlich gewesen sein dürften. Die Gründe für das hohe Sterberisiko im Brunecker Bezirk dieses Zeitraumes müssen demnach in einer zunehmenden wirtschaftlichen Verschlechterung dieser noch überwiegend agrarisch geprägten Region zu suchen sein. Verstärkt wurde dieser Effekt vermutlich durch hier erst spät eingeleitete sanitäre Reformen, sodass die hygienischen Standards im Vergleich zu anderen Bezirken zunächst niedrig blieben. Insgesamt scheint das gesamte Pustertal auf der Verliererseite der in Tirol sich um die Jahrhundertwende langsam abzeichnenden „faktische[n] Modernisierung und Etablierung kapitalistischer Produktionsbedingungen“59 gestanden zu sein, denn für den westlich an den Bezirk Bruneck angrenzenden Bezirk Brixen ist im Mittel der Stichjahre mit 23,3 Prozent eine noch höhere Säuglingssterblichkeit ausgewiesen.60 Schlechter standen diesbezüglich nur einige Wälschtiroler Regionen da, wo die italienischsprachige Bevölkerung aber traditionell mehr Babies binnen ihres ersten Lebensjahres wieder begraben musste als die deutschsprachige Bevölkerung im nördlichen Tirol. Doch auch wenn die Sterblichkeitsziffern der Allerjüngsten im nationalen und regionalen Vergleich überaus stark schwankten, ist an einem Ergebnis sämtlicher demografischer Studien nicht zu rütteln: im ersten Lebensjahr verstarben letztlich immer mehr männliche Neugeborene als weibliche. Dies bestätigt nicht zuletzt die von Imhof nach Geschlechtern und Altersstufen getrennte Aufbereitung von Datenreihen zur Lebenserwartung und Sterbewahrscheinlichkeit für sechs geografisch weit auseinander liegende Ortschaften in Deutschland vom 18. bis zum 19. Jahrhundert.61 Die höhere männliche Säuglingsmortalität ist über alle Zeiten und Räume hinweg demnach „nahezu
56 Presl, Säuglingssterblichkeit, 674; Köck/Kytir/Münz, Risiko, 21–26. 57 Prinzing, Kindersterblichkeit, 216 (Tab. 2). Der Bezirk Imst lag mit 21,87 Prozent nur wenig über dem Bezirk Bruneck. 58 Vgl. dazu die Zahlen bei Prinzing, Handbuch, 407–409. 59 Niedenzu/Preglau, Entwicklung, 12. 60 Prinzing, Kindersterblichkeit, 216 (Tab. 2). 61 Vgl. die entsprechenden Tabellen bei Imhof, Lebenserwartungen, 219–464.
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universell“62, womit die Ursachen für diese Benachteiligung in erster Linie biologischer Natur sein müssen. Das „schwächere Geschlecht“ scheint demnach männlich zu sein, zumindest solange es noch gewickelt werden muss. Da die enormen Schwankungsbreiten der Säuglingssterberaten von, wie eben ausgeführt, mitunter 200 Promille umgelegt auf die Lebenserwartung gut sieben bis acht zusätzlichen Jahren entspricht,63 kommt dieser Varianz beim Start ins Leben eine erhebliche statistische Bedeutung zu. Um allerdings ein differenzierteres Bild von der Wirkmacht biologischer Geschlechtsunterschiede und sozioökonomischer Gegebenheiten zu gewinnen, soll im Folgenden der Blick auf die verschiedenen Lebensphasen des Säuglingsalters und auf die spezifischen Todesursachen im Tauferer Ahrntal des 19. Jahrhunderts gerichtet werden. Will man nun ein weibliche oder männliche Säuglinge diskriminierendes Pflegeverhalten und bewusstes Vorenthalten ärztlicher Heilbehandlung als einen Faktor geschlechterspezifischer Mortalitätsdifferentiale bei Unter-Einjährigen nachweisen, empfiehlt sich die Unterscheidung des Sterbealters in neonatale (0–28 Tage) und postneonatale (2.–12. Monat) Säuglingssterblichkeit. In der modernen Säuglingsheilkunde gilt, dass die Sterblichkeit im ersten Lebensmonat überwiegend von biologischen Faktoren (kongenitale Anomalien, perinatale Affektionen oder Geburtskomplikationen) beeinflusst wird, bei denen die Bevorzugung eines Geschlechts nur eine untergeordnete Rolle für das weitere Überleben spielt.64 Hingegen ist die postneonatale Sterblichkeit in hohem Maße von Infektionskrankheiten bestimmt, denen durch besondere Aufmerksamkeit, Stärkung der individuellen Widerstandsfähigkeit und Beachtung hygienischer Grundregeln einigermaßen effektiv begegnet werden kann. Die genannten Indikatoren können sich über eine differentielle Säuglingssterblichkeit ausdrücken und somit nicht nur „Strukturen sozialer Ungleichheit“65 offenlegen, sondern auch Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts. Denn das Wissen um lebensverlängernde Pflege- und Erziehungspraktiken von Säuglingen muss auch umgesetzt werden. Dabei spielt nicht nur das Haushaltsbudget eine entscheidende Rolle, dieses Wissen sollte auch „bereitwillig“ beiden Geschlechtern zu gleichen Teilen zugute kommen. Vielleicht fühlte sich Franz v. Ottenthal aus diesen Gründen bemüßigt, den Eltern der Maria Oberkofler* 1867 vorzuwerfen, sie hätten nach einer überstandenen Pockenerkrankung zu früh „pusillam extra domum“ getragen, wie dies die Notiz in der Krankengeschichte nahelegt.66 Für eine solche differenzierte Interpretation wurde die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr in neonatale und postneonatale Sterblichkeit unterteilt, zu62 Waldron, Krankheit, 159. 63 Livi Bacci, Europa, 149. 64 Hierbei wird zwischen sogenannten „exogenen“ und „endogenen“ Ursachen unterschieden. Vgl. etwa Waldron, Krankheit, 172–174, Elkeles, Prävention, 269 f., Ritzmann, Sorgenkinder, 130. 65 Spree, Ungleichheit, 50. 66 HM 254/1867, Eintrag vom 12.2.1867.
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sätzlich in vier Lebensphasen einschließlich der ersten 24 Stunden nach der Geburt. Quellengrundlage dafür sind die Sterbebücher der einzelnen Gemeinden des Tauferer Ahrntales für die beiden Vergleichsjahrzehnte 1860 bis 1869 und 1890 bis 1899 (vgl. Tab. 3.1.1a und 3.1.1b). Die größten geschlechterspezifischen Unterschiede in den 1860er Jahren ergaben sich nun für die neonatale Sterblichkeit und für das letzte Viertel des ersten Lebensjahres: während knapp 48 Prozent aller männlichen verstorbenen Säuglinge im ersten Monat zu Grabe getragen werden mussten, betrug der Anteil bei den weiblichen Säuglingen rund 45 Prozent. Wie die Ausführungen zu den Totgeburten erwarten ließen, wurde dieser Vorsprung der Mädchen schon bei der Geburt entschieden. Denn während ein Fünftel aller Knaben bei oder innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Geburt starben, war dies nur bei rund 16 Prozent der Mädchen der Fall. In den darauffolgenden Monaten der postneonatalen Lebensphase änderte sich an der Mehrsterblichkeit der Knaben nur wenig, auch wenn sich die Raten der beiden Geschlechter allmählich anzugleichen begannen. Zwischen dem zehnten und zwölften Lebensmonat hingegen hatten die weiblichen Neugeborenen ihren großen Vorteil eingebüßt: bei ihnen fielen 10,2 Prozent aller Todesfälle in diesen Zeitraum, bei den Knaben betrug dieser Anteil nur 4,3 Prozent. Tab. 3.1.1a: Anteil der Sterblichkeit nach Lebensvierteljahren und Geschlecht, 1860–1869 Zeitpunkt des Todes innerhalb der Gruppe der männl. Säuglinge innerhalb der Gruppe der weibl. Säuglinge
Neonatale Sterblichkeit (Geburt– Geburt – 1. Tag) 28. Tag (21,9%) 47,7 %
(16,6 %)
45,4 %
2.–3. Monat 17,5 %
15,1 %
Postneonatale Sterblichkeit 4.–6. 7.–9. Monat Monat 17,2 % 13,3 %
16,6 %
12,7 %
10.–12. Monat 4,3 %
10,2 %
Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869; eigene Berechnungen. Tab. 3.1.1b: Anteil der Sterblichkeit nach Lebensvierteljahren und Geschlecht, 1890–1899 Zeitpunkt des Todes innerhalb der Gruppe der männl. Säuglinge innerhalb der Gruppe der weibl. Säuglinge
Neonatale Sterblichkeit (Geburt Geburt – – 1. Tag) 28. Tag (18,4 %) 42,6 %
(18,4 %)
35,8 %
2.–3. Monat 13,5 %
20,9 %
Postneonatale Sterblichkeit 4.–6. 7.–9. Monat Monat 20,7 % 16,1 %
17,4 %
12,1 %
10.–12. Monat 7,1 %
13,8 %
Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1890–1899; eigene Berechnungen.
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In den Jahren von 1890 bis 1899 verläuft diese Entwicklung nahezu gleich: Auch in diesem Jahrzehnt überwog die neonatale Sterblichkeit der männlichen Säuglinge mit 42,6 Prozent jene der weiblichen (35,8 Prozent), und auch in diesem Jahrzehnt hatten die Mädchen ihren Überlebensvorsprung bis zum letzten Lebensvierteljahr wieder eingebüßt. Allerdings haben sich zwei Dinge verändert: Zum einen war in dieser Dekade der Anteil der im zweiten und dritten Monat verstorbenen Mädchen größer als bei den Buben, andererseits betrug der Anteil der innerhalb des ersten Lebenstages Verstorbenen bei beiden Geschlechtern rund 18 Prozent. Dieser Befund ist allerdings nur schwer zu interpretieren. Hatten sich die Lebensbedingungen für weibliche Babies verschlechtert? Eine nach den einzelnen Bezirken Tirols aufgeschlüsselte Tabelle zur neonatalen Sterblichkeit für die Jahre 1890 bis 1892 zeigt, dass im Bezirk Bruneck von je 100 im ersten Lebensjahr Gestorbenen 40,2 innerhalb des ersten Monats verschieden waren.67 Damit war die neonatale Sterblichkeit dieses Bezirks zwar eine der niedersten in ganz Tirol. Da die dortige Säuglingssterblichkeit im Vergleich zu anderen Regionen insgesamt aber hoch war, bedeutet dies zugleich, dass die Säuglinge vermehrt in den zweiten bis 12. Lebensmonaten starben. Sie fielen zum überwiegenden Teil infektiösen Erkrankungen zum Opfer, die mit sogenannten „exogenen“ Faktoren wie geringer Immunabwehr, großer Exponiertheit gegenüber Krankheitserregern oder Pflegemängeln assoziiert werden. Bei all diesen Faktoren hätte die Bevorzugung eines Geschlechts beispielsweise durch längeres Stillen dessen Überlebenschancen vergrößern und somit zu geschlechterspezifischen Mortalitätsunterschieden beitragen können. Der im Tauferer Ahrntal zwischen diesen beiden Jahrzehnten erfolgte leichte Anstieg der postneonatalen Sterblichkeit zulasten der neonatalen Sterblichkeit von 53,5 auf 60,8 Prozent entspricht jedenfalls dem von Köck, Kytir und Münz für Österreich festgestellten Trend.68 Die Autoren begründen den hohen Anteil der Sterblichkeit im zweiten bis 12. Lebensmonat mit dem weiterhin enormen Risiko für Säuglinge, an einer Infektion des Darmes oder der Atemwege bzw. an einer der klassischen „Kinderkrankheiten“ zu sterben.69 Aus den ermittelten Zahlen ergibt sich demnach folgendes Bild: Für das Gebiet des Südtiroler Tauferer Ahrntals der 1860er und 1890er Jahre zeigen Knaben den geringsten Überlebensvorteil im ersten Lebensmonat, wobei ein Großteil davon auf die perinatale Sterblichkeit entfällt. Kurz vor Erreichen des ersten Lebensjahres hingegen weisen die weiblichen Geschlechtsgenossen 67 Rosenfeld, Säuglingssterblichkeit, 692. 68 Köck/Kytir/Münz, Risiko, 16 (Tab. 2.1). Vgl. zu diesem Bereich auch Elkeles, Prävention, 270–274. 69 Vgl. Köck/Kytir/Münz, Risiko, 36. Eine nennenswerte Verschiebung fand in Österreich diesbezüglich erst in den 1970er Jahren durch Innovationen in der Intensivneonatalogie statt, auch wenn die Anteile der Sterbefälle innerhalb der ersten Lebenswoche und somit der Bereich der vorgeburtlichen Störungen schon seit den 1920er Jahren eine steigende Tendenz aufweist.
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eine höhere Sterblichkeit auf. Diese in einem regionalen Sample gewonnenen Daten werden durch umfangreichere Vergleichszahlen zu Gesamttirol für die Jahre 1881 bis 1905 bestätigt, wo der Anteil der Knaben unter jenen Tiroler Säuglingen, die in den letzten drei Monaten vor Vollendung des Säuglingsalters starben, in den vier berechneten Fünfjahres-Perioden stets niedriger war als jener der Mädchen.70 Für das deutsche Kaiserreich wurde hingegen herausgearbeitet, dass sich die Übersterblichkeit der männlichen Unter-Einjährigen zwar von Monat zu Monat verringerte und sich im 12. Monat nahezu den Raten der weiblichen Neugeborenen angeglichen hatte, sie überstieg diese jedoch nie.71 Allerdings befinden wir uns bei den dabei herangezogenen Stichjahren (1891–1900 sowie 1924–1926) schon mitten in der Phase stark zurückgehender Säuglingssterblichkeit,72 zudem verwischen Daten auf nationaler Ebene regionale Besonderheiten. Auch die Untersuchung von John Knodel und Susan De Vos für ausgewählte deutsche Landgemeinden des 18. und 19. Jahrhunderts zeigt,73 dass die ermittelten Sterblichkeitsvorteile von weiblichen Kindern unter fünf Jahren auch dort hauptsächlich aus der Mehrsterblichkeit von männlichen Kindern unter einem Jahr resultierten, die sich mit zunehmendem Alter verringerte, ehe das Sterberisiko für beide Geschlechter zwischen fünf und zehn Jahren dann wieder annähernd gleich groß wurde. Dieser geringfügige Nachteil für Mädchen zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr „suggests the existence of discriminatory child care practices favoring sons, although only to a modest extent“74. Als eindeutige Folgen männlicher Bevorzugung interpretieren Knodel und De Vos hingegen das hohe Verhältnis in der Sterblichkeitsrate der weiblichen zu den männlichen Kindern von 1,10 für ältere Kinder zwischen sechs und zehn Jahren, die im ländlichen Irland der Jahre 1831 bis 1841 aufwuchsen und verstarben. Kann folglich die ungleiche Verteilung der Sterblichkeit zwischen dem zehnten und dem zwölften Lebensmonat innerhalb der beiden Geschlechter in den gewählten Tauferer Ahrntaler Stichproben dahingehend gedeutet werden, dass weibliche Säuglinge bewusst vernachlässigt wurden? Beispielsweise könnten Eltern Wiegen über Nacht mit Absicht recht nahe an die geöffneten Fenster gestellt haben, oder sie ließen ihre jungen Mädchen nicht gegen eine mögliche Pockeninfektion impfen. Muss der Eintrag Franz v. Ottenthals in die Krankengeschichte Johann Hofers* aus St. Johann vom 3. November 1891 „tussis autem perstat quia fors puer noctu in cubili non calefacto retinetur“75 womöglich als versteckter Hinweis auf einen in Kauf genommenen Infantizit in dieser 70 Vgl. Rosenfeld, Säuglingssterblichkeit, 684. 71 Vgl. Prinzing, Handbuch, 387. 72 Das zwischen dieser Periode festzustellende Auseinanderklaffen der Übersterblichkeit zuungunsten der Knaben erklärt Prinzing folglich auch damit, dass „der günstige Erfolg der Säuglingsfürsorge den Mädchen mehr zugute komme als den Knaben“. Prinzing, Handbuch, 387. 73 Vgl. Knodel/De Vos, Preferences, 145–166. 74 Knodel/De Vos, Preferences, 152. 75 („Der Husten aber bleibt, vermutlich weil der Knabe nachts ins nicht gewärmte Bett zurückgelegt wurde.“). HM 1451/1891, Eintrag vom 3.11.1891.
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Familie gelesen werden? Zur Beantwortung dieser Frage soll die geschlechterspezifische Verteilung der Sterbeursachen genauer angesehen werden. 3.1.3 Die Veränderung des geschlechtsspezifischen Todesursachenspektrums bei Säuglingen Die Tabellen 3.1.2a und A.3.1.2b geben Auskunft sowohl über das Todesursachenspektrum im Tauferer Ahrntal in den 1860er und den 1890er Jahren als auch über die Veränderung der Sterbeursachen innerhalb dieses Zeitraumes. Zu den „größten Killern“ für Säuglinge zählten in beiden Perioden Geburtskomplikationen und Lebensschwäche (hier der Systematik Oesterlens folgend unter „nicht krankhafte Todesursachen“ subsumiert), epidemische Infektionskrankheiten sowie Erkrankungen des Atmungs- und Verdauungsapparates. Nahezu der Hälfte aller Todesursachen liegen allerdings Erkrankungen des Nervensystems zugrunde, wobei in erster Linie die Sterbebucheintragungen „Gicht(er)“ und „Fraisen“ für diesen hohen Wert verantwortlich waren. Mit diesen beiden Begriffen wurde im regionalen Sprachgebrauch das unspezifische Krankheitsbild der „Krämpfe“ in dieser Altersgruppe bezeichnet. Es birgt immer eine gewisse Problematik, vergangene Krankheitsbilder aus der Perspektive aktueller medizinischer Begrifflichkeiten und Körpermodelle zu interpretieren.76 Wie sind jene „Fraisen“ oder „Gicht(er)“, die innerhalb des Spektrums der genannten Todesursachen mit 42 Prozent (1860–1869) bzw. 23 Prozent (1890–1899) sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Säuglingen an erster Stelle standen, in heute gebräuchliche Krankheitskategorien einzuordnen? Zudem gibt auch eine detaillierte Todesursachenstatistik wegen häufiger diagnostischer Fehleinschätzungen der zeitgenössischen Ärzte oder der Seelsorger, die den Sterbegrund festlegten und in die Matriken eintrugen, oft nicht den wirklichen Grund des Todes wider.77 Trotz der Problematiken einer retrospektiven Diagnostik bleiben quantitative Quellen unter Einbeziehung von qualitativen Zeugnissen oftmals der erste Zugang zur Interpretation spezifischer Mortalitäten. Bezüglich der „Gicht(er)“ und „Fraisen“ weist der damalige Tiroler Landessanitätsrat Joseph Daimer in seinen Ausführungen zu den einzelnen Todesursachen des Jahres 1882 darauf hin, dass die für Säuglinge lebensbedrohlichen Darmkatarrhe oftmals mit Konvulsionen enden würden. Als Todesursache trügen die Totenbeschauer daher vielfach „Fraisen“ oder „Gichter“ in die Protokolle ein, was schlussendlich dazu führe, dass tödlich geendete Darmkatarrhe in den jährlich abzuliefernden Sterbetabellen fälschlicherweise der Rubrik „Sonstige Todesarten“ zugeordnet würden.78 In einem späteren Sanitätsbericht wirft Daimer zudem jenen Müttern, die ihre Kinder mit künstlicher 76 Zum Problemfeld der retrospektiven Diagnostik siehe Leven, Krankheiten, 153–185. 77 Vgl. dazu die Überlegungen von Iris Ritzmann, Sorgenkinder, 129 f., sowie am konkreten Beispiel der Tuberkulose Dietrich-Daum, Geschichte, 169–182, hier v. a. 177–180. 78 Sanitäts-Bericht 1884, 32.
130
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Tab. 3.1.2a: Veränderung des Todesursachenspektrums bei Säuglingen: 1860–1869 und 1890– 1899 Todesursachen
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä.
Prozentualer Anteil einer Todesursache innerhalb der Gruppe der Knaben
Prozentualer Anteil einer Todesursache innerhalb der Gruppe der Mädchen
1860–1869
1890–1899
1860–1869
1890–1899
1,8 8,9 45,2 0 7,2 6,1 0,4 0 0 0
1,8 1,5 21,4 0,2 15,6 25 1,3 0 0 0,5
1,5 15,1 37,6 0,5 6,8 6,3 0 0 0 2,4
0,7 2,1 24,1 0,7 14,5 24,5 0,7 0 0 0
28,3 2,2
30,6 2,1
23,9 5,9
29,8 2,9
0
0
0
0
Total (Zahlen absolut)
100 (279)
100 (392)
100 (205)
100 (282)
Total mit Totgeburten
284
415
208
294
Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen.
Nahrung großziehen, vor, die „Kautschuk-Saugdüten“ der Fläschchen nur selten und allzu nachlässig zu reinigen. Dadurch bekommen die Säuglinge Verdauungsstörungen, die zunächst vergeblich mit Hausmitteln oder von Hebammen behandelt werden, und erst „wenn das Kind schon ganz heruntergekommen ist, und in den Fraisen liegt, [wird] ein Arzt zu Rathe gezogen“79. Somit dürften unter beiden genannten Symptombeschreibungen heftige Krämpfe und krampfhafte Zuckungen zu verstehen sein. Derartigen „convulsiones“ liegen hauptsächlich gastro-intestinale Infekte zugrunde, deren Auslöser verdorbene und mit Krankheitserregern infizierte Nahrung war. Zu einem gewissen Teil dürften auch Vergiftungen oder schwer verlaufende Infektionskrankheiten zu heftigen und tödlich endenden Krampfanfällen geführt haben. Da nun die Zeitgenossen Ottenthals die heftigen Zuckungen als eigentliche Todesursache ansahen und nicht die diese auslösenden Verdauungsstörungen, wurden diese Einträge in Tabelle 3.1.2a und A.3.1.2b unter der Rubrik „Nervensystem“ subsumiert. Hinsichtlich allfälliger geschlechtsspezifischer Unterschiede bei einzelnen Todesursachen wird deutlich, dass in den Jahren zwischen 1860 und 1869 von 79 Sanitäts-Bericht 1886, 105.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
131
den Zeitgenossen fast die Hälfte aller Sterbefälle bei den männlichen Säuglingen den „Gicht(ern)“ oder „Fraisen“ zugeordnet wurde. Bei den weiblichen Säuglingen ist ein etwas geringerer Anteil festzustellen. Der Anteil der Sterbebucheintragungen „(schwere/harte) Geburt“, „Lebensschwäche“ oder „Entkräftung“ lag bei den Knaben bei 28,3 Prozent, die Sterblichkeit bei der Geburt und innerhalb der ersten Tage und Wochen nach der Entbindung war also sehr hoch. Bei den weiblichen Säuglingen ist ein geringfügig kleinerer Anteil zu beobachten. Bei akuten Krankheiten, unter denen Oesterlen Masern, Scharlach, Pocken, Typhoide, Friesel und Wechselfieber versteht, schienen die Mädchen im Nachteil zu sein: der Anteil von ca. 15 Prozent an allen Sterbeursachen innerhalb dieser Geschlechtergruppe übertraf den Anteil bei den Buben (ca. 9 Prozent) fast um das Doppelte. Wenig geschlechterspezifische Unterschiede gab es bei den Todesfällen aufgrund von Atemwegserkrankungen, Erkrankungen der Verdauungsorgane (hierunter auch die Diphtherie) sowie bei den chronischen Erkrankungen. Nahezu zwei Drittel aller Sterbeursachen von Säuglingen im Tal können zwischen 1860 und 1869 demnach Infektionskrankheiten und infektiösen Erkrankungen der Atmungs- und Verdauungsorgane zugeschrieben werden, denn der Krankheitskomplex der „Krämpfe“ stellt zum Großteil wiederum das finale Stadium von Magen- und Darmkatarrhen dar.80 Damit dürfte weit über die Hälfte aller Todesursachen auf Durchfallerkrankungen zurückgehen. Die am regionalen Beispiel ermittelten Zahlen entsprechen in etwa jenen Angaben zum Todesursachenspektrum, die Köck, Kytir und Münz für das Gebiet des heutigen Österreich um 1870 errechnet haben (55–65 Prozent).81 Im Vergleich zu den 1860er Jahren blieb in den Jahren zwischen 1890 und 1899 der Anteil der Todesursachen rund um die ersten Tage der Geburt an der Gesamtmortalität innerhalb beider Geschlechtergruppen recht konstant. Um nahezu die Hälfte gesunken sind hingegen die auf „Krämpfe“ zurückgehenden Todesursachen bei den männlichen, um nahezu ein Drittel bei den weiblichen Unter-Einjährigen. Allerdings dürfte diese massive Abnahme in einer zunehmend genaueren Diagnose der tatsächlichen Sterbeursache begründet sein, denn zugleich ist der Anteil an den Durchfallerkrankungen bei beiden Geschlechtern sprunghaft angestiegen. Ein ähnlich wie von Weigl für Wien proklamierter Rückgang der Säuglingssterblichkeit an gastro-intestinalen Infektionen in den 1890er Jahren, den er mit der Fertigstellung der Wiener Hochquellwasserleitung begründet, lässt sich für die ländliche Region des Tauferer Ahrntales somit nicht ablesen – zumindest nicht für diese Altersgruppe.82 Zum Teil erklärt sich dieser Anstieg bei den Erkrankungen des Digestionsapparates jedoch mit einer im Vergleich zu den 1860er Jahren ungleich größeren Zahl an dieser Rubrik zugeschlagenen Diphtheriesterbefällen, die von schweren Epidemien im Tal herrührten. Massiv angestiegen ist auch der Bereich 80 Vgl. die Erläuterungen von Weigl, Wandel [2000b], 210. 81 Köck/Kytir/Münz, Risiko, 16 (Tab. 2.1). 82 Vgl. Weigl, Wandel [2000b], 211.
132
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
„Erkrankungen der Atemwege“; hierfür zeichnen hauptsächlich die beiden Keuchhustenepidemien von 1892/93 und 1896/97 verantwortlich. Ein starker Abwärtstrend ist hingegen bei der Rubrik „akute Krankheiten“ zu beobachten: Masern, Scharlach, Typhoide, hauptsächlich aber die Pocken, spielten kurz vor der Jahrhundertwende innerhalb des Todesursachenspektrums im Tal nur noch eine untergeordnete Rolle. Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten blieben die schweren Pockenepidemien nun aus bzw. verliefen ungleich harmloser. Dieser Trend zeigt sich auch in den Tabellen zur Gesamttiroler Sterblichkeit an sämtlichen „klassischen“ Infektionskrankheiten, denn deren Anteil an der Gesamtsterblichkeit ist von 3,98 pro 1.000 Einwohner zwischen 1873 und 1877 auf 1,69 Promille zwischen 1888 und 1894 gesunken.83 Obwohl bestimmte Verschiebungen der prozentualen Anteile an spezifischen Todesursachen zwischen den 1860er und den 1890er Jahren teilweise beachtlich waren, nahmen die Todesfälle im Zusammenhang mit Schwangerschaftsverlauf und Geburtstraumata, weiters Erkrankungen des Magen-Darmtraktes sowie Atemwegserkrankungen immer noch den Hauptteil an der Gesamtheit aller Todesfälle der Unter-Einjährigen ein. Hinsichtlich geschlechtsspezifischer Mortalitätsunterschiede scheint der doppelt so hohe Anteil der Sterbefälle an akuten Infektionskrankheiten bei weiblichen Babies in den 1860er Jahren bemerkenswert. Diese auffallenden Differenzen bei den prozentualen Anteilen stehen in unmittelbaren Zusammenhang mit einer zwischen 1866 und 1867 im Tal grassierenden Pockenepidemie, die durch den kurz vorher ausgebrochenen Scharlach in vielen Fällen zu komplizierten Krankheitsverläufen führte und die hohe Pockensterblichkeit so mitbestimmt hatte. Erkennbar wird dies in Grafik 3.1.3a, wo hinsichtlich des geschlechterspezifischen Verlaufs der Todesfälle in diesem Jahrzehnt die „traditionelle“ Knabenübersterblichkeit im Jahre 1866 von einer höheren Zahl an verstorbenen weiblichen Säuglingen überlagert wurde. Dieser Befund scheint überraschend, denn wie an früherer Stelle ausgeführt, wird in der modernen Säuglings- und Kleinkindmedizin generell den Buben eine schlechtere Immunabwehr gegenüber Infektionskrankheiten zugeschrieben, was mit der unterschiedlichen genetischen (XY-Chromosomen) und hormonellen (Testosteronspiegel) Ausstattung in Verbindung gebracht wird.84 Nun beziehen sich derartige Erklärungsmodelle auf biologische Grundlagen als Faktoren differentieller Säuglingssterblichkeit, bei denen bewusste Diskriminierungen eines bestimmten Geschlechts nur schwer wirken können. Hinsichtlich des Zugangs zu medizinischen Heilverfahren bzw. einer bewussten Vernachlässigung in der Pflege könnte sich eine geschlechterspezifische Bevorzugung hingegen sehr wohl auswirken, gerade bei der Gruppe der Infektionskrankheiten und bei den historisch bedeutsamen Pocken: Kurz nach Aufkommen der Pockenschutzimpfung um die Wende zum 19. Jahrhundert 83 Presl, Gesundheitspflege, 382. 84 Vgl. etwa Waldron, Krankheit, 167–171.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
133
klagten Ärzte und Seelsorger gleichermaßen in ihren Schriften darüber, dass Eltern ihre Kinder nicht zur Impfung bringen wollten.85 Als häufige Einwände der Impfskeptiker wurden neben religiösen Bedenken, nicht in die Vorsehung Gottes eingreifen zu dürfen, vielfach medizinische Argumente wie mögliche Nebenwirkungen oder der Glaube an die Wirkungslosigkeit einer solchen Therapie genannt. Doch den Impfbefürwortern zufolge versuchten Eltern die Impfung ihrer Kinder auch deshalb bewusst zu verhindern, um die Zahl der zu ernährenden Nachkommen klein zu halten. „Die Gemeinde wolle mir viel lieber eine Geschenk zusammentragen, wenn ich sie von ihrer zu grossen Kinderzahl befreyen möchte“86, berichtete etwa 1802 der in Lienz tätige Stadtphysikus Peter von Scala von den vergeblichen Mühen eines Gemeindeseelsorgers, die Eltern zur Impfung ihrer „ungeblatterten“ Kinder zu überzeugen. Anstelle einer argumentativen Unterstützung ließ der Gemeindeausschuss ihm über den Seelsorger das eben zitierte „Angebot“ ausrichten. Eberhard Wolff hat in seiner Untersuchung zum „gewollten Kindstod“ eine Fülle solcher indirekten Quellen aus dem Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts zusammengetragen und die von Ärzten gebetsmühlenartig wiederholten „Vorurteile“ einer grundsätzlichen Quellenkritik unterzogen.87 Wolff deutet dieses Phänomen weniger als „Fatalismus“ vergangener Elterngenerationen gegenüber ihren Kindern, sondern vielmehr als Überlebensstrategie, wenn durch Krisen die Grundversorgung aller Familienmitglieder nicht mehr gewährleistet war. Entgegen den simplifizierenden Erklärungen der ärztlichen Quellenberichte wurde ein „Himmeln“ hauptsächlich bei Kindern in den höheren Geburtsrängen sowie bei kränklichen oder unehelichen Kindern „herbeigesehnt“. Ich möchte dazu ergänzend noch das Geschlecht des Kindes als ausschlaggebend dafür anfügen, welcher der Sprösslinge durch bewusste Entscheidung der Impfverweigerung einem möglichen Pockentod ausgesetzt wurde. Angesichts der regelmäßigen Wiederkehr der Blattern und einer Letalität von rund 25 Prozent bei schweren Epidemieverläufen war der Pockentod eines Kindes jedenfalls durchaus „kalkulierbar“. Da im Tauferer Ahrntal zwischen 1860 und 1869 Pocken, Masern und Scharlach hinsichtlich des prozentualen Anteils an allen Todesursachen innerhalb der Geschlechter auffallende Abweichungen verursachten, bietet es sich an, den festgestellten höheren weiblichen Anteil im letzten Lebensviertel der Säuglinge mit diesen Infektionskrankheiten in Verbindung zu bringen. Insgesamt weisen die absoluten Zahlen bei Pocken und Masern mehr weibliche Todesfälle auf, bei Scharlach ist die Bilanz mit jeweils sechs Verstorbenen ausgewogen. Allerdings müsste man korrekterweise die altersspezifische Sterblichkeit an den einzelnen Todesursachen berechnen: ein Unterfangen, für das ein derart kleines Gebiet zu geringe Fallzahlen liefert, um repräsentative Aussagen ableiten zu können. Dennoch bleibt auffallend, dass in absoluten Zah85 Vgl. am Beispiel Württemberg, Wolff, Maßnahmen, 385–398. 86 Von Scala, Worte, 25. 87 Wolff, Würgeengel, 105–141.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
len mehr weibliche Unter-Einjährige an jenen Krankheiten, die im zeitgenössischen Duktus „akute Exantheme“ genannt werden, verstarben: nämlich innerhalb der Gruppe der weiblichen Säuglinge 31 Fälle zu 25 Fällen innerhalb der Gruppe der männlichen Säuglinge. Auffallend sind diese Zahlen nicht zuletzt deswegen, weil durch den größeren Anteil verstorbener männlicher Babies an sich schon höhere Fallzahlen bei der Rubrik „akute Krankheiten“ zu erwarten gewesen wären. Wegen der methodischen Schwierigkeiten eines statistischen Nachweises des „gewollten Kindstods“ scheint mir die mentalitätsgeschichtlich orientierte Argumentation von Knodel und De Vos beachtenswert. Bezugnehmend auf demografische Studien zum Korea der 1970er Jahre, die einen Einfluss des Geschlechts der ersten drei Kinder auf die Planung weiterer Schwangerschaften belegten, führten diese Autoren für Vergleiche die hohe Säuglings- und Kleinkindsterblichkeit früherer Epochen ins Feld.88 Angesichts der großen Zahl früh verstorbener Kinder musste das Überleben der Nachkommen als sehr unsicher erscheinen und eine bewusste „Familienplanung“ aufgrund der Geschlechterzusammensetzung bereits geborener Kinder zu einem „Glücksspiel“ werden lassen. Die Überlebenschance von Kindern stieg zwar kontinuierlich an, wenn die kritischen Säuglings- und Kleinkindjahre heil überstanden waren, doch letztlich konnte kein Elternpaar sicher sein, dass das „bevorzugte“ Kind sie tatsächlich überleben würde. Die elterliche Entscheidung, einen Säugling etwa durch bewusste Nichtimpfung einem vermehrten Sterberisiko auszusetzen, wäre vor dem Hintergrund der Ungewissheit des Überlebens weiterer Kinder keinesfalls „ökonomisch“ zielführend gewesen. Einigermaßen plausibel wäre ein solches Verhalten lediglich bei kinderreichen Familien, bei denen mehrere Söhne bereits die sicheren älteren Altersstufen erreicht haben. Solche Überlegungen sind indessen nicht erst von Demografen des 20. Jahrhunderts angestellt worden: Schon 1838 nimmt der belgische Bevölkerungstheoretiker Adolphe Quetelet (1796–1874) Bezug auf die These eines französischen Kollegen, der das ungleiche Geschlechtsverhältnis im ersten Lebensjahr zugunsten der Knaben darauf zurückführte, „dass man nach der Erzielung von Kindern männlichen Geschlechts eine weitere Vermehrung der Familie zu verhüten sucht“89. Quetelet selbst äußerte sich allerdings skeptisch zu dieser Meinung, wenn auch „dieser moralische Zwang“ vereinzelt Einfluss auf die Familienplanung nehmen könnte. Diese damalige Einschätzung des Demografen Quetelet konnte Imhof hinsichtlich der geburtsrangspezifischen Sterblichkeit in Deutschland zwischen 1780 und 1899 rückwirkend bestätigen, denn in den fünf untersuchten Orten war die Sterblichkeit der als siebtes oder späteres Kind geborenen Unter-Einjährigen im Vergleich zu den älteren Geschwistern tatsächlich außergewöhnlich hoch.90 Doch während Imhof dafür das höhere Alter der Mutter 88 Knodel/De Vos, Preferences, 145–166. 89 Quetelet, Menschen, 40. 90 Imhof, Säuglingssterblichkeit, 377–378. Sylvia Schraut kam für die Kleinstadt Esslingen zu ähnlichen Ergebnissen. Dort lag das Verhältnis zwischen Kindern, die das erste Le-
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
135
und die damit verbundenen zunehmenden Risikoschwangerschaften verantwortlich macht, findet bei einem der Dörfer jener Übergang von einer „normalen“ zu einer „exzessiven“ Säuglingssterblichkeit bereits zwischen der vierten und der fünften Geburt statt. Er führt dieses Ergebnis weniger auf biologische Ursachen denn auf bewusste Vernachlässigung in der Pflege zurück, zumal dieses Dorf in einem katholischen Gebiet liegt, wo dem Tod eines Kindes durch die kulturelle Praktik des „Himmelns“ nachträglich Sinn gegeben wurde. Noch im Jahre 1884 warf ein Tiroler Arzt Eltern aus ärmeren Schichten vor, sie würden im Falle einer Erkrankung ihrer Kinder zu spät ärztliche Hilfe suchen. Er begründetet dieses Verhalten damit, dass im Falle des Versterbens des Kindes „[…] die Eltern durch das Bewusstsein getröstet [seien], dass sie nun ‚einen Engel im Himmel haben‘“91. Inwiefern die in den Sterbebüchern der Tauferer Ahrntaler Gemeinden für die beiden Jahrzehnte der 1860er und 1890er Jahre feststellbare Mehrsterblichkeit weiblicher Säuglinge zwischen dem 10. und 12. Lebensmonat allerdings tatsächlich durch die Tradition des „Himmelns“ mitverursacht worden sein kann, lässt sich nur durch zusätzliche und zeitaufwendige Berechungen der Geburtsränge und der Geburtsabstände klären, wie sie etwa mit der Studie von Jürgen Schlumbohm für das Kirchspiel Belm vorliegen. Dessen für den Zeitraum von 1771 bis 1858 berechneten Daten zur geschlechterspezifischen Sterbewahrscheinlichkeit lassen allerdings keinerlei Hinweise darauf finden, dass männliche Säuglinge und Kleinkinder eine umsichtigere Pflege erhalten hätten als weibliche.92 Ein eindeutiges Mortalitätsdifferential zwischen männlichen und weiblichen Babies hinsichtlich bestimmter Todesursachen kann somit nur für jene Einträge in den Sterbebüchern belegt werden, denen „endogene“ Ursachen zugrunde liegen: kongenitale Affektionen etwa oder Komplikationen bei der Geburt. Gemessen an heutigen medizinischen Standards war die Diagnostik der Todesursachen in den Sterbebüchern allerdings nur wenig ausdifferenziert. Die Einträge „Lebensschwäche“ und „Entkräftung“, hinter denen sich vielfach eine zu frühe Geburt verbergen, dominieren die Matrikenbücher. Jene Erkrankungen, die auf geschlechtsspezifische Unterschiede in der Embryonalentwicklung verweisen und zu den etwa bei Waldron beschriebenen Mortalitäts- und Morbiditätsdifferentialen zwischen männlichen und weiblichen Babies führen93, können also nicht präziser aufgeschlüsselt werden. Zwar finden sich auch unter Ottenthals Krankengeschichten Einträge, die das für neugeborene Mädchen beschriebene höhere Risiko für Störungen des bensjahr überlebten, und jenen, die im ersten Lebensjahr verstarben, für die achten bis zehnten Kinder mit 2,5 zu 1 leicht unterhalb des Mittels von 2,6 zu 1. Vgl. Schraut, Wandel, 150 (Tab. 69). 91 Sanitäts-Bericht 1886, 105. Mit dem Motiv der „Tröstung“ argumentiert auch Regina Schulte in ihrer Untersuchung zu bairischen Kindsmörderinnen. Schulte, Kindsmörderinnen, 134. Iris Ritzmann steht derartigen Deutungen des „Himmelns“ allerdings kritisch gegenüber. Vgl. Ritzmann, Sorgenkinder, 221 f. 92 Vgl. Schlumbohm, Lebensläufe, 159 und 154 (Tab. 3.16e). 93 Waldron, Krankheit, 162–164.
136
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Zentralnervensystems bestätigen, so etwa 1863 bei einem weiblichen Säugling aus dem Dorf Ahornach („neonata laborat spina bifida et sacco cutaneo in regione ossis sacri“94). Auch die Totenbücher der Gemeinden enthalten vereinzelt Hinweise auf biologisch bedingte Benachteiligungen, etwa im Falle des 1897 verstorbenen Säuglings Anton Innerhofer* aus Uttenheim, der die höhere Anfälligkeit bei neugeborenen Jungen für unausgereifte Lungen bei der Geburt bestätigt („Asphyxie mangelhafte Entfaltung der Lungen“95). Allerdings wäre es nicht legitim, diese wenigen relativ gut dokumentierten Einzelfälle als historisch und statistisch gesicherte Belege für das höhere Mortalitätsrisiko eines bestimmten Geschlechts für eine spezifische Erkrankung nehmen zu wollen. 3.1.4 Säuglinge als Patienten in den Krankenjournalen Franz v. Ottenthals und deren geschlechterspezifische Zusammensetzung in der Arztpraxis Eine geschlechterspezifische Auswertung der Historiae Morborum hinsichtlich der Anzahl der Säuglinge, die von Ottenthal behandelt wurden, bestätigt die allgemeine Feststellung des männlichen Überhangs im frühesten Lebensalter (vgl. Grafik 3.1.1a und 3.1.1b). Franz v. Ottenthal untersuchte im Zeitraum zwischen 1860 bis 1869 279 männliche und 223 weibliche Säuglinge (bei acht Säuglingen notierte er kein Geschlecht) und zwischen 1890 und 1899 435 männliche und 329 weibliche Unter-Einjährige.96 Haben wir mit dieser Relation also doch einen sicheren Hinweis gefunden, dass männliche Säuglinge eher zu einem Arzt getragen wurden als weibliche? Die Ausführungen zur Sterblichkeit haben allerdings gezeigt, dass das geschlechterspezifische Mortalitätsrisiko bei Unter-Einjährigen je nach Lebensmonat und spezifischer Todesursache variieren konnte. Eine Interpretation des Geschlechterverhältnisses bei der Patientenschaft Ottenthals muss daher das genaue Lebensalter der Säuglinge zur Zeit der Konsultation ebenso berücksichtigen wie die Frage, zu welchen Anteilen biologische Faktoren wie der festgestellte Knabenüberschuss bei den Geburten oder soziale Faktoren wie eine größere Sorge um den männlichen Nachwuchs an diesem Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern beteiligt waren. Sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Neugeborenen stellten die ersten drei Monate mit rund 40 Prozent aller Behandlungen jene Lebensphase innerhalb des ersten Lebensjahres dar, in der Eltern am häufigsten einen Arztbesuch für notwendig hielten (vgl. Tab. 3.1.3a und 3.1.3b). Von da an nahm bei beiden Geschlechtern die „Inanspruchnahme“ langsam, aber stetig ab. Zwischen dem 10. und dem 12. Lebensmonat fanden mit einem Anteil von lediglich 14 Prozent aller Konsultationen die wenigsten Behandlungen statt. Auffallend sind einerseits die insgesamt recht ausgewogenen Geschlechterverhältnisse für die einzelnen Lebensabschnitte, in denen der Säugling von 94 HM 806/1863, Eintrag vom 27.7.1863. 95 SLA, Sterbebuch Uttenheim 1897. 96 In diesem Jahrzehnt findet sich in der Datenbank kein Eintrag „unbekanntes Geschlecht“.
137
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
Tab. 3.1.3a: Anteil der Konsultationen nach Lebensvierteljahren und Geschlecht, 1860–1869
Konsultationen fanden statt im Alter von
(erste Lebenswoche)
0–3 Monate
4–6 Monate
7–9 Monate
10–12 Monate
männlich
(4,3 %)
38 %
28 %
20,5 %
13,5 %
weiblich
(3,5 %)
35,1 %
28 %
23,1 %
13,8 %
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869; eigene Berechnungen.
Tab. 3.1.3b: Anteil der Konsultationen nach Lebensvierteljahren und Geschlecht, 1890–1899
Konsultationen fanden statt im Alter von
(erste Lebenswoche)
0–3 Monate
4–6 Monate
7–9 Monate
10–12 Monate
männlich
(0,7 %)
34,5 %
28,2 %
23 %
14,3 %
weiblich
(0,9 %)
31,5 %
29,6 %
23,1 %
15,8 %
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899; eigene Berechnungen.
Ottenthal untersucht wurde, sowie die bei einem Vergleich der beiden Jahrzehnte nur geringfügigen Verschiebungen der Prozentanteile innerhalb der Lebensviertel selbst. Deutlich erkennbar, aber aufgrund der früheren Ausführungen zur neonatalen Übersterblichkeit der männlichen Neugeborenen wenig überraschend, ist der höhere Anteil an Konsultationen im frühesten Lebensalter innerhalb der Gruppe der männlichen Babies. Am interessantesten erscheint mir die merkliche Abnahme der Konsultationen in der ersten Lebenswoche bei beiden Geschlechtern zwischen den beiden untersuchten Zeitperioden: Behandelte Ottenthal 1860 bis 1869 immerhin rund vier Prozent aller Säuglinge in den ersten Lebenstagen, stellte dieser Anteil im Jahrzehnt von 1890 bis 1899 mit nicht einmal mehr einem Prozent eine geradezu vernachlässigbare Größe dar. Hat der Arzt vielleicht aufgrund seines nunmehr hohen Alters Kompetenzen im Bereich der unmittelbaren Nachversorgung Neugeborener an die Hebammen abgeben müssen? Im Juli 1866 notierte er in sein Journal, womöglich verstimmt über die „Anmaßung“ der Hebamme oder die vergeudete Zeit für die Anreise zum Haus der „frischgebackenen“ Wöchnerin: „neonato ab obstetrice ordinatur“97. Vielleicht stellte er aber gegen Ende seines Ärztelebens mit Befriedigung fest, dass aufgrund der seit den 1860er Jahren erfolgten Verbesserungen in der Hebammenausbildung seine „Dienste“ nun nicht mehr erforderlich wären,98 und er überließ das Feld bereitwillig seinen früheren 97 („…Neugeborenes, wurde von der Hebamme behandelt…“). HM 824/1866, Eintrag vom 8.7.1866. 98 Zur Hebammenausbildung in Tirol vgl. Hilber, die in diesem Beitrag allerdings nur die erste Phase der Professionalisierung von Mitte 18. bis Mitte 19. Jahrhundert beleuchtet. Hilber, Errichtung, 133–155.
138
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
„Konkurrentinnen“99 – zumindest in jenen Fällen, bei denen die Versorgung der Neugeborenen eine alltägliche Routine darstellte. Denn eine Analyse der medizinischen Eingriffe für die bis zu sieben Tage alten Säuglinge zeigt für die 1890er Jahre meist kleinchirurgisch/wundärztliche Eingriffe: das Durchtrennen des Zungenbändchens, die Behandlung von Blutergüssen, die während der Geburt durch den Druck auf den Schädel des Kindes entstanden, die Nachversorgung eines „umbilicus male descissus“100 oder bedrohliche Verstopfungen. Weniger akute Symptome wie fortwährendes Schreien, Saugverweigerungen oder leichte Durchfälle sind hingegen im Vergleich zu den 1860er Jahren so gut wie nicht mehr im Diagnosespektrum der gerade eine Lebenswoche alten Neugeborenen vertreten. Lassen sich aber nun in den Historiae Morborum bestimmte Krankheitsbilder herausfiltern, die etwa für männliche Säuglinge ein höheres Morbiditätsrisiko anzeigen als für weibliche, oder bei denen auffallend geringe Fallzahlen für ein Geschlecht nur mit der Verweigerung einer medizinischen Behandlung erklärt werden können? Für die Auswertung der geschlechterspezifischen Konsultationsgründe wurden nicht die einzelnen Einträge einer Krankengeschichte gezählt, sondern die ein Krankheitsbild umfassenden „Behandlungseinheiten“. Im Verlaufe eines Jahres können Säuglinge natürlich mehrmals wegen verschiedener Beschwerden in den Krankenjournalen aufscheinen. Nach dieser Klassifikation wurden in den 1860er Jahren bei männlichen Neugeborenen 400 und bei weiblichen 282 solcher Einheiten gezählt, und in den 1890er Jahren 595 bei Knaben und 429 bei Mädchen.101 Gastro-intestinale Störungen erweisen sich in beiden Untersuchungszeiträumen als Hauptursache für eine Behandlung in der Praxis Ottenthals (vgl. Tab. 3.1.4a und A.3.1.4b). Sowohl bei den weiblichen als auch bei den männlichen Säuglingen entfallen rund 40 Prozent aller Konsultationen auf Erkrankungen des Verdauungssystems. Gemäß der Einteilung von Oesterlen gehören allerdings auch sämtliche Beschwerden des Mund- und Rachenraumes zum Digestionsapparat, also auch Leiden wie aphthae oder diphtheritis. Bei den Ersteren handelt es sich um Hautreizungen der Mundschleimhaut, die durch trocknende Reste der Muttermilch bei mangelnder Reinigung des Schnullers oder des Mundes nach dem Stillen hervorgerufen werden. In der Praxis Ottenthals gehörte die Behandlung dieser Entzündungsherde zu den häufigeren therapeutischen Maßnahmen bei Säuglingen. In diese Rubrik fallen weiters 99 Taddei geht in ihrer Biographie zu Ottenthal kurz auf seine Tätigkeitsfelder als ausgebildeter Geburtshelfer sowie auf seine Aufsichtspflicht über Hebammen ein, eine genauere Analyse sich daraus möglicherweise ergebender Konfliktfelder liegt allerdings nicht im Fokus ihrer Arbeit. Vgl. Taddei, Franz von Ottenthal, 143 u. 168 f. Für diesen Themenbereich ist ein Beitrag von Marina Hilber ergiebiger. Vgl. Hilber, Landarzt, 141–157. 100 („…ein schlecht abgetrennter Nabel…“). HM 1726/1894, Eintrag vom 24.12.1894. 101 Ein spezifisches Problem für eine statistische Auswertung der Ottenthalschen Krankenjournale bleiben allerdings Mehrfachdiagnosen: Welches Symptom ist etwa bei Philomena Bacher* aus St. Johann auszuwählen, bei der Ottenthal am 4.1.1863 notiert: „6 sept. videtur gastricismus crusta lactea levis convulsionibus“, und die zwei Monate später als an Halsbräune verstorben im entsprechenden Sterbebuch aufscheint?
139
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
Tab. 3.1.4a: Veränderung der Konsultationsgründe bei Säuglingen, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899 Konsultationsgrund
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der Knaben 1860–1869
1890–1899
1860–1869
1890–1899
14,3 2,8 6,5 0,2 11,2 40 2 5,8 0 6
1,2 1,8 5,4 0 20,2 44 2,3 6,2 0,2 9,1
19,1 2,1 4,6 0 11,3 39 0,4 1,8 0,4 7,1
1,4 1,9 4,9 0,2 18,2 51,8 0,7 0,2 0 8,6
0,2 11
0,8 8,1
0,7 13,1
1,4 10
0
0,7
0,4
0,7
100 (400)
100 (595)
100 (282)
100 (429)
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total (Zahlen absolut)
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der Mädchen
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen.
Hernien und Probasen der Leiste oder des Nabels, bei denen männliche Säuglinge eine auffallend höhere Konsultationshäufigkeit aufweisen: so wurden 1860 bis 1869 33 Behandlungen bei den Knaben gezählt und 4 bei den Mädchen, 1890 bis 1899 wiederum 23 bei den Knaben und 8 bei den Mädchen. Innerhalb dieser Rubrik stellen dennoch eindeutig im Magen-Darmtrakt lokalisierbare Beschwerden und Symptome wie Durchfall, Erbrechen oder Bauchund Magenschmerzen den Hauptteil der Konsultationsgründe in der jüngsten Patientengruppe dar. In der Reihung der häufigsten Konsultationsgründe folgt die Rubrik „chronische Krankheiten“ an zweiter Stelle. Allerdings prägen in dieser Altersgruppe weniger Krebs oder tuberkulöse Erkrankungen die chronischen Beschwerdebilder als vielmehr rachitische Krankheitsformen. Die Rachitis oder auch Englische Krankheit war im 19. Jahrhundert eine häufig anzutreffende Knochenerkrankung, von der einzelne Ärzte annahmen, „dass kaum 5 % der Kinder im 1. und 2. Jahr unberührt an ihr vorbeikommen“102. [T]iment rachitidem, heißt es bei Franz v. Ottenthal über die Sorge der Eltern von Maria Auer*, die beobachteten Beschwerden ihres Töchterchens könnten mit dieser
102 Biedert, Lehrbuch, 103.
140
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
gefürchteten Erkrankung in Zusammenhang stehen.103 In Tabelle 3.1.4a überraschen daher nicht so sehr die hohen Fallzahlen dieser Rubrik, sondern deren Geschlechterverhältnis und Entwicklung im Zeitvergleich: In den Jahren 1860 bis 1869 war nämlich erstens der Anteil innerhalb der Gruppe der weiblichen Säuglinge mit 19,1 zu 14,3 Prozent ungleich höher, und zweitens war in den 1890er Jahren diese spezifische Mangelerkrankung aus dem Diagnosespektrum Ottenthals fast völlig verschwunden. Diese positive Entwicklung könnte mit einer besseren Aufklärung der Mütter über die eigentlichen Ursachen der Rachitis durch den Arzt erklärt werden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass eine durch den „verbesserte[n] Unterricht und die wiederholte Belehrung […] durch die Amtsärzte“104 sachkundigere neue Hebammengeneration das Wissen über die Wichtigkeit von frischer Luft und reichlich Sonne zur Verhütung der Rachitis weitergegeben hat. Den dritten Rang bei den Konsultationsgründen nehmen im ersten Vergleichsjahrzehnt bei beiden Geschlechtern mit über zehn Prozent die Erkrankungen der Atmungsorgane ein, worunter auf Grundlage der Oesterlenschen Systematik hier Lungenentzündung, Keuchhusten und andere Infekte der Atemwegsorgane gerechnet wurden. Der massive Anstieg auf ca. 20 Prozent im zweiten untersuchten Jahrzehnt ist bedeutend und ließe eine Häufung schwerer Keuchhustenepidemien oder kompliziert verlaufender Lungenentzündungen vermuten. Allerdings haben sich in absoluten Zahlen die Symptomzuweisungen bei Keuchhusten nur geringfügig (17 Fälle in den 1890er zu 10 Fällen in den 1860er Jahren), bei Lungenentzündung (je 2 Fälle) gar nicht erhöht. Leider stoßen derartige „Zahlenspiele“ ebenso wie Versuche einer geschlechterspezifischen Ausdifferenzierung in die Anteile von Keuchhusten, Lungenentzündung oder sonstigen infektiösen Erkrankungen der Atemwege wegen der Eigenheiten der Ottenthalschen Journalführung rasch an die Grenzen ihrer Durchführbarkeit. Ein Beweis für eine größere „Neigung des weiblichen Geschlechts“ etwa zu Keuchhusten, wie sie die Schweizer Medizinhistorikerin Iris Ritzmann oder Ärzte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts105 anführen, lässt sich für die Praxis Ottenthals rein auf Grundlage der Krankengeschichten nur schwer erbringen. In den beiden Jahrzehnten wurde laut Datenbankabfrage bei achtzehn männlichen und bei neun weiblichen Unter-Einjährigen die Diagnose pertussis oder tussis convulsiva gestellt, allerdings gibt eine solche Abfrage keine Aufschlüsse darüber, ob sich hinter Symptomen wie tussis intensa nicht ebenfalls Fälle von Keuchhusten verbergen. Es ist nicht auszuschließen, dass in einigen Fällen Keuchhusten vorlag, die von Ottenthal je103 [„2 mensium laborat diarrhoea hinc inde multum clamat timent rachitidem“] („2 Monate leidet an Durchfall, daher schreit es viel. Sie befürchten Rachitis.“). HM 506/1867, Eintrag vom 2.4.1867. 104 Presl, Säuglingssterblichkeit, 655. 105 Vgl. Ritzmann, Kinderkrankheiten, 310, Biedert, Lehrbuch, 292 oder Prinzing, Handbuch, 387. In den österreichischen Kronländern kamen laut Presl in den Jahren 1873 bis 1887 auf 103 Keuchhusten-Sterbefälle bei Mädchen 100 Sterbefälle bei den Knaben. Presl, Keuchhusten, 119.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
141
Abb. 3.1.1: „The Doctor“ Quelle: Postkarte nach einem Gemälde von Luke Fildes (1843–1927), 1891 (Repro, Privatbesitz). Original: Tate Gallery, London
doch nicht mit den diagnostisch eindeutigen Fachtermini benannt wurden, beispielsweise in der Krankengeschichte des Joseph Aschbacher*. Aufgrund einer unspezifischen Symptombeschreibung musste bei Fällen wie diesem eine allgemeine Erkrankung der Atemwegsorgane angenommen werden, obwohl Referenzquellen mitunter eine eindeutige Diagnose nennen. Denn dieser Knabe aus Luttach kam 1865 dreimal mit starken Hustenbeschwerden, Fieber und beschleunigter Atmung in die Praxis und erhielt bei seiner letzten Konsultation am 6. März den Vermerk „iterum magis tussit ad vomitum usque.“106 Im Sterbebuch dieses Jahres wird dieses Kind allerdings als am 10. März an „Keuchhusten und Vergicht “ verstorben geführt.107 Die in Tabelle 3.1.4a ermittelte geschlechterspezifische Krankheitsanfälligkeit bei Infektionskrankheiten beruht daher oftmals auf uneindeutigen Diagnosen. Die prozentualen Anteile jener Konsultationsgründe, die das Nervensystem und die Geschlechtsorgane betreffen, sind bei den männlichen Säuglingen in beiden Zeiträumen höher als bei den weiblichen. Die „Erkrankungen des Nervensystems“, denen überwiegend nicht näher spezifizierte Krampfanfälle – in der lateinischen Schreibweise Ottenthals also die Symptome convellitur und
106 („hustet wieder vermehrt bis zum Erbrechen“). HM 209/1865, Einträge vom 5.2.1865, 5.3.1865 und 6.3.1865. 107 SB Luttach 1865, Eintrag vom 10.3.1865.
142
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
convulsiones – zugrunde liegen,108 lassen nur wenig Interpretationsspielraum für geschlechterspezifische Muster. Hingegen ermöglichen die Historiae Morborum hinsichtlich der Geschlechtsorgane eine eindeutige Aussage. Die insgesamt 28 Behandlungen von Knaben gehen fast allesamt auf das Konto eines „Wasserbruchs“ (hydrocele), einer serösen Flüssigkeitsansammlung im Hodensack, die nirgendwohin abfließen kann.109 Der auffallend hohe Geschlechtsunterschied bei Konsultationen, die die Geschlechtsorgane betreffen, geht also auf biologische und nicht auf umweltbedingte Faktoren zurück. Im Vergleich zur Häufigkeit der von ihnen verursachten Sterbefälle spielen die „akuten Krankheiten“ (Masern, Scharlach, Pocken, Friesel, Typhoide und Wechselfieber) in der Praxis Ottenthals nur eine marginale Rolle. In den 1890er Jahren liegen die Infektionskrankheiten mit 1,8 Prozent an allen zugewiesenen Konsultationsgründen bei den männlichen Säuglingen sogar noch unter jenen Behandlungen, denen Beschwerden im Urogenitaltrakt zugrunde liegen (2,3 Prozent). Im gesamten Jahrzehnt zwischen 1860 und 1869 werden von Ottenthal nur jeweils zwei Masern- und Scharlachfälle sowie je ein Fall von Friesel und Varizellen dezidiert mit der lateinischen Krankheitsbezeichnung benannt (morbilli, scarlatina, miliaria und varicellae). Sämtliche neun Behandlungen wegen Pocken sind hingegen auf die verheerende Epidemie von 1866/67 zurückzuführen. Eltern der von dieser Infektionskrankheit betroffenen Säuglinge scheinen angesichts der geringen therapeutischen Möglichkeiten der damaligen Medizin die Inanspruchnahme eines akademischen Arztes als nicht nützlich eingeschätzt zu haben, oder aber diese Erkrankungsfälle, die von sporadischen Fällen oftmals zu ausgedehnten Epidemien heranwuchsen, fielen in das Aufgabengebiet des bestellten Gemeindearztes Dr. Daimer, der die betroffenen Armen in derartigen Fällen kostenlos zu behandeln hatte. Eine abschließende Beurteilung geschlechterspezifischer Benachteiligungen auf Grundlage der von Ottenthal notierten Konsultationsgründe erscheint schwierig: Der männliche Überhang bei Krankheitsbildern wie hydrocele ist natürlich eindeutig biologisch determiniert. Die von Ottenthal in absoluten Zahlen häufiger bei Knaben verwendete Symptombeschreibung convelli und convulsiones könnte analog zur ermittelten männlichen Übersterblichkeit in den ersten Lebensmonaten auf genetisch-hormonell bedingte Benachteiligungen im Immunsystem der Knaben verweisen. Aufgrund ihrer geringeren Widerstandskräfte gingen Infekte bei ihnen häufiger in das lebensbedrohliche Stadium der „krampfhaften Zuckungen“ über. Der ermittelte Unterschied im Auftreten der Diagnose Rachitis zuungunsten der Mädchen deutet wiederum 108 Auf den Umstand, dass die überwiegende Mehrzahl der Krämpfe im Säuglingsalter eigentlich das finale Stadium von Darmerkrankungen darstellt, wurde schon hingewiesen. Die daraus resultierende Schwierigkeit der Zuordnung in Todesursachenstatistiken hatten schon Ärzte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erkannt. Vgl. etwa Freudenberg, Ursachen, 223. 109 Die dadurch ausgelöste Anschwellung bildet sich später meist von selbst zurück, in der zeitgenössischen Kinderheilkunde wird dem Arzt aber in schweren Fällen zur Punktion geraten. Vgl. Biedert, Lehrbuch, 525–527.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
143
auf ein erhöhtes Risiko für Mädchen hin, vor dem Hintergrund sozioökonomischer Strukturen und kultureller Traditionen im Tauferer Ahrntal (Ernährung, Pflege) eher rachitische Symptome zu entwickeln. Andere Krankheitsgruppen wie die Erkrankungen der Harnorgane oder Atemwegserkrankungen weisen hingegen prozentual annähernd gleiche Anteile an den gesamten Konsultationsgründen bei beiden Geschlechtern auf. Für Reinhard Spree verweisen die für Preußen um 1870 ermittelten Differentiale in der Säuglingssterblichkeit „auf diejenigen Strukturen sozialer Ungleichheit, durch die die Pflege und der Aufwuchs von Säuglingen und Kleinkindern geprägt werden“110. Hohe Anteile an Erkrankungen des Verdauungsapparates, Mangelerscheinungen sowie Krankheiten, die in direktem Zusammenhang mit Ernährungsgewohnheiten stehen, rücken folglich die Stillgewohnheiten in den Fokus der Betrachtung. Zu Ende dieses Abschnittes soll daher untersucht werden, ob diejenigen Einträge Franz v. Ottenthals in den Historiae Morborum, welche die im Tauferer Ahrntal üblichen Ernährungsweisen und Pflegegewohnheiten von Säuglingen thematisieren, Rückschlüsse auf geschlechtsspezifische Bevorzugungen oder Benachteiligungen erlauben. 3.1.5 Säuglingsernährung und der „kleine Unterschied“ Die Dauer der Stillphase und der Zeitpunkt des Wechsels zur künstlichen Ernährung gelten als entscheidende Faktoren für die Höhe der Säuglingssterblichkeit. Muttermilch versorgte den Säugling nicht nur mit wichtigen Immunstoffen, sondern schützte ihn angesichts einer im 19. Jahrhundert häufig minderen Wasserqualität und angesichts eines hygienisch bedenklichen Zustandes des zur Nahrungszubereitung und -konservierung verwendeten Geschirrs vor Krankheiten, die durch verunreinigtes Wasser ausgelöst wurden. Die als Ersatznahrung eingesetzte Tiermilch war vielfach selbst Auslöser von Krankheiten, da sie mit Wasser verdünnt wurde oder durch Verschmutzungen während des Melkens zum Keimträger wurde. Nicht selten gaben auch tuberkulöse Kühe über die Kuhmilch diese Erkrankung an den Säugling weiter. Da die für die Städte bestimmte Kuhmilch durch weite Transportwege oder durch zu lange Lagerung hauptsächlich in den heißen Sommermonaten schnell verdarb, hatten die Säuglinge auf dem Land im Vergleich zu jenen in den Städten bis zur Assanierung der urbanen Zentren und dem Einsatz effizienter Konservierungsverfahren einen deutlichen Überlebensvorteil. Gastro-intestinale Infekte waren bis ins späte 19. Jahrhundert hinein für einen Großteil der Säuglingssterbefälle in den Metropolen verantwortlich.111 Wie die Berechnungen zur Mortalität und zur Morbidität im Tauferer Ahrntal zeigen, konnten diese
110 Spree, Ungleichheit, 50. 111 So war nach Assanierungen der traditionelle Sommergipfel in der Säuglingssterblichkeit in Berlin, Hamburg, München, Dresden und Leipzig im Jahr 1926–28 nahezu verschwunden. Vgl. Vögele, Sozialgeschichte, 315.
144
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Infekte in ländlichen Regionen ebenfalls beachtliche Anteile innerhalb des gesamten Todesursachenspektrums einnehmen. Die historische Demografie erklärt diese regional unterschiedlich hohen Mortalitätsraten von Säuglingen neben spezifischen lokalen Gegebenheiten und Mentalitätsunterschieden daher in erster Linie mit regional unterschiedlich gehandhabten Ernährungsgewohnheiten.112 In einzelnen Gemeinden Norddeutschlands scheint eine durchschnittliche Stilldauer von 14 Monaten über Jahrhunderte hinweg üblich gewesen zu sein,113 womit dortige Babies doppelt so lange an der Mutterbrust hingen wie die meisten ihrer Altersgenossen in süddeutschen Dörfern.114 „Dem Kinde die Brust zu geben, gilt beinahe als verächtlich“, brandmarkte ein Zeitgenosse die anscheinend weit verbreitete „Stillunlust“ vieler süddeutscher Frauen, um gleich im nächsten Absatz auf die bedeutende Säuglingssterblichkeit in Bayern oder Württemberg als Ergebnis dieser Einstellung hinzuweisen.115 Wie die Ausführungen zur Säuglingssterblichkeit zu Beginn dieses Kapitels gezeigt haben, korrelierte die Dauer der Stillzeit tatsächlich mit der Höhe der Mortalität im ersten Lebensjahr. Imhof hat allerdings am Beispiel von sieben Bezirken in Bayern um 1900 herausgearbeitet, dass selbst in zusammenhängenden Staatsgebieten solche Nahrungsgebräuche stark variieren konnten. Regionen wie Niederbayern, wo 73,4 Prozent der Säuglinge nicht gestillt wurden, wiesen auch die höchste Sterblichkeit in dieser Altersgruppe auf, wohingegen Gebiete, in denen Säuglinge gestillt wurden – etwa Oberfranken mit 19,5 Prozent nicht gestillten Babies – die niedrigste Mortalität zeigten.116 Doch auch die sozialen Schichten zeigten kein einheitliches Verhalten hinsichtlich der Stillzeiten und der Dauer. Weigl führt am Beispiel Wiens um 1900 aus, dass lange Stillzeiten für Arbeiterinnen angesichts fehlender Mutterschutzbestimmungen und Stillmöglichkeiten in den Fabriken bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nur schwer möglich waren.117 Auch Prinzing betonte am Beispiel Berlin den Zusammenhang zwischen frühem Abstillen und sozialer Schichtzugehörigkeit, denn nur Mütter aus Bevölkerungskreisen, die nicht „dem Erwerb außer dem Hause“ nachgehen müssten, könnten ihre Babies fast das gesamte erste Lebensjahr selbst stillen.118 Der Anteil früh abgestillter Säuglinge fiel in städtischen Unterschichten daher außerordentlich hoch aus, und wenn das niedrige Einkommen nicht den Kauf hochwertiger Surrogate und die Anmietung kühler und gut durchlüfteter Wohnungen erlaubte, führte dies schon im frühesten Lebensalter zu einer „sozialen Ungleichheit vor dem Tod“. In Düsseldorf lag etwa um 1900 die Sterblichkeit künstlich ernährter 112 Vgl. Imhof, Säuglingssterblichkeit, 347–349; Vögele, Sozialgeschichte, 130–161; Spree, Ungleichheit, 66–77; Weigl, Wandel [2000a], 204–229; Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 94 f. 113 Vgl. Schlumbohm, Lebensläufe, 186–188, besonders Tab. 3.23. 114 Vgl. dazu die Gegenüberstellung bei Medick, Weben, 644 (Tab. A.4.18). 115 Westergaard, Lehre, 168. 116 Imhof, Säuglingssterblichkeit, 347 f. 117 Vgl. Weigl, Wandel [2000a], 216–219. 118 Prinzing, Handbuch, 395.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
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Säuglinge aus ärmeren Schichten bis zu 20 Prozentpunkte über jener von Säuglingen aus höheren Einkommensschichten, die ebenfalls mit künstlicher Ernährung großgezogen wurden.119 Andererseits konnte ausgiebiges Stillen soziale Mortalitätsunterschiede wiederum nivellieren: gestillte Kinder aus den sozial niederen Schichten der Regierungsbezirke Düsseldorf und Hannover hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wesentlich höhere Überlebenschance als Kinder wohlhabender Familien, die nicht gestillt wurden.120 Dass ausgeprägte Stilldifferentiale nicht nur bei Frauen aus verschiedenen (groß-) städtischen Schichten auftreten konnten, belegt Hans Medick in seiner mikrogeschichtlichen Studie zum württembergischen Laichingen. Dort lag die Sterberate aller zwischen 1658 und 1884 lebendgeborenen unter-einjährigen Tagelöhnerinnenkinder bei 33,5 Prozent, wohingegen die Sterblichkeit von Säuglingen aus der sozialen Gruppe der Wirte 43,9 Prozent erreichte.121 Frauen aus dem „Gastgewerbe“ stillten ihre Kinder nur halb so lange wie ihre ärmeren Geschlechtsgenossinnen und griffen auch früher zu Ersatznahrungsmitteln wie dem Mehlbrei, dem schon zeitgenössische Ärzte dieser Region den Beinamen „Mordbrei“ gegeben hatten. Ärzte bemühten sich daher in aufwendigen Kampagnen, die Mütter von den Vorteilen des langen Stillens zu überzeugen, indem sie immer wieder auf die größere Überlebenschance gestillter Säuglinge hinwiesen.122 Dem Großteil der Mütter werden die Auswirkungen des Selbststillens auf die Widerstandsfähigkeit ihrer Säuglinge wohl auch ohne ärztliche Aufklärung rein durch Erfahrung und aufmerksames Beobachten nicht entgangen sein. Lässt sich aber nun das ermittelte Ergebnis im Tauferer Ahrntal, dass einerseits innerhalb der Gruppe der weiblichen Säuglinge bedeutend mehr Sterbefälle im letzten Lebensviertel auftraten als innerhalb der Gruppe der männlichen Säuglinge, andererseits mehr weibliche Säuglinge zwischen dem zehnten und zwölften Lebensmonat als Patienten Ottenthals aufschienen, dahingehend deuten, dass Mütter ihre männlichen Neugeborenen länger stillten und umsorgten, damit sich diese schon über die Muttermilch eine bessere Konstitution „antrinken“ konnten? In anderen Kulturen scheint längeres Stillen von männlichen Kindern durchaus praktiziert worden zu sein – Knodel und De Vos zitieren eine Untersuchung zur indigenen Bevölkerung Guatemalas aus dem Jahre 1963123, und auch Verena Pawlowsky mutmaßt, dass die in der Wiener Findelansalt für 1799 nachweisbare Bevorzugung von Buben bei der Abgabe an stillfähige Pflegemütter von den Anstaltsleitern bewusst geschah, um dem bekannten größeren Sterberisiko von männlichen Säuglingen entge119 120 121 122 123
Spree, Ungleichheit, 68. Vgl. Vögele, Sozialgeschichte, 158. Vgl. Medick, Weben, 363–377, hier 368. Zu dieser Thematik vgl. Stöckel, Säuglingsfürsorge, 324 f. Knodel/De Vos, Preferences, 154. In seiner 1988 publizierten Studie zu ausgewählten deutschen Dörfern im 18. und 19. Jahrhundert fand Knodel hingegen keine Hinweise auf eine geschlechterspezifische Bevorzugung in der frühen Kindheit. Vgl. Knodel, Demographic behaviour, 77–79, 542 u. 549.
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genzuwirken.124 Inwieweit können aus den Aufzeichnungen Ottenthals Rückschlüsse auf geschlechterspezifische Ernährungsgewohnheiten bei der Versorgung von Säuglingen gezogen werden? 3.1.6 „…wenn das Säugegeschäft nicht sehr günstig ausfällt“125 Franz v. Ottenthal machte sich in seinen Praxisjournalen des öfteren Anmerkungen zur Ernährungsweise der von ihm untersuchten Säuglinge, um über deren Zuwachs oder Schwinden an „Lebenskraft“ unterrichtet zu sein. Während ein Teil dieser meist kurz gehaltenen Notizen die äußerliche Konstitution des Säuglings beschreibt (bene pasta/us esse, male pasta/us esse oder optime pasta/ us esse), führt ein weiterer Teil näher aus, ob die zugeführte Nahrung nach Dafürhalten des Arztes in Quantität und Qualität ausreichend war (nutritio sufficiens, nutritio modica, victus incongruens). Einige Angaben in den Historiae Morborum erlauben Rückschlüsse auf den Zeitpunkt des Abstillens. Solche Hinweise zum Stillverhalten und zur Säuglingsernährung lassen Ottenthal als Arzt erscheinen, der bestens mit den zeitgenössischen Debatten um künstliche oder natürliche Ernährung von Säuglingen vertraut war. Ottenthal wusste sicherlich aus der eigenen alltäglichen Praxis, dass auch in seinem „Physikatsdistrikt“ Infekte der Verdauungsorgane für rund 60 bis 70 Prozent aller Todesfälle im Säuglingsalter verantwortlich waren.126 Vor diesem Hintergrund wird ihm die enorme Bedeutung der Übergangsphase vom Stillen zur festeren Nahrung für das weitere Überleben des Säuglings bekannt gewesen sein, zumal in den damals publizierten einschlägigen Sanitätsstatistiken der sprunghafte Anstieg der Säuglingssterbeziffern aufgrund der Todesursache „Einheimischer Brechdurchfall der Kinder“ beim Übertritt vom ersten Lebensvierteljahr in den 3. bis 6. Lebensmonat von 13,7 pro 100 Lebendgeborenen auf 26,9 belegt schien.127 Nur über die Muttermilch würde der Säugling ausreichend mit Antikörpern und weiteren Substanzen versorgt, die die Immunabwehr stärkten und seine Anfälligkeit gegenüber Infekten stark minderten.128 Dementsprechend aufmerksam reagierte Franz v. Ottenthal, wenn sein junger Patient oder seine junge Patientin durch einen frühen Tod der Mutter nicht mehr von dieser gestillt werden konnte, wie ein Journaleintrag aus dem Jahre 1893 zeigt:
124 Pawlowsky, Mutter, 192. 125 Köhlau, Beiträge, 19. 126 Biedert, Lehrbuch, 170. Laut den Berechnungen von Jörg Vögele stellte um 1877 für die Unter-Einjährigen die Gruppe der Verdauungskrankheiten mit 1.717,1 pro 10.000 Lebende den größten Anteil an allen Todesursachen in Preußen und den deutschen Großstädten. Vgl. Vögele, Sozialgeschichte, 118 (Tab. 2.12). 127 Die Zahlen beziehen sich auf Österreich im Zeitraum 1895–1899. Presl, Säuglingssterblichkeit, 664. 128 Vgl. Waldron, Krankheit, 167.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
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„pallidus macilentus puer, cujus mater obiit“ stellte er besorgt der eigentlichen Diagnose (acidum primarum viarum c. alvo molli fluida) hintan.129 Leider hält der ansonsten akribisch notierende Ottenthal nicht an der kontinuierlichen Aufzeichnung solcher Hinweise fest, so dass sich die im Tauferer Ahrntal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblichen Stillgewohnheiten einer quantitativen Analyse entziehen. Auch die hier vorrangig interessierende Frage, ob das Geschlecht des Säuglings die Mutter bei ihrer Entscheidung zwischen einer längeren Stillperiode oder im Gegenteil einer bewussten Vernachlässigung durch frühes Abstillen beeinflusst haben könnte, kann durch die unsystematische Wertung Ottenthals, wann er die Nahrungsart des Säuglings für niederschreibenswert hielt, nicht beantwortet werden. Allerdings erkannte Ottenthal bestimmte Krankheitsanzeichen als untrügliche Signale für Ernährungsfehler, so etwa beim sechs Monate alten Vinzenz Nöckler*, der am 23. Mai 1894 mit den Symptomen saepe diarrhoea, abdomen expansum und pallor im Praxisjournal aufscheint und von Ottenthal als puer male nutritus eingeschätzt wird.130 Die für die Jahrzehnte der 1860er und 1890er Jahre insgesamt 24 Nennungen zur Abstillung (delactata/us) in den Historiae Morborum legen nahe, dass im Tauferer Ahrntal ein Großteil der Säuglinge üblicherweise mit sechs Monaten abgestillt war, auch wenn sich Extreme für eine recht frühe und eine recht späte Beendigung der Stillperiode finden lassen. Bei einem elfmonatigen Knaben etwa notierte Ottenthal, er sei ex sept. delactatus131, andererseits erfährt man von Maria Auer*: „14 sept. laborat delactata doloribus abdominis flatubus et bono adpet. depascitur“132. Diese – allerdings nur grob geschätzte – Stilldauer bewegte sich somit in etwa zwischen jenen Durchschnittswerten des 17. bis 19. Jahrhunderts, die Hans Medick für ausgewählte Orte in Bayern und Württemberg ermittelt hat.133 Es ist anzunehmen, dass sich geographisch und kulturell benachbarten Regionen wie (Süd-)Bayern und Tirol in dieser Hinsicht nicht allzu sehr unterschieden haben, auch wenn sich Franz v. Ottenthal zu einem derart hartem Urteil wie jenem seines bayrischen Kollegen, der die „Verweigerung der Mutterbrust“ als „bewußte Tötungsversuche“134 dramatisierte, vermutlich nicht hinreißen hätte lassen. Für Wien hatte eine Befragung der Fürsorgestelle im 16. Bezirk jedenfalls ergeben, dass je nach sozialer Schicht rund 20 bis 50 Prozent aller zwischen 1921 und 1923 in diese Einrichtung gebrachten Säuglinge im zweiten Lebenshalbjahr bereits abgestillt wa-
129 („ein blasser abgemagerter Knabe, dessen Mutter gestorben ist…Aufstoßen mit dünnflüssigem Stuhlgang“). HM 1691/1893, Eintrag vom 20.9.1893. 130 („oft Durchfall aufgeblähter Bauch Blässe“), („schlecht genährter Bub“). HM 342/1894, Eintrag vom 23.5.1894. 131 („…seit Wochen abgestillt…“). HM 383/1864, Eintrag vom 15.12.1864. 132 („14 Wochen, abgestillt, leidet an Bauchschmerzen, Blähungen und guter Appetit, abgezehrt“). HM 1271/1863, Eintrag vom 15.12.1863. 133 Vgl. Medick, Weben, 644 (Tab. A.4.18). 134 Burgdörfer, Geburtenhäufigkeit, 89.
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ren.135 Auch wenn nicht von einer „gesamtösterreichischen“ Mentalität hinsichtlich Stillpraxis und -dauer auszugehen ist, und sich die Situation in einer ländlichen Region wie dem Tauferer Ahrntal nur schlecht mit jener in einer Großstadt vergleichen lässt, können gewisse gemeinsame Muster dennoch nicht geleugnet werden. Leider ist in den Praxisjournalen nur bei einem Bruchteil der behandelten Säuglinge die tatsächlich ausgeübte Stillpraxis der Mütter dermaßen gut dokumentiert wie in jener Krankengeschichte mit der Laufnummer 687/1892 (der sieben Monate alte Säugling litt seit drei Wochen an Erbrechen und Durchfall136): Hier fügte Ottenthal in Klammer hinzu, dass die Beschwerden septimana post delactationem eingesetzt hätten. Aus diesen wenigen und knappen Skizzen wird zumindest Ottenthals Einstellung zur künstlichen Ernährung und zu einer seiner Meinung nach angemessenen Stillzeit deutlich. So erschien ihm ein sechswöchiger Säugling jam delactata137, und für die festgestellte Rachitis eines sechs Monate alten Babies fand er durch den Zusatz praemature delactata138 für sich eine nachträgliche Erklärung. Bis auf eine Ausnahme befanden sich auch sämtliche acht Säuglinge, denen Ottenthal in seinen Journalen der 1860er und 1890er Jahren explizit einen Mangel an Muttermilch konstatierte (lacte materno egens/carens; absque lacte materno despascitur), und die als Diagnose eine Form von Mangelerkrankung erhielten, noch in den ersten drei Lebensmonaten. 1869 wurde beim vierwöchigen Thomas Oberhollenzer* der Diagnose ex 9 diebus vomitu laborat et diarrhoea die Bemerkung in nutritione arteficiali vorangestellt.139 Insgesamt ergibt sich das Bild eines Arztes, der, wie in den zeitgenössischen ärztlichen Debatten üblich, Fehler in der Kinderpflege und falsche Gewohnheiten in der Säuglingsernährung für einen großen Teil der Darmerkrankungen und der abgezehrten Körper seiner jüngsten Patienten und Patientinnen verantwortlich machte. „[V]omuit – Speckbröckel darunter“ notierte er etwa neben die Krankengeschichte des an Durchfall und Erbrechen leidenden Joseph Issinger* (7 Monate), so als hätte er seine Vermutung des elterlichen Ernährungsfehlers im Nachhinein bestätigt sehen wollen.140 Abgesehen von derartigen, äußerst knapp gehaltenen Notizen sind zwar bis dato keine längeren Kommentare oder Ausführungen zu diesem Thema von Ottenthal bekannt, doch dürfte er den Einschätzungen jenes Tiroler Kollegen zugestimmt haben, der 1886 aus der Perspektive eines Arztes meinte: „Die natürliche Ernährung der Kinder an der Mutterbrust wird auch in diesem Gebirgslande immer seltener, einestheils wegen ungenügender Milchsecretion der Brustdrüsen, andererseits weil die künstliche
135 Weigl, Wandel [2000a], 219. Weigl weist allerdings darauf hin, dass in den Nachkriegsjahren die Zahl der brustgestillten Kinder wegen der Milchknappheit generell höher lag. 136 HM 687/1892, Eintrag vom 25.3.1892. 137 HM 77/1866, Eintrag vom 6.1.1866. 138 HM 1081/1862, Eintrag vom 12.10.1862. 139 HM 338/1869, Eintrag vom 26.2.1869. 140 HM 1089/1895, Eintrag vom 6.10.1895.
3.1 Ein ungleicher Start ins Leben?
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Ernährung angeblich bequemer und wegen der Hilfsmittel mehr beliebt ist, vielfach von den Hebammen den jungen Müttern aufgeschwatzt wird.“141 Direkte Hinweise darauf, dass Eltern einen Säugling aufgrund seines Geschlechts vernachlässigt hätten, etwa indem sie ihn frühzeitig abstillten, finden sich nicht. Zwar hieß es bei einem drei Viertel Jahre alten Mädchen von „kachektischem“ Aussehen, es sei a matre justo minus curiosa neglecta142, doch lässt sich aus diesem Fall keine verallgemeinerbare geschlechterspezifische Bevorzugung von Buben ableiten. Denn in einem anderen Jahr stand ein ebenfalls dreivierteljähriger Knabe in Behandlung, der an atrophia ex negligentia143 litt. Eine bewusste Vernachlässigung könnte allerdings zum Vorschein gekommen sein, wenn ein minder angesehenes Geschlecht und Faktoren wie Illegitimität, geringer sozialer Status der Mutter und Weigerung des Kindsvaters zu einer nachträglichen Legitimierung zusammentrafen. Immerhin waren die geschlechterspezifischen Mortalitätsunterschiede bei unehelichen Säuglingen weniger stark ausgeprägt als bei ehelich Geborenen, was biologische Ursachen als mortalitätssteigende Risikofaktoren fraglich erscheinen lässt.144 Friedrich Presl wies etwa für Österreich kurz vor der Jahrhundertwende die Umkehrung des geschlechterspezifischen Sterblichkeitsverhältnisses bei unehelichen und ehelichen Unter-Einjährigen im letzten Viertel des ersten Lebensjahres statistisch nach. Die relativ konstant beobachtete Übersterblichkeit der Knaben konnte also unter dem Aspekt der Illegitimität von einer höheren Sterblichkeit der Mädchen aufgehoben werden. In dieser Phase des Säuglingsalters fielen die Kleinsten aber hauptsächlich „klassischen“ Infektionskrankheiten zum Opfer, bei denen umsichtige Pflege und „geordnete Familienverhältnisse“ einen günstigen Einfluss auf die Erkrankung nehmen konnten. Die Ergebnisse von Presl legen nun nahe, dass negative Einflussfaktoren wie eine aus Not erfolgte Unterbringung des Neugeborenen bei Pflegefamilien auf illegitime Mädchen nachteiliger wirkten als auf uneheliche Knaben. Vielleicht ist die kurze Notiz Ottenthals male nutrita est puella im Falle des zwölf Wochen alten „Löhnkind[s]“145 Anna Früh* aus Weißenbach, die am 24. Mai 1868 wegen convulsiones und vomitus von ihm behandelt wurde, so zu verstehen.146 Andreas Weigl hat die Vermutung geäußert, dass durch die Errichtung des Wiener Findelhauses und die zunehmende Institutionalisierung des Pflegekindwesens das einstige verwandtschaftliche Nahverhältnis zwischen Pflegekind und Pflegeeltern stark gelockert 141 Sanitäts-Bericht 1886, 105. Das plötzliche Versiegen der Muttermilch zwang Mütter wie jene von Katharina Volker* aus Kematen in der Tat zum vorzeitigen Ausweichen auf Ersatznahrung. [„alvi stypsis intravit post delactationem ex inopia lactis materni – ex eo tempore multum clamat, abdomen inflatum novissime diarrhoea“]. HM 1186/1869, Eintrag vom 29.11.1869. 142 HM 814/1862, Eintrag vom 17.7.1862. 143 HM 958/1869, Eintrag vom 16.7.1869. 144 Vgl. etwa die von Rosenfeld, Säuglingssterblichkeit, 640, angeführten geschlechterspezifischen Sterbeziffern. 145 Der Terminus Löhnkind bezeichnet ein gegen Entgelt aufgenommenes Pflegekind. Vgl. Deutsches Rechtswörterbuch, 1396. 146 HM 751/1868, Eintrag vom 24.5.1868.
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wurde, das bislang zumindest ein gewisses Maß an Sicherheit für die unehelichen Kinder garantiert hatte.147 Der Nachweis für ein bestimmtes Geschlecht benachteiligendes Verhalten der Pflegeeltern allein auf Basis der Historiae Morborum ist allerdings schwer zu erbringen, dazu sind die erforderlichen „Daten“ etwa zur Illegitimität, zum Status als Pflegekind oder zu einer Geburt in der Gebär- und Findelanstalt Alle Laste bzw. nach deren Schließung im Innsbrucker Gebärhaus von Ottenthal zu unvollständig aufgenommen worden.148 3.1.7 Zwischenbilanz Am regionalen Beispiel des Tauferer Ahrntales der 1860er und 1890er Jahre kann die von der zeitgenössischen und historischen demografischen Forschung anhand nationaler Bevölkerungen ermittelte allgemeine Übersterblichkeit von männlichen Säuglingen bestätigt werden. Weniger eindeutig zu beantworten ist hingegen die Frage, in welchem Ausmaß eine genetisch-hormonell bedingte unterschiedliche „Ausstattung“ der Geschlechter und eine soziokulturell bedingte geschlechterspezifische Säuglingspflege an diesem „ungleichen Start ins Leben“ zwischen männlichen und weiblichen Neugeborenen im Tal beteiligt waren. Die Einschätzung des Engländers William Black von 1789, dass „in der That ein solches Uebermaaß [an männlichen Geburten, A. U.] nothwendig [ist], wegen des Verlusts durch Kriege, Auswanderungen, Unmäßigkeit, mechanischer Künste, Handel und Wandel, ungünstige Witterungen und Jahreszeiten, Laster und Unglücksfälle, womit politische Strafen verbunden sind, nebst verschiedener anderer Gefährlichkeiten, denen allen das männliche Geschlecht am meisten ausgesetzt ist“149, will heutigen Leserinnen und Lesern nach gut 200 Jahren naturwissenschaftlich definierten Körpern jedenfalls nicht mehr recht schlüssig erscheinen. Die differenziertere Betrachtung des ersten Lebensjahres nach einzelnen Lebensmonaten ergab eine durchgängig größere Mortalität bei männlichen Säuglingen im ersten Lebensmonat, für die hauptsächlich biologische Faktoren verantwortlich gemacht werden können. Dieser eindeutige Mortalitätsunterschied wird gegen Ende der postneonatalen Phase zunehmend geringer, was wiederum soziokulturelle Benachteiligungen von weiblichen Säuglingen in den Blick geraten lässt. Die ermittelten Ergebnisse sowohl zu geschlechterspezifischen Todesursachen als auch Anfälligkeiten für bestimmte Krankheitsbilder150 entziehen sich aufgrund ihrer Komplexität aber simplen Verallgemeinerungen. Die Natur stattete männliche Unter-Einjährige zwar mit einer langsamer reifen147 Vgl. Weigl, Wandel [2000a], 214. 148 Derart „ergiebige“ Krankengeschichten wie jene von Joseph Innerhofer* aus Mühlen sind eher die Ausnahme als die Regel: [„caret lacte materno qua illegitimus, diarrhoea illico remisit, nunc nutrix dicit ex 2 diebus nullam urinam abiisse tamen de vesica tumente nil refertur“]. HM 661/1892, Eintrag vom 23.4.1892. 149 Black, Vergleichung, 23. 150 Ich bin mir bewusst, dass die Aussagen zur Morbidität im Tal auf Grundlage einer Ermittlung der Konsultationsgründe einer ärztlichen Praxis getätigt wurden, womit der Aspekt möglicher Spezialisierungen Ottenthals auf bestimmte Krankheiten ausgeblendet wird.
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den Lunge aus, dafür waren bestimmte soziokulturelle Faktoren und Traditionen der Bevölkerung für das erhöhte Risiko bei weiblichen Säuglingen verantwortlich, häufiger Symptome einer rachitischer Erkrankung zu entwickeln. Der im Vergleich zu weiblichen Säuglingen höhere Anteil männlicher Unter-Einjähriger in der Arztpraxis Franz v. Ottenthals weist jedenfalls auf eine geschlechterspezifische Bevorzugung von Knaben hinsichtlich der Konsultation eines Arztes hin. Exemplarisch für das Jahr 1869 berechnet kamen auf 100 weibliche Patienten Ottenthals im Alter von 0–1 Jahren 112 männliche Patienten, wohingegen die Geschlechterzusammensetzung der Bevölkerung des Tauferer Ahrntals in diesem Jahr 100 lebende weibliche Säuglinge zu 94 lebenden männlichen Säuglingen betrug.151 Diese geringfügige, aber dennoch erkennbare Abweichung scheint dann doch für eine Benachteiligung weiblicher Säuglinge zu sprechen. Inwieweit kulturelle Faktoren (unterschiedliche Stillzeiten, bewusste Vernachlässigung) für das Zustandekommen weiterer geschlechterspezifischer Unterschiede bei Mortalität und Morbidität im Tauferer Ahrntal verantwortlich sind, ist ohne Einbeziehung zusätzlicher, freilich nur unter großem Zeitaufwand zu ermittelnder Faktoren wie die Geburtsposition der verstorbenen Säuglinge aus den Historiae Morborum allein nicht zu beantworten. 3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“152: männliche und weibliche Kinder als Patienten Franz v. Ottenthals „Wie geht’s den Jungs?“ fragte der Pädagoge Gunter Neubauer in der ersten Ausgabe des 2003 gegründeten Journals Blickpunkt: Der Mann provokant.153 „Überhaupt nicht gut!“ waren wohl nicht Wenige versucht zu antworten, sofern sie die damals über die Medien verbreitete Debatte von den „armen Jungen“ aufmerksam mit verfolgt hatten. Der Spiegel etwa stempelte 2004 Jungen mit der Schlagzeile „Schlaue Mädchen, dumme Jungs“ zu den eigentlichen Verlierern des Bildungssystems.154 Geo fragte in der Märzausgabe des Jahres 2003 besorgt, ob „Jungs“ die zukünftigen „Sorgenkinder unserer Gesellschaft“155 wären. Diese ungewohnten Schlagzeilen und medial vermittelten Bilder verschoben den seit den 1970er Jahren hauptsächlich von frauenbewegter Seite angestoßenen Benachteiligungsdiskurs, laut dem die herrschenden Geschlechter151 Eigene Berechnungen auf Grundlage von: HM 1869 und der Volkszählung von 1869, für die erstmals der Altersaufbau der ansässigen Bevölkerung ermittelt wurde. Bevölkerung, 170 und 188. 152 Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der Krankengeschichte der dreijährigen Maria Kirchler aus St. Johann. [„3 ann. ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata heri vespere aestu siti adficiebatur, multum clamat noctu non dormivit difficulter deglutit dolores accusat in collo“] („3 Jahre wegen Furcht vor Diphtherie vor einer Wochen hergebracht, wurde gestern Abend von Hitze Durst befallen, schreit viel schläft nachts nicht schluckt schwierig klagt über Schmerzen im Hals“). HM 1735/1892, Eintrag vom 6.10.1892. 153 Neubauer, Jungs, 24–28. 154 Der Spiegel 21 (2004). 155 Geo 3 (2003), Johanna Romberg/Tast Isadora, „Jungs“, 64–92.
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verhältnisse Mädchen strukturell benachteiligen, zu den Jungen.156 Plötzlich waren sie die Verlierer: in der Schule, am Arbeitsmarkt, bei der Bewältigung alltäglicher Probleme. Und hinsichtlich des körperlichen und geistigen Wohlbefindens wurden sie nicht nur von den Gesundheitswissenschaften zunehmend als Risikogruppe identifiziert. 2009 zitierte etwa ein österreichisches Magazin in seiner Reportage über dicke Kinder u. a. auch einen Vertreter des Österreichischen Bundesheeres. Besorgt präsentierte dieser aktuelle Zahlen aus den Stellungskommissionen, laut welchen das Gewicht der 18-jährigen zukünftigen Soldaten während der letzten 20 Jahre um durchschnittlich drei bis dreieinhalb Kilo gestiegen sei. Angesichts solcher Entwicklungen glaubte der recherchierende Journalist nach Meldungen über Komasäufer und Amokläufer die ohnehin beunruhigte Leserschaft davor warnen zu müssen, dass „Fettleibigkeit bei den Jungen zur Epidemie [würde]“157. Nun basieren derartige Dramatisierungen einer die Jungen ungleich stärker betreffenden gesundheitlichen Problemlage meistens auf Daten aus den jeweiligen Gesundheitsministerien, die ihre Tabellen und Grafiken jedoch nur in einen stark polarisierenden Dualismus männlich – weiblich aufschlüsseln und wenig auf Binnendifferenzierungen unter den jeweiligen Geschlechtern achten. Die bei den Knaben im Vergleich zu den Mädchen höhere Anfälligkeit für Krankheiten oder deren hohe Selbstmordraten werden dabei schnell mit gesundheitsschädigenden Aspekten in der männlichen Sozialisation erklärt.158 Differenziertere Studien zu jungenspezifischen Gesundheitsrisiken etwa oder zu Möglichkeiten einer Gesundheitsförderung speziell für Knaben, die Antworten auf die in den Gesundheitsberichten aufgeworfenen Fragen geben könnten, hatten und haben demgegenüber Seltenheitswert.159 An den „harten Fakten“ gibt es indessen nur wenig zu rütteln.160 Zwar gilt heutzutage die Altersgruppe zwischen fünf und 15 Jahren im Vergleich zu anderen Altersstufen generell als die gesündeste Bevölkerungsgruppe, zumindest wenn Mortalitätsraten als Maßzahlen herangezogen werden.161 Aber ungeachtet dieser niederen Sterbeziffern ist ein gewisser gender gap schon bei den Kin156 Rose, Mädchen, 11–25. 157 Eine in diesem Zeitraume erschienen Studie ergab, dass in Österreich 20,6 Prozent aller Buben und 17,7 Prozent aller Mädchen zwischen sechs und 14. Jahren zu dick sind. Profil 6 (2009), Robert Buchauer, „Esskapaden“, 70–78. 158 So etwa hinsichtlich der den Jungen medial vermittelten Bilder, ihre Tränen bei Kummer und Schmerzen zurückzuhalten, bei Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 110 f. 159 Vgl. Neubauer, Schule, 61. 2010 widmete der „Erste Deutsche Männerbericht“ den Jungen ein eigenes Kapitel. Siehe Neubauer/Winter, Jungengesundheit, 30–57. 160 Vgl. etwa die entsprechenden Abschnitte bei Klotz, Tod, 28–30 und Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 104–111, sowie die Beiträge von Waldron, Krankheit, 159–178, und Settertobulte, Gesundheit, 179–190. 161 So betrugen in Österreich 2009 die entsprechenden Mortalitätsraten bei den 5–10-Jährigen 7,6 pro 100.000 Lebende gleichen Alters und bei den 10–15-Jährigen 9, bei den Unter-Fünfjährigen bzw. den 15–20-Jährigen jedoch 19 bzw. 42,75 pro 100.000 der Bevölkerung gleichen Alters. Ziffern berechnet auf Grundlage von: http://www.statistik.at/web_ de/statistiken/gesundheit/todesursachen/todesursachen_im_ueberblick/index.html. [Zugriff am 17.11.2010].
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dern bemerkbar. Folglich weisen in den industrialisierten Ländern Knaben in der Tat eine höhere Sterblichkeit auf als Mädchen, wobei die Unterschiede nach einer nur geringfügigen männlichen Übersterblichkeit im jüngeren Kinderalter ab dem zehnten Lebensjahr immer mehr zunehmen. Einer deutschen Studie aus dem Jahre 1987 zufolge lag das Verhältnis der weiblichen und männlichen Sterbefälle in der Altersgruppe zwischen Fünf und Zehn bei 1 zu 1,5 und in der Altersgruppe zwischen Zehn und Fünfzehn bei 1 zu 1,8.162 Demnach scheinen die herrschenden Geschlechterverhältnisse den Jungen in vielen Lebensbereichen weniger personale und soziale Ressourcen für die Bewältigung von Krankheit zur Verfügung stellen zu können als den Mädchen. Erste Anhaltspunkte, welche Krankheitskomplexe für die offensichtlichen Unterschiede im physischen Wohlbefinden verantwortlich sind, liefert ein Blick in die Mortalitätsstatistiken. Tab. 3.2.1: Prozentualer Anteil einer Todesursache innerhalb der entsprechenden Geschlechtergruppe für die Altersgruppe 1–14 Jahre in Südtirol in den Jahren 1994–2004
Quelle: Statistische Jahrbücher für Südtirol/Annuarii statistici della Provincia di Bolzano, 1994 bis 2004, eigene Berechnungen
Im Südtirol der Jahre 1994 bis 2004 beispielsweise bestimmte hauptsächlich die Unfallsterblichkeit die Mortalität im Kinderalter (vgl. Tab. 3.2.1).163 Verletzungen und Vergiftungen trugen bei den 1–14-jährigen Knaben mit 50 Prozent zur Gesamtsterblichkeit bei, bei den gleichaltrigen Mädchen betrug die162 Zitiert nach Schnack/Neutzling, Helden, 102 (Tab. 1). 163 Statistische Jahrbücher für Südtirol/Annuarii statistici della Provincia di Bolzano, 1994 bis 2004.
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ser Anteil rund 40 Prozent. Knaben wiesen auch höhere Zahlen bei den Todesursachen aufgrund bösartiger Neubildungen auf, wohingegen bei Mädchen eine größere Anfälligkeit bei infektiösen Krankheitsbildern festzustellen ist. Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atmungsorgane und der Verdauungsorgane spielten im Kindesalter als Todesursache nur eine untergeordnete Rolle und zeigten ihre auffallenden geschlechtsspezifischen Unterschiede erst in den höchsten Altersstufen. Dieses Muster hat sich in den aktuellen Statistiken nur minimal verändert. Eine ähnliche Verteilung der wichtigsten Todesursachen wie für Südtirol lässt sich entsprechenden Daten aus den Statistischen Ämtern in Österreich oder Deutschland entnehmen.164 In allen drei Ländern erklärt sich das Mortalitätsdifferential zuungunsten der Knaben in der Altersgruppe der 1–14-Jährigen überwiegend aus deren größerer Unfallhäufigkeit im Straßenverkehr, ein seit den 1950er Jahren in allen industrialisierten Ländern zu beobachtendes Phänomen.165 Dieser Anteil von rund der Hälfte nicht natürlicher Todesursachen an der Gesamtsterblichkeit lässt nun unter dem Schlagwort „riskierte Körper“166 (Michael Meuser) tatsächlich nach dem Zusammenhang zwischen geschlechtsspezifischer Sozialisation und sich daraus ergebenden spezifischen Gesundheitsrisiken für Knaben und Mädchen fragen.
Abb. 3.2.1: Realistisch gegendertes Schutzengelbild: verhindert wird der Autounfall des „aktiven“ Jungen Quelle: Privatbesitz
164 Vgl. Casper, Mortalität, 51, Abb.3, und Habl, Männergesundheitsbericht, 23, Abb. 2.10. 165 Czermak/Hansluwka, Gesundheitsprobleme, 158–181. 166 Meuser, Männerkörper, 161–163.
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Doch nicht nur hinsichtlich der physischen Verwundbarkeit weisen die Gesundheitsstatistiken den Jungen eine gegenüber Mädchen benachteiligte Position zu: Jungen scheinen auch mit psychischen Belastungen ungleich schwerer umgehen zu können als Mädchen. Dieter Schnack und Rainer Neutzling, deren 1990 erschienene Publikation als eine der ersten die Auswirkungen des in den westlichen Ländern vorherrschenden Modells von Männlichkeit auf die Entwicklung von Jungen näher beleuchtet hat, listen zu diesem Aspekt eine Reihe aufschlussreicher Daten auf.167 Die für Jungen höheren Quoten bei Sitzenbleibern, bei Schulabbrechern und bei Sonderschülern sind für die beiden Autoren untrügliche Zeichen dafür, dass das Erlernen gültiger Männlichkeitsnormen für Jungen mit enormen Gesundheitsrisiken verbunden sei. Jungen würden dementsprechend doppelt so häufig mit Symptomen wie Aggressivität, Leistungsversagen oder Störungen in der Sprachentwicklung in den entsprechenden Beratungsstellen vorstellig als Mädchen. Die Autoren problematisieren zwar, dass Jungen psychische Belastungen eher über auffälliges und delinquentes Verhalten kompensieren würden als Mädchen, die Probleme eher nach innen tragen und somit leichter „übersehen“ würden.168 Dennoch werten sie gerade diese Bewältigungsstrategien als Folge der gesellschaftlich vermittelten Erwartungen an die zukünftige Männerrolle. „Krankheit und Schwäche kommen im männlichen Rollenrepertoire nun einmal nicht vor.“169 Nun trugen Bücher wie jenes dem Umfeld der deutschen Männerbewegung zuzuordnende von Schnack und Neutzling sicherlich dazu bei, Jungen in den neueren Gesundheitsdebatten vermehrt als „Problemgruppe“ zu thematisieren.170 Und wie Michael Meuser betont, hatten nicht zuletzt die Veränderungen in der Geschlechterpolitik der beiden letzten Jahrzehnte (oder vielmehr die Diskurse darüber) erheblichen Anteil daran, dass Jungen gegenüber Mädchen überhaupt als benachteiligt und als Verlierer angesehen werden können.171 Doch auch wenn die hard facts zum Gesundheitsstatus von Kindern den Jungen eine schlechte Position bescheinigen, warnen Experten wie Neubauer vor dem Hintergrund eigener Forschungen zum Gesundheitsverhalten und zur Körperwahrnehmung männlicher Kinder vor „immer wieder reproduzierenden Geschlechterklischees in der Gesundheitsforschung“172, etwa dass Jungen ihren Körper weniger gut kennen würden als Mädchen oder dass Jungen eine eindeutig definierbare, homogene Gruppe wären.
167 Schnack/Neutzling, Helden, 107 (Tab. IV), und 109 (Tab. VI). 168 Mehr zu diesen geschlechtsspezifisch „externalisierenden“ bzw. „internalisierenden“ Symptomen bei Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 108–111. 169 Schnack/Neutzling, Helden, 113. Zum männlichen Leitbild der Schmerzverdrängung vgl. aus historischer Perspektive Dinges, Gesundheit, 97–121. 170 Hurrelmann, Gesundheits- und Entwicklungsprobleme, 52 f. 171 Meuser, Männerkörper, 160 f. 172 Neubauer, Schule, 64.
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3.2.1 Melancholische Jungen und Mädchen, die von Heuböden springen: mit den Historiae Morborum auf geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen blicken Franz v. Ottenthal hätte über die gegenwärtigen Debatten zur Benachteiligung von Jungen und zu deren daraus resultierendem körperlichen Leiden vermutlich verwundert den Kopf geschüttelt. Eine Analyse der seinerzeit verfügbaren Daten zur geschlechterspezifischen Kindersterblichkeit hätte diesen Arzt wohl andere Schlüsse ziehen lassen. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert waren es die (älteren) Mädchen, die eine höhere Sterblichkeit aufwiesen als die Knaben, worauf ich im Anschluss ausführlicher eingehen werde. Was allerdings die psychische Entwicklung und den seelischen Leidensdruck anbelangt, könnte bereits Ottenthal in der einen oder anderen Unterredung mit einem Lehrer des Tauferer Ahrntals bemerkt haben, dass sich Störungen in der Sprachentwicklung auffallend häufiger bei den männlichen Schülern im Tal bemerkbar machten als bei den weiblichen, und diesbezüglich ähnelt der gegenwärtige Diskurs tatsächlich den historischen Debatten.173 Zur Zeit Ottenthals wurde dieser Befund jedenfalls heftig diskutiert, so etwa vom dänischen Statistiker Harald Westergaard (1853–1936), der kurz vor der Jahrhundertwende in den Volksschulen Kopenhagens 0,95 Prozent stotternde und 0,59 Prozent stammelnde Knaben hinter den Schulbänken fand, jedoch nur 0,25 Prozent Mädchen mit stotternder und 0,36 Prozent mit stammelnder Sprache.174 Wenig überraschend ist daher der größere Anteil von Jungen, deren Eltern in dieser Sache in Ottenthals Praxis vorstellig wurden. Beim sechsjährigen Johann Prenn* aus Mühlwald etwa notierte er „difficulter loquitur balbutit“175, und dem siebenjährigen Anton Oberlechner* aus Uttenheim löste er wegen dessen Stotterns das Zungenbändchen176. Die Ottenthal-Datenbank weist nach einer entsprechenden Suchabfrage nach balbutire für den Zeitraum 1847 bis 1899 zwölf stotternde Knaben zwischen ein und 14 Jahren als Patienten aus, aber nur zwei stotternde Mädchen. Ebenso war Franz v. Ottenthal damit vertraut, dass Jungen vor dem Hintergrund belastender Lebenssituationen „psychische“ Auffälligkeiten entwickelten und beispielsweise Symptomatiken einer Melancholie zeigten. In den 1860er Jahren finden sich zwei Knaben mit ebendieser Diagnose in seiner Praxis. Zweifellos gab es schon im Tauferer Ahrntal des 19. Jahrhunderts Jungen (und Mädchen), denen das Hineinwachsen in die für sie vorgesehenen Rollenmuster Schwierigkeiten bereitete, denen also vereinfachend gesagt eine „reibungslose“ Sozialisation zum „normalen Mann“ (bzw. zur „normalen Frau“) nicht so recht gelingen wollte. Sie entwickelten spezifische Symptome, die als individuelle Bewältigungsstrategie 173 174 175 176
Aktuell zu diesen Störungen etwa Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 106 f. Zitiert nach Prinzing, Handbuch, 222. („…spricht schwierig stottert…“). HM 597/1885, Eintrag vom 28.3.1885. [„7 annorum balbutit Linguae frenulum salut.“] („7 Jahre stottert Lösung des Zungenbändchens“). HM 1375/1847, Eintrag vom 19.8.1847.
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problematisch verlaufender Anpassungsleistungen zu deuten sind.177 Diese psychischen Symptome wiesen zudem eine starke Geschlechterkomponente auf, wie die zeitgenössischen Diskurse um Hysterie und Neurasthenie deutlich belegen.178 Hätte Ottenthal wie seine ein gutes Jahrhundert später lebenden Kollegen Knaben demnach ebenfalls im Vergleich zu Mädchen als „ressourcenärmeres Risiko-Kollektiv“179 erkennen müssen? Vermutlich schon, wenn es über den gesamten Zeitraum von 150 Jahren zwischen diesem Arzt und heute keinen Wandel im Todesursachen- und Krankheitsspektrum von akuten hin zu chronischen Erkrankungen gegeben hätte. Als Mediziner und Angehöriger der lokalen Elite führte Ottenthal mit einzelnen Pfarrern der Talgemeinden sicherlich Gespräche über gesundheitliche Themen und über eine effiziente Umsetzung sanitätspolizeilicher Vorschriften des Landtages, und ab und zu wird er bei seinen Dienstreisen durch den Bezirk ein Sterbebuch genauer hinsichtlich der Haupttodesursachen durchgeblättert haben. Sicherlich dürfte ihm dabei nicht entgangen sein, wie viele der jüngeren Talbewohner und Talbewohnerinnen jedes Jahr nicht nur den üblichen Kinderkrankheiten wie Scharlach, Masern, Pocken oder Diphtherie zum Opfer gefallen, sondern auch anderweitigen Infekten wie etwa der Lungenentzündung oder der Tuberkulose erlegen waren. Das Sterblichkeitsgeschehen im Tauferer Ahrntal war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eindeutig von Infektionskrankheiten dominiert, wie im Folgenden noch gezeigt werden wird. Dementsprechend war es auch der Krankheitskomplex der infektiösen Erkrankungen, der die Morbidität der Menschen in den jungen Altersstufen zwischen ein und vierzehn Jahren bestimmte und somit das therapeutische Aufgabenprofil dieses Landarztes hinsichtlich seiner jüngeren Patientengruppe klar definierte. Folglich hätte Ottenthal unter „Kleine Helden in Not“ vermutlich all jene Kleinkinder und Kinder in seiner Praxis verstanden, die er wegen des komplizierten Verlaufs einer Diphtherieerkrankung, der unklaren Ursache eines andauernden heftigen Hustens oder wegen eines als Masern oder Scharlach zu diagnostizierenden Ausschlags behandeln hat müssen. Womöglich bestimmten in seinem Einzugsgebiet soziale Ungleichheiten den Alltag in der ärztlichen Praxis sogar in weit größerem Maße als eine Benachteiligung entlang der Geschlechtergrenzen. Ist es also legitim anzunehmen, Ottenthal wäre aufgrund der spezifischen Ätiologie und Übertragungswege dieser dominierenden Krankheiten das Führen einer Benachteiligungsdebatte zuungunsten von Knaben oder Mädchen ebenso wenig in den Sinn gekommen wie eventuell auffindbare geschlechtsspezifische Unterschiede im Erkrankungsrisiko mit vorherrschenden Rollenmodellen oder Sozialisationstheorien in Beziehung zu setzen? Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Knaben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit niedrigere Sterberaten aufwiesen als Mädchen. 177 Aus der Perspektive der heutigen Sozialisationsforschung vgl. die allgemeinen Ausführungen bei Hurrelmann, Ansätze, 189 f. 178 Vgl. dazu die Studie von Schmersahl, Medizin. 179 Neubauer, Schule, 61.
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Demzufolge müssten Mädchen in der Praxis Ottenthals nicht nur das dominierende Geschlecht darstellen, sondern in den beiden untersuchten Zeiträumen der 1860er und 1890er Jahre auch eine längere Behandlungsdauer sowie eine höhere Konsultationshäufigkeit aufweisen als Knaben. Ein gegenteiliger Befund könnte folglich als bewusste Vernachlässigung von Mädchen hinsichtlich der Inanspruchnahme des Privatarztes Ottenthal interpretiert werden. Denn die Entscheidung der Eltern eines erkrankten Kindes, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, könnte durchaus vom Geschlecht beeinflusst worden sein. Immerhin standen mit der Pockenschutzimpfung180 oder mit der passiven Immunisierung bei Diphtherie181 noch zu Lebzeiten Ottenthals zwei verhältnismäßig sichere prophylaktische Mittel zur Verfügung. Und bei manchen Erkrankungen konnte das rasche Herbeirufen eines Arztes tatsächlich das Leben des Kindes retten.182 In kompliziert verlaufenden Fällen der Diphtherie beispielsweise half oftmals nur noch die Tracheotomie, hier könnten die Eltern bei Knaben weniger lang gezögert haben. Und vielleicht wurde die Gesundheit eines zum Hofnachfolger bestimmten Sohnes als erhaltenswerter angesehen als die einer letztgeborenen Tochter, der dann eine schützende Pockenimpfung versagt blieb. Abgesehen von soziokulturell vermittelten Einstellungen der Eltern hinsichtlich der ärztlichen Inanspruchnahme oder Einforderung spezifischer therapeutischer Maßnahmen für ein Kind könnten geschlechterdifferente Verhaltensweisen der Kinder selbst zu ungleichen Ansteckungsrisiken gerade bei Kinderkrankheiten führen. Nicht nur die geschlechterspezifische Sozialisationsforschung ist sich darüber einig, dass Mädchen durch die stärkere Einbindung in die Hausarbeit generell mehr Zeit im Hausinneren verbracht hätten als Jungen, die von derartigen Arbeiten meistens befreit gewesen wären.183 Diesen wurde noch dazu ein größerer Aktionsradius außerhalb des Hauses zugestanden.184 Die Gefahr, sich bei einem erkrankten Familienmitglied anzustecken, war somit für Mädchen ungleich größer, zumal die älteren unter ihnen oft auch zur Pflege erkrankter jüngerer Geschwister herangezogen wurden. Zahlreiche Studien der letzten Jahrzehnte konnten zeigen, dass neben sanitätspolizeilichen Reformen hauptsächlich die Stärkung der allgemeinen Körperkonstitution durch die verbesserte Ernährungssituation vielen der klassischen Infektionskrankheiten effektiver zu Leibe rückte als sämtliche medizi180 Zur Pockenschutzimpfung in Österreich und Tirol vgl. Pammer, Pocken II, 15–19, und Unterkircher, Tyroler, 64–67. 181 Vgl. dazu Pammer, Diphtherie [2009], 50 f. 182 In den Historiae Morborum lassen sich vereinzelt Belege für die Sorge um das Kind etwa bei Erstickungsanfällen als Grund für den Arztkontakt finden: [„1 1/2 ann. laborat tussi chronica hodie multum intensa ut suffocatio timeatur“] (1 ½ Jahre leidet an chronischem Husten heute sehr heftig sodass Erstickung gefürchtet wird“). HM 93/1860, Eintrag vom 17.1.1860. 183 Vgl. Bilden, Sozialisation, 284 f., sowie aus historischer Perspektive Gestrich, Geschichte, 105–111. 184 Dazu klassisch das Buch von Hagemann-White, Sozialisation, 52–54 und 99–104.
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nische Interventionen der Zeit.185 Für Jungen konnte ein Überlebensvorteil allein dadurch erwachsen, dass ihnen durch die frühere Einbindung in Arbeitsabläufe eine bessere Kost zugestanden wurde als Mädchen, womit das Immunsystem gestärkt wurde.186 Andererseits bargen eben diese außerhäuslichen Arbeiten ein höheres Unfallrisiko als die innerhäuslichen Tätigkeiten. Geschlechterspezifische Ausrichtungen in der Gesundheitserziehung („Leibesertüchtigung“) machten die Jungs nicht nur für ihre zukünftige Rolle als Arbeiter und Soldaten fit, sondern zugleich robuster gegenüber gesundheitlichen Belastungen des späteren Lebens.187 Der Körper von Mädchen wurde hingegen zum Stillhalten diszipliniert, vorzugsweise durch bedächtige Stick- und Näharbeiten, deren Erlernung auch die Barmherzigen Schwestern in Taufers zum Erziehungsideal für ältere Mädchen erhoben.188 Allerdings bestehen von Seiten der geschlechtergeschichtlichen Sozialisationsforschung noch große Forschungslücken hinsichtlich der Sozialisation von Kindern und der Übernahme normativer Erziehungsideale in agrarischkleingewerblich strukturierten Gesellschaften. Die zehnjährige Bauerstochter Maria Winding* aus Drittelsand scheint jedenfalls wenig von diesen an bürgerliche Geschlechtverhältnisse angelehnte Rollenvorgaben für Mädchen und Jungen gehalten zu haben, denn von ihr wird berichtet, sie hätte vom wenig damenhaften Springen ins Heu steife Knie bekommen.189 Ziel des folgenden Kapitels ist es, die Historiae Morborum dahingehend auszuwerten, ob sie Hinweise auf eine die Mädchen diskriminierende oder die Knaben bevorzugende Behandlung enthalten. Des Weiteren gilt es herauszufinden, inwiefern die geschlechterspezifischen Arbeitsanforderungen für Jungen und Mädchen in einer agrarisch dominierten Gesellschaft wie jener des Tauferer Ahrntals zur Disposition für bestimmte Krankheitskomplexe (z. B. Atemwegserkrankungen) beigetragen haben, und inwiefern der gesellschaftliche Druck zur Übernahme hegemonialer Rollenmuster bestimmte Ansteckungsrisiken erhöht oder verkleinert hat. Bevor jedoch die Krankenjournale Ottenthals auf die Gültigkeit dieser Hypothesen hin untersucht werden, möchte ich kurz die grundlegenden Tendenzen in der allgemeinen Mortalitätsentwicklung der 1–14-Jährigen während der letzten 150 Jahre skizzieren 185 Dazu grundlegend: Vögele, Sozialgeschichte, 35–44. Zu Verlauf des Sterblichkeitsrückgangs bei Typhus in Wien vgl. Weigl, Wandel [2000a], 186–189, oder zu jenem der Tuberkulose vgl. Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 358 f. 186 Richard Wall steht allerdings der These, Jungen hätten prinzipiell eine bessere Kost bekommen als Mädchen, bis auf wenige Ausnahmen skeptisch gegenüber. Vgl. Wall, Ungleichheiten, v. a. 104–107. 187 Dinges, Gesundheit, 97 f.; Gestrich, Geschichte, 106 f. 188 Dieser Orden bot entsprechende Kurse für Mädchen an. Vgl. Innerhofer, Taufers, 293. 189 [„10 ann. hereditarie gravata a matre arthritica a saltu in foenum ex 4 diebus laborat rigiditate genuum et calcium et ex 2 diebus doloribus ut nequeat incedere; forma et color articulorum plane non alterata“] („10 Jahre leidet erblich von der arthritischen Mutter belastet wegen eines Sprungs ins Heu seit 4 Tagen an Steifheit der Knie und der Fersen und seit 2 Tagen Schmerzen, sodass sie nicht gehen kann; Gestalt und die Farbe der Glieder nicht verändert“). HM 1573/1890, Eintrag vom 28.6.1890.
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sowie die wichtigsten Trends im Sterblichkeitsgeschehen der Untersuchungsregion nachzeichnen. 3.2.2 „Dem Vernehmen nach soll im wohldortigen Bezirke unter den Kindern der Scharlach stark grassiren.“190 – die Sterblichkeitsentwicklung bei Jungen und Mädchen im Verlauf des 19. Jahrhunderts Die im vorigen Kapitel dargelegten Maßzahlen zur Sterblichkeit der UnterEinjährigen belegen eindrücklich, dass die Mehrsterblichkeit männlicher Säuglinge als ein über Räume und Zeiten hinweg konstant bleibendes Phänomen zu betrachten ist. Doch wie sieht es mit Mortalitätsdifferentialen in den nächstfolgenden Altersgruppen aus, bei den Kleinkindern (0–5) und den Kinder vom fünften bis zum 14. Lebensjahr? Heute ist in diesen Altersgruppen in nahezu allen westlichen Ländern eine klare Übersterblichkeit der Knaben anzutreffen, wobei dieser Vorteil der Mädchen offenbar schon seit längerer Zeit zu bestehen und sich fortlaufend weiter zu vergrößern scheint.191 Ein internationaler Vergleich zwischen 21 europäischen Staaten zur geschlechtsspezifischen Sterblichkeit ergab um 1960, dass in der Altersgruppe der 10–15-Jährigen im Durchschnitt 5,4 männliche Gestorbene pro 10.000 Lebende kamen, aber nur 3,4 weibliche.192 Dieses Ungleichgewicht zuungunsten der männlichen Kinder war schon in der Altersgruppe der 5–10-Jährigen evident (6,8 zu 4,9/10.000 Lebende gleichen Alters), ebenso bei den Kleinkindern zwischen einem und fünf Jahren (20,3 zu 18,4/10.000 Lebende gleichen Alters).193 Mit diesen Befunden zur alters- und geschlechtsspezifischen Sterblichkeit stellte sich den Demografen des Jahres 1960 ein gänzlich anderes Bild als den Bevölkerungsstatistikern von vor gut 100 Jahren. In seinem Handbuch von 1876 konnte Friedrich Oesterlen nach Durchsicht entsprechender Sterbetafeln europäischer Länder und der Berechnung von Sterbeziffern das Überwiegen männlicher Verstorbener im Säuglings- und Kleinkindalter nachweisen, über die nächstfolgenden Altersstufen wusste er hingegen zu berichten: „Vom 5. Jahre an ist die männliche Sterblichkeit nur wenig grösser als die weibliche, und vom 10. Jahre an, d. h. der Pubertät zu überwiegt diese letztere fast durch’s ganze Mannesalter, meist bis zum 45. Jahr,
190 ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 160/2; N. 142, liegend in N. 1781; E.7/1865; Anfrage des Dr. Thavonati vom 19.1.1865 an das BA Taufers. 191 Vgl. Settertobulte, Gesundheit, 179 u. 180, Abb. 1. 192 Zu diesen Zahlen und den folgenden vgl. den Überblick bei Czermak/Hansluwka, Gesundheitsprobleme, 78, 90 sowie 101. Zu den aktuellen Mortalitätsziffern für Österreich siehe http://www.statistik.at/web_de/statistiken/gesundheit/todesursachen/todesursachen_im_ ueberblick/index.html. [Zugriff am 17.11.2010]. 193 Lediglich die Sterbeziffern der bulgarischen und tschechoslowakischen Knaben und Mädchen lagen entgegen diesem allgemeinen Trend in der Altersstufe der Ein- bis FünfJährigen gleich hoch, in Jugoslawien konnte sogar eine leichte Übersterblichkeit der weiblichen Kleinkinder festgestellt werden.
3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“
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doch mit Wechseln und Unterbrechungen.“194 Demnach muss sich in der gut hundert Jahre umfassenden Zeitspanne zwischen diesen beiden zitierten Quellen das demografische Muster der Mortalität im Kindesalter grundlegend dahingehend verändert haben, dass die Übersterblichkeit zumindest der älteren Mädchen einer Übersterblichkeit der Knaben gewichen ist. Dieser Wandel vollzog sich zeitverzögert in nahezu allen Populationen der westlichen Länder. Aufgrund der von der Statistik Austria berechneten demografischen Maßzahlen zur geschlechterspezifischen Sterbewahrscheinlichkeit lässt sich der Zeitpunkt für diesen grundlegenden Umschwung für die einzelnen Altersstufen recht gut nachvollziehen (vgl. Grafik 3.2.1): Für das Staatsgebiet des heutigen Österreich war die Sterbewahrscheinlichkeit beim Einsetzen der Statistik 1868/71 schon in der Gruppe der Ein- bis Vierjährigen für Knaben höher als für gleichaltrige Mädchen. Auch wenn sich um die Jahrhundertwende eine Tendenz zur Angleichung der geschlechtsspezifischen Sterbewahrscheinlichkeit konstatieren lässt, war diese Entwicklung nicht von längerfristiger Dauer, sondern die Diskrepanz erfuhr im Gegenteil im Verlaufe des 20. Jahrhunderts eine deutliche Verschärfung zuungunsten des männlichen Geschlechts.195 Bei den etwas älteren Kindern unterschritt die Sterbewahrscheinlichkeit der Knaben jene der Mädchen in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende klar. Doch änderten sich die Verhältnisse im Verlauf der 1920er Jahre grundlegend, sodass kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die Übersterblichkeit der Knaben jene der Mädchen um 10 Prozent betrug, in der unmittelbaren Nachkriegszeit um 30 Prozent und im Jahrfünft zwischen 1956 und 1960 sogar um beinahe 50 Prozent.196 Diese für den männlichen Teil der Gesellschaft dramatischen Verschlechterungen waren in der Altersgruppe der älteren Kinder (10–14) sogar noch ausgeprägter, denn in dieser Altersstufe hatten die Knaben ihren offensichtlich jahrzehntelang bestehenden Vorteil ebenfalls in den 1920er Jahren eingebüßt.197 Lag ihre Sterblichkeit um die Jahrhundertwende noch um 20 Prozent unter jener der Mädchen, so hatte sich 1970/72 die Situation ins absolute Gegenteil verkehrt und die Sterbewahrscheinlichkeit lag für die Knaben bei 174 zu 100 bei den Mädchen.198 Eine ähnliche Entwicklung der geschlechtsspezifischen Sterbeziffer konnten Pinnelli und Mancini für Italien nachweisen. Dort fand der Übergang von hoher weiblicher Übersterblichkeit zu höheren männlichen Sterberaten bei den 10–14-Jährigen in den 1930er Jahren statt, nachdem die 5–9-jährigen 194 195 196 197
Oesterlen, Handbuch, 178. Czermak/Hansluwka, Gesundheitsprobleme, 77. Czermak/Hansluwka, Gesundheitsprobleme, 88 f. http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/demographische_masszahlen/ sterbetafeln/index.html [Zugriff am 23.10.2010], Sterbetafel für 1970/72. Betrug die Sterbeziffer pro 1.000 Lebende im Jahrfünft 1926/30 bei beiden Geschlechtern noch 1,9, so hatte sich im darauffolgenden Jahrfünft 1931/35 mit 1,6 bei den Knaben und 1,5 bei den Mädchen die Sterbeziffer endgültig zu deren Vorteil gewandelt. Österreichisches Statistisches Zentralamt, Entwicklung, 12 (Tab. 3). 198 Czermak/Hansluwka, Gesundheitsprobleme, 99 f.
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Grafik 3.2.1: Verhältnis der männlichen zur weiblichen Sterbewahrscheinlichkeit in der entsprechenden Altersgruppe und Zeitperiode für das heutige Österreich (Frauen = 100) Quelle: Statistik Austria199
Knaben schon in den 1920er Jahren von den Mädchen hinsichtlich eines niedrigeren Sterberisikos überholt worden waren. Im Gegensatz zu Österreich war allerdings im Kleinkindalter zu Beginn des untersuchten Zeitraumes (1887) eine kleine, aber doch merkliche Übersterblichkeit der Mädchen vorhanden, die jedoch mit Ende des Ersten Weltkrieges in Richtung einer stetigen Übersterblichkeit der Knaben zwischen ein und vier Jahren zu weisen begann. 200 Eine geringere Sterblichkeit von Knaben zwischen fünf und 14 Jahren war in den frühen 1920er Jahren noch in einigen europäischen Staaten (Belgien, Frankreich, Dänemark, Schweden) anzutreffen, die Bevölkerungen anderer Länder wie den Niederlanden oder Deutschland hingegen hatten zu diesem Zeitpunkt den Wechsel von hoher weiblicher zu hoher männlicher Sterblichkeit im älteren Kindesalter schon vollzogen.201 In Deutschland etwa betrug die durchschnittliche jährliche Sterbewahrscheinlichkeit im Zeitraum 1924–26 für 10–15-jährige Knaben 1,4 und für Mädchen bereits nur noch 1,3. In der Periode zwischen 1871/72 und 1880/81 hatte das Pendel mit einem Verhältnis von 3,9 zu 4,2 noch sehr deutlich zuungunsten der Mädchen ausgeschlagen.202 Allerdings verdecken die für einheitliche Staatsgebilde berechneten Sterbeziffern und Sterbewahrscheinlichkeiten nicht selten mitunter bemerkenswerte regionale geschlechtsspezifische Differentiale in der kindlichen Mortali199 Erstellt nach den entsprechenden Daten in: „Sterbetafeln seit 1868/71 nach Geschlecht“. http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/demographische_masszahlen/ sterbetafeln/index.html [Zugriff am 23.10.2010] 200 Pinnelli/Mancini, Gender Mortality, 78 und 79, Fig. 4.2. 201 Prinzing, Handbuch, 368. 202 Freudenberg, Ursachen, 220.
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tät sowie stark ausgeprägte Stadt-Land-Disparitäten. Beispielsweise stach in der Statistik des Jahres 1890/91 die Mädchenübersterblichkeit in der überwiegenden Mehrzahl der 51 preußischen Regierungsbezirke und Stadtkreise deutlich hervor, in der Altersgruppe der 11–15-jährigen Mädchen stärker als bei den 6–10-Jährigen.203 Unter jenen zehn Bezirken, in denen die Knaben schlechter als die Mädchen abschnitten, waren aber sieben Stadtkreise, was eindeutig darauf hinweist, dass Knaben die Gesundheitsgefährdungen im städtischen Umfeld ungleich schlechter kompensieren konnten als die gleichaltrigen Mädchen. Den Letzteren scheint vielmehr die agrarisch geprägte Lebensweise auf dem Lande der Gesundheit weniger zuträglich gewesen zu sein, wie Jörg Vögele in seiner Studie zu den Lebensbedingungen in preußischen (Groß-)Städten der Jahrhundertwende eindeutig nachweisen konnte. In allen vier vom Autor gewählten Stichjahren (1877, 1885, 1900, 1907) war für den Nationalstaat Preußen das Muster einer durchgängig höheren Sterblichkeit der 5–15-jährigen Mädchen erkennbar.204 Werden die deutschen Großstädte jedoch gesondert betrachtet, zeigte sich der völlig gegenteilige Trend, denn in urbanen Räumen hatten die Jungen durchwegs höhere Sterbeziffern. Dieser Befund lässt sich zwar nicht für alle Metropolen bestätigen, denn weibliche Übersterblichkeit im fortgeschrittenen Kindesalter war Weigl205 und Fridlizius206 zufolge im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sowohl in der Metropole des Habsburgerreiches als auch in der Hauptstadt Schwedens anzutreffen (in letzterer herrschte lediglich im Jahrzehnt von 1901 bis 1910 in der Altersgruppe der 5–10-Jährigen männliche Übersterblichkeit). Dennoch scheint das großstädtische Milieu in der Phase des urban penalty für ein heranwachsendes männliches Kind ungleich größere Gesundheitsrisiken bereitgehalten zu haben als das ländlich strukturierte Umfeld für dessen Alterskollegen desselben Geschlechts. Stadt und Land mit ihren recht unterschiedlichen Milieus hielten somit für die zu Jugendlichen heranreifenden Mädchen und Jungen spezifische Risiken und Chancen bereit, deren erfolgreiches bzw. erfolgloses Ergreifen sich letztendlich in jeweils unterschiedlichen Sterbewahrscheinlichkeiten ausdrückte. Den Ursachen für diese alters- und geschlechtsspezifischen Sterblichkeitsdifferentiale war nicht zuletzt Friedrich Prinzing in der Zweitauflage seines Standardwerks auf der Spur. Die Veröffentlichung seines aktualisierten Handbuchs fiel in das Jahr 1930 und somit genau in jene Zeit, in der sich der Umschwung von einer höheren Mädchensterblichkeit hin zu höheren Sterbeziffern der Jungen in den Statistiken niederzuschlagen begann. Für ihn waren diese lange bestehenden Muster hauptsächlich „durch die Lebensweise und durch die Art der Inanspruchnahme des weiblichen Geschlechts zu landwirtschaftlichen und häuslichen Arbeiten bedingt“207, womit zwei wesentliche Faktoren für eine Interpretation der Sterblichkeitsentwicklung im Tauferer Ahrntal der 1860er und 203 204 205 206 207
Knöpfel, Sterblichkeit, 241 (Tab. 10). Vögele, Sozialgeschichte, 480–487, Anhänge 3.1–3.8, 122 f. Weigl, gender gap, 28. Fridlizius, Mortality, 268 (Table 12). Prinzing, Handbuch, 362.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
1890er Jahre bezogen auf die Altersgruppe der Kinder (1–14 Jahre) benannt werden (vgl. Grafiken 3.2.2a und 3.2.2b sowie 3.2.2c und 3.2.2d).
Grafik 3.2.2a: Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1860–1869: Kleinkinder (1–4 Jahre) Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869
Grafik 3.2.2b: Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1890–1899: Kleinkinder (1–4 Jahre) Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1890–1899
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Bei der grafischen Abbildung der für dieses Tal ermittelten Sterblichkeit kann leider nicht auf die Sterbeziffer nach Geschlechtern sowie nach Altersgruppen zurückgegriffen werden, da die anwesende Bevölkerung des Bezirksgericht Taufers nur in den seltenen Volkszählungsjahren des späten 19. Jahrhunderts altersmäßig aufgeschlüsselt wird. Es muss demnach mangels Relativzahlen mit absoluten Zahlen operiert werden. Erschwerend kommt die aufgrund der Kleinräumigkeit des Untersuchungsgebietes für einzelne Jahre recht kleine Zahl an Verstorbenen in den jüngeren Altersstufen hinzu. Dennoch kann unter einigen Vorbehalten für die Gruppe der Kleinkinder gezeigt werden, dass die Zahlen der verstorbenen männlichen Ein- bis Vierjährigen sowohl in den 1860er als auch in den 1890er Jahren bei der überwiegenden Mehrzahl der Jahre über jenen der weiblichen Gestorbenen liegen. Die verheerende Wirkung der ausgedehnten Scharlach-, Masern- und Pockenepidemien der Jahre 1865 bis 1867 auf die Kleinkinder des Tales schlägt sich in deutlich sichtbaren Höhepunkten nieder, ebenso jene der großen Diphtherieepidemien der Jahre 1892 und 1893. Sämtliche Infektionskrankheiten haben auch unter den älteren Kindern hohe Opferzahlen gefordert, wie Grafik 3.2.2c und Grafik 3.2.2d zeigen. Allerdings fällt in der Altersgruppe der 4–14-Jährigen auf, dass im Jahrzehnt zwischen 1860 und 1869 tendenziell jene Jahre überwiegen, in denen mehr Knaben als Mädchen begraben werden mussten, wohingegen in den Jahren von 1890 bis 1899 die Zahl der verstorbenen Mädchen überwog. Somit spiegelt sich auch in den Kirchenbüchern der Tauferer Ahrntaler Gemeinden jenes durchgängige Muster der Übersterblichkeit älterer Mädchen wider, das in den Sterberegistern so vieler europäischer Länder in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts manifest wurde. Wie die bisherigen Ausführun-
Grafik 3.2.2c: Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1860–1869: Kinder (4–14 Jahre) Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869
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Grafik 3.2.2d: Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1890–1899: Kinder (4–14 Jahre) Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1890–1899
gen zeigten, endete diese höhere Sterblichkeit der Mädchen in vielen dieser Länder im zweiten oder dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Unklar ist allerdings, ob dieses für Mädchen zwischen 5 und 15 so ungünstige Mortalitätsmuster schon in den früheren Jahrhunderten anzutreffen war und falls nicht, wann dieser Prozess der Verschlechterung letztendlich begonnen haben könnte. Im Osnabrücker Kirchspiel Belm war die höhere Sterblichkeit der jüngeren Mädchen über den gesamten Zeitraum von 1771 bis 1858 betrachtet jedenfalls noch nicht ausgebildet, denn Berechnungen zur Sterbewahrscheinlichkeit der Ein- bis Vierjährigen ergaben für Knaben die Ziffer 0,115 und für Mädchen 0,101. In der nächstfolgenden Altersstufe der 5–10-Jährigen hatten die Jungen mit 0,068 allerdings dann doch einen eindeutigen Überlebensvorteil vor den Mädchen mit 0,072.208 Insgesamt war das Mortalitätsrisiko für das weibliche Geschlecht während der ersten 15 Lebensjahre nicht zuletzt aufgrund der Knabenübersterblichkeit im Säuglings- und frühen Kleinkindalter aber um ca. 10 Prozent geringer als für das männliche.209 Auch für französische Bevölkerungsstatistiker gehörte die Mehrsterblichkeit der Mädchen in der Altersgruppe der 5–14-Jährigen das gesamte 19. Jahrhundert hindurch zum alltäglichen Bild210, ebenso für jene in England.211 Laut einer neueren 208 209 210 211
Schlumbohm, Lebensläufe, 154 (Tab. 3.16e). Schlumbohm, Lebensläufe, 159. Bourgeois-Pichat, development, 495 (Tables 2 und 3). Shorter gibt den Umschwung bei den 10-Jährigen in den Jahren 1866–1870 an und für die 15-Jährigen in den Jahren 1896–1900. Shorter, Körper, 262 (Tab. 9.1).
3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“
167
Untersuchung zur demografischen Entwicklung der englischen Bevölkerung von ca. 1600 bis 1840 von Wrigley et al. begann in den untersuchten 26 englischen Pfarren die weibliche Sterblichkeit in den Altersstufen von 1 bis 15 Jahren jene der männlichen im Zeitraum um 1750 deutlich zu überschreiten, und zwar bei den älteren Mädchen stärker als bei den jüngeren.212 Es hatte zwar schon vor 1750 Perioden gegeben, in denen die männlichen Sterberaten unter den weiblichen lagen, im Gegensatz zum 18. und 19. Jahrhundert waren diese Differentiale aber weder ausgeprägt noch von längerer Dauer. Im ländlichen Schweden hingegen war Fridlizius zufolge eine weibliche Übersterblichkeit sowohl bei den jüngeren (5–10) als auch bei den älteren Kindern (10–15) im 18. und nahezu dem gesamten 19. Jahrhundert unbekannt. Dieses für Knaben ungünstige Verhältnis änderte sich erst in den 1870er Jahren sowie zeitverzögert um die Jahrhundertwende für die 5–10-Jährigen.213 Das Kleinkindalter (0–5) betreffend zeigt die Untersuchung von Knodel zu 14 deutschen Dörfern, dass über den gesamten Zeitraum von 1750 bis 1900 betrachtet die Sterblichkeit der Knaben in den meisten Dörfern leicht unter jener der Mädchen lag, wobei dieser Vorteil hauptsächlich aus einer niedrigeren Sterblichkeit in den höheren Altersjahren resultierte. Lediglich in den untersuchten bayerischen Dörfern und im ostfriesischen Werdum lag ihre Sterblichkeit weit über jener der gleichaltrigen Mädchen.214 Allerdings macht eine genauere zeitliche Untergliederung auch deutlich, dass sich in einigen badischen und hessischen Dörfern die geschlechtsspezifische Sterbewahrscheinlichkeit von einem im 18. Jahrhundert annähernd gleichen Sterberisiko 0–5-jähriger Knaben und Mädchen bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes im Jahre 1900 zu einem zunehmenden Nachteil zuungunsten der Knaben zu wandeln begonnen hatte.215 3.2.3 „beim Schafehüten verunglückt“216: das Todesursachenspektrum bei Jungen und Mädchen im Tauferer Ahrntal Tabelle 3.2.2a. zeigt deutlich, dass im Jahrzehnt zwischen 1860 und 1869 die überwiegende Zahl sowohl der männlichen als auch der weiblichen Kinder „akuten Krankheiten“ zum Opfer fiel. Scharlach, Masern, Pocken, zu einem geringeren Anteil auch Typhoide und das „Frieselfieber“ waren für rund 50 Prozent aller Todesfälle in dieser Altersgruppe verantwortlich. Insgesamt ist der Anteil der klassischen Infektionskrankheiten jedoch noch höher anzusetzen, da gemäß der gewählten Systematik nach Oesterlen Keuchhusten der Rubrik „Atmungsorgane“ zugeordnet wurde und Diphtherie der Rubrik „Ver212 213 214 215 216
Wrigley et al., history, 298 f. (Table 6.22) und 296 f. (Fig. 6.28). Fridlizius, Mortality, 266 (Table 12); 238 f. (Fig. 1). Knodel, Demographic behaviour, 80 (Table 4.4). Knodel, Demographic behaviour, 78 (Table 4.4). SLA, Sterbebuch Lappach 1860. Sterbeeintrag zum zwölfjährigen Peter Unterhofer vom 11. Juni.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
dauungsorgane“. 60 bis 70 Prozent aller Sterbefälle in der Altersstufe der 1–14-Jährigen dürften somit auf die klassischen Kinderkrankheiten entfallen. Allerdings waren Kinder in den einzelnen Altersabschnitten im unterschiedlichem Ausmaß von dem Risiko betroffen, einer der genannten Krankheiten zum Opfer zu fallen: Wie Sterbeziffern aus England belegen, waren im Zeitraum 1858/59 neun Zehntel aller Maserntodesfälle und sogar 96 Prozent aller Keuchhustentodesfälle bei den 0–5-Jährigen zu beklagen, wohingegen der Scharlach und die Diphtherie auch unter den älteren Kindern zahlreiche Sterbefälle verursachten.217 Dementsprechend gehörten im Jahrfünft 1895– 1900 in Zisleithanien drei von vier Diphtherieopfern der Altersgruppe der Kleinkinder an und 95 Prozent jener der Unter-Zehnjährigen, lediglich ein Prozent aller daran Verstorbenen hatte das zwanzigste Lebensjahr schon überschritten.218 Vor dem letalen Ausgang einer Pockenerkrankung hingegen waren nicht einmal ältere Erwachsene gefeit, denn in den Jahren 1858 und 1859 waren 5–6 Prozent aller Pockentoten in England über 25 Jahre alt.219 Einer neueren Studie von Michael Pammer zufolge mussten „frischgebackene“ österreichische Eltern um 1880 damit rechnen, dass rund 9 Prozent der Neugeborenen noch im Kindesalter an Masern, Scharlach oder Diphtherie sterben würden.220 Im Tauferer Ahrntal lag der prozentuale Anteil der Infektionskrankheiten bei den älteren Kindern (4–14 Jahre) insgesamt höher als bei den Kleinkindern, womit der Schule als einem möglichen Ort der Ansteckung bei der qualitativen Auswertung der Histioriae Morborum eine große Bedeutung beizumessen sein wird. Natürlich wurde das allgemeine Sterblichkeitsgeschehen hinsichtlich akuter Infektionskrankheiten stark von einzelnen Epidemiejahren beeinflusst: So war der markante Höhepunkt des Jahres 1865 einer äußerst letal verlaufenden Scharlachepidemie geschuldet, deren Auswirkungen auf die erkrankten Kinder durch den hinzutretenden Keuchhusten zusätzlich verschlimmert wurden. Von August 1866 bis Februar 1867 hielten die Pocken bei den jüngsten Teilen der Bevölkerung „reichlich Ernte“. Diphtherietote mussten hauptsächlich in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts begraben werden. Die Infektionskrankheiten des Kindesalters besaßen demnach im Todesursachenspektrum nicht nur des Bezirkes Taufers noch eine herausragende Stellung. 1873–1875 waren 918 von 10.000 Todesfällen in Zisleithanien durch akute Exantheme bedingt, wobei Tirol im Vergleich zu den österreichischen Ländern mit 799 im guten Mittelfeld lag.221 In Galizien etwa war die Sterbeziffer ausgesprochen hoch (1.174 pro 10.000 Verstorbene), in Oberösterreich wiederum zeichnete sich der „Rückzug des Todes“ bei diesem Krankheitskomplex schon langsam ab (589 pro 10.000 Verstorbene).222 217 218 219 220 221 222
Oesterlen, Handbuch, 479 f., 484 f. und 564. Pammer, Diphtherie [2005], 74 und 75, Grafik 1. Oesterlen, Handbuch, 467. Vgl. Pammer, Diphtherie [2009], 49. Daimer, Todesursachen, 125. Daimer, Todesursachen, 125.
3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“
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Tab. 3.2.2a: Veränderung des Todesursachenspektrums bei (Klein-)Kindern (1–14 J.) im Tauferer Ahrntal: 1860–1869 und 1890–1899
Todesursachen
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total (Zahlen absolut)
Prozentualer Anteil einer Todesursache innerhalb der Gruppe der Knaben
Prozentualer Anteil einer Todesursache innerhalb der Gruppe der Mädchen
1860–1869
1860–1869
1890–1899
1890–1899
2,1 49,2 10,6 0 5,1 22 0 0 0 0,4
1,9 3,4 5,8 1 21,6 57,7 0,5 0 0,5 0
3,5 50,2 8,4 0 11,9 17,6 0 0 0 0,4
4,4 8,4 11,3 2 18,7 48,3 1,5 0 0 1,5
6,8 3,8
5,8 1,9
4 4
3 1
0
0
0
0
100 (236)
100 (208)
100 (227)
100 (203)
Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen.
Dementsprechend hatten die genannten Krankheiten zwischen 1890 und 1899 im Gegensatz zu den 1860er Jahren ihren Status als „große Killer“ weitgehend eingebüßt. Diese Verschiebung im Todesursachenspektrum lässt sich in den übrigen Südtiroler Bezirken ebenso beobachten wie in jenen Nordtirols und des Trentino.223 Der Anteil der Rubrik „Akute Krankheiten“ an der Gesamtzahl aller Todesfälle zwischen ein und 14 Jahren im Tal war bei den Knaben auf marginale 3,4 Prozent und bei den Mädchen auf 8,4 Prozent gesunken. Hauptverantwortlich für diese Veränderung des Todesursachenspektrums im Tauferer Ahrntal war zum einen der völlige Rückzug der Pocken aus dem Sterblichkeitsgeschehen. So mussten in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts in Tirol zwar noch Ansteckungen mit dem Pockenerreger verzeichnet werden, allerdings starben nur noch vereinzelt Menschen daran. Die in den Statistiken aufgeführten 78 Pockentoten erscheinen dabei als nahezu vernachlässigbare Größe im Vergleich zu den enormen Opferzahlen der letzten 223 Vgl. dazu Dietrich-Daum, L’evoluzione, 5–7 und Tabelle im Manuskript [im Druck].
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schweren Pockenepidemie, die zwischen 1882 und 1885 durch einzelne Regionen des Landes gezogen war.224 Im Tauferer Ahrntal hatte sich zusätzlich auch die Sterblichkeit an Scharlach, Masern und an typhoiden Erkrankungen stark vermindert, und größere Epidemien wie jene der Masern 1891/92 verliefen milder als vergleichbare Seuchenzüge in den 1860er Jahren. Insgesamt entfielen in Tirol zwischen 1890 und 1895 noch 140 und zwischen 1895 und 1900 126 von 10.000 Todesfällen auf Scharlach, Masern oder Pocken. Die entsprechenden Durchschnittswerte für das gesamte Staatsgebiet lagen bei 411 bzw. 388.225 Keuchhusten und Diphtherie hingegen konnten weniger stark zurückgedrängt werden.226 Der überwiegende Teil der Kinder im Tauferer Ahrntal ging in den 1890er Jahren somit an Diphtherie zugrunde. Die Jahre 1892, 1893 und 1895 waren von dieser Infektionskrankheit dominiert und hoben sich als Gipfel deutlich von anderen Jahren ab (vgl. Grafiken 3.2.2b und 3.2.2d). Die an sich schon ungünstigen Prognosen im Falle einer Erkrankung an Diphtherie verschlechterten sich für viele geschwächte Kinder durch das gleichzeitige Auftreten des Keuchhustens zusätzlich. Aufgrund der Verwendung von absoluten Fallzahlen und von mitunter verwirrenden Krankheitsbezeichnungen in den Sterbebüchern sind geschlechtsspezifische Unterschiede nur schwer zu interpretieren, jedoch scheinen Mädchen dem Keuchhusten ungleich öfter zum Opfer gefallen zu sein als Knaben (insgesamt 13 männliche Verstorben zu 25 weiblichen in beiden Jahrzehnten). Das massive Auftreten tödlich endender Diphtherieerkrankungen in den 1890er Jahren erklärt den im Vergleich zu den 1860er Jahren rapiden Anstieg des prozentualen Anteils der Todesursache „Verdauungsorgane“ von ca. 20 auf rund 50 Prozent. Mit gut der Hälfte aller Todesfälle in der Altersgruppe der Kinder dominierte diese Rubrik somit das Todesursachenspektrum klar. Als Infektion des Rachenraumes schlug Oesterlen sie dem Verdauungsapparat zu, was allerdings nur einen Teil dieses auffallenden Anstiegs erklärt. Die massive Veränderung dürfte vielmehr auch aus einer zwischen 1890 und 1899 ungleich genaueren Diagnostik von „Darmkatarrhen“ als Todesursache resultieren, v. a. in der Altersgruppe der Kleinkinder (1–4 Jahre). In den 1860er Jahren wurden bei vielen Kindern noch die unspezifischen „Gichter“ und „Fraisen“ als Todesursache in die Sterberegister der Pfarren eingetragen, obwohl viele dieser Kinder eigentlich an Katarrhen des Magens und des Darmes oder an anderen Krankheiten der Verdauungsorgane verstorben waren. Die Diagnostik bzw. der Druck auf die Totenbeschauer zum sorgfältigeren Ausfüllen der Totenscheine dürfte sich zwischen den beiden Untersuchungszeiträumen erhöht haben.227
224 Vgl. dazu Unterkircher, Tyroler, 49 f. 225 Vgl. Daimer, Todesursachen, 125. 226 Der Anteil der Diphtherie an allen Todesursachen lag 1891–1900 in den Alpenländern Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Kärnten und Steiermark bei 5,8 pro 10.000 Einwohner, jener des Keuchhustens bei 2,5. Vgl. Prinzing, Todesursachen, 776. 227 Zu diesem Aspekt vgl. ausführlich Dietrich-Daum, Reporting Death, 149–151.
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Abb. 3.2.2: „An Anxious Hour“ Quelle: Postkarte nach einem Gemälde von Alexander Farmer (1825–1869), 1865 (Repro, Privatbesitz). Original: Victoria and Albert Museum, London.
Dies geht auch aus dem parallelen Rückgang der Prozentanteile an der Rubrik „Nervensystem“ hervor, der etwa bei den Knaben gut ein Zehntel aller Todesursachen ausmachte, wohingegen deren Anteil in den 1890er Jahren mit nur noch rund 5,8 Prozent praktisch halbiert wurde. In eben dieser Rubrik waren aber die Sterbefälle an „Gichter“ oder „Fraisen“ verzeichnet. Dass dieser Rückgang bei den Mädchen nicht verzeichnet werden konnte, liegt einerseits an der geschlechterspezifisch ungleich höheren Erkrankungsrate männlicher Kleinkinder an Magendarmkatarrhen, die in dieser späteren Periode zudem exakter diagnostiziert wurden. Offensichtlich jedoch fühlten sich die zuständigen Totenbeschauer im Falle der nicht sehr konkreten Krampfanfälle bei verstorbenen weiblichen (Klein-)Kindern seltener zu einem genaueren Nachforschen der eigentlichen Todesursache bemüßigt als bei den daran verstorbenen Knaben. Mehr als doppelt so hohe Anteile bei Mädchen als bei Knaben wiesen mit 11,9 zu 5,1 Prozent in den 1860er Jahren die Sterbefälle an Erkrankungen der Atmungsorgane auf. Ein Teil dieses Unterschiedes lässt sich auf die höhere Sterblichkeit von Mädchen an Keuchhusten, v. a. im Kleinkindalter, zurückführen. Auch wenn sich die deutliche Verschiebung des Todesursachenpanoramas hin zu einer Dominanz von Atemwegserkrankungen ebenfalls durch eine exaktere Diagnostik einzelner diesbezüglicher Todesursachen erklären lässt (etwa bei „Bronchitis“ und „Bronchialkatarrh“), so fällt die Zunahme in den 1890er Jahren dennoch zu stark aus, um ihn allein damit zu begründen
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(씹: 21,6 Prozent; 씸: 18,7 Prozent). Wie Dietrich-Daum kürzlich zeigen konnte, war ein Anstieg aufgrund der Todesursachen „Entzündliche Erkrankungen der Atmungsorgane“ und „Tuberkulose“ in diesem Zeitraum für ganz Südtirol und dem Trentino festzustellen.228 In der untersuchten Altersgruppe muss daher dem Krankheitskomplex der Atmungsorgane im ausgehenden 19. Jahrhundert bei beiden Geschlechtern eine Schlüsselrolle zugeschrieben werden, was das Sterblichkeitsgeschehen (nicht nur) in diesem Tal anging. Diese These wird durch die Veränderungen in der Rubrik „Chronische Erkrankungen“ gestützt, worunter sich neben anderen chronischen Krankheiten wie der Wassersucht oder der Rachitis auch Sterbefälle an Tuberkulose finden. Die angeführten absoluten Zahlen besitzen gegenüber altersspezifischen Mortalitätsraten zwar nur bedingte Aussagekraft und sind überdies sehr klein. Zusätzlich erschwert wird eine präzise Einschätzung der TBC-Sterblichkeit durch die in den Sterbebüchern unterschiedlich gehandhabte Begriffsverwendung. So könnten sich hinter der sehr unspezifischen Todesursache „Auszehrung“ oder „Abzehrung“ sehr wohl tuberkulöse Lungenleiden verbergen (diese Fälle wurden in die Rubrik „Sonstige“ gegeben), ebenso bei den drei nur Mädchen betreffenden Fällen von „Blutarmut“.229 Trotz dieser methodischen Schwierigkeiten weisen die Zahlen auf die Bedeutung der Tuberkulose als Sterbeursache vor allem für weibliche Kinder hin. In beiden Jahrzehnten findet sich der entsprechende Hinweis auf eine tuberkulöse Grunderkrankung bei acht Mädchen, hingegen nur bei drei Knaben. Zum Zeitpunkt der für diese Studie ausgewählten Stichproben aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die in neueren Studien ausführlich beschriebene Verschiebung der altersspezifischen Tuberkulosemortalität von den Kindern hin zu den jungen Erwachsenen jedenfalls bereits deutlich zu erkennen.230 Bis zum frühen 20. Jahrhundert waren die diesbezüglichen Sterberaten bei (Klein-)Kindern im Vergleich zur Mitte des 18. Jahrhunderts massiv gesunken und konzentrierten sich vorwiegend auf die Altersgruppen im Haupterwerbsalter. Eine Bemerkung des späteren Herausgebers des ersten Handbuchs für Kinderkrankheiten, Carl Gerhardt (1833–1903), gibt als zeitgenössisches Dokument die altersspezifischen Mortalitätsdifferentiale hinsichtlich dieser Infektionskrankheit um 1860 unmissverständlich wider. Gerhardt schreibt in diesem Lehrbuch: „Die Häufigkeit der Tuberkulose bei Kindern ist geringer als bei Erwachsenen, demnach bei solchen, die der Pubertät nahestehen, am grössten […].“231 Er sah die männlichen gegenüber den weiblichen
228 Vgl. Dietrich-Daum, L’evoluzione, 7 im Manuskript [im Druck]. 229 So finden sich in einigen Sterbematriken des Tales ältere, eher an den Krankheitsverlauf orientierte Bezeichnungen wie „Zehrfieber“ oder „Auszehrung“, wohingegen in anderen Pfarren schon genau zwischen einzelnen Tuberkuloseformen differenziert wurde („Miliar-Tuberkulose“, „Lungentuberkulose“ oder „Bauchtuberkulose“). Zu diesem Aspekt vgl. Dietrich-Daum, Geschichte, 178–180. 230 Vgl. zur altersspezifischen TBC-Sterblichkeit die Studien von Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 120–124, und Weigl, Wandel [2000a], 242–251. 231 Gerhardt, Lehrbuch, 225.
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Kindern dabei deutlich benachteiligt, allerdings traf diese Einschätzung nur auf die allerersten Lebensjahre zu. Wie verfügbare Daten aus England zeigen, lieferten in den Jahren 1858 und 1859 Kinder tatsächlich die verhältnismäßig wenigsten Todesfälle aller Altersgruppen an Tuberkulose, doch lag die Sterblichkeit spätestens mit dem fünften Lebensjahr bei Mädchen höher als bei Knaben.232 Ab dem zehnten Lebensjahr stieg der Anteil rasant an, und zwar bei den Mädchen schneller als bei den Knaben. In den beiden nächstfolgenden Altersgruppen (15–25 und 25–30 Jahre) erreichten die Todesfälle ihr Maximum: diese beiden Altersstufen lieferten über die Hälfte aller Tuberkulosesterbefälle, wobei die Frauen mit 275 pro 1.000 Todesfälle etwa bei den 15–25-Jährigen deutlich über den Männern mit 238 pro 1.000 Todesfälle lagen.233 Dennoch erlangte durch das massive Zurückdrängen der klassischen Infektionskrankheiten des Kinderalters bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Tuberkulose als Todesursache in den jüngeren Altersgruppen eine immer gewichtigere Rolle. In Preußen etwa wandelte sich diese Infektionskrankheit zur Jahrhundertwende zu einer der Haupttodesursachen in der Altersgruppe der 5–15-Jährigen, nachdem sie einige Jahrzehnte davor im Todesursachenspektrum des Kinderalters nur in den hinteren Rängen anzutreffen war.234 Berechnet auf ihren Anteil pro 10.000 Lebende, lag die Tuberkulose nun bei den älteren Knaben nur noch knapp hinter einigen Kinderkrankheiten wie Scharlach oder Diphtherie, bei den Mädchen hatte sie sogar schon die Spitzenposition erreicht. Im Jahr 1907 war Tuberkulose mit 4,1 pro 10.000 Lebende schließlich auch bei den männlichen 5–15-Jährigen für die meisten Sterbefälle verantwortlich. Lediglich die unspezifische Rubrik „andere Ursachen“ konnte eine geringfügig höhere Rate aufweisen (4,4 pro 10.000 Lebende).235 Um 1925 hatten in dieser Altersgruppe schließlich nur noch unfallbedingte Todesursachen mit einem Anteil von 13,2 Prozent an der Gesamtsterblichkeit annähernd vergleichbare Werte wie die Tuberkulose (17,6 Prozent), insofern die Kategorie „andere Ursachen“ nicht mit eingerechnet wird (17,9 Prozent ).236 Bei der Gruppe der Kleinkinder spielte Tuberkulose als Todesursache im Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten jedoch weiterhin nur eine untergeordnete Rolle. Die Berechnungen Jörg Vögeles hatten allerdings auch ergeben, dass vom letzten Drittel des 19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Tuberkulosesterbefälle 5–15-Jähriger Männer immer unter jenen der gleichaltrigen Frauen lagen.237
232 Vgl. die Tabelle bei Oesterlen, Handbuch, 383. 233 Vgl. Oesterlen, Handbuch, 383 f. 234 Vgl. die entsprechenden Zahlen bei Vögele, Sozialgeschichte, 481–487, Anhang 3.2, 3.4, 3,6 und 3.8. 235 Vögele, Sozialgeschichte, 487, Anhang 3.8. 236 Prinzing, Handbuch, 366. 237 Vögele, Sozialgeschichte, 481–487, Anhang 3.2, 3.4, 3,6 und 3.8. Vgl. auch die entsprechenden Daten aus der Schweiz und Deutschland bei Prinzing, Handbuch, 456 f.
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Wie in Tabelle 3.2.2a ersichtlich, bestimmten sonstige Todesursachen wie etwa jene, denen Erkrankungen der Zirkulationsorgane zugrunde lagen, das Todesursachenspektrum in der Altersgruppe der Kinder nur marginal. Der in beiden Jahrzehnten höher liegende Anteil von Knaben, die an „nicht krankhaften Ursachen“ (Unfälle, Mord) starben, ist augenscheinlich, vermag aber nicht zu überraschen. Die ungleich höhere Unfallsterblichkeit von Knaben ist ein konstant zu beobachtendes Phänomen. Beachtenswert erscheint mir eher, dass die einzigen in diesen beiden Jahrzehnten ermordeten zwei Kinder der Geschlechtergruppe der Mädchen angehörten. Ein achtjähriges Mädchen aus Mühlwald wurde 1862 im Bach ertränkt238, bei der sechsjährigen Maria Auer* aus Luttach hingegen lautet der entsprechende Eintrag im Sterberegister von 1869: „von der irrsinnigen Mutter im Brunntroge ertränkt, welche danach noch das einst ihr gehörige Gartenhaus angeschürt hat“.239 3.2.4 „…die wenigsten Eltern fühlen sich gedrungen, für ihre kranken Kinder ärztliche Hülfe in Anspruch zu nehmen…“240: die Nachfrage nach ärztlicher Behandlung von Kindern in der Praxis Franz v. Ottenthals Von der traditionellen Medizingeschichtsschreibung wurden Kleinkinder und Kinder nur selten als eigenständige Patientengruppe problematisiert.241 Die vorherrschende Ausrichtung des Faches auf die Geschichte von Institutionen und auf Professionalisierungsschritte der Ärzteschaft versperrte lange Zeit patientenorientierte Zugänge zu diesen jüngsten Altersstufen. Von einer klassischen medizinhistorischen Perspektive aus konnte die wissenschaftliche Beschäftigung mit Aspekten der Kinderheilkunde bestenfalls ab jenem Zeitpunkt interessant werden, als mit der Einrichtung spezifischer Abteilungen in Spitälern, Kliniken oder Nervenheilanstalten sowie mit den Veränderungen in der Nosologie der Kinderkrankheiten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die „echte Revolution“242 auf diesem Gebiet einsetzte. So herrschte lange Zeit das Bild vor, Kinder wären nur selten zum Arzt gebracht worden, sei es aus ökonomischen Überlegungen, aus Fatalismus angesichts der hohen Kindersterblichkeit oder weil Ärzte Kinder noch nicht als lukrative Zielgruppe entdeckt hätten.
238 SLA, Sterbebuch Mühlwald 1862. 239 SLA, Sterbebuch Luttach 1869. 240 TLA, Akten Statthalterei 1860, Sanität, Z. 35250/2714, ad 1923 Sanität. „Bericht des k. k. Bezirksarztes zu Bruneck über den Ausbruch des Masern und der Ruhr unter den Kindern zu St. Vigil in Enneberg vom 24.12.1859.“ 241 Ausnahmen sind etwa die Beiträge von Ritzmann, Faktor, 163–178, Ruisinger, Kinder, 218–236 und Ritzmann, Patienten, 189–208 zu ausgewählten Aspekten der Kinderheilkunde. Zuletzt füllte Ritzmann mit ihrer Monographie diese Lücke, allerdings nur für das 18. Jahrhundert. Vgl. Ritzmann, Sorgenkinder. 242 Neimann/Pierson, Geschichte, 2455. Vgl. auch das aufschlussreiche Inhaltsverzeichnis zu Peipers Chronik der Kinderheilkunde. Peiper, Chronik, XI–XV.
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Als „unfertigen Erwachsenen“243 wäre ihnen auch keine speziell auf diesen Lebensabschnitt zugeschnittene Medikation und Therapie verabreicht worden. Im sanitätsbehördlichen Schriftverkehr des 19. Jahrhunderts wurde die ärztliche Behandlung von Kindern hauptsächlich dann thematisiert, wenn eine Masern-, Scharlach- oder Keuchhustenepidemie die Begrenztheit einer dörflichen Umgebung verlassen hatte und zu einer Bedrohung für die Bevölkerung des gesamten Landstriches herangewachsen war. Und dies geschah in den Augen der Sanitätsbehörden meistens dann, wenn Eltern aus schierer Unvernunft das Schicksal ihrer erkrankten Kinder lieber den eigenen Hausmitteln als den Medikationen eines Arztes anvertrauten. Zu diesem Argumentationsmuster griff beispielsweise der Bezirksvorsteher von Taufers, Maximilian Tribus, im März 1865 gegenüber dem Bezirksphysikus in Bruneck, Dr. Johann Thavonati, nachdem eine Scharlachepidemie im Bezirk außer Kontrolle geraten war. An Belehrung der Bevölkerung von Seiten der Ärzte, wie im Falle einer Scharlacherkrankung mit den Kindern zu verfahren wäre, hätte es zwar nicht gemangelt, so Tribus. Allein „Wenn die Leute nur auch folgen würden!“244 Resignierend führte er in seinem Bericht näher aus: „Ueberhaupt ergibt sich leider sehr oft – wenn man die Wahrheit sagen will – daß die Bauern mehr Sorgfalt für krankes Vieh als für ihre Mitmenschen und insbesondere Kinder bei solchen Calamitaeten anwenden.“245 Auch ein Kollege aus dem Nachbarbezirk Enneberg lamentierte anlässlich eines Scharlachausbruches nur wenige Jahre zuvor, dass die wenigsten Eltern ihre erkrankten Kinder zu einem Arzt gebracht hätten, sondern allein mit Hausmitteln die Gesundheit der Sprösslinge wieder herzustellen suchten.246 Derartige Klagen von Ärzten an die Adresse der Sanitätsbehörden in Innsbruck über die fehlende Einsicht vieler Eltern, einen Arzt für ihren erkrankten Nachwuchs in Anspruch zu nehmen, sind zu Dutzenden überliefert. Sie scheinen zum Topos derartiger Epidemieberichte zu gehören.247 Bei genauerem Hinsehen hatten die meisten Eltern jedoch sehr wohl eine differenziertere Einstellung zu den unterschiedlichsten Heilerinnen und Heilern eines Ortes.248 Ein Bericht über den Ausbruch einer Scharlachepidemie in einem Dorf nahe Innsbruck lässt die Motive der Eltern für die ärztliche Konsultation 243 Laut Eduard Seidler wäre die vorherrschende Lehrmeinung zur physischen und psychischen Entwicklung des Kindes von der Antike bis zur Aufklärung auf einen Satz zu reduzieren: „Die Kindheit selbst ist eine Krankheit.“ Vgl. Seidler, Kind, 693. Zur Geschichte der Pädiatrie vgl. auch Ritzmann, Sorgenkinder, 24–65. 244 ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 160/2; N. 491, liegend in N. 1781; E.7/1865; Schreiben von Tribus vom 24.3.1865 an Dr. Thavonati. 245 Ebd. 246 TLA, Akten Statthalterei 1860, Sanität, Z. 35250/2714, ad 1923 Sanität. „Bericht des k. k. Bezirksarztes zu Bruneck über den Ausbruch des Masern und der Ruhr unter den Kindern zu St. Vigil in Enneberg vom 24.12.1859.“ 247 Eine Fülle ähnlicher Klagen gibt Stolberg aus dem bayerischen Raum wider. Vgl. Stolberg, Patientenschaft, 18 f. 248 Vgl. dazu Unterkircher, Konkurrenz, 168–174.
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in einem komplexeren Zusammenhang erscheinen. So hätten die Erkrankungen anfänglich einen sehr milden Verlauf genommen, um plötzlich eine unerwartete Heftigkeit zu entwickeln. Diese ursprüngliche Einschätzung eines milden Krankheitsverlaufs war es, die viele Eltern erst spät nach geeigneten Heilern suchen ließ und letztendlich den Tod zahlreicher Kinder verschuldete. Zumindest sah dies der Berichterstatter so, denn „beim Beginn des Fiebers war kein Arzt gerufen worden, sondern erst als die Angehörigen merkten, daß sich der Zustand der Kinder verschlimmere.“249 Von einer grundsätzlichen Ablehnung der gelehrten Medizin und einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Ärzten kann demnach keine Rede sein, ebensowenig von einer generellen Gleichgültigkeit der Eltern gegenüber kranken Kindern oder dem Kindstod.250 Vielmehr scheint der Entscheidungsfindungsprozess zur Heilerwahl einer eigenen Logik gefolgt zu sein, bei der die Bedrohlichkeit einer Erkrankung, die Selbstmedikation durch Familienangehörige und das Hinzuziehen eines Arztes sehr überlegt gegeneinander abgewogen wurden.251 Einige Einträge Franz v. Ottenthals zu seinen kindlichen Patienten lassen sich jedenfalls dahingehend interpretieren, etwa wenn er 1891 beim eineinhalbjährigen Peter Tasser* notierte: „ex septimana laborat diarrhoea, quae remediis domesticis non cedit.“252 Eine schnellere Entscheidung für eine Inanspruchnahme Ottenthals trafen hingegen die Eltern der vierjährigen Rosa Laimgruber* aus Ahornach.253 Diese konnten die Bauchschmerzen und den Durchfall ihrer Tochter zwar vorübergehend mit Theriak zum Stillstand bringen, die Beschwerden kehrten jedoch rasch wieder. Unsicher geworden durch das neuerliche Auftauchen der Schmerzen erschien ihnen die Medikation des Arztes dann doch angebrachter als das althergebrachte Hausmittel. Der These, Eltern hätten den drohenden Tod ihrer Kinder fatalistisch hingenommen, widersprechen ebenfalls vereinzelte Notizen in den Historiae Morborum. Im März 1860 behandelte Ottenthal beispielsweise einen eineinviertel Jahre alten Buben wegen angehaltenem Stuhlgang und Angina. Zwei Tage nach dieser Konsultation notiert er: „post fectum alvus secuta cum doloribus abdominis quibus parentes exterrefacti accurrunt“254. In diesem Fall eilten die Eltern also schnellstens zum Arzt, um der trotz der medikamentösen Behandlung eintretenden Verschlechterung des Krankheitszustandes Einhalt zu gebieten. Doch was sagen diese exemplarischen Einzelfälle über das tatsächliche Ausmaß der Nachfrage nach einer Behandlung kranker Kinder durch akademische Ärzte aus? 249 TLA, Akten Statthalterei 1859, Sanität, Z. 7823/1267 ex 1859. „Bericht über den Ausbruch des Scharlach-Fiebers in Ober-Leutasch vom 16.4.1859.“ 250 Zu diesem Aspekt vgl. die differenzierten Aussagen bei Wolff, Würgeengel, 127–129. 251 Ritzmann, Patienten, 198 f. Zum Aspekt der Selbstmedikation in Autobiographien siehe auch Hoffmann, Arzt, 222–237. 252 („…leidet seit einer Woche an Durchfall, der trotz Hausmitteln nicht aufhört…“). HM 229/1891, Eintrag vom 11.2.1891. 253 HM 1534/1885, Eintrag vom 17.8.1885. 254 („…nach der Darreichung [des Medikamentes aus der vorigen Konsultation, A. U.], Stuhlgang erfolgt mit Bauchschmerzen, durch die die erschreckten Eltern herbeieilten…“). HM 404/1860, Eintrag vom 24.3.1860.
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Eine systematische Auswertung von überlieferten Krankenjournalen erlaubt Rückschlüsse darauf, wie hoch der Anteil von Kindern an der gesamten Patientenschaft einer Arztpraxis denn nun tatsächlich war. Martin Dinges schätzte diesen für Arztpraxen des 17. und 20. Jahrhunderts zwischen sieben und 14 Prozent mit Maximalwerten in beide Richtungen.255 So stellten in der Praxis des kanadischen Arztes James Langstaff (1825–1889) Kinder ein Fünftel von dessen gesamter Klientel,256 und auch beim Berner Arzt Albrecht Haller (1708–1777) hatten über 20 Prozent der ihn zwischen 1731 und 1736 konsultierenden Personen das 14. Lebensjahr noch nicht überschritten.257 Johann Fr. Glaser (1707–1798) lag mit einem Kinderanteil von 17,8 Prozent in seiner Thüringischen Praxis ebenfalls über den von Dinges ermittelten Werten, allerdings sind bei diesem Arzt einige Zuordnungen von Patientinnen und Patienten zur Gruppe der Kinder wegen der verwendeten Terminologie unsicher.258 Mit einem Anteil von rund zwölf Prozent an Kindern zwischen einem und 14 Jahren in den 1860er Jahren muss die Praxis Franz v. Ottenthals in diesem Punkt als durchschnittliche Arztpraxis gesehen werden (vgl. Grafik 3.2.3). Die Zahlen für Kleinkinder (1–4 Jahre) betrugen dabei 4,1 Prozent und jene für Kinder (4–14 Jahre) 7,9 Prozent. Wie Grafik 3.2.3 zudem zeigt, ist der Kinderanteil im Vergleichsjahrzehnt der 1890er Jahre nur leicht auf 14 Prozent ange-
Grafik 3.2.3: Prozentualer Anteil der Kleinkinder (1–4 Jahre) und der Kinder (4–14 Jahre) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals in den Jahrzehnten 1860–1869 und 1890–1899 Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen 255 256 257 258
Dinges, Immer schon 60 % Frauen?, 303 f. (Tab. 3). Duffin, Langstaff, 94 (Table 5.2). Ritzmann, Sorgenkinder, 106 f. Hess, Alltag, 97 (Tab. 7).
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stiegen (Kleinkinder: 4,9 Prozent, Kinder: 9 Prozent). Dieser minimale Zuwachs dürfte dabei auf eine veränderte Alterszusammensetzung der Bevölkerung zurückzuführen sein, denn aufgrund geburtenstarker Jahre sowie dem einsetzendem Rückgang der Kindersterblichkeit waren die jüngeren Altersklassen ungleich stärker vertreten als in den Jahren zwischen 1860 und 1869. Immerhin erreichten im Bezirk Taufers die Geburtenüberschussziffern in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit 5,11 und 3,72 die beiden höchsten Werte für das gesamte Jahrhundert.259 Dass dieser Befund kein regionales Spezifikum des Tauferer Ahrntals darstellt, belegt nicht zuletzt eine Studie zu Niederbayern von Michael Stolberg. Seine Auswertungen von neun ärztlichen Physikatsberichten aus den frühen 1860er Jahren ergaben hinsichtlich einer altersspezifischen Aufschlüsselung der Patientenschaft annähernd gleiche Werte wie für das Südtiroler Quellenmaterial. Die Altersgruppe zwischen zwei und zehn Jahren stellte in den niederbayerischen Praxen 9–12 Prozent, jene der Elf- bis Zwanzigjährigen rund 9 Prozent der Patientinnen und Patienten.260 Diese Zahlen belegen, dass Eltern sehr wohl die Hilfe von akademischen Ärzten in Anspruch nahmen, wenn sie sich dadurch eine Besserung des Krankheitszustandes ihrer Kinder erhofften. Ein wesentliches Kriterium für die Nachfrage scheint mir weniger der „ärztliche Habitus“ an sich als die grundsätzliche therapeutische Ausrichtung des Arztes gewesen zu sein. Denn im Falle von homöopathischen Ärzten war die elterliche Bereitschaft, für einen verlässlichen ärztlichen Rat zur Linderung der Schmerzen ihrer Kinder Mühen und Kosten auf sich zu nehmen, offenbar etwas höher, wie die Studien von Baschin zu Bönninghausen (1785–1864)261 sowie von Papsch262 und Jütte263 zu Hahnemann (1755–1843) nahelegen. Ritzmann vermutet nach Durchsicht einiger Briefkonsultationen Hahnemanns, dass frühe homöopathische Ärzte die zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorhandene große Skepsis vieler Ärzte gegenüber einer Behandlung kranker Kinder geschickt zu ihrem Vorteil zu nutzen verstanden, um sich am heilkundlichen Markt zu positionieren.264 In dieser Arbeit steht allerdings weniger die Einschätzung einer „Stufengliederung der Therapeuten“265 mit kinderheilkundigem Angebot im Vorder259 Vgl. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, 2. Band, 21 (Tab. 21). 260 Stolberg, Patientenschaft, 19 f. 261 Die Prozentangaben dazu lauten: in der Altersgruppe 0–5: 11 Prozent; in der Altersgruppe 6–10: 5,6 Prozent und in der Altersgruppe 11–15: 6,1 Prozent. Berechnet nach den absoluten Zahlen bei Baschin, Homöopathen, 407 (Tab. 9). 262 Papsch berechnete den Anteil von Kindern (0–14 Jahre) unter der Klientel Hahnemanns für die letzten Jahre seiner Praxis in Köthen auf unter 16 Prozent. Vgl. Papsch, Auswertung, 138. 263 In Hahnemanns Leipziger Praxis nahmen Kinder unter 10 Jahren einen Anteil von durchschnittlich 16,8 Prozent ein, Kinder zwischen 11 und 20 durchschnittlich 6,8 Prozent. Vgl. Jütte, Patientenschaft, 33, Abb. 33. Zu den Zahlen für die Eilenberger Jahre siehe 32, Abb. 8. 264 Vgl. Ritzmann, Patienten, 199. 265 Ritzmann, Faktor, 172 f.
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grund als die Frage, ob im Kindesalter geschlechterspezifische Unterschiede hinsichtlich der ärztlichen Inanspruchnahme festzustellen sind. So konnte Baschin für Bönninghausen eindeutig belegen, dass dieser Arzt annähernd gleich viele Jungen wie Mädchen zwischen sechs und zehn Jahren behandelt hatte, wohingegen in den nächstfolgenden Altersgruppen das weibliche Geschlecht deutlich überwog. Erst in der Altersgruppe der 26 bis 30-Jährigen zeigte sich wieder ein annähernd ausgewogenes Geschlechterverhältnis.266 Dieser Befund ist deswegen beachtenswert, weil anzunehmen ist, dass sich geschlechtsspezifische Verhaltensmuster hinsichtlich des Inanspruchnahmeverhaltens eines Arztes in der zweiten Lebensdekade zunehmend zu festigen beginnen.267 Wie stellt sich demnach die geschlechterspezifische Verteilung für die Gruppe der Kleinkinder und Kinder in den beiden für diese Studie ausgewählten Jahrzehnten in der Ottenthalschen Praxis dar? Wie schon im Abschnitt zur generellen Sterblichkeitsentwicklung in den jüngeren Altersgruppen ausgeführt, waren die geschlechtsspezifischen Mortalitätsdifferentiale in den Jahren unmittelbar nach dem Säuglingsalter nicht sehr stark ausgeprägt. Prinzipiell ist jedoch eine höhere Sterblichkeit der männlichen Kleinkinder festzustellen, wenn auch in einigen Regionen eine weibliche Übersterblichkeit im zweiten und dritten Lebensjahr nicht unbekannt war.268 Konsequenterweise müsste die Entwicklung der Morbidität annähernd parallel mit jener der Mortalität verlaufen. Und in der Tat bestätigen die am regionalen Beispiel des Südtiroler Bezirks Taufers erhobenen Daten zur geschlechtsspezifischen Behandlung von (Klein-)Kindern sehr gut diesen allgemeinen Trend. Zwischen 1860 und 1869 stellten männliche Kleinkinder in Summe einen geringfügig größeren Anteil in den Historiae Morborum als weibliche Kleinkinder gleichen Alters (231 zu 213 Personen). Ein ähnliches Ergebnis liefert die summarische Auszählung der Journale von 1890 bis 1899, auch wenn nun die weiblichen Kleinkinder mit 293 Patientinnen einen minimalen Überhang zu den 291 männlichen Altersgenossen aufwiesen (vgl. Grafiken 3.2.4a und 3.2.4b). Allerdings zeigen beide Grafiken deutlich, dass das Geschlechterverhältnis beinahe jährlich wechselte, folglich weder von einem stetigen noch eindeutigen männlichen oder weiblichen Überhang in dieser Arztpraxis gesprochen werden kann. Für die Altersgruppe der älteren Kinder hingegen ist das Überwiegen der Mädchen in der Praxis nicht zu übersehen: in beiden Jahrzehnten fanden weibliche Kinder zwischen vier und 14 Jahren eindeutig häufiger den Weg in die Praxis nach Sand als ihre männlichen Altersgenossen (vgl. Grafiken 3.2.4c und 3.2.4d).269
266 267 268 269
Baschin, Homöopathen 159, Schaubild 8. Hurrelmann, Gesundheits- und Entwicklungsprobleme, 51. Hier sei nochmals auf die Tabellen bei Prinzing, Handbuch, 362–371, verwiesen. In Summe betragen in der Altersgruppe der Vier- bis Vierzehnjährigen die Zahlen für die männlichen Kinder 385 und für die weiblichen Kinder 407 (1860–1869) bzw. 475 Knaben und 577 Mädchen (1890–1899).
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Grafik 3.2.4a: Patienten und Patientinnen Ottenthals 1860–1869: Kleinkinder (1–4 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869
Grafik 3.2.4b: Patienten und Patientinnen Ottenthals 1890–1899: Kleinkinder (1–4 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899
Zu Beginn dieses Kapitels wurde kurz der gegenwärtige Benachteiligungsdiskurs referiert, wonach Jungen die eigentlichen „Verlierer“ der gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte wären. Auch die Statistiken der Krankenanstalten, Arztpraxen oder Erziehungsberatungsstätten weisen hinsichtlich der physischen und psychischen Gesundheit eindeutig Mädchen als „Gewin-
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Grafik 3.2.4c: Patienten und Patientinnen Ottenthals 1860–1869: Kinder (4–14 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869
Grafik 3.2.4d: Patienten und Patientinnen Ottenthals 1890–1899: Kinder (4–14 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899
nerinnen“ aus. Vor 150 Jahren konnte davon noch keine Rede sein: Die Ergebnisse zu Ottenthals Praxis zeigen eindrücklich, dass weiblichen Kinder (zumindest die älteren unter ihnen ab dem fünften, sechsten Lebensjahr) offenbar größeren gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt waren, was diese vermehrt ärztliche Hilfe bei einem Allgemeinarzt in Anspruch nehmen ließ. Wie also ist
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
der Befund eines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufigeren Arztkontakts von weiblichen Kindern aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive einzuordnen? Profitierten Knaben deutlich mehr von den damals vorherrschenden ökonomischen Verhältnissen im Tauferer Ahrntal als Mädchen, wodurch sie offensichtlich nicht nur weniger häufig konkreten Ansteckungsrisiken ausgesetzt gewesen sein dürften, sondern ihr Immunsystem besser stärken und eine robustere Konstitution entwickeln konnten? Führten dadurch schwerere Erkrankungen für sie weniger oft zu lebensbedrohlichen Komplikationen, sodass die Eltern von kranken Knaben seltener zur Inanspruchnahme eines Arztes gezwungen waren? Oder aber internalisierte der männliche Teil der Tauferer Ahrntaler Bevölkerung schon im (älteren) Knabenalter die vorherrschenden Männlichkeitsmuster, laut denen die Sorge um den eigenen Körper mit Schwäche und das Hinwegsehen über Schmerzen mit Stärke gleichgesetzt wurde? Womöglich mussten sie fürchten, ihr Flehen an die Eltern, bei nicht lebensbedrohlichen Beschwerden ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen zu dürfen, wäre von der gleichaltrigen peer-group oder von den Eltern selbst mit dem Vorwurf der „Unmännlichkeit“ kommentiert worden. Zur Überprüfung dieser beiden Thesen sollen daher im Folgenden die konkreten Anlässe für eine Konsultation des Arztes herausgearbeitet und analysiert werden. Vorausgesetzt muss dabei werden, dass Knaben nicht aufgrund häufigerer äußerer Verletzungen, Brüche oder ähnlicher Arbeitsunfälle einen spezialisierten Wundarzt zu Rate zogen, während Mädchen eher den Allgemeinarzt aufsuchten. Ansonsten wären eine Kombination aus spezifischen Aufgabenprofil Ottenthals und gezielter Nachfrage von Seiten der Kinder bzw. deren Eltern nach konkreten Therapien für diesen geschlechtsspezifisch auffälligen Überhang von Mädchen zwischen vier und 14 Jahren verantwortlich. 3.2.5 Die Konsultationsgründe: Schule und Kinderarbeit als unterschiedliche Gesundheitsrisiken für Jungen und Mädchen? Tabelle 3.2.3a zeigt eine geschlechtsspezifische Analyse der Konsultationsgründe für Kinder im Alter von ein bis 14 Jahren für die in dieser Studie ausgewählten Zeiträume zwischen 1860 bis 1869 und 1890 bis 1899. In den 1860er Jahren wurde die Mehrzahl der Kinder in die Praxis Ottenthals gebracht, um wegen Beschwerden des Verdauungsapparates, der Atmungsorgane oder aufgrund einer akuten Infektionskrankheit (Masern, Scharlach, Pocken, Typhoide oder Friesel) behandeln zu werden.270 Der Anteil dieser drei Krankheitskomplexe an allen getätigten Konsultationen beträgt bei den Knaben rund 60 Prozent, bei den Mädchen ist der Anteil geringfügig niederer. Knapp über 10 Prozent aller beanspruchten Konsultationen konnten keinem konkreten Leiden zugerechnet werden und sind als „Sonstige“ ausgewiesen. 270 Zu beachten ist, dass Diphtherie unter die Verdauungsorgane subsumiert wurde, Keuchhusten wiederum unter die Atmungsorgane.
3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“
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In diesen Fällen wurde von Ottenthal weder eine klare Diagnose gegeben noch waren die notierten Symptome eindeutig einer bestimmten Gruppe, etwa der Hautdecke oder den Bewegungsorganen, zuzuordnen. Oftmals erlaubte auch die Vielzahl der festgehaltenen Symptome keine Zuweisung zu einer Rubrik.271 Allerdings dürfte der überwiegende Teil dieser Fälle ebenfalls die klassischen Kinderkrankheiten betreffen, wie etwa die charakteristische Symptomatik der Drüsenschwellungen in Kombination mit dem Alter und gerade in der jeweiligen Gemeinde herrschender Epidemien nahelegt. Krankengeschichten wie jene mit der Laufnummer 199 aus dem Jahr 1894 („1 anni ex septimana tumores refert submaxillares“) können für diesen „Typ“ geradezu als typisch abgesehen werden.272 Es dürfte demnach sicherlich nicht zu hoch gegriffen sein, die klassischen Kinderkrankheiten dieser Altersgruppe für mindestens 25 bis 30 Prozent aller in den 1860er Jahren getätigten Konsultationen verantwortlich zu machen. Folglich ist bei einem Vergleich des Behandlungsspektrums in den 1860er Jahren mit jenem der 1890er Jahre der Rückgang des Anteils der wegen „akuter Krankheiten“ behandelten Kinder am augenscheinlichsten. Deren Anteil hat sich um zwei Drittel verringert und nimmt nur noch ca. vier Prozent aller Konsultationsanlässe ein. Diese Entwicklung innerhalb der Praxis Ottenthals spiegelt den in Abschnitt 2.6 beschriebenen Rückzug der klassischen Infektionskrankheiten aus dem Todesursachenspektrum dieses Bezirkes wider. Ein ähnlicher Wandel der Todesursachen wurde für die meisten anderen Tiroler Bezirke273 sowie für Deutschland274 festgestellt. Neben dem starken Rückgang der typhösen Erkrankungen war vorwiegend das Verschwinden der Pocken aus dem medikalen Alltag der Bevölkerung dafür verantwortlich: Im gesamten Zeitraum zwischen 1890 und 1899 erwähnt Ottenthal unter seinen Patienten in der Altersgruppe 1–14 nur einen einzigen Fall aus dem Umfeld der Pockenerkrankungen, den er als Windpockenfall („fors a contagio varicellae“) beschreibt.275 Masern und Scharlach hingegen konnten immer noch zu größeren Seuchenzügen führen, wenn auch weniger dramatisch wie in den Jahrzehnten davor.276 271 Als Beispiel sei hier etwa die Krankengeschichte von Martin Gasser* aus Mühlbach angeführt: [„13 ann. ex 14 diebus laborat vertigine intensa cephalea appetitu dejecto nisu in vomitum vertigo autem videtur haereditaria a matre“]. („13 Jahre leidet seit vierzehn Tagen an Schwindel heftigem Kopfweh vertriebenem Appetit Neigung zum Erbrechen der Schwindel aber scheint von der Mutter vererbt“). HM 1886/1890, Eintrag vom 9.9.1890. 272 („…1 Jahr trägt wieder seit einer Woche Schwellungen im Unterkiefer…“). HM 199/1894, Eintrag vom 24.1.1894. 273 Dietrich-Daum, L’evoluzione, 5–8 im Manuskript [im Druck]. 274 Vögele, Sozialgeschichte, 109–113; Spree, Rückzug 18–26. 275 („…wahrscheinlich von einer Varizellen-Kontagion…“). HM 592/1892, Eintrag vom 9.3.1892. Da varicellae in beiden Jahrzehnten nur in einem einzigen Fall mit diesem medizinischen Terminus dokumentiert sind, ist unklar, ob es sich wirklich um Windpocken, um eine durch die erfolgreiche Durchimpfung bedingte modifizierte Form der Variola vera oder nur um einen pockenähnlichen Ausschlag gehandelt hat. Zu diesem Problemkomplex vgl. die Abhandlung von Bleker/Brinkschulte, Windpocken, 97–116. 276 Vgl. dazu Dietrich-Daum, L’evoluzione, 5–8 im Manuskript [im Druck].
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Tab. 3.2.3a: Veränderung der Konsultationsgründe bei (Klein-)Kindern im Tauferer Ahrntal, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899
Konsultationsgrund
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total (Zahlen absolut)
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der Knaben
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der Mädchen
1860–1869
1860–1869
1890–1899
1890–1899
5,2 13,7 4,6 0,9 14,4 30,7 2,5 2,4 3,8 5,1
3,1 4,1 8,2 0,7 19,3 34,1 2,4 0,4 4,3 6,4
7,4 12 7 0,5 14,6 26,7 1,2 0,8 3,5 7,6
5,9 3,4 5,6 0,6 21,4 32 1,3 0,3 5,7 9,9
4,1 12,4
3,7 12,2
2,6 16,2
2 10,9
0,4
1
0
0,8
100 (803)
100 (973)
100 (869)
100 (1081)
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen.
Die Frage nach einer bewussten weiblichen oder männlichen Benachteiligung ist für die Gruppe der Infektionskrankheiten allerdings nur schwer zu beantworten. Sofern eine solche aus der Struktur der Historiae Morborum bzw. generell aus Krankenakten vor dem frühen 20. Jahrhunderts herauszulesen ist, zeigt keine der typischen Kinderkrankheiten eine Tendenz zu einem bestimmten Geschlecht. Für den Keuchhusten wird den Mädchen eine tendenziell höhere Anfälligkeit nachgesagt, was vielfach mit einer unterschiedlichen hormonellen Ausstattung der Geschlechter begründet wird.277 Abseits derartiger genetisch-hormoneller Begründungen wären auffällige geschlechtsspezifische Morbiditäts- und Mortalitätsunterschiede in der Verweigerung einer angemessenen medizinischen Versorgung zu suchen oder im Versuch, besonders Söhne (oder Töchter) vor einem Ansteckungsrisiko zu schützen. Beispielsweise liegt hinsichtlich einiger Infektionskrankheiten das Mortali277 Siehe etwa Ritzmann, Kinderkrankheiten, 310. Vgl. auch die aufschlußreiche Grafik zur geschlechtsspezifischen Keuchhustensterblichkeit bei Pinnelli/Mancini, Gender Mortality, 83.
3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“
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tätsrisiko bei einer Ansteckung durch Geschwister erheblich höher als bei einer Ansteckung außerhalb der Familie, da bei ersterer durch den engeren Kontakt eine ungleich größere Menge an Viren übertragen wird.278 Die in vielen Kulturen und historischen Gesellschaften beobachtete Praxis, Jungen größere Freiräume außerhalb des Hauses etwa bei der Freizeitgestaltung zu gestatten, könnte sich diesbezüglich als krankheitshemmend erwiesen haben.279 Allerdings ist ein schlüssiger Nachweis bewusster Benachteiligungen durch die Eltern methodisch nur schwer zu erbringen, zumal im Kleinkindalter eine Ansteckung durch Geschwister der häufigste Übertragungsweg gewesen sein dürfte und nicht bei jedem Ansteckungsfall die Hilfe Ottenthals in Anspruch genommen wurde. Wie aber hätte in den Bauerngütern, Höfen oder Söllhäusern mit ihrer Vielzahl an Bewohnerinnen und Bewohnern eine Vermeidung spezifischer Ansteckungswege für den auserwählten Hoferben praktisch umgesetzt werden können? Befand sich in einer Hausgemeinschaft einmal ein masern- oder scharlachkrankes Kind, breitete sich die Infektion rasant aus, sei es durch die in der Winterzeit übliche Unterbringung des Erkrankten in der Stube als einzig beheizbaren Raum280 oder sei es durch die Beaufsichtigung der kleineren Geschwister durch die ältere Schwester (wohl weniger durch den älteren Bruder), die ihrerseits den ansteckenden Keim von der Schule mit nach Hause brachte. Denn eine nicht unbeträchtliche Zahl an Kindern dürfte die Viren von ihren Klassenkameraden in den Schulen aufgeschnappt haben. War die Schule demnach ein „gefährlicher Ort“ für die Mädchen und Jungen? Die hygienischen Verhältnisse in vielen Dorfschulen dürften eine rasche Verbreitung der Krankheitserreger eher unterstützt als verhindert haben. Hauptsächlich die verdorbene Luft in den schlecht gelüfteten Klassenzimmern und der stundenlange Aufenthalt in überfüllten Räumen wurden von den visitierenden Ärzten bemängelt.281 Die Gemeinde St. Jakob ließ etwa nach Einführung der Allgemeinen Schulpflicht gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Unterricht in einigen wenigen freien Kammern größerer Bauernhäuser abhalten, die laut zeitgenössischen Berichten jedoch eher zugigen Holzhütten geglichen hätten.282 Viele arme Landgemeinden konnten erst Jahrzehnte später das Geld zur Errichtung eines eigenen Schulhauses und zur Entlohnung eines ausgebildeten Schullehrers aufbringen. Vor dem Hintergrund der Miasmenund Kontagionslehre mussten die durchnässten Kleidungsstücke, die die Kinder nach dem langen Schulweg im Winter zum Trocknen über den Ofen hingen und an denen in den Augen des Sanitätspersonals schädliche Stoffe zu Hunderten hafteten, wahrlich bedrohlich gewirkt haben. Human-crowd-diseases 278 Vgl. dazu die Erläuterungen bei Waldron, Krankheit, 166 f. 279 Diese Wahrnehmung könnte natürlich auch aus einem „patriarchalen Blick“ auf die Gesellschaft herrühren, wie eine Veränderung der Perspektive auf die geschlechtsspezifische Aneignung von öffentlichen Räumen zeigt. Vgl. dazu Löw, Raumsoziologie, 246–254. 280 Vgl. dazu Wopfner, Bergbauernbuch I, 242 f. 281 So etwa von Prinzing, Handbuch, 219. Zur Schule als Ort der Gesundheitserziehung vgl. auch Dinges, Gesundheit, 98–102, und Golob, Schule, 82–84. 282 Innerhofer, Taufers, 224. In Steinhaus stellte hingegen der Ahrner Handel im großzügig gestalteten Gewerkenhaus ein Schulzimmer zur Verfügung.
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wie Masern, Pocken oder Scharlach konnten in derartigen Menschenansammlungen, die noch dazu keine ausreichende Immunisierung entwickelt hatten, ihr hohes Ansteckungspotential ungehemmt entfalten. Die Diagnosemöglichkeiten für eine frühzeitige Erkennung auffallender Symptome waren beschränkt und Präventivmaßnahmen nur wenig effektiv. Bis die Sanitätsbehörden auf den Ausbruch einer Infektionskrankheit reagieren konnten, trugen viele Kinder den Erreger schon in sich und hatten diesen auch schon weitergegeben. „Wenn sich aber die Fälle mehren, dann ist es auch bereits zu spät und eine Einschränkung der Epidemie nicht mehr zu erreichen“, meinte der Sanitätsrat Joseph Daimer um 1900 bezüglich des Keuchhustens und machte den Schulbesuch als wichtigen Verbreitungsweg nicht nur dieser Kinderkrankheit aus.283 Auch Ottenthal vermutete im April 1893, dass Symptome wie angina febrilis oder exsudata alba in pharynge, die ein zwölfjähriges Mädchen aus der Schule in Sand mitbrachte, die ersten Anzeichen der schon seit längerem unter den Kindern des Tals grassierenden Diphtherie wären.284 „Heri in schola adficiebatur febri et angina etiam tumor externus“, notierte Ottenthal auch beim 13-jährigen Mühlbacher Joseph Klammer*.285 Unklar ist, inwieweit die räumliche Trennung in Mädchen- und Bubenklassen zu geschlechtsspezifischen Ungleichheiten hinsichtlich möglicher Gesundheitsrisiken geführt haben könnte. In Sand beispielsweise richtete die Gemeindevorstehung in den 1840er Jahren eine von den Buben separierte zweiklassige Mädchenschule im kurz zuvor neu eingerichteten „Spital“286 ein. Diesen Klassen standen wie dem örtlichen Versorgungshaus Barmherzige Schwestern vor. Bis zu dieser Übersiedlung waren Mädchen und Buben in gemeinsamen Klassen im wenige Jahrzehnte zuvor erbauten Schulhaus unterrichtet worden.287 Was vor dem Hintergrund moderner Debatten um die Koedukation sehr fortschrittlich anmutet, könnte sich allerdings unbeabsichtigt als nachteilig für die Gesundheit der Mädchen erwiesen haben. Falls nämlich die Ordensfrauen neben ihrer Funktion als Schulschwestern zugleich auch für Pflegedienste abbestellt waren, konnten sie diverse Krankheitskeime eventuell infizierter Spitalsinsassen leicht an die Mädchen weitergeben. Dabei dürften weniger die typischen Kinderkrankheiten in den Blick zu nehmen sein als vielmehr andere hochgradig infektiöse Krankheiten wie Lungenentzündung oder Lungentuberkulose. Immerhin ist im Jahre 1897 bei Ottenthal die Krankengeschichte einer 24-jährigen Klosterfrau namens Schwester Hieronyma überliefert, die nicht 283 Daimer, Todesursachen, 132. 284 [„12 ann. heri post scholam reversa est cum angina febrili et exsudatis albis in pharynge“] („12 Jahre ist gestern von der Schule zurückgekommen mit fiebriger Angina und weißen Absonderungen im Rachen“). HM 631/1893, Eintrag vom 11.4.1893. 285 („…wurde gestern in der Schule von Fieber und Halsschmerzen befallen ebenso äußere Schwellung…“). HM 1272/1868, Eintrag vom 10.12.1868. 286 Bei dieser Einrichtung dürfte es sich allerdings eher um ein klassisches Versorgungshaus für den ländlichen Raum gehandelt haben. Zur medizinischen Landschaft des Tales im 19. Jahrhundert vgl. Taddei, Ottenthal, 156. 287 Siehe dazu Innerhofer, Taufers, 289.
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nur über auffällige Symptome wie tussis, cardiopalmus oder lateri sinistro decumbens dolor ibi klagte, sondern der auch ein verdächtiger Auswurf in Form von „sputa granula tuberculosa“288 attestiert wurde. Die im ganzen 19. Jahrhundert außergewöhnlich hohe Tuberkulosesterblichkeit der Barmherzigen Schwestern in den Mutterhäusern alarmierte jedenfalls wiederholt die Sanitätsbehörden in Innsbruck. Diese machten hauptsächlich die Krankenpflege für die im Verhältnis zu den übrigen Bevölkerungskreisen festgestellte Übersterblichkeit der Klosterfrauen verantwortlich, wenn in einigen Fällen auch die allgemein zu hohen Arbeitsbelastungen innerhalb der Klostermauern und die kränkliche Grundkonstitution so mancher Novizin als zusätzliche Krankheitsgründe angesehen wurden.289 Die Gültigkeit einer derartigen These dürfte anhand der Krankengeschichten allein allerdings nur sehr schwer überprüfen sein. Chronische Erkrankungen wie Tuberkulose nahmen allerdings einen unbedeutenden Anteil an der Gesamtzahl aller kindlichen Konsultationsgründe in der Ottenhalschen Ordination ein, wie aus der Tabelle 3.2.3a ersichtlich ist. Die „alltägliche Praxis“ dieses Arztes war hinsichtlich der Altersgruppe der Kinder vielmehr von akuten Infektionskrankheiten bestimmt, darunter in der Mehrzahl klassische Kinderkrankheiten. Den Hauptanteil unter den „exanthematischen“ Infekten stellten dabei Scharlach und Masern, auch wenn durch die Pockenepidemie von 1866/67 viele Pockenfälle kurativ von Ottenthal versorgt werden mussten. Wie schon früher ausgeführt, war der Scharlach zwischen 1860 und 1869 die häufigste Todesursache in der Gruppe der Kinderkrankheiten bei den Ein- bis Vierzehnjährigen, wobei hauptsächlich die verheerende Epidemie von 1865 zu dieser hohen Morbidität und Mortalität beitrug. Auch bei diesem Seuchenzug erwies sich die Schule als Hauptverbreitungsweg des Virus, was die Schließung vieler Dorfschulen wie etwa jener von St. Jakob („Herr Kurat hat daher die Schule geschlossen.“290) erforderlich machte. Doch nicht nur die Schule muss durch den engen Kontakt mit infizierten Personen als ein Ort mit hohem Ansteckungspotential eingestuft werden, schon der Schulweg selbst barg erhebliche Gesundheitsrisiken. Prinzipiell orientierte sich das Schuljahr auch im Tauferer Ahrntal am gängigen Arbeitsrhythmus agrarisch geprägter Gesellschaften. Der Unterricht dauerte demnach üblicherweise von Anfang November bis Ende April und fiel somit in einen Zeitraum, als die grundlegenden Arbeiten in der Landwirtschaft schon beendet und die zeitintensiven Frühjahrsarbeiten noch nicht begonnen hat288 [„tussis et cardiopalmus notabiliter minuti inter sputa granula tuberculosa lateri sinistro decumbens dolor ibi – et sub sterno intrat later. dextro incumbendo: cardialgia“] („Husten und Herzbeschwerden merklich vermindert, zwischenzeitlich kornähnlicher tuberkulöser Auswurf, beim Liegen auf der linken Seite Schmerzen dort – und beim Wenden auf die rechte Seite unter dem Brustbein, Magenkrämpfe“). HM 1486/1896, Eintrag vom 26.12.1896. 289 Vgl. zu diesem Aspekt Dietrich-Daum, Barmherzigkeit, 123; 144–146. 290 „Wird hiemit angezeigt, daß laut Bericht des Hr. Kuraten in St. Jakob, auch dort die Krankheit unter den Schulkindern bedeutend ausgebrochen, bis jetzt zwar Schulkind noch keines gestorben ist, wohl aber 3–4 v. jüngeren Alter. Herr Kurat hat daher die Schule geschlossen.“ ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 160/2; N. 640, liegend in N. 1781; E.7/1865; Schreiben des Kuraten v. Seyr an das BA Taufers vom 10.4.1865.
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ten.291 Für die jüngeren Kinder, die im Gegensatz zu den Älteren noch nicht zum körperlich anstrengenden Säen und Aufbereiten der Äcker eingesetzt werden konnten, gab es den gesamten Mai noch die Möglichkeit zum Besuch der Sommerschule.292 Der Unterricht über die Wintermonate war aber nun für viele Kinder mit großen Strapazen verbunden, denn für den Schulbesuch etwa in Sand mussten Kinder aus den an den Berghängen liegenden Fraktionen (etwa Außermühlwald oder Pieterstein) weite und steile Wege in Kauf nehmen. Bei starkem Schneefall und bei Dunkelheit konnte die gewünschte Teilnahme am Unterricht zu einer wahrhaft Kräfte zehrenden Angelegenheit werden, bei der so mancher Schüler und so manche Schülerin schon völlig entkräftet in die Schulstube gekommen sein dürfte. Die nachteiligen Folgen für die Gesundheit sind in Krankengeschichten wie jener von Katharina Obergasser* aus dem rund 1.450 Meter hoch gelegenen Oberhaus-Hof in Pojen oberhalb Sand nachzulesen, die „heri de schola adficiebatur frigore secuta est cephalea“.293 Auch das während des Unterrichts plötzlich auftretende Kopfweh und Erbrechen der elfjährigen Magdalena Früh* aus Sand führte Ottenthal darauf zurück, dass sie „in nive de via venit inde frigus humidum.“294 Verkühlungen und grippeähnliche Symptome, vielfach aber auch Lungenentzündungen konnten eine Folge dieser langen Märsche durch hüfthohe Schneedecken sein. Manche Knaben waren durch die gelegentliche Mithilfe bei winterlichen Waldarbeiten vielleicht etwas abgehärtet gegenüber Kälte und Schnee. Zudem erhielten sie für diese Arbeiten eventuell eine bessere und fettreichere Kost als Mädchen, die v. a. innerhäusliche Arbeiten in der beheizten Stube oder Küche verrichten mussten. Ein kontinuierlicher Aufenthalt in der freien Luft könnte in einem gewissen Sinne vielleicht gesundheitsförderlich gewesen sein, indem die Immunabwehr gegenüber manchen Lungenkrankheiten gestärkt wurde. Allerdings ist eine differenziertere Auswertung nach Konsultationsgründen und Geschlechtern sowohl bei den Erkrankungen der Atemwege als auch bei den Verdauungskrankheiten nur unter Vorbehalt durchzuführen. Ottenthal notierte oftmals nur die Symptome seiner jungen Patientinnen und Patienten, ohne eine Diagnose zu stellen (tussis intensa, tussis crebra, tussis latrans, diarrhoea intensa, diarrhoea saepe recurrens), was eine Zuweisung zu einer spezifischen Krankheitsgruppe erschwert. So dürfte der Anteil der beispielsweise wegen Bauchtyphus von Ottenthal behandelten Kinder sicherlich zu gering ausgewiesen sein, ebenso Fälle von Lungenentzündung oder Keuchhusten. An der
291 Zu den Arbeitsschritten im Jahreslauf vgl. Grießmair, Knecht, 44–58. 292 Vgl. dazu Innerhofer, Taufers, 225. Im Pustertal wurde noch im 20. Jahrhundert der Georgitag (24.4.) als „kleiner Schlenggltag“ angesehen, an dem vielerorts neue Dienstboten für die Sommerarbeiten eingestellt wurden. Vgl. Grießmair, Knecht, 45. 293 („…wurde gestern von der Schule von Schauer befallen es folgte Kopfweh…“). HM 440/1894, Eintrag vom 3.3.1894. 294 („…kommt vom Weg durch den Schnee hierauf Schauer Feuchte…“). HM 1732/1895, Eintrag vom 20.12.1895.
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generellen Tendenz der Dominanz infektiöser Erkrankungen in der „Kinderpraxis“ des Sandner Arztes ändert dies jedoch wenig. Erkrankungen der Verdauungsorgane und der Atmungsorgane stellen jene Beschwerden dar, mit denen Kinder in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts am häufigsten in die Landarztpraxis gebracht wurden. Beide Komplexe haben anteilsmäßig zugenommen, wobei der Anstieg bei den Verdauungsorganen durch die Zunahme von Diphtheriefällen infolge der schweren Epidemiejahre von 1892 und 1893 zu erklären ist. Bei der Symptomatik den Magen-Darm-Trakt betreffend ist der Rückgang bei diagnostizierten Wurmerkrankungen auffallend, hier scheint Ottenthal „Marktanteile“ an andere Anbieter von Wurmpulvern u. ä. verloren zu haben. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum sich der Grad des Befallen-Seins mit Magen- und Darmparasiten innerhalb dieser wenigen Jahrzehnte dermaßen verringert haben könnte. Der Anstieg der Atemwegerkrankungen folgt dem im zweiten Kapitel, Tabelle 2.7a, für den gesamten Bezirk Bruneck dargestellten Trend. Abseits dieser wichtigsten Konsultationsanlässe erlauben die Zahlen in Tabelle 3.2.3a die Bildung einer zweiten Gruppe von Beschwerdekomplexen, die im Jahrzehnt zwischen 1860 und 1869 mit vier bis acht Prozent Anteil an sämtlichen Konsultationen eine deutlich geringere „Nachfrage“ produzierten. Eine wichtige Position nahmen dabei „Chronische Krankheiten“ ein, worunter hauptsächlich rachitische Symptome und struma (Kropf) zu verstehen sind und weniger Tuberkulose bzw. Skrofulose oder Wassersucht. Hinsichtlich Erkrankungen der Hautdecke schien Ottenthal bei der Talbevölkerung großes Vertrauen genossen zu haben, denn ein beachtlicher Teil der kindlichen Konsultationsanlässe erfolgte aufgrund derartiger Krankheitsbilder. Die Bandbreite der diesbezüglichen Diagnosen war äußerst groß, von intertrigo, pemphigus oder psoriasis bis zu Ekzemen war ein Großteil der bekannten Hautkrankheiten vertreten. Abszesse, deren Öffnung vom Arzt meistens die Ausübung der „kleinen Chirurgie“ verlangte, wurden nur selten notiert. Der hohe Anteil der Gruppe „Nervensystem“ war fast ausschließlich durch Beschwerden der Augen und Ohren bedingt. Hauptsächlich chronisch gewordene Ausflüsse machten den Kindern zu schaffen. In den 1890er Jahren sind durch den Rückgang bei den „exanthematischen“ Kinderkrankheiten die Anteile der anderen Krankheitskomplexe an den gesamten Konsultationen folgerichtig gestiegen. Behandlungen der Hautdecke etwa nahmen prinzipiell mehr Raum ein und lagen bei sechs bis neun Prozent der gesamten Konsultationen zwischen 1890 und 1899. Der Anteil der „chronischen Krankheiten“ ist gefallen, hier scheint eine gewisse Aufklärung und Prophylaxe für die Disposition zu Rachitis und Kropf bemerkbar zu sein. Dass Unfälle bei Knaben häufiger sind als bei Mädchen, ist nicht weiter überraschend und kann am regionalen Beispiel des Tauferer Ahrtals bestätigt werden. Ein Teil dieses Unterschiedes mag aus dem für Knaben höheren Risiko resultieren, Opfer von Arbeitsunfällen zu werden, allerdings mussten auch Mädchen bei vielen bäuerlichen Arbeiten mithelfen und waren hinsichtlich der den Frauen zugewiesenen Tätigkeiten einem gewissen Unfallrisiko ausgesetzt.
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Die Arbeitsorganisation einer bäuerlichen Wirtschaftsweise wies strukturelle Besonderheiten auf, je nachdem ob der Betrieb auf Ackerbauwirtschaft, Viehhaltung oder Weinbau ausgerichtet war. Jeder dieser „Ökotypen“ erforderte spezialisierte Arbeitsgänge und eine saisonale oder längerfristige Anstellung von Gesinde, was wiederum auf die Zusammensetzung eines bäuerlichen Haushaltes und auf die „Familienstruktur“ einwirkte.295 Die Ökonomie der Ahrntaler Bauern wurde abgesehen von diversen Zulieferdiensten für den Prettauer Bergbau von der Viehzucht bestimmt, während die Bauern des fruchtbaren Tauferer Talbodens stärker auf die Landwirtschaft fokussiert waren. Allen diesen bäuerlichen Betriebsformen war jedoch gemein, dass die Sicherstellung der Ernährung der Hausgemeinschaft und die Wahrung höchstmöglicher Autarkie im Vordergrund standen. Das Erwirtschaften eines Gewinnes aus der Arbeitsleistung wie etwa im urbanen Gewerbe und Handwerk spielte eine geringere Rolle, zumindest bis zur beginnenden Marktorientierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Wohn- und Arbeitsbereich waren deshalb nicht getrennt und auch die Herstellung der meisten Gebrauchsgegenstände (Kleidung, Arbeitsgeräte, Lebensmittel) erfolgte im eigenen bäuerlichen Betrieb.296 Für bäuerliche Hausgemeinschaften bedeuteten Kinder daher in erster Linie zusätzliche Arbeitskräfte und Sicherung der Besitzfolge.297 In Anerbengebieten wurden männliche Kinder daher entweder als zukünftige Hoffolger oder als mitarbeitende Geschwister erzogen, wohingegen weibliche Kinder für eine strategische Heirat „attraktiv“ gemacht werden sollten, insofern sie nicht von den Eltern für die spätere Versorgung im Alter „einbehalten“ wurden. Diese Mentalität war in erster Linie für begüterte Bauernfamilien typisch, Kinder von Kleinstbauern oder Söllhäuslern hatten eine von den Bauernkindern abweichende Sozialisation. Sie konnten weniger auf die Übernahme eines elterlichen Hofes hoffen, vielmehr wurden sie zur Entlastung der Eltern so früh als möglich als Arbeitskräfte zu fremden Bauern gegeben. Eine Studie zu einer oberösterreichischen Pfarre belegt beispielsweise, dass 86 Prozent aller Kinder, die das Elternhaus vor dem 15. Lebensjahr verlassen hatten, aus kleinbäuerlichen Familien stammten.298 Bartholomäus Oberegelsbacher berichtete 1862, dass er „bis ungefähr in mein 9tes Jahr“ die Schule von Gais besucht habe und sodann zum dortigen Stokerbauern in den Dienst gegeben wurde. Dort blieb er fünf Jahre, ehe er zu einem anderen Bauern nach Mühlbach wechselte.299 Allerdings änderten sich die spezifischen Arbeitsschritte in einem bäuerlichen Wirtschaftsbetrieb trotz sozialer Differenzierungen nur wenig, egal ob 295 Grundlegend für eine Beschäftigung mit dem Konzept der „historischen Ökotypen“: Mitterauer, Formen, 190–200. 296 Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, 18–19; Gestrich, Geschichte, 10–20. 297 Vgl. Herrmann, Familie, 58 f.; Berg, Familie, 110 f.; Sieder, Sozialgeschichte, 38–48. 298 Vgl. Gruber, Kindheit, 222. 299 ASBz, BA Taufers 1862, Bündel 153/2; Z. 1407; Fb 2/62, liegend in N. 603/Ib 2/62; Protokollaufnahme des Bartholomäus Oberegelsbacher vor dem Bezirksamt Taufes vom 2.8.1862.
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diese Arbeiten von blutsverwandten oder angeworbenen Kindern verrichtet werden mussten. Eine geschlechtsspezifische und hierarchische Organisation der anfallenden Arbeiten war allerdings schon im Kindesalter zu erkennen,300 und beides führte zu spezifischen Gesundheitsbelastungen und Arbeitsunfällen, die in den Historiae Morborum gut dokumentiert sind. Mädchen mussten bei den täglichen Arbeiten im Hause mithelfen, in erster Linie das Besorgen der Kleidung und der Wäsche, die Betreuung von Kindern und Alten und natürlich die Zubereitung und Haltbarmachung der Nahrungsmittel. So sind die Verbrennungen am Hals und an der Brust der achtjährigen Regina Walch* aus Mühlwald, die von Ottenthal 1866 versorgt werden mussten, vermutlich auf die geforderte Mithilfe in der Küche zurückzuführen.301 Weitere frauenspezifische Tätigkeiten waren die Betreuung des Klein- und Federviehs und Arbeiten auf dem Feld in den arbeitsintensiven Aussaat- und Erntezeiten. Die zwölfjährige Barbara Untergasser* suchte beispielsweise am 15. August 1895 die Praxis Ottenthals auf, weil „ante 6 dies falce digit. minimum sinistrum sauciavit“ und sich dort nun ein „ulcus magnitudine coronae“ gebildet hatte.302 Ebenfalls zur Haupterntezeit im August kam ein 13-jähriges Mädchen zu Ottenthal, weil das Aufsammeln von Schlehdorn im Acker zu Symptomen wie Frösteln, einem in der Kehle schmerzenden Husten sowie zu Gliederschmerzen geführt hatte.303 Viele Konsultationen von Knaben verweisen hingegen auf männerspezifische Aufgabenbereiche wie erforderliche Reparaturen am Wohn- und Wirtschaftsgebäude sowie an den Arbeitsgeräten. In die Zuständigkeit der Männer fiel auch das Großvieh, v. a. die Betreuung der Pferde, sie verrichteten Fuhrund Lieferdienste sowie größere Körperkraft erfordernde Acker- und Feldarbeiten. Derartigen Arbeitsschritten liegt die Krankengeschichte des elfjährigen Karl Tasser* zu Grunde, denn dieser Junge wurde während der Bewässerung eines Feldes von Bauchschmerzen und Erbrechen befallen und in die Praxis Ottenthals gebracht.304 Knaben mussten auch früh bei Arbeiten in der Holzwirtschaft mithelfen, was zu zahlreichen Unfällen führte: „ex septimana post la300 Vgl. dazu Eder, Gesindedienst, 57–59; Gestrich, Geschichte, 107–109. 301 [„8 ann. ante 2 menses adustionem colli passa est et pectoris per cibum fervidum adhuc plaga non consanata in pectore“] („8 Jahre vor 2 Monaten sind Verbrennungen an Hals und Brust durch heißes Essen geschehen bis jetzt die Wunden an der Brust noch nicht geheilt“). HM 43/1866, Eintrag vom 4.1.1866. 302 („…hat sich vor 6 Tagen mit der Sichel am linken kleinen Finger verletzt dort nun ein Geschwür von der Größe eines Kranzes…“). HM 1244/1895, Eintrag vom 15.8.1895. 303 [„13 ann. ante 4 dies spinas colligens in agro corripiebatur frigore dedolatione artuum tussi sicca dolente in gutture et sub sterno appet. nullus lingua alba vomituritio dol abdominis otitis oculi hodie rubri“] („13 Jahre vor vier Tagen beim Aufsammeln von Schlehdorn im Acker von Schauer Gliederschwäche trockenem Husten, der in der Kehle und unter dem Brustbein schmerzt, befallen kein Appetit weiße Zunge Brechreiz Bauchschmerzen Ohrenfluss, heute rote Augen“). HM 1274/1891, Eintrag vom 31.8.1891. 304 [„11 ann. anteheri prata irrigavit secuti sunt dolores abdominis cum vomitu noctu reversuro appetitu dejecto“] („11 Jahre hat vorgestern die Wiesen bewässert es folgten Bauchschmerzen mit Erbrechen das in der Nacht wiederkehrte Appetit vertrieben“). HM 1090/1891, Eintrag vom 16.7.1891.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
borem in silva laborat cephalea saepe reversura et tumore sub mandibula sinistra“305, notierte Ottenthal etwa 1895 bei einem neunjährigen Jungen. Derartige Waldarbeiten wurden bevorzugt im Winter durchgeführt, was Ottenthal einen vermehrten Zustrom von männlichen Patienten in den Wintermonaten bescherte. So fand sich Thomas Niederwieser* wegen seiner durch arbores de monte movens verursachten Seitenschmerzen und seines Hustens im Februar bei Ottenthal ein306. Karl Oberfrank* war im Dezember 1863 vermutlich bei Holzschlagarbeiten im Wald von einem umstürzenden Baum verletzt worden.307 Für das Hüten des Viehs wurden hingegen Mädchen wie Jungen herangezogen, auch wenn Größe (Klein-, Groß- oder Federvieh) und Gefährlichkeit (Stiere) der zu beaufsichtigenden Tiere durchaus ausschlaggebend dafür sein konnten, welches Geschlecht letztendlich für welches Vieh eingeteilt wurde. Einige im Pustertal verbreitete männliche „Berufsbezeichnungen“ für das Gesinde wie „Ochsner“ oder „Roßknecht“ wiesen noch in den 1970er Jahren auf geschlechtsspezifische Hierarchien bei der Betreuung des Viehs hin.308 Auf den Almen scheinen meist Hirtenjungen als Gehilfen für das eigentliche Almpersonal eingesetzt worden zu sein.309 Diese Ausführungen zur geschlechtsspezifischen Organisation bäuerlicher Arbeiten sind typisch für große, intensiv zu bewirtschaftende Höfe mit einer großen Hausgemeinschaft. Je kleiner das Gut, desto häufiger mussten sämtliche Tätigkeiten von den Familienmitgliedern und somit auch von Kindern bewältigt werden, und auch die geschlechterspezifische Aufteilung der Arbeitsgebiete konnte zunehmend „in Unordnung“ geraten. Prinzipiell blieben jedoch prestigeträchtige Arbeiten männlich konnotiert und auch nur Knaben vorbehalten, wohingegen für die Mädchen und Frauen die alltäglichen reproduktiven Aufgabenbereiche reserviert blieben.310 Dementsprechend traten die Augenbeschwerden eines Mädchens auch nach der Zuteilung mühsamer Feldund Hausarbeiten auf, wie Ottenthal im Juni 1890 notiert: „nuper Jäten et Spülen et amblyopia recurrit“.311 In der bäuerlichen Agrargesellschaft des 19. Jahrhunderts konnte auf die kindliche Arbeitskraft ebenso wenig verzichtet werden wie in den Familien der Heim- und Fabrikarbeiter oder den kleingewerblich strukturierten Handwerksfamilien, wenn auch die Arbeit auf den Äckern und Feldern, im Stall und im Hof sicherlich auf eine andere Art gesundheitsschädigend war als in den Färbereien und Bleichereien mit ihren giftigen Dämpfen, stickigen Woll305 („…leidet seit einer Woche nach der Arbeit im Wald an öfters wiederkehrendem Kopfweh und einer Schwellung unter dem linken Unterkiefer…“). HM 1004/1895, Eintrag vom 20.7.1895. 306 („…Bäume vom Berg bewegend…“). HM 334/1869, Eintrag vom 25.2.1869. 307 [„4 ann. a cadente arbore laesus in inguine contusione levi ante septimanam“] („4 Jahre von einem umstürzenden Baum vor einer Woche eine leichte Quetschung der Leiste“). HM 1145/1863, Eintrag vom 6.12.1863. 308 Vgl. Grießmair, Knecht, 32 f. 309 Vgl. Wopfner, Bergbauernbuch III, 454–458. 310 Vgl. Gestrich, Sozialgeschichte, 104. 311 HM 1358/1890, Eintrag vom 4.6.1890.
3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“
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fasern und lärmenden Maschinen.312 Kindheit als „Schonraum“ im heutigen Sinne, während der bei Kindern durch pädagogische Einrichtungen „auf möglichst effektive Weise ihre geistige Selbständigkeit und Reife, Selbständigkeit und Selbstbildung“313 befördert hätte werden sollen, gab es in dieser Zeit wohl nur in den Gymnasien und Internaten für die Buben (und in wenigen Einrichtungen für die Mädchen). Die Schule wurde, wie zuvor beschrieben, zwar geduldet, allein die Ausrichtung der Unterrichtszeiten auf den Jahresrhythmus der bäuerlichen Arbeit zeigt die generell geringe Bewertung der schulischen Ausbildung für den zukünftigen Lebensweg der Kinder. Die Geringschätzung einer Freistellung von körperlichen Belastungen und Arbeitsverpflichtungen bedingte auch eine Erziehung zur körperlichen Leistung und einer halbwegs gefestigten Körperkonstitution der Kinder in Hinblick auf die zukünftigen bäuerlichen Lebensaufgaben. Wie vereinzelte Kommentare Ottenthals zu kindlichen Krankengeschichten zeigen, teilte auch dieser Arzt die Werte der bäuerlichen Gesellschaft: so war der elfjährige Thomas Unteregger* aus Gais für ihn bene evolutus314 und der zwölfjährige Peter Ebenkofler* aus Drittelsand war ein robustus puer315. Skeptisch beurteilte er hingegen die allgemeine Verfassung der zehnjährigen Maria Hellweger* „pallida macilenta debilis ut vix valeat scholam frequentare“316, so seine knappe Einschätzung. Hinsichtlich weiterer Konsultationsanlässe sind bei den „Bewegungsorganen“ Rheumatismen unter den kindlichen Patientinnen und Patienten in beiden Jahrzehnten auffallend häufig, ebenso Deformationen des Skeletts v. a. bei den älteren Kindern (vgl. Tab. 3.2.3a). Diese dürften wohl als Langzeitfolge chronischer Rachitis zu interpretieren sein, werden von Ottenthal jedoch nie mit diesem Terminus diagnostisch benannt. Die der Rubrik „Bewegungsorgane“ zugeschlagenen Zahnbehandlungen werden vom Arzt zwar durchgeführt, v. a. bei fortgeschrittener Karies der älteren Kinder, nehmen insgesamt im gesamten Behandlungsspektrum jedoch nur eine marginale Position in dieser Altersgruppe ein. Die Bevölkerung scheint in dieser Beziehung andere Spezialisten aufgesucht zu haben, worauf auch die äußerst seltene Erwähnung des Zahnziehens bei dieser Altersgruppe hinweist. Auf „nicht krankhafte Ursachen“ verweisende Behandlungen sind rund drei bis vier Prozent der Konsultationen zurückzuführen, wobei die Mehrzahl dieser Behandlungen durch Unfälle und – etwas seltener – Vergiftungen bedingt ist. Die weiteren „Organgruppen“ sind im Diagnosespektrum Ottenthals der Ein- bis Vierzehnjährigen nur marginal vertreten, was nicht zuletzt mit der schwierigen Diagnostizierung derartiger Erkrankungen durch einen Allgemeinarzt zusammenhängt, so bei den Zirkulationsorganen oder den Harnor312 Zu den Folgen der Fabrikarbeit für die kindliche Gesundheit vgl. Ludwig, Fabrikarbeit, 69. 313 Berg, Familie, 60. 314 HM 1372/1865, Eintrag vom 4.11.1865. 315 HM 319/1892, Eintrag vom 12.2.1892. 316 („…bleich abgemagert schwach, sodass sie kaum kräftig genug zum Schulbesuch sein dürfte…“). HM 1201/1891, Eintrag vom 15.8.1891.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
ganen.317 Auch in Ottenthals Praxis der 1890er Jahre spielen Zirkulationsorgane und Harnorgane offenbar eine annähernd marginale Rolle wie in den 1860er Jahren, der Rückgang von Behandlungen bei den Geschlechtsorganen bei Knaben von 19 Fällen auf vier ist allerdings markant. Die höhere Zahl der Gutachten, Atteste etc. könnte auf eine peniblere Kontrolle der übergeordneten Sanitätsbehörden gegenüber der lokalen Ärzteschaft hinweisen und betreffen die Feststellung sexuellen Missbrauchs ebenso wie die ärztliche Beurteilung, ob das Kind zur Konfirmation zugelassen werden kann. Aussagen über geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich des Diagnosespektrums (Tab. 3.2.3a) sind wegen der geringen Zahl an gesicherten Diagnosen in Ottenthals Krankenjournalen nur unter Vorbehalt zu tätigen, auch die mit den Aufzeichnungen allein nicht zu bewerkstelligende Berechnung von Relativwerten, etwa für die lebende ansässige Bevölkerung, in der gewählten Altersgruppe ist nicht möglich. Auffallend ist jedoch der niedere Anteil der Erkrankungen der Verdauungsorgane an seinen gesamten Konsultationen bei den Mädchen, was recht gut der Einschätzung zeitgenössischer Ärzte diesbezüglich entspricht. „Bei vielen Unterleibsaffektionen erweist sich das männliche Geschlecht weit mehr befallen als das weibliche“, meinte etwa Carl Gerhardt 1861.318 Dieses beobachtete Ungleichgewicht resultiert allerdings aus der sehr hohen Anzahl von den Unterleib betreffenden Konsultationen in der Gruppe der männlichen Kleinkinder, die wegen eben dieser Probleme zum Arzt gebracht wurden. Offensichtlich setzt sich die schon beschriebene größere Anfälligkeit männlicher Säuglinge bei Magen-Darm-Infektionen bis weit in das Kleinkindalter fort. Näher zu betrachten wäre auch der bei den Mädchen in den 1860er Jahren höhere Anteil an Behandlungen aufgrund von Hautkrankheiten (7,6 zu 5,1 Prozent), Augen- und Ohrenleiden (7 zu 4,6 Prozent) sowie bei chronischen Beschwerden. Hier ist der Anteil von 7,4 zu 5,2 Prozent allerdings eindeutig darauf zurückzuführen, dass Ottenthal Fälle von Rachitis und Kropf bei Mädchen öfter zu sehen bekam als bei Buben. Beachtenswert ist auch der Umstand, dass Buben wegen Erkrankungen der Geschlechtsorgane ungleich öfter zu Ottenthal gebracht wurden, was weniger mit Geschlechtskrankheiten im engeren Sinne zusammenhängt als mit der hydrocele (Wasserbruch), wie er bei den männlichen Säuglingen schon genauer beschrieben wurde.319 Erstaunlicherweise wurde die Behandlung einer Phimose zumindest in den beiden in dieser Arbeit als Stichprobe gewählten Jahrzehnten niemals verzeichnet. Keine Erklärung kann ich dafür geben, dass sich in den 1890er Jahren das Geschlechterverhältnis bei der Rubrik „Nervensystem“ umgedreht hat und der Anteil bei den Knaben gestiegen und bei den Mädchen gesunken ist. Am ehesten scheinen sich die Schwankungen durch Veränderungen in Ottenthals Diagnosezuord317 Für den Anteil bei den Harnorganen ist dementsprechend überwiegend die Diagnose enuresis (Bettnässen) verantwortlich. 318 Gerhardt, Lehrbuch, 274. 319 Die Zahl der männlichen Kleinkinder liegt mit 12 Behandlungen sehr viel höher als diejenige der älteren männlichen Kinder mit sieben Fällen.
3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“
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nung erklären zu lassen. Auffallend ist bei dieser Rubrik, dass einzeln genannte Symptome wie Kopfweh oder allgemeines Unwohlsein bei den Mädchen, v. a. in den Jahren kurz vor dem Einsetzen der Pubertät, stärker zu beobachten sind als bei den Jungen. Dies scheint ein Hinweis auf die geschlechtsspezifisch ungleich einsetzenden Abläufe in der kindlichen Entwicklung hin zum Jugendlichen zu sein, die bei den Mädchen allgemein früher einsetzen. 3.2.6 Zwischenbilanz „Wie geht’s den Jungs?“ Mit dieser Frage zur Befindlichkeit männlicher Kinder zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das Kapitel zum ärztlichen Inanspruchnahmeverhalten von Knaben am Beispiel einer Südtiroler Landarztpraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeleitet. Gegenwärtig identifizieren Vertreter der Gesundheitswissenschaften wie Bründel und Hurrelmann auf Grundlage der verfügbaren Daten in Gesundheitsberichten und Mortalitätsstatistiken Jungen als das schwächere Geschlecht. Erst in der Pubertät ist ein „Wendepunkt“ hinsichtlich der subjektiven Einschätzung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens sowie der Konsultationshäufigkeit von Ärzten feststellbar, denn beginnend mit dem 12. Lebensjahr bescheinigt die Datenlage nun den Mädchen einen schlechteren Gesundheitsstatus.320 Doch wie hätten die Befunde ausgesehen, wenn männliche und weibliche Kinder nicht in einer europäischen Großstadt der Postmoderne aufgewachsen wären, sondern in einem abgeschiedenen Dorf im Südtiroler Hochgebirge des späten 19. Jahrhunderts? Vorliegendes Kapitel versuchte diese Frage mit dem Blick in die Krankenakten Franz v. Ottenthals aus einer historischen Perspektive zu beantworten. Die Auswertungen zum ärztlichen Inanspruchnahmeverhalten durch Kinder im Südtiroler Tauferer Ahrntal ergaben dabei ein von heutigen Gesundheitsberichten abweichendes Bild: War hinsichtlich der Konsultationen von Kleinkindern (1–4 Jahre) noch kein eindeutiger Trend zum Überhang eines bestimmten Geschlechts zu konstatieren, so stellten bei den älteren Kindern zwischen vier und 14 Jahren Mädchen die deutliche Mehrzahl der kindlichen Patientenschaft dieses Arztes. Das Ergebnis könnte somit die in der Literatur vorherrschende Ansicht unterstützen, den Umschwung in der geschlechtsspezifischen Nutzung von Arztpraxen hin zu einem vermehrten Zulauf von weiblichen Patienten zwischen 1850/70 anzusetzen.321 Nun könnte die ermittelte geringere Nachfrage nach ärztlicher Hilfe durch Jungen mit dem Soziologen Michael Meuser dahingehend interpretiert werden, dass Jungen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „geringere Körperreflexivität“322 ausgebildet und einem Leitbild von Männlichkeit nachgeeifert hätten, das von Robustheit, Unverwundbarkeit und Schmerzverdrängung geprägt war. Die Orientierung an eben diese Männlichkeitsmus320 Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 107 f. 321 Vgl. Dinges, Immer schon 60 % Frauen?, 306 f. 322 Meuser, Männerkörper, 161.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
ter hätte die Jungen (bzw. deren Eltern) daran gehindert, sich bei ersten Anzeichen körperlicher Schwäche bei den Eltern zu beklagen, die sie dann zum Arzt gebracht hätten. Mir scheint indessen vor dem Hintergrund des damaligen Verlaufs der geschlechts- und altersspezifischen Mortalität eine andere Interpretation schlüssiger. Wie in diesem Kapitel herausgearbeitet werden konnte, wiesen im ausgehenden 19. Jahrhundert Mädchen nicht nur im Südtiroler Tauferer Ahrntal, sondern in vielen weiteren europäischen Regionen höhere Sterberaten auf als gleichaltrige Jungen. Folglich dürften es mädchenspezifische Gesundheitsbelastungen sowie eine größere Krankheitshäufigkeit gewesen sein, die weibliche Kinder ungleich öfter in die Praxis Franz v. Ottenthals strömen ließen als männliche. Offenbar konnten Jungen gegen die „größten Killer“ dieser Zeit, die klassischen Kinderkrankheiten und Infekte des Atmungs- und Verdauungsapparates, schneller und besser ihre krankheitsabwehrenden Ressourcen mobilisieren. Wie nicht zuletzt Befunde aus dem Umfeld der Historischen Demografie nahelegen, waren Tuberkulose und Keuchhusten dabei jene Infektionskrankheiten, die die Mädchenübersterblichkeit kurz vor und nach der Wende ins 20. Jahrhundert am stärksten beeinflussten.323 Pinnelli und Mancini konnten diesen Trend für Italien mit einer eindrucksvollen Grafik zum Verlauf der geschlechtsspezifischen Keuchhustensterblichkeit veranschaulichen.324 Anders als bei der Sterblichkeit wird eine fundierte Analyse zu den geschlechtsspezifischen Morbiditätsverhältnissen in der untersuchten Region durch die spezifische Struktur der Historiae Morborum und die individuelle Aufzeichnungspraxis Franz v. Ottenthals erschwert. Ottenthal notierte in seine Krankenjournale vielfach nur Symptome ohne abschließende Diagnose. Dennoch zeigte die geschlechterbezogene Analyse der Konsultationsgründe von männlichen und weiblichen Kindern unter Vorbehalt eines recht klar: Der Anteil beispielsweise der Atemwegserkrankungen lag in beiden Jahrzehnten bei den Jungen in der Altersgruppe von ein bis vierzehn Jahren niedriger als bei den gleichaltrigen Mädchen. Da diese Krankheitsbilder eng mit sozialen Faktoren korrelierten, dürfte die spezifisch agrarisch-kleingewerbliche Strukturierung dieser Südtiroler Region der Gesundheit der männlichen Kinder in vielen Bereichen zuträglicher gewesen sein als jener der weiblichen. Die geschlechtsspezifische Arbeitsorganisation der bäuerlichen Wirtschaftsweise führte somit zu Risiko- und Schutzfaktoren, die auf Körper und Psyche von Jungen und Mädchen unterschiedlich stark einwirkten. Die geschlechtersensible Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial führte sodann zur Frage, inwieweit hegemoniale Männlichkeitsentwürfe für die Jungen des Tales derart bestimmend waren, dass das Einüben dieser Rollenbilder zu spezifischen Gesundheitsbelastungen für ältere Jungen geführt hat, wovon die häufigeren Konsultationen aufgrund „äußerer“ Ursachen am augenscheinlichsten berichteten. „Schon in seinen frühesten Spielen äußert 323 So etwa Gehrmann, Übersterblichkeit, 73. 324 Pinnelli/Mancini, Gender Mortality, 83.
3.2 „…ob timorem diphteritidis ante septimanam transportata…“
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sich eine Hinneigung zur Körperstärkung, und sie verrathen eine ihm innewohnende schaffende, beängstigende, aber auch zerstörende Kraft.“,325 so beschrieb ein um die Mitte des 19. Jahrhunderts erschienener Ratgeber für Eltern die in den Augen des bürgerlichen Autors „normale“ Reifung eines Jungen zum Mann. Unklar ist, welche Relevanz die Ausrichtung der Erziehung auf männliche „Tugenden“ wie Aggressivität, Durchsetzungsvermögen oder Härte letztlich für nicht-bürgerliche Eltern hatte. Die Zurschaustellung körperlicher Stärke spielte in bäuerlichen Gesellschaften zumal unter älteren Kindern und Jugendlichen sicherlich eine große Rolle, prädestinierte die Jungen aber auch vermehrt für Arbeitsunfälle und Verletzungen anderer Art. Inwiefern diese hegemonialen Bilder von Männlichkeit die Einstellung von Jungen zu einer ärztlichen Behandlung allerdings tatsächlich beeinflussen konnten, sei angesichts der relativen Machtlosigkeit der Ärzte gegenüber Infektionskrankheiten, die das Krankheitsgeschehen in dieser Altersgruppe eindeutig dominierten, dahingestellt. Die gegenwärtig medial vermittelten Bilder eines schlechten Gesundheitsstatus von Jungen erwecken den Eindruck, die Ursachen dafür lägen nicht selten in gesundheitsschädlichen „traditionellen“ Leitbildern von Männlichkeit. Aus einer historischen Perspektive zeigt sich hingegen, dass Jungen in der Vergangenheit sehr wohl zur Mobilisierung von männlicher Unterstützung im Stande waren, etwa wenn deren Väter versuchten, potentielle Bedrohungen präventiv von ihren Sprösslingen fern zu halten. Selbst „traditionelle“ Männer konnten sich körperlicher und seelischer Gesundheitsbelastungen durchaus bewusst sein, darüber reflektieren und ihre Ängste diesbezüglich auch anderen Personen mitteilen. In den Akten des Bezirksamtes Taufers hat sich beispielsweise ein Schriftstück aus dem Jahre 1865 erhalten, das eindrücklich von der Fürsorge eines Vaters aus Prettau berichtet. Dieser versuchte nämlich, seinem 16-jährigen Sohn eine für die körperliche und geistige Reifung des Jungen geeignete Dienststelle zu verschaffen. Konkret ging es bei diesem Fall um die beim Bezirksamt vorgebrachte Klage eines Bauern aus Pojen, besagter Sohn hätte sich trotz zuvor korrekt ausgehandelten Dienstvertrages zum vereinbarten Arbeitsbeginn an Lichtmeß nicht bei ihm eingefunden. Vielmehr hätte er sich widerrechtlich von einem anderen Bauern im Nachbarort als Hirtenbub verdingen lassen. Im Zuge der richterlichen Anhörung gab der Vater zu, seinen Sohn selbst zum zweiten Bauern geschickt zu haben. Er begründete seine Entscheidung mit der Sorge um das körperliche und seelische Wohl seines Kindes, denn er hatte als Vater gewünscht: „[…], daß sein Sohn Mathias beim Aschbacher verbleibe, weil er hier sehr gut aufgenommen, und an Leib und Seele gut versehen sei. Das Eintreten seines Sohnes bei Jak. Mairhofer aber könnte er als Vater niemals gutheißen, weil es in diesem Hause, wo nur ledige Leute beisammen wohnen, für einen so jungen Burschen, wie sein Sohn ist an der nöthigen Leitung, Überwachung, und Beaufsichtigung mangle, der ein so junger Mensch so
325 Lederer, Mutter, 6.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung nothwendig bedürfe. Er habe schon in Prettau gehört, daß es in diesem Hause etwas leicht herabgeht, und daß man von denselben nicht viel gutes spricht. […]“326
Der betroffene Junge selbst wurde vom Bezirksgericht nicht zu diesem Konflikt befragt, weshalb seine Sicht auf die väterliche Intervention nicht überliefert ist. Auch wenn der Vater in erster Linie mehr um die „seelische“ als um die körperliche Gesundheit seines Sohnes besorgt war, geht aus der Argumentation des Vaters vor Gericht Eines deutlich hervor: Er ließ seinen Sohn die Dienststelle beim Bauern in Ahornach antreten, weil unter dessen Obhut die Erziehung zu einem „ehrenhaften“ Mann eher gewährleistet schien als unter jener der Hausgemeinschaft in Pojen. Wie repräsentativ diese Vorstellungen einer bestimmten Männlichkeit für das ländliche Südtirol des 19. Jahrhunderts auch gewesen sein mögen, allein mit seinem fürsorglichen Verhalten dürfte der Prettauer Vater heutigen Vätern gar nicht so unähnlich gewesen sein. Mit diesen Erläuterungen berühren wir aber wesentliche Fragestellungen des nächsten Kapitels, das die Phase der Erwachsen-Werdens und des ErwachsenSeins genauer in den Blick nehmen wird. 3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein: Gesundheitsgefährdungen und Krankheitsverhalten von jüngeren Männern an der Schwelle von der Jugend zum Mann-Sein Die bisherigen Ausführungen hatten mit dem Säuglingsalter und der Kindheit einen bestimmten Abschnitt im Lebenslauf zum Inhalt. Im folgenden Kapitel steht hingegen ein Übergang im Mittelpunkt: der Übergang vom Kind zum Erwachsenen im Sinne der „Statuspassage“ zu einem rechtlich und sozial vollwertigen Mitglied einer Gesellschaft. Die Grundannahme ist, dass Jugendliche (hier definiert als Altersgruppe zwischen 14 und unter 25 Jahren) auf ihrem Schritt vom Erwachsenwerden zum Erwachsensein nicht nur andere Gesundheitsgefährdungen aufwiesen als Erwachsene mittleren Alters (hier von über 25 bis 45). Auch hinsichtlich des Krankheitsverhaltens dürfte diese Altersgruppe andere Bewältigungsstrategien gewählt haben als die nächstfolgende. Ich gehe davon aus, dass in den Historiae Morborum diese unterschiedlichen Strategien einen deutlichen Ausdruck fanden und über eine Abfrage etwa zu den jährlichen Patientenzahlen, zur Dauer der ärztlichen Inanspruchnahme oder zum Spektrum der vorgebrachten Beschwerden, quantitativ gut fassbar sind. Ich vermute auch, dass die mit dem Alter steigende sozioökonomische Unabhängigkeit Einfluss auf die Nutzung des Therapieangebots Franz v. Ottenthals hatte und in den Krankenjournalen einen Niederschlag fand. Zu denken wäre hier etwa an ein aus dem Zuwachs an Selbstsicherheit resultierendes selbstbestimmteres Auftreten gegenüber dem Arzt (Arzt-Patient-Verhältnis) oder an eine kürzere Behandlungsdauer der jugendlichen Patienten, die man326 ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 161/1; N 333; I.a.22/1865, liegend in I.a.22/1865. Protokoll zur Anhörung des Alois Enz vor dem Bezirksamt Taufers vom 18.2.1865.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
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gels ökonomischen Kapitals nach der Erstversorgung früher zu anderen Formen medikaler Hilfe greifen mussten. Diese Leithypothese orientiert sich an Ergebnissen zentraler Studien zur geschlechterspezifischen Jugendgesundheitsforschung,327 aus denen sich drei wesentliche Tendenzen hinsichtlich der physischen und psychischen Problemlagen Jugendlicher herausarbeiten lassen: Erstens finden in der Pubertät bedeutsame körperliche Veränderungen statt, die von den jungen Menschen physisch und psychisch bewältigt werden müssen. Diese „Metamorphose“ des äußeren Erscheinungsbildes von einem kindlichen hin zu einem ausgereiften Körper bringt über die Dimension der Sexualität nicht nur neue Körpererfahrungen mit sich, sie zwingt auch zur Herausbildung eines neuen, wenn möglich positiv zu besetzenden Selbstbildes. Für männliche Jugendliche in postindustriellen Gesellschaften bedeutet dies, zwischen unterschiedlichen Männlichkeitsbildern differenzieren zu lernen und einen individuellen Zugang zu dem „Dilemma“ der gesellschaftlichen Anforderungen an „Männlichkeit“ einerseits und dem eigenen „Mannsein“ andererseits zu finden. Dieser Entwicklungsprozess berührt den Bereich von Krankheit und Gesundheit insofern, als vor allem männliche Jugendliche gesundheitsschädigende Verhaltensmuster wie das exzessive Konsumieren von Alkohol, riskante Sportarten oder schnelles Autofahren benutzen, um eine spezifische Geschlechterrolle einzuüben. Der Autor einer populären Monatszeitschrift findet in seiner Titelgeschichte zur Pubertät für diesen turbulenten Lebensabschnitt die Metapher, dass Teenager in heutigen Gesellschaften „einem vollbesetzten Airbus [ähneln], der mit vibrierenden Triebwerken über die Startbahn jagt, während im Cockpit noch an Kontrollinstrumenten und Navigationssystemen geschraubt wird“.328 Um 1840 schöpften verständnisvolle Pädagogen bei der Charakterisierung des Jünglingsalters hingegen weniger aus dem Vokabular vom maschinisierten Körper als aus jenem von überhitzten Säften, dem zu dieser Zeit vorherrschendem Körpermodell aus der Humoralpathologie: „Rastlos treibt ihn sein heißes Blut von Leidenschaft zu Leidenschaft.“329, beschrieb etwa der seinerzeit an der Wiener geburtshilflichen Klinik tätige Thomas Lederer junge Menschen bei ihrem Versuch, sich den psychosozialen Herausforderungen dieser Lebensphase zu stellen. Lederers Kommentar zeigt, dass nicht nur die gegenwärtige soziologische und entwicklungspsychologische Literatur die Pubertät als für die Jugendlichen äußerst sensible Phase betrachtet. Die Jugendforschung der 1970er Jahre wies empirisch nach, dass Jugendliche die an sie herangetragenen Anforderungen mitunter nur schwer bewältigen und auf Überforderung oftmals mit
327 Wichtig sind die Untersuchungen von Kolip, Geschlecht, und Helfferich, Jugend, sowie einzelne Beiträge in den Sammelbänden von Kolip, Jugend, und Stiehler/Klotz, Männerleben. 328 GEO 2005, 134–158, hier 144. 329 Lederer, Mutter, 7.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
ausgeprägten Adoleszenzkrisen reagieren.330 Spezialstudien aus dem Umfeld der Jugendgesundheitsforschung zeigten auf, dass die Bewältigungsversuche auch deutlich somatische Züge annehmen können, wobei die Bereiche der Essstörungen und des „Komatrinkens“ in den letzten Jahren wohl die größte Aufmerksamkeit von Seite der medialen Öffentlichkeit und der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen erfahren haben dürften.331 Für historisch Forschende müsste die Frage an eine Quelle wie den Historiae Morborum daher lauten, inwiefern sich aus jenen ärztlichen Krankenprotokollen, die die spezifische Altersgruppe der 14 bis unter 25-Jährigen betreffen, Hinweise für das Auftreten und für die Bewältigung dieses mitunter höchst konflikthaften Lebensabschnittes herauslesen lassen. Glückte die psychische Verarbeitung der zu lösenden Entwicklungsaufgaben oder entwickelten die Jugendlichen des Tauferer Ahrntales in ihren „Adoleszenzkrisen“ spezifische Syndrome, die sie vermehrt in die Praxis Franz von Ottenthals führten? Kann etwa der „gigantische Rausch“, der den 18-jährigen Johann Treffer* mitten im August 1862 die medizinische Hilfe Ottenthals in Anspruch nehmen ließ,332 als individuelle Bewältigungsstrategie dieses jungen Mannes interpretiert werden, zeitgenössischen Vorstellungen von der männlichen Geschlechterrolle zu entsprechen? Immerhin ist in der gegenwärtigen geschlechtersensiblen Jugendgesundheitsforschung unbestritten, dass exzessiver Alkoholkonsum für männliche Jugendliche ein zentrales Feld ist, „auf dem sie ihre Männlichkeit unter Beweis stellen können“333. Die zweite Überlegung zur Hypothese, dass das Inanspruchnahmeverhalten der jugendlichen und der erwachsenen Bevölkerung aus dem Tauferer Ahrntal hinsichtlich wesentlicher Faktoren differiert, betrifft die der Jugendphase zugesprochenen Aufgabe der Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit. Aus sozialisationstheoretischer Perspektive erfolgt die Herausbildung einer „Ich-Identität“ durch eine kritische Auseinandersetzung mit erlernten Kindheitsmustern, denen im Austausch mit anderen Menschen aus dem weiteren sozialen Umfeld vermehrt alternative Vorstellungen gegenüber gestellt werden können.334 Diese reflexive Überprüfung führt meist zur Abgrenzung von den Eltern und zur Hinwendung zu einer Gleichaltrigengruppe. Die Einstellungen und Haltungen dieser peer groups werden bei der Erprobung eigener Lebensziele zunehmend bedeutsamer. Die Adoleszenz gilt daher als jene Lebensphase, wo neben grundlegenden Handlungskompetenzen auch Risiko330 Zu den Adoleszenzkrisen vgl. die in den 1970er Jahren entstandene Studie von Döbert/ Nummer-Winkler, Adoleszenzkrise. Zur Einordnung dieser Studie aus zeitgenössischer Perspektive siehe hingegen Tillmann. Sozialisationstheorien, 272–316. 331 So z. B. von Helfferich, Jugend, 146–157, oder Gugutzer, Körper, 323–355. Vgl. dazu die zentralen Untersuchungen zu dieser Thematik von Kolip, Geschlecht, sowie Helfferich, Jugend. 332 [„18. ann. laborat gigantea crapula ex ½ die“]. HM 852/1862, Eintrag vom 11.8.1862. Zur Problematik der Historisierung des Konzepts der „Adoleszenzkrisen“ vgl. im Überblick Gestrich, Geschichte, 95–97. 333 Kolip, Geschlecht, 253. 334 Vgl. etwa Tillmann, Sozialisationstheorien, 238–248.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
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faktoren wie ungesunde Ernährungsgewohnheiten, riskante Sportarten oder übermäßiger Alkoholkonsum eingeübt werden und sich verfestigen.335 Die Historiae Morborum könnten folglich dahingehend analysiert werden, welchen Einfluss peer groups auf gesundheits- und krankheitsbezogene Verhaltensweisen, auf Lebensstile und auf Risikohandeln ausüben. In traditionellen Gesellschaften waren männliche Jugendliche einer annähernd gleichen Altersgruppe häufig in Institutionen der „ländlichen Burschenschaften“ organisiert.336 Um in einen solchen ländlichen „Jungmännerbund“ aufgenommen zu werden, musste der Jugendliche meist seine Kraft und Geschicklichkeit bei verschiedenen Mutproben wie etwa dem „Haberfeldtreiben“337 unter Beweis stellen. Die erfolgreiche Aufnahme eröffnete ihm dann die exklusiven Handlungsräume der männlichen Jugendgruppe wie Wirtshaus oder Tanzveranstaltungen. Wenn Ottenthal demnach beim 17-jährige Jakob Laner* aus Sand notiert, er leide „post saltum ante 3 septimanas peractum tumore dolorifico bursae mucosae infra genu sinistr.“ 338, kann diese Verletzung als Geschicklichkeitsprobe und performativer Akt der Darstellung der eigenen Männlichkeit interpretiert werden? Ist dieser misslungene Sprung vielleicht als historisches Äquivalent zu jenen „kollektiv-kompetitiven Spielen“ innerhalb einer (ländlichen) peer group zu lesen, die Michael Meuser zufolge heutzutage über ein externalisierendes Risikohandeln Männlichkeit generieren und reproduzieren sollen?339 Schlug sich der „Statusübergang“ vom minderjährigen Angehörigen einer Familie hin zum „Vorstand“ der eigenen Familie inklusive Vaterschaft im Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Angebote, mehr aber noch im Krankheitsspektrum nieder, etwa hinsichtlich einer deutlich erkennbaren Abnahme der Zahl unfallbedingter Behandlungen? Ein letzter Gedankengang könnte schließlich den gesellschaftlichen Anteil an der Persönlichkeits- und Identitätsbildung umfassen, der in erster Linie 335 Vgl. Kolip, Jugend, 13. 336 Vgl. dazu etwa Mitterauer, Sozialgeschichte, 74 f.; Gestrich, Geschichte, 45–47. 337 Bei dem im süddeutschen Raum zwischen Isar und Inn als „Haberfeldtreiben“ bezeichneten Brauch handelt es sich um ein klassisches Rügebrauchtum, an dem hauptsächlich die noch unverheirateten Burschen eines Dorfes beteiligt waren. Wurde ein in den Augen der ländlichen Burschenschaft soziales oder sittliches Fehlverhalten begangen, etwa indem ein Mann die „falsche“ Frau umwarb oder sich ein älterer Witwer mit einer jüngeren, ledigen Bauerntochter verheiraten wollte und diese somit dem „Heiratsmarkt“ entzog, gingen die Burschen maskiert und lärmend vor das Haus der oder des „Delinquenten“ und „rügten“ ihn oder sie für den vermeintlichen Verstoß gegen die dörfliche Norm. Vgl. Schempf, Volkskunde, 304 f. Im östlichen Pustertal (Gemeinde Vierschach) musste etwa eine Braut, die trotz Schwangerschaft in einem weißen Brautkleid vor der Kirche erschien, damit rechnen, von maskierten Burschen des Dorfes mit einer rußigen Pfanne den Bauch angeschwärzt zu bekommen. Vgl. Haider, Brauch, 97, wobei Haider leider keine näheren Angaben über das genaue Alter dieses „Rügebrauches“ anführt oder darüber, ob dieser bei Erscheinen des Buches überhaupt noch ausgeübt wurde. 338 („nach einem vor 3 Wochen gemachten Sprung schmerzhafte Schwellung des Schleimbeutels unterhalb des linken Knies“). HM 792/1868, Eintrag vom 2.6.1868. 339 Meuser, Strukturübungen, 309–323.
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über die ökonomische Verselbständigung durch Erwerbsarbeit und über die Institution der Ehe geregelt wurde. In agrarisch strukturierten Gesellschaften bedeutete „Berufsfindung“ dabei für eine breite Schicht der Bevölkerung das Betreiben einer möglichst autarken Bauernwirtschaft.340 Die Ökonomie einer bäuerlichen Familienwirtschaft zeichnete sich dadurch aus, dass sie bis zu den Umwälzungen der landwirtschaftlichen Produktion Ende des 19. Jahrhunderts nur wenig auf Gewinn ausgerichtet war und viele Dinge des täglichen Bedarfs in eigener Produktion hergestellt werden mussten. Die Sicherung der eigenen Existenz bzw. die Ernährung sämtlicher Angehöriger einer „Hausgemeinschaft“ stand ebenso im Vordergrund wie die Regelung der „Besitzfolge“. Die Schwelle vom Ledigendasein hin zur Verheiratung stellte in dieser „vorkapitalistischen Subsistenzökonomie“341 somit insofern einen bedeutenden „Statusübergang“ dar, als die Möglichkeit zur Heirat oftmals an die Übernahme des elterlichen Hofes gebunden war.342 Michael Mitterauer sieht in der Heirat daher auch das abrupte Ende der Jugendphase, da das Eingehen einer Ehe meistens den „Wechsel von der Abhängigkeit zur Selbständigkeit, von der Gehorsampflicht zur Befehlsgewalt, vom Dienst zur Herrschaft“343 mit sich brachte. Dieser neue Status beinhaltete sowohl die Rechte als auch die Pflichten eines vollwertigen Erwachsenen und stellte somit die Basis für die Übernahme der Erwachsenenrolle dar. „[…] der Sturm hat nicht ausgebraus’t, aber die Ungestümheit desselben ist in der Begränzung äußerer Verhältnisse gemildert und beschwichtigt worden. […] Er wird Gatte, Vater.“, charakterisiert Lederer den Statusübergang des Jünglings zum Mann.344 Die Historiae Morborum wären demnach dahingehend zu untersuchen, inwiefern die mit der Änderung des Familienstandes sich eröffnenden neuen Handlungsspielräume zu spezifischen Krankheitssymptomen führten, und inwiefern die Einträge Franz v. Ottenthals in seinen Krankenjournalen Rückschlüsse darauf zu lassen. Bei jenem 30-jährigen Mann aus Lappach, der sich im Juli 1883 aufgrund von Magenbeschwerden auf den Weg zu Ottenthal machte und im Verlauf der Anamnese auch darauf zu sprechen kam, dass „insuper membrum virile hinc inde flaccidum manet quando vult coitum celebrare“345, scheint die neue Rolle als Gatte zu offensichtlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt zu haben. Andere Männer wiederum litten gerade an den rigiden obrigkeitlichen Heiratsbeschränkungen sowie den innerfamiliären Heiratsregeln, die zuallererst dem Hoferben eine Verehelichung gestatteten, ja von diesem erwarteten, während sie spätgeborene Söhne oft im lebenslangen Ledigenstand zurück ließen. „[L]aborat op340 Vgl. dazu die entsprechenden Abschnitte bei Sieder, Sozialgeschichte, 12–38. Auf das Problem der sozialen Schichtung in ländlichen Gesellschaften kann hier nur hingewiesen werden, siehe auch dazu den Überblick über die einzelnen Sozialgruppen bei Sieder. 341 Sieder, Sozialgeschichte, 18. 342 Für Österreich im Allgemeinen und Tirol im Besonderen siehe etwa Ehmer, Heiratsverhalten, 123–127 und 133–135. 343 Mitterauer, Sozialgeschichte, 30. 344 Lederer, Mutter, 8 f. 345 („…neulich blieb das Glied schwach, als er den Koitus durchführen wollte…“). HM 1297/1883, Eintrag vom 22.6.1883.
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pressione pectoris et melancholia nubi cupit et fratres nolunt“, notiert Ottenthal beispielsweise über einen 42-jährigen Junggesellen aus Mühlwald im Jänner 1862.346 Was die gesundheitsschädigenden Aspekte des Erwerbslebens anbelangt, wären die Quellen letztendlich auf eine mögliche Zunahme von arbeitsbedingten chronischen Erkrankungen (etwa des Muskel- und Skelettapparates) und von Verletzungen und Schädigungen durch Arbeitsunfälle im Erwachsenenalter hin zu untersuchen.347 Sind Krankengeschichten wie jene des 31-jährigen Franz Innerebner*, der im Juni 1867 wegen Schmerzen in beiden Schultern „a nimia intentione virium“ die Praxis Ottenthals aufsuchte,348 repräsentativ für die Altersgruppe der männlichen Erwachsenen im mittleren Alter, bei der die über die Jahre hinweg auf sich genommenen immensen Arbeitsbelastungen des bäuerlichen Wirtschaftens zu einem stetigen körperlichen Verfall geführt hatten? Bevor diese Fragen in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels am Beispiel der Krankengeschichten Franz v. Ottenthals beantwortet werden können, sollte vorab das aus der Pädagogik stammende und bereits mehrmals erwähnte Konzept der „Entwicklungsaufgaben“ vorgestellt und dessen Übertragbarkeit auf historisch weiter zurückreichende Gesellschaften problematisiert werden. Denn während die körperlichen Veränderungen auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen als universell angesehen werden können,349 stellt sich die Frage, ob die psychosozialen Herausforderungen, denen heutige Jugendliche sich stellen müssen, tatsächlich dieselbe Relevanz für Jugendliche des Tauferer Ahrntals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten. Denn das Alter zwischen 14 und 20 wurde für die meisten Jugendlichen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem „Moratorium“ – einem gesellschaftlich akzeptierten Aufschub und „Schonraum für Selbstfindung und Selbsterprobung“350. Erst ein derartiges „Moratorium“ verschaffte etwa durch das Hinausschieben des Berufseintritts durch verlängerte Ausbildungszeiten einem Großteil der Jugendlichen den notwendigen Zeitraum, um Entwicklungsprozesse zu reflektieren und verarbeiten zu können sowie gegebenenfalls in eine Adoleszenzkrise zu „verfallen“.351 So dürfte der bei heutigen Jugendlichen so zentrale Entscheidungsprozess für eine bestimmte Ausbildung als Vorbereitung für die spätere Berufswahl in agrarisch strukturierten Gesellschaften des 19. Jahrhunderts aufgrund der geringen sozialen Mobilität keine Überfor346 („42 Jahre, leidet an Druck der Brust und Melancholie; begehrt zu heiraten und die Brüder wollen nicht“). HM 57/1862, Eintrag vom 11.1.1862. 347 Vgl. dazu für das 20. Jahrhundert etwa die Beiträge von Hoffmann, Arbeit, 140–167, oder Lengwiler, Risikoverhalten, 259–276. 348 („von einer allzu großen Kraftanstrengung“). HM 1086/1867, Eintrag vom 30.7.1867. 349 Kulturell und historisch variabel ist lediglich der Zeitpunkt des Eintrittes der pubertären Veränderungen. Vgl. dazu allgemein Mitterauer, Sozialgeschichte, 10–15, und speziell für das Alter bei der ersten Menstruation Ehalt, Wandel, 151–167 (Tab. 1–18). 350 Tillmann, Sozialisationstheorien, 241. 351 Vgl. dazu Tillmann, Sozialisationstheorien, 240 f.; Mitterauer, Sozialgeschichte, 18–20; Gestrich, Geschichte, 95–97; King, Entwürfe, 96–99.
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derung und adoleszente Identitätskrise ausgelöst haben. Für jene Männer und Frauen aus der unterbäuerlichen Schicht und aus der sozialen Gruppe der Tagelöhner hingegen, die in die Fabriken der städtischen Zentren abwanderten, sind ähnliche Problemstellungen durchaus vorstellbar. 3.3.1 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben und die Suche nach einer männlichen Geschlechtsidentität Der an der Universität Chicago tätige Pädagoge Robert Havighurst (1900– 1991) entwickelte in den 1940er Jahren ein Konzept, nach dem jeder Mensch über sein gesamtes Leben hinweg Aufgaben bewältigen müsse, um in einer Gesellschaft als sozial handlungsfähiges Mitglied anerkannt zu werden.352 Havighursts Überlegungen zufolge hält jedes Lebensalter spezifische Entwicklungsaufgaben bereit, deren Lösung nicht nur für die individuelle Persönlichkeitsgestaltung erforderlich ist. Die Gesellschaft setzt deren Bewältigung auch voraus, um ein Individuum erfolgreich „in die kulturell vorgegebenen sozialen (Rollen-)Systeme“353 des jeweiligen Lebensalters zu integrieren. Diese Entwicklungsaufgaben markieren oftmals zentrale Übergänge im „Status“ eines Menschen und ähneln den „rites des passages“ vormoderner Gesellschaften.354 Jede gesellschaftliche Gruppe hat kulturelle Normen und darauf basierend spezifische Erwartungen ihrer Mitglieder entwickelt, zu welchem Zeitpunkt ein Individuum welche Aufgaben bewältigt haben sollte. Eine dem „normalisierten“ Lebenslauf nicht entsprechende Abfolge der Erfüllung wird als „Spätentwicklung“ gesehen und ist als individuelles „Scheitern“ oftmals mit gesellschaftlicher Missbilligung verbunden. Ein Kleinkind etwa sollte innerhalb einer gewissen Zeitspanne gehen und sprechen lernen, um nicht als „Sonderling“ angesehen zu werden. Im Jugendalter werden die Entwicklungsaufgaben durch die Einbeziehung eines immer größeren sozialen Umfeldes nicht nur komplexer, sondern zugleich auch normierender. So sah Havighurst für das Jugendalter neben der Ausrichtung auf einen Beruf und eine stabile Partnerschaft das Einüben der männlichen bzw. weiblichen Geschlechtsrolle als dringliche Aufgabe dieser Lebensphase an. Da die körperlichen Reifungsprozesse während der Pubertät von den Jugendlichen erst auf physische und psychische Weise verarbeitet werden müssen, nimmt auch das „Akzeptieren des eigenen Körpers und seine effektive Nutzung“355 eine zentrale Position in Havighursts Konzept ein. Im frühen Erwachsenenalter, für das die Lebensspanne zwischen 23 und 30 Jahren reserviert ist, sollte dagegen die Berufs- und Partnerwahl abgeschlossen sein. Das „Prinzip der Generativität“356 im Sinne eines 352 Einen guten Überblick über dieses Konzept geben Grob/Jaschinski, Erwachsen werden, 22–32. 353 Böhnisch/Winter, Sozialisation, 13. 354 Vgl. Tillmann, Sozialisationstheorien, 238–248. 355 Grob/Jaschinski, Erwachsen Werden, 24. 356 Vgl. Böhnisch, Sozialisation, 180 f.
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Wunsches nach Kindern oder eines Ausdrucks biographischer Eigenständigkeit („etwas schaffen, das bleibt“) tritt als neue Aufgabe vermehrt ins Blickfeld. Individuen im mittleren Erwachsenenalter (ca. 31 bis 50 Jahre) wären dann etwa mit der Aufrechterhaltung des geschaffenen ökonomischen Lebensstandards, mit der Festigung sozialer Beziehungen außerhalb der Familie oder mit der einsetzenden Sorge um die hilfsbedürftigen Eltern beschäftigt. Somit ist die Adoleszenz jene Lebensphase, in der die durch die Pubertät ausgelösten körperlichen Veränderungen positiv in das Selbst integriert werden und die Performanz der männlichen und weiblichen Geschlechtsrolle gesellschaftskonform eingeübt werden sollten. Für die Gesundheitswissenschaftlerin Petra Kolip stellt die Bewältigung der körperlichen Veränderungen eine der zentralen Aufgaben im Jugendalter dar. Um diese Anforderungen meistern zu können, steht Jugendlichen ein Repertoire kulturell geprägter und sozial akzeptierter Muster zur Verfügung. Für die Autorin zählt das erfolgreiche Navigieren durch die Höhen und Tiefen der Pubertät zu den „kollektiven Anforderungen, die individuell bewältigt werden müssen, um gesellschaftlich definierte und als notwendig angesehene Entwicklungsfortschritte zu erzielen.“357 In den letzten Jahrzehnten hat die gesundheitsbezogene Jugendforschung daher vermehrt untersucht, inwiefern diese Herausforderungen für männliche und weibliche Jugendliche eine psychosoziale Belastung darstellen.358 Zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen bis hin zur Entwicklung von Krankheitsbildern kann es kommen, wenn Erwartungen aufgrund mangelnder sozialer und personaler Ressourcen oder aufgrund von momentanen Lebenskrisen trotz größter Anstrengung nicht erfüllt werden können.359 Auch wenn diese Entwicklungsaufgaben mehrheitlich geschlechtsneutral formuliert sind, besitzen sie eine eindeutige geschlechtsspezifische Komponente.360 Männliche und weibliche Jugendliche müssen nicht nur ein neues Verhältnis zu ihrem geschlechtlichen Körper finden und die Entwicklungen in ihr Selbstkonzept als Mann oder Frau integrieren. Die körperliche und mentale Verarbeitung der Veränderungen wird von der Gesellschaft auch auf geschlechtsspezifisch unterschiedliche Weise unterstützt, wie etwa an einer Stelle des Romans „Die Töchter Egalias“ der schwedischen Autorin Gerd Brantenberg thematisiert wird. In dieser 1977 erstmals erschienenen Satire auf damals herrschende Geschlechterverhältnisse unterhalten sich Direktorin Bram, der Vater Kristoffer, der Sohn Petronius und die Tochter Ba über die „problematischen“ körperlichen Veränderungen des pubertierenden Sohnes, die leicht als Spiegelung der zeitgenössischen feministischen Debatten rund um das Einschnüren der Brüste durch BHs sowie deren Folgen für das weibliche Selbst357 358 359 360
Kolip, Geschlecht, 88. Vgl. den Überblicksartikel von Winter, Jungen, 353–359. Vgl. etwa Hurrelmann, Gesundheits- und Entwicklungsprobleme, 53 f. Die grundsätzlich geschlechtsneutrale Formulierung der zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben ist ein häufig geäußerter Kritikpunkt an Havighursts Konzept. Vgl. Helfferich, Jugend, 185–196; Kolip, Geschlecht, 87–95.
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bewusstsein zu erkennen sind. In diesem utopischen, als Spiegelung patriarchaler Machtverhältnisse gezeichneten Staat, in dem Frauen die Macht haben und Männer die Kinder hüten, sucht der Vater und „Hausmann“ Kristoffer folgendes Gespräch mit seinem Sohn: „Petronius?“ Er zuckte zusammen. Am Tonfall erkannte er, daß er kaum Lust verspürte, über das zu reden, worüber der Vater jetzt mit ihm reden wollte. „Ich habe schon längere Zeit darüber nachgedacht. Es ist richtig, was Ba gesagt hat. Ist es nicht an der Zeit, daß du mit einem PH [= Penishalter, A. U.] anfängst?“ Petronius spürte, daß ihm warm wurde. Er antwortete nicht. „Ich habe festgestellt, daß du dich in letzter Zeit kräftig entwickelt hast.“ „Ja, danke.“ Das hatte auch Petronius mit immer größerem Schamgefühl bemerkt. Es war entsetzlich. Seine Stimme konnte sich ebenfalls nicht entscheiden, ob sie in die Höhe oder in die Tiefe wollte. Warum konnte er nur nicht für immer Kind bleiben.“361
Der Roman führt seinen Leserinnen und Lesern durch seine scharfsinnige Überzeichnung patriarchaler Gesellschaftsstrukturen amüsant vor Augen, wie die gesellschaftlichen Erwartungen und Bewertungen für heranwachsende Mädchen und Jungen differieren und diese in unterschiedlichem Maße Belastungen aussetzen. Denn die körperlichen Veränderungen in der Pubertät lösen geschlechtsspezifisch unterschiedliche psychische Prozesse und Dynamiken aus, v. a. wenn das Timing und das Tempo der körperlichen Veränderungen nicht nach den gewohnten Abläufen erfolgen. Das soziale Umfeld reagiert dabei auf diese sichtbaren Entwicklungsprozesse bei Mädchen und Jungen jeweils anders, was sich auf das Selbstwertgefühl und die Selbstwahrnehmung der beiden Geschlechter unterschiedlich auswirkt. „Der Kaufmann, Herr Monatochter, hat sich in der letzten Woche nach deinem PH erkundigt. Die Leute erwarten es einfach.“, legt Brantenberg dem Vater des verunsicherten Petronius in den Mund. Mit der Erfüllung der im Tauferer Ahrntal der 1860er Jahre herrschenden kulturellen Normen an das Jugendalter hatte offensichtlich auch der 17-jährige Martin Eppacher* aus Mühlwald zu kämpfen, denn Ende des Jahres 1869 suchten die irritierten Eltern den Arzt auf, da ihr Sohn trotz seines Alters immer noch ins Bett pinkeln würde („17 ann. adhuc lectulum commingit“362). „Die Leute“ stuften wohl ebenso wie Franz v. Ottenthal und die Eltern den 17-jährigen Bettnässer als „spätentwickelt“ ein und sahen das Hinzuziehen eines Arztes in dieser Angelegenheit als dringend an. Für Marlene Stein-Hilbers bedeutet die Pubertät für Mädchen in gewisser Weise einen Verlust, für Knaben aber einen Gewinn.363 Denn Mädchen würden sich rein physiologisch vom gesellschaftlich vorherrschenden Schönheitsideal des schlanken mädchenhaften Körpers wegentwickeln, wohingegen sich Jungenkörper dem Ideal des breitschultrigen und muskulösen Mannes annähern würden. Studien zur Selbsteinschätzung von Jugendlichen fördern folglich eine größere Unzufriedenheit von Mädchen mit ihrem Körper ans Tageslicht. Im Vergleich zu Jungen betrachten sich Mädchen als weniger attraktiv 361 Brantenberg, Töchter, 10. 362 HM 1257/1869, Eintrag vom 27.12.1869. 363 Stein-Hilbers, Konstruktion, 93 f.
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und besitzen ein geringeres köperbezogenes Selbstwertgefühl.364 Mädchen und Jungen greifen daher auch auf geschlechtertypisch unterschiedliche Strategien zurück, um Entwicklungsaufgaben „geschlechtskonform“ zu erfüllen. So muss die Orientierung und Propagierung mädchenhafter Körperproportionen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung von Essstörungen gesehen werden, die den Körper wieder dem Schönheitsideal des knabenhaften Frauenkörpers näherbringen sollen. Jungen hingegen suchen vermehrt Zulauf in Fitness-Studios, um dem männlichen Ideal zu entsprechen. Kolip spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Aneignung der eigenen körperlichen Erscheinung […] als eigenständige Entwicklungsaufgabe“365. Jungen würden zudem die erste Ejakulation als Zuwachs an Männlichkeit begreifen, die gesellschaftlich zugleich mit einem Mehr an Freiräumen und Prahlereien in der Gleichaltrigengruppe verbunden wären, wohingegen Mädchen die erste Menstruation höchst irritierend empfänden und diese zudem mit starker Tabuisierung und Reglementierung einhergehe.366 Demnach bringe auch die für diese Altersphase als zentral angesehene Ablösung von den Eltern für weibliche Jugendliche gänzlich andere Dynamiken mit sich, da wegen der Angst der Eltern vor sexuellen Übergriffen Mädchen mit Eintritt der Menarche zunehmend strenger kontrolliert werden, wohingegen den pubertierenden Jungen ein größerer Handlungsspielraum eingeräumt wird.367 Gerade bezüglich der geschlechtsspezifischen Reglementierungen der Sexualität zeigt sich die von Vera King postulierte größere Einbindung von Jungen in einen „männerbündisch strukturierten öffentlichen Raum“368 besonders deutlich, der nach King in erster Linie hegemoniale Männlichkeitsbilder reproduzieren und absichern soll. Allerdings wird von Seite der kritischen Männerforschung seit geraumer Zeit darauf hingewiesen, dass von vielen Jungen die Spermarche ebenfalls mit gemischten Gefühlen wahrgenommen wird, und dass altersspezifische Probleme mit dem Körper und der Sexualität aufgrund des gruppendynamischen Charakters in der peer group eben nicht auf unterstützende Weise besprochen werden können.369 Jugendliche müssen und mussten zwar zu jeder Zeit die physiologischen Veränderungen ihres Körpers verarbeiten, aber anders als ihre Geschlechtsgenossen aus früheren Jahrhunderten würden, so Tillmann, junge Menschen in den postindustriellen Gesellschaften zusätzlich mit den Möglichkeiten „pluralisierter“ und „entstrukturierter“ Lebensformen konfrontiert.370 Die soziologische Jugend- und Geschlechterforschung sieht viele männliche Jugendliche durch diese mitunter widersprüchlichen Bilder überfordert und in vertraute 364 365 366 367 368 369 370
Kolip, Geschlecht, 194–197. Kolip, Geschlecht, 95. Stein-Hilbers, Konstruktion, 93 f. Stein-Hilbers, Konstruktion, 93 f. King, Entwürfe, 98. Vgl. Starke, Männer, 139 f.; Böhnisch/Winter, Sozialisation, 80–89. Tillmann, Sozialisationstheorien, 238–247. Vgl. aus historischer Perspektive die Ausführungen bei Mitterauer, Sozialgeschichte, 18–27.
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Abb. 3.3.1: „Tauferer Bue“ Bild aus einer Serie von Trachtenbildern zu „Tiroler Volksstypen“ von Karl von Lutterotti (1783–1872): Quelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck; Bibliothek FB 4333/129
Männlichkeitsmuster (etwa von Vaterschaft) flüchten. Eines dieser Muster wäre eine vorwiegend Männern zugesprochene Körperferne und damit einhergehend ein wenig reflexives Riskieren des eigenen Körpers. Riskante Verhaltensweisen wie das Ausüben gefährlicher Sportarten oder Alkoholexzesse werden
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somit als Bewältigungsstrategie begriffen, mit der auf die Herausforderungen der lebensaltertypischen Entwicklungsaufgaben reagiert wird. In diese Richtung könnte auch das „delinquente“ Verhalten des 17-jährigen Josef Walch* aus dem Dorf Mühlwald gedeutet werden, von dem wir durch einen Briefwechsel unterrichtet sind. Denn im Jahre 1861 schickte der Schullehrer des Dorfes einen Beschwerdebrief an den Bezirksvorsteher in Taufers, in dem er über den „jungen Wilden“ unter anderem klagte: „Oft kam er zu spät, und wenn er einmahl da ist, stört er noch die andern Schüler, (einmahl erkühnte er sich sogar in der Schule zu rauchen) zweimahl kam er unter leeren Vorwänden gar nicht in dieselbe, u. zweimahl konnte er sie deshalb nicht besuchen, weil er dem Spielen, dem Schnapstrinken u. Herumschlendern aufwarten mußte.“371 Der deutsche Soziologe Michael Meuser würde ein derartiges Risikohandeln aus einer funktionalistischen Perspektive als Teil der normalen Entwicklung auf dem Sprung zum Erwachsenen begreifen.372 Vor dem Hintergrund der vom französischen Soziologen Pierre Bordieu entwickelten Theorie interpretiert er Verhaltensweisen männlicher Jugendlicher, die wie in zahlreichen Videos auf YouTube zu bewundern373 einen gefährlichen oder gewaltförmigen Rückgriff auf den eigenen Körper erfordern, als kompetitive Spiele, bei denen die Aneignung einer männlichen Geschlechtsidentität eingeübt wird. Mit dem Riskieren des Körpers beweisen die Jungen ihrer Gleichaltrigengruppe, dass sie durchaus „ihren Mann stehen“ und eben nicht „nicht-männlich“ sind.374 „In diesen Kämpfen ist der Körper der Spieleinsatz, und die Bereitschaft, ihn zu riskieren, ist doing gender, Mittel der Aneignung und Darstellung von Männlichkeit.“375, so Meuser. Durch ihre Einbettung in den kollektiv-kompetitiven Rahmen der überwiegend homosozialen peer group sollten diese riskanten Verhaltensweisen als performative Akte der Darstellung der eigenen Männlichkeit angesehen werden und weniger als „Problemverhalten“. Allerdings weist Meuser auch darauf hin, dass mit diesen „Spielen“ meist nur die für die Gruppe vorrangigen Werthaltungen und Einstellungen einer hegemonialen „Männlichkeit“ bestätigt und fortlaufend reproduziert werden, was sich nicht zuletzt an der Exklusion von Frauen und von anderen („marginalisierten“) Männern zeigt.376 371 ASBz, BA Taufers 1861, Bündel 150/1, Nr. 357, liegend in I.a.11/1861. 372 Vgl. Meuser, Strukturübungen, 309–323. 373 Im Frühjahr 2011 sorgte etwa das sogenannte Planking für große Medienpräsenz. Beim Planking legen sich die überwiegend jungen Leute an ungewöhnlichen Orten mit ausgestrecktem Körper auf den Bauch, lassen sich fotografieren und stellen diese Fotos ins Internet. Bekannt wurde dieser „Sport“, als ein Australier vom Balkon stürzte, nachdem er sich auf dem Geländer liegend fotografieren lassen wollte. Dessen Vater sagte in einem Interview: „Sie tun es, um Aufmerksamkeit zu erregen.“ Siehe T[iroler] T[ageszeitung], 20.5.2011, 13. Das Planking kann somit als Beispiel für jenes „medial inszenierte (post-) adoleszentes Risikohandeln“ gesehen werden, das Michael Meuser als charakteristisch für die Internetgeneration ansieht. Vgl. Meuser, Strukturübungen, 312. 374 Vgl. Meuser, Männerkörper, 161–163. 375 Meuser, Strukturübungen, 313. 376 Zu der Funktion von peer groups für Jugendliche siehe auch Böhnisch, Sozialisation, 158– 164.
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Diese „Spiele“ besitzen aber auch insofern eine deutliche Geschlechtsspezifik, weil das Risikohandeln eine externalisierende oder internalisierende Ausprägung annehmen kann. Frauen greifen dabei generell eher zu Körperstrategien der Reduktion, Männer zu jenen der Expansion, wie Petra Kolip in ihrer Studie beispielsweise anhand einer Statistik zu stark geschlechtsspezifisch geprägten Gewalthandlungen von Mädchen und Jungen eindrücklich herausgearbeitet hat.377 Auch im Tauferer Ahrntal sind derartige externalisierende Strategien von Männern dokumentiert, etwa wenn der 20-jährige Peter Innerkofler* aus Luttach sich im Februar 1864 in die Behandlung Ottenthals begab, da er und sein Widersacher sich in einem Raufhandel „gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hatten“, was der Arzt als eigentliche Ursache für die später auftretenden Leiden ansieht.378 Wie Achim Schröder in seinem Beitrag über spezifische Jugendkulturen zeigen konnte, trifft das Muster „Expansion = männlich“ jedoch nicht auf alle jugendlichen peer groups und Cliquen gleichermaßen zu.379 Denn während die von seinem Team untersuchten männlichen Jugendlichen der Heavy Metal Szene sich ausgesprochen stark an traditionelle Männlichkeitsmuster orientieren und Frauen abwerten, nivellieren sich in der jungen Techno und Rave Szene diese geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen. Die mit diesen Jugendlichen durchgeführten Interviews belegen, dass im Tanzen Männer ihren Körper ohne Angst vor dem Spott der Geschlechtsgenossen spüren können, während Frauen die Eroberung neuer öffentlicher Räume und das Ausbrechen aus der angestammten Tänzerinnenrolle genossen. Meistens findet das Riskieren des Körpers in den Lebensphasen des Erwachsenenalters ein Ende bzw. wird nur noch in abgeschwächter Form praktiziert, weswegen Michael Meuser riskantem Handeln die „Eigenschaft des lebensphasentypischen Episodalen“380 zuspricht. Üblicherweise wird das Erwachsenenalter als jene Lebensphase gesehen, in der mit der beruflichen Absicherung die ökonomische und mit einer festen Partnerschaft die sozial-familiäre Entwicklungsaufgabe, wie von Havighurst formuliert, erreicht sein sollte. Da sich „traditionelle“ identitätsstiftende Bereiche wie Arbeit oder Familie in den letzten Jahrzehnten jedoch stark gewandelt haben, weicht in postindustriellen Gesellschaften dieses scheinbar so selbstverständliche Bild vom Erwachsenenstatus für immer mehr jüngere Männer der Erfahrung von Diskontinuitäten und Sprüngen in der individuellen Biographie.381 Wie Lothar Böhnisch und Reinhard Winter in ihrem Entwurf zur männlichen Sozialisation aufzeigen, erscheinen männliche „Durchschnittsbio377 Vgl. Kolip, Geschlecht, 170 f. 378 [„ante 2 menses in rixa capitibus c. adversario allisis verosimiliter originem malum coepit, dolores in humero penitus in capite partim remiserunt“] („das Übel hat wahrscheinlich daher den Ursprung, dass sie in einem Streit vor zwei Monaten mit den Köpfen gegen den Gegner aneinandergeschlagen haben; die Schmerzen im Oberarm haben sich vollständig, die im Kopf teilweise vermindert“). HM 219/1864, Eintrag vom 24.02.1864. 379 Schröder, Gemeinschaften, 299–302. 380 Meuser, Strukturübungen 320. 381 Grundlegend dazu die Studie des Soziologen Michael Meuser. Meuser, Geschlecht. Vgl. auch den Überblick bei Tillmann, 315–346, sowie Böhnisch, Sozialisation, 25–35.
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graphien“ im Erwachsenenalter zunehmend „pluralisiert“ und „entstrukturiert“ – und mit ihnen auch bislang als vertraut geltende Sozialisationsprozesse.382 Den beiden Autoren zufolge können Rollen, die lange Gültigkeit hatten und Sicherheit im Verhalten gewährleisteten, von immer weniger Männern aufrecht erhalten werden, sodass Böhnisch diesbezüglich von einer „offenen Sozialisationsdynamik“383 spricht. Der Prozess der Ausbildung einer männlichen Geschlechtsidentität wird folglich zunehmend seltener durch traditionelle Übergänge wie den Eintritt in einen sicheren Beruf oder die Heirat „formell“ abgeschlossen. Abschließend sei erwähnt, dass das Konzept der Entwicklungsaufgaben, wie es Havighurst formuliert hat, von einigen Wissenschaftlerinnen wie der Soziologin Cornelia Helfferich wegen seines normativen Charakters kritisch betrachtet wird. Wenn in der Jugendphase die „Übernahme der Geschlechtsrolle“ vorbereitet werden soll, muss es einen breiten Konsens darüber geben, was geschlechtskonforme weibliche und männliche Verhaltensmuster eigentlich auszeichnet. „Gelingende Entwicklung dokumentiert sich im formalen Akt der Übernahme der vorgegebenen Rolle.“384, so Helfferich folgerichtig. Bei welchen gesellschaftlichen Gruppen liegt aber die Deutungsmacht, welches Verhalten als gelungene Bewältigung einer altersspezifischen Aufgabe akzeptiert wird und welches nicht? Im vorher kurz zitierten Beschwerdebrief des Mühlwalder Lehrers wird denn auch gleich eine öffentliche Bestrafung des „Delinquenten“ vorgeschlagen, um den übrigen Schülerinnen und Schülern einprägsam zu vermitteln, wie ein „konformes“ Verhalten und eine gelungene Sozialisation im Tauferer Ahrntal der 1860er Jahre auszusehen haben. „Man glaubt, wenn die Strafe im Schulzimmer zu Mühlwald durch einen Gendarm oder Bezirksamtsdiener am kommenden Sonntag (10. Febr) vor den anwesenden Wiederholungs Schülern ausgeführt würde, dieses ein abschreckendes Beispiel für die Zukunft für Alle sein könnte.“385 Für die Bereiche Gesundheit und Krankheit ergibt sich aus der geäußerten Kritik der weiterführende Gedanke, ob ein Knabe, der seinen Körper genauestens betrachtet und über jede Veränderung besorgt ist, oder der zugefügten Schmerzen weniger mit Aggression als vielmehr mit Tränenausbrüchen begegnet, demnach als Beispiel für eine misslungene Übernahme geschlechtsadäquater Männlichkeitsmuster anzusehen ist? In der Tat ordnen männliche Jugendliche Fürsorglichkeit trotz der erfolgten Umbrüche im Geschlechterverhältnis häufig immer noch der Sphäre des Mütterlich-Weiblichen zu, wohingegen sie die Rolle des fürsorglichen Vaters nur äußerst selten einfordern.386 Aus historischer Perspektive haben die Auswertungen von Tagebüchern und weiteren sogenannten „Ego-Dokumenten“ der letzten Jahre ergeben, dass
382 383 384 385 386
Böhnisch/Winter, Sozialisation, 121–128. Böhnisch, Sozialisation, 178. Helfferich, Jugend, 195. Eine ausführliche Kritik findet sich auf S. 185–196. ASBz, BA Taufers 1861, Bündel 150/1, Nr. 357, liegend in I.a.11/1861. King, Entwürfe, 103.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Männer ihren Körper sehr wohl thematisierten und reflexiv betrachteten.387 Ebenso sprechen die Ergebnisse von neueren Studien zum geschlechterspezifischen Arzneimittelkonsum und zum Inanspruchnahmeverhalten des medizinischen Angebotes dafür, diese Aspekte des Krankheitsverhaltens als historisch äußerst wandelbar zu begreifen.388 Im Folgenden soll daher in einem ersten Schritt untersucht werden, wie sich die geschlechterspezifische Inanspruchnahme der Praxis Franz v. Ottenthals in den 1860er und 1890er Jahren generell entwickelt hat. Die Auswertung erfolgte sowohl für die beiden Geschlechter als auch binnengeschlechtlich für die Gruppe der Männer anhand dreier Lebensphasen des männlichen Erwachsenenalters. Anschließend wird die konkrete Nutzung seines medizinischen Angebots durch jugendliche und jüngere Männer (14–25 Jahre) sowie durch Männer der mittleren Altersgruppe (25–45 Jahre) in den Blick genommen, indem das Krankheitsspektrum dieser zwei Patientengruppen vergleichend aufgefächert wird. In einem dritten Schritt wird der spezifische Bedarf bestimmter Therapieangebote Ottenthals für diese zwei exemplarischen Lebensabschnitte nachgezeichnet. Für die erste Altersgruppe habe ich dabei die betreffenden Krankenjournale der 1860er Jahre nach Hinweisen zu sexuellen Verhaltensweisen durchsucht, da männliche Jugendliche durch die körperlichen Veränderungen in der Pubertät ein neues Verhältnis zu ihrem Körper entwickeln und mit der erwachenden sexuellen Begierde umzugehen lernen müssen. In der zweiten Altersgruppe wurde herausgearbeitet, inwiefern das passagere Soldatenleben ein lebensphasentypisches Risiko für die Gesundheit sowie eine Bedrohung für die körperliche Unversehrtheit darstellte. Der Körper von Männern im mittleren Erwachsenenalter erfuhr nicht nur im Schlachtfeld die unterschiedlichsten Verletzungen und Verstümmelungen, sondern auch in Friedenzeiten erschien der Körper durch die psychischen und physischen Belastungen des militärischen Drills oder durch sanitäre Verhältnisse in den Garnisonen als äußerst verletzlich. Dazu wurden alle jene Krankengeschichten 25 bis 45-jähriger Männer, die zwischen 1860 und 1869 von Ottenthal angelegt wurden, auf Aussagen über den soldatischen Körper hin überprüft. 3.3.2 Zur altersspezifischen Inanspruchnahme der Arztpraxis innerhalb der einzelnen Phasen des Erwachsenenalters Die Abfrage zur Altersverteilung der Patientinnen und Patienten Franz v. Ottenthals ergab für die 1860er Jahre, dass hauptsächlich Erwachsene zwischen 18 und 65 Jahren eine medizinische Behandlung durch diesen Arzt nachfragten (vgl. Grafik 3.3.1). Diese Altersgruppe stellte somit mit einem Anteil von etwas über 70 Prozent an der Gesamtzahl seiner Patientinnen und Patienten die ökonomische Basis der Praxis dar. Zu den knapp fünf Prozent jugendlicher 387 Vgl. etwa die Studien von Hoffmann, Alltag, 236–311, oder Schweig, Gesundheitsverhalten, 118–184. 388 Die neuesten Forschungen darüber hat Dinges, Paradigmen, 31–35, zusammengefasst.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
213
Grafik 3.3.1: Prozentualer Anteil der Jugendlichen (14–18 Jahre) und der Erwachsenen (18– 65 Jahre) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals in den Jahrzehnten 1860–1869 und 1890–1899 Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen.
Hilfesuchender (14 bis 18 Jahre) kamen noch rund 22 Prozent jüngster und ältester Talbewohnerinnen und Talbewohner, die im Vergleich zu den hohen Mortalitäts- und Morbiditätsraten in diesen Altersklassen deutlich unterrepräsentiert erscheinen. Der historische Demograf Arthur Imhof verglich die grafische Umsetzung des altersspezifischen Mortalitätsmusters des 19. Jahrhundert mit seinen überaus hohen Sterberaten für Säuglinge und Kleinkinder recht treffend mit einer Glocke, jene für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einer Vase.389 In den 1890er Jahren ist bezüglich der Altersstruktur hingegen eine merkliche Abnahme des Anteils der 18 bis 65-jährigen Patientinnen und Patienten belegt: Personen in ihren „besten Jahren“ stellten nun noch rund 65 Prozent der gesamten Patientenschaft, wohingegen der Anteil der übrigen Altersgruppen auf knapp 30 Prozent gestiegen war. Lediglich die – quantitativ allerdings nicht sehr umfangreiche – Gruppe der Jugendlichen wies zwischen 1890 und 1899 in etwa gleichbleibende Werte auf wie im Vergleichsjahrzehnt zuvor. Diese Verschiebungen innerhalb der Altersverteilung der Patientinnen und Patienten in der Ottenthalschen Praxis dürften weniger auf „Rekrutierungserfolge“ bei einzelnen Altersgruppen, etwa durch die Spezialisierung auf lebensalterspezifisch besonders nachgefragte „pädiatrische“ Dienstleistungen, zurückzuführen sein. Die Ursachen sind wohl eher in den langfristigen demo389 Z. B. bei Imhof, Jahre, 23, Figur 2.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
grafischen Entwicklungen dieser Region zu suchen. Denn einerseits wandelte sich auch das Tauferer Ahrntal im Verlauf des 19. Jahrhunderts wie so viele entlegene Seitentäler Tirols zu einem klassischen Abwanderungsgebiet.390 Allein der Bezirk Taufers verlor zwischen 1850 und 1900 ein Fünftel seiner Bevölkerung.391 Den Fortzug in die neu entstehenden industriell-gewerblichen Arbeitsmärkte etwa des Brunecker Beckens wagten hauptsächlich die jüngeren und mittleren Erwachsenen, während die jüngsten und ältesten Altersgruppen in den Weilern und Dörfern zurück blieben. Die hohen Abwanderungsraten unter der jüngeren Bevölkerung erhöhten in ländlichen Regionen wie dem Untersuchungsgebiet den Anteil der älteren Personen, die durch diesen altersspezifischen Wanderungstrend auch in der Praxis in Sand gehäuft vertreten waren. Andererseits kam es im Bezirk Taufers in den letzten beiden Dekaden vor der Jahrhundertwende zu einem starken und anhaltenden Anstieg bei den Geburten.392 Die gestiegene Fertilität ließ nun auch den Anteil von Säuglingen und Kleinkindern in der Praxis Ottenthals steigen. Ungeachtet dieser demografischen Trends stellten in beiden Vergleichsjahrzehnten die jüngeren, mittleren und höheren Erwachsenen zwischen 18 und 65 eine Patientengruppe dar, die in Relation zu ihrem tatsächlichen Anteil an der ansässigen Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich häufig in der Praxis dieses Arztes vertreten war. Wenig verändert hat sich in den beiden Jahrzehnten hingegen das Geschlechterverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Patienten in den hier relevanten Altersgruppen der Jugendlichen und Erwachsenen. In den 1860er Jahren lag der Anteil der erwachsenen Frauen bei ca. 60 Prozent und jener der Männer bei ca. 40 Prozent, in den 1890er Jahren hat sich das Verhältnis sogar geringfügig zugunsten der Frauen hin verändert (62 zu 38 Prozent). Bei den Adoleszenten waren die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwar weniger stark ausgeprägt, dennoch stellten junge Männer in beiden Jahrzehnten mit jeweils ca. 42 Prozent einen deutlich geringeren Anteil als ihre gleichaltrigen Genossinnen. Dieses Ergebnis bestätigt die von Martin Dinges anhand verschiedener Arztpraxen des 18. bis 20. Jahrhunderts herausgearbeitete Dynamik im geschlechterspezifischen Inanspruchnahmeverhalten.393 Seinen Berechnungen zufolge dominierten bei bestimmten Arztpraxentypen bis ungefähr zur Wende ins 19. Jahrhundert hinein Frauen jene Arztpraxen, die eine geschlechtsspezifische Aufschlüsselung der ärztlichen Nachfrage erlauben. Nach diesem Zeitraum waren hingegen Männer tendenziell häufiger in den ärztlichen Praxen zu finden. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schließlich zeichnete sich wiederum ein Wandel zu mehr weiblichen Arztkontakten ab. Ab ca. 1870 lässt sich dieser Überhang in ausnahmslos allen untersuchten Arztpraxen feststellen, denn von diesem Zeitpunkt an beträgt der Anteil der 390 Vgl. dazu Mathis, Umwälzung, 22–24. 391 N. N., Wanderbewegung, 29. 392 Vgl. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, Bd. 2, 9 (Tab. 6). Zur allgemeinen Geburtenentwicklung in Tirol siehe Grafik 2 bei Teibenbacher, Bevölkerungsbewegung, 256. 393 Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 306.
215
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
Tab. 3.3.1: Geschlechterspezifische Inanspruchnahme von Ärzten/Ärztinnen und Ambulanzen im Jahr 1999 Durchschnittliche Zahl der jährlichen Besuche beim einem Arzt/ einer Ärztin für Geschlecht
Allgemeinmedizin
Kinderheilkunde
Internistisches
Sonstige Spezialisierung
Zahnbehandlung
Ambulatorium
씹
3,20
1,57
0,57
1,18
1,31
0,42
씸
3,86
1,41
0,60
1,30
1,39
0,40
Quelle: Statistik Austria, Gesundheitszustand, S. 50, Übersicht 9
Frauen gegenüber jenem von Männern durchgehend 60 zu 40 Prozent – und zwar relativ konstant bis heute.394 Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit von Arztkontakten sind selbst dann ausgeprägt, wenn nach der jeweils angebotenen Art der medizinischen Versorgung genauer differenziert wird. Laut einer österreichischen Studie aus dem Jahre 1999 wiesen Frauen unabhängig von der spezifischen Fachrichtung durchschnittlich mehr Besuche bei Ärzten und Ärztinnen auf als Männer. Lediglich die medizinischen Dienstleistungen in Ambulatorien wurden von mehr Männern in Anspruch genommen als von Frauen, was mit der größeren Unfallhäufigkeit von Männern zusammenhängt (vgl. Tab. 3.3.1).395 Festzuhalten bleibt folglich, dass sich im Tauferer Ahrntal dieses „moderne“ männliche und weibliche Inanspruchnahmeverhalten des ärztlichen Angebots schon spätestens in den 1860er Jahren herausgebildet hat. Womöglich findet hier das „Prinzip der Körperferne“396, welches Böhnisch und Winter als strukturierend für männliche Identitäten in der Moderne ansehen, eine frühe Ausprägung. Demzufolge negieren Männer Anzeichen körperlicher Schwäche und nehmen medizinische Hilfe erst spät in Anspruch, um Stärke und Unabhängigkeit zu betonen. Definitiv als unzulässiges Vorurteil entlarvt werden kann jedenfalls die Phrase vom Bauern, der lieber seine Kühe als seine Frau im Krankheitsfalle behandelt wissen will. Der „Durchschnittspatient“ in der Altersgruppe 14 bis 65 in dieser in einer agrarisch strukturierten Region angesiedelten Landarztpraxis war eindeutig weiblich – und somit eigentlich eine „Durchschnittspatientin“. Zudem änderte sich auch im geschlechtsspezifischen Lebenslauf nur wenig an der Tatsache, dass Männer die gesamte Phase ihres Erwachsenseins hindurch eine grundsätzlich geringere Nachfrage nach Ottenthals Therapieangeboten ausgebildet hatten. Denn insgesamt ergibt eine differenziertere Ab394 Allgemein dazu etwa Kolip/Hurrelmann, Geschlecht, 19–22. 395 Statistik Austria, Gesundheitszustand, 50, Übersicht 9. Zu demselben Ergebnis kommt auch Birgit Babitsch in ihrer 2005 erschienenen Studie zu Deutschland. Vgl. Babitsch, Ungleichheit, 233 (Tab. 29a), und 235 f. 396 Böhnisch/Winter, Sozialisation, 129.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Grafik 3.3.2a: Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Patienten in der entsprechenden Altersgruppe 1860–1869 (Frauen = 100) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869
Grafik 3.3.2b: Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Patienten in der entsprechenden Altersgruppe 1890–1899 (Frauen = 100) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
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frage nach einzelnen Lebensphasen des Erwachsenenalters397, dass immer mehr Frauen als Männer bei Ottenthal vorstellig wurden, und zwar unabhängig davon, ob der Arztkontakt beim „Eintritt“ oder „Austritt“ in diesem Lebensabschnitt erfolgt war (vgl. Grafiken 3.3.2a und 3.3.2b). Ottenthal behandelte sowohl um 1860 als auch um 1890 definitiv mehr erwachsene Frauen als Männer in denselben Altersgruppen. Die Unterschiede waren bei den älteren Erwachsenen am geringsten, bei den jüngeren und mittleren Erwachsenen hingegen stärker ausgeprägt. In den 1890er Jahren ist zudem die „Feminisierung“ der Arztpraxis weiter vorangeschritten, da sich bei den Männern in allen Altersabschnitten die Abstände zu den Frauen in denselben Altersgruppen merklich vergrößert haben.398 Dennoch ist unverkennbar, dass in beiden Vergleichsjahrzehnten die Altersgruppe von 25 und 45 tendenziell die größte geschlechterspezifische „Inanspruchnahmelücke“399 aufzuweisen hatte. Traten aber nun innerhalb der Geschlechtergruppe der männlichen Patienten ähnliche Muster hinsichtlich der lebensphasentypischen Nachfrage nach ärztlicher Behandlung auf wie bei einem Vergleich zwischen Männern und Frauen? Es ist anzunehmen, dass ältere Männer deutlich häufiger die Praxis in Sand aufsuchten als jüngere. Schließlich betonte der Arzt Friedrich Oesterlen (1812–1877) die „bedeutende Zunahme des Krankseins nemlich mit dem Alter, dessen grosse Seltenheit in der Jugend, d. h. nachdem die Gefahren und Klippen der ersten Kindheit glücklich überstanden sind.“400 Trotz der allgegenwärtigen Gesundheitsgefährdungen etwa durch akute Infektionskrankheiten galt die Jugend um 1860 als relativ gesundes Lebensalter, in dem im Gegensatz zu den folgenden Lebensphasen eine hohe Zahl an beschwerdefreien Jahren durchlebt werden konnte. Als etwa im Jahre 1862 Josef Plaikner, der ca. 60-jährige Besitzer des Holzergutes in Mühlwald, die Militärbehörde in Innsbruck um die Beurlaubung seines dienenden Sohnes Jakob bat, begründete er sein Ansuchen mit seiner durch eine Verletzung nicht mehr voll einsatzfähigen rechten Hand. Zudem „befindet er sich auch schon in einem Alter von 63 Jahren, ist von eher schwächlicher Körperkonstitution u. dürfte schon vermöge seines vorgerückten Alters nicht mehr ganz fähig sein, den Arbeiten selbst nachzugehen.“401 Er müsse daher aufgrund seiner altersbedingten Beeinträchtigungen wesentliche Aufgaben des bäuerlichen Wirtschaftens zunehmend an seinen gesunden und kräftigen Sohn Jakob delegieren. Josef Plaikner fühlte sich subjektiv „zu alt“ und „zu ungesund“ für die Erfüllung seiner Rolle als „Landmann“ und bereitete innerlich wohl die Hofüber397 Die Kategorien wurden als junge Erwachsene (14 bis unter 25), mittlere Erwachsene (über 25 bis unter 45) und ältere Erwachsene (über 45 bis unter 65) definiert. 398 Der einmalige „Run“ jugendlicher Erwachsener in die Praxis des Arztes, der als Peak des Jahres 1890 deutlich in der Grafik 3.3.3b zu erkennen ist, dürfte vermutlich auf eine ausgedehnte Diphtherieepidemie im Bezirk zurückzuführen sein, von der die Altersgruppe der 14 bis 25-Jährigen ungleich häufiger betroffen war als die höheren Alter. 399 Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 297. 400 Oesterlen, Handbuch, 828. 401 ASBz, BA Taufers 1862, Bündel 152/2, o. Nr., liegend in N 1.679, C.b.20/1862.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
gabe an die nächste Generation vor. Doch waren Männer im höheren Erwachsenenalter aufgrund ihrer spezifischen Gebrechen „medikalisierter“ und automatisch häufiger in einer ärztlichen Praxis zu finden als ihre jugendlichen Geschlechtsgenossen? Führten die anderen Rollenerwartungen, die an die jüngeren, mittleren und älteren Männer in ihren jeweiligen Lebensphasen herangetragen wurden, zu alterstypischen Krankheitsbildern, die wiederum das altersspezifische Inanspruchnahmeverhalten beeinflussten? Vor dem Hintergrund der in postindustriellen Gesellschaften vorherrschenden Mortalitätsmuster erscheinen derartige Überlegungen plausibel. Das Sterblichkeitsgeschehen wird in unserer Zeit nicht mehr von akuten Infektionskrankheiten dominiert, sondern von chronischen Erkrankungen wie Krebs oder Herz- und Kreislauferkrankungen. Beide Krankheitsgruppen treten vermehrt ab dem dritten Lebensjahrzehnt auf und nehmen proportional mit dem Älterwerden zu.402 Sie führen im älteren Erwachsenenalter zu einer steigenden Zahl an Vorsorgeuntersuchungen, ärztlichen Eingriffen und Aufenthalten in Krankenhäusern. So wurde nicht zuletzt in einer 2005 unter Südtiroler Männern und Frauen durchgeführten Umfrage zur Inanspruchnahme ärztlicher Dienstleistungen ermittelt, wie häufig in den vier Wochen vor der Befragung ein Arztkontakt stattgefunden hatte.403 Die Studie ergab für erwachsene Männer folgendes Bild: mit 12,5 Prozent aller Befragten hatten die 20 bis 29-Jährigen am seltensten einen Arzt in Anspruch genommen, und trotz eines leichten Anstiegs auf 17,1 Prozent blieben die Werte auch bei den Männern zwischen 40 und 49 Jahren gering. Im fünften Lebensjahrzehnt wurde schon auffallend häufiger eine ärztliche Untersuchung nachgefragt (25,4 Prozent). Nach einem leichten Rückgang der Inanspruchnahme bei den 60 bis 65-Jährigen erzielten die Arztkontakte mit 34,6 Prozent ihren höchsten Wert schließlich bei jenen Befragten, die das 65. Lebensjahr überschritten hatten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine von der Statistik Austria 1999 durchgeführte Studie, in der die Häufigkeit der Konsultation eines Allgemeinmediziners, eines Facharztes sowie weiterer Arzttypen durch die österreichische Bevölkerung untersucht wurde.404 68,7 Prozent aller 15 bis 24-Jährigen hatten im Jahr vor der Befragung mindestens einmal einen Allgemeinmediziner aufgesucht, womit diese Altersgruppe den geringsten Wert vorzuweisen hatte. Auch hier stieg die Zahl der Arztkontakte proportional mit dem Alter an und erreichte bei den Über-85-Jährigen mit 88,6 Prozent ihr Maximum.405 Dieselbe Altersverteilung konnte, wenn auch mit weit niedrigeren Prozentzahlen, hinsichtlich des Aufsuchens eines Facharztes ermittelt werden.406 402 Vgl. dazu etwa Abb. 13 und Abb. 14 bei Bründel/Hurrelmann, Konkurrenz, 115 und 116. 403 Plank, Inanspruchnahme, 154 (Tab. 6.1). 404 Statistik Austria, Gesundheitszustand, 49–52 (Tabellen 120–138). 405 Ebd., 121 f. 406 Ebd., 130 f. Im Gegensatz zu den Ergebnissen für die Nachfrage eines Allgemeinmediziners zeigt sich hinsichtlich der Konsultation eines Facharztes eine auffällige Abweichung beim
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
219
Die Untersuchungen belegen zudem, dass parallel zum steigenden Alter auch die Häufigkeit der Krankenhausaufenthalte anstieg. Nach der Südtiroler Studie etwa erfuhr die Zahl stationärer Aufenthalte bei den Über-65-jährigen Männern mit 8,9 Prozent im Vergleich zu den 4,1 Prozent der unmittelbar vorhergehenden Altersgruppe (60–65 Jahre) eine Verdoppelung.407 Dieser Trend lässt sich in annähernd gleicher Ausprägung aus vielen weiteren Gesundheitssurveys entnehmen, hinsichtlich der Krankenhausaufenthalte etwa dem Wiener Männergesundheitsbericht von 1999.408 Kann folglich auch für die Praxis Ottenthals angenommen werden, dass einerseits für jüngere Männer wenig Anlass zum Aufsuchen der Praxis gegeben und andererseits eine Zunahme der Patientenzahlen proportional zum steigenden Alter zu verzeichnen war? Ein erster Anhaltspunkt für einen Analogieschluss zwischen Gegenwart und Geschichte könnten dabei die aufschlussreichen Bemerkungen des Statistikers Kolb um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur geschlechtsspezifischen Ausprägung der Sterblichkeit in den einzelnen Lebensaltern sein: „Mit dem Beginne der Mannbarkeit tritt in der Regel für beide Geschlechter ein Minimum der Todesfälle ein. Dann erfolgt eine Vermehrung derselben, zunächst bei den Frauen; nur in dieser kritischen Periode (in der die ersten Wochenbetten mehrfache Opfer fordern) haben sie stärkere Verluste als die Männer. Bei den letzten erfolgt die Steigerung etwas später; vom 21.–25. Jahr stellen sich bei ihnen ansehnliche Einbussen ein; kaum ein Zweifel, dass die grosse Sterblichkeit im Militär auf die betreffende Ziffer einwirkt. Darauf mit 30 Jahren ein zweites Minimum bei den Männern. Vom 40. Jahre an starke Zunahme der Sterblichkeit bei beiden Geschlechtern.“409 Grafik 3.3.3a zeigt für den Zeitraum zwischen 1860 und 1869, dass nur ein geringer Teil der erwachsenen männlichen Patienten Ottenthals im 14. bis 25. Lebensjahr war und somit in einem relativ „gesunden“ Lebensabschnitt. Männer zwischen 45 und 65 begaben sich eindeutig häufiger auf den Weg in die Praxis nach Sand als ihre jüngeren Geschlechtsgenossen. Den Hauptanteil in der Patientengruppe der männlichen Erwachsenen stellten jedoch die 25 bis 45-Jährigen. Franz v. Ottenthal wurde folglich am häufigsten von Erwachsenen im mittleren Alter um Rat gebeten, und die Zahl der Arztkontakte nahm überraschenderweise mit Überschreiten des „besten Mannesalters“ wieder ab – trotz zunehmender Krankheitsanfälligkeit und höherer Mortalität. Dieselbe lebensphasentypische Verteilung der ärztlichen Inanspruchnahme zwischen den jüngeren, mittleren und höheren Altern findet sich auch bei den Frauen. geschlechtsspezifischen Inanspruchnahmeverhalten, denn Frauen ab der Altersgruppe von 55 bis 65 wiesen deutlich geringere Werte auf als Männer derselben Altersgruppe. Zudem nahm im Gegensatz zu den älteren Männern die Zahl der Frauen, die mindestens einmal einen Facharzt konsultierten, in den nächstfolgenden Altersgruppen wieder ab. 407 Plank, Inanspruchnahme, 167, Graf. 6.9. 408 Vgl. Wiener Männergesundheitsbericht, 188, Abb. 11.1.1.; Habl, Männergesundheitsbericht, 41 f. 409 Kolb, Handbuch, 499.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Grafik 3.3.3a: Patienten Ottenthals in den entsprechenden Altersgruppen 1860–1869: (14–65 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869
Grafik 3.3.3b: Patienten Ottenthals in den entsprechenden Altersgruppen 1890–1899: (14–65 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
221
Dieser Trend ist auch in den 1890er Jahren noch bemerkbar, allerdings scheint sich während dieser beiden Jahrzehnte ein allmählicher Wandel im Inanspruchnahmeverhalten der älteren Erwachsenen anzubahnen (vgl. Graf. 3.3.3b). Zwar begaben sich adoleszente Männer unter allen erwachsenen Patienten immer noch am seltensten in die Arztpraxis Ottenthals. Anders als im Vergleichsjahrzehnt zuvor gab es allerdings in den 1890ern vereinzelt Jahre, in denen die 45 bis 65-Jährigen am häufigsten die Dienste des Landarztes in Anspruch nahmen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt sich der in den 1860er Jahren noch deutlich erkennbare Überhang von Patienten im Alter zwischen 25 und 45 folglich aufzulösen. Die Altersstruktur der männlichen Patientenschaft hat sich in dieser Periode in Richtung älterer Männer verschoben, was wohl am ehesten mit dem bereits erwähnten Wandel des Altersaufbaus der ansässigen Bevölkerung in diesem Bezirk zu erklären ist. Was nun den Befund zu dem Jahrzehnt zwischen 1860 und 1869 betrifft, ist jedenfalls auch in den Praxen jener neun niederbayerischen Ärzte, deren Aufzeichnungen aus den frühen 1860er Jahren der Studie Michael Stolbergs zugrunde lagen, ein derartiger „Einbruch“ bei den älteren Erwachsenen festzustellen (eine Differenzierung zwischen Männern und Frauen wird dort nicht angeführt).410 Stellten sowohl 1861/62 als auch 1862/63 die Altersgruppen der 21 bis 30- und der 31 bis 40-Jährigen mit rund 20 Prozent den Hauptanteil aller Patientinnen und Patienten, so sank dieser Wert bei den 41 bis 50-Jährigen in beiden Stichjahren auf ca. 16 Prozent. Patientinnen und Patienten über 50 Jahre waren schließlich nur noch mit rund acht Prozent in den Praxen vertreten. Ein tendenziell höheres Alter hatte zwar die größte Patientengruppe der vier von Francisca Loetz ausgewerteten badischen Wundarztpraxen des frühen 19. Jahrhunderts aufzuweisen, dennoch zeigt die Altersverteilung aller Praxen ein eher schwaches Patientenaufkommen in den jugendlichen Jahren und einen deutlichen Rückgang bei den älteren Erwachsenen.411 Der Löwenanteil entfiel bei beiden Geschlechtern jeweils auf Personen in ihren am stärksten reproduktiven Jahren. Hingegen scheint in frühen homöopathischen Praxen der Anteil der jüngeren Erwachsenen in der Altersstruktur der Patientenschaft zu überwiegen. Clemens von Bönninghausen (1785–1864) etwa konnte die meisten Patientinnen und Patienten in der Altersgruppe der 21 bis 30-Jährigen lukrieren.412 Und auch wenn Kranke in ihrem dritten Lebensjahrzehnt in dieser homöopathischen Praxis mit rund 15 Prozent ebenfalls noch stark vertreten waren, wurde dieser Wert von den Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren übertroffen.413 Ältere Erwachsene ab 45 wurden sogar seltener bei Bönninghausen vorstellig als Kinder. Somit ähnelt die Altersstruktur dieser Praxis jener von Samuel Hahnemann (1755–1853), die ebenfalls hauptsächlich von 21 bis 30-Jährigen „gestürmt“ wurde: In seinen Leipziger Jahren etwa (1815 und 410 411 412 413
Stolberg, Patientenschaft, 19 f. Vgl. Loetz, Kranken, 248 f. und 368. Baschin, Homöopathen, Schaubild 6, 159. Baschin, Homöopathen, 407 (Tab.9).
222
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
1816) stellte diese Altersgruppe stets über 30 Prozent seiner gesamten Patientenschaft (im Vergleich zu den mageren 16 bis 20 Prozent der nächstfolgenden Altersgruppe), und seine Eilenburger Praxis (1800–1803) wurde ebenfalls von ihnen dominiert.414 Erwachsene im mittleren Alter bis ca. 50 Jahre waren bei Hahnemann anteilsmäßig allerdings stärker vertreten als bei Bönninghausen. Die Befunde zur Altersverteilung ergeben dennoch eine klare Tendenz. Die beiden (klein-)städtischen Homöopathen vermochten deutlich jüngere Patientenschichten anzuziehen als Franz v. Ottenthal im ländlichen Südtirol oder Allgemeinärzte in süddeutschen Kleinstädten um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dies scheint auch keine Besonderheit historischer Arztpraxen zu sein, denn selbst in homöopathischen Praxen der Gegenwart ist der Anteil jüngerer Patientinnen und Patienten in der Altersstruktur höher als in konventionellen Arztpraxen. Eine vergleichende Studie unter Patientinnen und Patienten allgemeinmedizinischer Praxen mit homöopathischer oder mit konventioneller Ausrichtung in Nordrhein-Westfalen aus den frühen 1990er Jahren etwa brachte das Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche überdurchschnittlich häufig in homöopathischen Praxen vertreten waren.415 In den Jahren 1860 bis 1869 blieb es bei jüngeren Männern zwischen 14 und 25 auch öfter bei einem einzigen „Besuch“ bei Ottenthal (75,7 Prozent), während dieser Wert bei Männern in den mittleren Altersjahren (25 bis 45) mit 71,7 Prozent geringer ausfiel. In letzterer Altersgruppe lag dafür der Anteil jener, die mehr als fünf Mal einen Arzt aufgrund spezifischer Beschwerden aufsuchten, mit 3,6 zu 0,65 Prozent entsprechend höher als bei den jüngeren Erwachsenen (vgl. Tab. 3.3.2). Im Vergleich zeigen sämtliche Ergebnisse zu den wenigen bislang ausgewerteten Arztpraxen deutlich, dass der vermehrte Zulauf der Altersgruppe der 25 bis 45-jährigen Erwachsenen in die Praxis Franz v. Ottenthals keinen regionalen Sonderfall darstellt, und dass nicht nur in diesem Südtiroler Gebirgstal das ärztliche Angebot für ältere Erwachsene deutlich unattraktiver gewesen zu sein scheint als für jüngere Altersgruppen. Wie aber ist dieser Trend, der den heutigen Befunden zu Arztkontakten so gegenläufig ist, zu erklären? Es ist nicht anzunehmen, dass im 19. Jahrhundert gesundheitliche Beeinträchtigungen und körperliche Beschwerden mit zunehmendem Alter seltener aufgetreten sind, was allein schon zeitgenössische altersspezifische Sterberaten nahelegen. In Deutschland etwa lag zwischen 1871 und 1880 die Sterberate 15 bis 25-jähriger Männer bei 6,7 pro 1.000 Lebenden, bei den 25 bis 40-Jährigen bei 9,9 und in der Altersgruppe von 40 bis 60 bei 22,2.416 Dieses allgemeine Sterblichkeitsmuster nach Altersklassen dürfte im damaligen österreichischen Tauferer Ahrntal ein gutes Jahrzehnt zuvor nicht grundlegend anders verlaufen sein. Die jüngeren Erwachsenen wiesen im Durchschnitt eine geringe Mortalität auf, bei den älteren Erwachsenen war dann schon ein merklicher Anstieg der Sterberaten zu verzeichnen (vgl. Grafiken A.3.3.4a und A.3.3.4a). Vor dem Hintergrund des Sterblichkeitsgesche414 Jütte, Patientenschaft, 31–33. 415 Vgl. Günther, Patient, 121 f. 416 Berechnet nach Prinzing, Handbuch, 658.
223
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
Tab. 3.3.2: Prozentualer Anteil der Arztkontakte in den jeweiligen Altersgruppen, 1860–1869 Altersgruppe
1mal
2mal
3mal
4mal
5mal
6–10mal
11–20mal
über 20mal
14 bis 25
75,66
16,61
6,09
0,99
0,16
0,49
0
0
25 bis 45
71,75
15,09
7,10
2,42
1,13
2,02
0,48
0
45 bis 65
71,07
16,79
5,49
2,96
1,48
2,11
0,11
0
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869
hens in den jeweiligen Altersklassen erscheint die geringere Nachfrage der jungen Männer nach ärztlicher Hilfe plausibel, der Einbruch bei den älteren hingegen weniger. Dieser Widerspruch verstärkt sich bei genauerer Betrachtung der Morbiditätsverhältnisse, denn gemessen am Indikator der durchschnittlichen Krankheitsdauer hätten die 45 bis 65-jährigen Männer den größten Anteil an den erwachsenen Patienten stellen müssen. Immerhin errechnete Oesterlen um 1860 anhand englischer Daten zum Gesundheitswesen, dass die durchschnittliche Krankheitsdauer von 21 bis 25-Jährigen etwa drei Wochen betrug, jene der 66 bis 70-Jährigen hingegen acht Mal so lang war, nämlich rund 24 Wochen.417 Jugendlichkeit schützte also keineswegs vor den Gefahren einer Erkrankung. Allerdings verliefen die Art, die Dauer und die Schwere des Krankseins in den verschiedenen Lebensaltern äußerst unterschiedlich, die Zahl der „beschwerdefreien Jahre“ war im Jugendalter sicherlich größer als in vielen anderen Lebensabschnitten. Der von Imhof formulierte „Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit“418 bleibt aber hauptsächlich ein Phänomen des 20. Jahrhunderts und der westlichen Industrieländer. Um die Ergebnisse aus der Praxis Ottenthals besser interpretieren zu können, sollte der Blick daher auf das altersspezifische Krankheitsspektrum und auf konkrete Krankheitserfahrungen gerichtet werden. Offenbar stuften ältere Kranke mit ihren überwiegend chronischen Krankheiten das diesbezügliche Therapieangebot des Allgemeinmediziners Ottenthal als unattraktiv ein, da zu wenig wirkungsvoll. Bei den eher akuten Krankheiten der Jüngeren schien hingegen ein ärztliches Eingreifen von Nutzen, auch wenn bei vielen Krankheitsbildern lediglich eine Symptomlinderung zu erwarten war, weniger eine schnelle und endgültige Heilung. Welche einzelnen Krankheiten und Krankheitsgruppen waren aber dafür verantwortlich, dass ältere Erwachsene deutlich seltener ärztliche Hilfe in Anspruch nahmen als Männer zwischen dem 25. und 45. Lebensjahr? Vielleicht bringt der Umweg über seinerzeitige Debatten zur männlichen Übersterblichkeit etwas Licht ins Dunkel der altersspezifischen Krankheitsanfälligkeit bzw. Gesundheitsrisiken. Der österreichische Bevölkerungsstatistiker Josef Hain (1809–1852) etwa identifizierte um 1850 neben der größeren Zahl totgebore417 Oesterlen, Handbuch, 833. 418 Imhof, Reife, 46.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
ner Knaben „die Verwendung des männlichen Geschlechts bei den besonders gefährlichen und anstrengenden Gewerben (Schiffahrt, Bergbau, chemische Fabriken, Reisen usw.) und die minder geregelte Lebensweise“419 als hauptsächliche Faktoren für die festgestellten Mortalitätsdifferentiale zwischen Männern und Frauen. Machten demnach Arbeit und Lebenswandel Männer krank, und zwar auf unterschiedliche Weise, je nachdem in welchem Lebensabschnitt sie sich gerade befanden? Ich möchte Hains Argumentation aufgreifen und im Folgenden fünf mögliche Erklärungen der Ergebnisse in den Grafiken 3.3.3a und b anführen. Die während des „Bauernjahres“ zu verrichtenden Arbeiten führten durch ihre langjährige Ausübung sicherlich zu einer Reihe chronischer Erkrankungen und Schädigungen, sodass bei vielen Altersleiden der unmittelbare Nutzen eines medizinischen Eingriffes nicht einsichtig gewesen sein dürfte. Vielleicht verschafften Hausmittel und medizinische Selbsthilfe schneller und günstiger Linderung, wo doch eine gänzliche Genesung sowieso nicht mehr zu erhoffen war. Aus dieser Perspektive schätzten Männer im höheren Alter ärztliche Heilungserfolge bei einem Großteil der Beschwerden demnach durchaus als gering ein. Mit einer größeren Bereitschaft der höheren Altersgruppen, Krankheit als schicksalhaft anzunehmen, begründet Stolberg jedenfalls das festgestellte „Verschwinden“ von Patienten ab dem 50. Lebensjahr aus den Praxen seiner untersuchten niederbayerischen Ärzte.420 Immerhin belegte auch die Studie der Statistik Austria bezüglich des Grundes für das Aufsuchen eines Allgemeinmediziners, dass mit zunehmendem Alter die Gründe aufgrund akuter Beschwerden abnehmen und die Gründe einer reinen Routinekontrolle zunehmen.421 Dies könnte dahingehend gedeutet werden, dass die chronischen und schwer mit einem einmaligen Arztbesuch in den Griff zu bekommenden Leiden die durch akute Erkrankungen verursachten Beschwerden zunehmend ersetzen. Denkbar wäre auch, dass die heranwachsenden Söhne vermehrt die schweren Tätigkeiten in der Land- und Forstwirtschaft übernommen hatten und so zur Entlastung ihrer Väter beitrugen. Aufgrund dieser „Lastenteilung“ nahmen die Gesundheitsbelastungen der Arbeitsprozesse einer bäuerlichen Wirtschaftsweise für ältere Männer ab, sodass für sie diesbezüglich kein Grund mehr für das Aufsuchen eines Arztes bestand. So führte Ottenthal etwa die Beschwerden des 13-jährigen Alois Innerkofler* aus Ahornach darauf zurück, dass er zwei Tage zuvor „in pluvia continua laborem peregit silvestrem“422. Der Junge dürfte bei den besagten Waldarbeiten seinem Vater geholfen haben, wie es beispielsweise auch vom sechsjährigen Jakob Prenn* aus Mühlwald überlie-
419 Hain, Handbuch, 441. 420 Vgl. Stolberg, Patientenschaft, 19 f. 421 Sie lag bei der Altersgruppe der 55–64-Jährigen bei unter 50 Prozent. Erst im hohen Alter über 85 kehrt sich dieser Trend wieder um. Statistik Austria, Gesundheitszustand, 49–52 (Tabellen 120–138), und 139. 422 („…hat bei fortwährendem Regen Waldarbeiten durchgeführt…“). HM 1594/1890, Eintrag vom 3.7.1890.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
225
fert ist. Laut seiner Krankengeschichte wurde der Knabe seit dem Zeitpunkt von Kopfschmerzen geplagt, als er seinem Vater in den Wald gefolgt war.423 Mit Blick auf Theorien aus der entwicklungspsychologischen Biographieforschung erscheint ein dritter Gedanke überlegenswert. Zur zentralen Aufgabe des Lebensabschnittes des mittleren Erwachsenenalters gehörten die Familiengründung sowie das Erreichen der ökonomischen Selbständigkeit. Krankheit und körperliche Beeinträchtigungen standen dem Erreichen dieser Ziele entgegen, weshalb die Männer dieser Altersgruppe alles daran setzten, ihre körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten bzw. wieder herzustellen. In agrarisch strukturierten Gesellschaften war vor allem unter den ländlichen Dienstboten und den Tagelöhnern die persönliche Arbeitskraft oftmals das einzige Kapital. Sie zogen daher den größten Nutzen daraus, Geld in ihre Genesung und in den Erhalt der Arbeitsfähigkeit zu investieren. Für verheiratete Männer bot der Druck, für eine Familie verantwortlich zu sein und eine Hausgemeinschaft unterhalten zu müssen, den Anreiz für eine Nutzung der Ottenthalschen Praxis. Die spezifischen therapeutischen Angebote Ottenthals waren für diese Männer attraktiv, zumal die auftretenden Beschwerden aufgrund des niedrigeren Alters sich vermutlich auf Krankheitsgruppen beschränkten, die zumindest eine vorübergehende Beseitigung erhoffen ließen. Viele Krankheiten dürften sich zudem in ihrem Anfangsstadium befunden und die Arbeitskraft somit noch nicht gravierend eingeschränkt haben, sodass die Männer eine fühlbare Linderung der Schmerzen durchaus als guten Behandlungserfolg betrachteten. Hains Argument, das auf die ungeregelte Lebensweise von Männern abzielte, könnte wiederum darauf verweisen, dass ältere Männer durch die bereits erfolgte Heirat und Familiengründung zu einem geregelteren Lebenswandel angehalten wurden als ihre noch ledigen Geschlechtsgenossen. Immerhin lagen im ländlichen Schweden des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Sterberaten der verheirateten Männer bis zum Alter von ca. 50 deutlich unter den Werten der Frauen, wohingegen bei den ledigen Männern in allen Altersgruppen eine ausgeprägte Übersterblichkeit zu verzeichnen war.424 Zusätzlich stand der Gruppe der 45 bis 65-jährigen Verheirateten über deren Frauen ein größeres Netzwerk an medizinischer Selbsthilfe und Pflege zur Verfügung, wodurch kostensparende alternative Therapiemöglichkeiten häufiger zur Verfügung standen als für die jüngere ledige Generation.425 423 [„6 ann. ex 5 diebus laborat patrem sequens in silvam cephalea adficiebatur appetitu dejecto lingua obducta leviter alba ingesta primo vomuit levia deliria“]. HM 746/1892, Eintrag vom 5.4.1892. 424 Fridlizius, Mortality, 252. 425 Freilich könnte man einwerfen, dass auch die unverheirateten Söhne im Krankheitsfall von der Mutter „erstversorgt“ wurden, sofern sie noch am elterlichen Hof wohnten. So profitierten diese Männer ebenfalls vom Netz verwandtschaftlicher Selbsthilfe. Schließlich berichtete ein niederösterreichischer Bauernsohn ( Jg. 1928) in seinen Erinnerungen, dass seine Mutter ihm und seinem Bruder vor dem Ministrieren in der kalten Novemberzeit immer ein Glas verhasster Schmalzmilch zum Trinken gab, um Verkühlungen vorzubeugen. Vgl. Bauer, Bauernleben, 157. Dienstboten auf fremden Höfen hingegen konnten eventuell das Wissen der Hofbäuerin nutzen, zumal die bäuerlichen Dienstgeber laut Dienstbotenordnung verpflichtet waren, ihre Knechte und Mägde in den ersten Wochen
226
3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Und schlussendlich könnte die geringere Nutzung der Praxis Ottenthals durch die jüngeren Männer damit erklärt werden, dass dieser Gruppe schlichtweg das Geld fehlte, um einen Arzt zu bezahlen. Gerade die 14 bis 25-Jährigen stellten einen überproportional hohen Anteil an Dienstboten, und für viele junge Tauferer und Ahrntaler Männer gehörte der transitorische Dienst auf fremden Höfen zur konkreten Lebenserfahrung.426 Wie die diesbezügliche Forschung von Michael Mitterauer und seinen Kollegen herausgearbeitet hat, stellte die Gruppe der ländlichen Dienstboten weniger eine feste „Klasse“ dar als eher eine „sozio-kulturelle distinkte Altersphase“427, die für die meisten Gesindeleute mit der eigenen Heirat und Haushaltsgründung beendet war. Statistische Zählungen sind für diese Zeit und für die Ebene der Landbezirke zwar nicht vorhanden, aber noch 1902 betrug der Anteil des Gesindes bei sämtlichen in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten für den Bezirk Lienz, der von den ökonomischen Strukturen her sehr gut mit dem Bezirk Taufers vergleichbar ist, 22,61 Prozent.428 Diese kurzen Ausführungen machen deutlich, dass die Frage nach den spezifischen Bedürfnissen, die durch eine Inanspruchnahme der ärztlichen Hilfe Ottenthals für die Männer in den jeweiligen Altersgruppen befriedigt werden sollte, zentral ist. Daher sollen im Folgenden die Konsultationsgründe für die Gruppe der 14 bis 25- und jener der 25 bis 45-Jährigen in den Fokus der Untersuchung gerückt werden. Um mögliche Veränderungen während des in dieser Studie gewählten Zeitraums sichtbar zu machen, wurde diesbezüglich eine quantitative Auswertung sämtlicher Krankenjournale aus den beiden Jahrzehnten von 1860 bis 1869 sowie von 1890 bis 1899 vorgenommen. Da zur Beantwortung der für diese Altersgruppe relevant erscheinenden Gesundheitsthemen zusätzliches Archivmaterial durchgesehen werden und der Arbeitsaufwand überschaubar bleiben musste, beschränken sich die qualitativen Analysen in diesem Kapitel hingegen auf die Krankengeschichten der 1860er Jahre. 3.3.3 „laxari cupit“ und „timet phtysin“ – Zu den Konsultationsgründen der erwachsenen Patienten in den einzelnen Lebensaltern In seiner Studie zur epidemiologischen Transition in Deutschland arbeitete Reinhard Spree zwei grundlegende Tendenzen in der langfristigen Veränderung des Todesursachenspektrums für die Phase zwischen 1816 und 1874 herder Erkrankung zu pflegen und eventuelle Arzt- und Medikamentenrechnungen zu übernehmen. Allerdings häuften sich spätestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Forderungen von Bauern, den Zeitraum der Versorgungspflicht gegenüber ihren Dienstboten zu verkürzen, was nicht gerade dafür spricht, dass diese Leistungen mit uneingeschränkter Zustimmung erbracht worden sind. Vgl. Siegl/Steiner, Entwicklung, 46. 426 Johannes Grießmair hat in seiner Dissertation aus den 1970er Jahren die Dienstboten aus dem Raum Pustertal ausführlich untersucht. Dort sind einige Hinweise zum Tauferer Ahrntal enthalten. Siehe Grießmair, Knecht. 427 Sieder, Sozialgeschichte, 50. Siehe auch Ehmer, Heiratsverhalten, 127–130. 428 Ortmayr, Knechte, 358 f. (Tab. 2).
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
227
aus: einerseits war in dieser Periode die Anzahl der Sterbefälle an akuten inneren Krankheiten (gastro-intestinale Infekte, „ausschlagende“ Krankheiten wie Scharlach) kontinuierlich angestiegen, zum anderen hatte sich die Sterblichkeit an chronischen inneren Krankheiten (Tuberkulose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) nach und nach vermindert.429 Vom Rückgang der beiden letztgenannten Todesursachengruppen profitierten dabei hauptsächlich die Erwachsenen, deren Sterberaten langfristig sanken. Dieser am Beispiel Preußens entwickelte Trend im alterstypischen Sterblichkeitsgeschehen lässt sich im Rahmen einer Momentaufnahme und speziell für die Genusgruppe der Männer auch für das Tauferer Ahrntal nachverfolgen. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Sterblichkeitsverhältnisse bei den jüngeren und mittleren Erwachsenen männlichen Geschlechts noch stark von Krankheiten der Atmungsorgane, in erster Linie Lungentuberkulose und Lungenentzündung, geprägt (vgl. Tab. A.3.3.5a und A.3.3.5b). Auch der (Bauch-)Typhus führte zu dieser Zeit im Erwachsenenalter noch zu zahlreichen Todesfällen. Hingegen kam anderen Infektionskrankheiten, die wie die akuten Exantheme das Todesursachenspektrum der Kinder dominiert hatten, in den Altersklassen über 20 Jahren nur noch eine marginale Bedeutung im Sterblichkeitsgeschehen zu. Bedingt durch den in diesem Lebensabschnitt vermehrt erfolgten Einstieg ins Erwerbsleben und die vermehrte Einbindung in die Arbeitsprozesse einer agrarischen Ökonomie häuften sich vom 14. Lebensjahr an auch die tödlichen Unfälle. Leider nimmt Spree im zitierten Abschnitt seiner Analyse weder geschlechterspezifische noch binnengeschlechtliche Ausprägungen dieser Entwicklung gesondert in den Blick. Dabei nahm die Tuberkulosesterblichkeit vor allem bei den jüngeren Erwachsenen an der Schwelle zur Adoleszenz rasant zu, wie Tabellen zur altersspezifischen Sterblichkeit etwa für Österreich um 1900 deutlich zeigen.430 Die Tuberkulose entwickelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts dann auch in vielen europäischen Ländern zur Haupttodesursache der jüngeren Erwachsenen.431 Ebenso erregte die differentielle Sterblichkeit an dieser Krankheit in der Stadt und am Land bei den Zeitgenossen hohe Aufmerksamkeit.432 Beispielsweise zitierte August Hirsch (1817–1894) in seinem ab 1881 erschienenen dreibändigen Handbuch eine Schweizer Untersuchung, laut der die Tuberkulosesterblichkeit in den industriell geprägten Regionen jene der rein agrarisch geprägten Gebiete durchschnittlich um das Doppelte überstieg.433 Der Grad der Urbanisierung und der Industrialisierung einer Region korreliert daher sehr stark mit der Ausbreitung der Tuberkulose, wobei die spezifischen Arbeitsschritte im industriell-gewerblichen und im 429 Spree, Rückzug, 19–23. 430 Vgl. die entsprechenden Zahlen bei Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 122 (Tab. 8). 431 Vgl. Weigl, gender gap, 30–33. In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts war es daher auch der starke Rückgang an Tuberkulose, der den Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen einen Sterblichkeitsrückgang bescherte. Vgl. Freudenberg, Ursachen, 226 f. 432 Siehe das entsprechende Kapitel bei Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 124–131. 433 Hirsch, Handbuch, Bd. 3, 151.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
landwirtschaftlichen Sektor Männer und Frauen ungleich belastet zu haben schienen. In den letzten beiden Jahrzehnten konnten nicht zuletzt zahlreiche historisch-demografische Studien herausarbeiten, dass im 19. Jahrhundert die Anzahl der Sterbefälle an Tuberkulose bei Männern in den Städten höher war, auf dem Land hingegen eine weibliche Übersterblichkeit an dieser Infektionskrankheit vorherrschte.434 Inwiefern aber haben diese großen „Killer“ des Erwachsenenalters auch die gesundheitlichen Belange bestimmt und das Krankheitsverhalten dieser Altersgruppen beeinflusst? Immerhin merkte schon Oesterlen in seinem Handbuch bezüglich der Mortalität von jungen Erwachsenen an Brustkrankheiten wie der Lungentuberkulose an, dass „die Sterblichkeit an solchen Krankheiten [könne] insofern relativ groß sein, während der Krankheitsbetrag dadurch ein relativ geringer ist.“435 Im Folgenden soll nun anhand des Krankheitsspektrums der männlichen Patienten des Allgemeinmediziners Franz v. Ottenthals überprüft werden, ob die Morbidität in diesem hauptsächlich von Forst- und Landwirtschaft geprägten Gebiet ein ähnliches Muster aufweist wie die Mortalität oder ob bedeutende Abweichungen festzustellen sind. Welche gesundheitlichen Beschwerden und Klagen trugen also Männer im jüngeren, mittleren und älteren Erwachsenenalter in den 1860er Jahren dem Arzt Franz v. Ottenthal vor, mit welchen konkreten Bedürfnissen und Wünschen kamen sie in seine Praxis nach Sand? Die nachfolgende quantitative Zusammenstellung des Krankheitsspektrums nimmt die Gruppe der männlichen Patienten zwischen 1860 und 1869 sowie zwischen 1890 und 1899 in den Blick, wobei die gesamte Phase des Erwachsenenalters in drei Altersstufen unterteilt wird: die jüngeren Männer zwischen dem 14. und 25., die mittleren Männer zwischen dem 25. und 45., sowie die älteren Männer zwischen dem 45. und 65. Lebensjahr (vgl. Tab. 3.3.3a und 3.3.3b). Innerhalb der Gruppe der Jugendlichen und der jungen Männer von 14 bis 25 fand der Arztkontakt am häufigsten aufgrund von Beschwerden des Magen-Darm-Trakts statt. Ein knappes Fünftel (24,6 Prozent) aller Konsultationen umfasste den Komplex des Verdauungsapparates im weitesten Sinne. An zweiter Stelle folgten Erkrankungen der Atmungsorgane mit 16,3 Prozent aller Konsultationen. Mit jeweils rund acht Prozent recht häufig geäußert wurden von den jüngeren Patienten Schmerzen des Bewegungs- und Stützapparates (Rheumatismus, Arthritis, akute und chronische Muskelschmerzen) und Beschwerden des Nervensystems. Bei letzteren sind allerdings Beeinträchtigungen des Seh- und Hörvermögens hauptverantwortlich für diesen hohen Anteil, denn gemäß der Einteilung von Oesterlen wurden Erkrankungen der Sinnesorgane in diese Rubrik gegeben. Akute „exanthematische“ Krankheiten führten mit rund sieben Prozent noch einen beträchtlichen Teil der jüngeren
434 Speziell für Städte vgl. die Studien von Vögele, Sozialgeschichte, 124, oder Weigl, Wandel [2000a], 246; allgemein siehe Weigl, gender gap, 33–35. 435 Oesterlen, Handbuch, 834.
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3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
Tab. 3.3.3a: Veränderung der Konsultationsgründe bei männlichen Erwachsenen, Praxisjournale 1860–1869 Konsultationsgrund
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total (Zahlen absolut)
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der jüngeren Erwachsenen
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der mittleren Erwachsenen
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der älteren Erwachsenen
1860–1869
1860–1869
1860–1869
2,67 6,92 8,49 1,21 16,26 24,64 1,58 2,18 8,74 5,22
2,02 2,78 8,46 0,35 12,56 24,00 0,76 2,43 12,66 5,01
3,48 1,00 8,91 0,94 14,53 19,36 1,00 1,74 13,46 5,69
4,89 14,44
6,33 11,70
6,36 8,91
2,67
10,94
14,60
100 (824)
100 (1975)
100 (1493)
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869; eigene Berechnungen
Erwachsenen in die Praxis Ottenthals, wobei in diesem Jahrzehnt neben Typhus nahezu ausschließlich die Pocken für diesen erhöhten Wert verantwortlich sind. Kinderkrankheiten im klassischen Sinne (Masern, Scharlach) spielten in dieser Altersgruppe keine nennenswerte Rolle mehr, zumindest war eine Erkrankung für die Betroffenen kein Grund, deswegen die ärztliche Hilfe Ottenthals in Anspruch zu nehmen. Überraschenderweise bekam Ottenthal diverse „Hautübel“ öfter zu Gesicht als unfallbedingte Verletzungen (5,2 zu 4,9 Prozent), die in dieser Südtiroler Praxis im Gegensatz zum Behandlungsspektrum in heutigen Arztpraxen noch keine dominierende Position bei der Gruppe der 14 bis 25-jährigen Männer einnahmen. Andere Krankheitsgruppen, die etwa die Geschlechts-, Harn- und Zirkulationsorgane betrafen, spielten als Grund für die Inanspruchnahme der Sandner Praxis in diesem Lebensabschnitt nur eine marginale Rolle. Auch die gezielte Nachfrage nach einer spezifischen Medikation (in der Regel ein Laxiermittel) scheint für jüngere Patienten ein recht seltener Beweggrund gewesen zu sein, einen Arzt zu kontaktieren. Es wurde auch nur einmal dezidiert die Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses verlangt, und zwar von einem 22-jährigen Luttacher „wegen Ma-
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Tab. 3.3.3b: Veränderung der Konsultationsgründe bei männlichen Erwachsenen, Praxisjournale 1890–1890 Konsultationsgrund
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total (Zahlen absolut)
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der jüngeren Erwachsenen
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der mittleren Erwachsenen
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der älteren Erwachsenen
1890–1899
1890–1899
1890–1899
4,41 1,35 10,91 1,59 17,03 22,05 2,21 1,47 7,72 13,85
2,05 0,07 9,50 1,32 16,52 26,68 0,58 1,39 10,09 10,53
1,69 0,06 11,47 2,59 19,38 23,33 2,53 1,17 10,76 7,52
4,17 9,07
6,87 8,19
4,67 6,99
4,17
6,21
7,84
100 (816)
100 (1368)
100 (1543)
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899; eigene Berechnungen
genkatarrh seit dem Frühjahr“436. Therapeutische Hilfe aufgrund „chronischer Erkrankungen“ wurde von den jüngeren Erwachsenen ebenfalls nur zu einem äußerst geringen Teil nachgefragt, zudem ist der Anteil von 2,7 Prozent bis auf drei Tuberkulosefälle ausnahmslos durch den Wunsch nach ärztlicher Hilfe bei einer vergleichsweise harmlosen Kropfbildung bedingt. Allerdings ist quellenkritisch anzumerken, dass Ottenthal Erkrankungen an Schwindsucht nicht immer klar diagnostiziert und mit den medizinischen Fachtermini benennt. Beispielsweise notierte Ottenthal bei einem 15-jährigen Knaben aus Mühlwald, er hätte an trockenem Husten („tussis sicca“ ) und flüchtigen Schmerzen an der Seite („dolores fugaces lateris“ ) gelitten, und er fügt in Klammer hinzu, dass dessen Schwester an „phthisis“ gestorben war.437 Die beschriebenen Symptome konnten demnach durchaus auf eine beginnende Lungentuberkulose 436 HM 1039/1867, Eintrag vom 20.10.1867. 437 [„15 ann. ex 2 septimanis tussi sicca adfectus est (soror phthysi mortua) dolores fugaces lateris accusat“]. HM 883/1863, Eintrag vom 23.8.1863.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
231
hinweisen, auch wenn sich der Arzt mit der Niederschrift einer klaren Diagnose zurückhielt. Viele „Lungenschwindsuchten“ dürften sich daher in der Rubrik der Atmungsorgane verbergen.438 Es ist also festzuhalten, dass entgegen dem Sterblichkeitsmuster, das in diesem Jahrzehnt die Mortalität der Bevölkerung im Tauferer Ahrntal dominierte, Pockenerkrankungen relativ selten von Ottenthal behandelt wurden und Tuberkulosefälle mit gewissen Einschränkungen in Hinsicht auf ihre Dominanz bei der Sterblichkeit ebenfalls unterproportional vertreten waren (vgl. Tab. A.3.3.5a und A.3.3.5b). Im Vergleich mit den jüngeren Erwachsenen wiesen die männlichen Patienten zwischen 25 und 45 einige auffallende Abweichungen auf (vgl. Tab. 3.3.3a). Zwar war auch ihnen die Behandlung von Beschwerden rund um den Verdauungstrakt mit einem knappen Fünftel aller Konsultationseinheiten am wichtigsten, doch an zweiter Stelle kamen schon Klagen rund um das Muskel-Skelett-System (12,7 Prozent), was auf starke Arbeitsabnutzung im zunehmenden Alter hinweist.439 Erst dann folgte mit einem geringfügig geringeren Anteil der Komplex der Atemwegerkrankungen (12,6 Prozent). Im Gegensatz zu den jüngeren forderten die älteren Männer auch deutlich mehr Laxiermittel ein. Rund zehn Prozent aller Arztkontakte kamen nur zustande, um sich ein Abführmittel zu besorgen oder um eine „Abführung“ durchführen zu lassen. So forderte etwa ein 40-jähriger Mühlwalder im Frühjahr 1860 jenes „laxans […] energ. suetum“, welches ihm schon ein Jahr zuvor gegen seine – nicht näher ausgeführten – Leiden geholfen hatte.440 Ottenthal verschrieb wie gewünscht die offensichtlich bewährte Rezeptur („Tart emet. gr V T Col. drachm. II Aq unc. VII Alle 2 Std 2 Eßl“) und berechnete dem Mann 16 Kreuzer.441 Deutlich höhere Anteile als bei der vorangehenden Altersgruppe nahmen ebenso unfallbedingte Verletzungen ein (6,3 Prozent), wohingegen bei den Erkrankungen des Nervensystems und der Hautdecke bei beiden Altersklassen annähernd gleiche Anteile festzustellen sind. Deutlich weniger Konsultationen fanden hingegen aufgrund „akuter Krankheiten“ statt (2,8 Prozent: nahezu alle 55 Konsultationen gingen auf das Konto typhoider Erkrankungsfälle) sowie aufgrund von Leiden aus dem Kreis der Harnorgane (0,8 Prozent). Auch bei den Erwachsenen im mittleren Alter spielten chronische Krankheiten wie Tuberkulose oder Wassersucht mit knapp über 2 Prozent eine verschwindend geringe Rolle im Behandlungsspektrum des Südtiroler Arztes. Der Großteil
438 Auf diese Problematik wies Teleky schon um die Jahrhundertwende hin. Vgl. Teleky, Sterblichkeit, 155 f. 439 „Dem Vater schmerzte der Rücken und mir die Arme“, berichtet etwa die Pustertaler Bäuerin Maria Willeit-Kammerer in ihren 2005 publizierten Lebenserinnerungen. Alljährlich musste sie ihrem Vater dabei helfen, das in den steilen Bergäckern angebaute Getreide nach der Ernte zu Garben zu binden und in den Rückenkorb zu geben. Diesen trug der Vater bis zu siebzig Mal vom steilen Acker in die Scheune. Vgl. Willeit-Kammerer, Honigberg, 116, und Abb. 2. 440 HM 805/1860, Eintrag vom 25.05.1860. 441 HM 719/1859, Eintrag vom 25.09.1859.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Abb. 3.3.2: „Erdgratteln“ als Teil der Bergbauernwirtschaft im steilen Gelände Viele Bergbauern mussten wegen der steilen Hänge die Ackererde, die vom Regenwasser während des Jahres abgeschwemmt wurde, immer wieder zur Oberseite des Ackers zurück „gratteln“, eine schwere und kräfteraubende Arbeit. Quelle: Tirol und Vorarlberg, 519.
der unter dieser Rubrik versammelten Beschwerden umfasste hier ebenso wie bei den jüngeren Geschlechtsgenossen den Kropf. Die quantitative Auswertung der Konsultationsgründe ergibt deutlich, dass Franz v. Ottenthal für die jüngeren und mittleren Erwachsenen in erster Linie ein Arzt des „Durchfalls“ und des „Hustens“ war. Mit einem Anteil von jeweils rund 40 Prozent an sämtlichen Konsultationen wurden von beiden Lebensaltern Beschwerden und Klagen rund um die Atemwege und des Magen-Darmtrakts am häufigsten vorgebracht. Mit der Fokussierung auf diese beiden Beschwerdekomplexe unterscheidet sich die Nachfrage nach den ärztlichen Fähigkeiten eines Allgemeinmediziners nicht grundlegend von der Nachfrage nach einem Mediziner homöopathischer Ausrichtung, wie Marion Baschin in einer kürzlich vorgelegten Studie zu den Erstanamnesen Clemens von Bönninghausens nachweisen konnte.442 Denn auch die Patienten dieser homöopathischen Praxis klagten abgesehen von der durch den Arzt eingeforderten Beschreibung von Fieberzuständen am häufigsten über Husten und Beeinträchtigungen der Darmtätigkeit. Bei Ottenthal zeigten sich desweiteren innerhalb der Geschlechtsgruppe der Männer die größten Unterschiede in einer deutlich höheren Nachfrage jüngerer Erwachsener nach einem Arzt bei epidemischen Krankheitsverläufen, bedingt in erster Linie durch die Pocken, wohingegen ältere Erwachsene deutlich öfter eine Linderung ihrer durch chronische Belastungen verursachten Muskel- und Skelettschmerzen verlangten. Beschwerden die Harnorgane betreffend spielten im Behandlungsspektrum des Südtiroler Arztes zwar insgesamt nur eine marginale Rolle, führte jüngere Erwachsenen jedoch deutlich öfter in die Praxis als ältere. Dies ist auf den Umstand zurück442 Baschin, Homöopathen, 227 und Schaubild 19, 230.
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zuführen, dass sich in dieser jüngeren Patientengruppe überaus viele Fälle von Bettnässen („enuresis nocturna“) finden, einem Symptomkomplex, der sich spätestens mit dem Eintritt ins dritte Lebensjahrzehnt „ausgewachsen“ hat. Der ungleich höhere Wert bei der direkten Nachfrage spezifischer Abführmittel in der Altersgruppe der 25 bis 45-Jährigen weist zudem auf ein lebensalterstypisches Arzt-Patienten-Verhältnis hin, indem ältere Erwachsene durch die habituelle und ökonomische Sicherheit ihrer „Erwachsenenrolle“ konkrete Anliegen und Bedürfnisse gegenüber dem Arzt vehementer und offensiver durchsetzten als die jugendlichen Erwachsenen zwischen 14 und 25.443 Angesichts der im 19. Jahrhundert immensen Sterblichkeit an Tuberkulose erstaunt jedenfalls die geringe Nachfrage der Bevölkerung nach einer therapeutischen Behandlung dieses Krankheitsbildes durch Franz v. Ottenthal. Immerhin entfielen in den 1870er Jahren durchschnittlich rund 12 Prozent sämtlicher Todesfälle in den Ländern der Habsburgermonarchie auf tuberkulöse Erkrankungen, wobei Tirol (mit Vorarlberg) mit ca. 14 Prozent im oberen Länderdurchschnitt zu finden war.444 Dieser hohe Anteil an den Sterbefällen ist durchaus mit jenem in anderen Ländern zu vergleichen, so waren etwa im Deutschen Reich im Stichjahr 1877 rund 14 Prozent aller Todesfälle allein auf die Todesursache Lungentuberkulose zurückzuführen.445 Im Todesursachenspektrum deutscher Großstädte nahm diese Erkrankung mit 69,5 Verstorbenen pro 10.000 Lebende sogar den zweiten Rang hinter den das Verdauungssystem betreffenden Sterbefällen ein.446 Auch im ländlichen Schweden gingen zwischen 1821 und 1830 21,4 Prozent aller Todesfälle bei den 20 bis 40-jährigen Männern auf das Konto der Tuberkulose, im Zeitraum 1911–14 waren es sogar 38,1 Prozent.447 Werden unter den in Tabellen A.3.3.5a und A.3.3.5b in der Rubrik „Sonstige“ versammelten Todesursachen „Auszehrung“ und „Abzehrung“ überwiegend Sterbefälle an Tuberkulose verstanden,448 so erreichte auch in der ländlichen Region des Tauferer Ahrntals der prozentuelle Anteil der Tuberkulosemortalität innerhalb der Gruppe der erwachsenen Männer in der Altersgruppe von 25 bis 55 den höchsten Wert. Elisabeth Dietrich-Daum hat in ihrer Studie ausgeführt, dass die Tuberkulose als Todesursache im Verlauf des 19. Jahrhunderts bei den Säuglingen und Kindern zunehmend an Bedeutung verlor, wohingegen bei den Erwachsenen in den jüngeren und älteren Altersgruppen hohe Zuwachsraten zu verzeichnen waren.449 So wird in einer genauen altersspezifischen Aufgliederung ersichtlich, dass etwa in Preußen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die 443 Natürlich könnte dieser Wert auch dahingehend interpretiert werden, dass ältere Erwachsene schlichtweg mehr Verdauungsprobleme hatten als jüngere. 444 Vgl. die Tabelle bei Bratassevic, Sterbefälle, 347 f. 445 Spree, Ungleichheit, 36. 446 Vögele, Sozialgeschichte, 112 (Tab. 2.11). 447 Vgl. Fridlizius, Mortality, 250 (Table 7). Bei den Frauen betrugen die Anteile 23,1 Prozent (1821–30) und 48,6 Prozent (1911–14). 448 Vgl. zur Thematik der „Aufschreibpraxis“ in den Sterbebüchern Dietrich-Daum, Reporting Death, 151–154. 449 Vgl. Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 120–124.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
meisten Menschen in den Altersgruppen der 15 bis 30-, der 30 bis 40- und der 40 bis 60-Jährigen an diesem Krankheitskomplex zugrunde gingen, und zwar bei den Männern und Frauen gleichermaßen.450 Um die Jahrhundertwende wurden anhand der verfügbaren Tabellen zur Sterblichkeit an diesem Krankheitsbild vor allem die weibliche Übersterblichkeit in den jüngeren Altersstufen und die Übersterblichkeit der Männer im mittleren und höheren Alter thematisiert.451 Eine Differenzierung nach Alters- und Geschlechtergruppen sei daher nach Dietrich-Daum für eine weiterführende Interpretation der Ursachen unabdingbar. Eine ausgeprägte altersspezifische Sterblichkeit war in Preußen noch in den Jahren 1925/26 überaus stark ausgeprägt, denn die höchsten Sterberaten hatten hier die 20 bis 30-Jährigen und die 60 bis 70-Jährigen, wohingegen bei den 5 bis 15-Jährigen die geringsten Werte festzustellen waren.452 Als Todesursache war die Tuberkulose daher neben den Unfällen und Selbstmorden hauptverantwortlich für den plötzlichen Anstieg der Sterblichkeit von 20 bis 25-Jährigen im Vergleich zur vorhergehenden Altersgruppe (15 bis 20).453 Dementsprechend wurde in Autobiographien des 20. Jahrhunderts die Tuberkulose hauptsächlich im Zusammenhang mit der Erkrankung eines Jugendlichen oder Erwachsenen thematisiert und weniger bei Kindern und Alten, und zwar eineinhalb Mal so häufig bei weiblichen Erwachsenen wie bei männlichen.454 Richard Pucher, der 1920 als lediges Kind einer Schneiderin im Grenzgebiet Osttirol-Kärnten geboren wurde, erweist sich in seinen Kindheitserinnerungen daher als sehr genauer Beobachter, wenn er über die Sterblichkeitsunterschiede zwischen einigen Familien in seinem Dorf anmerkt: „Während in diesen Jahren junge Leute, wie die zwei Töchter der Frutschnigin, die Agnes und die Brigitte, an Tuberkulose starben, erfreuten sich die Thalers bester Gesundheit.“455 Wenn also Johann Lechner* aus St. 450 Vögele, Sozialgeschichte, Anhang 3.2., 481. 451 Wie Tabellen zur altersspezifischen Sterblichkeit etwa für Österreich um 1900 zeigen, stieg die Sterblichkeit an dieser Lungenkrankheit bei den Männern an der Schwelle zum Erwachsenwerden sprunghaft von 9 (12.–15. Lebensjahr) auf 22 pro 10.000 (16.–20. Lebensjahr) an und erreichte in der dritten Lebensdekade mit 39 pro 10.000 einen ersten Gipfel. In den darauffolgenden Altersstufen zwischen dem 31. und 50. Jahr wuchs die Sterblichkeit hingegen nur noch minimal und erlangte erst im höheren Alter wieder eine relative Höhe. Bei den Frauen in denselben Altersklassen verlief die Entwicklung ähnlich, allerdings waren die Sterberaten bedeutend höher als bei den Männern, erreichten früher ihren Mortalitätsgipfel und gingen zwischen dem 31. und 50. Lebensjahr leicht zurück. Um die Jahrhundertwende hatten sich folglich eine weibliche TBC-Übersterblichkeit in den jüngeren Erwachsenenaltern und eine männliche Übersterblichkeit im höheren Erwachsenenalter herausgebildet. Für diese und die folgenden Zahlen vgl. Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 122 (Tab. 8). 452 Prinzing, Handbuch, 370. 453 Vgl. für Preußen und die Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts Prinzing, Handbuch, 367 und 456 f. 454 Von den 44 die Tuberkulose zum Inhalt habenden Stellen in den untersuchten Autobiographien betrafen 30 einen jugendlichen oder erwachsenen Erkrankten. Vgl. Hoffmann, Alltag, 238 (Tab. 64). 455 Ortmayr, Knechte, 89.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
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Georgen im Frühjahr 1864 mit 21 Jahren die Praxis Ottenthals aufsuchte, weil er eine Tuberkuloseerkrankung befürchtete („timet phtysin“)456, so tat er dies vielleicht sogar im Bewusstsein, dass er hinsichtlich dieser Erkrankung schon allein von seinem Alter her zur absoluten Risikogruppe gehörte. Reinhard Spree zufolge änderten während der zweiten Phase des Epidemiologischen Übergangs viele epidemische Infektionskrankheiten ihren Charakter insofern, als dass sie immer mehr zu typischen Kinderkrankheiten wurden und für Erwachsene kaum mehr ein großes Gesundheitsrisiko darstellten.457 Die Sterblichkeit im Erwachsenalter begann nicht zuletzt aus diesem Grunde vom frühen 19. Jahrhundert an zu sinken. So können jene Ziffern, die Prinzing in seinem Kapitel zur altersspezifischen Sterblichkeit an Infektionskrankheiten für Preußen in der Periode 1910 bis 1913 anführt, als Endpunkt einer längerfristigen Entwicklung gesehen werden. Denn die Sterbefälle an Masern und Keuchhusten konzentrierten sich nun hauptsächlich auf das Säuglings- und Kleinkindalter, jene an Diphtherie und Scharlach überwiegend auf das Kindesalter. Allerdings konnten die letztgenannten Krankheiten besonders bei aggressiver verlaufenden Epidemien noch weit in das Jugendalter hinein zu Sterbefällen führen.458 Die Daten zur Mortalität und Morbidität an akuten Infektionskrankheiten bei den jüngeren, mittleren und älteren Erwachsenen im Tauferer Ahrntal der 1860er Jahre spiegeln diesen Entwicklungsprozess des Sterblichkeitsgeschehens recht gut wider. Die epidemischen Infektionskrankheiten Pocken, Scharlach und Masern bargen für jüngere erwachsene Männer mit sieben Verstorbenen durchaus ein ernst zu nehmendes Sterberisiko, für die mittleren und älteren Erwachsenen mit jeweils einem Todesfall an Pocken hingegen nicht (vgl. Tab. A.3.3.5a und A.3.3.5b). Folglich prägte diese Krankheitsgruppe die Alltagserfahrung der Erwachsenen in unterschiedlicher Weise, je nachdem, in welchem Lebensabschnitt sie sich gerade befanden. Wie vergleichende Studien zu anderen Regionen zeigen, verteilte sich etwa auch in Finnland zwischen 1826 und 1865 der Anteil der gesamten Sterbefälle an Keuchhusten zu über 90 Prozent auf die Altersgruppe von 0 bis 4 und jener an Masern zu nicht ganz 80 Prozent auf jene jüngsten Alter.459 Bei Personen über zehn Jahren war der Anteil an der gesamten Sterblichkeit an diesen beiden Kinderkrankheiten marginal. An Scharlach starb zwar ebenfalls die Mehrzahl im Kindesalter bis zu zehn Jahren – im England der Jahre 1858/59 etwa 88 Prozent aller Todesfälle.460 Allerdings fanden ca. sechs Prozent aller Sterbefälle im Alter zwischen 10 und 15 statt und immerhin noch rund vier Prozent im Erwachsenenalter. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren einige „exanthematische“ Krankheiten daher noch keine ausschließlichen Kinderkrankheiten und auf die Pocken traf diese Zuschreibung noch weniger zu. Gemäß der finnischen Studie 456 457 458 459 460
HM 291/1864, Eintrag vom 4.3.1864. Vgl. Spree, Rückzug 1998, 10–12. Vgl. Prinzing, Handbuch, 444. Vgl. Turpeinen, Sterblichkeit, 144 (Tab. 2). Vgl. Oesterlen, Handbuch, 479 f.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
entfielen fast 20 Prozent aller Pockensterbefälle auf die Altersklassen über zehn Jahre.461 In der großen Pockenepidemie des Jahre 1871 nahmen etwa in Berlin nach hohen Morbiditäts- und Mortalitätsziffern bei den Säuglingen die Werte in den nächstfolgenden Altersgruppen zwar deutlich ab, mit einem Minimum bei den 15 bis 20-Jährigen. Nach dem 20. Lebensjahr stiegen die Werte aber wieder an und erreichten im sechsten Lebensjahrzehnt neuerlich ein Sterblichkeitsmaximum.462 Somit war bei den noch nicht geimpften Säuglingen die Sterblichkeit am größten und bei den durch eine Impfung geschützten Kindern am geringsten. In den höheren Altersklassen nahm die Sterblichkeit durch das Nachlassen des Impfschutzes rasch wieder zu. Folglich verlagerte sich mit zunehmender Verbreitung der Impfung die Pockensterblichkeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zusehends von den unteren in die höheren Altersstufen und betraf überwiegend Ungeimpfte und „ungeblatterte“ Erwachsene, deren durch die Impfung aufgebauter Schutz mit der Zeit wieder nachließ. So kam der damalige Sanitätsrat von Tirol, Dr. Josef Daimer, nach Durchsicht der Epidemieberichte der Jahre 1883 und 1884 zur Erkenntnis, dass bei der Gruppe der Ungeimpften mehr als die Hälfte aller Pockenerkrankten unter zehn Jahre alt war. Bei den Geimpften entfielen hingegen nur neun Prozent aller Erkrankten auf diese Altersgruppe und die meisten Pockenfälle auf die höheren Lebensalter (20 bis 40 Jahre).463 In den 1890er Jahren scheinen überhaupt fast nur noch Erwachsene als Opfer dieser einst so gefürchteten „großen Seuche des 19. Jahrhunderts“464 in den Sterbelisten Tirols auf.465 Die Zahl an Pockenerkrankungen, die Franz v. Ottenthal allein als Privatarzt während der Epidemie von 1866/67 innerhalb der Gruppe der Erwachsenen behandeln musste (27 Fälle bei den 14 bis 25-Jährigen, sechs bei den 25 bis 45-Jährigen), lässt daher auf eine nur geringe Durchimpfungsquote im Bezirk Taufers schließen, ebenso auf eine nicht zu hohe Anzahl durchgeführter Revakzinationen. Im Mittel der Jahre 1883 und 1884 waren im Bezirk Bruneck jedenfalls trotz fast hundert Jahren Schutzpockenimpfung lediglich 22,4 von 100 Impfpflichtigen geimpft, in den übrigen Bezirken Mitteltirols lag die Rate immerhin bei 37,3 Prozent und in Nordtirol zu jener Zeit annähernd bei der Hälfte (41,5 Prozent).466 Die meisten Sterbefälle in der Rubrik „akute Krankheiten“ gingen allerdings auf das Konto des Typhus, der zu dieser Zeit noch nicht in den durch die Kleiderlaus übertragenen Flecktyphus und in den bakteriell bedingten Bauchtyphus unterschieden wurde.467 Typhus galt generell als klassische „Schmutz461 462 463 464 465
Turpeinen, Sterblichkeit, 144 (Tab. 2). Vgl. Auspitz, Impffrage, 34. Vgl. Unterkircher, Tyroler, 52. Otte/Spree/Vögele, Seuchen, 290. So waren etwa 30 von den 32 im Jahre 1892 registrierten Erkrankungsfällen an Pocken bereits im Erwachsenenalter, und bis zur Jahrhundertwende erkrankte überhaupt nur noch ein (ungeimpftes) Kind an dieser Krankheit. Vgl. Daimer, Ergänzungs-Bericht, 22. 466 Daimer, Sanitäts-Bericht, 85 (Tab. 14). 467 Zur Geschichte der verschiedenen Krankheitsbezeichnungen des Krankheitsbildes der „typhösen Fieber“ vgl. Lindemann, Geschichte.
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krankheit“. Die Hygieniker, Ärzte und Städteplaner des 19. Jahrhunderts waren sich daher trotz der vielfach kontroversiell geführten Debatten über Ursachen und Verbreitungswege des Typhus dahingehend einig, dass Menschen in den rasch wachsenden, dichtbesiedelten und dem Bedarf an frischem Trinkwasser nicht mehr nachkommenden Ballungszentren, und hier hauptsächlich die in den Elendsvierteln zusammengedrängten Massen, die größte Risikogruppe darstellten. Die Typhussterblichkeit rückte nicht nur für die Zeitgenossen als „Massstab […] für die localen socialen Verhältnisse der Bevölkerung“468 in den Fokus ihrer Betrachtungen, sondern auch in den Studien zur städtischen Sterblichkeitsentwicklung der letzten Jahrzehnte.469 In der Tat erreichte die Sterblichkeit an Typhus in vielen Regionen in der Phase der Industrialisierung und Urbanisierung eine bis dato unerreichte Höhe: In Frankfurt etwa fielen dem Typhus zwischen 1856 und 1860 87 von 100.000 Lebenden zum Opfer, im Hamburg der 1850er Jahre 100 und in Berlin zwischen 1856 und 1860 87.470 Deutlich höher lag die Typhussterblichkeit in den südlich und südöstlich gelegenen Städten des deutschsprachigen Raumes, so wird für München die Sterbeziffer mit 138 (1863–70) und für Wien mit 228 von 100.000 Lebenden (1869) angegeben.471 In Österreich (alle Kronländer) lag die Sterberate mit Beginn der neu strukturierten Todesursachenstatistik im Jahre 1873 bei durchschnittlich 129 von 100.000 Lebenden.472 Dieser für die gesamte Habsburgermonarchie gültige Wert verdeckt allerdings die teilweise beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Territorien. Tirol beispielsweise wies mit einer Sterblichkeit von 88 pro 100.000 Lebende eine unterdurchschnittliche Typhussterblichkeit auf,473 wohingegen zwischen 1891 bis 1900 63,5 Prozent aller Sterbefälle an Typhus in der gesamten Monarchie allein auf das Kronland Galizien entfielen.474 Trotz der hohen Sterberaten wird in den neueren Forschungen zur Sterblichkeitsentwicklung in Städten der Anteil des Typhus am gesamten Todesursachenpanorama als relativ gering eingestuft: 1877 schlug diese Infektionskrankheit in den zunehmend assanierten zehn größten deutschen Städten mit 18 pro 1.000 Todesfälle zu Buche, Tuberkulose oder intestinale Erkrankungen hatten mit 142 bzw. 229 pro 1.000 Todesfälle weit höhere Werte aufzuweisen.475 In Tirol betrug im Jahre 1880 der Anteil der Typhussterbefälle an der Gesamtsterblichkeit ebenfalls relativ geringe 2,5 Prozent, wobei die Werte für Nordtirol mit 1,9 Prozent deutlich günstiger ausfielen als für das Trentino (2,3 Prozent) oder gar für die verschiedenen Bezirke in Südtirol (3,6 Prozent).476 468 Presl, Gesundheitspflege, 390. 469 So etwa für Wien bei Weigl, Wandel [2000a], 184–192, und für die deutschen Großstädte bei Vögele, Sozialgeschichte, 78–84. 470 Für die deutschen Städte siehe Vögele, Typhus, 60. 471 Für Wien vgl. Weigl, Wandel [2000a], 188. 472 Daimer, Todesursachen, 143. 473 Vgl. die Tabelle bei Presl, Gesundheitspflege, 390. 474 Daimer, Todesursachen, 142. 475 Vögele, Typhus, Schaubild 1, 61. 476 Siehe dazu die Tabelle bei Dietrich-Daum, L’evoluzione, Manuskript [im Druck].
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Jörg Vögele kommt denn auch mit Blick auf die Situation in den größeren deutschen Städten zu dem Ergebnis: „Der Typhus war demnach eine Seuche, deren öffentliche Bedeutung erheblich über ihre epidemiologische hinausging.“477 Diese Einschätzung trifft allerdings nur bei einer altersunspezifischen Gesamtbetrachtung des Todesursachenpanoramas zu und muss bei einer Ausdifferenzierung in einzelne Altersstufen relativiert werden. Gerade in der Altersgruppe der Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen war der Typhus einer der größten „Killer“, wie nicht zuletzt die von Vögele selbst beigefügten Tabellen zu den altersspezifischen Todesursachen in Preußen eindeutig belegen. Dort war im Stichjahr 1877 diese Krankheit bei den 15 bis 30-jährigen Männern nach „Tuberkulose“ und „gewaltsamer Tod“ die dritthäufigste Todesursache, ebenso bei den gleichaltrigen Frauen (hinter der Tuberkulose und den Sterbefällen im Kindbett).478 Selbst ein knappes Jahrhundert später, nämlich in den Jahren 1920 bis 1931, war etwa in Gelsenkirchen die Altersgruppe von zehn bis 30 Jahren immer noch mit knapp über 60 Prozent an der Gesamtsterblichkeit an Typhus beteiligt.479 „Die grosse Mortalität der Erkrankungen fällt zwischen 15 und 30 Jahren; von 30–40 Jahren nimmt die Erzeugung schon etwas ab, nach dem 50. Jahre wird er selten und im eigentlichen Greisenalter kommt er nur noch ganz ausnahmsweise vor“, resümierte der Arzt Wilhelm Griesinger (1817–1868) in seinem Handbuch über die „Disposition“ der einzelnen Lebensalter zum Abdominaltyphus.480 Wenig überraschend waren in den 1860er Jahren auch bei den 14 bis 25-jährigen Männern im Tauferer Ahrntal die Rubrik „akute Krankheiten“ für annähernd die Hälfte und darunter allein der Typhus für zwei Drittel aller Todesfälle in dieser Altersgruppe verantwortlich (vgl. Tab. A.3.3.5a und A.3.3.5b). Als 1860 zum endemisch im Tal auftretenden Typhus noch eine schwere Epidemie hinzukam, führte dies vor allem in den Gemeinden des Ahrntales zu einer immensen Sterblichkeit unter den jüngeren Erwachsenen.481 So wurden in diesem Jahre sämtliche fünf bei den Männern zwischen 14 und 25 registrierten Todesfälle von dieser Infektionskrankheit verursacht, und bei elf der insgesamt 23 männlichen Verstorbenen in der nächstfolgenden Altersgruppe (25–45) hatte der Pfarrer ebenfalls diese Todesursache in den Sterbebüchern notiert.482 Allein in dem am schwersten betroffenen Bergbauörtchen Prettau gingen sieben von acht Männern an Typhus zugrunde, fünf davon waren als Knappen beim Kupferbergwerk beschäftigt gewesen. 477 Vögele, Typhus, 60. 478 Dasselbe Bild ergibt sich auch bei einer altersspezifischen Analyse der Todesursachen in den deutschen Großstädten, allerdings lagen dort die Sterbeziffern geringfügig niedriger als für das gesamte Staatsgebiet. Siehe Vögele, Sozialgeschichte, Anhänge 3.1 und 3.2., 480 f. 479 Behrendt, Erkrankungen, 29. 480 Griesinger, Infectionskrankheiten, 124. 481 Zum endemischen Auftreten des Typhus im Tal im Zeitraum zwischen 1860 und 1869 vgl. Grafik 1 bei Unterkircher, Landarzt, 201. 482 Diese und die folgenden Zahlen wurden aus den entsprechenden Sterbebüchern des Jahres 1860 ermittelt.
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Eine Typhuserkrankung dauerte durchschnittlich 17 bis 21 Tage, ehe die Betroffenen langsam in die Genesungsphase eintraten. Die Pflege von Typhuskranken war daher langwierig, wegen der permanenten Durchfälle und Delirien schwierig und bei Zuhilfenahme eines Arztes durch die lange Behandlungsdauer überaus kostenintensiv. So notierte Ottenthal beim 22-jährigen Joseph Innerkofler* aus Mühlwald am 4. Juni 1860 die erste Behandlung, ehe er nach 13 weiteren Behandlungen am 11. Juli 1860 vermerken konnte: „adhuc debilis est alioquin probe reconvalescit“.483 Ottenthal bezeichnete den jungen Mann als „fortis“, was für den günstigen Ausgang der Erkrankung sicherlich von Vorteil war, denn nicht selten wurde bei Erwachsenen ein krankheitsbedingter Gewichtsverlust von bis zu 30 bis 50 Pfund beobachtet.484 Die Erkrankung von Peter Unterbichler (24 Jahre) aus St. Johann hielt sich denn auch äußerst hartnäckig, sodass der wegen des langen Krankheitsverlaufs nun doch herbeigerufene Ottenthal bei seiner Erstkonsultation am 20. April 1860 notierte, dieser sehr geschwächte Patient („debiliusculus“) rekonvalesziere nun schon seit 14 Tagen an Typhus, „sed non penitus adpetitus et vires redierunt anteheri iterum lectum petuit“485. Viele dieser angeführten Faktoren (spezifische Ansteckungswege, allgemeine körperliche Konstitution, Delegieren von Pflege und Krankenbesuche an Frauen) sind vermutlich mit der Grund, warum im „Typhusjahr“ 1860 unter der 18 bis 39-jährigen Bevölkerung des Tauferer Ahrntals eine ausgeprägte Frauenübersterblichkeit bei Typhus herrschte und mit rund neun zu fünf Prozent auch deutlich mehr Frauen wegen Typhus in Ottenthals Behandlung standen als Männer.486 3.3.4 …denn sie wissen nicht, was sie tun? Knaben, Soldaten und altersspezifische Erfahrungen von Sexualität und Körperlichkeit 3.3.4.1 Verletzliche Männerkörper I: Jungen und ihre sexuellen Aktivitäten In seinem kurzen Überblick zur Sexualmoral des 19. Jahrhunderts arbeitet Wolfgang Schmale die Widersprüchlichkeit des zeitgenössischen Diskurses über die männliche Sexualität heraus.487 Die von den bürgerlichen Gesellschaftsschichten vertretene Sexualmoral zeige sich beim Themenkomplex Sexualität und Körperlichkeit besonders deutlich. Denn die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geführten Debatten über die Geschlechtscharaktere un483 HM 881/1860 und 1016/1860, Einträge vom 4.6. bis 11.7.1860. 484 Zum Krankheitsverlauf bei Bauchtyphus siehe Griesinger, Infectionskrankheiten, 130 und 147. 485 („Appetit und Kräfte noch nicht vollständig zurückgekehrt, hütete vorgestern wiederum das Bett“). Der vollständige Eintrag lautet: [„24 ann. debiliusculus febrim exanthematicam passus ex qua per 14 dies reconvaluit sed non penitus adpetitus et vires redierunt anteheri iterum lectum petuit lingua impura dolores in ventriculo cephalea“]. HM 567/1860, Eintrag vom 20.4.1860. 486 Zahlen zur geschlechterspezifischen Mortalität und Morbidität an Typhus im Tal vgl. Unterkircher, Landarzt, 207 f. 487 Schmale, Geschichte, 211.
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terstellten Männern generell einen starken Sexualtrieb. Frauen wiederum wurden im Zuge ihrer „Passivierung“488 als entsexualisiert imaginiert. Zugleich schrieb die allgemeine öffentliche Moral der bürgerlichen Gesellschaftsschichten die Ehe als einzig legitimen Ort für sexuelle Aktivitäten fest, obwohl von einem zukünftigen Ehemann erwartet wurde, mit einer gewissen sexuellen Erfahrung in den Stand der Ehe zu treten. Eine „ehrbare“ Frau blieb somit gemäß dem Tugendkatalog der bürgerlichen Gesellschaft bis zur Hochzeit unerreichbar für die Befriedigung sexueller Begierden. Angesichts des männlichen Dilemmas zwischen „gesundem“ Ausleben des Sexualtriebes und gesellschaftlicher Wahrung der Sitten vermittelte der medizinische Diskurs den noch unverheirateten Söhnen vielfach, sich im Rahmen eines Bordellbesuchs die dem männlichen Habitus schmeichelnde sexuelle Reife anzueignen.489 Dabei war es gleichgültig, ob die Dienste von Prostituierten nun über die Vermittlung des eigenen Vaters oder über Kameraden und Freunde eingefädelt wurden.490 Hinter dieser (bürgerlichen) Sexualmoral stand immer die Vorstellung eines starken männlichen Sexualtriebs und einer passiven weiblichen Sexualität. Bei der sexuellen Sozialisation von Jungen lässt sich die Deutungsmacht dieses hegemonialen Modells von Männlichkeit bis heute gut beobachten. Wenn die gegenwärtige geschlechtersensible Sozialisationsforschung folglich konstatiert, dass den „Jungs“ in der Adoleszenz als Reaktion auf die erwachende Sexualität häufig ambivalente Signale vermittelt werden,491 so reichen die Wurzeln dieser Erwartungshaltungen weit zurück. Für Schmale sind diese widersprüchlichen charakterlichen Zuschreibungen ein „Kind der Aufklärung, in der das Aktivitätsprinzip zum männlichen Hauptprinzip erklärt worden war.“492 Erwachsene bestehen einerseits auf eine Kontrolle sexuellen Verhaltens, wenn auch den pubertierenden Jungen diesbezüglich ein deutlich größerer Handlungsspielraum zugesprochen wird als den Mädchen.493 Zum anderen aber ermuntert die Gesellschaft die Jungen zu einer aktiven Sexualität und reagiert bestätigend auf dementsprechendes Verhalten. Im machismo mediterraner Kulturen wird dieses Männlichkeitsideal anschaulich in Szene gesetzt. Verhält sich beispielsweise im Süden Spaniens ein Mann dem vorherrschenden Ideal entsprechend, wird ihm anerkennend bescheinigt, er habe mächtige cojones in der Hose.494 Weiter nördlich im Ostalpenraum gehörten weniger „pralle Eier“ zum Habitus eines echten Kerls als vielmehr die „rechte Schneid“. 488 Vgl. Wolf, irrsinnig, 40–43. 489 Vgl. Sauerteig, Krankheit, 265. 490 Dinges, Gesundheit, 100, der auch die eventuell damit verbundenen Irritationen thematisiert. So erwähnt Alfred Kinsey in seinem in den 1940er Jahren publizierten „Männerreport“, dass homosexuelle Männer von „einer übermütigen Gruppe männlicher Freunde“ mit Zwang zu einer Prostituierten gebracht werden, um den in ihren Augen verdrehten Geschlechtstrieb umzupolen. Kinsey, Verhalten, 562. 491 So etwa Böhnisch/Winter, Sozialisation, 183–194. 492 Schmale, Geschichte, 211. 493 Vgl. Stein-Hilbers, Konstruktion, 94. 494 Vgl. Gilmore, Mythos, 45.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
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Die reich verzierten Sensenscheiden, die zum Schutz der Sensenklinge und des Trägers über diese gestülpt werden konnten und die eine häufige Liebesgabe der Mädchen an ihre zukünftigen Angetrauten waren, brachten diese Erwartungshaltung mitunter recht unverblümt zur Sprache. So ist auf der Rückseite einer im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien aufbewahrten Sensenscheide der Spruch zu lesen: „An der Schneit / hat es mir nie gefehlt“.495 Mit dieser Gravur sollte wohl nicht nur auf die Tatkraft des Mannes bei der Heumahd angespielt werden. Eine Bestätigung erfahren derartige Erwartungen an das hegemoniale Männlichkeitsbild hauptsächlich in der gleichaltrigen peer group. Denn die Funktion derartiger Gleichaltrigengruppen wird vielfach in einer Vorbereitung auf die Anforderungen der Gesellschaft an ihre zukünftigen „vollwertigen“ Mitglieder gesehen, so eben auch das Einüben spezifischer Geschlechterrollen.496 Wie Böhnisch und Winter aus der Perspektive einer kritischen Männerforschung allerdings anmerken, fördere die permanente Kontrolle durch die Gruppe und der Konformitätsdruck eher die Überspielung vorhandener Unsicherheiten, etwa mit der eigenen Sexualität, als dass in einer solchen Gruppe Probleme besprochen werden könnten.497 Somit würde durch die Dynamiken in einer Gleichaltrigengruppe ein spezifisches, meist hegemoniales Männlichkeitsideal ritualisierend konstituiert und fortgeführt. Wie Helga Bilden ausführt, kommt das Einüben dieser Rollenanforderungen schon in frühesten Jugendjahren zudem den Interessen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Eliten an einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung entgegen.498 Denn bis zu den tiefgreifenden Umbrüchen der postindustriellen Arbeitswelt erleichterte aggressives Verhalten und eine geringe emotionale Sensibilität Männern das Erklimmen der beruflichen Karriereleiter, wohingegen Frauen für ihre „Beziehungsarbeit“ und ihre Rolle als Mütter und Versorgerinnen in erster Linie die Aneignung von Eigenschaften wie Emotionalität empfohlen wurde.499 Nun lassen sich die Erkenntnisse dieser Pädagogen auch am historischen Material herausarbeiten. Denn im Tauferer Ahrntal der 1860er Jahre blieb der Einfluss einer peer group auf die einzelnen jungen Männer der Gruppe keinesfalls unbemerkt, wobei in den überlieferten Akten die Aneignungsprozesse einer spezifischen Männlichkeit weniger in der pädagogischen Sprache eines Böhnisch und eines Winter daherkommen als in der moralisierenden Sprache sittenstrenger Kirchenmänner im erzkatholischen Tirol des 19. Jahrhunderts. Beispielsweise beklagte sich der Kurat von St. Jakob im Dezember 1860 beim Bezirksvorsteher in Sand über den offenbar schon längere Zeit zu auffälligem 495 496 497 498 499
Vgl. Beitl, Liebesgaben, Abb. 16a–c und 137 f. Vgl. Tillmann, Sozialisationstheorien, 251–255. Vgl. den entsprechenden Abschnitt bei Böhnisch/Winter, Sozialisation, 80–87. Vgl. Bilden, Sozialisation, 285–287. In der postindustriellen Gesellschaft würden auch von Männern vermehrt „weibliche“ Eigenschaften wie Teamfähigkeit und soziale Kompetenz erwartet. Vgl. Böhnisch/Winter, Sozialisation, 111–114.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Verhalten neigenden Jugendlichen Jakob Steger aus Steinhaus. Der Stiefsohn eines dortigen Webers und Bauern hätte sich nämlich, kaum dass er von einer schweren Krankheit durch die liebevolle Pflege seiner Eltern genesen war, „von leichtfertigen Kameraden wieder so weit verleiten [lassen], halbe und ganze Nächte außer dem Hause zuzubringen.“ Es kam aber noch schlimmer, denn anstatt auf seine mittlerweile ebenfalls erkrankten Geschwister sowie die Mutter Rücksicht zu nehmen, würde er sich „mit einem liederlichen Weibsbilde im Wirtshause und außer demselben spät Abends herum[treiben], mit noch einem liederlichen Burschen.“500 In dieser jugendlichen peer group scheint sexuelle Askese keine Tugend gewesen zu sein, die allzu hochgehalten wurde. Auch viele weitere Arbeiten aus den unterschiedlichen Fachbereichen der Geschichtswissenschaften förderten Quellen und Belege zutage, die Schlaglichter auf die sexuelle Sozialisation von Jungen im ländlichen Raum werfen und die oben beschriebenen Prozesse für deren sexuelles Heranwachsen bestätigen und zugleich relativieren. Peter Becker etwa zitiert ein um 1780 in einem weststeirischen Dorf verfasstes Gerichtsprotokoll, in dem ein wegen Unzucht angeklagter 16-jähriger Junge seine Tat mit eben dieser triebhaften Sexualität begründete. Denn die Knechte seines Vaters hätten in seiner Gegenwart dermaßen offen über sexuelle Dinge gesprochen und ihn „in der geillen Lieb [so] sehr entbrunnen“, dass er die Magd sexuell bedrängte, als die beiden alleine in der Stube waren.501 Die gegenteilige Erfahrung wiederum machte der Osttiroler Bursche Richard Pucher um 1930, als er als Pflegekind und Hüterbub durch die leicht angetrunkene ältere Magd seiner Stiefeltern im Stall seine Unschuld verlor. „Als mich dann die Seligkeit übermannt und ich das zu tun versuchte, was ich wiederholt bei den Tieren beobachtet hatte, von ihr entsprechend geführt, jammerte die Moidl frohlockend vor sich hin, an allen Fasern ihres Körpers zitternd. Was wußte ich schon von der Ekstase einer reifen Frau?“502 Die sexuelle Sozialisation konnte demnach für junge Männer auf dem Land höchst unterschiedlich ablaufen. Die Erfahrungen waren stark schichtspezifisch geprägt, abhängig von den internen Hierarchien am Hof und boten trotz der Dominanz einer rigiden katholischen Sexualmoral vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten. Nun erfolgen laut Studien aus dem Umfeld der Sexualwissenschaften bei heutigen Jungen der erste Samenerguss durchschnittlich im Alter von ca. 14 Jahren und der erste heterosexuelle Geschlechtsverkehr mit rund 18 Jahren.503 Bei diesen sexuellen Erfahrungen lassen sich teilweise beachtliche Abweichungen von den Durchschnittswerten in beide Richtungen feststellen. Fast immer gehen andere sexuelle Praktiken wie Masturbation, gleichgeschlechtliche Kontakte oder Petting der ersten Koituserfahrung voraus. Wie aber lebten und erlebten um 1860 im Tauferer Ahrntal männliche Jungendliche und jüngere Männer ihre Sexualität? 500 501 502 503
ASBz, BA Taufers 1860, Bündel 149/1; Nr. 2855/1862. Becker, Leben, 232. Ortmayr, Knechte, 111. Diese Angaben wurden entnommen aus: Starke, Männer, 139–141.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
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Erfuhren die Männer ihr „erstes Mal“ als schönes Gefühl, als Bedrohung, war es mit Angst besetzt oder wurde es notfalls mit Gewalt durchgesetzt? Tauschten sie sich über Masturbationserfahrungen aus oder waren diesbezüglich die Scham und das Stillschweigen ebenso groß wie im Falle von mannmännlichen Sexualkontakten, die als „stumme Sünde“ niemandem zu Ohren kommen durften? Welche sexuellen Aktivitäten haben in den Historiae Morborum in welcher Form auch immer einen Niederschlag gefunden, und wie wurde etwa die Mitteilung des Arztes, man hätte sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen, von den davon betroffenen Männern aufgenommen? Im April 1988 schrieb der deutsche Sexualforscher Volkmar Sigusch in einem Essay, ihn würde bei dem Gedanken, er müsste in diesen Tagen sexuell heranwachsen, das schiere Grauen packen. Am Höhepunkt der Dramatisierung der Immunschwächekrankheit AIDS kritisierte er, dass das Sexualleben von immer mehr Deutschen nur noch von der Angst vor möglichen Ansteckungsrisiken mit dem HI-Virus bestimmt werde. Erst wenn man sich seiner eigenen, in vielen Fällen vollkommen unbegründeten Ängste bewusst sei, „[…] dann können wir vielleicht erahnen, wie Jugendlichen zumute sein muß, die ihre ersten, in unserer Kultur ohnehin riskanten Schritte ins Reich der Erwachsenen-Sexualität unternehmen.“504 Doch mussten angesichts der im 19. Jahrhundert zur Verfügung stehenden therapeutischen Behandlung bei Geschlechtskrankheiten, die etwa im Falle der Syphilis langwierig, schmerzhaft und mitunter schlichtweg ineffektiv war,505 die ersten Schritte in das „Reich der Erwachsenen-Sexualität“ nicht auch für junge Männer aus dem Tauferer Ahrntal äußerst riskant erscheinen? Wirkten die möglichen gesundheitlichen Folgen und die zu erwartenden Stigmatisierungen, über die im Zuge des „Prozesses der Syphilisation“506 umfassend aufgeklärt wurde, nicht dermaßen abschreckend auf die sexuell heranwachsenden Jungen in diesem beschaulichen Südtiroler Tal, dass die meisten von ihnen ihre Triebe zu unterdrücken versuchten und zuerst den (vermeintlich) sicheren Hafen der Ehe anzusteuern trachteten, ehe sie ihre sexuelle Begierden und Wünsche auslebten? Im Folgenden wird danach gefragt, in welchem Ausmaß das Kennenlernen des Körpers und das Entdecken der eigenen Sexualität für männliche Jugendliche und jüngere Männer zwischen 14 und 25 Jahren physische und psychische Belastungen mit sich brachten. Inwiefern können diese Beschwerden und Leiden als typisch für diese Altersgruppe betrachtet werden? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde anhand dreier ausgewählter Bereiche der männlichen Sexualität (Geschlechtskrankheiten, Onanie, mann-männliches Begehren) untersucht, wie Männer in den Historiae Morborum ihrem Arzt gegenüber Probleme sexueller Natur kommuniziert haben.
504 Sigusch, Jugendliche, 131. 505 Zur „Entdeckungsgeschichte“ der Erreger der wichtigsten Geschlechtskrankheiten und der spezifischen Medikationen siehe Sauerteig, Krankheit, 28–37, sowie etwas weniger ausführlich Köster, Geschlechtskrankheiten, Fußnote 2, 89. 506 Vgl. Linse, Prozeß, 163–185.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
3.3.4.1.1 Die „Lustseuche“ und die Stigmatisierung von Geschlechtskranken Praxisaufzeichnungen aus der Feder eines Arztes bringen es naturgemäß mit sich, dass sexuelle Aktivitäten in erster Linie im Lichte ihrer problematischen Auswirkungen auf die Gesundheit erscheinen. So konnte etwa die Erfüllung sexueller Begierden in direkter Folge zu einer venerischen Erkrankung wie Syphilis oder Tripper führen. Oft beeinträchtigten aber allein schon Sexualtrieb und sexuelle Wünsche das physische und psychische Wohlbefinden des Betroffenen dermaßen stark, dass in der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe eine Linderung gesucht wurde. Die unerfüllt gebliebenen Heiratsabsichten eines Mannes aus Mühlwald etwa stürzten denselben im Jänner 1862 in eine tiefe Melancholie, die sich nach den Notizen Franz v. Ottenthals auch in körperlichen Symptomen wie einem Druck auf der Brust ausdrückte.507 Die dunkle Seite von Sexualität fand dann ihren Weg in die Krankenjournale, wenn aufgrund eines begangenen Sexualdelikts (beispielsweise Vergewaltigung, sexueller Missbrauch von Kindern) eine ärztliche Untersuchung der geschädigten Person und ein anschließendes Gutachten erforderlich wurden. Allerdings macht Tabelle 3.3.3a deutlich, dass in der untersuchten Altersgruppe der 14 bis 25-jährigen Männer Beschwerden rund um die „Geschlechtsorgane“ gerade einmal 2,2 Prozent aller zwischen 1860 und 1869 getätigten Konsultationsgründe ausmachten. Auch die Werte für die Rubriken „Gutachten u. ä.“ und „Nervensystem“, unter denen sich der eine oder andere Hinweis auf sexuelle Verhaltensweisen befindet, erreichten in dieser Altersgruppe entweder nur eine relativ geringe Höhe (2,7 Prozent bei den Gutachten) oder resultierten wie bei den „Nervenleiden“ überhaupt nur zum geringsten Teil aus Bereichen der Sexualsphäre. Im Vergleich zu anderen Beschwerdekomplexen, etwa den Atmungs- oder der Verdauungsorganen, spielte folglich die problematische, gesundheitsschädigende und „skandalisierte“ Seite der Sexualität in der alltäglichen Behandlungspraxis Franz v. Ottenthals eine vergleichsmäßig marginale Rolle. Eine detaillierte Übersicht über die unter der Rubrik der „Geschlechtsorgane“ subsumierten Krankheitsbilder zeigt des Weiteren, dass von den gezählten 18 Konsultationen des Untersuchungszeitraums der Hauptteil der Behandlungen aufgrund einer venerischen Erkrankung erfolgte (vgl. Tab. 3.3.4). Andere Erkrankungen der Geschlechtsorgane waren nur vereinzelt vertreten. So wurde der Wunsch nach der ärztlichen Behandlung einer Vorhautverengung („Phimosis“) nur einmal geäußert, ebenso der Wunsch nach einer Hilfe bei schmerzenden Samensträngen.508 Gerade bei letzterem Fall zeigten sich die zu dieser Zeit noch mangelhaften diagnostischen Möglichkeiten des Allgemeinmediziners Ottenthal recht deutlich. Denn bei diesem 21-jährigen Patienten konnte Ottenthal „tactu et visu“ vorerst nichts Auffälliges entdecken. Als der Patient aber im Verlaufe des 507 [„42 ann. laborat oppressione pectoris et melancholia nubi cupit et fratres nolunt“]. HM 57/1862, Eintrag vom 11.1.1862. 508 [„21 ann. videtur laborare doloribus funiculorum spermaticorum ex 4 mensibus; tactu et visu nulla abnormitas detegenda“]. HM 1368/1867, Eintrag vom 25.11.1867.
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3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
Tab. 3.3.4: Konsultationsgründe in der Rubrik „Geschlechtsorgane“ bei den jüngeren Männern zwischen 14 und 25, 1860–1869 (Zahlen absolut)
Konsultationsgründe insgesamt
venerische Erkrankung
Hodenentzündung
Vorhautverengung
sonstige Beschwerden
18
11
5
1
1
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869
Dezembers immer wieder in der Praxis des Arztes auftauchte und dabei eine Vielzahl zusätzlicher Symptome schilderte, unterstellte ihm Ottenthal letzten Endes sogar eine Simulation der Schmerzen und einen hypochondrischen Charakter („21 ann. nescio an simulator sit aut hypochonder nunc dolores in funic. spermatico non ampl. accusat constantes sed vagos, ita etiam dolores laterum sunt vagi“509). Weitere fünf junge Männer erhalten im Verlaufe ihrer Konsultationen „orchitis“ (Hodenentzündung) diagnostiziert. Allerdings geht aus den recht knapp gehaltenen Krankenprotokollen nicht hervor, ob diese Hodenentzündungen als Spätfolgen einer unbehandelten Geschlechtskrankheit oder etwa einer kurz vorher durchgemachten Mumpserkrankung510 einzustufen sind. Insgesamt erstaunt aber doch, dass Geschlechtskrankheiten ebenso wie sonstige Beschwerden mit den Geschlechtsorganen einen dermaßen geringen Anteil an allen behandelten Beschwerden einnehmen. Da die diesbezüglichen Werte in der nächsthöheren Altersgruppe der Männer zwischen 25 und 45 mit 2,4 Prozent ebenfalls sehr gering ausfielen, scheint dieses „Aufgabengebiet“ somit nicht zur Kernkompetenz des Allgemeinmediziners Franz v. Ottenthal gehört zu haben. Folglich schließt sich an diesen Befund sogleich die Frage an, ob nicht eine hohe Scham- und Peinlichkeitsschwelle Männer davon abhielt, die deutlich sichtbaren „Beweise“ für sexuelle Praktiken und Verhaltensweisen dieser Autoritätsperson so direkt zu zeigen. Von Soldaten und Rekruten der preußischen Armee ist überliefert, dass viele von ihnen die in regelmäßigen Abständen von drei Monaten durchzuführende Inspizierung der Geschlechtsorgane auf mögliche Hinweise von Geschlechtskrankheiten als äußerst erniedrigend empfunden haben.511 Durfte man schon annehmen, dass auf die Schamgrenzen von nicht gerade als zimperlich geltenden Armeeangehörigen generell weniger Rücksicht genommen wurde als auf jene der Normalbevölkerung, wie peinlich mag dann erst das im Zuge der ärztlichen Untersuchung notwendige Entblößen der Geschlechtsteile für einen Durchschnittsmann aus Südtirol gewesen sein? Ein medizinischer Ratgeber appellierte noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts an sein Publikum, „ohne Scheu, ohne Furcht vor einer Verletzung der Scham“ bei ersten Anzeichen verdächtiger Symptome 509 HM 30/1868, Eintrag vom 6.1.1868. 510 Vgl. Meryn/Kindel, Kursbuch, 112. 511 Jütte, Nachricht, 24 f.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
unverzüglich einen Arzt zu kontaktieren, „denn es stehen stets Gesundheit und Leben auf dem Spiele“512. Selbst eine 2006 erschienene deutsche Aufklärungsbroschüre zur wieder im Vormarsch befindlichen Syphilis versicherte im einführenden Teil der gewiss nicht prüden Zielgruppe, eine Syphilis sei „kein Grund, sich zu schämen“, und unterstrich diese Feststellung mit dem Aufruf, den Arztbesuch nicht lange hinauszuschieben.513 Vermutlich gerieten aber Geschlechtskranke um 1860 in der untersuchten Region von vornherein eher an den Gerichtsarzt des Bezirks als an Ottenthal. Denn bei einem Verdachtsfalle von Syphilis wurde dieser von den Behörden informiert, um die betreffenden Personen zu untersuchen und eine Weiterverbreitung der „Lustseuche“ zu verhindern. Keinesfalls aber darf aus diesen geringen Fallzahlen geschlossen werden, sexuelle Handlungen sowie deren Folgen für die Gesundheit hätten die jüngeren Männer im Tauferer Ahrntal generell nicht beschäftigt. Wir hatten es mitnichten mit einem Tal voller keuscher Jünglinge zu tun, dessen Liebesleben sich ausschließlich zwischen den beiden Polen ehelicher Sexualverkehr und sexuelle Enthaltsamkeit hin und her bewegte.514 Somit war aber auch das Risiko gegeben, sich mit einer venerischen Geschlechtskrankheit anzustecken, wie im nachfolgenden Abschnitt anhand von Beispielen aus den Historiae Morborum der 1860er Jahre näher ausgeführt werden wird. Leider sind die Krankenprotokolle jener 14 bis 25-jährigen Männer, denen Ottenthal eine venerische Erkrankung diagnostiziert hat, nicht sehr ausführlich und enthalten fast nur Angaben zu den mitgeteilten Symptomen und zur ärztlichen Diagnose. Weiterführende Hinweise über Ansteckungswege oder Anmerkungen Ottenthals, die eine Einordnung der jeweiligen Fallgeschichte in den zeitgenössischen Diskurs über Geschlechtskrankheiten ermöglicht hätten, wurden nicht dokumentiert. Ob daher das Tauferer Ahrntal in den Augen dieses Arztes schon vor dem Einsetzen eines breiten Diskurses über die venerische Bedrohung der Volksgemeinschaft vom „Fluch der Syphilisation“515 heimgesucht wurde, kann aus den vorliegenden Quellen allein nicht beantwortet werden.516 Auch mit persönlichen Kommentaren etwa in Form moralisierender Belehrungen über einen „lasterhaften“ Lebenswandel hielt sich Ottenthal zurück. „21 ann. laborat syphili ex semestri ut videtur“517, notierte er recht nüchtern am 2. September 1867. Ein drei Jahre älterer Mann wiederum litt seit drei Wochen an „condylomatibus ad anum“518, wohingegen bei einem 22-jährigen Mann nach dem erstmaligem Auftauchen der Syphilis nach zwei Jahren Ruhepause nun offenbar das zweite Stadium 512 König, Ratgeber, Bd. 2, 922. 513 DAH, Syphilis, 6. 514 Zur Debatte über die „Schädlichkeit“ der sexuellen Enthaltsamkeit siehe Sauerteig, Krankheit, 264–279. 515 Vgl. Linse, Prozeß, 171. 516 Zu diesem Diskurs siehe Linse, Prozeß, 165–171; Köster, Geschlechtskrankheiten, 77–80. 517 HM 1168/1867, Eintrag vom 2.9.1867. 518 HM 1030/1863, Eintrag vom 21.10.1863.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
247
Abb. 3.3.3: „Einsegnung des Brautbettes“ Quelle: Holzstich nach einem Gemälde von Alois Gabl (1845–1893), 1875; Privatbesitz.
der Erkrankung („lues secundaria“519) mit „exanthemata syph. in cubito dextro“ zum Ausbruch kam. Die Sorge um eine mögliche Ansteckung mit Syphilis trieb schließlich den 19 Jahre alten Sebastian Egger* in die Praxis, nachdem dieser ungewöhnliche Halsschmerzen verspürt hatte. Der vermutlich ein paar Tage zuvor sexuell aktiv gewesene Mann hatte wohl schon eine Vorahnung, dass er sich eine sexuell übertragbare Krankheit eingefangen haben könnte. Zwar vertröstete Ottenthal seinen besorgten Patienten zunächst, denn abgesehen von Filzläusen hatte er keinerlei Hinweise auf eine mögliche Infektion entdecken können. Allerdings bat er zur endgültigen Abklärung der Diagnose den jungen Mann, nach dem Abwarten einer gewissen Inkubationszeit erneut zu ihm zu kommen. In der Zwischenzeit mussten tatsächlich die verräterischen Symptome aufgetreten sein, denn Ottenthal notierte am 5. Juli 1865 rund zwei Monate nach der erstmaligen Konsultation kurz und bündig „syphilit condylomata“520. Auch die wenigen Fallgeschichten, in denen sich junge Männer mit Tripper angesteckt hatten und Hilfe beim Arzt in Sand suchten, beschränkten sich 519 HM 432/1867, Eintrag vom 20.3.1867. 520 HM 695/1865, Einträge vom 19.5.1865 und vom 5.7.1865.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
auf knappe Beschreibungen der Symptome, die eine Rekonstruktion des Zusammenhanges zwischen Lebensstil, Sexualverhalten und Ansteckung nur schwer erlauben.521 Immerhin erfahren wir aber anlässlich der Syphilis-Diagnose des 21-jährigen Joseph Duregger* aus Luttach, dass der junge Mann schon das Jahr zuvor syphilitische Symptome entwickelt hatte und deswegen einen halben Monat lang im Spital zu Bruneck behandelt worden war („in nosocomio Brunopolitano nuper per ½ mensem curatus“522). Somit verfügen wir wenigstens über einen direkten Hinweis in den Historiae Morborum der Jahre 1860 bis 1869, wie die regionalen Behörden mit Personen, die in den Verdacht einer Infektion mit Syphilis gerieten, verfahren sind. Solange die Infizierten in der Behandlung eines Arztes standen, schien für die Behörden kein größeres Gefährdungsrisiko und keine Notwendigkeit zum Einschreiten bestanden zu haben. In jenen Fällen aber, wo ärmere Teile der Bevölkerung mit dem Syphiliserreger infiziert waren und der Verlauf der Erkrankung nicht von ärztlicher Seite kontrolliert wurde, sah sich der Bezirksvorsteher offensichtlich zu drastischeren Schritten veranlasst. Nun wurde der Gerichts- und Gemeindearzt zur betreffenden Person bestellt, um den Verdacht einer Ansteckung mit einem ärztlichen Gutachten zu bestätigen oder zu entkräften und bei einem positiven Befund die übrigen Hausinsassen ebenfalls auf eine mögliche Infektion hin zu untersuchen. Nach der Bestätigung einer Infektion wurde der oder die Erkrankte schnellstens zur Kur ins Spital nach Bruneck geschickt. Die Kosten für die Behandlung der Armen musste die Heimatgemeinde übernehmen. Ein ärztliches Gutachten des von den Gemeinden des Tals angestellten Kollegen Ottenthals, Dr. Joseph Daimer, gibt Auskunft über die einzelnen Schritte, die laut „Protokoll“ in einem solchen Fall durchgeführt werden mussten. „Der ergebenst Gefertigte erstattet über die ärztliche Untersuchung sämtlicher Bewohner des Kröllhauses in der Gemeinde St. Johann des Thales Arn folgenden Befund: Steinhauser Josef, arme [sic], vor längerer Zeit in Pinzgau an primärer Syphilis erkrankt, nicht vollkommen geheilt, leidet gegenwärtig an secundärer Syphilis, er ist im öffentlichen Spitale Brunecks auf Kosten der Gemeinde St. Johann zur Heilung, die im Falle des Gelingens mehrere Monate in Anspruch nehmen wird, untergebracht.“523 Die weiteren Personen des Haushaltes, die Frau und vermutliche Partnerin des Mannes sowie deren Sohn, zeigten keine Symptome, das zweite, wohl gemeinsame Kind Thomas hingegen, war infiziert. Offensichtlich schätzte der Gerichtsarzt die Erkrankung dieses Kindes als weniger gravierend ein und behielt es in seiner ambulanten Behandlung, wodurch eine Verlegung in das Spital in diesem Fall nicht notwendig war.
521 So zum Beispiel bei folgender Krankengeschichte: [„24 ann ex semestri adfectus est blennorrhoea urethrae“] („24 Jahre ist seit einem halben Jahr von Tripper der Harnröhre befallen“). HM 374/1866, Eintrag vom 11.4.1866. 522 HM 793/1865, Eintrag vom 4.6.1865. 523 ASBz, BA Taufers 1861, Bündel 150/1; Nr. 1120 ad 837, liegend in Nr. 1193. „Gutachten Dr. Daimer vom 31.5.1861 an das k. k. Bezirksamt“.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
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Den Sanitäts- und Verwaltungsbehörden reichte um 1860 die Überwachung, Kontrolle und gegebenenfalls zwangsweise Einweisung in ein Spital aus, um auf die auftretenden Fälle venerischer Erkrankungen reagieren zu können. Im zeitgenössischen medizinischen Schrifttum wurden in erster Linie Regionen, die „vor Allem der ärztlichen Beaufsichtigung und Pflege entbehrten, oder wo diese Aufsicht sich für die richtige Beurtheilung und Behandlung der Krankheit insufficient erwies“524, als bedrohlich eingestuft. Durch eine schlecht ausgebaute öffentliche und private Gesundheitsversorgung konnte eine Infektion lange unerkannt bleiben und in andere Bevölkerungsgruppen hineingetragen werden. Von einer Bekämpfung der Syphilis als „vorrangig nationales Thema“525 zum Schutz des „Volkskörpers“ ist in dieser Zeit allerdings noch wenig zu spüren. Ein derartiger Diskurs wurde erst im ausgehenden 19. Jahrhundert von Vertretern unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen geführt und entfaltete um die Jahrhundertwende eine gewisse Breitenwirkung. 1902 reagierte man im Deutschen Reich schließlich mit der Gründung der „Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ als einflussreiche Institution auf die Prophezeiungen einer venerischen Durchseuchung der Allgemeinbevölkerung.526 Eine Stigmatisierung der infizierten Männer als verantwortungslose „Virenträger“ lässt sich allerdings weder aus Ottenthals Notizen zu seinen Syphilis- noch zu seinen Gonorrhöpatienten herauslesen. Somit bestätigt sich für diese frühe Zeit die von anderer Seite herausgearbeitete Tendenz527, die „Schuldfrage“ bezüglich möglicher Übertragungswege ganz auf weibliche Prostituierte bzw. auf Frauen zu konzentrieren, die durch ihren Lebenswandel von den politischen und religiösen Eliten mit Argusaugen beobachtet wurden, wie dies zumindest eine lokale Quelle aus dem Jahre 1860 nahelegt. In einem Schreiben an die Kreisbehörde in Bruneck vom 25. Jänner 1860 äußerte sich der Bezirksvorsteher von Taufers zu einem Streitfall zwischen Gemeinde und Behörde über die geplante Verschickung einer unehelichen Schwangeren in die „Gebäranstalt“ von Alle Laste, und er mahnte am Ende seines Schreibens strengere behördliche Maßnahmen ein, „weil der Hang von sehr vielen ledigen Mädchen zur Unzucht wirklich außerordentlich ist, u. sich daher erklären läßt, dass der Bezirk Taufers wegen der Unsittlichkeit der Mädchen (Gitschen) landbekannt wurde. Gerade jetzt müssen wieder sehr bedeutende Kosten ans Spital in Bruneck für Heilung syphilitischer Personen bezahlt werden.“528 Wie die geringe Zahl an Fallbeispielen zur Syphilis nahelegt, spiegelt sich das vom Bezirksvorsteher gezeichnete Bild eines allgemeinen Sittenverfalls 524 525 526 527
Hirsch, Lehrbuch, Bd. 2, 67. Vgl. Linse, Prozeß, 166. Zur Geschichte dieser Institution siehe Sauerteig, Krankheit, 89–125. Vgl. Eder, Kultur, 188–193. Köster zufolge konzentrierte sich die Stigmatisierung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auf weibliche Prostituierte und weniger auf deren männliche Kunden. Vgl. Köster, Geschlechtskrankheiten, 80–89. 528 ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 160/2, Nr. 181; I.a.8. „Schreiben des Bezirksvorstehers Taufers an die Kreisbehörde in Bruneck vom 25.1.1860.“
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
überhaupt nicht in den Krankenjournalen Ottenthals wider. Der Anteil der Geschlechtskrankheiten am gesamten Behandlungsspektrum war in dieser Praxis sehr gering, zumindest bei den Männern zwischen 14 und 25. Verirrten sich demnach schon sehr wenige jüngere Männer mit Syphilis oder Tripper in das Behandlungszimmer Ottenthals, wie sah es dann erst mit jenen Männern aus, die aufgrund exzessiven Masturbierens von einem allmählichen Verlust der Körperkräfte und einem langsamen Siechtum befallen waren? 3.3.4.1.2 Onanie, die „heimliche Sünde der Jugend“ Der Masturbation wurde seit dem im 17. Jahrhundert einsetzenden und dem im 18. Jahrhundert heftig geführten Diskurs eine wichtige Rolle bei den Erklärungsansätzen unterschiedlicher Krankheitsprozesse zugeschrieben.529 Die im ausgehenden 18. Jahrhundert zentral gewordene Symptomatik der „Nervenleiden“ fügte der langen Liste an Erkrankungen, die ihre Ursache in der langsamen Austrocknung des Körpers aufgrund des Samenverlusts zu haben schienen, eine Reihe von Krankheiten mit „nervöser“ Symptomatik hinzu.530 Epilepsien, Konvulsionen, Schwindsuchten oder Rückenmarksentzündungen wurden als Ergebnis jahrelanger körperlicher Ausschweifungen angesehen.531 Ansprechend aufbereitete Monographien über die Onanie wurden zu Welterfolgen mit unzähligen Auflagen und Erweiterungen, die in einer beispiellosen Popularisierungswelle die von Medizinern, Pädagogen und Theologen kontrovers debattierten Lehrmeinungen in die Bevölkerung trugen. Der durchschlagende Verkaufserfolg der Onanie-Bücher gründete sich auf eine gelungene Synthese penibler medizinischer Fallbeschreibungen, detaillierter Darstellungen sexueller Handlungen und schauerlicher Momentaufnahmen dahinsiechenden Lebens. Vor dem Hintergrund dieser „Erfolgsgeschichte“ der Anti-Onanie-Kampagnen ist es um so erstaunlicher, dass sich unter den über 2.000 Behandlungseinheiten, die Ottenthal in den 1860er Jahren innerhalb der Gruppe der Männer zwischen dem 14. und dem 45. Lebensjahr durchführte, lediglich fünf Fälle nachweisen lassen, in denen die Onanie oder nächtliche Pollutionen als mögliche Ursache einer Krankheit problematisiert wurden bzw. einen schriftlichen Niederschlag erfahren haben. Die überlieferten Fallgeschichten betrafen dabei erstaunlicherweise nicht die als hochgradig gefährdet angesehene Jugend, sondern allesamt Männer um die Mitte 20. Anders als man auf Grundlage der bisherigen Arbeiten zu dieser Thematik annehmen könnte, wurden diese speziellen sexuellen Aktivitäten auch nicht von den Patienten selbst angesprochen, obwohl diesen Männern durch die unübersehbare Zahl von publizierten Selbstzeugnissen gut strukturierte Anleitungstexte zur „kor529 Zur Geschichte des Onanie-Diskurses liegen mittlerweile mehrere Überblicksdarstellungen vor. Ich verweise daher auf Eder, Kultur, 91–127, Braun, Krankheit, und Stolberg, Homo patiens, 261–281. 530 Stolberg, Homo patiens, 268 f. 531 Mit Schwerpunkt auf die Tuberkulose vgl. dazu Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 61– 64.
3.3 Erwachsenwerden – Erwachsensein
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rekten“ Mitteilung verdächtiger Symptome zur Verfügung gestanden hätten. Vielmehr scheinen mögliche Akte der Masturbation auf Initiative Ottenthals im Zuge der Krankenanamnese erfragt worden zu sein. Leider ist ein direkter Nachweis, ob sich die wichtigsten Publikationen zur Onanie in Ottenthals Besitz befanden, durch die spätere Auflösung seiner Bibliothek nicht mehr möglich.532 Die zeitgenössisch vorherrschenden Lehrmeinungen zu diesem Gegenstand waren dem Arzt in Sand aber sicherlich geläufig. Er erkannte die Schwächezustände eines 26-jährigen Lappachers demnach auch sofort als unmittelbare Folge der häufig ausgeübten Onanie („strenuis onanista ut credo“533). Auch jene Rückenmarksentzündung, die einen 28-jährigen Mann aus dem fernen Antholz in die Praxis nach Sand getrieben hatte, rührte nach Ottenthals Auffassung zweifellos von der lange ausgeübten Praxis manuell herbeigeführter Samenergüsse her („ut videtur ex 14 annis a masturbatione laborat tabe dorsali“534). Im 19. Jahrhundert hatte sich das „onanistische Subjekt“535, das dem geschulten ärztlichen Blick den wahren Grund seines schwächlichen Körpers und seiner fahlen Augen nicht verheimlichen konnte, längst schon konstituiert. So gerieten auch junge Männer, die ausgezehrt und kraftlos in Ottenthals Praxis erschienen, in den Verdacht exzessiver onanistischer Aktivitäten, obwohl die sichtbaren Zeichen körperlichen Verfalls auf chronische Erkrankungen wie Tuberkulose oder auf Magenentzündungen zurückzuführen waren. Einer solchen Verdächtigung sah sich beispielsweise der 22-jährige Peter Enz* aus Luttach ausgesetzt, der sich im Oktober 1865 aufgrund eines Magenkatarrhs erstmals in die Behandlung Ottenthals begab.536 Der chronische Verlauf des Leidens führte jenen Mann während der nächsten beiden Jahre immer wieder zu Ottenthal, was diesen dennoch nicht davon abhielt, Magenkatarrh und Onanie zusammenzudenken. Denn als sich im Juni 1867 der Zustand des Mannes wiederum verschlechtert hatte, vermutete Ottenthal die Onanie als eigentlichen Auslöser („timeo onaniam“).537 Offenbar erregte das durch den langwierigen Krankheitsverlauf abgezehrte und als „taciturnissimus longus tenuis“538 beschriebene Erscheinungsbild des jungen Mannes den Argwohn des Arztes. Aufgrund der knappen, meist stichwortartig gehaltenen Aufschreibepraxis von Ottenthal liegt es letztlich im Ermessen des oder der Auswertenden, die entsprechenden Passagen als persönliche „Beichte“ des Patienten zu deuten. Mir scheint die Verwendung der ersten Person in den Krankenprotokollen allerdings doch Ausdruck dafür zu sein, dass Ottenthal hier seine persönlichen 532 Zur ehemaligen Bibliothek Ottenthal vgl. Taddei, Ottenthal, 132, Anm. 417, sowie die Liste des noch in Neumelans befindlichen Restbestands, Anhang 4, 280–290. 533 HM 102/1869, Eintrag vom 14.1.1869. 534 HM 1256/1867, Eintrag vom 18.10.1867. 535 Eder, Kultur, 103. 536 HM 1323/1865, 735/1867, 886/1867, 1039/1867, hier der Eintrag vom 21.10.1865. 537 HM 886/1867, Eintrag vom 7.6.1867. 538 („überaus schweigsam hochgewachsen schmächtig“). HM 886/1867, Eintrag vom 4.6.1867.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Schlussfolgerungen zur Krankheitsdeutung notiert hat. Meine Vermutung geht sogar dahin, dass Ottenthal in den meisten Fällen seinen Verdacht den betroffenene Patienten gegenüber gar nicht geäußert hat. Mit dieser Haltung stand der Allgemeinarzt Franz v. Ottenthal in völligem Gegensatz zu seinen homöopathischen Kollegen wie Hahnemann oder Bönninghausen, die von ihren Patienten ausdrücklich eine korrekte und detaillierte Auflistung aller körperlicher Veränderungen und „die Säfte beeinflussenden“ Tätigkeiten forderten. Auswertungen entsprechender Praxisjournale von Homöopathen zeigten, dass ihnen die Patienten derartig intime Aktivitäten meist freimütig mitteilten.539 Wie Franz Eder oder Michael Stolberg in ihren Untersuchungen ausführlich dargelegt haben,540 konnten die schädlichen und krankmachenden Folgen der Onanie erst durch spezifische Kommunikationsformen wie publizierte „Bekennerschreiben“, medizinische Fallsammlungen oder pädagogische Aufklärungskampagnen einem breiteren Personenkreis „enthüllt“ werden. Durch die Rezeption dieser populären Fallsammlungen nahmen sich die Verfasser und Verfasserinnen von Geständnisberichten zunehmend selbst in den stark typisierten Kategorien des „Onanisten“ oder der „Onanistin“ wahr und rekonstruierten ihre individuellen Leidens- und Krankengeschichten entlang dieser Selbstzeugnisse. Die geringe Zahl an „Selbstanklagen“ in den Historiae Morborum legt jedoch nahe, diese Einschätzung schichtspezifisch zu differenzieren. Demnach schienen es überwiegend literarisierte Männer und Frauen der gesellschaftlichen Oberschichten gewesen zu sein, die das Sammelsurium aus Selbstzeugnissen und medizinisch-moraltheologischen Erläuterungen zur Onanie reflexiv auf ihre persönliche Gesundheitslage übertragen konnten.541 In ländlichen Regionen des 19. Jahrhunderts wie dem Tauferer Ahrntal dürfte allein schon die Beschaffung von Büchern einschlägigen Inhalts die Mehrheit der überwiegend klein- und unterbäuerlichen Schichten vor größere Probleme gestellt haben. Die Krankengeschichte eines Hilfspriesters ist im untersuchten Zeitraum zwischen 1860 und 1869 bezeichnenderweise auch der einzige Beleg, in dem ein jüngerer Mann seine körperlichen Leiden von sich aus auf vorangegangene „Selbstbefleckung“ bezieht.542 „Timet tabem dorsalem“, notiert Ottenthal 539 Zu Bönninghausen vgl. Baschin, Homöopathen, 220; zu einem Patienten Hahnemanns vgl. Dinges, Männlichkeitskonstruktion, 106–122. 540 Eder, Kultur, 91–127; Stolberg, Homo patiens, 270–281. 541 Für Franz Eder war das (männliche) Bildungsbürgertum denn auch der eigentliche Träger der Diskurse über die Onanie. Vgl. Eder, Kultur, 109. An dieser generellen Einschätzung ändert meines Erachtens der von Martin Dinges beispielhaft analysierte Fall des Kantors Schusters, der sich 1831 in die Behandlung Samuel Hahnemanns begab, nur wenig. Dieser gehörte als Kantor zwar nicht zur bürgerlichen Elite, dürfte aber dennoch der lese- und schreibkundigen Schicht des Kleinbürgertums zuzurechnen sein. Kenntnisse in Lesen und Schreiben waren eine notwendige Voraussetzung für eine Behandlung durch Hahnemann, der von seinen Patientinnen und Patienten ja erwartete, dass sie sein „Organon“ lesen (oder zumindest kaufen) mussten. Vgl. Dinges, Männlichkeitskonstruktion, 105 f. So überrascht es nicht, dass Unterschichten in dieser homöopathischen Praxis deutlich unterrepräsentiert waren. Vgl. Jütte, Patientenschaft, 33 f. 542 Hier und für die folgenden Zitate: HM 1140/1862 und HM 658/1863.
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am 2. November 1862 in sein Journal, als der 25-jährige Hilfspriester nach einem Ohnmachtsanfall in der Kirche seine ärztliche Hilfe suchte. Anfänglich führte Ottenthal diese Ohnmachten noch auf die stickige Luft in der übervollen Kirche zurück, doch nach mehreren weiteren Konsultationen hatte er den scheinbar wahren Grund für das Übel herausgefunden. „26 ann onanista timet tabem dorsalem“, so lautete schließlich das nunmehr ergänzte Krankenprotokoll vom 19. Juni 1863. Offenbar war nach einem halben Jahr in Behandlung das erforderliche Klima geschaffen worden, um dieses heikle Thema in der Sprechstunde zu problematisieren. Sicherlich erfuhr der Priester im Zuge seiner Ausbildung von den schädlichen Auswirkungen der Onanie auf Körper und Seele. Es wäre überaus verwunderlich, wenn er in einem dermaßen homosozialen Raum wie einem Priesterseminar, wo junge Männer über längere Zeit gemeinsam zusammenlebten, und strenge Kontrolle und Disziplinierung den Alltag bestimmten, nicht in irgendeiner Form mit dieser „Tatsache des Lebens“543 in Berührung gekommen wäre. Verführung und Nachahmungstrieb galten als hauptverantwortlich für das epidemische Auftreten dieses „Lasters“ gerade in derartigen Institutionen, wie in zahlreichen medizinischen Handbüchern nachzulesen war. „Es kommt desshalb die Onanie bei Kindern, welche in Instituten erzogen werden, viel häufiger vor, als bei solchen, die in der Familie bleiben können“544, hieß es beispielsweise 1894 in einem Lehrbuch. Und nicht zuletzt wurden einige anti-onanistische Schriften speziell für die Aufklärung der Jugend in entsprechenden Erziehungseinrichtungen geschrieben, wobei in nachgestellten Dialogen zwischen Erzieher und Zögling die Anleitung zur Führung dieser intimen Gespräche quasi gleich mitgeliefert wurde.545 Zumindest der Priester aus dem Tauferer Ahrntal hatte im Zuge seiner Ausbildung den Onanie-Diskurs verinnerlicht und die auftretende Rückenmarksentzündung als Folge seines gesundheitsschädigenden Handelns imaginiert. Warum aber hinterließen die Anti-Onanie-Kampagnen, die laut Stolberg „als beispielhaft für eine erfolgreiche Popularisierung medizinischen Wissens“546 gelten, in den Krankengeschichten der 14 bis 45-jährigen Männer im Tauferer Ahrntal dermaßen wenig Spuren? Aufgrund des hohen Heiratsalters und der für Unterschichten rigiden Heiratsbeschränkungen blieb ein hoher Anteil der jungen männlichen Talbevölkerung bis über ihr drittes Lebensjahrzehnt hinaus ledig,547 so dass es für viele aus dieser Gesellschaftsschicht 543 So der Titel des fünften Bandes über den Mythos vom Zivilisationsprozess von Hans Peter Duerr. Duerr, Tatsachen. 544 Biedert, Lehrbuch, 523. 545 Vgl. dazu das angeführte Beispiel aus dem 1793 erschienenen Ratgeber von Friedrich Rehm bei Eder, Kultur, 121 f. 546 Stolberg, Homo patiens, 271. 547 Vgl. die Übersicht zu den altersspezifischen Ledigenquoten in den Tiroler Bezirken um 1880 bei Mantl, Heirat, 45 (Tab. 4.1). Laut den Berechnungen von Irschara betrug das durchschnittliche Heiratsalter bei Erstehen bei den Männern im Zeitraum von 1851 bis 1875 35,3 Jahre. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, Bd. 2, 13 (Tab. 13). Vgl. allgemein zu Österreich auch Ehmer, Heiratsverhalten, 120–135.
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unmöglich war, die in der zeitgenössischen Medizin geforderte maßvolle Befriedigung des Geschlechtstriebes auf dem üblichen Wege, nämlich in einer ehelichen Verbindung, zu erreichen. Hier konnte die Ersatzbefriedigung „per manem“ schnell Abhilfe schaffen. Hätten sich demnach die Männer vor dem Arzt nicht viel häufiger als Onanisten „outen“ müssen, damit dieser dem langsamen Dahinschwinden der physischen und psychischen Kräfte Einhalt gebieten konnte? Eine erste Erklärung wäre, in Franz v. Ottenthal den Vertreter einer fortschrittlichen Auffassung bezüglich der krankheitsauslösenden Momente onanistischer Aktivitäten zu sehen. Ein „Bekenntnis“ des Patienten zur Onanie und ein Festhalten derartiger Ausschweifungen im Krankenprotokoll wären somit aus ärztlicher Sicht nicht relevant für den Krankheitsverlauf gewesen. Diese Vermutung widerlegen aber jene Stellen in Ottenthals Aufzeichnungen, in denen er wie soeben ausgeführt explizit seine Befürchtungen über den maßgeblichen Anteil der Onanie an Entstehung und Verlauf einer Krankheit zum Ausdruck brachte. Ebenfalls höchst unwahrscheinlich dürfte die Vermutung sein, die Männer im Tauferer Ahrntal der 1860er Jahre wären allesamt keusche Jünglinge gewesen, die im Gegensatz zu den meisten ihrer Altersgenossen in anderen Ländern nie Hand an sich selbst gelegt hätten. Es war wohl kaum das in den Aufklärungsschriften idealisiert dargestellte „reine Wesen“ der ländlichen Jugend, das sie vor dem sicheren körperlichen und seelischen Verfall bewahrte. Nun vertrat zwar ein hessischer Pfarrer um 1790 tatsächlich die Auffassung, die Onanie als Zeichen der Wollust wäre auf dem Land ungleich seltener anzutreffen als in den Städten.548 Und auch der Stadtarzt von St. Gallen begründete im Jahre 1792 das Scheitern seiner für die Landbevölkerung konzipierten „Mission gegen die Selbstbefleckung“ damit, dass die Menschen dort eben nichts von diesem Laster wüssten.549 Abgesehen davon, dass sich zahlreiche Gegenbelege zu dieser Behauptung finden lassen,550 widersprechen auch spätere soziologische Untersuchungen dieser Einschätzung. Wie Alfred Kinsey in den 1940er Jahren für US-amerikanische Männer zeigen konnte, fanden sich statistisch gesehen masturbierende Jugendliche nahezu gleich häufig in der ländlichen wie in der städtischen Bevölkerung, wenn auch mit zunehmendem Bildungsgrad die Werte bei den städtischen Jungen etwas höher ausfielen.551 Vermutlich wusste die Landbevölkerung von St. Gallen um 1790 mit dem bildungsbürgerlichen Diskurs um die Schädlichkeit der Onanie und den verwendeten Termini aus der medizinischen Fachsprache nur wenig anzufangen. Vielleicht hinderten aber die im vorigen Abschnitt erwähnten Schamgrenzen die jungen Männer daran, ausgerechnet einem bürgerlichen Arzt dermaßen intime Details zu berichten. Denn dass diese mit den simplen „Tatsachen“ an 548 Eder, Kultur, 107 f. 549 Eder, Kultur, 120. 550 So etwa bei Duerr, Tatsachen, 225–254, der allerdings vornehmlich auf die weibliche Masturbation eingeht. 551 Kinsey, Verhalten, 399 f.
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sich nicht vertraut gewesen wäre, ist höchst unwahrscheinlich, wie ein Blick auf den sogenannten „Volksmund“ zeigt. So wurden im 19. Jahrhundert in deutschen Spinnstuben zu später Stunde Lieder wie das Folgende gesungen, welches (hier die weibliche) Masturbation sehr wohl thematisierte: „Sie setzt sich auf die Mauer / und macht den Bi-Ba-Bauer / das sind brave Leut, / bei Sommer- und bei Winterzeit / Viderialala, riala, riariarallala!“552 Die plausibelste Erklärung, warum sich dermaßen wenige onanistische Bekenntnisse in den Krankengeschichten Franz v. Ottenthals der 1860er Jahre finden lassen, liegt vermutlich in der Dominanz des Katholizismus in Tirol, der weite Bereiche des Alltagslebens der Bevölkerung durchdrang. So dürfte der Großteil der Ortsgeistlichen im Tal peinlich genau darauf geschaut haben, dass anti-onanistisches Schrifttum weder im Schulunterricht auftauchte noch versteckt daheim in den Schlafstuben gelesen werden konnte, so ein solches Lektüreangebot einer Mehrheit der Jugendlichen im Tal denn überhaupt zugänglich gewesen war. Auch die bereits angedeutete verbreitete Illiterarität weiter Teile der Talbevölkerung „schützte“ davor, sich allzu sehr in die medizinisch-pädagogische Literatur zu vertiefen. Auf diesem Wege konnte das „onanistische Subjekt“ (Franz Eder) demnach nicht angeeignet werden, womit nur noch entsprechende moralische Belehrungen in den katholisch geführten Sonntagsschulen für eine „Popularisierung“ in Betrachtung kamen. Dieser Diskurs wurde jedoch in der Sprache von Laster und Sünde geführt und weniger in jener von Gesundheit und Krankheit – womit das Sprechen darüber in das Ohr eines Seelsorgers und nicht in das eines Arztes gehörte. Somit nährte das priesterliche Reden über die Onanie als sündhaftes Laster bei den jungen Männern zwar stetig das Gefühl der moralischen Verwerflichkeit. Gleichzeitig dürfte ihnen aber das pathologische Heranzüchten eines Bewusstseins über die angeblich gesundheitsschädigenden Folgen dieses Treibens mangels adäquater populärmedizinischer „Diskursträger“ erspart geblieben sein. 3.3.4.1.3 Die „stumme Sünde“ des mann-männlichen Begehrens Im hier ausgewählten Sample der Krankenjournale von 1860 bis 1869 sind keine Hinweise auf mann-männliche sexuelle Kontakte überliefert. Dieser empirische Befund auf Grundlage von ärztlichen Praxisaufzeichnungen bedeutet allerdings nicht, dass nicht der eine oder andere Mann aus dieser Region seine Begierden auf entsprechende Weise zu stillen wusste. Denn generell ist eine wachsende wissenschaftliche Beschäftigung mit sexuellen Verhaltensweisen, die erst 1869 unter dem heute gebräuchlichen Begriff der „Homosexualität“ subsumiert wurden553, durch Psychiatrie, Medizin und Sexualwissenschaften erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu beobachten.554 Im Gegensatz zu den Debatten um die gesundheitsschädigenden Folgen der Onanie 552 Liedtext entnommen aus: Duerr, Tatsachen, 238. 553 Dieser Terminus wurde erstmals vom deutsch-ungarischen Schriftsteller Karl Kertbeny verwendet. Vgl. Eder, Homosexualitäten, 28. 554 Hier sei nur auf zwei zentrale Publikationen verwiesen. Schmersahl, Medizin, hier v. a. 39–113, sowie Mildenberger, Richtung.
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dürfte Franz v. Ottenthal die Einstufung gleichgeschlechtlicher sexueller Aktivitäten als „medizinische Fälle“ bis hin zur Pathologisierung mann-männlicher Sexualität daher in den 1860er Jahren nicht in den Sinn gekommen sein. Soweit ich dies überblicke, sind in seiner gesamten über 50 Jahre währenden Praxis als Arzt in den Krankenjournalen nur zwei Belege unter seinen männlichen Patienten aufzufinden, die in eine entsprechende Richtung hin gedeutet werden können. Allerdings beziehen sich jene zwei Fälle, für die Ottenthal die älteren Begriffe „Sodomit“ und „Päderast“ verwendet, ausschließlich auf den sexuellen Missbrauch von männlichen (Klein-)Kindern durch andere Männer und dürfen daher keinesfalls mit gleichgeschlechtlichem Begehren gleichgesetzt werden.555 Vielmehr hatten die bestehende repressive strafrechtliche Verfolgung durch die Justiz und die bereits angesprochene unwidersprochene Dominanz der katholischen Morallehre wohl ein Klima des Stillschweigens erzeugt, so dass derartige sexuelle Handlungen als „unaussprechliche Sünde“556 bestenfalls im relativ geschützten Raum eines Beichtstuhls verhandelt wurden. Mit einer Anklage gemäß dem damals in Österreich gültigen Paragraphen 129 Ib557 musste freilich jederzeit gerechnet werden, sofern man bei gleichgeschlechtlicher Betätigung ertappt und den Behörden gemeldet wurde. Diese Erfahrung machte etwa Anfang der 1860er Jahre der 1846 geborene Johann Volgger* aus Gais am eigenen Leib. Wie aus einem kurzen, im Staatsarchiv in Bozen überlieferten Briefwechsel zwischen dem Bezirksamt und der Strafanstalt Stein hervorgeht, war der als Viehhüter angestellte Volker* am 27. April 1864 wegen „Unzucht wider die Natur“ sowie weiterer Sexualdelikte vom Kreisgericht Bozen zu zwei Jahren Arrest verurteilt worden.558 Leider gibt dieses Aktenstück keinerlei Auskunft über die näheren Umstände dieser als Straftat eingestuften Handlungen. Wie Forschungen zur Geschichte der „Homosexualitäten“ in den letzten Jahren jedoch gezeigt haben, boten im ländlichen Raum die meist mit mehreren Personen belegten Dienstbotenkammern reichlich Gelegenheit zu sexuellen Kontakten.559 Nicht selten mussten sich aus Platzgründen Knechte eines bäuerlichen Betriebes zu zweit ein Bett teilen, was die Aufnahme sexueller Aktivitäten erleichterte. Eine Passage in den Lebenserinnerungen des Osttirolers Richard Pucher über seine Erlebnisse als lediges Häuslerkind in fremden Diensten verdeutlicht dabei, dass viele dieser Kontakte schlichtweg als sexuelle Übergriffe dienstälterer Knechte an neu an den Hof kommende Hüterbuben aufzufassen sind. Pucher schildert die nächtlichen Begebenheiten in der mit drei Dienstboten belegten 555 [„Puer 3 ann. a Sodomita in praeputerio laesus est“]. HM 187/1859, Eintrag vom 2.2.1859; [„6 ann. laborat in pene vulnere verosimiliter a paederaste“]. HM 946/1855, Eintrag vom 4.8.1855. 556 Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen mann-männlichen Begehrens durch die Jahrhunderte vgl. Hekma, Verfolgung, 311–341. 557 Zur Geschichte der strafrechtlichen Paragraphen in Österreich vgl. Graupner, Unzucht. 558 ASBz, BA Taufers 1866, Bündel 164/2; I.a.25/1866. 559 Siehe hier v. a. Schlatter, Neigung, 307–316.
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Kammer folgendermaßen: „War es an einem Abend der eine, war es einige Tage später der andere, der versuchte, mich in sein Bett zu locken, unter seine Decke.“560 Auch 1932 berichtete ein bei einem Vorarlberger Bauern als landwirtschaftliche Hilfskraft angestellter 16-jähriger Bursche im Zuge seiner polizeilichen Einvernahme, wie er an einem verregneten Sonntag einmal in seinem Bett ein Bilderbuch betrachtete. Als der 30-jährige Knecht des Bauernhofes, mit dem er die Schlafkammer teilte, ins Zimmer kam, setzte sich dieser unvermutet ans Bett und griff an das Geschlechtsteil des Jungen. „[S]chliesslich griff er mir auch unter die Bettdecke, öffnete meinen Hosenladen, andem [sic] allerdings schon einige Knöpfe fehlten und ergriff meinen Geschlechtsteil, den er derart zusammendrückte, dass ich heftige Schmerzen hatte.“561 Vermutlich müssen die fehlenden Zeugnisse gleichgeschlechtlichen Begehrens in den Krankenakten Ottenthals auch in Zusammenhang mit seiner in den 1860er Jahren noch nicht ausgeübten Funktion als Gerichtsarzt gesehen werden. Üblicherweise fiel die Begutachtung von körperlichen Schädigungen durch derartige Handlungen in den Aufgabenbereich des Gerichtsarztes, so sie denn den Behörden überhaupt zu Ohren gekommen waren. Dies geschah etwa im Fall eines Jungen aus St. Jakob, nachdem dessen Mutter Ende November 1863 in die Amtsstube des damaligen Bezirksvorstehers Maximilian Tribus gestürmt war.562 Dort zeigte sie die überhand nehmenden Missstände auf einem Bauernhof, wo die Eltern ihren Sohn als Hüterbuben untergebracht hatten, sowie die gewalttätigen Übergriffe des dortigen Altknechts gegenüber dem Jungen an und forderte die sofortige Auflösung des Dienstvertrags. In der daraufhin anberaumten Zeugenvernehmung kam das schreckliche Martyrium, welches der Bub vor allem während eines mehrtägigen Aufenthaltes auf einer Alm erdulden musste, ans Tageslicht. Die Zeugenaussagen benennen eine sexuelle Missbrauchshandlung zwar nicht direkt beim Namen, legen eine solche Tat jedoch nahe. Ein Bauer, der bei der anfallenden Heumahd mitgeholfen hatte, äußerte sich mit folgenden Worten zu den Vorfällen: „Des Tags verrichteten wir unsere Arbeit, u. Nachts brachten wir alle unter einem sogenannten Klapf [= überdachtes Gebäude zum Trocknen von Getreide und Gras, A. U.563] im Freien zu; des Nachts hörte ich nun allerdings ein oder zweimal v. dem Burschen Peter Kofler* ein Schreien, Weinen u. Aufbegehren; was aber die Veranlassung war, das kann ich nicht sagen, weil es ganz finster war und weil derselbe etwas von mir entfernt lag.“ Ein 18-jähriger Bauernsohn, der gemeinsam mit seinem Vater ebenfalls für die anstehenden Arbeiten auf der Alm angestellt worden war, schilderte im Zuge seiner Einvernahme, dass der Junge sogar einmal „nach einem solchen Auftritte“ zu ihnen geflüchtet und sich zwischen ihm und seinen Vater gelegt hatte. Der beschuldigte Knecht wurde schließlich zu acht Tagen strengem Arrest verurteilt, und die 560 Ortmayr, Knechte, 128. 561 TLA, Landesgericht Innsbruck, Vr-Akten 1932, Akt 1463/22, Fol. 9. 562 Hier und die folgenden Zitate: ASBz, BA Taufers 1863, Bündel 156/2; Akt Nr. 286; I.c.68/1863. 563 Wopfner, Bergbauernbuch, Bd. 3, 151–153.
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Oberbehörde in Innsbruck ermahnte Tribus, auch den lange Zeit tatenlos zusehenden Besitzer des betreffenden Hofes gebührend in die Pflicht zu nehmen. In diesen geschilderten Fällen führten eindeutig die Ausnutzung von Machtverhältnissen und Hierarchien in der Rangordnung der männlichen Dienstboten zu gewaltsamen Übergriffen und traumatischen Erlebnissen bei den betroffenen Jungen. Dennoch muss zu Polizeiberichten, Zeugeneinvernahmen oder Aussagen vor Gericht als Quellen zur Geschichte mann-männlichen Begehrens kritisch angemerkt werden, dass die dort protokollierten sexuellen Handlungen zwischen Männern nahezu immer als Übergriffe, als nicht freiwillig oder als „im Rausch“ erfolgte Taten geschildert wurden. Die Männer waren als Beschuldigte daran interessiert, sich so gut es ging als Verführte darzustellen und den eigenen Anteil am Zustandekommen dieser „Vergehen“ so gering als möglich darzustellen.564 Trotz dieser Quellenkritik belegen die vorgestellten Fälle, dass sexuelle Handlungen zwischen Männern in Dienstbotenkammern bis in das 20. Jahrhundert hinein keine Seltenheit waren und zur Alltagserfahrung vieler Jugendlicher und junger Männer gehörten. Ralf Schlatter fand in den von ihm herangezogenen Quellen derartig viele Belege, dass er das Unterhalten regelrechter „Schlafstubenbeziehungen“ von jungen unverheirateten Dienstboten oder Gesellen für das 19. Jahrhundert als allgemein verbreitet ansieht.565 Viele dieser „Beziehungen“ sind zweifellos als Ausnutzung einer hierarchischen Rangordnung durch Ältere und somit als Missbrauch einzustufen. Nicht wenige dieser gleichgeschlechtlichen Sexualkontakte dürften jedoch auch auf freiwilliger Basis erfolgt sein. Denn natürlich kam es in den Schlafstuben, Heustadeln, Holzschuppen und bei gemeinsamen Arbeiten im Wald vielfach zu sexuellen Kontakten zwischen Männern, die im beiderseitigen Einverständnis erfolgten. Ein derartiges Aushandeln mannmännlicher Sexualität konnte nur in den seltensten Fällen einen Niederschlag in ärztliche Krankenjournale wie jenen des Franz v. Ottenthal finden. Im Nordtiroler Telfs des Jahres 1932 etwa trafen ein 20-jähriger Knecht und ein 17-jähriger Bauernsohn das einvernehmliche Arrangement, sich gelegentlich in der Schlafkammer des Knechts einzufinden und ihren sexuellen Begierden freien Lauf zu lassen.566 Wäre der ältere Knecht nicht ein Jahr später durch den abermaligen Versuch der Aufnahme sexueller Kontakte zu jungen Männern ins Visier der örtlichen Gendarmerie geraten und einvernommen worden, hätten sich überhaupt keine schriftlichen Zeugnisse über diese Form der Beziehung erhalten.
564 Vgl. dazu ausführlich Unterkircher, Glied, 63. Dort auch weitere aktenkundig gewordene Beispiele aus dem Tirol des Jahres 1932. 565 Schlatter, Neigung, 315. 566 Das Protokoll des Gendarmeriebeamten vermerkt dazu: „Jäger* sei in weiterer Folge noch 3 mal mit Kirchebner* in dessen Schlafkammer zusammengekommen und haben sie sich dabei stets gegenseitig mit der Hand befriedigt.“ TLA, Landesgericht Innsbruck, Vr-Akten 1932, Akt 1599/32, Fol. 22.
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Für junge, ledige Männer aus der ländlichen Unterschicht stellten diese ausgehandelten Arrangements eine der wenigen Möglichkeiten dar, ihr sexuelles Verlangen mit einem Partner zu befriedigen. Vor allem Männer aus den klein- und unterbäuerlichen Schichten hatten weder die Gelegenheit zum Besuch städtischer Bordelle noch verfügten sie über ausreichend finanzielle Möglichkeiten, Prostituierte auf längere Sicht hin entlohnen zu können. Unbestritten dürfte sein, dass die strafrechtliche und die gesellschaftlich-moralische Verfolgung mann-männlicher Sexualität sowie das Stillschweigen darüber heranwachsenden Männern weder im Tauferer Ahrntal noch in anderen Tiroler Tälern des 19. Jahrhunderts dabei half, die eigene Körperlichkeit schuldfrei zu entdecken.567 Vielmehr waren Männer mit zunehmendem Alter immer mehr zur Übernahme eines Männlichkeitsmodells gezwungen, das mann-männliche Sexualität marginalisierte und zunehmend pathologisierte.568 Unzählige Männer bezahlten die Durchsetzung dieses hegemonialen Männlichkeitsbildes im 20. Jahrhundert mit Zwangssterilisation, Diskriminierung und Verfolgung bis hin zur Vernichtung in Konzentrationslagern.569 Zu Beginn dieses vierten Kapitels wurde der US-amerikanische Pädagoge Robert Havighurst zitiert, der in den 1940er Jahren das Akzeptieren des Körpers nach den Veränderungen der Pubertät und die Aneignung der eigenen Sexualität als zentrale Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenen bestimmt hat. Die Pubertät stellt folglich eine Phase dar, in der Jungen und Mädchen ihren Körper entdecken, damit experimentieren und diesen etwa durch Körpertraining bewusst gestalten und stilisieren. Von Seite der geschlechtsspezifischen Jugendgesundheitsforschung werden die neuen Möglichkeiten zur Entfaltung sexueller Aktivitäten für die Jungen dabei in Analogie zu den herrschenden Geschlechterverhältnissen „als Zuwachs an Männlichkeit und auch an Handlungsmöglichkeiten“570 gesehen. In der gendersensiblen Sozialisationsforschung herrscht demnach ein breiter Konsens darüber, dass diese für beide Geschlechter unterschiedlichen Rollenanforderungen Jungen eher zum „Riskieren des Körpers“ aufmuntern, Mädchen hingegen eher zur „Sorge um den Körper“.571 Vor diesem Hintergrund hätte man hinsichtlich der Gruppe der männlichen Jugendlichen und jüngeren Männer von 14 bis 25 annehmen müssen, dass sich in den Krankengeschichten Ottenthals zahlreiche Belege finden ließen, in denen die Themen Körperlichkeit und Sexualität aufgegriffen wurden. Diese Annahme sollte am Beispiel der Problematisierung von den gesundheitlichen Auswirkungen sexueller Praktiken, etwa in Bezug auf die Onanie oder in Bezug auf die Gefährdungen durch Geschlechtskrankheiten, überprüft wer567 Zu den Auswirkungen des „Homosexualitätstabus“ auf die männliche Sozialisation siehe aus soziologischer Perspektive Böhnisch/Winter, Sozialisation, 72–75; Connell, Mann, 165–184. 568 Vgl. Eder, Kultur, 151–169. 569 Dazu etwa die Einleitung bei Eder, Homosexualitäten, 15–23. 570 Stein-Hilbers, Konstruktion, 94. 571 Vgl. Meuser, Frauenkörper, 281–283.
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den. Wie die vorherigen Ausführungen gezeigt haben, schlugen sich mögliche Gesundheitsgefährdungen und tatsächliche Krankheitserfahrungen, die um Bereiche des Entdeckens des Körpers und sexueller Aktivitäten kreisten, in den Krankenjournalen der 1860er Jahre allerdings nur marginal nieder. Im Falle von Geschlechtskrankheiten mag diese geringe Zahl zum Teil mit dem niederen Alter der untersuchten Gruppe zu erklären sein, die vermutlich noch nicht zu den sexuell aktivsten Bevölkerungsteilen gehört hatte. Auch bei bestimmten streng tabuisierten sexuellen Praktiken wie gleichgeschlechtlichen Kontakten ist dieser Befund nicht verwunderlich. Er erstaunt aber in Hinblick auf die überaus geringe Thematisierung onanistischer Aktivitäten, denn in Anbetracht der allseits gegenwärtigen Anti-Onanie-Kampagnen hätte man sich doch erwartet, dass die Erwähnung dementsprechender Handlungen ungleich öfter Eingang in die Krankenaufzeichnungen Franz v. Ottenthals gefunden haben müsste. Wenn gesundheitsschädliche Aspekte sexueller Handlungen in den ärztlichen Blick geraten waren, dann betraf dies weniger männliche Jugendliche in den unteren Altersgruppen als nahezu ausschließlich jüngere männliche Erwachsene ab dem 20. Lebensjahr. Dieser Befund passt nun aber so gar nicht in das seit der Aufklärung propagierte Bild einer triebhaften Unbeherrschtheit junger Männer, die in Kombination mit den Verwirrungen in der Pubertätsphase zahlreichen Krankheiten und Gesundheitsrisiken eine willkommene Eingangspforte geboten hätte.572 Als eine jener Institutionen, die eben diesen angeblich hitzigen Übermut junger Männer zu kühlen vermochte, galt im 19. Jahrhundert zunehmend das Militär. In der Enge des Kasernenhofes erfuhr der männliche Körper Drill, Abhärtung und „Stählung“, wurde er für das Überschreiten von Körpergrenzen und für das Negieren von Schmerz trainiert. Diese „männlich-kriegerische Sozialisation“573 festigte ein Leitbild von Männlichkeit, das geprägt war von Kraft, Belastbarkeit und Härte. Paradoxerweise konnte die eingeforderte und eingeübte Distanz zum eigenen Körper im militärischen Ernstfall eines Krieges das Leben durchaus schützen, im zivilen Leben zugleich aber zu einem wenig gesundheitsförderlichen Rollenmuster werden, wenn körperliche und seelische Problemsituationen auftraten. Die geschlechtsspezifische Gesundheitsforschung betont immer wieder den Zusammenhang zwischen einem Männlichkeitsbild, das die Verdrängung von Schmerz zum Ideal erhebt und die Sorge um den Körper überwiegend weiblich besetzt, und dem augenblicklich bestehenden geringeren Inanspruchnahmeverhalten medizinischer Dienstleistungen durch Männer.574 Aus historischer Perspektive hielt das soldatische Leben nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in Friedenszeiten vielfache Gesundheitsrisiken bereit. Trotz aller Abhärtungen blieb der Körper eines Soldaten verletzlich. Im nächsten Abschnitt soll daher auf Grundlage der Krankenjournale von 1860 bis 1869 untersucht werden, inwiefern die Phase des Präsenzdienstes bei der k. (u.) k. Armee für die Alters572 Vgl. Dinges, Jungen, 97 f. 573 Frevert, Militär, 153. 574 Vgl. Böhnisch, Sozialisation, 192–200.
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gruppe der männlichen Erwachsenen zwischen dem 25. und 45. Lebensjahr von spezifischen Gesundheitsgefährdungen begleitet wurde, und ob in den Krankenjournalen Franz v. Ottenthals die verletzliche Seite des Soldatenkörpers zum Thema geworden ist. 3.3.4.2 Verletzliche Männerkörper II: Soldaten und die „militärische Männlichkeit“ Der seit Beginn des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas gegen teilweise massive Widerstände des Adels und des Bürgertums durchgesetzten Wehrpflicht575 für alle männlichen Untertanen wird von der Männer- und Geschlechtergeschichte eine herausragende Bedeutung für die Verbreitung eines hegemonialen Modells von Männlichkeit zugesprochen.576 Die Militarisierung des Mannes war nicht nur für eine effektive Verteidigung des Staates und zur kriegerischen Durchsetzung von Staatsinteressen ausschlaggebend, sondern sollte auch dem bis dato im deutschsprachigen Raum ungewohnten „Konstrukt“ der Nation und der (rechtlich vorerst den Männern vorbehaltenen) Staatsbürgerschaft eine Basis verleihen. Ute Frevert, die sich in mehreren Arbeiten am Beispiel Preußens mit den Auswirkungen des Modells der Allgemeinen Wehrpflicht auf die Neuordnung des männlichen Geschlechtscharakters beschäftigt hat, spricht dieser Institution für die Konstituierung einer spezifischen Männlichkeit zentrale Bedeutung zu. „Sie universalisierte die Funktion des Mannes als Krieger“577, resümiert Frevert und holt weiter aus, dass erst durch diese spezifische Form der Wehrverfassung der heldenhafte Tod für das Vaterland zur Ehre und gleichzeitig zur Pflicht eines jeden männlichen Staatsbürgers erhoben werden konnte – eine Hypothese, die Bernhard Schmitt mit seiner vergleichenden Studie zur praktischen Umsetzung dieser Rekrutierungssysteme in Preußen und der Habsburgermonarchie bestätigt hat. „Aus dem als Lohnarbeit betriebenen Waffenhandwerk wurde ein an Werte gekoppelter Dienst an der – bürgerlichen – Gesellschaft.“578 Eine hegemoniale Position konnte dieses Ideal deshalb einnehmen, weil durch die Vereinheitlichung der lange unterschiedlich gehandhabten Praxis der Heeresergänzung grundsätzlich alle Männer ungeachtet ihrer geographischen und sozialen Herkunft dieselben „typisch männlichen“ Tugenden vermittelt bekamen und dasselbe Bild von Männlichkeit internalisieren mussten, um sowohl bei der Militärführung als auch bei den Kameraden als „richtiger Mann“ zu gelten. Allerdings konnte Schmitt zeigen, dass sich diese am Beispiel Preußens sehr schlüssig herausgearbeiteten Tendenzen zur Hegemonialisierung einer spezifischen Männlichkeit nicht unumschränkt auf die Gebiete der österreichischen Monarchie übertragen lassen. Schon allein die verwirrende Vielzahl der 575 Zu den verschiedenen Interessensgruppen vgl. Frevert, Soldaten, 74 f., und Schmitt, Armee, 78 f. 576 Vgl. dazu etwa den Überblick von Schmale, Geschichte, 195–203. 577 Frevert, Soldaten, 81. 578 Schmitt, Armee, 69.
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für etliche Kronländer geltenden Sonderrechte zur Ergänzung der k. (u.) k. Armee mit ihren jeweiligen Landessöhnen stand der Herausbildung einer militärischen Männlichkeit nach preußischem Vorbild entgegen.579 Zudem war die Zahl der tatsächlich für die Heeresergänzung in die Armee eingezogenen Männer nach der damals gültigen Wehrverfassung noch relativ gering. Im Konskriptionsjahr 1861 etwa musste der gesamte Bezirk Taufers anteilsmäßig nur 13 Mann der insgesamt 1.132 Rekruten aus der Provinz Tirol stellen.580 Folglich wurde trotz der für alle Männer des Tauferer Ahrntals verpflichtenden Assentierung nur ein kleiner Teil von ihnen unmittelbar und in direkter Konfrontation mit den militärischen Ausbildern mit der „Hegemonie militarisierter Männlichkeit“581 konfrontiert. Erst nach den Erfahrungen des für die Habsburgermonarchie verlustreichen Krieges von 1866, der neben zahlreichen Opfern unter den Soldaten auch die Ablösung Venetiens zur Folge hatte, führte die mittlerweile kaiserlich und königlich gewordene Regierung in Wien mit dem Wehrgesetz vom 5. Dezember 1868 die Allgemeine Wehrpflicht ein. Die Wehrpflicht betraf nun alle tauglichen und im Staatsgebiet heimatberechtigten Männer vom 21. bis zum 32. Lebensjahr und wurde mit drei Jahren Präsenzdienst und den Restzeiten in einer Reserve des Heeres oder der Landwehr festgelegt.582 Christa Hämmerle hat wiederholt darauf hingewiesen, wie wichtig hinsichtlich der Hegemonialisierung der soldatischen Männlichkeit ein genauer Blick auf die Hierarchien und Differenzierungen innerhalb der einzelnen Einheiten der k. (u.) k. Armee ist.583 In einem derart inhomogenen Vielvölkerstaat wie Österreich-Ungarn mit seinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert deutlich hervortretenden Zerfallserscheinungen wohnte der Berufung auf die Aufopferung für eine Nation zwangsläufig ein stabilitätsgefährdendes Moment inne. Zudem waren die individuellen biographischen Hintergründe der aus dem gesamten Reich zusammengewürfelten Männer derart unterschiedlich, dass die Beschwörung einer solidarischen Kameradschaft in Frage gestellt werden kann. Um 1880 etwa waren von 1.000 Soldaten der k. u. k. Armee 263 Deutsche, 200 Tschechen und Slowaken, 171 Ungarn, je 80 Polen und Ruthenen (Ukrainer), 79 Rumänen, 48 Kroaten, 36 Slowenen, 31 Serben und neun Italiener.584 Diese ethnische Vielfalt ließ regionale Bezüge unter den Rekruten vermutlich umso wichtiger erscheinen und förderte interne Abstufungen und Hierarchisierungen. Dies zeigten nicht zuletzt die abschätzigen Namen, mit denen gewisse ethnisch einheitlich zusammengesetzte Regimenter von ande579 Vgl. Schmitt, Armee, 74, Anm. 62, und 82–87. 580 So waren 1861 in Summe 157 Männer stellungspflichtig. ASBz, BA Taufers 1860, Bündel 146/1; o. Nr. ad Nr. 2621; „Kundmachung an das Bezirksamt Taufers vom 21.11.1860 über das jährliche Rekrutenkontingent“. 581 Hämmerle, Relevanz, 116. Dies bedeutet natürlich nicht, dass dieses Männlichkeitsbild nicht trotzdem für den Großteil der männlichen Bevölkerung im Tal wirkmächtig werden konnte. 582 Siehe dazu Wagner, Armee, 490 f. 583 Vgl. etwa Hämmerle, Relevanz, 107–110. 584 Goehlert, Untersuchungen, 128.
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ren Heereseinheiten bedacht wurden, etwa die aus transleithanischen Männern zusammengesetzten „Tschuschenregimenter“ oder die „fliegende Gebirgsmarine“ für die Tiroler Kaiserjäger.585 Und selbst in einem „ethnisch“ so geschlossen scheinenden Regiment wie den Kaiserjägern waren nicht nur Männer aus den verschiedenen Tälern des deutschsprachigen Tirols zu finden, vielmehr fanden sich dort auch Vorarlberger und Trentiner Wehrpflichtige. Ende des 19. Jahrhunderts sprachen etwa rund 35 bis 40 Prozent der Tiroler Kaiserjäger italienisch, und die Hälfte der rund 5.000 im Ersten Weltkrieg gefallenen Vorarlberger Soldaten dienten bei den Regimentern der Tiroler Kaiserjäger.586 Im Folgenden interessiert vor allem ein Aspekt des Militärs als Instrument zur Durchsetzung eines hegemonialen Männlichkeitsmodells, nämlich die Idealisierung des Bildes vom körperlich starken, belastbaren und vom wagemutigen, sich opfernden „kriegerischen“ Mann, der sich die Gefahren von Verletzungen und Verwundungen seines Körpers ausblendend in die Schlacht wirft. Schmale spricht hinsichtlich der Funktion des harten Drills in den Kasernen und Militärakademien in Anlehnung an Frevert von der „Veränderung“ des Körpers, die im Begriff des „Einnehmens von Haltung“ 587 auch im heutigen Soldatenleben noch von zentraler Bedeutung ist. Allerdings erscheint mir das in der historischen Forschung beschriebene hegemoniale Modell einer „wehrhaften und kriegerischen Männlichkeit“ im Falle Tirols vor Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht in erster Linie dann relevant geworden zu sein, wenn Tiroler Männer zur patriotischen Verteidigung des „Vaterlandes“ im Sinne der engeren Tiroler Landesgrenzen aufgerufen waren. Für die Monarchie als „Nation“ oder „Volksgemeinschaft“ gedacht, standen Tiroler Männer hingegen nur widerwillig „stramm“, wie anhand einiger Krankengeschichten Franz v. Ottenthals gezeigt werden wird. 3.3.4.2.1 Zur Spezifik der Tirolischen Wehrverfassung und der Heeresergänzung Die Provinz Tirol hatte bezüglich der Entsendung von Truppenkontingenten für die k. (u.) k. Armee Sonderrechte, die aus der regionalen Tradition und historisch verbrieften Rechten stammten. Das Tiroler Kaiserjäger-Regiment wurde 1815 unmittelbar nach der Wiederangliederung der Provinz Tirol-Vorarlberg an Österreich eingerichtet.588 Es war Bestandteil des stehenden Heeres der Monarchie, setzte sich ursprünglich aus vier Bataillonen zu je sechs Kompanien zusammen und zeichnete sich, bedingt durch die Topografie des
585 586 587 588
Hämmerle, Relevanz, 114 f. Vgl. Eisterer, Heldentod, 107 und 123 f. Schmale, Geschichte, 197. Zum militärischen Körperideal vgl. auch Frevert, Militär, 166 f. Zur Geschichte der Kaiserjäger vgl. die Publikation von Haager et al., Kaiserjäger. Zur Entwicklung der Allgemeinen Wehrpflicht in der k. (u.) k. Armee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe Wagner, Armee, 142–633, mit Blick auf Tirol Stolz, Wehrverfassung, 177–193.
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Landes und die angebliche „Vorliebe für den freien Jägerdienst“589, durch eine spezifische Ausbildung für den Gebirgskampf und durch eine spezielle Bewaffnung (den gezogenen Jägerstutzen) aus. Die Präsenzdienstzeit betrug wie in den übrigen Einheiten der k. (u.) k. Armee normativ acht Jahre plus zwei Jahre Dienstpflicht in der Reserve, doch waren die tatsächlich abgeleisteten Jahre durch Beurlaubungen oder frühzeitige Entlassungen aufgrund von Krankheit oder internen Sparzwängen de facto geringer.590 Als Ergänzung zu den als Teil der Streitkräfte der österreichischen Monarchie aufgestellten Kaiserjägern gab es im Rahmen der „Landmiliz“ noch zwei Einrichtungen zur Landesverteidigung: die aktiven und in Reserve gehaltenen Standschützenkompanien, zu denen sich die im lokalen Schützenwesen organisierten Männer „verpflichtend freiwillig“ melden konnten, und der Landsturm als im Bedarfsfalle schnell zusammengerufene „Miliz“ von Männern aus der ansässigen Bevölkerung. In einer 1859 provisorisch und 1864 endgültig beschlossenen neuen Landesverteidigungsordnung für Tirol und Vorarlberg wurde die Pflicht der gesamten wehrfähigen männlichen Bevölkerung festgeschrieben, im Angriffsfalle das Land mit Waffen zu verteidigen. Die Gesamthöhe dieser zwei ergänzenden Truppenaufgebote wurde mit 20.000 Mann festgelegt. Zur vorrangigen Aufgabe der Landesschützen- und Scharfschützenkompanien, in denen zum Umgang mit Waffen befähigte Männer vom 18. bis zum 30. Lebensjahr organisiert waren, gehörte es, die Landesgrenzen gegen ein Eindringen von Feinden zu sichern. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, wurden die Fertigkeiten mit der Schusswaffe in Friedenszeiten durch jährlich mehrmals abgehaltene Schieß- und Exerzierübungen wach gehalten. „Landsturmpflichtig“ waren hingegen alle ausgedienten wehrpflichtigen bzw. derzeit nicht dienenden wehrfähigen Männer zwischen 20 und 50. Diese Landmilizen wurden nur im Kriegsfalle zusammengerufen und waren für die regionale Verteidigung des jeweiligen Heimatbezirks vorgesehen. Die Formationen des Landsturms waren ähnlich den Einheiten in der Armee aufgebaut und umfassten Truppenteile zu je 120 bis 240 Mann.591 Erstmals eingesetzt wurden einzelne Bataillone des Kaiserjäger-Regiments u. a. bei der Niederschlagung der Aufstände in Neapel 1820 und Ungarn 1849 oder als schlagkräftige Infanterieeinheit im Zuge der Feldzüge gegen die Königreiche Frankreich und Sardinien im Sardischen Krieg des Jahres 1859.592 In diesem Konflikt wurden neben den Kaiserjägern eben auch 50 Landesschützenkompanien aus der gesamten Provinz an die bedrohte Südgrenze Tirols befördert, wobei diese spezifischen Einheiten aufgrund der verhältnismäßig raschen Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen nicht mehr in Gefechtshandlungen verwickelt wurden. Große Verluste gab es allerdings 589 590 591 592
So die Einschätzung von Stolz, Wehrverfassung, 178. Vgl. Hochedlinger, Ritterheer, 27. Vgl. Stolz, Wehrverfassung, 179–182. Zu den „Einsätzen“ der Kaiserjäger-Regimenter vgl. für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg Haager et al., Kaiserjäger, 27–54; für danach auch bei Eisterer, Heldentod, 106 f.
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im Österreichisch-Italienischen Krieg von 1866, wo ebenfalls 35 organisierte Landesschützen- und 14 freiwillige Standschützenkompanien mit insgesamt 6.700 Männern unter den österreichischen Truppen kämpften. Beide Kriege fallen in den für diese Studie ausgewählten Zeitraum des Jahrzehnts zwischen 1860 und 1869 und haben somit in den Historiae Morborum nicht unbedeutende Spuren hinterlassen. 3.3.4.2.2 Verletzliche Soldatenkörper in Kriegszeiten Für den Landsturm, der als „letztes Aufgebot“ die Bevölkerung vor Ort schützen sollte, wenn die eigentlichen Kampftruppen an der Front versagt hatten und die feindlichen Truppen schon tief in das Land vorgedrungen waren, wurden nicht gerade die kampferprobtesten und wehrtauglichsten Männer zusammengerufen.593 Wie erwähnt mussten im Ernstfall auch längst ausgediente Männer jederzeit mit einem Einrückungsbefehl rechnen. Wie der Fall des 41-jährigen Peter Tratter* aus Mühlen zeigt, wurde dem Befehl daher oft nur widerwillig nachgekommen. Tratter* kam am 6. August des Kriegsjahres 1866 zu Ottenthal und klagte über öfters wiederkehrende Magenprobleme. Laut Ottenthals Niederschrift führte der Patient seine Beschwerden auf einen vor zehn Jahren erfolgten Pferdetritt in die linke Seite zurück, wodurch es zu einer allmählichen Verhärtung die Milz gekommen wäre. Der Arzt zweifelte jedoch die vorgebrachten Beschwerden an und unterstellte dem Mann, sein Magenleiden aus Kriegsfurcht nur vorzutäuschen. Diese Angst war für ihn der Hauptgrund für den Besuch in seiner Praxis, denn im Anschluss an das Anamneseprotokoll findet sich die Notiz: „die Dreckseele möchte nur gern ein Zeugniß um der Landsturmpflicht zu entgehen“594. Und ein Ruf zu den Waffen lag zu diesem Zeitpunkt noch durchaus im Bereich des Möglichen, denn im Gegensatz zu dem im Juli ausgehandelten Waffenstillstand mit Preußen wurde zwischen Italien und Österreich erst am 13. August ein Waffenstillstand vereinbart.595 Leider geht aus dem Krankenjournal nicht hervor, ob Ottenthal den in seinen Augen simulierenden Peter Tratter* in einem persönlichen Gespräch an seine Pflicht zur Landesverteidigung erinnerte. Dass die behördliche Aufforderung zur Auslosung und zur Assentierung beziehungsweise ein positiver Bescheid der Wehrtauglichkeit nicht bei allen jungen Männern Begeisterungsstürme auslöste, belegen einige weitere verstreute Hinweise in den Historiae Morborum. Joseph Innerkofler* aus Prettau etwa bereitete sein Schicksal, anlässlich der 1861 durchgeführten Konskription seines Jahrganges das „falsche 593 Viktor von Laschan beschrieb in seinen Erinnerungen an das Kriegsjahr 1866 den Landsturm des Dorfes Neumarkt folgendermaßen: „ein lustiges Völklein, an Originalität der Bewaffnung und Bekleidung alles bietend, aber Männer in vollster Kraft, voll Muth, Begeisterung und edlem Willen endlich auch zu etwas nutz zu sein.“ [Laschan], Erlebnisse, 15. 594 [„41 ann. laborat saepe adpetitu dejecto facile oppletur ante [10] ann. ab equo calcitrante ictus est in latus sinistrum ibi lien induratum esse vult die Dreckseele möchte nur gern ein Zeugniß um der Landsturmpflicht zu entgehen“]. HM 938/1866, Eintrag vom 6.8.1866. 595 Vgl. Wagner, Armee, 350 f.
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Los“ gezogen zu haben596 und in Bälde in eine weit entfernte Garnison einrücken zu müssen, offensichtlich ernste Sorgen. Denn obwohl dieser junge Mann früher schon wegen Magenproblemen den beschwerlichen Weg von Prettau in die Praxis nach Sand auf sich genommen hatte, wollte der Arzt die neuerlichen Beschwerden in erster Linie in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Militärdienst sehen. Nicht nur der entsprechende Eintrag vom 12. September 1861 mit dem Hinweis auf die „Furcht vor dem Militär“ lässt sich in diese Richtung deuten („symptomata imprimis gastrica profert confusa contradicentia (timor militiae?)“597). Auch in der ein paar Tage später erfolgten zweiten Konsultation stellte Ottenthal der Anamnese den Zusatz „ex forte militiae jam evasit“ voran und erwähnt zudem den Schock, den der Tod eines Bruders vor wenigen Jahren bei dem Patienten ausgelöst hatte.598 Ohne Hinzuziehen weiterer Referenzquellen lassen die knappen Notizen des Arztes viel Raum für Spekulationen. Könnte der Tod des Bruders vielleicht mit dessen Teilnahme an einem der Feldzüge während des erwähnten Krieg von 1859 zu tun haben? In diesem Falle wäre die Angst des Joseph Innerkofler*, womöglich ein ähnliches Schicksal wie sein Bruder erleiden zu müssen, nur allzu verständlich. Von einer generellen „Jubelstimmung“ über die Bestimmung als zukünftiger Soldat und einer grenzenlosen Bereitschaft zur Verteidigung der Heimat unter dem männlichen Teil der Tauferer und Ahrntaler Bevölkerung konnte demnach keine Rede sein. „Freiwillige heraus! Scholl es von Thal zu Thal, und fand sein Echo.“599 Eine derartige Kriegsbegeisterung wie aus der Feder des Oberjägers einer freiwilligen Tiroler Scharfschützen-Kompagnie, Viktor von Laschan, für das Jahr 1866 überliefert, erfasste nicht jeden wehrtauglichen Mann des Tauferer Arhntales. Zumindest im Fall des Joseph Tratter* bezichtigte Ottenthal den Mann unverblümt der „Feigheit“ und legte somit offen, dass dieser verschreckte Mann für ihn eben ein unmännlicher Simulant war. Ottenthals Berufung auf die „wehrhafte Männlichkeit des Kriegers“ ist umso widersprüchlicher, da er selbst als Arzt zu jenen privilegierten Gruppen gehörte, die bis zum neuen Wehrgesetz von 1868 von sämtlichen Verpflichtungen zur Landesverteidigung befreit waren.600 596 Die Konskription als Aushebung zum Militärdienst erfolgte zu dieser Zeit über das Los. Dabei wurden alle Männer aus drei Jahrgängen zur Auslosung und zur Assentierung (Feststellung der Wehrtauglichkeit) gerufen. Dazu schmückten die jungen Männer ihre Hüte mit Blumen, um ihre Wehrtauglichkeit öffentlich anzuzeigen. Vgl. Stolz, Wehrverfassung, 187 sowie Hämmerle, Verhandelt, 23–27. 597 („bringt in erster Linie wirre widersprüchliche gastrische Symptome vor (Furcht vor dem Militär?)“). HM 260/1861, Eintrag vom 12.9.1861. 598 [„ex forte militiae jam evasit. ante 2 annos morte fratris consternebatur post hoc errorem diaeteticam commisit; status Ammon. parum mutatus.“] („Ist schon aus der Garnison entflohen. Wurde vor zwei Jahren durch den Tod des Bruders aufgeschreckt und beging danach diätetische Fehler; Zustand durch die Ammoniaklösung wenig verändert“) [bei der vorigen Konsultation verschrieb Ottenthal folgende Medikation Ammon p. liq. drachm. III 3 Std 8 Tr.; A. U.].“ HM 260/1861, Eintrag vom 21.9.1861. 599 [Laschan], Erlebnisse, 3. 600 Vgl. Hochedlinger, Ritterheer, 27
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Die Furcht der Soldaten um das eigene Leben und vor dem Tod im Gefecht war vor dem Hintergrund der Gefahren und prekären Lebensumstände in Friedens- und in Kriegszeiten eine realistische Einschätzung der Situation. Entsprechende Einträge in den Sterbebüchern der einzelnen Gemeinden des Tals legen reichlich Zeugnis ab von den verlustreichen Feldzügen der Südarmee im Kriegsjahr 1866.601 Im September dieses Jahres musste beispielsweise der Pfarrer von St. Johann den Tod des 25-jährigen Georg Kirchler in die Matriken nachtragen, der „[…] laut Anzeige des löbl. kk. Militär-Kommando vom 20. Sept. schon am 16. Juli an den bey der Schlacht von Kustozza 24. Juni erhaltenen Wunden im Militärspital zu Verona“ gestorben war.602 Während für jene Männer, die im Schlachtfeld den „ehrenhaften Tod“ starben, in Gestalt posthumer militärischer Auszeichnungen oder kameradschaftlicher Ehrbezeugungen beim Begräbnis zumindest eine gewisse Würdigung bereit gehalten wurde,603 war die Situation für Kriegsinvalide oder für die im Zuge des beschwerlichen Feld- und Lagerlebens an den Folgen etwa einer Lagerkrankheit laborierenden Männer ambivalenter. Beispielsweise klagte nur wenige Monate nach dem im August 1866 mit Italien erfolgten Waffenstillstand der 30-jährige Kriegsheimkehrer Sebastian Kofler* bei Franz v. Ottenthal über Schmerzen in seiner Brust. Dieselben Beschwerden hatte er erstmals zwei Jahre zuvor durch übermäßige Körperanstrengung verspürt, und diese wären durch den in der Schlacht bei Custozza durchlebten Schrecken plötzlich wiedergekehrt.604 Die Schmerzen erwiesen sich als äußerst hartnäckig, denn ein halbes Jahr später waren sie wiederum der Auslöser für einen Arztbesuch. Der 33-jährige Johann Seeber* erzählte Ottenthal im April 1868 von epileptischen Anfällen, die ihn seit der Schlacht von Custozza bereits vier Mal heimgesucht hatten.605 Der Zeitpunkt des letzten derartigen Anfalls läge gerade einmal vier Wochen zurück. Handelte es sich bei dieser durch die Erlebnisse im Feld ausgelösten Erkrankung um eine frühe Form von „Kriegsneurose“, die sich ähnlich wie das sich im Ersten Weltkrieg bei Soldaten massenhaft auftretende ständige Zittern als nicht-organische Erkrankung des Nervensystems manifestierte und dem sowohl vom davon betroffenen Mann als auch von Ottenthal das kulturelle Mäntelchen der Epilepsie umgehängt wurde?606 601 Militärhistorische Aspekte des Krieges von 1866 behandeln Wagner, Armee, 347–351 sowie von Lütgendorf, Kämpfe, 118–196. Seine Erlebnisse als Tiroler Scharfschütze hat Laschan in einem 1867 erschienenen Zeitzeugenbericht verarbeitet. Vgl. Laschan, Erlebnisse. Ich danke Ellinor Forster für die letzten beiden Literaturhinweise. 602 SLA, Sterbebuch St. Johann 1866. Sterbeeintrag zum 25-jährigen Georg Kirchler vom 16.6.1866. 603 Zur Bedeutung derartiger Ehrungen für die Soldaten vgl. am Beispiel der beiden Weltkriege Hoffmann, Alltag, 294 f. 604 HM 1258/1866, Eintrag vom 3.11.1866. 605 [„33 ann miles emeritus heri vomuit ascaridem magnum; in pugna Custozzensi aquam turbidam hausit ex eo tempore quater insultus epilepticus ult ante 4 septimanas“]. HM 605/1868, Eintrag vom 29.4.1868. 606 Zu den sogenannten „Kriegszitterern“ vgl. Hofer, Nervenschwäche, 236–241, zu den „Neurasthenikern“ 220–226.
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Leider kann mangels ähnlich gearteter Fälle in den Krankenjournalen diese Vermutung nur ausgesprochen werden. Eigentlicher Anlass für das Einholen eines ärztlichen Rates war für den „miles emeritus“ jedenfalls weniger sein „schwaches Nervenkostüm“ als ein großer Spulwurm, den er am Tag vor seiner Konsultation erbrochen hatte. Seeber* führte den Wurmbefall ebenfalls auf die damaligen Lebensumstände als Soldat zurück, denn „in pugna Custozzensi aquam turbidam hausit“. Die langfristige Sicherung der Versorgung der Truppenverbände mit ausreichenden Lebensmitteln und sauberem Trinkwasser zählte sicherlich zu den organisatorischen Herausforderungen jeglicher Kriegsführung. Zogen sich die Kampfhandlungen länger hin oder wurde die Position der Truppen häufig gewechselt, konnte dies zu allerhand Missständen hinsichtlich der Versorgung führen.607 Die „Unregelmäßigkeit der Versorgung“608 und das zeitweilige Durchleben von Hungertagen zählte daher nicht nur für die Söldner der Frühen Neuzeit zu den prägenden Körpererfahrungen. Der bereits erwähnte Oberjäger Viktor von Laschan schilderte in seinem Bericht über die Erlebnisse des von ihm befehligten Vierten Zuges im Kriegsjahr 1866, dass in der Region um Grigno an der Grenze zur heutigen Provinz Vincenza aufgrund der permanenten Kampfhandlungen „der Wein theuer und schlecht, außer der Menage rein nichts zu bekommen“ und zudem „das Wasser kaum trinkbar und ungesund“ gewesen wäre. Wohl nicht zuletzt aufgrund der Mangelernährung und der schlechten Qualität des Wassers in diesem trentinisch-venetischen Grenzgebiet wurde „[…] der Gesundheitszustand täglich bedenklicher, indem Fieber, Typhus und Blattern grassirten.“609 Offensichtlich waren die hygienischen Zustände im Sammellager der unterschiedlichen auf den Befehl zum Heimmarsch wartenden Kompanien am Ende der Gefechte äußerst prekär und das Immunsystem der Soldaten sehr geschwächt, so dass sich die klassischen „Lagerkrankheiten“ in Windeseile ausbreiten konnten. Umso betroffener zeigte sich Laschan vom Tod eines Kameraden seines Zuges, der seiner während des Feldzugs aufgeschnappten Typhusinfektion in Innsbruck schließlich doch noch erlegen war.610 Die Schlussfolgerung des vorher erwähnten Seebers*, er hätte an der Front mit dem schlechten Trinkwasser zugleich auch darin befindliche Wurmeier mitgetrunken, die in seinem Magen mit der Zeit zu Spulwürmern herangewachsen waren, erscheint vor dem Hintergrund der schwierigen Versorgung der Truppen mit Proviant und Trinkwasser durchaus plausibel.
607 Zur Geschichte der „Verpflegsabteilungen“ in der k. (u.) k. Armee siehe Wagner, Armee, 277–281. 608 Vgl. Dinges, Soldatenkörper, 78–80. 609 [Laschan], Erlebnisse, 17. 610 Laschan wählte in seinem Bericht die pathetischen Worte: „So nahm das kühle Grab schon den zweiten braven Schützen unserer Kompagnie in sich auf. Er ruhe in Frieden.“ [Laschan], Erlebnisse, 19. Zur Wichtigkeit der „Kameradschaft“ bei Begräbnissen ehemaliger Kameraden vgl. Frevert, Militär, 168 f.
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Nur wenige Aspekte des Soldatenlebens abseits der Gräuel im Schlachtfeld dürften in Selbstzeugnissen von Soldaten derart häufig thematisiert und mit kritischen Anmerkungen versehen worden sein wie die Verpflegung in den Garnisonen und an der Front.611 Schlechte, mangelhafte und unzureichende Ernährung wurde als großes Gesundheitsrisiko wahrgenommen. Dementsprechend wusste auch ein „miles“ aus Mühlbach über seine anhaltenden Probleme mit dem Magen und anderen Verdauungsorganen zu berichten („diarrhoea“, „icterus“), als er am 8. Juli 1861 in der Praxis Ottenthals erschien.612 Beide Symptome wären vor drei Jahren „post bellum“ aufgetreten, womit der Krieg gegen Sardinien-Piemont von 1859 gemeint sein dürfte. Dort, so ist zu vermuten, kam der junge Mann wohl als Soldat in den Gefechten an der oberitalienischen Front zum Einsatz, und dort tauchten die geschilderten ernährungsbedingten Leiden erstmals auf.613 Im Krieg von 1859 dürfte allerdings das „febris intermittens“ zur existentiellen Gesundheitsbedrohung für viele Männer aus dem Tauferer Ahrntal, die zu diesem Zeitpunkt gerade als Kaiserjäger in der k. k. Armee dienen mussten, geworden sein. Den vereinzelten Hinweisen in den Krankenjournalen Ottenthals zufolge hat sich für junge Soldaten ein längerer Aufenthalt bei den in Oberitalien aufgestellten Garnisonen als äußerst gesundheitsgefährdend erwiesen. „[I]n Italia febri intermittente adfectus est“, notierte Franz v. Ottenthal etwa bei einem 29-jährigen Soldaten aus Uttenheim614, und ein etwas jüngerer, ebenfalls aus diesem Dorf gebürtige Kamerad wurde wegen dieser Erkrankung 1858 aus der Armee entlassen.615 Beim Letztgenannten kehrten die Fieberschübe in regelmäßigen Abständen wieder, so dass Ottenthal im Jänner 1859 notierte „intermittente adfectus est, quae nunc quintana est“616. Auch wenn sich der Gesundheitszustand des Mannes im Verlauf der Zeit gebessert zu haben schien, führte die Erkrankung durch ihren chronischen Charakter zu einer erheblichen Minderung der Lebensqualität, wie Ottenthal am 24. Februar 1861 schriftlich festhielt: „adhuc 2 annis post ult. insultum elapsis laborat malis secundariis“.617
611 Vgl. etwa die Untersuchung von Schweig, Gesundheitsverhalten, 78–81 und 83 (Tab. 3). 612 [„25 ann. miles ex 4 annis ante 3 annos post bellum diarrhoea adfectus erat et ictero convaluit ante 2 1/4 annos absque ansa eruenda tussis dyspnoea aversatio ciborum emaciatio intravit hucusque durans percuss. apice pulm. dextri tonum obtusum refert, respirio imminuto“]. HM 780/1861, Eintrag vom 8.7.1861. Der junge Mann erhoffte sich demnach in erster Linie eine Linderung seines Hustens und seiner Atemnot, dennoch kam er im Zuge der Erstanamnese auf die früheren Symptome zu sprechen. Er antwortete dabei auf die entsprechende Nachfrage des Arztes, der bei seiner Beurteilung der aktuellen Beschwerden vergangene Krankheitserfahrungen offenbar mit einbezog. 613 Zum Verlauf dieses Krieges aus militärhistorischer Perspektive siehe den Überblick bei Wagner, Armee, 343–345. 614 HM 957/1861, Eintrag vom 31.8.1861. 615 HM 1424/1858, Eintrag vom 27.12.1858. 616 HM 80/1859, Eintrag vom 11.1.1859. 617 HM 293/1861, Eintrag vom 24.2.1861.
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Friedrich Oesterlen beschreibt in seinem Handbuch regelmäßig wiederkehrende Fieberschübe als charakteristische Symptome bei „febris intermittens“, für das er synonym die Termini „Wechselfieber“ und „febris remittens“ gebraucht.618 Tief gelegene, sumpfig-feuchte Gegenden zählten für diesen Mediziner neben Landschaften, die von häufigen Überschwemmungen heimgesucht wurden, zu den hauptsächlichen Verbreitungsgebieten dieser Krankheit. Diese und weitere Beschreibungen legen es nahe, dass unter der von Ottenthal verwendeten Krankheitsbezeichnung „febris intermittens“ wohl eine Form von Malaria zu verstehen ist. Mit der großflächigen Trockenlegung von Sümpfen und Flussauen wurde in Europa erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts begonnen, sodass im Vergleich zu heute ungleich mehr Landschaften von ausgedehnten nass-feuchten Sumpfgürteln durchzogen waren. Noch um 1880 galten auf dem Gebiet des heutigen Österreich neben den Donauauen einige Flusstäler der Steiermark, Salzburgs, Kärntens und Oberösterreichs als Gebiete endemisch herrschender Malaria. In Italien hatten in erster Linie die Regionen entlang der kalabrischen und toskanischen Küste sowie die weiten Ebenen des Pos und seiner zahlreichen Zuflüsse immer wieder Malariaausbrüche zu verzeichnen.619 Gerade diese Gebiete waren daher während der europaweit grassierenden Malaria-Pandemie der Jahre 1866 bis 1872 ein Zentrum der Verbreitung.620 Noch im Ersten Weltkrieg kam es unter den österreichischen Truppen, die in die Kämpfe am Unterlauf des Piave verwickelt waren, immer wieder zu Malariaausbrüchen, denen die geschwächten Soldaten zu Dutzenden zum Opfer fielen.621 Nun fanden in der Po-Ebene auch von April bis Juni 1866 zahlreiche Gefechte zwischen den französischen und den österreichischen Truppen statt. Folglich wurden nicht wenige Soldaten auch aus dem Pustertal, die aufgrund der geringen endemischen Verbreitung der Malaria in ihrer Heimatregion keine Immunität gegenüber dem Erreger entwickelt hatten, infiziert und hatten wie der bereits erwähnte Franz Steeger* an den Folgeschäden dieser Fiebererkrankung zu leiden. Gut fünf Jahre vor diesem Krieg wurde Johann Unterkofler* zu einem Opfer dieser Krankheit. Der junge Mann begab sich im Oktober 1865 in die Behandlung Ottenthals, nachdem er als Soldat bei Mantua vom Wechselfieber befallen wurde, dessen Fieberschübe ihn bis zum Zeitpunkt der Behandlung immer wieder gequält hatten.622 Nach mehreren weiteren Konsultationen kam der Mann am 4. Jänner 1866 erneut in die Praxis, da er einen Rückfall befürchtete. Doch auch die Verabreichung von Chinin gegen das Fieber konnte keine dauerhafte Besserung erzielen, denn Ottenthal
618 619 620 621 622
Oesterlen, Handbuch, 459–465. Vgl. Hirsch, Handbuch, Bd. 1, 150–154. Hirsch, Handbuch, Bd. 1, 162. Vgl. Hämmerle, Mann, 46. [„25 annor. miles in agro Mantuano intermittentem nactus est, quae adhuc durat“]. HM 1322/1865, Eintrag vom 21.10.1865.
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musste drei Monate später bei einer abermaligen Konsultation „ob recidivam ex septimana typo tertiano“ das Chinin erneut verschreiben.623 Alle hier erwähnten Teilnehmer an den Feldzügen in Oberitalien der Jahre 1859 und 1866 hatten die größten Entbehrungen und Mühen des soldatischen Lagerlebens mit ihrer Heimkehr in die jeweiligen Heimatgemeinden wohl weitgehend überwunden. Nicht wenige Männer allerdings trugen dauerhafte Verstümmelungen ihres Körpers als für alle sichtbare Mahnmale an diese Kriege davon. Die Zahl der durch die Kämpfe der Jahre 1859 und 1866 zu Invaliden gewordenen Männer ist durch die eher „traditionelle“ Kriegsführung sicherlich nur bedingt mit jenen Massen von Invaliden zu vergleichen, die durch die technisierte und industrialisierte Kriegsmaschinerie des Ersten Weltkriegs zu „Krüppeln“ wurden.624 Dennoch scheint die Zahl der in den Gefechten von 1866 invalid gewordenen und somit nicht mehr (voll) erwerbsfähigen Männer im Vergleich zu früheren Kriegen eine erschreckende Höhe erreicht zu haben. So hatte laut einer Erhebung aus dem Jahre 1861 der 1848 für verstümmelte Kaiserjäger und Landesschützen gegründete „tirolischvorarlbergisch’sche Invaliden-Unterstützungsfonds“ 189 Personen zu versorgen. Nach dem Kriegsjahr von 1866 lag diese Zahl laut einer Zählung von 1899 immer noch bei 348, obwohl mittlerweile viele Betroffene bereits verstorben waren.625 Aufgrund der Vervielfachung von neuen Unterstützungsgesuchen sah sich der Tiroler Landesausschuss im Jahre 1867 veranlasst, die bis dato geübte Praxis der Versorgung von Kriegsinvaliden zu überdenken und ordnete eine aktuelle Erhebung aller in der Provinz lebenden „Kriegskrüppel“ an.626 Diese Anordnung erging auch an das Bezirksamt in Taufers, dessen Bezirksvorsteher im August eine Liste mit den Namen von drei bedürftigen Kriegsversehrten an die Innsbrucker Behörde zurücksandte. Einer dieser Personen war der aus Prettau stammende Sebastian Knapp*, der zum Zeitpunkt der Erhebung mehr schlecht als recht als Bindergeselle bei einer Handwerkerwitwe in Bruneck sein Auskommen zu finden versuchte. Der zuständige Beamte schilderte in seinem Schreiben an das Bezirksamt Taufers die missliche Lage des Mannes, dessen Erwerbsfähigkeit stark eingeschränkt wäre, „da ihm von der linken Hand 3. Finger abgeschossen wurden, und er noch zeitweiligen Schmerz verspürt“627. Sebastian Knapp* hatte seine Verletzung im Verlaufe einer der blutigen und verlustreichen Gefechte von Custozza vom 24. Juni 1866 erlitten, wo er als Tiroler Kaiserjäger bei der 29ten Kompanie stationiert war.628 Die 623 HM 52/1866, Eintrag vom 21.3.1866. 624 Zur Thematisierung dieser im Ersten und Zweiten Weltkrieg erlittenen Art von Beschädigungen in Autobiographien siehe Hoffmann, Alltag, 291–294. Die Gruppe der Kriegsblinden hat kürzlich Barbara Hoffmann untersucht. Vgl. Hoffmann, Kriegsblinde. 625 Vgl. Fornwagner, Kriegsopferversorgung, 28. 626 ASBz, BA Taufers 1867, Bündel 167/2; Nr. 1116, C.b.40/1867. 627 ASBz, BA Taufers 1867, Bündel 167/2; Nr. 1268, liegend bei Nr. 1116, C.b.40/1867; „Ausweis über nachstehende Invaliden, welche aus dem tirolischen Invaliden-Fonde eine Unterstützung geniessen“. 628 ASBz, BA Taufers 1866, Bündel 163/2; Nr. 1833, liegend in Nr. 97, C.b.67/1866.
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bewilligte Unterstützung von sechs Kreuzern vom 1. Jänner 1867 an mag zwar angesichts der erlittenen Verletzung überaus gering erscheinen, doch hatte Sebastian Knapp* noch Glück. Denn als der bei der 33ten Kompanie der Kaiserjäger gedient habende Johann Mutschlechner* aus Lappach wegen seiner bei Custozza erlittenen Verwundung im Gesicht ebenfalls um die Möglichkeit einer Unterstützung anfragte, wurde dieses Ansuchen mit der Begründung abgelehnt, dass „nur sehr schwer verwundete, als amputirte oder sonst in Folge Verwundung zu Krüppel gewordene Soldaten betheilt [sic] worden sind“.629 Die Sorge um den eigenen Körper, mit der die Soldaten in die militärischen Auseinandersetzungen gingen, war demnach für nicht wenige junge Männer auch nach der offiziellen Verkündigung des Kriegsendes nicht vorüber. Kehrten sie als Invalide zurück, war die Sorge um die körperliche Unversehrtheit nun der Sorge um die finanzielle Absicherung sowie der physischen und psychischen Verarbeitung der erlittenen Verstümmelung gewichen. Wie der Briefwechsel zwischen dem Bezirksamt Taufers und der Behörde in Innsbruck nahelegt, war damit eine neue Front, nämlich jene um eine von der öffentlichen Hand getragenen Fürsorge ehemaliger Vaterlandsverteidiger, eröffnet. 3.3.4.2.3 Verletzliche Soldatenkörper in Friedenszeiten In Kriegszeiten war die Sterblichkeit unter den Soldaten natürlich überaus hoch, aber auch die Erkrankungsraten an den unterschiedlichen Kriegs- und Lagerkrankheiten erreichten in derartigen Ausnahmezeiten bei den Truppenverbänden exorbitante Höhen. Die Lazarette glichen in den Augen mancher Beobachter mitunter einem größeren Schlachtfeld als die eigentlichen Frontlinien. Im Krimkrieg etwa starben trotz des hohen Blutzolls bei den Armeen nur die wenigsten Soldaten einen Tod auf dem „Feld der Ehre“. Vielmehr kamen auf jeden gefallenen Soldat neun Männer, die fernab von Gefechten an einer Infektionskrankheit starben.630 Vor dem Hintergrund derartiger Erfahrungen erarbeiteten die Militärbehörden im ausgehenden 19. Jahrhunderts vermehrt Strategien, um in zukünftigen Kriegen die Sterblichkeit an und die Dienstunfähigkeit wegen Krankheiten wie Pocken, Typhus oder Ruhr in ihren Armeen so gering wie möglich halten zu können. Interessiert lauschten daher Offiziere der Preußischen Armee den Ausführungen Robert Kochs zum möglichen Beitrag der Bakteriologie für die Seuchenbekämpfung im Krieg.631 Doch auch in Friedenszeiten waren die Lebensumstände in vielen europäischen Heeren wie auch in der k. (u.) k. Armee mitunter wenig gesundheitsförderlich und bargen erhebliche Krankheitsrisiken. Um 1860 etwa gingen Schätzungen aus dem Umfeld der medizinischen Statistik davon aus, dass ein Soldat beim stehenden Heer durchschnittlich zwei bis dreimal häufiger erkrankte als sein gleichaltriger Geschlechtsgenosse in der Zivilbevölkerung.632 Dabei 629 ASBz, BA Taufers 1867, Bündel 167/1; Nr. 837 und Nr. 895, beide liegend in Nr. 36, C.b.23/1867. 630 Hofer, Nervenschwäche, 205. 631 Siehe Vögele, Sozialgeschichte, 83 f. 632 Oesterlen, Handbuch, 878.
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galt die Altersgruppe der jungen Erwachsenen in den zeitgenössischen medizinischen und statistischen Schriften eigentlich als eine der gesündesten, die im Normalfall bei den meisten Krankheiten bis auf wenige Ausnahmen überaus geringe Erkrankungsziffern aufzuweisen hatte.633 Im 19. Jahrhundert erschienen die Lebensbedingungen in den Kasernen, Garnisonen und Festungen für interessierte Beobachter der Gesundheit nur wenig förderlich. In ihren Augen waren die wegen der alten Bausubstanz vielfach feuchten und kalten Gemäuer oder die übervollen Schlafsäle, in denen die Soldaten einen Großteil ihrer Militärzeit verbrachten, angefüllt mit gefährlichen Miasmen und Ausdünstungen. In der Tat müssen die klassischen Infektionskrankheiten dieser Zeit, deren Erreger entweder durch den direkten Kontakt von Mensch zu Mensch oder durch unzureichende Umweltbedingungen wie verseuchte Trinkwasserquellen übertragen wurden, an diesen Orten ideale Bedingungen vorgefunden haben. An diesen Gesundheitsbelastungen änderten die täglichen Exerzierübungen an der frischen Luft oder die bei Zeiten durchgeführten Manöver und Feldlager nur wenig. Im Gegenteil scheint das Kampieren der Truppen auf kaltem, feuchten Untergrund bei nur wenig effizienter Ausrüstung und nur behelfsmäßigem Schutz vor der Witterung die Soldaten noch mehr mitgenommen zu haben als der harte Drill im Kasernenhof. Wie zeitgenössische Untersuchungen etwa zur belgischen Armee für den Zeitraum 1851 bis 1855 belegten, erkrankten in den Feldlagern und während der Manöver um gut ein Viertel mehr Soldaten als in den Kasernen.634 Angesichts der im Gebirge häufig auftretenden Sommergewitter und Regengüsse, die in höheren Lagen selbst im August als Schneefall niedergehen konnten, benötigte ein bei den Kaiserjägern dienender Mann daher eine gute Konstitution, um diese Außenübungen ohne Folgeschäden für die Gesundheit zu überstehen. Viktor von Laschan schrieb etwa über die spontanen Wetterstürze in den südwestlichen Gebirgen des Trentino, wo die Truppe im Kriegsjahr 1866 Stellung bezogen hatte: „Ein eisigkalter Sturmwind heulte und tobte, und peitschte massenhaften Regen fort und fort in’s Gesicht. Als es zu tagen begann, lag ringsum Schnee auf den Höhen.“635 Der im Mai 1865 Ottenthal aufsuchende Joseph Enz* (59 Jahre) berichtete im Zuge der Erstanamnese hinsichtlich seiner bisherigen Krankheitserfahrungen, dass er nicht nur mit neun Jahren einen Armbruch erlitten habe, sondern auch davon, dass „in militia arthrorheuma passus est vagum“.636 Dieses Leiden war offensichtlich eine Folge der ständigen Feuchte und Kälte in den Lagern. Laut den Militärberichten hatte noch um 1885 das Militärkommando in Innsbruck im Vergleich zu Kommandos in anderen Ge633 Eine solche Ausnahme war der Bauchtyphus mit einer hohen Sterblichkeit bei Menschen im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter. Vgl. Vögele, Typhus, 60. 634 Vgl. Oesterlen, Handbuch, 879. 635 [Laschan], Erlebnisse, 14. 636 HM 652/1865, Eintrag vom 8.5.1865. Ottenthal scheint die aktuellen Beschwerden seines Patienten (abnehmende Muskelmasse und vage Schmerzen im ganzen Arm) auf diese früheren Verletzungen zurückgeführt zu haben.
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bieten eine auffallend hohe Anzahl von Erkrankungen an „akutem Rheumatismus“ aufzuweisen.637 Auch der 24-jährige Fritz Mairhofer* führte seine Schmerzen in der Seite und in den Oberarmen auf seine Zeit beim Militär zurück („ut credit ex militia“).638 Infektionen der Atemwege und des Magen-Darm-Traktes hatten ihre Ursache oftmals ebenfalls in den engen Wohn- und Schlafverhältnissen und der mangelhaften sanitären Infrastruktur in den Truppenorten. Die Körper der Soldaten, die durch die disziplinierende Struktur und die harte Dressur in einer Kaserne ohnehin extremen Belastungen ausgesetzt waren,639 hatten potentiellen Erregern nur eine geschwächte Immunabwehr entgegenzusetzen. Durchfallerkrankungen, in erster Linie Typhus, traten überaus häufig auf. Durch den internen Ablauf in einer Massenküche bargen auch die zubereiteten Essensrationen eine zusätzliche Gefahrenquelle, indem potentielle Erreger und Keime schnell und effektiv in weite Teile der stationierten Truppe getragen werden konnten. Für den Arzt Wilhelm Griesinger gehörte diese „totale Institution“ daher neben Gefängnissen, Schiffen, Lazaretten und überfüllten Wohnhäusern in städtischen Elendsvierteln zu jenen Räumen, in denen der Abdominaltyphus die meisten Opfer finden konnte.640 Ein Bild von den Zuständen in seiner Garnison vermittelt etwa die Krankengeschichte eines 54 Jahre alten Mannes aus Uttenheim, der mit 23 Jahren für rund neun Jahre zum Militär gekommen war und sich dort „dysenteria“, die Ruhr, eingefangen hatte, was in weiterer Folge auch das Auftreten von Hämorrhoiden nach sich gezogen hatte.641 Und nach der Untersuchung des 27-jährigen Franz Seeber* aus Mühlen notierte Ottenthal Anfang März 1855 in sein Krankenjournal: „fuit miles et ex eo tempore quo e militia redux est saepe vomituritionibus laborat“.642 Die schlechten Lebensbedingungen in den Kasernen der k. k. Armee schienen auch dem Kaiserjäger Joseph Feichter* auf den Magen geschlagen zu haben. Dieser gerade auf Heimaturlaub im Tauferer Ahrntal weilende Mann wäre Ende 1866 in Salzburg, wo er stationiert war, „von Typhus befallen worden, und im dortigen Spitale durch 7 Wochen hindurch krank gelegen“643. Feichter* beantragte beim zuständigen Militärkommando eine Verlängerung seines Urlaubs, da er noch nicht wieder vollständig genesen war. Mit tatkräftiger Unterstützung des Gerichtsarztes Dr. Joseph Daimer, der in seinem Gutachten betonte, dass „es denn doch dem löblichen Regimente darum zu thun sein werde [,] diesen Mann im Zustande voller Kriegsrüstigkeit wieder zurück zu erlangen“, wurde diesem Ansuchen letztendlich positiv nachgekommen.644 637 638 639 640 641 642
Bratassevic, Sanitätsverhältnisse, 270. HM 794/1875, Eintrag vom 3.6.1875. Zu den „körperreflexiven Praxen“ beim Militär vgl. Hämmerle, Relevanz, 112–116. Vgl. Griesinger, Infectionskrankheiten, § 199, 123. HM 1825/1885, Eintrag vom 12.10.1885. („War Soldat und seit dieser Zeit, da er vom Militär zurückgekehrt ist, leidet er oft an Erbrechen“). HM 392/1855, Eintrag vom 18.3.1855. 643 ASBz, BA Taufers 1867, Bündel 167/1; Nr. 369, C.b.18/1867. 644 ASBz, BA Taufers 1867, Bündel 167/1; o. Nr. liegend in Nr. 369, C.b.18/1867.
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Diese exemplarischen Fälle aus den Historiae Morborum und den regionalen Archiven dokumentieren die subjektiven Leidensgeschichten von erkrankten Soldaten eindrücklich. In der Sprache der Statistik teilt Friedrich Oesterlen nach Durchsicht des einschlägigen Schrifttums mit, dass 26 bis 28 Prozent aller Todesfälle unter den Rekruten der von ihm untersuchten Armeen auf den Typhus zurückzuführen war.645 Seiner Einschätzung nach wäre diese Infektionskrankheit zusammen mit der Lungentuberkulose für über 50 Prozent aller Todesfälle in dieser besonderen „Berufsgruppe“ verantwortlich. Als häufigste Erkrankungen führte dieser Arzt neben diesen beiden Krankheiten auch akute Brustkrankheiten, darunter hauptsächlich die Lungenentzündung, an, die allesamt „eine wahrhaft furchtbare Rolle in der Erkrankungs- und Sterbeziffer der Armeen“646 spielten. An dieser Verteilung hatte sich auch um 1880 nicht viel geändert, denn laut den Jahresberichten der Militärbehörden waren 1878 33,1 Prozent aller Todesfälle in der k. u. k. Armee durch den Typhus bedingt, 14,6 Prozent durch Lungentuberkulose und 10,4 Prozent durch Lungenentzündung.647 Somit waren drei Krankheiten für nahezu 60 Prozent der Sterbefälle unter den dienenden Rekruten verantwortlich. In Kenntnis dieser Tabellen und Statistiken zur Sterblichkeit und zur Krankheitshäufigkeit unter den Soldaten ist es wenig verwunderlich, wenn etliche abgerüstete Männer aus dem Tauferer Ahrntal infiziert mit diversen Erregern in ihre Heimatdörfer zurückkehrten. Johann Innerkofler* etwa bekam von Ottenthal am 9. April 1851 eine heftige Lungenentzündung diagnostiziert. Erst drei Wochen zuvor war der 30-jährige Mann nach Erfüllung seiner Dienstzeit in der k. k. Armee bei seiner Familie in St. Johann eingetroffen.648 Beim Militär hatte sich einst auch Georg Treffer* eine Lungenerkrankung zugezogen, wie er Franz v. Ottenthals berichtete: „ante 4 annos in militia pneumonia laboravit“. Die nun auftretenden Symptome, die ihn letztendlich zur Inanspruchnahme der Dienste dieses Arztes drängten, ähnelten vermutlich genau jenen der früher schon einmal durchlebten Krankheit („respiratio cita“, „latus pectoris sinistrum dolet“).649 Der soldatische Körper wurde demnach zwar für die Abwehr des äußeren Feindes im Krieg „gestählt“, den viralen und bakteriellen Feinden direkt in den militärischen Ausbildungsstätten stand er allerdings ziemlich schutzlos gegenüber. Wolfgang Schmale betont in seiner „Geschichte der Männlichkeit“ den hegemonialen Charakter sämtlicher militärischer Institutionen, indem dieser explizit homosoziale Raum Inklusion und Exklusion zugleich erzeugte.650 Jene Männer, die die Soldatenrolle nicht übernehmen wollten, wurden durch die rigide Militärgesetzgebung entweder zu Deserteuren oder Selbstverstümmlern gestempelt.651 Oder aber sie nutzten die dieser Institution innewohnen645 646 647 648 649 650 651
Oesterlen, Handbuch, 885. Oesterlen, Handbuch, 885. Bratassevic, Sanitäts-Verhältnisse, 209. HM 497/1851, Eintrag vom 9.4.1851. HM 790/1887, Eintrag vom 20.4.1887. Schmale, Geschichte, 198 f. Zu den vielfältigen „Strategien“ der Verweigerung siehe Schmitt, Armee, 189–280.
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den Schlupflöcher und juristischen Grauzonen, indem sie Krankheiten simulierten, auftretende Beschwerden übertrieben oder in die für Angehörige des Militärstandes gesellschaftlich akzeptierte Krankenrolle eines Neurasthenikers flüchteten.652 Die von den Gemeinden unterhaltenen „Doctores“ in den jeweiligen Heimatregionen mussten durch die Ausstellung eines ärztlichen Gutachtens die Untauglichkeit oder die Verlängerung eines Erholungsurlaubes „offiziell“ bestätigen,653 wobei die meisten sicherlich mit der individuellen Lage vieler jungen Männer durch persönliche Bekanntschaft oder durch die dörflichen Kommunikationswege vertraut waren. Durch ihre Deutungsmacht trugen damit diese Ärzte und somit auch Franz v. Ottenthal in seiner Zeit als Gerichtsarzt zu jenem „komplexe[n] Spannungsverhältnis zwischen Region und ‚modernem‘ Staatswesen“ bei, das Christa Hämmerle für die Habsburgermonarchie so treffend beschrieben hat.654 In den Historiae Morborum lassen sich nun Beispiele für nahezu alle Strategien finden, die den für den Militärdienst vorgesehenen Männern im Tauferer Ahrntal zur Verfügung standen, um die eingeforderte Übernahme der Soldatenrolle bewältigen zu können.655 Die Krankengeschichten zeigen zugleich aber auch, wie verletzlich der Körper des Soldaten durch die Lebensumstände im Schlachtfeld und in den Kasernen eigentlich war, aller Stählung und allen Drills des Soldatenkörpers zum Trotz. Ärzte entwickelten dabei noch am ehesten eine gewisse Sensibilität für diese spezifischen Gesundheitsgefährdungen: „Viele glauben freilich, der Soldat müsse und könne sich schliesslich durch Abhärtung, Dressur an Alles gewöhnen und Alles ertragen lernen. Seine Erkrankungs-, seine Sterbeziffer zeigen aber, was von der Richtigkeit dieser Absicht zu halten, und dass man noch mehr auf die Erhaltung seiner Gesundheit, auf den Schutz gegen tausenderlei Gefahren bedacht sein müsste als auf Abhärtung.“656
652 Vgl. Hofer, Nervenschwäche, 220–226, der auf den klassenspezifischen Charakter dieser Diagnose hinweist, indem überwiegend Offiziere und höhere Chargen neurasthenisch seien, während die einfachen Soldaten hysterische Symptome entwickelten. Ottenthal verwendet den Terminus „Neurasthenie“ erstmals in einer Notation vom 23.11.1892 bei einer 65-jährigen Frau: [„flatulentiam accusat, alvus regularis, appetitus bonus congestiones climactericae neurasthenia, agrypnia ur. aquosa“]. HM 1323/1892, Eintrag vom 23.11.1892. 653 Für den Kanton Bern vgl. Gafner, Zeugnisse, 101. 654 Vgl. Hämmerle, Verhandelt, 21–23. 655 Zur Rolle von Ärzten für die Bescheinung der erwünschten Untauglichkeitsgutachten siehe Schmitt, Armee, 198–207. 656 Oesterlen, Handbuch, 888.
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3.3.5 Zwischenbilanz Im Fokus dieses Kapitels stand das Inanspruchnahmeverhalten der allgemeinärztlichen Praxis Franz v. Ottenthals durch männliche Jugendliche und Männer im jüngeren, mittleren und älteren Erwachsenenalter in dessen Praxisjahren von 1860 bis 1869 bzw. von 1890 bis 1899. Den Auswertungen lag die zentrale Überlegung zugrunde, dass sich das Krankheitsverhalten und die Beschwerden von jüngeren Männern im Alter zwischen 14 und 25 Jahren hinsichtlich vieler Faktoren von jenen der Männer zwischen dem 25. und dem 45. Lebensjahr unterschieden haben, so etwa hinsichtlich der Häufigkeit der Arztnutzung, der Behandlungsdauer oder des Diagnosespektrums. Die Detailabfragen wurden von der Erkenntnis der geschlechterspezifischen Jugendgesundheitsforschung geleitet, dass die Jugendphase durch spezielle „Problemlagen“ gekennzeichnet ist, die meistens durch die physischen und psychischen Veränderungen im Verlaufe der Pubertät mit ausgelöst werden. Das Akzeptieren der geschlechtsspezifischen Veränderungen des Körpers und die Aneignung der jeweiligen Geschlechterrolle stellt für die jungen Männer und Frauen in der Adoleszenz eine zentrale Entwicklungsaufgabe dar. Eine Überforderung bei der Bewältigung dieser Aufgaben kann mitunter zu somatischen Beschwerden führen. Zudem konnten Jugendgesundheitsstudien empirisch belegen, dass diese Altersgruppe Gesundheit als wenig zu reflektierende Selbstverständlichkeit ansieht, was in der Folge auch zu gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen führen kann.657 Dieses riskante Verhalten besitzt insofern eine geschlechtsspezifische Komponente, als männliche Jugendliche bei der Bewältigung des „Statusübergangs“ vom minderjährigen zum rechtlich vollwertigen Mitglied der Gesellschaft vermehrt externalisierende Körperstrategien wie riskantes Autofahren, exzessiven Alkoholkonsum oder Gewalthandlungen wählen. Im frühen Erwachsenenalter sollten die wichtigsten Entwicklungsaufgaben gelöst sein. Allerdings zeigten historische Forschungen auf, dass von der „‚Jugend‘ als eine gesonderte Lebensphase“658, während der männliche und weibliche Jugendliche auf die zukünftigen Aufgaben und Rollenanforderungen in der Gesellschaft vorbereitet werden und ihnen ein „Moratorium“ zugestanden wird, frühestens ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert gesprochen werden kann. Erst im 20. Jahrhundert wurde ein derartiger Schonraum für eine zunehmend breitere Schicht junger Männer und dann immer mehr auch für junge Frauen zur alltäglichen Erfahrung. Diese Anregungen sollten am Beispiel der Historiae Morborum exemplarisch für die 1860er Jahre mit ihren Auswirkungen auf die Gesundheit überprüft werden. Für die Jahre zwischen 1860 und 1869 sowie zwischen 1890 und 1899 ergab die geschlechtsspezifische Untersuchung der Inanspruchnahme der Praxis Ottenthals für die einzelnen Lebensabschnitte des Erwachsenenalters immer einen deutlichen Überhang von weiblichen Patienten gegenüber männlichen. Innerhalb der Geschlechtergruppe der Männer belegte eine differenzierte Ab657 Kolip, Jugend, 123. 658 Tillmann, Sozialisationstheorien, 238.
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frage, dass die Altersklasse der 25 bis 45-jährigen Männer am häufigsten eine Behandlung durch den Allgemeinmediziner nachfragte, gefolgt von den 45 bis 65-Jährigen. Männliche Jugendliche und jüngere Männer (14–25 Jahre) stellten hingegen den geringsten Anteil innerhalb der Gruppe der erwachsenen Patienten. Während sich nun die jüngere Patientengruppe als ein relativ gesundes Lebensalter gestaltete, in dem Krankheitserfahrungen generell seltener durchlebt wurden und die Nutzung ärztlicher Dienstleistungen folglich weniger dringend war, erstaunt der geringere Anteil bei der älteren Patientengruppe. Offensichtlich stuften ältere Männer aufgrund der spezifischen Beschwerdekomplexe in dieser Lebensphase (überwiegend chronische, wenige akute und im heutigen Sinne kurativ kaum effektiv zu behandelnde Erkrankungen) die angebotenen Therapiemöglichkeiten Ottenthals für die Heilung ihrer Leiden als eher gering ein. Denkbar wäre auch, dass 25 bis 45-jährige Männer ein größeres Interesse daran hatten, ihren Körper gesund und ihre Arbeitskraft möglichst lange aufrecht zu erhalten, indem Beschwerden und Krankheiten ärztlich behandelt und Medikamente eingenommen wurden. Auf ein derartiges Krankheitsverhalten deutet zumindest der in dieser Patientengruppe überaus hohe Anteil an von diesen Patienten ausdrücklich gewünschten Laxiermitteln hin. Der Großteil der Männer im mittleren Erwachsenenalter dürfte auch über die ökonomischen Ressourcen verfügt haben, um eine ärztliche Behandlung und Medikation zu finanzieren oder etwa mit Naturalien und Arbeitsdiensten abzugelten. Beschwerden des Verdauungsapparates und der Atmungsorgane stellten die am häufigsten vorgebrachten Beschwerdekomplexe dar, mit denen Franz v. Ottenthal bezüglich der jüngeren Männer zwischen 14 und 25 Jahren in seiner Praxis konfrontiert wurde. Hinsichtlich des Krankheitsspektrums ergaben sich die größten Unterschiede zwischen der Patientengruppe der 14 bis Unter-25-Jährigen und jener der Über-25 bis 45-Jährigen einerseits aus der größeren Verbreitung akuter Infektionskrankheiten bei den Jüngeren, allen voran der Pocken und des (Bauch-)Typhus. Die Erwachsenen in der mittleren Altersklasse standen hingegen auffallend häufig aufgrund von Beschwerden der Bewegungsorgane und aufgrund unfallbedingter Verletzungen in Behandlung. Beide Bereiche deuten auf spezifische Gesundheitsgefährdungen und Gesundheitsrisiken in ländlichen Regionen hin. Die kräfteraubenden, aufreibenden und sich immer wiederholenden Arbeitsschritte einer bäuerlichen Wirtschaftsweise führten zu chronischen Schädigungen des Muskel- und Skelettsystems, die vor allem mit zunehmendem Alter zu einer immer größeren gesundheitlichen Belastung für die Betroffenen wurden. In der Praxis Ottenthals schlugen sich diese alterstypischen Beschwerden dann in Form von rheumatischen und arthritischen Schmerzen, von Hexenschüssen und anderen Muskelverspannungen in den Krankenprotokollen nieder. Wie schon vorher kurz erwähnt, wurde auch der Wunsch nach Abführmitteln in der Gruppe der Männer zwischen 25 und 45 vehementer artikuliert als in der vorhergehenden Altersgruppe. Dem Konzept der Entwicklungsaufgaben zufolge stellt die Pubertät einen Zeitraum dar, in der Jugendliche ihren Körper kennenlernen und sexuelle
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Verhaltensweisen erproben sollten. Vor diesem Hintergrund wurden die Krankengeschichten der jüngeren Männer vom 14. bis zum 25. Lebensjahr daraufhin untersucht, inwieweit in ihnen Aspekte von Sexualität und Körperlichkeit thematisiert und die gesundheitlichen Auswirkungen verschiedener sexueller Praktiken (Geschlechtskrankheiten, Onanie, mann-männliche Sexualkontakte) problematisiert werden. Allerdings fanden mögliche Gesundheitsgefährdungen und tatsächliche Krankheitserfahrungen, die eine „Folge“ des Entdeckens des Körpers und von sexuellen Aktivitäten waren, nur sehr selten einen schriftlichen Niederschlag in die ärztlichen Krankenjournale der 1860er Jahre. Die relativ geringe Bedeutung von derartigen Beschwerden und Leiden in der Praxis Ottenthals scheint mir zum einen Ausdruck einer rigorosen katholischen Sexualmoral zu sein, die einerseits bestimmte sexuelle Verhaltensweisen als lasterhafte Sünde und weniger als medizinisches Problem ansah. Zum anderen dürften vor allem die jüngeren Männer Geschlechtskrankheiten von Ärzten im Brunecker Spital oder von jenen in anderen Bezirken behandeln haben lassen, sei es aus Scham, aus Furcht vor dem Bekanntwerden geheimer Liebschaften oder einfach aus dem Grund, dass die kurative Überwachung bekannt gewordener „Opfer“ der „Lustseuche“ zu den Aufgaben der bestellten Gemeinde- und Gerichtsärzte gehörte. In einem letzten Teil wurden die Krankenaufzeichnungen zu den männlichen Patienten vom 25. bis zum 45. Lebensjahr dahingehend untersucht, inwiefern der für diese Altersgruppe zentrale (passagere) Lebensabschnitt des Soldatenlebens spezifische Gesundheitsrisiken und Krankheitserfahrungen mit sich brachte. Dabei zeigte sich, dass der soldatische Körper nicht nur in Kriegszeiten durch die unmittelbaren Bedrohungsszenarien der Gefechte äußerst verletzlich war, sondern allen Abhärtungen zum Trotz auch während der Friedenszeiten in den Kasernen und den Feldlagern von charakteristischen human-crowd-diseases wie Tuberkulose, Lungenentzündung oder Typhus bedroht war. Nicht wenige Männer kehrten nach ihrer Entlassung aus der k. (u.) k. Armee mit einer Infektion mit einer dieser Krankheiten als „Andenken“ in ihre Heimatgemeinden zurück und mussten sich daraufhin in die Behandlung Franz v. Ottenthals begeben. Diese Krankheitserfahrungen am soldatischen Körper mit seinen Verstümmelungen, psychischen und physischen Traumata und überstandenen Infektionskrankheiten standen im krassen Gegensatz zu einem hegemonialen Männlichkeitsbild, mit dem vor allem im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht das Bild vom körperlich starken und belastbaren „Krieger“ propagiert und idealisiert wurde. Gedrillt auf eine „militärische Männlichkeit“ sollten sich wahre Männer von nun an für Gott und Vaterland auf dem Schlachtfeld opfern, den Gefahren von Verletzungen und Verwundungen ihrer Körper trotzend. Die gesundheitsschädigende Seite jener Verhaltensmuster, mit denen eine hegemoniale Männlichkeit geformt und durchgesetzt werden sollten, kam nicht nur auf regionaler Basis etwa in den Historiae Morborum Franz v. Ottenthals zum Tragen. Sie bildete sich auch auf nationaler Ebene direkt ab, beispielsweise in den Sterbematrikel sowie den Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken, die Ärzte und Bevölkerungsstatistiker seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zuneh-
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mend veröffentlicht hatten. So stellte Ernst Engel in seiner Zusammenstellung der alters- und geschlechtsspezifischen Sterberaten der Preußischen Bevölkerung um 1860 die Frage: „Dagegen ist die grosse Sterblichkeit der Männer im Alter von 20–25 Jahren eine vielfach wiederkehrende Erscheinung in der Statistik. Sollte die in diese Zeit fallende allgemeine Militairpflicht einen Theil daran haben?“659 Angesichts der Ergebnisse der Auswertungen aus den Historiae Morborum muss diese Frage mit einem deutlichen „Ja“ beantwortet werden. 3.4 „81 ann […] vires corporis et animi decrescunt“660: Erkrankungen im Alter und der Umgang mit der schwindenden Leistungsfähigkeit bei älteren Patienten Ottenthals Im Juli 1895 bereitete der Zustand des 76-jährigen Martin Unterkofler* aus Weißenbach den Angehörigen große Sorgen.661 Der alte Mann hatte schon seit einer guten Woche sein Bett nicht mehr verlassen, zudem machten ihm eine Atemnot und ein Husten, der in Bauch und Magen schmerzte, arg zu schaffen. An dessen eigentümliche Schwermut hatte sich die Familie einigermaßen gewöhnt, denn diese verdunkelte bereits seit längerem das Gemüt des Alten. Vielleicht beruhigte es die Angehörigen zu sehen, dass mit dem Husten kein Auswurf verbunden war, jenes untrügliche Zeichen für eine schwere Infektion der Lungen und der Atemwege. Der zu dieser Zeit gefürchtete „Bluthusten“ konnte es demnach nicht sein, der den alten Bauern dazu zwang, endlose Stunden in seinem Bett zuzubringen und dem für diese Jahreszeit typischen Treiben der Schnitter und Erntehelferinnen fernzubleiben. Durch die am 15. Juli niedergeschriebene Krankengeschichte Franz v. Ottenthals sind wir über diesen Tag im Leben des Martin Unterkofler* gut unterrichtet, ebenso über die verabreichte Medikation. Aufgrund der exakten Aufzeichnungen dieses Arztes wissen wir auch, dass sein Patient am Folgeabend der Konsultation an „paralysis cerebri acuta“, an Gehirnlähmung also, gestorben ist. Vom medizinischen Standpunkt aus gesehen war die Behandlung dieses Patienten kein wirklicher Erfolg, doch was hätte man sich angesichts des Auftretens gleich mehrerer schwerer Erkrankungen und des für damalige Verhältnisse sehr hohen Alters des Kranken anderes erwarten können? Bisherige Arbeiten zum Altersaufbau in historischen Arztpraxen vermitteln den Eindruck, der Anteil älterer Patientinnen und Patienten wäre verschwindend gering gewesen.662 Nun zeigt eine Datenbankabfrage zum 15. Juli 659 Engel, Sterblichkeit, 40. 660 („81 Jahre […] die Kräfte des Körpers und des Geistes nehmen ab“). HM 65/1890, Eintrag vom 5.1.1890. 661 [„76 ann. ante 14 dies sumsit laxans sumsit [sic] ex septimana lectum servat dyspnoea, tussis absque sputis cruentis dolet in abdomine et ventriculo melancholia habitualis“]. HM 1101/1895, Eintrag vom 15.7.1895 sowie vom 16.7.1895. 662 So z. B. bei Stolberg, Patientenschaft, 19.
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1895, dass Franz v. Ottenthal neben Martin Unterkofler* aus Weißenbach noch acht weitere Kranke zu behandeln hatte, vom fiebernden Säugling bis hin zur nervenschwachen Mittvierzigerin. Allerdings hatten an diesem durchschnittlichen Arbeitstag des Südtiroler Arztes neben dem Mann aus Weißenbach noch zwei weitere Patienten das 65. Lebensjahr bereits überschritten, sodass zumindest für diesen Tag von keiner Unterrepräsentation von Alten und Hochbetagten gesprochen werden kann. Im Folgenden soll daher die Fragestellung im Mittelpunkt stehen, inwiefern die Auseinandersetzung mit der Patientengruppe der Greise und Greisinnen zur Routine in Ottenthals zu diesem Zeitpunkt bereits über 50 Jahre währenden „Karriere“ als Allgemeinmediziner gehörte, und wie häufig er in jenem Südtiroler Seitental eigentlich mit klassischen „Abbaukrankheiten“663 konfrontiert wurde. Immerhin hielt der deutsche Arzt und Homöopath Hans Donner im Jahre 1895 in seinem Essay über die Krankheiten des Alters fest: „Lunge, Herz und Gehirn sind es, wohin sich das Leben konzentriert, wenn es den Greis auf seinen Abschied vorbereitet, daher die Lungenentzündungen, Gehirnaffektionen, Herzfehler, welche uns in der Pathologie der alten Leute immer und immer wieder begegnen.“664 Die eingangs zitierte Krankengeschichte lenkt daher den Blick über das tragische Einzelschicksal hinaus auf allgemeine Fragestellungen zur Inanspruchnahme historischer Arztpraxen, die in den folgenden Abschnitten ausführlich behandelt werden sollen. Welchen Anteil stellten ältere Menschen überhaupt an der Gesamtheit aller Altersgruppen der Ottenthalschen Praxis? Dominierten bei der Patientengruppe der alten und hochbetagten Kranken ähnlich wie heute die langwierig verlaufenden und die degenerativen Krankheitsbilder das Behandlungsspektrum des Arztes, oder bestimmten akute und lebensbedrohliche Infektionskrankheiten (Typhus, Cholera, Ruhr) die Morbidität dieser Altersgruppe? Und welche Möglichkeiten der informellen und der institutionalisierten Pflege boten sich im 19. Jahrhundert für Erkrankte im höheren Alter eigentlich an? Denn irgendjemand musste die Versorgung und die Pflege des Martin Unterkofler* übernommen haben, wenn dieser wie es in der Krankengeschichte hieß „ex septimana lectum servat“. Die Ausführungen des nächsten Abschnitts kreisen um diese zentralen Fragen, die die Lebensphase des Alters in Hinblick auf Gesundheit und Krankheit in historischen wie in gegenwärtigen Gesellschaften stark prägten. Dabei wird ein akteursbezogener Fokus auf jene Maßnahmen, die kranke Männer im Tauferer Ahrntal des späten 19. Jahrhunderts zur Gestaltung ihres eigenen Lebensabends ergriffen haben, gewählt. Damit greife ich zugleich eine Forderung Bettina Blessings an die historische Altersforschung auf, „die alten Menschen selbst in den Mittelpunkt zu rücken.“665
663 So bezeichnete Prinzing 1930 Erkrankungen wie Krebs oder altersbedingte Herzerkrankungen. Prinzing, Handbuch, 519. 664 Donner, Krankheiten, 8. 665 Blessing, Geschichte, 138. Zu den Desideraten und den möglichen Forschungsthemen einer historischen Altersforschung siehe auch Borscheid, Altersforschung, 361 f.
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Augenblicklich sind es meistens Frauen, die einen Großteil der informellen Unterstützungsleistungen für erkrankte Angehörige und Bekannte im Rahmen oft unbezahlter „Care“-Arbeit erbringen, die die Praxen der Ärzte ungleich häufiger als Männer aufsuchen und deren Prävalenzraten bei altersspezifischen Erkrankungen, etwa bei demenziellen Krankheitsbildern, aufgrund der höheren Lebenserwartung deutlich über jenen der Männer liegen. „Das Alter ist weiblich“, bringen die Gerontologin Gertrud Backes und der Soziologe Wolfgang Clemens in ihrer Einführung in die Altersforschung die geschlechtsspezifisch ungleichen Erfahrungen von Männern und Frauen mit dem Altwerden auf den Punkt.666 Dieses aus aktuellen Daten zur Demografie, zum sozialen Status sowie zur medizinischen und pflegetechnischen Versorgung kranker Alter gewonnene „Altersbild“667 zu historisieren und um die Perspektive der historischen Männerforschung zu erweitern, ist ebenfalls Ziel der folgenden Ausführungen. 3.4.1 „Von nun an ging’s bergab…“668 – der Gang zum Arzt und das Krankheitsspektrum älterer Menschen im 19. und 20. Jahrhundert Untersuchungen zum gegenwärtigen Inanspruchnahmeverhalten ärztlicher Praxen durch Personen über 65 zeigen, dass ältere Kranke die Ressourcen des Gesundheitssystems im Vergleich zu jüngeren Bevölkerungsgruppen überproportional in Anspruch nehmen. So ergab eine Studie der Statistik Austria aus dem Jahre 1999 über den Konsum medizinischer Leistungen, dass jeder neunte Erwachsene im Alter zwischen 25 und 34 im Jahr der Befragung einmal einen Krankenhausaufenthalt vorzuweisen hatte, wohingegen in den höchsten Altersgruppen, etwa bei den 75–84-Jährigen, immerhin jeder vierte um eine Aufnahme angesucht hatte.669 Eine Untersuchung zur Situation in Deutschland enthält Daten für das Jahr 1989, wonach rund 40 Prozent der Patientinnen aller Krankenhäuser 65 Jahre und älter waren, bei den Patienten lag dieser Anteil bei annähernd 25 Prozent.670 Generell hatten 29 Prozent aller weiblichen und ca. 25 Prozent aller männlichen Patienten in Akutkrankenhäusern das 65. Lebensjahr bereits überschritten. Anlässlich einer 2005 in Südtirol durchgeführten Umfrage gaben 8,9 Prozent aller Männer und 7,9 Prozent aller Frauen über 65 an, in den drei Monaten vor der Befragung ein Krankenhaus aufgesucht zu haben.671 Somit lagen dieser Werte um das Drei- bis Vierfache über jenen jüngerer Altersgruppen, und lediglich bei den Frauen zwischen 30 und 39 sorgte eine anstehende Entbindung mit 7,3 Prozent für annä666 Backes/Clemens, Lebensphase, 84–87. 667 Auch bei den gegenwärtigen Debatten zur Alterung der Gesellschaft treffen mehrere Diskursebenen zusammen. Vgl. Göckenjahn, Diskursgeschichte, 131–134. 668 So ein ironisch gemeinter Liedtitel von Hildegard Knef aus den frühen 1960er Jahren. 669 Statistik Austria, Gesundheitszustand, 57. 670 Dinkel/Görtler/Milenovic, Krankheit, 38 (Tab. 1). 671 Plank, Inanspruchnahme, 167 (Graf. 6.9).
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hernd gleich hohe Werte. Diese Zahlen zeigen nicht nur die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark gestiegene Effizienz in der Akutversorgung von Herzinfarkten oder Schlaganfällen an, sondern auch die neuen therapeutischen Möglichkeiten bei der Behandlung chronischer Erkrankungen und Krebs. Tendenziell ist aus sämtlichen Studien herauszulesen, dass die Zahl der Mehrfachaufenthalte in Krankenhäusern mit zunehmendem Alter ansteigt. Zudem nehmen die höheren Altersklassen ungleich häufiger einen Arzt in Anspruch, wie etwa die österreichische Studie darlegt. 25 bis 34-jährige Österreicherinnen und Österreicher etwa suchten 1999 durchschnittlich 2,56 Mal einen Allgemeinarzt auf, während die 65 bis 74-Jährigen rund sechs Mal im Jahr der Untersuchung im Warteraum eines Arztes saßen.672 Ältere Menschen zwischen 75 und 84 hatten schon sieben Mal jährlich und über 85-Jährige bereits acht Mal Kontakt zu einem Allgemeinarzt. Hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Inanspruchnahme dieses Arzttyps fällt auf, dass das höchste Alter (85 und mehr) neben dem jüngsten Alter (0–14) der einzige Abschnitt im Lebenslauf ist, in dem Frauen häufiger als Männer angaben, im Befragungsjahr noch nie in einer Arztpraxis gewesen zu sein.673 Die Leiterinnen der Studie führen als mögliche Gründe das geschlechtsspezifische Auftreten bestimmter Krankheitsbilder an, was ältere Frauen ohne Umwege direkt zu einem Facharzt führte, bis hin zu methodischen Gründen, dass Frauen in dieser hohen Altersgruppe aufgrund ihres Familienstandes (alleinstehende Witwe) eine Befragung ablehnten bzw. ignorierten. Andererseits suchen Männer tendenziell häufiger einen Facharzt oder eine Ambulanz auf als einen Allgemeinarzt, ein Verhalten, das im höchsten Alter aufgrund des häufig gleichzeitigen Auftretens mehrerer Erkrankungen (Multimorbidität) und des insgesamt schlechteren gesundheitlichen Allgemeinzustandes zunehmend abgelegt wird.674 Diese Befunde zur Inanspruchnahme medizinischer Versorgung durch ältere Menschen spiegeln natürlich die spezialisierte und ausdifferenzierte therapeutische Landschaft wider, auf die Menschen in heutigen „alternden Gesellschaften“ im Bedarfsfall zurückgreifen können. Doch kann ein derartig dichtes Netz medizinischer Angebote und institutionalisierter Unterstützungssysteme auch für historisch weiter zurückliegende Zeiten angenommen werden? Der Historiker Christoph Conrad ist in seinen Arbeiten zur historischen Altersforschung der Frage nach der Alters- und Geschlechtsstruktur der Patientenschaft städtischer Krankenanstalten wiederholt nachgegangen. Auf Grundlage statistischer Erhebungen zu den Heilanstalten im Deutschen Reich zeigt er etwa für das Stichjahr 1900 auf, dass die jüngsten und ältesten Bevölkerungsgruppen in Relation zu ihrem Anteil an der Bevölkerung nur selten in Krankenhäuser aufgenommen und behandelt wurden.675 Die verfügbaren Betten wurden zum überwiegenden Teil von jungen Erwachsenen zwischen 15 und 30 Jahren belegt, bei den nächstfolgenden Altersklassen der Erwachsenen 672 673 674 675
Statistik Austria, Gesundheitszustand, 120 (Tab. 47). Statistik Austria, Gesundheitszustand, 121 f. (Tab. 48 u. 49). Rieder-Schmeiser/Kunze, Männergesundheitsbericht, 42. Conrad, Krankenhaus, 192.
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pendelten sich die Zahlen auf hohem Niveau ein. Nach dem 60. Lebensjahr sanken die Aufnahmen in den Krankenanstalten wieder. Conrad konnte ein geschlechtsspezifisches Ungleichgewicht zugunsten von Männern ebenso nachweisen wie ein Gefälle zwischen groß- und kleinstädtischen Anstalten. Beispielsweise hatten in Berlin ältere Männer einen für 1900 untypisch hohen Hospitalisierungsgrad aufzuweisen, womit sich in den Großstädten der zukünftige Trend zur medizinischen Behandlung älterer Kranker schon relativ früh abzuzeichnen beginnt.676 Reinhard Spree arbeitete in seiner Analyse zur altersspezifischen Struktur in ausgewählten Allgemeinen Krankenhäusern des Deutschen Reiches heraus, dass bereits das gesamte 19. Jahrhundert hindurch jüngere und ältere Erwachsene auffallend selten als Patienten aufgenommen wurden.677 Bevorzugte Zielgruppe dieser Institutionen schienen tatsächlich jüngere männliche Erwachsene zwischen 15 und 30, etwas weniger jene im Alter zwischen 30 und 50 Jahren gewesen zu sein. Diese spezielle Altersgliederung wird in der Forschung mit der ursprünglichen Funktion von Kliniken begründet, die junge, überwiegend ledige städtische Handwerkerschicht so gut als möglich medizinisch zu versorgen, um sie schnell wieder in den Arbeitsprozess eingliedern zu können.678 Diesen allgemeinen nationalen Trend konnte Simone Moses mit ihrer Regionalstudie zur Universitätsklinik von Tübingen bestätigen. Auch dort waren während des Untersuchungszeitraums (1880 bis 1914) nicht nur die durchschnittlichen Patientenzahlen sprunghaft angestiegen.679 Sie arbeitete in Hinblick auf die Entwicklung bei den Aufnahmezahlen älterer Kranker zudem heraus, dass sich dieser Wert ab dem 55. Lebensjahr stetig erhöht und nach 1900 einen Anteil von rund 12 bis 13 Prozent an der gesamten Patientenschaft eingenommen hatte.680 Allerdings machten trotz des merklichen Anstiegs älterer Patienten immer noch großteils jüngere bis ältere Erwachsene die Hauptklientel dieser Anstalt aus, denn der Anteil von über 60-Jährigen an der Gesamtbelegschaft lag bei rund sieben Prozent (1880 bei ca. vier Prozent). Offenbar wurden ältere Kranke, die überwiegend an chronischen Krankheiten litten, einen hohen Pflegebedarf beanspruchten oder verarmt und alleinstehend waren, an andere Orte verwiesen.681 Tatsächlich ergab die Altersverteilung etwa sämtlicher Siechenanstalten und Versorgungshäuser in der Steier676 677 678 679
Conrad, Greis, 185–187. Spree, Aspekte, 68–71. Vgl. Conrad, Greis, 185. Die Zahlen stiegen dabei hauptsächlich nach der Jahrhundertwende kräftig an. Vgl. Moses, Alt, 63 (Diagramm 2). 680 Moses, Alt, 65 (Tab. 4). Eine differenzierte Analyse der Altersstruktur der alten Patienten ergab weiters, dass „Hochbetagte“ ab einem Alter von gut 70 Jahren in der Tübinger Anstalt deutlich in der Minderheit waren. Im Durchschnitt der untersuchten Jahre lag deren Anteil stets unter zehn Prozent, wobei hochbetagte weibliche Kranke tendenziell höhere Werte aufwiesen als männliche. Aufgenommene Menschen über 80 Jahre stellten eine Ausnahme dar, die Mehrheit der älteren Patienten befand sich zwischen dem 55. und dem 64. Lebensjahr. Vgl. Moses, Alt, 99–102. 681 Vgl. Dietrich-Daum, Care, 170 f.
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mark des Jahres 1895, dass nicht einmal die Hälfte der dortigen Verpflegten unter 50 Jahre war, und rund 20 Prozent sogar bereits das 70. Lebensjahr überschritten hatten.682 Erst die durch neue therapeutische Möglichkeiten zunehmend effizientere Behandlung und tatsächliche Heilung vieler Krankheiten scheinen auch für ältere und betagte Kranke die Pforten der Krankenhäuser weit geöffnet zu haben. Da durch die vorangetriebene Spezialisierung der Anstaltslandschaft ein großer Teil der früher in einem Versorgungshaus verwahrten Menschen wie psychisch Kranke, Taubstumme oder Blinde „ausgemustert“ wurde,683 konnte man sich besser auf die Bedürfnisse der nun homogenen Gruppe der chronisch kranken, mittellosen Alten konzentrieren.684 Wenn die Betten in den diversen Krankenanstalten des 19. Jahrhunderts den historischen Untersuchungen zufolge nicht allzu häufig von älteren Kranken belegt waren, ließen sich diese dann vielleicht von den Stadt- und Gemeindeärzten und von den Ärzten in Privatpraxen medizinisch betreuen? Aber konnten sich ältere Menschen im 19. Jahrhundert von einem Arzt überhaupt eine schnelle und effektive Behandlung etwa einer Lungenentzündung erwarten, wo doch der Einsatz hochwirksamer Sulfonamide und Antibiotika gegen die Pneumonie erst nach dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg begann?685 Michael Stolberg kam folglich nach einer altersspezifischen Auswertung der Patientenschaft von neun niederbayerischen Ärzten in den frühen 1860er Jahren zu dem auf den ersten Blick wenig überraschenden Ergebnis, dass neben den jüngeren Altersklassen die „Alten“ und „Hochbetagten“ im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung in den Praxen deutlich unterrepräsentiert gewesen waren.686 Stolberg begründet diese Diskrepanz in erster Linie mit der vorherrschenden Mentalität, Krankheiten als schicksalhafte Begleiter des Alterungsprozesses anzusehen. Angesichts der eingangs beschriebenen, nur wenig effizienten therapeutischen Möglichkeiten, viele altersbedingte Leiden tatsächlich dauerhaft beheben zu können,687 ist diese Argumentation durchaus nachvollziehbar. Am Beispiel der Tübinger Universitätsklinik als damals hochmoderne medizinische Einrichtung konnte Simone Moses deutlich zeigen, dass zwischen 1897 und 1900 nur ein geringer Prozentsatz der über 54-jährigen Patientinnen und Patienten als vollständig geheilt entlassen wurde.688 Gut die Hälfte der Behandelten musste das Klinikum ohne nennenswerte Besserung des Gesundheitszustands wieder verlassen.
682 Stekl, Vorformen, 136. 683 Vgl. von Kontradowitz, Alter, 105–144. 684 Unterstützt wurden diese Entwicklungen durch die in der medizinischen Wissenschaft vorangetriebene Debatte um das hohe Alter als Krankheit, die um 1900 nicht zuletzt zur Entstehung des Faches Geriatrie führte. Siehe dazu Ehmer, Sozialgeschichte, 73–77. 685 Vgl. McKeown, Bedeutung, 142. 686 Stolberg, Patientenschaft, 19. 687 Vgl. dazu am Beispiel etwa der Tuberkulose und der Lungenentzündung die aufschlussreichen Grafiken bei McKeown, Bedeutung, 136–143. 688 Genau gesagt handelte es sich um 11,6 Prozent. Immerhin 34,8 Prozent wurden mit gebessertem Gesundheitszustand entlassen. Siehe etwa Tab. 60 bei Moses, Alt, 213.
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Bedauerlicherweise sind bislang nur wenige historische Arztpraxen auf ein ausdifferenziertes Altersspektrum v. a. auch der Patientinnen und Patienten über 65 hin ausgewertet worden, sodass für einen Vergleich auf die wenigen zur Verfügung stehenden Daten zurückgegriffen werden muss. Für homöopathische Praxen liegt dabei augrund der entsprechenden Forschungsschwerpunkte des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung das umfangreichste Material vor. So erwiesen sich Hilfesuchende zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr etwa in Samuel Hahnemanns Praxis in Eilenburg (1800–1803)689 ebenso wie während seiner Leipziger Tätigkeit (1815–1816)690 als eine im Vergleich zu anderen Altersstufen verschwindend kleine Patientengruppe. Menschen über 70 Jahren suchten überhaupt nur äußerst selten den Rat dieses Homöopathen. In der Genter Praxis des Homöopathen Gustave van der Berghe stellten 61–70-Jährige zwischen 1861 und 1892 sechs Prozent und 71–80-Jährige ein Prozent seiner gesamten Patientenschaft. Lediglich eine Person des Samples hatte das 80. Lebensjahr bereits überschritten.691 Marion Baschin fügte diesem Mosaik homöopathischer Praxen ein weiteres Steinchen hinzu, indem sie den Anteil älterer Personen (hier über 65), die Clemens von Bönninghausen (1785–1864) um eine Konsultation baten, in Relation zu den übrigen Altersklassen für die zur Stichprobe ausgewählten Jahre mit insgesamt 2,4 Prozent bezifferte.692 Eine bezüglich der Patientinnen und Patienten jenseits des 61. Lebensjahres nahezu identische Altersstruktur fand sich übrigens auch in der Praxis seines Sohnes Carl von Bönninghausen (1826–1902).693 Womöglich spiegelt dieser geringe Anteil höherer Altersgruppen in homöopathischen Praxen die von einigen Homöopathen kritisch gesehene Behandlung älterer Menschen wider. 1895 etwa hielt der bereits erwähnte Arzt Hans Donner vor der „Hahnemannia“ einen Vortrag, in dem er einerseits vor zu niedrigen Potenzen in den Arzneimitteln für Ältere warnte, da die dadurch zu Beginn der Behandlung ausgelösten Krisen den geschwächten Körper alter Kranker noch mehr schädigen könnten.694 Andererseits wäre auch die Verwendung zu hoher Dosen im Alter nicht ganz ungefährlich. Vielleicht standen ältere Personen dem medizinischen System der Homöopathie unmittelbar nach deren Aufschwung allerdings einfach nur weniger aufgeschlossen gegenüber als jüngere und waren aufgrund höherer Schamgrenzen nicht bereit, wie von den Ärzten gefordert die intimsten Körperbeobachtungen mitzuteilen.695 Die Möglichkeiten einer homöopathischen Behandlung scheinen folglich für ältere Kranke nur wenig Anreiz geboten zu haben, dementsprechend behan689 690 691 692
Jütte, Patientenschaft, Abb. 8, 32. Jütte, Patientenschaft, Abb. 9, 33. van Baal, Search, Grafik 1, 113. Baschin, Homöopathen, 407 (Tab. 9), eigene Berechnungen. Zum Altersaufbau der Patientenschaft Bönninghausens siehe den allgemeinen Überblick zum Altersaufbau Kapitel 5.1.2, 156–162. 693 Vgl. Baschin, Bönninghausen, 261 (Schaubild 1). 694 Vgl. Donner, Krankheiten, 21 f. 695 Dieser Gedanke stellte sich nach einem Gespräch mit Marion Baschin, Stuttgart, ein, der hier herzlich für das anregende Gespräch gedankt sein soll.
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delnde Ärzte in Anspruch zu nehmen, auch wenn Donner der festen Überzeugung war, mit der Homöopathie bei bestimmten charakteristischen Alterskrankheiten, etwa der Gehirnerweichung, „sehr schöne Resultate zu erzielen“696. In den erwähnten konventionellen Arztpraxen aus Niederbayern lag der Anteil über 61-Jähriger jedenfalls deutlich höher, 1861/62 bei 8,11 und 1862/63 bei 7,94 Prozent.697 In den von Francisca Loetz ausgewerteten Berichten zu vier wundärztlichen Praxen aus dem südbadischen Staufen stieg um 1815 die Zahl der Hilfesuchenden in der Altersgruppe der 71 bis 80-Jährigen sogar an und lag nun um ein Drittel über der vorangehenden Altersgruppe.698 Allerdings basiert ihre Berechnung auf einer überaus geringen Gesamtzahl von 121 Einträgen. Für die Praxis Ottenthals steht durch die Volkszählung von 1869 statistisches Material auf der Bezirksebene zur Verfügung, das eine Berechnung des Altersaufbaus der in diesem Jahr im Bezirk Taufers anwesenden Bevölkerung erlaubt und sich in Beziehung zum Altersaufbau der Arztpraxis setzen lässt. Gemäß dieser Volkszählung betrug der Anteil der über 65-Jährigen im gesamten Gerichtsbezirk 7,5 Prozent.699 Da, wie im Folgenden noch genauer ausgeführt werden wird, der prozentuelle Anteil der Patientinnen und Patienten Franz v. Ottenthals in dieser Altersgruppe für die einzelnen Jahre zwischen 1860 und 1869 insgesamt mit 8,1 Prozent berechnet wurde (vgl. Grafik 3.4.1), entspricht der Altersaufbau der Praxis hinsichtlich der älteren Patientinnen und Patienten in etwa deren tatsächlichem Anteil in der Bevölkerung. Ältere Kranke stellten folglich zwar nicht den Hauptkundenstock dieses Arztes in Sand, von einer Unterrepräsentation dieser Altersklassen kann jedoch in Bezug auf deren relativen Bevölkerungsanteil keine Rede sein. Der ansonsten geringe Anteil betagter Personen in den soeben vorgestellten Arztpraxen hängt natürlich auch mit der geringen Lebenserwartung in den vergangenen Jahrhunderten zusammen. Wo nur ein geringer Teil der Bevölkerung damit rechnen konnte, das 70. Lebensjahr zu erreichen, musste auch der Kundenstock an über 70-jährigen Kranken relativ und absolut gesehen klein bleiben. Für einen gewinnorientierten Arzt in einer Privatpraxis wäre es sicherlich wenig lukrativ gewesen, seine therapeutischen Angebote allzu sehr auf einen Markt auszurichten, der sozusagen auf natürlichem Wege schrumpfte. Immerhin sprach Wilhelm Hufeland noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts davon, dass von 100 Geborenen im Durchschnitt „nur 6 […] über 60 Jahre [kommen]“700, ein Wert, der sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts langsam erhöhen sollte. Zwischen 1800 und 1850 lag der Anteil über 60-Jähriger an den englischen, österreichischen und deutschen Bevölkerungen bei durchschnittlich sieben und um 1900 zwischen sieben und neun Prozent.701 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben allein 8,02 Prozent etwa der österrei696 697 698 699 700 701
Donner, Krankheiten, 13. Stolberg, Patientenschaft, 19. Loetz, Kranken, 247–249 sowie Abb. 22, 368. Bevölkerung, 170–175 und 188–193, eigene Berechnungen. Zitiert nach Lüth, Geschichte, 194. Ehmer, Sozialgeschichte, 206 (Tab. 20).
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chischen Bevölkerung das 70. Lebensjahr bereits überschritten, über 65-Jährige nehmen hier einen Anteil von 17,6 Prozent ein.702 Die meisten Grafiken und Tabellen zum Altersaufbau in den verschiedenen historischen Praxen sprechen dennoch gegen die vorschnelle Annahme, ältere Kranke hätten eine ärztliche Konsultation grundsätzlich nicht in Erwägung gezogen, sei es aus einer fatalistischen Haltung dem eigenen Altern gegenüber oder wegen der geringen Aussicht auf einen definitiven Heilungserfolg. Vielmehr scheint mir neben der individuellen Erwartungshaltung der Kranken die medizinische Ausrichtung des jeweiligen Heilkundigen das Patientenverhalten stark mitbestimmt zu haben. Die im Alter überwiegend multimorbiden Krankheitsbilder ließen Erkrankte ab 65 homöopathische Ärzte offensichtlich tatsächlich in den sprichwörtlich „homöopathischen Dosen“ aufsuchen. Wundärzte hingegen konnten aufgrund ihrer Spezialisierung auf die Behandlung von äußeren Wunden oder Arbeitsunfällen, die auch bei Älteren einen guten Heilungserfolg in Aussicht stellten, sehr wohl auch Personen höheren Alters ansprechen. Allgemeinärzte wie Ottenthal erfüllten mit ihren überwiegend inneren Kuren durchaus die Erwartungen Hochbetagter an „ihren“ Arzt, auch wenn Medikation und Therapie bei Krankheitsbildern wie „apoplexia“, „degeneratio cordis“, „tumores“ oder „hydrops“ letztlich eher eine kurzzeitige Schmerzlinderung erbrachten denn eine Behebung der eigentlichen Krankheitsursache. Gerade dieser Wunsch nach einer schnellen Stillung der Schmerzen bei den sich durch ihren langwierigen Verlauf zunehmend verschlimmernden Krankheitsbildern älterer Menschen dürfte aber einer der Hauptgründe gewesen zu sein, warum ältere Kranke die Praxis etwa eines Allgemeinarztes wie Franz v. Ottenthals aufgesucht haben. Diese Vermutung wird nicht nur durch den im folgenden Abschnitt näher auszuführenden hohen Anteil an geäußerten Wünschen nach einer konkreten Therapie (etwa Abführungen durch entsprechende Laxative) innerhalb der gesamten Beschwerdeanlässe gestützt. Auch die sich bei älteren Kranken abzeichnende überaus hohe Verschreibungsdichte von schmerzlindernden Mitteln wie Opium oder Morphium, die bei längeren Behandlungseinheiten nicht selten zu Abhängigkeiten führen konnte, spricht für eine derartige Interpretation. „[C]atharrus bronchialis chronicus et morphinismus“, notiert der Arzt etwa 1893 bei einer 78-jährigen Patientin, die im Zuge ihrer zwischen August 1885 und Februar 1893 rund 130 Konsultationen umfassenden „Patientinnenkarriere“ eine gewisse Gewöhnung an das Morphium entwickelt hatte.703
702 http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur/bevoelkerung_nach_alter_geschlecht/index.html [Zugriff am 6.1.2012]. 703 HM 1780/1893, Eintrag vom 12.12.1893.
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3.4.2 Die Inanspruchnahme der Praxis Franz v. Ottenthals durch ältere Patientinnen und Patienten Im direkten Vergleich zwischen den beiden Zeiträumen der 1860er und der 1890er Jahre fällt zuallererst die Verschiebung in der Altersstruktur seiner Patientinnen und Patienten auf. Betrug der Anteil älterer Menschen über 65 Jahre an der gesamten Patientenschaft im Jahrzehnt von 1860 bis 1869 knapp über acht Prozent, so war deren Anteil in den Jahren zwischen 1890 und 1899 auf annähernd vierzehn Prozent angestiegen (vgl. Grafik 3.4.1). Eine erste Erklärung könnte sein, dass es um 1890 einfach mehr alte Menschen im Tal gab als um 1860. Jene mortalitätsmindernden Faktoren, die für den Prozess der Epidemiologischen Transition verantwortlich waren, könnten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert auch auf die Sterblichkeitsmuster der älteren Menschen im Tauferer Ahrntal günstig ausgewirkt haben. Der Durchschnitt der Talbevölkerung verstarb dadurch in einem zunehmend höheren Alter. Konsequenterweise hätte eine Steigerung der Lebenserwartung zugleich auch die Praxis Ottenthals „altern“ lassen. Gegen eine derartige Interpretation sprechen allerdings Ergebnisse aus dem Umfeld der Historischen Demografie, die erst in der Zwischenkriegszeit einen kontinuierlichen und merklichen Rückgang der Sterblichkeit für das höhere Alter ab 65 in vielen europäischen Staaten zeigen. So ist aus den altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten etwa in den österreichischen Alpenländern für die Periode zwischen 1868 und 1977 deutlich erkennbar, dass die Alterssterblichkeit im Zeitraum 1899/1902 auf nahezu
Grafik 3.4.1: Prozentualer Anteil der älteren Patientinnen und Patienten (über 65 Jahre) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals in den Jahrzehnten 1860–1869 und 1890–1899 Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen
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demselben Niveau wie in den Jahren 1868/71 verharrte.704 Ein langsames, dafür aber stetiges Sinken der Sterbeziffern ist erst nach dem Ersten Weltkrieg zu bemerken, und zwar in der Altersstufe der 65 bis 75-Jährigen ausgeprägter als in der Altersklasse der über 75-Jährigen. Allerdings sanken die Raten für ältere Frauen schneller als jene für gleichaltrige Männer. Ältere Menschen profitierten demnach ebenso wie Säuglinge erst mit einiger Verspätung von jenem „Rückzug des Todes“, der bei älteren Kindern und jüngeren Erwachsenen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert zu beobachten war.705 Wie eine Studie zum Sterblichkeitsrückgang in den USA zwischen 1900 und 1978 zeigte, erfolgten die Zugewinne bei den jüngsten Altersgruppen daher auch zum großen Teil in der Periode von 1900 bis 1960, wohingegen die Veränderungen für die höheren Altersklassen und dabei vor allem für die über 80-Jährigen überwiegend in der Periode zwischen 1960 und 1978 erfolgt waren.706 Während dieses Zeitraums führten nicht zuletzt die verbesserten medizinischen Interventionsmöglichkeiten bei Herz-Kreislauferkrankungen und bei vielen Krebsarten neben den vermehrt gestarteten Präventionskampagnen zu einem markanten Rückgang der Sterberaten von betagten und hochbetagten Alten. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Sterbeziffer der österreichischen Unter Einjährigen noch im Jahrfünft 1926/30 mit 122,5 Promille über jener der 75 bis 79-Jährigen (109,4 Promille) lag, und die Sterberaten der Säuglinge erst im nachfolgenden Jahrzehnt erstmals unter jene der erwähnten Alter fielen.707 Der Gewinn an zusätzlichen Lebensjahren für Menschen ab 65 fiel im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu den meisten jüngeren Altersstufen demnach recht bescheiden aus: Ein 65-jähriger Mann konnte in Österreich 1868/71 im Durchschnitt mit weiteren 9,31 Jahren bis zum Tod rechnen, doch 1909/12 hatte sich mit einer ferneren Lebenserwartung von 10,26 Jahren nur relativ wenig an dieser Situation geändert. Bei den Frauen fiel der Zugewinn geringfügig höher aus (von 9,33 auf 10,95 Jahre).708 Im Vergleich zu den massiven Umbrüchen bei der Lebenserwartung etwa von Säuglingen sind diese Gewinne als eher mager zu bezeichnen. Zu einer merklichen Erhöhung der Lebenserwartung für Menschen ab 60 kam es wie erwähnt im Verlauf des 20. Jahrhunderts. So konnten 1990/92 60-Jährige in den meisten europäischen Ländern mit weiteren 18–19 Jahren (Männer) bzw. 22–23 Jahren (Frauen) rechnen.709 Die Zahl der beschwerdefreien Jahre nahm ebenfalls zu, wodurch der Übergang vom relativ rüstigen „Dritten“ in das pflegebedürftige „Vierte Alter“ (Peter Laslett) deutlich nach hinten verschoben werden konnte. Der Einschätzung des Historikers Christoph Conrad ist demnach zuzustimmen, dass sich für ältere Menschen gemes704 705 706 707 708 709
Findl, Mortalität, Abb. 3, 431. Vgl. Spree, Rückzug, 14–17. Vgl. Myers, Sterblichkeitsrückgang, 467 (Tab. 1). Vgl. Statistisches Zentralamt, Sterblichkeit, 38 (Tab. 3a). Findl, Mortalität, 434 f. (Tab 3). Eine detaillierte Auflistung gibt Höpflinger, Bevölkerungssoziologie, 157 (Tab. 16).
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sen an den gängigen demografischen Indikatoren bis zum Ersten Weltkrieg nur wenig verändert hatte, während die großen Gewinner vielmehr bei den jüngeren Alten und bei den Frauen im mittleren Erwachsenenalter zu suchen waren.710 Folglich dürften die Verringerung der Alterssterblichkeit und die steigende Lebenserwartung älterer Menschen an der zwischen 1860 und 1900 festgestellten Verschiebung der Altersstruktur der Patientenschaft in der Praxis Ottenthals hin zu älteren Kranken nur zu einem geringen Teil beigetragen haben. Demnach müssen andere Faktoren in weit größerem Ausmaß für die Erhöhung des Anteils älterer Menschen in der Ottenthalschen Praxis verantwortlich gewesen sein. Nun kann eine Bevölkerung nicht nur durch eine Verringerung der Alterssterblichkeit „altern“. Auch die Abwanderung jüngerer Altersklassen aus den betreffenden Regionen oder die Abnahme der Geburten bei zugleich hoher Säuglingssterblichkeit verändern die Altersstruktur einer Bevölkerung. Tatsächlich nahm nun aber die Zahl der Geburten in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in Tirol tendenziell zu, wodurch es dort zu einem schnellen, wenn auch im Vergleich zu anderen Ländern wie der Steiermark verspätet einsetzenden Bevölkerungswachstum kam. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten stiegen bis 1913 die ehelichen Geburten um 18 Prozent, und die unehelichen Geburten erfuhren nicht zuletzt auch wegen der lange Zeit äußerst niedrigen Illegitimitätsraten in diesem Kronland sogar eine Steigerung um 58 Prozent.711 Die einzelnen Bezirke im heutigen Südtirol wiesen dabei zwar im Gesamten eine geringere Geburtenziffer als die Bezirke im heutigen Bundesland Tirol auf. Zwischen 1900 und 1910 etwa lagen die Werte im nördlichen Tirol bei 30,5 Promille, im südlichen Landesteil bei 29,0 Promille.712 Auf der Bezirksebene müssen einzelne Landstriche wie das Pustertal dennoch als außerordentlich „fruchtbar“ angesehen werden: So hatte der Bezirk Bruneck im Zeitraum 1881 bis 1899 mit einer Geburtenrate von 28,8 Promille mit Ausnahme der traditionell „gebärfreudigen“ Bevölkerung im italienischsprachigen Landesteil eine der höchsten Raten aufzuweisen.713 Lediglich für die Bezirke Kufstein und Kitzbühel sowie – vermutlich bedingt durch den Standort der „Landesgebäranstalt“ – den Bezirk Innsbruck Land sind geringfügig höhere Werte überliefert. Der Kindersegen im Bezirk Taufers fiel dabei dermaßen groß aus, dass der Geburtenüberschuss in den Jahren um die Jahrhundertwende erstmals in den zweistelligen Bereich rutschte.714 Das Ahrntal behielt seine Spitzenposition hinsichtlich der Geburtenhäufigkeit bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts, sodass die Geburtenziffern der einzelnen Gemeinden etwa im Mittel der Jahre 1932 bis 1941 den für diese Zeit untypisch hohen
710 711 712 713 714
Conrad, Greis, 56–61. Vgl. Teibenbacher, Bevölkerungsbewegung, 257. Vgl. Leidlmair, Bevölkerung, 90, Fußnote 1. Daimer, Geburten- und Sterblichkeitsverhältnisse, IX. Vgl. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, Bd. 2, 21 (Tab. 21).
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Wert von über 30 Promille der lebenden Bevölkerung betrugen.715 Derartig hohe Zahlen lassen es demnach unwahrscheinlich erscheinen, dass die Erhöhung der Altersstruktur in der ärztlichen Praxis Folge niedriger Geburtenzahlen und einer damit einhergehenden Verkleinerung der nachwachsenden Bevölkerung des Tauferer Ahrntals gewesen sein könnte. Einer derartigen Interpretation widersprechen nicht zuletzt auch die im Abschnitt zu den Säuglingen dargestellten Ergebnisse, die während der beiden für den Vergleich ausgewählten Jahrzehnte ein deutliches Anwachsen der Patientinnen und Patienten unter einem Jahr belegen. Indessen legen die wenigen bislang durchgeführten mikrohistorischen Studien zu dieser Region nahe, den steigenden Anteil an älteren Patientinnen und Patienten mit vermehrten Wanderbewegungen gewisser Bevölkerungsgruppen in Verbindung zu bringen. Gerade das Ahrntal und seine Seitentäler, in geringerem Ausmaß auch der Tauferer Boden, zählten etwa zwischen 1880 und 1910 zu jenen Gegenden in Südtirol, die durch eine kontinuierliche Binnenwanderung einen beträchtlichen Teil ihrer Bevölkerung an andere Bezirke verloren hatten.716 Der Anziehungskraft des sich zunehmend industrialisierenden Bozner Beckens oder jener der sich auf den Obstbau und den Fremdenverkehr spezialisierenden Meraner Gegend hatten die meist agrarisch strukturierten Gemeinden des hinteren Pustertals nur wenig entgegen zu setzen. Die zunehmende verkehrstechnische Isolierung und die wirtschaftliche Randlage der überwiegend auf hohe Gebirgszonen verteilten Bergbauernhöfe ließ Arbeitskräfte aus den unteren Schichten in Scharen abwandern. Zudem verschlechterten sich durch die endgültige Schließung des Kupferbergwerks in Prettau 1893 die Verdienstmöglichkeiten der wenigen qualifizierten Facharbeiter im Ahrntal gravierend.717 60 Knappen verloren im Zuge der Stillegung ihre Arbeit, dazu unzählige klein- und mittelbäuerliche Familien und Tagelöhner, denen plötzlich wichtige Nebenerwerbe wie Fuhrdienste, Lieferungen von Holz und Kohle oder etwa der Handel mit Lebensmitteln und Arbeitsmaterialien für die Bergarbeiter verloren ging. Zu guter Letzt zog mit den Bergbeamten die gesamte – zahlenmäßig allerdings geringe – administrative Ebene des Bergbauunternehmens ab. So war die Bevölkerungszahl des Bezirks von geschätzten 10.600 Personen im Jahr 1831 auf etwas über 9.000 im Jahre 1901 gesunken.718 Durch diese sozioökonomischen Entwicklungen näherte sich auch die Altersstruktur der Gemeinden im Ahrntal immer mehr jenem statistischen Mittelwert, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für einen Großteil entlegener ländlicher Gemeinden in der Monarchie charakteristisch wurde. Einer Untersuchung aus dem Jahre 1894 zufolge waren von je 1.000 anwesenden Personen in Ortschaften mit bis zu 500 Einwohnern 54 im Alter zwischen 61 bis 70 Jahren und 25 Personen im Alter über 70, in Ortschaften mit einer Ein715 716 717 718
Siehe die Übersicht bei Leidlmair, Bevölkerung, Abb. 20, 95. Leidlmair, Bevölkerung, 33–37 sowie Abb. 1, 34. Vgl. dazu Steinhauser, Knappen. Vgl. dazu die Grafik bei Messner, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 21.
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wohnerzahl von 10.000 bis 20.000 betrugen die Werte in den erwähnten Altersgruppen hingegen 44 und 21.719 Wie überall in Österreich zu beobachten „vergreisten“ also auch im Tauferer Ahrntal kleine Ortschaften zunehmend, da die jungen und mittleren Altersgruppen in größere Gemeinden und in die urbanen Zentren abwanderten.720 Diese dargestellten demografischen Entwicklungen blieben für die Patientenstruktur der Praxis Franz v. Ottenthals nicht ohne Folgen. Die festgestellte Veränderung der Altersgliederung seiner Patientenschaft hängt somit überwiegend mit der Abwanderung jüngerer – und somit „fruchtbarer“ – Bevölkerungsgruppen aus der Region zusammen. Verbesserungen und Innovationen in der therapeutischen Behandlung spezifischer Alterskrankheiten jedenfalls hielten sich in dieser Zeit in Grenzen und können den vermehrten Zustrom älterer Patientinnen und Patienten nicht erklären. Doch selbst wenn die Möglichkeiten Ottenthals zur effektiven Behandlung vieler Beschwerden der älteren Talbevölkerung generell begrenzt waren, könnte dieser Arzt mit zunehmender Etablierung seiner Praxis vielleicht das Vertrauen einer bestimmten Geschlechtergruppe, etwa älterer Frauen, gewonnen haben. Denn gerade in dieser Patientengruppe ist im zeitlichen Vergleich die auffälligste Verschiebung zu bemerken. Im Folgenden soll daher untersucht werden, wie sich zwischen den 1860er und 1890er Jahren die Geschlechterproportion innerhalb der Patientengruppe der über 65-Jährigen verändert hat. Aus Grafik 3.4.2a ist zu entnehmen, dass zwischen 1860 und 1869 tendenziell mehr Männer als Frauen im höheren Alter die Hilfe Ottenthals in Anspruch nahmen. Sie weist in nahezu jedem Jahr mit Ausnahme von 1862 und 1863 einen männlichen Überhang nach. In den 1890er Jahren hatte sich das Geschlechterverhältnis hingegen gänzlich umgedreht: Nun dominierten die Frauen über 65 in jedem Jahr die Praxis, und die Proportion zwischen den Geschlechtern hatte sich zugunsten der Frauen verschoben. Lässt sich aus Grafik 3.4.2b demnach herauslesen, dass Franz v. Ottenthal möglicherweise von einer „Medikalisierung des (weiblichen) Alters“721 profitieren konnte? Würde dieser Arzt seine Praxis als Allgemeinarzt im ländlichen Tauferer Ahrntal des ausgehenden 20. Jahrhunderts betrieben haben, so wäre dieser Befund mit den strukturellen Gegebenheiten im geschlechtsspezifischen Altersaufbau und mit dem Anteil über 65-Jähriger an der Gesamtbevölkerung vermutlich schnell erklärt. Im 20. und 21. Jahrhundert bestimmt ein deutlicher Überhang von älteren Frauen gegenüber Männern das Bild der Bevölkerungen in nahezu allen westlichen Staaten. 1995 etwa betrug der Anteil 60 bis 80-jähriger Frauen an der Bevölkerung der damaligen Bundesrepublik 19,2 Prozent, jener der über 80-Jährigen 5,7 Prozent. Die Anteile gleichaltriger Männer lagen mit 14,8 und 2,2 Prozent dabei deutlich unter den Werten der
719 Vgl. Rauchberg, Wanderungen, 203. 720 Zu den Einflüssen von Wanderungsbewegungen auf den Bevölkerungsaufbau siehe auch die allgemeinen Bemerkungen bei Bade, Europa, 69–84. 721 So der Titel des Beitrages von Kontradowitz, Medikalisierung, 207–222.
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Grafik 3.4.2a: Patienten und Patientinnen Ottenthals 1860–1869: Greise (über 65 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869
Grafik 3.4.2b: Patienten und Patientinnen Ottenthals 1890–1899: Greise (über 65 Jahre) Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899
Frauen.722 Das Ungleichgewicht zu Ungunsten der Männer wird bei einer Betrachtung der Geschlechterproportion nach Altersgruppen noch offensichtlicher, denn jenseits des 75. Lebensjahres lebten nur noch halb so viele Männer 722 Backes/Clemens, Lebensphase, 49 (Tab. 6).
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wie Frauen, und bei den über 90-Jährigen kamen auf einen Mann sogar vier Frauen.723 Dieser gender gap in der altersspezifischen Bevölkerungsstruktur spiegelt sich in den Daten zur Lebenserwartung wider: So betrug laut der Sterbetafel für Tirol die Differenz in der ferneren Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern bei 65-jährigen Tirolerinnen und Tirolern im Jahre 2002 3,37 Jahre, bei 75-Jährigen 2,48, bei 85-Jährigen 1,33 und bei Menschen im Alter von 95 0,55.724 Die Sterblichkeitsdifferentiale nahmen im Verlauf des höheren Alters zwar ab, dennoch schloss sich die Schere aufgrund der geringeren männlichen Lebenserwartung, der generellen Übersterblichkeit von Männern in allen Altersklassen und durch die Verluste im Zweiten Weltkrieg niemals ganz. Wäre Franz v. Ottenthal ein Arzt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen, böte die Veränderung der Geschlechterproportion seiner älteren und ältesten Patientenschaft hin zu einer Überrepräsentation von Frauen somit allein aufgrund der demografischen Strukturen, die die Lebensphase des Alters bestimmen, wenig Überraschungen. Die „Feminisierung des Alters“725 müsste zwangsläufig auch eine „Feminisierung der Praxis“ nach sich ziehen, außer Ottenthal hätte die Gruppe betagter älterer Männer gezielt umworben und etwa durch Abstimmung der Therapieangebote auf deren Bedürfnisse als Kunden gewonnen. Nun ist aber diese Landarztpraxis zeitlich rund 100 Jahre vor den aktuellen Statistischen Jahresberichten der demografischen Ämter anzusiedeln. Richtigerweise muss zur Einschätzung des gender bias bei den jährlichen Patientenzahlen das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in den höheren Altersgruppen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts herangezogen werden. In der Tat legen historisch-demografische Studien nahe, dass sich mit dem beginnenden 20. Jahrhundert die Sterblichkeit allmählich nicht nur auf die höheren Altersgruppen zu konzentrieren begann, sondern dass Frauen hinsichtlich der ferneren Lebenserwartung den Männern gegenüber weit davonzogen. Dieser als gender gap bezeichnete Prozess setzte tendenziell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und gilt allgemein als Phänomen von Urbanisierung und Industrialisierung.726 So lässt ein Blick in einige historischdemografische Untersuchungen zu Gesellschaften in Frankreich, England oder Deutschland für die Zeit vom 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert schon ein recht einheitliches Muster erkennen: Eine mit Einsetzen der Datenreihen überaus hohe Sterblichkeit unter einem Großteil der weiblichen Altersstufen wich allmählich einer männlichen Übersterblichkeit. Ungefähr ab der Hälfte des 19. Jahrhunderts wiesen Frauen nur noch in den jüngeren Jahren höhere Sterberaten als Männer auf, in den höchsten Altersklassen lagen die weiblichen Sterbeziffern durchschnittlich immer unter jenen der Männer. 723 Olbermann/Reichert, Hochaltrigkeit, 202. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1989. 724 Sterbetafel 2002 (Tirol), http://www.lebenserwartung.info/index-Dateien/geschdiff.htm [Zugriff am 25.10.2010] 725 Vgl. dazu Backes/Clemens, Lebensphase, 43 f.; Laslett, Alter, 79–102. 726 Dazu ausführlicher bei Weigl, gender gap, 23 f.
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Abb. 3.4.1: Patientin verstorben – Zeichnung eines Grabhügels in der Krankengeschichte Nr. 1441 des Jahres 1872 Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1872 (Ausschnitt)
So zeigte Arthur Imhof am Beispiel von vier unterschiedlich strukturierten ländlichen und städtischen Regionen in Deutschland auf, dass im Durchschnitt der Jahre zwischen 1780 und 1899 bei den verheirateten Frauen in den reproduktiven Altersklassen noch eine Übersterblichkeit festzustellen war, die in den höheren und höchsten Altersstufen ab ca. dem 65. Lebensjahr aber bereits von einer männlichen Übersterblichkeit abgelöst wurde.727 In Frankreich starben etwa 1860/62 auf hundert Frauen sowohl in der Altersgruppe der 65 bis 75-Jährigen als auch in jener der 75 bis 84-Jährigen jeweils 107 Männer. In der Periode 1900/02 betrug dieses Verhältnis bei den 75–84-Jährigen bereits 120 und in der nächstfolgenden Altersgruppe 121.728 Ähnliche Werte konnte Fridlizius für das ländliche Schweden errechnen, wo die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Jahrzehnt 1871 bis 1880 bei 110 lagen und in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts auf 115 angestiegen waren.729 In Stockholm selbst gingen die Sterberaten zwischen älteren Männern und Frauen noch weiter auseinander, denn wie in vielen europäischen (Groß-)Städten herrschte auch in der schwedischen Metropole eine klare männliche Übersterblichkeit unter den Erwachsenen, die sich in den höchsten Altersstufen fortsetzte (etwa 1861–70 bei 184 zu 100 im Alter von 60–65).730 Innerhalb der Genusgruppen hatten Frauen ab dem 50. Lebensjahr in preußischen Städten etwa im Jahr 1877 zwar deutlich bessere Überlebenschancen als ihre Geschlechtsgenossinnen auf dem Land, allerdings lagen selbst in den preußischen Landgemeinden die Sterberaten älterer Frauen noch deutlich unter jenen gleichaltriger Männer in den Städten.731 Lediglich die (zahlenmäßig allerdings kleine) Gruppe der hochbetagten Männer jenseits des 80. Lebensjahres scheint im vom Vögele gewählten Stichjahr 1877 von der städtischen Versorgungslandschaft und der spezialisierten medizinischen Infrastruktur wie etwa Universitätskliniken
727 728 729 730 731
Vgl. Imhof, Übersterblichkeit, Abb. 1–4, 490 und 492. Vgl. Tabutin, surmortalité, 143 (Tab. 6). Vgl. Fridlizius, Mortality, 266 (Tab. 12 A). Vgl. Fridlizius, Mortality, 268 (Tab. 12 C). Vgl. Vögele, Sozialgeschichte, 101 (Schaubild 2.5).
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profitiert zu haben. Deren fernere Lebenserwartung lag höher als jene gleichaltriger Frauen am Land. Nicht zuletzt stützen auch die überlieferten Zahlen zum geschlechtsspezifischen Anteil von verwitweten Personen an der Gesamtbevölkerung die These, der weibliche Überhang in der Ottenthalschen Praxis der 1890er Jahre hinge in erster Linie mit einem bei Frauen ungleich schneller als bei Männern erfolgten Wandel traditioneller Sterblichkeitsmuster (sinkende Sterberaten, steigende Lebenserwartung) zusammen. Beispielsweise lag um 1900 in Österreich der Anteil verwitweter Frauen an der gesamten weiblichen Bevölkerung bei 11,6 Prozent, jener der verwitweten Männer hingegen bei fünf Prozent.732 Zur Jahrhundertwende überlebten Frauen ihre Ehemänner demnach bereits weit häufiger als Männer ihre Ehefrauen, deren Sterbewahrscheinlichkeit im 65. Lebensjahr zur dieser Zeit mit 0,04592 klar unter jener der gleichaltrigen Männer mit 0,04971 lag.733 Diese allgemeine demografische Entwicklung vermag das ermittelte Ergebnis eines weiblichen Überhangs unter der Patientenschaft Ottenthals sehr gut zu erklären. Anders als noch in den 1860er Jahren begann spätestens in den 1890er Jahren die verwitwete, in schwarz gekleidete und betagte Kranke das Bild von älteren Patienten in seiner Praxis zu dominieren. Wenn Peter Laslett folglich konstatiert, das „Dritte Alter“ sei in den industrialisierten Gesellschaften zum größten Teil eine „Angelegenheit der Frauen“734, so beschreibt er einen Prozess, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schon weit fortgeschritten und für heutige Frauen im 60. Lebensjahr mit einem zum gegenwärtigen Zeitpunkt rund vier Jahre umfassenden Vorsprung an der mittleren Lebenserwartung verbunden war. 3.4.3 „83 ann laborat senio“735: Die Konsultationsgründe im hohen Alter Im vorherigen Abschnitt konnte deutlich gemacht werden, dass die Praxis Franz v. Ottenthals sehr wohl auch von älteren Kranken aufgesucht worden ist, und dass der Anteil weiblicher Patienten über 65 Jahren während des Beobachtungszeitraums stärker angewachsen war als jener der Männer. Im letzten Jahrzehnt seiner Praxistätigkeit hatte sich so das Verhältnis zwischen 732 Sieder, Probleme, 170 (Tab. 4). Der höhere Anteil weiblicher Witwenschaft ist natürlich auch auf den Altersunterschied zwischen den Ehepartnern zurückzuführen. Im Tauferer Ahrntal lag das durchschnittliche Heiratsalter zwischen 1826 und 1850 für Männer bei 33,6 und für Frauen bei 29,7 Jahren. In der nächstfolgenden Periode zwischen 1851 und 1875 war das Alter bei Männern und bei Frauen sogar angestiegen, nämlich auf 35,3 bzw. auf 31,1 Jahre. Vgl. Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, Bd. 2, 13 (Tab. 13). 733 Österreichisches Statistisches Handbuch 35 (1916–1917), 42 f. (Tab. C.14). Allerdings übertraf der Anteil der Witwen auch schon in früheren Jahrhunderten jene der Witwer. Vgl. etwa für das 17. und 18. Jahrhundert Borscheid, Geschichte, 396–419. 734 Laslett, Alter, 80. 735 HM 407/1861, Eintrag vom 25.3.1861.
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männlichen und weiblichen Patienten in dieser höchsten Altersgruppe jener Überrepräsentation von Frauen angenähert, die im 20. Jahrhundert das Bild vieler Arztpraxen bestimmen sollte.736 Doch welche Beschwerden, Symptome und Krankheitsbilder prägten den „geriatrischen Praxisalltag“ dieses Allgemeinarztes in Sand? Bestimmte hinsichtlich der älteren Patientinnen und Patienten ähnlich wie heute ein Mix aus chronischer Erkrankung, Multimorbidität und Demenz das Diagnosespektrum der ärztlichen Praxis? Am 12. März 1893 etwa saß der 76-jährige Stefan Mairhofer* aus Mühlwald im Warteraum von Neumelans, da er seit kurzem von mäßigen Schmerzen in der linken Seite sowie einem Husten geplagt wurde und ständig frösteln musste. Der Auswurf wäre nicht blutig gewesen, dafür hätte er des Öfteren an Lungenentzündungen gelitten, diese aber immer glücklich überstanden.737 Es lag für Ottenthal vermutlich nahe, die beschriebenen Symptome als erste Anzeichen einer sich erneut anbahnenden Pneumonie zu deuten. Doch inwiefern kann diese Krankengeschichte als typisch für die Behandlung älterer Menschen angesehen werden in einer Zeit, in der akute Infektionskrankheiten das Todesursachenspektrum weitgehend dominierten? Zählte im Tauferer Ahrntal der 1890er Jahre eine Lungenentzündung zu den spezifischen Altersleiden der Menschen ab 65, und gehörte Stefan Mairhofer* mit seinen 76 Jahren demnach zur Hochrisikogruppe? Mairhofer* selbst fiel wenige Tage nach der ersten Konsultation tatsächlich der Pneumonie zum Opfer. Dieses Mal konnte er dem Tod, der in Gestalt der heimtückischen Atemwegsinfektion an seinem Bette Aufstellung nahm, nicht mehr wie früher so oft von der Schippe springen.738 Allerdings kann letztlich nur eine quantifizierende Auswertung der Historiae Morborum nach Diagnosen und Beschwerdeanlässen die Frage beantworten, wie häufig Franz v. Ottenthal als Arzt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „Abbaukrankheiten“739 zu Gesicht bekam und ob Krankheitsbilder wie Krebs oder Demenz trotz des geringen Anteils hochbetagter Personen an der Gesamtbevölkerung zur Routine seines Praxisalltags gehörten. 3.4.3.1 Exkurs I: Wie häufig starben alte Menschen an Infektionskrankheiten? Betrachtet man den langfristigen Wandel der Sterblichkeitsmuster in den westlichen Ländern, sind die Verschiebungen im Todesursachenspektrum der letzten 150 Jahre in der Tat nicht zu übersehen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts traten ausgedehnte Epidemien von Infektionskrankheiten wie Pocken oder 736 Martin Dinges spricht auf Grundlage von Datenmaterial aus den 1980er Jahren von 20 Prozent mehr Frauen in Arztpraxen. Vgl. Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 295 f. 737 [„76 ann. anteheri adficiebatur frigore dolore modico in latere sinistro et tussi absque sputo cruento bis vomuit heri et hodie – jam saepius pneumonia laboravit“]. HM 445/1893, Eintrag vom 12.3.1893. 738 HM 445/1893, Eintrag vom 14.3.1893. 739 Unter dieser Kategorie versammelte Prinzing 1930 Erkrankungen wie Krebs oder altersbedingte Herzerkrankungen. Siehe dazu Prinzing, Handbuch, 519.
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Cholera immer seltener auf und Einträge über Todesfälle aufgrund dieser akuten Erkrankungen verschwanden aus den Sterbebüchern der Gemeinden in ganz Europa. Der ehemals schnell eintretende Tod gehörte hier für immer weniger Menschen zur alltäglichen Erfahrung und war einem schleichenden Tod gewichen, der in Gestalt chronisch verlaufender Erkrankungen die Mortalität wie auch die Morbidität immer deutlicher bestimmen sollte. Der USamerikanische Demograf Abdel Omran entwickelte in den 1970er Jahren das Modell der Epidemiologische Transition, um diese Verschiebung innerhalb des Todesursachenspektrums von den Infektionskrankheiten hin zu den degenerativen Erkrankungen zeitlich genauer zu fassen.740 Omrans Konzept und Vorschlag für geeignete Indikatoren zur Bestimmung der Übergänge ist in der Zwischenzeit in zahlreichen historisch-demografischen Studien zu einzelnen Ländern und Regionen Europas überprüft und modifiziert worden.741 Die aus diesen Untersuchungen ablesbare langfristige Entwicklung der Sterberaten für die einzelnen Altersgruppen legen aber nahe, dass der Rückzug von Infektionskrankheiten in erster Linie bei den jüngsten und jüngeren Altersgruppen eine immense Bedeutung erlangte. Christoph Conrad stellt daher zu Recht die Frage, ob eine Transition, verstanden als Abnahme von infektiös bedingten Todesursachen und als Zunahme degenerativ bedingter Sterbefälle, für ältere Menschen aufgrund der altersspezifischen Krankheitsbilder nicht eine andere Dimension besaß als für jüngere.742 Studiert man Tabellen zu altersspezifischen Todesursachen, wie sie etwa Jörg Vögele für Preußen und für einzelne Stichjahre zwischen 1877 und 1907 veröffentlicht hat, genau, so zeigt sich in der Tat, dass die Sterblichkeit in der Bevölkerungsgruppe der über 60-Jährigen eher auf Kontinuität denn auf Wandel hindeutet.743 Schon zu dieser Zeit starben die meisten älteren Leute an Krebs und an Herz-Kreislauferkrankungen, wenn man von Atemwegserkrankungen und Tuberkulose absieht und man die unspezifische Todesursache „Altersschwäche“ ebenfalls als durch degenerative Erkrankungen verursacht ansieht.744 Lediglich der Abdominaltyphus war eine infektiöse Erkrankung, bei der die Zahl der daran verstorbenen Älteren bereits vor der Jahrhundertwende stark rückläufig war. So konnte Reinhard Spree in seiner Studie zur Veränderung des Todesursachenspektrums in Deutschland zwar zeigen, dass dort zwischen 1876 und 1892 die Anteile von akuten Infekten als Todesursache am allgemeinen Sterblichkeitsrückgang mit 23 Prozent und jene von Erkrankungen der Verdauungsorgane mit 33 Prozent zwar überdurchschnittlich hoch waren.745 Ebenfalls hohe Werte erreichte der Anteil der Tuberkulo740 Omran, Transition, 509–538. 741 Hier seien stellvertretend zwei bedeutende deutschsprachige Studien erwähnt, nämlich jene zu deutschen Großstädten von Vögele, Sozialgeschichte, 29–44, und jene zu Wien von Weigl, Wandel [2000a], 162–168. 742 Conrad, Greis, 80–91. 743 Vgl. Vögele, Sozialgeschichte, 480–487. 744 Vgl. dazu von Kontradowitz, Medikalisierung, 216–221; Conrad, Sterblichkeit, 218–222. 745 Spree, Rückgang, 23–26.
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sesterblichkeit (22 Prozent) und, in deutlich geringerem Ausmaß, jener von Typhus (5 Prozent). Doch fielen den ersten beiden Todesursachen in erster Linie Säuglinge und bis zu einem gewissen Grad Kleinkinder zum Opfer, daher profitierten diese Altersgruppen vom Rückgang dieser Todesursachen am meisten. Ältere hingegen verstarben nur selten an Masern, Scharlach oder Pocken. Für sie war der Rückgang der Sterblichkeit an Atemwegserkrankungen und Tuberkulose ungleich relevanter, wie nicht zuletzt auch Conrads eigene Untersuchung zum Wandel der altersspezifischen Todesursachen im Köln der Jahre 1835 bis 1930 zeigte. Der Rückgang der durch Infektionskrankheiten bedingten Sterbefälle und ein Anstieg der Todesfälle aufgrund chronischer und degenerativer Krankheiten ergab für die Gruppe der Älteren weniger spektakuläre Kurven als dies das altersunspezifische Modell von Omran nahelegt.746 Hatten die Menschen demnach einmal ein hohes Alter erreicht, war das Risiko etwa einer Krebserkrankung zu Beginn der erwähnten Untersuchungen trotz aller Veränderungen ungefähr so hoch wie am Ende. Lediglich Atemwegserkrankungen wie Lungenentzündung oder Lungentuberkulose führten seit der Wende ins 20. Jahrhundert auch in den höheren Altersgruppen immer seltener zum Tod. Hinsichtlich dieser infektiös bedingten Krankheitsbilder der Lunge kann tatsächlich von einer Verschiebung des Todesursachenspektrums gesprochen werden, wobei „dieser“ Epidemiologische Übergang zeitlich in die 1920er Jahre anzusetzen ist. Zu jener Zeit war die Hälfte des bei den ältesten Bevölkerungskreisen erreichten Sterblichkeitsrückgangs der Abnahme von akuten Lungeninfekten sowie Tuberkulose geschuldet.747 Angesichts dieser Ergebnisse spricht Conrad treffend davon, dass „die Todesursachen alter Menschen im 19. Jahrhundert den Jüngeren den Spiegel des gesellschaftlichen Fortschritts“748 vorgehalten hätten. Denn jene Generation, die dem Tod durch akute Infektionskrankheiten im Zuge der Epidemiologischen Transition als Säuglinge entronnen wäre, sähe nun einem Tod durch chronische Erkrankungen ins Auge – genauso wie schon ihre Vorgängergeneration, die ebenfalls ein hohes Alter erreicht hatte. 3.4.3.2 Exkurs II: „Altersschwäche“ und „Multimorbidität“ als medizinische Konzepte Eine Besonderheit von körperlichen Beeinträchtigungen im hohen Alter ist das oftmalige Zusammentreffen mehrerer Erkrankungen.749 Eine unbehandelte oder nicht gänzlich auskurierte Atemwegserkrankung im frühen Erwachsenenalter beispielsweise kann mit der Person „altern“ und sich im letzten 746 747 748 749
Conrad, Greis, 80–87. Siehe Conrad, Greis, 87. Conrad, Greis, 85. Zu den spezifischen Besonderheiten von Krankheitsprozessen im Alter siehe Backes/ Clemens, Lebensphase, 87–106 und 182–187; Kruse/Schmitt, Gesundheit, 207–209; Lang, Altern, 284–287.
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Lebensabschnitt aufgrund des schwächeren Immunsystems zu einer chronischen Bronchitis ausbilden. Gleichzeitig kann bei der Person aber auch schon eine Erkrankung ausgebrochen sein, die wie Diabetes mellitus charakteristisch für das Alter ist („Altersdiabetes“) und überwiegend das sechste, siebte und achte Lebensjahrzehnt betrifft.750 Gesellt sich dann noch ein Krankheitsbild hinzu, das aufgrund des hohen Alters einen unspezifischen Verlauf oder einen atypisch langen Heilungsprozess in Anspruch nimmt wie der berüchtigte Oberhalsschenkelbruch betagter Menschen, stellt die Entwirrung eines derartigen Konvoluts unterschiedlicher Symptome für den Arzt vor allem dann eine große Herausforderung dar, wenn er nicht wie der Hausarzt/die Hausärztin mit der Vor- und Familiengeschichte der Erkrankten vertraut ist. Diese sogenannte Multimorbidität ist im hohen Alter für die komplexen Diagnostiken und die umfangreichen Medikationen verantwortlich.751 Es verwundert daher nicht, wenn Franz v. Ottenthal bei seinen Patientinnen und Patienten in den höheren Altersstufen ebenfalls mit dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer voneinander unabhängiger Krankheitsbilder zu kämpfen hatte. Am 5. Juni 1864 beispielsweise verschrieb er einer 74-jährigen Patientin Lapis divinus gegen deren chronische Augenentzündung.752 Eigentlicher Anlass der Konsultation war jedoch weniger das langjährige Augenleiden als vielmehr ein nicht näher spezifiziertes momentanes „Unwohlsein“, das sich den Angaben der Patientin zufolge als „adpetitus dejectus“, „sitis“, „alvus dura“ und „dedolatio artuum“ äußerte. Im Zuge einer nur wenige Tage später erfolgten Konsultation tauchte dann ein weiteres Leiden auf, das der Patientin schon länger Zeit Schmerzen bereitet hatte, denn Ottenthal schrieb nun von einem „großen und nicht wieder zurückzupressenden Leistenbruch, der öfter schmerzt“753. Diese Frau aus Luttach musste sich demnach schon über mehrere Jahre hinweg mit voneinander unabhängigen Erkrankungen herumschlagen, die nacheinander aufgetreten waren und sie mit zunehmendem Alter immer mehr schwächten. Zu allem Übel hatte sie kurz vor ihrem Tod im Jahre 1869 offenbar einen Schlaganfall erlitten, denn der Pfarrer vermerkte im Sterbebuch der Gemeinde „Altersschwäche u. zuletzt Schlagfluss“ als Todesursache.754 In dieser eigentümlichen Formulierung treten zwei völlig unterschiedliche Konzepte des Altersprozesses auf. Offensichtlich ging für diesen Pfarrer das Altern mit einem krankhaften Prozess einher, der in der Entität „Schlagfluss“ 750 Vgl. dazu etwa die altersspezifischen Sterberaten an Diabetes mellitus bei Kruse/ Schmitt, Gesundheit, 210 (Tab. 2). 751 So ist etwa in einer deutschen Studie aus den frühen 1980er Jahren nachzulesen, dass in einer internistischen Klinik rund 60 Prozent der behandelten 70–79-Jährigen fünf bis sieben Diagnosen erhielten, wohingegen den knapp 80 Prozent der 10–19-Jährigen mit nur einer einzigen Diagnose ein viel eindeutigeres Krankheitsbild zugeordnet werden konnte. Vgl. Lang, Altern, 286. 752 HM 540/1864, Eintrag vom 5.6.1864. 753 [„laborat annosa magna irreductibili probasi inguinali quae saepius dolet hodie quoque magis quam prius“]. HM 540/1864, Eintrag vom 10.6.1864. 754 SLA, Sterbebuch Luttach 1869. Sterbeeintrag vom 21.2.
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seinen kausalen und finalen Höhepunkt fand. Andererseits hatte er noch das ältere Konzept der Altersschwäche als Todesursache verinnerlicht, das ein Sterben durch allmähliches Schwinden der Kräfte denkbar werden ließ, ohne dass dem Tod eine spezifische Erkrankung als Ursache vorangegangen wäre. Stefan Schmorrte interpretiert diesen Wandel im medizinischen Diskurs um die Krankheiten des Alters als eine Form, „dem ätiologischen Denken in der Medizin Raum zu geben“755, oder wie es ein Zeitgenosse Ottenthals ungleich poetischer ausdrückte „[…] wo demnach das Leben einfach erlischt und der Mensch fällt, wie das Blatt im Winter“756. Die beiden „Altersforscher“ Christoph Conrad und Hans-Joachim von Kondratowitz sprechen in ihren Studien deshalb auch von einer regelrechten „Karriere“ der „Altersschwäche“ als Todesursache im 19. Jahrhundert.757 Deren Entwicklung über rund 150 Jahre hinweg haben die beiden Autoren anhand der langfristigen Entwicklung der Todesursachenbezeichnungen zu ausgewählten deutschen Städten anschaulich nachgezeichnet, und auch Susanne Hoffmann konnte deren Nachklingen noch in einigen der von ihr untersuchten Biographien des 20. Jahrhunderts nachweisen.758 Abseits des Problemfeldes der Todesursachenbezeichnung zeigen die Krankengeschichten Ottenthals recht deutlich, dass das Altern von mehreren gleichzeitigen Krankheitsverläufen begleitet wurde. Multimorbidität kam bei seinen Patientinnen und Patienten überaus häufig zum Vorschein, was eine Systematisierung der Konsultationsanlässe nach abgegrenzten Krankheitsgruppen methodisch ungemein erschwert. Wenn ein derartiges Unterfangen im Folgenden trotz der bekannten Fallstricke einer retrospektiven Diagnostik versucht wird, so geschieht dies in der Überzeugung, dass die ermittelten Prozentwerte lediglich Tendenzen widerspiegeln und weniger eine repräsentative Morbititätsstatistik im modernen Sinne ergeben sollen. 3.4.3.3 Die Veränderung der Konsultationsgründe bei über 65-Jährigen zwischen den 1860er und den 1890er Jahren In den beiden untersuchten Jahrzehnten äußerten ältere Patientinnen und Patienten über 65 dem Arzt Franz v. Ottenthal gegenüber am häufigsten Beschwerden, die sich im Umfeld der Atmungs- und Verdauungsorgane lokalisieren ließen oder die das Nervensystem betrafen. In den Jahren zwischen 1860 und 1869 entfielen bei den Männern 45,7 Prozent und bei den Frauen 49,2 Prozent aller Konsultationsgründe allein auf diese drei Rubriken. In den 755 Schmorrte, Alter, 21. 756 Oesterlen, Handbuch, 712, Fußnote 2. 757 Vgl. zur Geschichte des Wandels der „Altersschwäche“ als Todesursache Kondratowitz, Medikalisierung, 216–220; Conrad, Sterblichkeit, 218–222; Schmorrte, Alter, 19–21; Conrad, Greis, 82–86. Das Konzept der Altersschwäche lässt sich dabei bis zu den antiken Autoren nachweisen, wie Daniel Schäfer in seiner Studie überzeugend dargelegt hat. Vgl. Schäfer, Alter, 31–80. 758 Hoffmann, Alltag, 312–314.
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1890er Jahren waren diese Werte leicht gestiegen und machten nun mit 53,2 Prozent (Männer) und 52,2 Prozent (Frauen) bei beiden Geschlechtern nahezu über die Hälfte der Beschwerdeanlässe aus (vgl. Tab. 3.4.1a und Tab. A.3.4.1b). Angeführt wurde die Liste der von Ottenthal notierten Symptome dabei von krankhaften Prozessen der Atemwege wie Husten in allen Ausformungen und in Kombination mit weiteren Symptomen von Atemnot bis hin zu Auswürfen jeglicher Farbe und Konsistenz („tussis intensa sicca c. sputis cruentis paucis etiam respirium citatum“759; „tussis c. largis crassis sputis“760; „tussis molesta cum roncho sibilloso et dyspnoea“761). Ein unspezifischer Husten sowie präziser diagnostizierte Lungenentzündungen, Bronchitiden und Katarrhe zwangen in 15 bis 21 Prozent aller Konsultationen zur Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe. Dieses Ergebnis ist wenig überraschend, zählten doch Krankheiten der Atmungsorgane im Allgemeinen und Lungenentzündungen im Speziellen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu jenen Todesursachen, die außer bei Säuglingen nur noch bei den älteren und hochbetagten Erwachsenen zu hohen Sterberaten führten. In Deutschland starben 1912/13 bei den über 70-Jährigen 752 von 100.000 Lebenden an Lungenentzündung und 725 an anderen Atemwegserkrankungen. Die Durchschnittswerte aller Altersklassen lagen sowohl bei Lungenentzündung (135 pro 100.000) als auch bei anderen Erkrankungen (101 pro 100.000) deutlich unter diesen Zahlen.762 Mit prozentualen Anteilen ebenfalls zwischen 15 und 20 Prozent entfiel nicht ganz ein Fünftel aller Konsultationen auf Erkrankungen und Beschwerden des Verdauungsapparates im weitesten Sinne, wobei eigentliche Störungen des Magen-Darm-Traktes wie Durchfälle, Sodbrennen und Magenschmerzen mit oder ohne Erbrechen am öftesten beklagt wurden. Eingeweidebrüche („Hernien“) wurden ebenso wie Wurmbefall, Gelbsucht oder andere Lebererkrankungen nur selten notiert. Methodisch muss dazu allerdings angemerkt werden, dass die spezifische Aufschreibpraxis Ottenthals, die vielfach nur aus einer Auflistung der Symptome ohne Stellung einer klaren Diagnose bestand, einer medizinisch exakten Systematisierung der Erkrankungen der Verdauungsorgane grundsätzlich im Wege steht. Hinsichtlich dieser Beschwerdegruppe lassen sich weder ausgeprägte geschlechtsspezifische Auffälligkeiten noch markante Veränderungen innerhalb der beiden untersuchten Zeiträume feststellen. Ein ebenfalls nur leichter Anstieg etwa von 12,4 auf 14,2 Prozent bei den Männern zwischen den 1860er und den 1890er Jahren ist bei jenen Konsultationen festzustellen, die in die Rubrik „Nervensystem“ aufgenommen wurden. Auch wenn Schlaganfälle und paralytische Erscheinungen dieses Spektrum deutlich dominierten, war dennoch ein gutes Drittel der das Nervensystem betreffenden Klagen auf Hör- und Sehstörungen zurückzuführen. Altersschwerhörigkeit, Ohrensausen, grauer und grüner Star sowie Fehlsichtigkeit 759 760 761 762
HM 676/1865, Eintrag vom 14.5.1865. HM 724/1868, Eintrag vom 29.12.1868. HM 658/1869, Eintrag vom 11.9.1869. Prinzing, Handbuch, 518.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
Tab. 3.4.1a: Veränderung der Konsultationsgründe bei über 65-Jährigen, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899
Konsultationsgrund
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der Männer 1860–1869
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total (Zahlen absolut)
1890–1899
Prozentualer Anteil eines Konsultationsgrundes innerhalb der Gruppe der Frauen 1860–1869
1890–1899
6,0 0,3 12,4 0,6 16,9 16,5 5,6 0,1 8,3 6,5
9,3 0 14,2 1,5 21,2 17,8 6,1 1,0 6,6 4,7
7,7 0,3 13,9 0,7 15,6 19,7 1,6 0,9 11,2 5,8
10,5 0 15,4 2,6 21,4 15,4 1,5 2,1 12,1 4,6
5,3 6,3
5,5 6,7
2,9 10,6
3,3 7,7
15,2
5,4
9,1
3,4
100 (647)
100 (995)
100 (583)
100 (1357)
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen
und Augenentzündungen zählten zu häufig notierten Symptomen des höheren Alters. „75 laborat cataracta incipienti in utroque oculo“763 lautete etwa der Eintrag zu Johann Steinhauser* aus St. Johann aus dem Jahre 1865, dessen berufliche Tätigkeit als Hutmann beim Kupferbergwerk in Prettau764 möglicherweise die Entwicklung dieser Linsentrübung begünstigt hatte. Im zeitlichen Vergleich ist eine markante Verschiebung der Anteile von Hirn- und Nervenerkrankungen und von Erkrankungen der Hör- und Sehnerven in Richtung Symptomatiken der ersten Gruppe (etwa „apoplexia“ oder „insultus apoplecticus“) zu bemerken. Wie die Untersuchung von Simone Moses 763 („75 leidet an beginnendem grauem Star in beiden Augen“). HM 920/1865, Eintrag vom 29.6.1865. 764 Als eine Art „Betriebsführer“ war der Hutmann im Bergbau für die jeweilige Belegschaft eines Grubenbaus verantwortlich, etwa für die genaue Einhaltung der Arbeitszeiten oder die ordnungsgemässe Verwahrung des Werkzeugs. Vgl. Palme/Ingenhaeff, Stollen, 49–52.
3.4 „81 ann […] vires corporis et animi decrescunt“
305
über die Krankheiten der älteren Patientinnen und Patienten der Universitätsklinik Tübingen zeigt, nahmen zwischen 1880 und 1914 neurologische Krankheitsbilder einen steigenden Anteil an den Diagnosen ein.765 Den von ihr festgestellten geringen Anteil an behandelten Schlaganfällen führt die Autorin dabei auf den mit dieser Erkrankung verbundenen hohen Pflege- und Betreuungsaufwand zurück, den eine Medizinischen Klinik zu dieser Zeit nicht übernehmen konnte. Die Versorgung von Schlaganfallpatientinnen und -patienten wäre daher von den Angehörigen zu Hause geleistet worden, die – dies beweisen die Krankenjournale Ottenthals deutlich – durchaus die Ärzte vor Ort in die Betreuung mit einbezogen. Nur die wenigsten Patientinnen und Patienten wurden ausschließlich aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung oder psychischen Beeinträchtigung behandelt. In absoluten Zahlen war bei den Männern in den 1860er Jahren nur ein konkreter Fall zu finden (“Wahnsinn“766), bei den Frauen bei einer etwas weniger großen Grundmenge immerhin vier (drei Fälle von Melancholie und ein Fall „allgemeiner Unbehaglichkeit und Unruhe“ aufgrund eines Wechsels des Wohnsitzes767). In den 1890er Jahren nahmen psychische Störungen mit vier diesbezüglichen Krankengeschichten bei den Männern und elf bei den Frauen einen ähnlich geringen Umfang ein. Allerdings sind auch hier die methodischen Probleme einer eindeutigen Zuweisung aufgrund der seinerzeit unzureichenden Diagnostik psychischer Erkrankungen und aufgrund mehrerer gleichzeitig notierter Beschwerdebilder überaus groß. Denn es kam nicht selten vor, dass Ottenthal neben den ursprünglichen Gründen für die ärztliche Inanspruchnahme wie Bauchschmerzen, Atemnot oder Hauterkrankungen zusätzliche Bemerkungen über einen verwirrten Geisteszustand des Kranken, eine depressive Verstimmung oder über eine „klassische“ psychische Erkrankung anführte. So wurde ein 76-jähriger Patient aus Mühlwald zu Beginn des Jahres 1865 von Ottenthal zwar als Melancholiker eingestuft, die Diagnose und Therapie zielten jedoch auf eine Behandlung der rheumatischen Schmerzen in den Knien ab.768 Trotz dieser geringen Fälle in der Ottenthalschen Praxis müssen sich die vor Ort ansässigen Gerichts- und Gemeindeärzte vor dem Hintergrund der auch in der zweiten Jahrhunderthälfte noch äußerst beschränkten Möglichkeiten institutioneller Versorgung für psychisch Erkrankte eine nicht zu unter765 Vgl. Moses, Alt, 196 f. (Tab. 48) sowie 205 (Tab. 49). 766 [„66 ann. jam ex aestate semi amens est ut prius – ante 34 ann. – nunc penitus est amens“]. HM 1219/1862, Eintrag vom 30.11.1862. 767 [„70 ann ex semestri infirma laborat ob locomotionem domicilii dysphoria universali et inquietudine, ut numquam quiescat, functio laesa nulla praeter alvum pigram“]. HM 447/1864, 25.5.1864. 768 [„76 ann melancholicus laborat doloribus genuum arthrorheumaticis“]. HM 67/1865, Eintrag vom 9.1.1865. Elena Taddei weist darauf hin, dass „Melancholie“ bei einer Abfrage sämtlicher in den Krankengeschichten notierten psychischen Störungen am häufigsten von Ottenthal notiert wurde. Dies hängt vermutlich mit dem Wissenstand um psychische Erkrankungen zur Zeit seiner Ausbildung in den 1840er Jahren zusammen. Eine Ausdifferenzierung der „Nervenkrankheiten“ begann sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen. Vgl. Taddei, Ottenthal, 133–141.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
schätzende Kompetenz bei „Geisteskrankheiten“ im Alter erworben haben.769 Hochrechnungen zufolge hätten um 1880 im gesamten Bezirk Bruneck rund drei Viertel aller „Irren“ von bestehenden regionalen Netzwerken ambulanter Pflege und Betreuung durch Familie, Arzt und Gemeinde aufgefangen werden müssen.770 Wie die prozentuale Verteilung in den Krankenjournalen Ottenthals in den beiden Jahrzehnten zeigt, waren sowohl altgewordene psychisch Kranke als auch psychisch erst im Alter Erkrankte in Relation zu den übrigen Patientengruppen allerdings nur selten in der Praxis vertreten. Aus nahezu denselben Gründen ist eine rein quantitative Erfassung demenzieller Erkrankungen nahezu unmöglich. Degenerative Demenzen korrelieren stark mit dem Alter, treten demnach im jüngeren Alter selten auf und zeigen erst in den höheren Altersstufen markante Prävalenzraten. Einschlägige Studien aus den letzten Jahrzehnten geben die Häufigkeit einer demenziellen Erkrankung in der Gruppe der 60–65-Jährigen mit 0,2 bis 2 Prozent an, in der Gruppe der über 80-Jährigen hingegen bereits mit 20 bis 25 Prozent.771 Wie an früherer Stelle bereits dargelegt wurde, lebte ein 65-jähriger Österreicher um 1870 im Durchschnitt weitere 9,31 Jahren bis zum Tod, eine gleichaltrige Österreicherin 9,33 Jahre.772 Angesichts dieser Lebenserwartung und der vorliegenden Befunde zur altersabhängigen Zunahme derartiger Erkrankungen stellt sich die Frage, wie groß der Anteil an betagten Kranken, die bereits hochgradige Demenzen entwickelt hatten, in der Praxis Ottenthal denn nun tatsächlich hätte sein können. Zudem professionalisierte sich die Geriatrie als medizinische Fachrichtung, die spezifische Auffälligkeiten im hohen Alter zu medikalisieren und als altersbedingte Erkrankungen des Gehirns exakter zu definieren versuchte, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und somit weit nach Ottenthals Tod.773 Konnte dieser Arzt somit überhaupt einen routinisierten Umgang mit derartigen Krankheitsbildern erwerben, um den zunehmenden Verlust von Gedächtnis und Erinnerung, abnehmende motorische Fähigkeiten und Beeinträchtigungen des Denkens als eigenständiges Krankheitsbild wahrzunehmen und weniger als „gewöhnliche“ Begleiterscheinung des Altersprozesses? Letztlich wird nur eine qualitative Auswertung entsprechender Fallgeschichten in den Historiae Morborum klären können, ob dieser Arzt mit Notizen wie jenen zum 75-jährigen Franz Kofler* aus St. Peter, dass zusätzlich zur auftretenden Inkontinenz „etiam intellectus et memoria decrescunt“774, eine medizinisch zu behandelnde demenzielle Erkrankung im modernen Sinn dokumentiert hat. 769 770 771 772 773
Vgl. dazu den Überblick von Dietrich-Daum/Ralser, Landschaft, 17–28. Vgl. Dietrich-Daum/Taddei, Versorgung, 28. Vgl. Radebold, Erkrankungen, 260 f. Findl, Mortalität, 434 f. (Tab 3). Zur Entwicklung der Geriatrie v. a. seit dem 19. Jahrhundert vgl. allgemein Lüth, Geschichte, 172–216; Bourlière, Geschichte, 2020–2035; Steudel, Geschichte, 18–26. Für spezifischere Fragestellungen etwa zur Entwicklung der Geriatrie in Deutschland siehe Schmorrte, Alter, 16–19, oder für das 18. Jahrhundert die Dissertation des Mediziners Müller, Entwicklung, 7–38. 774 [„75 ann. ex septimana alvus fluida et urina involuntarie abeunt hinc inde dejecta sunt cruenta, etiam intellectus et memoria decrescunt, lingua flava“]. HM 982/1895, Eintrag vom 21.6.1895.
3.4 „81 ann […] vires corporis et animi decrescunt“
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Neben diesen – anteilsmäßig gesehen – drei wichtigsten Rubriken innerhalb der Konsultationsgründe lässt sich aus den chronischen Krankheiten, den Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates und aus den Störungen der Hautfunktion eine weitere gemeinsame Gruppe mit höheren Anteilen bei den Beschwerdeanlässen bilden. In den 1860er Jahren erreichte jeder dieser Erkrankungskomplexe bei den Männern einen Anteil zwischen sechs und acht Prozent an sämtlichen Konsultationsgründen und bei den Frauen einen Anteil zwischen sechs und elf Prozent. Jedoch verzeichneten nur die langwierigen chronischen Krankheiten im Vergleich zu den Jahren zwischen 1890 und 1899 einen leichten Anstieg der Anteile. Jene der beiden anderen Rubriken waren während dieses Zeitraums tendenziell gesunken. Friedrich Oesterlen, an dessen systematisiertes Krankheitsschema sich unsere Einteilung der in den Historiae Morborum verzeichneten Beschwerdeanlässe in weiten Teilen anlehnt, zählte zu den „Chronischen Erkrankungen“ tuberkulöse Erkrankungen, Krebs, Wassersucht sowie Mangelkrankheiten wie Rachitis oder Kropf.775 Gemäß Tabelle 3.4.1a gehen dabei die bei den Männern errechneten 6,0 (1860–1869) bzw. 9,3 Prozent (1890–1899) und die bei den Frauen ermittelten 7,7 (1860–1869) bzw. 10,5 Prozent (1890–1899) überwiegend auf das Konto der Diagnose „Wassersucht“. Stellen Wasseransammlungen im Körper und damit einhergehende Ödeme heutzutage lediglich die Begleitsymptome unterschiedlichster Krankheitsbilder dar wie beispielsweise eine Herzschwäche, so verbanden die Zeitgenossen Ottenthals „hydrops“ mit einer eigenständigen Erkrankung.776 Ähnlich der „Altersschwäche“ waren „Wassersuchten“ mit ihren diversen Lokalisierungen in Herz, Bauch oder Brust in den Sterbebüchern dieser Zeit daher auch akzeptierte Bezeichnungen als Todesursache. In den Krankengeschichten Ottenthals fand die „Wassersucht“ über ihre Krankheitszeichen der ab- und zunehmenden Schwellungen der Hände und der Füße oder über unspezifische „tumores hydropici“ häufig Erwähnung. So klagte die 76-jährige Apollonia Kofler* aus Weißenbach im Juni 1869 über zunehmende Atemnot und ein anschwellendes Bein. Das von Ottenthal verschriebene herzanregende Digitalispulver erbrachte wohl nicht die erwünschte Wirkung, denn in der darauffolgenden Konsultation änderte der Arzt die Medikation. Am 25. Juli vermerkte er anlässlich des dritten Besuchs: „tumor hydropicus augetur iterum nunc in utroque pede.“777 Ein paar Tage später vermeldete der Pfarrer von Luttach mit dem Eintrag „Herzwassersucht“ in das Sterbebuch das Ableben von Apollonia Kofler*.778 Auch beim 66-jährigen Karl Strauß* aus St. Johann begann die rund einjährige Krankengeschichte mit Herzbeschwerden und Atemnot beim Bergaufgehen, und auch diesem Patienten ver775 Oesterlen, Handbuch, XIV. 776 Zur Angst vieler Patientinnen und Patienten vor den Krankheitszeichen der „Wassersucht“ siehe für die Frühe Neuzeit Stolberg, Homo patiens, 205 f. 777 („Die hydropische Schwellung ist wiederum angewachsen und nun in beiden Beinen“). HM 865/1869, Einträge vom 20.6., 2.7. und 25.7.1869. 778 SLA, Sterbebuch Luttach 1869. Sterbeeintrag vom 2.8.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
schrieb Ottenthal Ende April 1890 Digitalis.779 Die im Verlauf der Erkrankung von April 1890 bis Februar 1891 durchgeführten dreizehn Behandlungen sind durchzogen von Symptombeschreibungen wie „incipit intumescere“, „oedema in eodem“ oder „hydrops crescit“. Doch auch die Leidensgeschichte von Karl Strauß* nahm keinen glücklichen Ausgang und endete am 10. Februar 1891 mit dessen Tod an Wassersucht. Die verschiedenen bösartigen Neubildungen wurden von Ottenthal bis auf wenige Ausnahmen ebenfalls nie mit den fachlich korrekten Termini diagnostiziert.780 Die seltene Nennung krebsartiger Erkrankungen zumal in den die älteren Patientinnen und Patienten betreffenden Krankengeschichten erstaunt insofern, da in Österreich zwischen 1873 und 1900 eine Steigerung der krebsbedingten Todesfälle um das Dreifache festgestellt wurde.781 Tirol selbst zählte dabei zu jenen Kronländern, die um 1900 – allerdings aufgrund der überdurchschnittlich hohen Zahl ärztlich beglaubigter Sterbefälle – exorbitante Raten an Todesfällen durch Krebs zu verzeichnen hatten.782 Es liegt daher nahe, den geringen Anteil an diagnostizierten Krebserkrankungen in Ottenthals Journalen mit den diagnostischen Schwierigkeiten dieser Zeit und weniger mit dem selteneren Auftreten von Krebs bei der älteren Talbevölkerung in Verbindung zu bringen. Dementsprechend nannte der Arzt am ehesten noch äußerlich leicht erkennbare Krebsarten beim Namen. Über den „Gesichtskrebs“783 eines 79-jährigen Weißenbachers notierte er beispielsweise im Mai 1895: „ex 30 ann. laborat tumore cancroso faciei qui pedetentim omnem genam sinistram occupavit“784, und das Geschwulst eines 75-jährigen Mannes aus St. Johann identifizierte er fachsprachlich präzise als „carcinoma epitheliali[s] labii inferioris“785. Inwieweit Frauen zur Abklärung einer Krebsdiagnose in einer Brust dieselbe dem Arzt auch entblößten, oder ob er aus Rücksicht vor dem Schamgefühl der Frauen die Brust lediglich in verdecktem Zustand abgetastet hat, geht aus den knapp gehaltenen Eintragungen nicht eindeutig hervor.786 Mitte Dezember 1892 jedenfalls vermerkte er in der „Krankenakte“ einer 73-jährigen Prettauerin zwar, sie wäre „um 12 1/2 Mittags an
779 [„66 ann. ex 4 mensibus laborat dyspnoea ascendendo et cardiopalmo“] („66 Jahre leidet seit vier Monaten an Atemnot beim Aufwärtsgehen und Herzklopfen“). HM 1214/1890, Eintrag vom 25.4.1890. 780 1860–1869: 3 Einträge bei Männern und 0 bei Frauen; 1890–1899: 1 Eintrag bei Männern und 2 bei Frauen. 781 1873 wurde eine Vereinheitlichung der in die Todesursachenstatistik aufzunehmenden Rubriken nach damals internationalem Standard vorgenommen. Vgl. Daimer, Todesursachen, 165. 782 Im Jahre 1897 kamen auf 100.000 der Bevölkerung in Tirol 110 Krebstodesfälle, in Kärnten 66 und in Galizien gar nur 26. Vgl. Rosenfeld, Krebsstatistik, 186. 783 Dieser Terminus wurde als Todesursache zumindest in das Sterbebuch eigetragen. SLA, Sterbebuch Luttach 1895. Sterbeeintrag vom 17.5.1895. 784 HM 775/1895, Eintrag vom 1.5.1895. 785 HM 950/1862, Eintrag vom 8.9.1862. 786 Zur Frage der weiblichen Scham bei ärztlichen Untersuchungen vgl. (allerdings mit Schwerpunkt auf die gynäkologische Untersuchungspraxis) Duerr, Intimität, 44–66.
3.4 „81 ann […] vires corporis et animi decrescunt“
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Brustkrebs“787 verstorben. Deren seit Juli desselben Jahres dokumentierte Krankengeschichte begann er allerdings mit einer Beschreibung krebsartiger Auswüchse an den Lippen („cancrosa degeneratione labiorum adfecta“788) und ging auch in den weiteren Konsultationen nur auf die rasch wuchernden Geschwüre an Lippen und Hals ein. Sehen und Tasten waren für Landärzte somit die einzigen Möglichkeiten zur definitiven Abklärung einer Krebserkrankung. Bei vielen Krebsarten war eine Diagnose durch die charakteristischen Symptome sicherlich leicht zu stellen, wucherte der Tumor jedoch tief verborgen im Inneren des Körpers, konnte dieser ohne Operation oder Sektion vielfach unerkannt bleiben. Schließlich mahnte der österreichische Arzt Siegfried Rosenfeld in seiner Untersuchung zur „Carcinomstatistik“ der Österreichischen Monarchie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen vorsichtigen Umgang mit dem statistischen Material ein, da seiner Einschätzung nach die Diagnose Krebs in vielen Fällen nicht pathologisch korrekt gestellt wurde. Viele Ärzte würden diesen Begriff eher „als Sammelname für alle Geschwülste“789 ansehen. Die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in städtischen Kliniken immer öfter zum Einsatz kommenden diagnostischen Hilfsmittel wie die Röntgenuntersuchung, die in erster Linie bei der Erkennung von inneren Krebsarten Verwendung fanden, waren in einer ländlichen Allgemeinpraxis dieser Zeit undenkbar.790 Freilich wurde eine Krebserkrankung in der Anfangsphase dieser medizintechnischen Neuerung auch in der klinischen Praxis häufig nicht erkannt, wie die hohe Rate an Fehldiagnosen etwa in einem Berliner Krankenhaus von rund 22 Prozent zeigte.791 Ebenfalls äußerst selten ließ sich Franz v. Ottenthal zu der eindeutigen Diagnose einer Lungentuberkulose hinreißen. Offenbar versuchte er nicht, die berichteten Symptome und erfragten Krankheitszeichen zu einer zusammengehörigen Entität zu abstrahieren und notierte vielleicht deswegen den entsprechenden lateinischen Fachbegriff „phthisis“ auffallend selten im Krankenjournal. Denn die diesbezügliche „Zurückhaltung“ bei der Diagnosestellung erstaunt insofern, als die altersspezifischen Sterberaten im Österreich des ausgehenden 19. Jahrhundert neben den allerjüngsten bekanntermaßen auch bei den höheren Altersgruppen exorbitante Werte erreichten, etwa bei den 61–70-jährigen Männern 61 pro 10.000 Lebende der gleichen Altersgruppe etwa im Vergleich zu 39 pro 10.000 bei den 21–30-Jährigen.792 Ältere Kranke mit Nachtschweiß und blutigen Auswürfen hätte demnach auch Ottenthal als Risikogruppe erkennen müssen. Bemerkenswert ist auch der bei Frauen im Vergleich zu Männern in beiden Jahrzehnten ungleich größere Anteil an jenen Beschwerden, die den Be787 788 789 790 791
HM 1807/1892, Notiz zum 12.12.1892. HM 1422/1892, Eintrag vom 25.7.1892. Rosenfeld, Krebsstatistik, 181. Vgl. Moses, Alt, 204. Prinzing, Handbuch, 519. Die Krebserkrankung wurde erst anhand einer Obduktion festgestellt. 792 Dietrich-Daum, Wiener Krankheit, 122 (Tab. 8).
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wegungsapparat im Allgemeinen und die Knochengelenke im Speziellen betrafen. Im ersten Jahrzehnt hatten die Frauen einen um ein Drittel (11,2, zu 8,3 Prozent), im zweiten Jahrzehnt sogar einen um die Hälfte höheren Prozentwert aufzuweisen (12,1 zu 6,6 Prozent). Die bei heutigen Frauen im höheren Lebensalter durch Osteoporose ausgelösten Schmerzen793 schienen somit auch ihren zeitlich drei bis vier Generationen früher lebenden Schwestern im Tauferer Ahrntal nicht unbekannt gewesen zu sein. Ottenthal selbst verwendet den medizinischen Fachbegriff nie und spricht eher von arthritischen Schmerzen oder allgemein von Gelenks- und Hüftschmerzen.794 Zu einer dritten Gruppe können jene Beschwerdebilder zusammengefasst werden, die von Ottenthal in beiden Jahrzehnten überaus selten bei älteren Patientinnen und Patienten über 65 behandelt wurden. So betrafen nur wenige Krankengeschichten aus den 1860er Jahren die etwa bei der Patientengruppe der Kinder sehr hohe Anteile aufweisende Rubrik der „akuten Krankheiten“, wobei es sich in der Altersgruppe über 65 dabei ausschließlich um Typhuserkrankungen handelte. Andere „ausschlagende“ Infektionskrankheiten wie Masern, Scharlach oder Pocken traten in den höheren und höchsten Altersklassen vermutlich aufgrund der erreichten Immunität nicht mehr auf bzw. führten diesen Personenkreis nicht mehr in die Praxis Ottenthals. Ebenfalls im Bereich um ein Prozent bewegten sich Erkrankungen der Geschlechtsorgane sowie der Zirkulationsorgane. Der geringe prozentuelle Anteil bei den Herzerkrankungen erscheint allerdings durch die fehlende finale Diagnosestellung des Arztes bedingt. Die vielfach aus Atembeschwerden, Husten, Schwellungen der Extremitäten und nicht näher spezifizierten Schmerzen im Oberkörper bestehenden „Symptomketten“, deren Ursache eigentlich eine Herz- und Gefäßerkrankung war, wurden so den Atmungsorganen zugeordnet. Nur wenige Einträge erlauben eine eindeutige Lokalisierung der notierten Symptome im Umfeld des Herzens, etwa im Falle der Maria Auer* aus dem Jahre 1867 („dolores praecordiales dyspnoea debilitas“795). Gerade die Arbeitsprozesse in der bäuerlichen Wirtschaftsweise führten bei Männern und Frauen zu chronischen Erkrankungen, die sich in erster Linie auf das Herz schlugen. So meinte ein guter Kenner der prekären Lebensbedingungen auf vielen Tiroler Bergbauernhöfen noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Nicht verwunderlich ist es, dass, namentlich bei Frauen, schwere Gesundheitsstörungen aus schweren Lasten entstehen und dass Herzfehler Männern wie Frauen aus der harten Arbeit erwachsen.“796 Geschlechtskrankheiten wiederum, aus denen sich die Rubrik „Erkrankungen der Geschlechtsorgane“ vielfach zusammensetzt, waren im hohen Al793 Vgl. Lang, Altern, 288. 794 Zum Beispiel bei der 68-jährigen Maria Auer* aus Sand, der Ottenthal zur Behandlung ihrer „coxitis arthritica in coxa sinistra chronica“ „18 Bäder Brennerbad“ verschreibt. HM 875/1895, Eintrag vom 1.6.1895. 795 HM 969/1867, Eintrag vom 29.8.1867. 796 Wopfner, Bergbauernbuch, Bd. 1, 592.
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ter vermutlich aufgrund geringer sexueller Aktivität im Diagnosespektrum des Arztes nur noch marginal vertreten. Der vom Durchschnitt der anderen Stichproben abweichende Wert von 2,1 Prozent bei den Frauen in den 1890er Jahren erklärt sich aus den gehäuften Klagen über Uterusprolapsus. Der bedeutendste geschlechtsspezifische Unterschied hinsichtlich der Konsultationsgründe ist jedoch in der Rubrik „Erkrankungen der Harnorgane“ zu finden. Die prozentuale Verteilung dieser Beschwerdeanlässe an allen getätigten Konsultationen übertraf bei den Männern mit jeweils rund sechs Prozent in beiden Jahrzehnten deutlich jene der Frauen mit jeweils rund eineinhalb Prozent. Dieses Ungleichgewicht ist sicherlich mit den verschiedenen, nur bei Männern auftretenden Prostataerkrankungen zu erklären, in erster Linie Prostatakarzinom, Prostatitis und Prostatahyperplasie, der gutartigen Vergrößerung der männlichen Vorsteherdrüse.797 Bis auf die Entzündung der Prostata (Prostatitis), die überwiegend bei Männern im jungen und mittleren Erwachsenenalter auftritt, korrelieren die beiden anderen Erkrankungen stark mit dem Alter. Aktuellen Studien zufolge erreicht etwa der Prostatakrebs seinen Altersgipfel bei Männern Mitte 70 mit einer jährlichen Erkrankungsrate etwa in Österreich von 600 pro 100.000 der Bevölkerung und einer Sterblichkeitsrate von 35 Prozent in dieser Altersgruppe.798 Nach dem Lungenkrebs ist diese Krebsart somit die zweithäufigste Todesursache der männlichen Bevölkerung. Von einer Prostatahyperplasie sind schätzungsweise 43 Prozent aller Männer über 65 Jahren betroffen.799 Es ist demnach davon auszugehen, dass auch etliche ältere Männer im Tauferer Ahrntal Franz v. Ottenthal aufgrund von Beschwerden mit dieser kleinen Drüse aufsuchten, auch wenn eine entsprechend eindeutige Diagnose der diversen Prostataleiden von Ottenthal nie gestellt wurde. Anfang Juni 1893 klagte etwa der 75-jährige Peter Unteregger* aus Kematen über „urina parca cum tenesmo hinc inde infructuoso“800. Die anfängliche innere Therapie mit Medikamenten half diesem Patienten, der aufgrund diverser Leiden wie Wassersucht und Lungenentzündung schon seit Jahren in der Behandlung dieses Arztes stand, nur wenig, sodass Ottenthal den Einsatz von Kathetern erwog. Nach einer Woche beinahe täglicher Konsultationen findet sich so der Eintrag „oedema crescit catheter 4–5 dies d. d. applicatur aestus ex heri et sitis“801, und nach einer weiteren Woche tauchten erstmals „catheteris difficultates“802 auf. Ottenthal reagierte auf diese Komplikationen mit „3 catheter tenuior“, was die eigentliche Ursache der Beschwerden dennoch nicht beheben konnte. Gut ein797 Zu den Erkrankungen der Prostata sowie deren Behandlungsmöglichkeiten siehe aus medizinischer Perspektive Kirby/Kirby, Prostataleiden, 157–173. Die Thematik wird in etwas flotterem Stil ebenfalls aufbereitet von Meryn/Kindel, Kursbuch, 126–145. 798 Gemeint ist die Altersgruppe der 70 bis 80-jährigen Männer. Meryn/Kindel, Kursbuch, 136 f. 799 Kirby/Kirby, Prostataleiden, 157. 800 („wenig Urin mit schmerzhaftem und dann folgenlosem Harndrang“). HM 850/1893, Eintrag vom 8.6.1893. 801 HM 986/1893, Eintrag vom 16.6.1893. 802 HM 1040/1893, Eintrag vom 21.6.1893.
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einhalb Monate später notierte Ottenthal, dass Unteregger* „catheter elasticus non potuit introduci“803. Insgesamt scheint die Erkrankung schon so weit fortgeschritten gewesen zu sein, dass eine Harnentleerung auf natürlichem Wege so gut wie nicht mehr möglich war. „[E]x 2 diebus urina mittitur cum ardore hinc inde sponte hinc inde ope catheteris“804 stand am 13. August 1893 in den ärztlichen Aufzeichnungen, und am Abend des 18. August war der Patient schließlich gestorben: an „Altersschwäche“805. Wie diese Fallgeschichte gut dokumentiert, wird eine mögliche Prostataerkrankung in den Krankengeschichten ausschließlich über den Umweg der entsprechenden Symptomatiken wie eine verminderte, beschwerliche und schmerzhafte Harnentleerung fassbar. Eine differenzierte Diagnose der Prostataleiden ist in den Journalen Ottenthals hingegen nicht zu finden. Gestützt auf die relative Häufigkeit dieser Krankheitsbilder bei älteren Männern können eventuelle Prostataerkrankungen dennoch indirekt mit Beschreibungen etwa eines problematischen Urinierens in Verbindung gebracht werden. In der Tübinger Universitätsklinik ließen sich zwischen 1880 und 1914 jedenfalls 6,44 Prozent aller männlichen Patienten über 54 wegen einer Harnwegserkrankung behandeln,806 und auch in biographischen Texten des 20. Jahrhunderts werden Erkrankungen der Prostata als „Männerthema Nr. 1“807 gelegentlich problematisiert.808 Die häufig geäußerte verminderte Fähigkeit zur Harnentleerung hat allerdings zur Folge, dass derartige Beschwerdeanlässe der Rubrik „Erkrankungen der Harnorgane“ zugewiesen wurden, obwohl die kastaniengroße Drüse streng medizinisch gesehen eigentlich zu den männlichen Geschlechtsorganen gezählt wird. Schmerzhaftes Urinieren und ein schwacher Urinstrahl können natürlich auf andere Krankheitsbilder wie Nieren- und Blasenentzündungen hinweisen. So beschrieb etwa ein 67-jähriger Mann aus St. Johann im Jahre 1862 seine Beschwerden als „difficili et dolorifica mictu“809, unter dem er nun schon seit zwei Jahren zu leiden hatte. Die Behandlung dieses Mannes umfasste nur zwei Konsultationen, und die 1868 ins Sterbebuch eingetragene Todesursache „Sand und Grieß“810 lässt in diesem Fall auf einen Blasen- oder Nierenstein schließen. Abschließend sei noch auf den geringen, aber merklichen Unterschied zwischen den Geschlechtern bei Verletzungen aufgrund von Arbeitsunfällen, von Stolpern oder von Stürzen über die Haustreppe hingewiesen (siehe Rubrik „nicht krankhafte Ursachen“). Der Anteil an auf derartige Verletzungen 803 („kann den elastischen Katheter nicht einführen“). HM 1261/1893, Eintrag vom 8.8.1893. 804 („seit zwei Tagen wir der Urin mit einem Brennen abgelassen zuerst von selbst durch das Werk eines Katheters“). HM 1261/1893, Eintrag vom 13.8.1893. 805 HM 1302/1893, Eintrag vom 18.8.1893. 806 Moses, Alt, 204 f. 807 Meryn/Kindel, Kursbuch, 126. 808 Hoffmann, Alltag, 243 f. (Tab 67). 809 HM 699/1862, Eintrag vom 6.7.1862. 810 SLA, Sterbebuch St. Johann 1868. Sterbeeintrag vom 21.9.
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zurückzuführenden Konsultationsanlässen erreichte bei den Männern in beiden Jahrzehnten fünf Prozent, bei den Frauen hingegen einen Anteil von rund drei Prozent. Hier spiegelt sich die Tatsache wider, dass in der bäuerlichen Ökonomie die Mitarbeit bei den diversen Arbeiten in Haus, Acker und Stall bis ins hohe Alter üblich war. So wurden ältere Männer bei entsprechender Rüstigkeit gerne als Hirten und Sennen eingesetzt, wie ein Eintrag aus dem Sterbebuch von Taufers nahelegt, der über eine 65-jährigen Hirten berichtete, er wäre „an der Purstein-Wand in Folge Ziegensuchen verunglückt“811. Auch Karl Innerkofler* aus Mühlen, der während der Alpsaison im Juli 1861 auf der von ihm betreuten Alm von Bauchschmerzen heimgesucht wurde, hatte bereits knapp 70 Lenze auf dem Buckel.812 Die Rubrik „Gutachten, Atteste u. ä.“ setzt sich nicht nur aus Einträgen zusammen, in denen Ottenthal ein Zeugnis oder ein Gutachten ausstellt, sondern enthält auch jene Konsultationen, bei denen die Patientinnen und Patienten um die Ausstellung eines Medikamentes nachfragen, meist ohne konkrete Symptome oder Beschwerden zu benennen. Häufig steht lediglich „laxans desiderat“ in der entsprechenden Krankengeschichte. Die überaus hohen Raten, die in den 1860er Jahren zweistellige Prozentwerte erreichten (Männer: 15,2 Prozent; Frauen: 9,1 Prozent), mögen vielleicht etwas überraschen. Denn wie gesagt handelt es sich zum überwiegenden Teil um einen geäußerten Medikamentenwunsch und um eine gezielte Nachfrage nach einem bestimmten Medikament, meistens ein Abführmittel, von Seiten des Erkrankten. Ärztliche Gutachten etwa für den Dienstgeber oder für die Gemeinde finden sich hingegen in dieser Altersgruppe nur selten. Im August 1888 etwa kam der 67-jährige Johann Brugger* aus Uttenheim wohl in der Hoffnung zu Ottenthal, seinen „tussi[s] jam annosa prioribus annis laxanti cessit“ durch ebendieses Laxans nun ebenfalls wieder loszuwerden.813 Rund ein Jahr später, am 1. Mai 1889, erschien dieser Mann erneut in der Praxis, weil er „iterum laxans desiderat“814, und auch ein halbes Jahr später wollte er das besagte Laxans, diesmal gegen die durch das Tragen einer Last ausgelösten Schmerzen im rechten Hypochondrium. „[R]ep. ordin 1/5“ lautete Ottenthals kurze Notiz anlässlich dieser Konsultation.815 Johann Brugger* wusste offensichtlich genau, welches Abführmittel er vom Arzt verschrieben haben wollte, denn am 12. Mai 1890816, am 22. Jänner 1891, am 14. Juni 1891 sowie bei den meisten seiner nachfol811 SLA, Sterbebuch Taufers 1890. Sterbeeintrag zu Joseph Winding vom 13.8. 812 [„69 ann. in alpi doloribus abdominis adficiebatur minoris intensitatis minori quant. quoque suffecisset“]. HM 770/1861, Eintrag vom 5.7.1861. 813 [„67 ann. ex mense laborat tussi, quae parum solvitur lingua pura digestio normalis, tussi jam annosa prioribus annis laxanti cessit“] („67 Jahre leidet seit einem Monat an Husten, der sich wenig löst Zunge rein Verdauung normal, der schon jedes Jahr auftretende Husten ging in früheren Jahren durch ein Laxans weg“). HM 1666/1888, Eintrag vom 5.8.1888. 814 HM 737/1889, Eintrag vom 1.5.1889. 815 HM 737/1889, Eintrag vom 16.12.1889. 816 HM 1326/1890, Eintrag vom 12.5.1890. Um die gesamte, sich bis in das Jahr 1895 hinziehende „Patientenkarriere“ dieses Mannes verfolgen zu können, sollte im Abfrageportal die ID 16–70–46 eingegeben werden.
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genden Besuche in der Sandner Praxis forderte er immer wieder dieselbe Medikation: „Magnes. sulfur 12 T.[ropfen]. T.[inctura] Coloc 9 T.[ropfen] Al. Amm 1 Aq 200 Alle 2 Std 1 Essl.[öffel]“817 Auch wenn dieser Mann über mehrere Jahre hinweg von Ottental betreut und seine „Leidensgeschichte“ relativ ausführlich notiert wurde, waren in den meisten anderen Fällen seine Notizen nur äußerst knapp gehalten und enthielten nur wenige Informationen. Daher kann letzten Endes nicht geklärt werden, ob der häufige Wunsch nach Abführmitteln etwa in den Jahren zwischen 1890 und 1899 einer auch bei heutigen Erkrankten in den älteren und ältesten Jahren vielfach zu beobachtenden generellen Trägheit des Darmes und damit verbundenen Verstopfung entsprochen hat.818 Als Zwischenergebnis einer Analyse der häufigsten Beschwerdeanlässe älterer Patientinnen und Patienten Franz v. Ottenthals ist demnach festzuhalten: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchte die Bevölkerung des Tauferer Ahntals über 65 diesen Arzt hauptsächlich aufgrund von Atemwegserkrankungen und Leiden rund um den Magen-Darm-Trakt auf. Die überragende Rolle des Verdauungssystems für das gesundheitliche Wohlbefinden wird durch den hohen Anteil an Medikamentenwünschen, meistens ein Laxans, bestätigt. Somit dürften Verstopfungen, Magenverstimmungen und Durchfälle für die ältere Landbevölkerung in hohem Maße zu den zeitgenössischen „Plagegeistern“ gehört haben. Schließlich hielt Hermann Wopfner noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fest, dass es ihn angesichts der in reichlich Butterschmalz herausgebackenen „Kiachl“, „Tirtlen“ „Nigelen“ und „Nocken“ nicht verwundere, wenn Magenerkrankungen bei den Bergbauern dermaßen häufig anzutreffen wären.819 Erst nachrangig erscheinen degenerative und chronisch verlaufende Krankheitsbilder etwa des Nervensystems (und der Sinnesorgane) sowie des Herz-Kreislaufsystems. Aber auch altersbedingte Verschleißerscheinungen des Muskel- und Skelettapparates ließen die ältere Bevölkerung des Tales ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, und zwar den weiblichen Teil offensichtlich häufiger als den männlichen. Diese suchten indessen häufiger aufgrund von Beschwerden aus dem Umfeld der Harnorgane den Arzt auf, was zum Großteil altersspezifischen Männerkrankheiten der Prostata zugeschrieben werden muss. Das relative Auftreten weiterer degenerativer Erkrankungen (etwa Krebs) ist methodisch aufgrund der Aufschreibpraxis Ottenthals, die eine präzise Diagnosestellung vermeidet, über quantitative Abfragen nur schwer zu ermitteln. Diese Feststellung trifft auch auf jene Infektionskrankheiten zu, die wie etwa die Tuberkulose einen meist chronischen Krankheitsverlauf entwickelten. Zahlreichen historischen Studien zum Wandel des Todesursachenspektrums zufolge 817 HM 9/1891, Eintrag vom 2.1.1891. Lediglich die Menge der einzelnen Bestandteile variierte minimal. 818 Erich Lang schreibt in seinem Überblick zu den Alterskrankheiten aus den frühen 1990er Jahren, dass Studien zufolge ca. ein Drittel der weiblichen und rund 15 Prozent der männlichen Personen im höheren Alter regelmäßig Abführmittel nehmen. Vgl. Lang, Altern, 288 und 293. 819 Siehe Wopfner, Bergbauernbuch, Bd. 1, 628–632.
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müssen sie jedoch die Morbidität älterer Menschen in großem Umfang dominiert haben. Für eine korrekte Interpretation der prozentualen Anteile der diversen Krankheiten an sämtlichen Konsultationsgründen ist es somit unerlässlich, derartige Fälle (etwa Krebserkrankungen) auch in anderen Rubriken wie dem Verdauungsapparat zu vermuten. Im gesamten betrachtet ist zwischen den 1860er Jahren und den 1890er Jahren eine tendenziell geringe, aber nicht übermäßig ausgeprägte Verschiebung des Anteils von degenerativen Erkrankungen sowie des Anteils der Atemwegserkrankungen bei den von Franz v. Ottenthal notierten Krankengeschichten dieser höheren Altersklassen zu bemerken. Dieses aus Daten zum Morbiditätsgeschehen gewonnene Ergebnis bestätigt die Vermutung Christoph Conrads, dass eine Epidemiologische Transition für die Altersgruppe der über 65-Jährigen zeitlich verschoben zu den jüngeren Altern einsetzte und vor dem 20. Jahrhunderts am ehesten für akute Infektionskrankheiten wie Typhus zu konstatieren ist. Akute Infekte der Atemwege blieben in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts für ältere Männer und Frauen dieser Region eine nahezu ebenso große Bedrohung wie für die vor ihr lebende Generation der 1860er Jahre. Auch im Tauferer Ahrntal kann somit hinsichtlich der Morbiditätsentwicklung älterer Menschen eher von einer „Kontinuität bei Wandel im einzelnen“820 gesprochen werden. 3.4.4 Wohin mit den Alten? Beispiele familiärer und institutioneller Pflege für betagte Männer in den Historiae Morborum In seiner vielzitierten Studie über das Alter unterteilt Peter Laslett die höhere Lebensphase vor dem Hintergrund der demografischen und medizinischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert nochmals in ein rüstiges „Drittes“ (60–75) und ein hochbetagtes „Viertes Alter“ (ab 75). Er sieht in erster Linie den letztgenannten Abschnitt als „Zeit wahrer Abhängigkeit und Altersschwäche“821 an, da durch die fortschreitenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen die meisten hochbetagten Alten nur noch schwer zu einer selbständigen Haushaltsführung fähig seien. Wie die Krankengeschichten Franz v. Ottenthals gezeigt haben, blieben auch im 19. Jahrhundert trotz der Allgegenwart akuter Infektionskrankheiten und eines damit einhergehenden „schnellen“ Todes, trotz der höheren Sterberaten und der geringeren Lebenserwartung viele ältere Menschen jenseits der 65 nicht von langwierigen Krankheitsverläufen, längerem Siechtum und der Abhängigkeit von familiärer und institutioneller Pflege verschont. Wie aber gingen die älteren Männer im Tauferer Ahrntal mit dem Verlust ihrer „Rüstigkeit“ um, und wie bewältigten sie den Übergang in jene letzte Lebensphase, in der sie mitunter auf die Hilfe und Unterstützung durch Dritte angewiesen waren?
820 Conrad, Greis, 93. 821 Laslett, Alter, 34–41, Zitat 40.
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Für die gegenwärtige soziologische Geschlechterforschung haben Männer auf dem Weg zum Altwerden zwei zentrale Wendepunkte zu bewältigen.822 Der Austritt aus dem Berufsleben markiert dabei einen ersten schwierigen Übergang, da dies meist mit der Aufgabe beruflicher Machtpositionen und mit einem deutlichen Statusverlust verbunden ist. Des Weiteren müssen sich Männer plötzlich mit ihrer eigenen Verwundbarkeit auseinander setzen, weil Krankheitserfahrungen und altersbedingte Gebrechlichkeit des Körpers im Alter vermehrt in Erscheinung treten. Aus der Perspektive der kritischen Männerforschung wären Männer dabei auf die Bewältigung dieser Übergangskrisen überaus schlecht vorbereitet, da viele Grundzüge der männlichen Sozialisation die Ausbildung alternativer Rollenbilder im Alter und somit ein positiv besetztes Altern erschweren. Was tun, wenn einen als älteren Mann vor Schwäche nicht einmal mehr die Beine tragen wollen und man Hilfe zulassen muss, wie dies Franz v. Ottenthal im Jahre 1891 von einem 71-jährigen Luttacher berichtete?823 Der Soziologe Robert Connell hatte als einer der ersten den Blick dafür geschärft, dass in westlichen Industriestaaten das Bild hegemonialer Männlichkeit in erster Linie von der Orientierung auf Leistung, vom Streben nach Dominanz und Unabhängigkeit sowie von der Externalisierung der persönlichen Befindlichkeit geprägt wird.824 In vielen homosozialen Einrichtungen, in denen sich Ältere bewegen (etwa Vereine, Clubs oder Ehrenämter), werden diese hegemonialen Vorstellungen von Männlichkeit gestützt und laufend reproduziert. Eine „Diskursivierung von Männlichkeit als ein Reflexivwerden von Selbstverständlichkeiten“825 kann in einem solchen Umfeld natürlich nur bedingt stattfinden. Allerdings gelingt es nicht allen Männern in der höheren Lebensphase, das Eingebundensein in derartigen Institutionen auch im Rentenalter noch aufrecht zu erhalten. Diese Gruppe von Männern wird oftmals mit einem Gefühl der eigenen Hilflosigkeit konfrontiert, nicht zuletzt da diese Emotion durch die den Männern vielfach zugeschriebene Körperferne und durch die angebliche Seltenheit tiefer Freundschaftsbeziehungen bei Krankheitsanfälligkeit und Pflegebedürftigkeit zusätzlich verstärkt werden kann.826 An diesen Erfahrungen vermehrter Abhängigkeit und Ohnmacht ändert auch die zu beobachtende Formierung von Gegenbildern des Alters wenig, in denen – vorangetrieben von wirtschaftlichen Interessensgruppen und transportiert über mediale Werbeträger – die aktiven und rüstigen „jungen Alten“ als Gewinner der demografischen und medizinischen Entwicklungen dargestellt werden. Verlierer dieser „Altersdiskriminierung“827 wären die durch 822 Vgl. etwa Böhnisch, Sozialisation, 251–258; Böhnisch/Winter, Sozialisation, 171–181. 823 [„71 ann. potator ante 6 dies crapula ante 5 dies frigus dedolatio hinc inde dolor lateris pedes debiles ut vix incedere possit vomitus ante 5 et 4 dies nunc non amplius hinc inde delirat“]. HM 1708/1891, Eintrag vom 8.12.1891. 824 Vgl. Connell, Mann, 205–224. 825 Meuser, Geschlecht, 131. 826 Siehe dazu Böhnisch/Winter, Sozialisation, 176 f. 827 Dieses Schlagwort verwendet etwa der Journalist Frank Schirrmacher unentwegt in seiner „Kampfschrift“ gegen das von ihm wahrgenommene Negativbild von „den Alten“ in der Gesellschaft, etwa im Abschnitt über die Debatten zur Finanzierung des Gesund-
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den Verlust körperlicher Kräfte und den Abbau geistiger Fähigkeiten „alten Alten“ ab dem 75. Lebensjahr, auf die nur noch langjährige Pflege zuhause oder kostenintensive Unterbringung im Heim warte. Lothar Böhnisch und Reinhard Winter sprechen angesichts dieser Tendenzen bei der Formierung von Altersbildern von „polarisierenden Altersdefinitionen“828 und betonen zugleich, dass diese Debatten stark von einem Defizitmodell des Alterns geprägt sind. Dieses Modell stelle positive Bilder vom Altern nur selten zur Verfügung und erschwere somit eine produktive Bewältigung dieser Lebensphase.829 Nicht nur in den Augen dieser Autoren schlägt sich die Wirkmächtigkeit eines derartigen Defizitmodells statistisch in den überaus hohen Selbstmordraten von Witwern in nahezu allen industrialisierten Gesellschaften nieder, was als letztlich radikalste Antwort auf den Kontrollverlust und die fehlenden Bewältigungsressourcen von alten Männern interpretiert wird.830 In Österreich beispielsweise lag im Jahre 1998 die Suizidrate von Witwern bei 98,5 pro 100.000 und jene von Witwen bei 19,2.831 Die Raten von Männern über dem 85. Lebensjahr lagen im Untersuchungsjahr um nahezu 140 Prozent über jenen 60–64-jähriger Männer.832 Geschlechtsspezifische Unterschiede wie jene bei der Suizidalität werden gerne mit traditionellen Bildern von Männlichkeit und Maskulinität in Verbindung gebracht. Böhnisch und Winter sprechen in diesem Sinne auch vom „immer wieder neu reproduzierte[n] Stereotyp des alten Mannes“833, zumal auf der individuellen Ebene das Altern von vielen Männern nicht nur negativ gesehen wird. Wie eine deutsche Studie zur Lebenszufriedenheit von Männern in verschiedenen Altersgruppen aus dem Jahre 1994 herausarbeiten konnte, empfanden Männer die Einschränkungen etwa bei Gesundheit und Sexualität mit zunehmendem Alter einerseits tatsächlich als wachsende Belastung. Andererseits ließen sich aber nicht wenige Bereiche finden, die für die älteren Männer mit einer größeren Lebensqualität verbunden waren als für die jüngeren, so etwa die finanzielle Situation oder das Verfügen über Freizeit.834 Eine differenzierte Betrachtung des (männlichen) Alterns ist folglich geboten. Was aber tun, wenn die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit aufgrund von hohem Alter und Multimorbidität tatsächlich im Abnehmen begriffen ist und das Angewiesensein auf familiäre und institutionelle Unterstützungsleistungen immer größer wird? Was tun, wenn die Betroffenen nicht
828 829 830 831 832 833 834
heitssystems. Vgl. Schirrmacher, Methusalem, 124–131. Zur historischen Dimension dieser Debatten zur alternden Gesellschaft siehe Göckenjan, Diskursgeschichte, 126–140, sowie von Kontradowitz, „Alter“, 109–155. Böhnisch/Winter, Sozialisation, 174. Zum Defizitmodell des Alters vgl. Backes/Clemens, Lebensphase, 56–58. Böhnisch, Sozialisation, 255 f. Sonneck/Stein/Voracek, Suizide, 21 (Tab. 3). Sonneck/Stein/Voracek, Suizide, 22 und 33 (Abb. 12). Zur Thematik höherer männlicher Selbstmorde siehe auch Lindner, Suizidalität, 377–394. Böhnisch/Winter, Sozialisation, Vgl. Merbach/Beutel/Brähler, Gesundheit, 97–99.
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mehr in der Lage sind, „die Handlungen des täglichen Lebens allein auszuführen und die Hilfe Dritter benötigen“835, wie etwa die Soziologin Claudine Attias-Donfut Abhängigkeit im Alter definiert? Heutigen Alten steht neben der familiären Unterstützung ein dichtes Netz an medizinischer Versorgung und institutionalisierter Alten- und Krankenpflege zur Verfügung. So können ältere Menschen ihren Lebensabend unterstützt von ambulanten Pflegediensten in der eigenen Wohnung verbringen, in die Wohnungen der Kinder ziehen oder je nach Grad der Beeinträchtigung in ein Alters- oder Pflegeheim übersiedeln. Es muss nicht extra betont werden, dass der gesamte Bereich von Betreuung und Pflege von ausgeprägten Ungleichheiten durchzogen ist, sowohl was den ökonomischen Status, das Geschlecht der zu Pflegenden und das Geschlecht der Pflegenden selbst betrifft.836 In folgendem Abschnitt steht allerdings die Frage im Zentrum, welche Ressourcen und Potentiale zur Bewältigung des letzten Lebensabschnittes älteren Männern in einer ländlich geprägten Region wie dem Tauferer Ahrntal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Verfügung standen, sobald diese merkten, dass ihre Arbeitsfähigkeit nachließ und sie nicht mehr selbständig für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten. 3.4.4.1 „sui parum compos est, ut hinc filiam non agnoscat“837: zur Versorgung in der Familie Prinzipiell sah die spezialisierte Arbeitsteilung der bäuerlichen Wirtschaftsweise die Mitarbeit aller Arbeitsfähigen in einer Haus- und Hofgemeinschaft vor. Auch den älteren Bewohnerinnen und Bewohnern wurden im Rahmen ihrer Möglichkeiten Aufgaben übertragen, eine gänzliche Freistellung von Arbeit konnten sich nur wenige erlauben.838 Der rund 80-jährige Peter Oberhollenzer aus St. Jakob etwa war noch im hohen Alter auf einer Alm „als Viechhirt bei den Sender [sic] Lorenz Niederkofler“ angestellt, als er an einem Morgen im September 1862 tot aufgefunden wurde.839 Vom 76-jährigen Johann Mutschlechner* ist überliefert, dass ihm im Juli 1890 von einem Kalb eine Rippe gebrochen wurde, und er zwei Wochen später aufgrund der anhaltenden Schmerzen die Praxis Ottenthals aufgesucht hat.840 Joseph Klammer* aus Ahornach wiederum befand sich im 70. Lebensjahr, als er im Oktober 1895 bei der Arbeit durch einen abgesprungenen Stein des Mühlrads am Auge ver835 Attias-Donfut, Abhängigkeit, 359. 836 Hier sei nur auf die entsprechenden Überblickskapitel bei Backes/Clemens, Lebensphase, 80–86 und 274–278, verwiesen sowie auf die speziell für die Situation in Österreich aufbereiteten Daten bei Appelt/Reiterer, Grundlagen, 129–142. 837 („ist nur wenig bei Bewusstsein, weswegen er die Tochter nicht erkennt“). HM 965/1891, Eintrag vom 20.6.1891. 838 Zum Diskurs der Leistungsfähigkeit im Alter siehe etwa Göckenjan, Sonne, 67–72. 839 ASBz, BA Taufers 1862, Bündel 153/1, Nr. 77, liegend in I.a.79 ex 1862. 840 [„76 ann. ante 2 sept. vitulus ei costam 9m sinistri fregit in linea axillari, aeger se parum continuit; nunc dolores in latere dextro et febriculam accusat investigatio physicalis nil sputum cruentum aeque puls 54 arythmicus“]. HM 1672/1890, Eintrag vom 18.7.1890.
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letzt wurde und sich vom Arzt in Sand seine ernste Augenverletzung behandeln ließ.841 Die Bewältigung eines „Pensionsschocks“ ähnlich wie oben ausgeführt dürfte vor dem Hintergrund fehlender staatlich-rechtlicher Regelungen zu Pensionsalter und finanzieller Alterssicherung in agrarisch geprägten Gesellschaften des 19. Jahrhundert nahezu unbekannt gewesen sein.842 Von einem Wendepunkt im Lebenslauf kann dabei am ehesten noch bei jenen bäuerlichen Schichten gesprochen werden, die sich im Rahmen eines Übergabevertrags aus der Haushaltsführung zurückzogen.843 Die Abgabe der Verantwortung für die Hausgemeinschaft und die Übersiedlung in das „Altenteil“ dürfte in der Tat einer Zäsur im Lebenslauf gleichgekommen sein, weil damit eine Änderung des Sozialstatus verbunden war.844 In solchen Verträgen wurde die Übergabe des Hofes zwischen Familienangehörigen durch Erbe oder Verkauf geregelt. Meistens waren Eltern und Söhne bzw. Schwiegersöhne, seltener Töchter die beiden Vertragspartner, allerdings konnte die Weitergabe des Hofes auch zwischen Nichtverwandten erfolgen.845 Die Nachfolger verpflichteten sich in den meisten Fällen, den Übergebern entweder ein Nutzungsrecht an den hergestellten bäuerlichen Erzeugnissen (Milchprodukte, Ernteerträge) und am sonstigen Besitz (Holzbezug) einzuräumen oder ihnen eine Kuh und einen Fleck Acker zur eigenen Bewirtschaftung zu überlassen. Wesentlicher Bestandteil der Versorgungsleistung des einstigen Hofbesitzers war aber die Regelung des Verbleibs in der Hausgemeinschaft. Entweder stellte man ein kleineres „Austraghäuschen“ zur Verfügung oder richtete ein Zimmer im Stammhaus ein. Bei weniger begüterten Bauern reichte es oftmals nur für einen Platz in der Stube bzw. in einer gemeinsamen Schlafkammer. Geregelt wurden auch die Versorgungspflicht der Alten im Krankheitsfall und die Pflege im letzten Abschnitt des Lebens. Erhard Chvojka beschreibt am Beispiel autobiographischer Texte von Bewohnerinnen und Bewohnern ländlicher Räume der Habsburgermonarchie,846 wie sehr die gegenseitigen Unterstützungsleistungen zwischen der älteren und der jüngeren Generation von Erwartungen „moralökonomischen Wohlverhaltens“847 geprägt waren. Abseits der Hofübergabe zwischen den Generationen zeigen seine Belegstellen, wie vielschichtig in bäuerlichen Familien mögliche Hilfestellungen der Eltern für jedes ihrer Kinder sein konnten, je nach dessen Geschlecht und Rang in der 841 [„70 ann ex septimana saxum molentinae accomodans ophtalmiam sinistram adquisivit inferior pars corneae crebris maculis densis obsessa conjunctiva pallide rubet“]. HM 1504/1895, Eintrag vom 12.10.1895. 842 Zur Geschichte der Rentenversicherungen und des Konzepts eines „Ruhestandes“ siehe Ehmer, Sozialgeschichte, 87–135; Conrad, Greis, 129–346; speziell zur Pensionskasse der Bauern siehe am österreichischen Beispiel Siegl/Steiner, Entwicklung, 239–257 und 342– 355. 843 Zur Institution des Ausgedinges siehe Sieder, Sozialgeschichte, 65–72; Ehmer, Sozialgeschichte, 169–175. 844 Vgl. Ehmer, Altersbilder, 216. 845 Vgl. für die rechtlichen Hintergründe in Tirol Schennach, Geschichte, 9–30. 846 Vgl. Chvojka, Dank, 316–319. 847 Vgl. Chvojka, Dank, 300.
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Geburtenfolge. Als Gegenleistung wurde v. a. von noch ledigen Töchtern erwartet, zur Versorgung der alten Eltern ins Geburtshaus zurückzukehren und diese bis zu ihrem Tod zu pflegen. Eine derartige Vereinbarung dürfte beispielsweise das Ehepaar Tanzl aus Sand mit ihrer Tochter Anna abgeschlossen haben. Denn als im Jahre 1867 der dortige Gemeindeausschuss über das Ehegesuch ihres Bruders Josef debattierte, sprach sich die Mehrheit gegen eine Bewilligung aus. Josef Tanzl, der nicht im Elternhaus wohnte, führte gemäß den Akten einen keineswegs tadellosen Lebenswandel und wäre seinen hochbetagten Eltern eher eine Last als eine Stütze, wie aus einer Stelle des Protokolls hervorging: „Vom Sohne war nichts zu erwarten, er behandelte seine beiden noch lebenden Eltern, statt zu unterstützen, mit Troz [sic], und schlug seine Schwester Anna, welche die beiden Eltern pflegte, zum öfternmale blau, mit einer Wuth, daß sie sich nächtlicher Weise im Hemde flüchten mußte.“848 Allerdings war nur eine relativ kleine dörfliche Oberschicht in der Lage, derart ausgeklügelte Ausgedingeverträge auszuhandeln. Thomas Held konnte anhand eines Samples ausgewählter Dörfer im Gebiet des heutigen Österreich zeigen, dass vom 17. bis zum 19. Jahrhundert der Anteil von vertraglich geregelten Altenteilern bei durchschnittlich zehn Prozent lag.849 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ist jedoch eine Zunahme der Ausgedingeregelungen festzustellen, was einerseits mit Ertragssteigerungen im Zuge der „Agrarrevolution“ begründet wird, die es nunmehr erlaubten, derartige Regelungen einzufordern. Andererseits wird dies auch mit der gestiegenen Lebenserwartung begründet, die die Zahl der Wiederverehelichungen mit jüngeren Partnerinnen verringerte. Denn durch den Einzug eines jüngeren Partners in den Haushalt konnte die Übergabe weiter hinausgezögert werden. In der Regel fand die Übergabe zwischen dem 50. und dem 65. Lebensjahr statt, sodass sich die einstigen Altbauern bei der damaligen Lebenserwartung theoretisch auf ein etwa 15 bis 20 Jahre währendes Ausgedinge einstellen konnten.850 Für niederösterreichische Gemeinden haben Berechnungen zur Ausgedingedauer für die Mitte des 19. Jahrhunderts ergeben, dass Männer diese Versorgungsleistung rund sieben bis acht Jahre genossen, Frauen hingegen 13 Jahre.851 Diese Durchschnittswerte verdecken jedoch die teilweise enormen Unterschiede bei der Dauer des Zusammenlebens zwischen den Altenteilern und den Übernehmern. Ländliche Dreigenerationenfamilien, die schon nach wenigen Monaten wieder zu einer Kernfamilie schrumpften, sind ebenso überliefert wie Beispiele, bei denen die junge Bauernfamilie noch Jahrzehnte mit den Altbauern unter einem Dach zusammen lebte. Besonders bei engen Wohnverhältnissen konnte dies zu Konflikten führen, denn der Umzug der Altbauern in ein eigenes, vom Wohnbereich der Jungen getrenntes Ausgedingehaus war nur für die begüterten Bauern möglich. Wie eine Studie zu südböhmischen Ausgedingeregelungen zeigte, konnte bei den groß- und mit848 849 850 851
ASBz, BA Taufers 1867, Bündel 165/1, o. Nr., liegend in Nr. 946; D.25 ex 1867. Vgl. Held, Ausgedinge, 167. Ehmer, Sozialgeschichte, 31. Vgl. Langer-Ostrawsky, Generationenbeziehungen, 263.
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telbäuerlichen Schichten immerhin die Hälfte in ein eigenes Haus ziehen, wohingegen rund 23 Prozent ein eigenes „Stüberl“ im Stammwohnhaus zur Verfügung gestellt bekamen.852 Bei den klein- und unterbäuerlichen Hofstellen waren hingegen nur vier Prozent in der Lage, sich ein eigenes Häuschen auszubedingen. Ein gutes Drittel richtete sich eine eigene Kammer ein, wohingegen bei über der Hälfte der untersuchten Übergabeverträge die Altbauern als Mitbewohner aufschienen und vermutlich mit einem Bett in der Stube oder bestenfalls einer umgebauten Kammer vorlieb nehmen mussten. Wie wichtig aber für betagte Alte ein abgegrenzter Bereich und ein eigenes Bett im Haus sein konnten, geht aus manchen Einträgen in den Historiae Morborum hervor. „Heri vespere dum lectulum accomodabatur gravis lypothymia intravit“853, hieß es etwa beim 77-jährigen Johann Unterkofler* aus Lappach. Der alte Mann war schon die gesamte zweite Jahreshälfte von 1895 durch einen Bronchialkatarrh und die damit verbundenen Husten- und Schwindelanfälle sowie durch Herzbeschwerden überaus geschwächt. Der 75-jährige Alois Obergasser* aus Weißenbach wurde Mitte der 1890er Jahre sogar öfter von dermaßen schweren Anfällen von Atemnot heimgesucht, dass er von Mitgliedern der Hausgemeinschaft über die Treppe in seinen Schlafraum getragen werden musste.854 Als sich dieser Alte im April 1897 zusätzlich eine Erkältung zugezogen hatte, glaubte er ersticken zu müssen.855 Dabei hatten diese beiden Patienten Ottenthals noch Glück, dass sie das Bett in den ihnen zugewiesenen Räumen zumindest phasenweise verlassen konnten, um etwa am Tisch das gemeinsame Mittagsmahl einzunehmen oder um sich auf die Holzbank vor dem Haus niederlassen zu können. Der 80-jährige Franz Isser* aus Sand litt schon seit einem halben Jahr an „paresis lat sinistri“ und konnte sein Bett offensichtlich überhaupt nicht mehr verlassen.856 Am 12. März 1897 fand sich bei Ottenthal nämlich der Eintrag, dem Patienten würden schon seit drei Wochen das Kreuz und das Gesäß schmerzen, da er wundgelegen wäre („a decubitu“857). 3.4.4.2 „Herberger in Prörlbadstube zu Luttach“858: individuelle Unterstützungssysteme im Alter Ein nicht unerheblicher Teil der älteren Bewohner des Tauferer Ahrntals verbrachte seinen Lebensabend jedoch nicht bei der Familie im gemeinsamen Haus, sondern als Untermieter und Inwohner in einer Hausgemeinschaft mit 852 Vgl. Stefanová/Zeitlhofer, Alter, 240 f. und 240 (Tab. 3). 853 („Gestern Abend trat, als er zum Bett begleitet wurde, eine schwere Ohnmacht ein“). HM 1632/1895, Eintrag vom 20.11.1895. 854 [„nunc in dormitorium super scalam debet portari quia prae dyspnoea nequit ascendere motu tussit“]. HM 212/1896, Eintrag vom 10.12.1895. 855 [„ex 2 diebus laborat coryza et credit suffocari rheumatici dolores minuti“]. HM 374/1897, Eintrag vom 15.4.1897. 856 HM 1285/1896, Eintrag vom 8.10.1896. 857 [„81 ann ex 3 septimanis sacrum dolet et podex a decubitu“]. HM 242/1897, Eintrag vom 12.3.1897. 858 SLA, Sterbebuch Luttach 1867. Sterbeeintrag zu Johann Held vom 21.3.
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nicht verwandten Menschen. Vor allem für Angehörige der unterbäuerlichen Schichten, die Kleinhäusler, Tagelöhner und Dienstboten, bedeutete der Tod des Ehepartners nicht selten den Verlust des Hauses, da sie ohne Unterstützung keinen eigenständigen Haushalt mehr führen konnten oder wollten. Für die große Masse der Lediggebliebenen bot sich sowieso keine andere Alternative zur Untermiete, sofern sie nicht bei Verwandten Unterschlupf fanden.859 „Zahlt Andrä, der Bruder 30 x“, hieß es etwa im Falle des Paul Oberkofler* aus Mühlbach hinsichtlich der Kosten für die Konsultation durch Ottenthal und die verschriebenen Arzneien.860 Der Ledigenanteil erreichte im 19. Jahrhundert gerade in stark agrarisch geprägten Regionen mit einem geringen Industrialisierungsgrad eine enorme Höhe. Um 1880 lagen die Ledigenquoten der 51 bis 60-jährigen Männer etwa im Bezirk Pustertal bei 31,1 Prozent, jene der Männer zwischen 60 und 70 Jahren bei 29,1 Prozent.861 Generell wird der Anteil unverheirateter Menschen an der älteren Bevölkerung für das 19. Jahrhundert zwischen 10 und 15 Prozent geschätzt, wobei Männer deutlich geringere Werte als Frauen aufwiesen und sich ein Rückgang dieser hohen Raten bei ihnen früher abzeichnete.862 Angesichts dieser hohen Ledigenquoten stellte sich für eine nicht unbedeutende Zahl an Personen das Problem einer eventuellen Versorgung im Alter, sobald sie ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen konnten. Alleinstehende Ältere versuchten daher, irgendwo als Herberger unterzukommen. Für die kleine österreichische Landgemeinde Andrichsfurth konnte Josef Ehmer folglich nachweisen, dass der Anteil über 60-jähriger Herberger dort im gesamten 19. Jahrhundert zwischen 15 und 30 Prozent schwankte.863 Auch jener 82-jährige Luttacher, den Ottenthal am 24. Juli 1865 wegen Brechreiz und Magenproblemen in Behandlung hatte, und über den der Arzt notierte, er wäre seit einer Lungenentzündung vor fünf Jahren geistig und körperlich nicht mehr auf der Höhe864, gehörte dem Stand der unverheirateten Dienstboten an und befand sich im Maurerhaus in Luttach zur Untermiete. Besagter Patient war nämlich kurze Zeit nach der ärztlichen Konsultation gestorben, und der Pfarrer trug nicht nur die Todesursache „Altersschwäche“ in das Sterbebuch ein, sondern auch den sozialen Status als „lediger Herberger“.865 Demselben Zivilstand gehörte ein anderer Patient an, den Ottenthal zu Beginn des Jahres 1868 aufgrund einer Atemwegserkrankung behandelte. Im Zuge der ersten Konsultation im Februar verschrieb er diesem 68-jährigen Luttacher ein Mittel gegen den „catarrhus bronchialis“, einen Monat später im März ein weiteres Medikament gegen die „dyspnoea emphysematosa“.866 Trotz 859 860 861 862 863 864
Zu dieser sozialen Gruppe siehe Ehmer, Stellung, 78 f. HM 806/1895, Eintrag vom 22.5.1895. Die Zahlen sind entnommen aus Mantl, Heirat, 45 (Tab. 4.1) und 46 (Tab. 4.2). Vgl. Ehmer, Sozialgeschichte, 158. Vgl. Ehmer, Stellung, 103 (Tab. 5). [„82 ann. animo et corpore hebes ex 5 annis post pneumoniam ex sept laborat nisu in vomitum albo oppilat“]. HM 1038/1865, Eintrag vom 24.7.1865. 865 SLA, Sterbebuch Luttach 1865. Sterbeeintrag vom 14.8. 866 HM 194/1868, Einträge vom 7.2.1868, 27.3.1868 und 8.5.1868.
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der medizinischen Intervention besserte sich der Zustand des alten Mannes nicht, denn auch die erneute Konsultation im Mai des Jahres führte nur zu einer vorübergehenden Linderung der Symptome. Schließlich verstarb der Patient am 24. Mai um halb Sieben Uhr Abends, laut Sterbebucheintrag versehen mit den Sterbesakramenten, an „Wassersucht“.867 Für jene ländlichen Bewohner, denen eine Ehe aufgrund der herrschenden rigiden Heiratsbeschränkungen verwehrt geblieben war oder denen der Ledigenstatus reizvoller erschien als eine Verehelichung, war die Einmietung in einen fremden Haushalt somit eine überaus pragmatische Lösung auf der Suche nach einer Altersversorgung. Voraussetzung für die Umsetzung einer solchen Option stellte allerdings ein gewisses finanzielles Polster dar, das sich die Betreffenden im Laufe ihrer Erwerbstätigkeit angespart hatten oder das ihnen auf dem Erbweg zugefallen war. Nur die Aufbringung der Unkosten für Kost und Logis bewahrte viele Personen aus der ländlichen Unterschicht vor dem Schicksal, als Gemeindearme im Versorgungshaus zu landen oder als Anleger von Hof zu Hof wandern zu müssen. Johannes Grießmair wusste in seiner Studie über Südtiroler Dienstboten aus den 1970er Jahren zu berichten, dass noch seine Mutter ihm von Pustertaler Dienstboten erzählte, denen im hohen Alter mangels anderer Versorgungsmöglichkeiten nur die Einlage blieb und die sich angesichts dieses Loses lieber erhängten oder in den Fluss sprangen.868 So verwundert es nicht, wenn eine Lungauer Bauerntochter in ihren Erinnerungen berichtete, zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten die Älteren unter den noch ledigen weiblichen Dienstboten oftmals einen „schiachen oder alten Mann“869 geheiratet, um nur irgendwo einheiraten zu können und im Alter ein Dach über den Kopf zu haben. Denn bei lebenslangem Ledigenstand konnte mit einer familiären Versorgung durch die eigenen Kinder nicht gerechnet werden. Für die vermietenden Bauern selbst bedeutete dieses System einen Zuverdienst, sofern ihr Hof groß genug zur Bereitstellung einer Kammer war.870 Die Möglichkeiten zur Herberge wählten aber auch jene Personen, die etwa durch den Tod des Ehepartners keinen Haushalt mehr aufrecht erhalten konnten oder wollten. Da Witwer in den meisten Fällen entweder noch einem Erwerb nachgingen oder am Hof des Herbergers mitarbeiten konnten, waren die Kosten für eine Untermiete von diesem Kreis älterer Männer durchaus aufzubringen. Alleinstehende Witwen zogen hingegen eher zu Verwandten, halfen dort im Haushalt mit und verdienten sich durch Arbeiten wie Wäschewaschen für die Bürger einer nahen Stadt ein Zubrot. Dies bestätigen Erhebungen zum englischen Baumwollzentrum Preston für die Mitte des 19. Jahrhunderts, wo nur 13 Prozent der Witwer und 27 Prozent der Witwen den 867 SLA, Sterbebuch Luttach 1868. Sterbeeintrag vom 24.5. Diesem Eintrag des Pfarrers verdanken wir die Kenntnis über den Zivilstand. Bei Ottenthal selbst finden sich keine näheren Angaben dazu. 868 Vgl. Grießmair, Knecht, 64. 869 Vgl. Bauer, Bauernleben, 35 f. 870 Zur Thematik von Angebot und Nachfrage siehe Ehmer, Stellung, 79.
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Haushalt weiterführten, wenn keine Kinder mehr im Haus waren.871 Lebten allerdings noch Kinder im gemeinsamen Haushalt, die einen Teil ihrer eigenen Einkünfte abgeben oder Tätigkeiten im Haushalt übernehmen konnten, verblieben die meisten Witwer und Witwen in der gewohnten Umgebung. Mit der Gefahr des sozialen Abstiegs argumentierte auch die pflegebedürftige Witwe Maria Voppichler aus Prettau, als sie im Jahre 1867 beim Bezirksamt in Taufers um die Freistellung ihrer Söhne Lorenz und Sebastian von der Assentierung bzw. vom Militärdienst bat. „Da die Tochter Maria Voppichler, weil zur Pflege der kranken Mutter unumgänglich nothwendig, keinen Kreuzer verdienen kann, so hängt die ganze leibliche Existenz der Bittstellerin vom Verdienste ihrer Söhne ab“, stand im Schreiben zu lesen.872 Würde die Witwe nun beide Söhne an das Militär verlieren, könnte sie die Bewirtschaftung des Hofes nicht mehr aufrecht erhalten und müsste „nothwendig dem Ortsarmenfonde zur Last fallen“. Im Staatsarchiv Bozen sind noch andere Aktenstücke zu finden, die tiefere Einblicke in die Lebensumstände alter Menschen im Tauferer Ahrntal eröffnen. Der 65 Jahre alte Josef Steinhauser* aus Prettau etwa musste im Alter gleich mehrere schwere Schicksalsschläge hinnehmen.873 Über 38 Jahre hindurch hatte der Bergwerksangestellte ein kleines Gut gepachtet, dieses jedoch nach dem Tod seiner Frau im Jahre 1858 aufgegeben und sich statt dessen zu einem Drittel in den Hof eines Bauern eingekauft. Sämtliche aus der Ehe hervorgegangenen drei Kinder waren als Dienstboten auf fremden Höfen untergebracht, sodass der alte Mann das Gut wohl nicht mehr alleine bewirtschaften konnte. Durch ihre eigenen Anstellungsverhältnisse konnten ihm seine Kinder nicht mehr hilfreich zur Hand gehen. Allerdings waren alle drei Kinder während der schweren Typhusepidemie des Jahres 1860 gestorben, woraufhin er diesen Hausanteil wieder verkaufte und als Herberger in das Haus eines Bauern zog. Vermutlich brach durch den unvorhersehbaren Tod seiner Kinder die Möglichkeit einer familiäre Versorgung im Alter plötzlich weg, sodass sich Steinhauser* zu diesem Schritt genötigt sah. Denn der Mann war nicht nur durch den Tod seiner Frau schwermütig geworden, er verfügte auch nur noch über eine geringe Sehkraft und war aufgrund dieser Beeinträchtigung beim Bergwerk nur noch für Hilfsarbeiten angestellt. „Er hatte bei mir eine Stube allein, hielt sich aber gerne bei den übrigen Leuten auf, weil man ihn öfter sagte, er solle sich bei den Leuten aufhalten, und sich die Schwermuth aus dem Sinn schlagen“874, äußerte sich der Besitzer des Guts über seinen Herberger im Jahre 1860. Halbblind und ohne Unterstützung durch seine Kinder wählte Steinhauser* ein Untermietsverhältnis als einzig verbleibende Option einer wenn auch nur rudimentären Altersversorgung, wenn er nicht ein ähnliches Schicksal erleiden wollte wie jener über 70-jährige Mann aus 871 Vgl. Ehmer, Sozialgeschichte, 173. 872 ASBz, BA Taufers 1867, Bündel 167/2, ad Nr. 1590, C.a.2 ex 1867. 873 Der umfangreiche Akt befindet sich im ASBz, BA Taufers 1860, Bündel 146/2, liegend in Z. 3804/I.a.38 ex 1860. 874 ASBz, BA Taufers 1860, Bündel 146/2, Nr. 994, liegend in Z. 3804/I.a.38 ex 1860.
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Mühlen. Ottenthal musste diesen Mann im März 1895 behandeln, da er kurz zuvor offensichtlich wegen des hohen Alters und der voranschreitenden Gebrechlichkeit über eine Treppe des Hauses gestürzt war und sich dabei „variae contusiones faciei et capitits“875 zugezogen hatte. Steinhauser* konnte durch die speziellen Arbeitsbedingungen als Bergarbeiter, die ihm die Auszahlung eines regelmäßigen Lohnes garantierten, sicherlich ausreichend Geld beiseite legen, um sich auf einem fremden Hof einmieten zu können. Ländliche Dienstboten ohne derartige finanziellen Rücklagen mussten hingegen darauf hoffen, dass ihnen ein Bauer, bei dem sie über die Jahre hinweg im Dienst standen, gestattete, im hohen Alter ein nicht mehr benutztes Kämmerchen zu beziehen. So konnten sie ihren Lebensabend „aus Gnade“ auf dem ehemaligen Arbeitsplatz verbringen. „75 ann. saepius vertigine adficitur et doloribus in nucha“876, ist beispielsweise in einer Krankengeschichte vom 13. Juli 1862 zu lesen. Abgesehen von den Symptombeschreibungen, dem Namen, dem Alter, dem Wohnort und der Hofadresse wird in den Historiae Morborum zwar nichts Näheres zu diesem Patienten notiert. Als der Mann allerdings Jahre später an einer Lungenentzündung starb, erfahren wir über den Eintrag des Pfarrers („lediger Knecht beym Mayregger“877) den sozialen Status des Alten. Offenbar hatte die Bauersfamilie ihren langjährigen Knecht auch während dessen letzten Lebensabschnitts auf dem vertrauten Hof behalten, und ihm trotz schwindender Arbeitskraft Verpflegung, Unterhalt und Versorgung im Krankheitsfall zugesichert. Für unzählige andere betagte Dienstboten und alte Gemeindearme zerschlugen sich mit dem Nachlassen der Körperkraft und der abnehmenden Arbeitsfähigkeit indessen die Hoffnungen, auf einem Hof verbleiben zu können. Ihnen stand ein Schicksal als Einleger oder im lokalen Versorgungshaus bevor. 3.4.4.3 Institutionen der Altenfürsorge: Einlage und Versorgungshaus War es einem ledigen Dienstboten nicht gelungen, sich vom kargen Lohn eine Rücklage für den Lebensabend zu bilden, blieb ihm bei Erschöpfung der Arbeitskraft und Gebrechlichkeit im hohen Alter oftmals nur noch die Einlage.878 Dazu musste er bei seiner zuständigen Heimatgemeinde offiziell um Aufnahme in die Armenversorgung ansuchen, wo er bei einem positiven Bescheid das sogenannte „Einlegerbüchl“ ausgehändigt bekam. In diesem Verzeichnis waren alle Hofbesitzer aufgelistet, die arbeitsunfähige Gemeindealte aufnehmen und verköstigen mussten. Die Anzahl der Tage, die ein Quartiergeber einen solchen Herumziehenden zu beherbergen hatte, wurde nach der Größe des Hofes und nach dem Umfang des Grundbesitzes genau berechnet. Für das Salzburger Lungau des beginnenden 20. Jahrhunderts arbeitete Peter 875 876 877 878
HM 365/1895, Eintrag vom 1.3.1895. HM 731/1862, Eintrag vom 13.7.1862. SLA, Sterbebuch St. Johann 1867. Sterbeeintrag vom 24.10. Zu diesem System der Alten- und Armenversorgung siehe Ehmer, Sozialgeschichte, 36 f. und 166–168; Klammer, Höfen, 185–209; Ortmayr, Knechte, 350–352.
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Klammer nach Durchsicht eines solchen „Einlegerbüchls“ heraus, dass dessen Besitzer während des acht Jahre dauernden Kreislaufs minimaler Armenversorgung nicht weniger als 359 Quartierplätze durchwandert hatte.879 Die Bauern konnten als Gegenleistung für die Bereitstellung eines temporären Schlafund Kostplatzes mit einer Vergütung aus dem lokalen Armenfonds rechnen, meistens bekamen sie einen Teil der zu erbringenden Gemeindesteuern (etwa der Grundsteuer) gutgeschrieben. Diese spezifische Gruppe ländlicher Unterschichten ist in archivalischen Quellen schwer zu greifen, und auch in den Historiae Morborum hat sie nur wenige Spuren hinterlassen. Zwar vermerkte Franz v. Ottenthal manchmal den Status „Anleger/Anlegerin“ am Rand des Namensfeldes, was darauf hinweist, dass dieser Arzt beruflich auch mit der Randgruppe der Gemeindearmen zu tun hatte. Dennoch wird in den Krankengeschichten selbst nur wenig über die Biographien von Personen aus diesem Kreis mitgeteilt – abgesehen von den notierten Symptomen und Beschwerden. Die Strapazen eines solchen Lebens müssen aber überaus groß gewesen sein. In Tamsweg (Salzburg) kurz nach 1900 benötigte ein Einleger 14 bis 15 Monate, bis er alle potentiellen Quartiergeber dieser Gemeinde aufgesucht hatte und der Kreislauf von neuem begann.880 Die körperlich ohnehin hinfälligen Alten bekamen meistens einen Platz in der Scheune, im Stall oder auf dem Boden der Stube und mussten sich zum Essen in einen entlegenen Winkel zurückziehen. Bei einer derartigen unsteten Lebensweise war die Gefahr einer langsamen Verwahrlosung der Alten groß. „Ein Einleger hat Ruap geheißen und war immer voller Läuse. Er hat nicht viel geredet. Mir hat ein bißchen gegraust vor ihm. Er ist auf der Ofenbank gesessen, und dort hat er auch gegessen“, erinnert sich etwa eine Kärntnerin an einen Gemeindearmen in der Zwischenkriegszeit.881 Angesichts dieser Lebensumstände verwundert es nicht, dass bei einem 65-jährigen Anleger aus Mühlwald die lange unbehandelten Entzündungen der Fußgelenke chronisch wurden und Ödeme bildeten, bis die Haut letztlich abzublättern begann und die Hautoberfläche von Geschwüren übersät war.882 So fanden nicht wenige Anleger im Alkohol die einzige Möglichkeit, mit dieser unwürdigen Situation und den unsäglichen Schmerzen umzugehen. Im Dezember 1892 etwa setzte Ottenthal anlässlich einer erneuten Konsultation dieses Mühlwalders das Wort „potator“ der nachfolgenden Anamnese voran.883 Die Abgeltung der Behandlungskosten dieser Alten wurde dabei vom Armenfonds der jeweiligen Gemeinde übernommen, wie eine kurze Notiz zur 879 880 881 882
Klammer, Höfen, 193. Klammer, Hof, 204. Klammer, Höfen, 227. [„65 ann. laborat ex mense oedemate pedum cum exfoliatione epidermis et ulceribus superficialibis et pruritus jam ex annis articulationes pedum chronice inflamatae“]. HM 1374/1892, Eintrag vom 16.7.1892. 883 [„65 ann potator anteheri ebrius lapsus est de scala facies intumefacta livet coerulescit aeger apathicus vix verbum dicit paraplegia abest“] („65 Jahre Säufer, ist vorgestern betrunken von der Treppe gefallen, das angeschwollene Gesicht ist blau angelaufen, der Kranke apathisch, sagt kaum ein Wort, die Lähmung geht zurück“). HM 2047/1892, Eintrag vom 20.12.1892.
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Krankengeschichte des Alois Kofler* zeigte. Der 73-jährige Mann, der in Kematen von Hof zu Hof wanderte, litt seit einem halben Jahr an stetig wachsenden Ödemen und klagte zudem über eine schwache Verdauung. Die Kosten für das verabreichte Medikament (Digitalis), welches wohl den Kreislauf des Alten anregen sollte, verrechnete Ottenthal der Gemeinde. „Bestätigung der Zahlungspflicht der Gem Kematen“884, vermerkte der Arzt im Juli 1894. 1857 wird der 73-jährige Martin Auer* als Anleger beim Plankensteiner in Uttenheim „aktenkundig“, als er im Juni auf Kosten des Armenfonds wegen „dolor[e] lateris dextri sub tussi augendo rheumatic[us] absque febri“885 behandelt wurde. Weitere 20 Kreuzer aus dem Fonds bekam Ottenthal im Oktober 1864 für die Behandlung der Atemnot dieses Anlegers, und 1865 war eine erneute Konsultation notwendig, da der Patient stark hustete. Der Gesundheitszustand von Auer*, der im letzten überlieferten Eintrag von Ottenthal als „senex cophoticus“886 beschrieben wurde, dürfte sich aber dermaßen verschlechtert haben, dass ihm das Wandern von Hof zu Hof nicht mehr zuzumuten gewesen war und er seinen Lebensabend im lokalen Versorgungshaus verbringen konnte. Denn wie der Eintrag in das Sterbebuch zeigt, verstarb er dort im Juni 1868 an „Alter“.887 Wie erwähnt waren die Gemeinden etwa gemäß Statthalterei-Dekret aus dem Jahre 1863 verpflichtet, ihren jeweiligen kranken und alten Gemeindearmen „die Versorgung ärztlicher Hilfe, nothwendiger Heilmittel und einer nach Anordnung des Arztes dem Stande der Krankheit entsprechende Pflege“888 zukommen zu lassen. Somit wurden auch jene drei Behandlungen, die Ottenthal im Mai 1861 bei einem 65 Jahre alten Weißenbacher durchführte, aus dem lokalen Armenfonds bezahlt.889 War keine Unterstützung durch eigene Kinder oder nahe Verwandte gegeben, konnten die betreffenden Individuen das Alter nur noch schwer mit eigenen Kräften bewältigen, zumal die ohnehin prekäre Lage durch die Multimorbidität der späten Lebensphase oftmals zusätzlich verschärft wurde. Konnten ältere ledige Frauen eventuell noch auf die gelegentliche Unterstützung durch ein unehelich gezeugtes Kind hoffen, waren unverheiratet gebliebene Männer nicht zuletzt durch die verbreitete Praxis, die Vaterschaft zu verleugnen, im Alter gänzlich auf sich allein gestellt. Eine Untersuchung über den sozialen Status und den Zivilstand von Einlegern in der Steiermark aus dem Jahre 1892 ergab daher wenig überraschend, dass rund drei Viertel aller Einleger niemals verheiratet waren und sich der überwiegende Teil von ihnen aus dem Dienstbotenstand rekrutierte.890 Für Norbert Ortmayr ist das Einlegesystem als spezifische Form ländlicher Altenversorgung daher auch „die logische Folge eines 884 HM 1083/1894, Eintrag vom 4.7.1894. 885 HM 744/1857, Eintrag vom 21.6.1857; HM 1034/1864, Eintrag vom 24.10.1864; HM 337/1865, Eintrag vom 27.2.1865. 886 („tauber Alter“). HM 337/1865, Eintrag vom 27.2.1865. 887 SLA, Sterbebuch Taufers 1868. Sterbeeintrag vom 26.6. 888 Gesetz vom 3. Dezember 1863, für Vorarlberg ergänzt vom 7. Jänner 1883. Schranz, Sammlung, § 21, 270. 889 („Armenfonds 24 x“). HM 327/1861, Einträge vom 3.3.1861, 4.3.1861 und 7.3.1861. 890 Vgl. Ehmer, Sozialgeschichte, 167 f.
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Familien- und Verwandtschaftssystems mit relativ hohen Ledigenanteilen, hohen Anteilen von Kernfamilien beziehungsweise dem fast völligen Fehlen komplexer Familienformen, die eine größere Integrationsfähigkeit für alte, arbeitsunfähige Menschen hatten“891. Freilich trachteten die Gemeinden danach, gesundheitlich nicht allzu angeschlagene Anleger gegen ein entsprechendes Kostgeld für länger bei einem Bauern unterzubringen.892 Diese individuell verhandelten Abmachungen ersparten den Gemeinden Kosten und den Anlegern das mühsame Wandern von Hof zu Hof. Die Bauern selbst konnten den Betreffenden für kleine Gelegenheitsarbeiten einsetzen. Schwierig wurde es allerdings in jenen Fällen, wo ein Anleger durch eine chronisch gewordene Erkrankung einen erhöhten Pflegeaufwand benötigte, den die einzelnen Mitglieder des Haushaltsverbandes nicht leisten konnten. „Zeugniß Spitalreif “, lautete etwa das Gutachten Ottenthals im Falle eines 87-jährigen Anlegers aus St. Johann.893 Dessen HerzKreislaufsystem war den notierten Symptomen zufolge offenbar schon dermaßen geschwächt („dyspnoea annosa“, „tussis sicca“, „oedema usque ad femora“), dass im Juli 1890 die Überstellung in das Versorgungshaus der Barmherzigen Schwestern in die Wege geleitet wurde. „Zeugniß kann nicht als Anleger auf die Berghöfe gehen“, befand Ottenthal bei einem anderen Gemeindearmen im Juli 1892 angesichts dessen chronisch gewordener Entzündungen an den Beinen.894 Derartige Hinweise in den Historiae Morborum lenken den Blick auf eine Institution geschlossener kommunaler Armen- und Altenversorgung, die bei Versagen „familial-freundschaftliche[r] Netzwerke oder gar private[r] Wohltätigkeit“895 zum Tragen kam, nämlich die in ländlichen Regionen weit verbreitete Institution des Versorgungshauses. So gab Franz v. Ottenthal etwa am 21. März 1892 als Adresse jenes 68-jährigen Patienten, der ihm gegenüber Symptome wie „oedema“, „oppletio“ und „dyspnoea“ geäußert hatte, das „Spital“ an.896 Bei dieser Institution, in den Historiae Morborum auch „Spitalhaus“897 oder „Kloster“898 genannt, handelte es sich um ein typisches kommunales Versorgungshaus, deren Errichtung größeren Gemeinden laut Gubernialdekret vom 11. Jänner 1785 zur Unterbringung und Verpflegung armer und alter Kranker gesetzlich vorgeschrieben wurde.899 Da sich nur die wenigsten Gemeinden einen kostspieligen Neubau leisten konnten, adaptierte man meist ein aufgelassenes Badehaus oder eine größere Brechelstube für die Unterbringung einzelner Armer.900 Im besten Fall konnte
891 892 893 894 895 896 897 898 899 900
Ortmayr, Knechte, 352. Vgl. Klammer, Höfen, 196 f. HM 1602/1890, Eintrag vom 5.7.1890. HM 1374/1892, Eintrag vom 16.7.1892. Melinz, Armutspolitik, 140. [„68 ann oedema, oppletio, dyspnoea“]. HM 660/1892, Eintrag vom 21.3.1892. Etwa in HM 844/1869, Eintrag vom 16.6.1869. Etwa in HM 1036/1895, Eintrag vom 1.7.1895. Zur Armenfürsorge in Österreich im 18. Jahrhundert vgl. Dietrich-Daum, Care, 165–168. Vgl. Klammer, Höfen, 197 f.
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Abb. 3.4.2: Das Institutsgebäude der Barmherzigen Schwestern in Mühlen: Schulgebäude und Spital zugleich Quelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck; Bibliothek W 10720
die Gemeinde ein noch im Ort befindliches Hospiz mittelalterlichen Zuschnitts weiter verwenden und zu einem Armen- und Versorgungshaus ausbauen. Im Tauferer Tal ermöglichte eine großzügige Stiftung zweier Frauen aus der Region in Höhe von 10.000 Gulden im Jahre 1846 den Ankauf des Stöcklbaueranwesens in Mühlen. Ein Teil des Gebäudes wurde zu einem Spital umgebaut, der andere Teil auf ausdrücklichen Wunsch der Stifterinnen als Schule geführt.901 Die Aufgabe des Verwalters dieser Einrichtung übernahm der Dekan der Pfarre Taufers, Josef Seyr (1789–1881), der Barmherzige Schwestern aus dem Mutterhaus in Zams für die Pflegetätigkeit gewinnen konnte.902 Der Spitalbetrieb schien bald ein größeres Ausmaß erreicht zu haben, denn in einem Bericht aus dem Umfeld der Tiroler Sanitätsbehörden aus dem Jahre 1873 war von „weltlichen Wärterleuten“ die Rede, die den Ordensschwestern bei der Pflege zur Hand gingen.903 901 Zur Armenfürsorge im 19. Jahrhundert siehe Innerhofer, Taufers, 294 f. 902 Zum Wirken dieses Pflegeordens in Tirol siehe Dietrich-Daum, Barmherzigkeit, 123–125. 903 Pircher, Mittheilungen, 256.
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Als privat organisierte, aus karitativ-religiösen Motiven gegründete Anstalt rekrutierte sich die „Zielgruppe“ überwiegend aus armen Kranken der umliegenden Dörfer der Pfarre. In diesem Versorgungshaus sollte somit jener Personenkreis Aufnahme finden, der aufgrund der seit dem 18. Jahrhundert zunehmenden Spezialisierung der Kliniken und Krankenhäuser auf junge Patientengruppen mit leicht heilbaren Erkrankungen dort nur ungern behandelt wurde.904 Neben den alten und pflegebedürftigen Gemeindearmen waren die lokalen Häuser zunächst aber auch letzte Zufluchtsstätte für eine Klientel, für die entweder keine eigenen Anstalten existierten (etwa Taubstumme) oder für die in den wenigen Spezialeinrichtungen aus Platzmangel und Überfüllung keine alternative institutionelle Unterbringung gefunden werden konnte (etwa Personen mit psychischen Erkrankungen905). Erst im Gefolge der Ausdifferenzierung der medizinischen und therapeutischen Anstaltslandschaft wurde die ursprünglich recht inhomogene Gruppe der „Insassen“ von Versorgungshäusern auf die „siechen Alten“ eingegrenzt906, deren „Entdeckung“ als zu medikalisierende Patienten in großem Stil erst mit der Einführung einer geriatrischen Fachdisziplin nach der Wende ins 20. Jahrhundert einsetzen sollte.907 Versorgungshäusern wohnte daher gerade in ländlichen Gebieten ein gewisser „Auffangcharakter“908 inne, der durch die gleichzeitige Versorgung unterschiedlichster Klientengruppen bedingt war. Im Oktober 1864 etwa fragte der Gemeindevorstand von Gais bei Dekan Seyr an, ob seine Einrichtung nicht einen im dortigen Armenhaus untergebrachten Syphilitiker übernehmen könnte. Der Verwalter verweigerte mit Verweis auf die Ansteckungsgefahr für die übrigen „Insassinnen“ und „Insassen“ eine Überstellung und verwies den Kranken an das Stadtspital in Bruneck, „wodurch nicht nur der Ansteckung vorgebeugt, sondern auch der Kranke selbst leichter wieder hergestellt werden könnte“909. Und im vorangegangenen Jahr bemängelte der für den Bezirk zuständige Arzt in Bruneck, Dr. von Thavonati, nach Bereisung des Sanitätsdistrikts, dass im Spital zu Taufers noch immer kein geeigneter Raum für „Irre“ eingerichtet worden wäre, obwohl dies gesetzlich schon lange vorgeschrieben war.910 In seinem Antwortschreiben rechtfertigte sich Dekan Seyr damit, dass „sich wenigst [sic] gegenwärtig kein Platz dar[biete], nach welchem ein geeignetes Lokale von der Art errichtet werden könnte“911. Von 904 Vgl. Conrad, Krankenhaus, 188–193. 905 Vgl. dazu am Beispiel des Tauferer Ahrntals Dietrich-Daum/Taddei, Versorgung, 39 f. 906 Zur Geschichte der institutionellen Altersversorgung vgl. von Kontradowitz, Alter, 114–126; für Tirol Dietrich-Daum, Care, 170 f. 907 Vgl. Moses, Alt, 32–39. 908 von Kontradowitz, Alter, 118. 909 ASBz, BA Taufers 1864, Bündel 158/2, Nr. 1644/E.36 ex 1864. „Schreiben des Gemeindevorstands von Gais an das Bezirksamt Taufers vom 22.10.1864.“ 910 ASBz, BA Taufers 1863, Bündel 157/1, Nr. 1479/E.38 ex 1863. „Schreiben des Dr. Thavonati an das Bezirksamt Taufers vom 20.9.1863.“ 911 ASBz, BA Taufers 1863, Bündel 157/1, Nr. 1648, liegend in Nr. 1479/E.38 ex 1863. „Schreiben des Dekan Seyr an das Bezirksamt Taufers vom 23.10.1863.“
3.4 „81 ann […] vires corporis et animi decrescunt“
331
den Zeitgenossen wurde das Versorgungshaus demnach nicht als „exklusives Refugium“ für hochbetagte Alte angesehen, sondern stand theoretisch einer Vielzahl armer und mittelloser Menschen mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern offen, wohl nicht zuletzt auch, um diese ansonsten schwierig zu fassende Personengruppe bis zu einem gewissen Grade kontrollieren zu können. Elisabeth Dietrich-Daum sieht die zentrale Funktion dieser Anstalten daher „in der räumlichen Zusammenfassung und gemeinschaftlichen Verpflegung der Armenpopulation in anstaltsförmigen Einrichtungen“912. Vielleicht spiegelt die ablehnende Haltung des Dekans zur Aufnahme von Syphilitikern und „Irren“ noch das traditionelle Denkmuster vom „würdigen Alten“ wider.913 Gemäß dieser Argumentation wären unverschuldet in die Armut abgeglittene kranke Alte der Pflege in diesen überwiegend von christlichen Orden betreuten Häusern „würdig“ gewesen. Die soziale Gruppe der langgedienten ledigen Dienstboten etwa hätte ein solches Kriterium der „Würdigkeit“ erfüllt. Arme Kranke hingegen, die aufgrund ihres Lebenswandels selbstverschuldet in Not geraten waren, wurden von den Verwaltern abgewiesen und in andere Einrichtungen abgeschoben. Da sich im Staatsarchiv Bozen die von der Regionalbehörde ausgefüllten amtlichen Erhebungsbögen zur statistischen Erfassung der in Tirol befindlichen Anstalten für einige Jahre erhalten haben, sind wir zumindest über die zeitweilige Bettenzahl und die Auslastung des Spitals in Mühlen sehr gut informiert. Im Jahre 1860 beispielsweise wurden dort fünf Männer und acht Frauen verpflegt914, 1863 ein Mann und elf Frauen915 und 1864 zwei Männer und neun Frauen916. 1865 wurden ebenfalls nur zwei Männer aufgenommen. Es findet sich also auch in diesem Jahr ein deutlicher Überhang von Frauen in dieser Institution, sowohl was die absolute Zahl (12) als auch die Zahl der Verpflegtage (3328 zu 720) betrifft.917 Überlieferte Zahlen zu diesem wie auch zu anderen Versorgungshäuern im Tiroler Raum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen auf ein ausgeprägtes geschlechtsspezifisches Ungleichgewicht bei der geschlossenen Altersfürsorge zuungunsten der Männer schließen.918 Dietrich-Daum führt in ihrer Untersuchung zu Versorgungshäusern in Tirol 912 Dietrich-Daum, Care, 169. 913 Vgl. dazu in: von Kontradowitz, „Alter“, 126–129. 914 ASBz, BA Taufers 1860, Bündel 147/2, Nr. 171; B.b.39 ex 1860. „Tafel Litt. C. über den Bestand und die Einrichtung der Wohlthätigkeits-Anstalten (Heilsanstalten, Versorgungshäuser und Armenanstalten) im Verwaltungs-Jahre 1860.“ 915 ASBz, BA Taufers 1863, Bündel 156/1, liegend in Nr. 1928; B.10 ex 1863. „Tafel Litt. C. über den Bestand und die Einrichtung der Wohlthätigkeits-Anstalten (Heilsanstalten, Versorgungshäuser und Armenanstalten) im Verwaltungs-Jahre 1863.“ 916 ASBz, BA Taufers 1865, Bündel 162/1, liegend in Nr. 824; B.10 ex 1865. „Tafel Litt. C. über den Bestand und die Einrichtung der Wohlthätigkeits-Anstalten (Heilsanstalten, Versorgungshäuser und Armenanstalten) im Verwaltungs-Jahre 1863/64.“ 917 ASBz, BA Taufers 1866, Bündel 164/1, liegend in Nr. 150; B.10 ex 1866. „Tafel Litt. C. über den Bestand und die Einrichtung der Wohlthätigkeits-Anstalten (Heilsanstalten, Versorgungshäuser und Armenanstalten) im Verwaltungs-Jahre 1865.“ 918 Zur generellen Gefahr der Verarmung von Witwen im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Borscheid, Geschichte, 396–419.
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3 „Männergesundheit“ als Erfahrung
diesen Unterschied dabei auf die massive Präsenz weiblicher Pflegeorden in derartigen Anstalten zurück, die sich gezielt auf eine weibliche „Klientel“ spezialisiert hätten.919 Die festgestellte Ungleichheit in der institutionellen Versorgung armer Alter könnte allerdings auch damit zusammenhängen, dass das mühsame System der Einlage alten Männern eher zugemutet wurde als alten Frauen, für die die Gemeindebeamten schneller einen stationären Pflegeplatz besorgen wollten. Männer wurden möglicherweise erst bei einem hohen Grad an Pflegebedürftigkeit an das Versorgungshaus verwiesen, wie etwa das Beispiel des Michael Gasser* nahelegt. Dieser alte Kranke schien in den Historiae Morborum zunächst als 73-jähriger Anleger auf, als er sich von Ottenthal wegen „angina c. tumore in et externo“ behandeln hatte lassen.920 Fünf Jahre später wird dieser Mann schließlich als „Insasse“ des Spitals ausgewiesen, der nun an klassischen Alterskrankheiten wie „dyspnoea“ und „oedema pedum“ litt, zu denen sich im Laufe des Behandlungszeitraums noch gastrische Symptome gesellten.921 Auch ein entsprechender Eintrag in das Honorarfeld der Krankengeschichte des 72-jährigen Spitalsinsassen Peter Tasser* („nil 24 x“922) deutet daraufhin, dass Ottenthal die Behandlungskosten entweder mit dem Armenfonds der für den Patienten zuständigen Gemeinde abgerechnet hat, oder aber dass er ein mit der Spitalsverwaltung vereinbartes fixes Salär für die gelegentliche Behandlung dort untergebrachter Kranker bezog. Insgesamt ergibt sich aus den untersuchten Fallgeschichten zu alten, kranken und pflegebedürftigen Männern das Bild, dass für diese der Prozess des Alterns ihrem jeweiligen sozialen und ökonomischen Status entsprechend überaus ungleich verlief. Zwischen einem begüterten Bauern, der umsorgt von einer ledigen Tochter seinen Lebensabend im vertrauten Bett verbringen und sich regelmäßige ärztliche Visiten leisten konnte, und einem Einleger, der nur mit einer „Akutversorgung“ durch den bestellten Gemeindearzt rechnen durfte, klafften auch im Tauferer Ahrntal des 19. Jahrhunderts Welten. 3.4.5 Zwischenbilanz In den vorangegangenen Ausführungen wurde deutlich, dass ältere Menschen über 65 durchaus die ärztliche Hilfe Franz v. Ottenthals in Anspruch nahmen, auch wenn diese Hilfe in nichts weiterem als einer kurzfristigen Linderung der Beschwerden bestanden haben mag. Hinsichtlich des geschlechterspezifischen Aufsuchens von Arztpraxen konnte am Beispiel dieser Patientengruppe zudem gezeigt werden, dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts offensichtlich jenes Muster herausgebildet hatte, welches Martin Dinges einmal als „Inan-
919 Dietrich-Daum, Care, 171. 920 HM 1800/1890, Eintrag vom 15.8.1890. 921 HM 1036/1895 und HM 1168/1895, Einträge beginnend mit dem 1.7.1895 bis zum 16.8.1895. 922 HM 1394/1892, Eintrag vom 21.7.1892.
3.4 „81 ann […] vires corporis et animi decrescunt“
333
spruchnahmelücke der Männer“ bezeichnet hat923: (Ältere) Frauen begannen die Warteräume der ärztlichen Praxen zu dominieren. Das Krankheitsspektrum, gegen das Ottenthal mit seinen Tinkturen und Salben, seinen Laxantien und Roborantien ankämpfte, war dabei zu einem großen Teil von chronischen, langwierig verlaufenen Krankheitsbildern bestimmt. Nicht selten traten derartige Erkrankungen zugleich mit weiteren alterspezifischen Abnützungserscheinungen etwa des Knochen- und Muskelapparates oder der Sinnesorgane auf. Die das Sterblichkeitsgeschehen des 19. Jahrhunderts so dominierenden akuten Infekte hingegen spielten mit Ausnahme der Atemwegserkrankungen und bis zu einem gewissen Grade der Magen-Darm-Erkrankungen als Konsultationsgrund der ältesten Patientinnen und Patienten Ottenthals nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings schränkten gerade die sich über lange Jahre hinziehenden chronischen Krankheiten die Arbeitsfähigkeit stark ein, erforderten einen großen Aufwand an Pflege und Versorgung und erzwangen eine persönliche Auseinandersetzung mit dem nahenden Tod. Für verheiratete oder verwitwete Alte aus der bäuerlichen Ober- und Mittelschicht wurde das Bett im ehemaligen Wohnhaus in der Regel auch zum letzten Ruhebett. Wurde ein alter Kranker allerdings nicht durch das Netz familiärer oder verwandtschaftlicher Pflege aufgefangen, sei es, weil er ledig geblieben oder als arbeitsunfähiger und alleinstehender Witwer in die Armut abgeglitten war, blieb ihm nur noch ein Leben in der Einlage oder ein Platz im lokalen Versorgungshaus. Besonders unverheiratet gebliebenen Dienstboten und Tagelöhnern stand ein derartiges Schicksal bevor. Lediglich bei Vorhandensein einer gewissen finanziellen Rücklage oder bei einem Wohlwollen des letzten Arbeitgebers konnte sich ein lediger Dienstbote als Herberger einmieten und zumindest rudimentäre Pflegeleistungen durch ein Mitglied der Hausgemeinschaft vereinbaren. Wie zahlreiche Belege zu ledigen männlichen armen und alten Kranken in den Historiae Morborum Franz v. Ottenthals belegen, ist die für den Ausgang des 20. Jahrhunderts so charakteristische „Feminisierung des Alters“924 und die damit verbundene Isolierung alter Frauen über weite Strecken des 19. Jahrhunderts allerdings noch nicht anzutreffen.
923 Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 297. 924 Siehe Backes/Clemens, Lebensphase, 84–87.
4 Jungen und Männer als Patienten? Ein Resümee Ausgangspunkt dieser Untersuchung zum Krankheitsverhalten von Jungen und Männern im ländlichen Raum während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der von der gegenwärtigen geschlechtersensiblen Gesundheitsforschung seit den 1990er Jahren zunehmend problematisierte Umstand, dass Männer ungleich seltener einen Arzt in Anspruch nehmen als Frauen.925 Diese geschlechtsspezifische „Inanspruchnahmelücke“926 bei Ärzten nahezu aller Fachrichtungen, bei Angeboten zu Vorsorgeuntersuchung und Früherkennung von Krankheiten sowie bei bestimmten Bereichen der Rehabilitation nach operativen Eingriffen ist statistisch eindeutig nachweisbar. Der anhand dieser empirischen Befunde aufgekommene Diskurs über Aspekte der Männergesundheit verläuft interdisziplinär und wird nicht nur von verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen, von den Gesundheitswissenschaften und von den Gesundheitsberufen aufgegriffen, sondern auch in der Soziologie, der Psychologie und der Männerforschung kontrovers geführt. Gemeinsam ist allen an diesem Diskurs Beteiligten, dass sie dieses Verhalten von Männern im Umgang mit ihrem Körper als „defizitär“ beschreiben und mit hegemonialen Männlichkeitsbildern sowie stereotypen Vorstellungen von Männlichkeit verknüpfen. „Männer glauben, gesund und stark sein zu müssen und erleben Krankheit als Bedrohung“,927 bringt der Primar der Psychiatrie des Landeskrankenhauses Hall in Tirol kurz vor Fertigstellung dieser Arbeit Anfang Juni 2012 in einem Zeitungsartikel die vorherrschende Meinung in einem Satz auf den Punkt. Die in diesem Männergesundheitsdiskurs implizit mitschwingende Annahme, die Beteiligung von Männern an präventiven Maßnahmen zur Krankheitsvermeidung und die Inanspruchnahme von ärztlichen Dienstleistungen wäre traditionell geringer als jene von Frauen, provozierte recht schnell Zwischenrufe aus den Geschichtswissenschaften, dieses angeblich aus der traditionellen Männerrolle herrührende Krankheitsverhalten von Männern zu präzisieren und historisch genauer zu verorten. Vertreterinnen und Vertreter einer geschlechtsspezifisch ausgerichteten Medizingeschichte reagierten als erste auf die in den Publikationen zur weiblichen und männlichen Seite der Medizin permanent wiederholte These, Männer wären immer schon „beratungsresistente Gesundheitsidioten“928 gewesen. Der in Stuttgart am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung tätige Medizinhistoriker und Männlichkeitsforscher Martin Dinges sichtete folglich in einem ersten Schritt 925 Die auffällige Häufung von Frauen in medizinischen Einrichtungen wurde freilich von der Frauengesundheitsbewegung und -forschung bereits seit den 1970er Jahren kritisch wahrgenommen und unter dem Aspekt der Medikalisierung und Pathologisierung des weiblichen Geschlechtskörpers problematisiert. 926 Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 297. 927 T[iroler] T[ageszeitung], 2.6.2012, 7 („Männer sollen in Sachen Gesundheit hellhöriger sein“). 928 So der mit einem Fragezeichen versehene Titel eines Artikels von Martin Dinges aus dem Jahre 2009. Dinges, Männer [2009], 19.
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die verfügbaren Studien zu historischen Arztpraxen dahingehend, ob das Geschlechterverhältnis in Arztpraxen des 17. bis 20. Jahrhunderts tatsächlich immer schon zuungunsten von Männern ausgefallen war. Dinges stellte fest, dass Frauen zwar seit ca. der Mitte des 19. Jahrhunderts die Mehrheit in den Sprechzimmern der Ärzte stellten, für die Zeiträume davor jedoch keineswegs von einem generellen weiblichen Überhang in den Warteräumen und Behandlungszimmern gesprochen werden kann. Die sehr aufschlussreiche Übersichtstabelle von Dinges zur geschlechtsspezifischen Arztnutzung über mehrere Jahrhunderte hinweg929 und seine Schlussfolgerungen und Überlegungen zur Interpretation dieser Daten werfen allerdings eine Reihe von Fragen auf, deren Beantwortung erst durch weitere Detailstudien möglich ist. Denn zum einen werden von der Medizingeschichte Praxisjournale von Ärzten erst seit kurzer Zeit als Quelle zur Patientengeschichte genutzt. Und zum anderen beschränkt sich ein Großteil dieser seltenen Studien zu ärztlichen Krankenaufzeichnungen noch allzu sehr auf eine kontrastive Gegenüberstellung von Männern und Frauen, die nur in Ausnahmefällen mit anderen Kriterien der Differenz verknüpft werden. Die Frage, inwiefern Männer und Frauen in der Vergangenheit ein unterschiedliches Krankheitsverhalten entwickelt haben, stellt innerhalb der Medizingeschichte demnach noch immer eine große Forschungslücke dar. Die vorliegende Untersuchung zur Inanspruchnahme des Südtiroler Landarztes Franz v. Ottenthal (1818–1899) durch Jungen und Männer im 19. Jahrhundert verfolgte daher von Beginn an das Ziel, die männlichen Patienten nicht als homogenen Block erscheinen zu lassen, sondern vielmehr als heterogen zusammengesetzte Gruppe. Als Ausgangsthese wurde darauf aufbauend formuliert, dass diese genauer zu definierenden Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen an den Arzt herangetreten waren und je nach individueller Ausgangslage jeweils anders gelagerte Bedürfnisse an eine ärztliche Behandlung gerichtet hatten. Weiters wurde angenommen, dass sich den männlichen Patienten aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihres Alters oder ihres Zivilstandes unterschiedliche Handlungsspielräume eröffnet haben, um auf eine Erkrankung zu reagieren und um die medizinischen Angebote Franz v. Ottenthals nach den individuellen Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Bedauerlicherweise vermerkte dieser Arzt aus dem Südtiroler Örtchen Sand in Taufers aufgrund seiner spezifischen Journalführung nur das Geschlecht, das Alter und die während der Anamnese berichteten und selbst beobachteten Symptome konsequent in seinen Akten. Lediglich bei einigen Patientinnen und Patienten notierte er Kategorien wie Zivilstand oder Beruf, beim überwiegenden Teil seiner Klientel hätten diese Angaben erst mühsam aus anderen Referenzquellen erhoben werden müssen. Ein Aufwand, der im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden konnte. Folglich wurde als konzeptioneller Rahmen dieser Arbeit eine Einteilung nach Altersgruppen als sinnvollster Zugang gewählt, um Aspekte des männlichen Krankheitsverhaltens 929 Vgl. Dinges, Immer schon 60 % Frauen, 303 f. (Tab. 3).
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zumindest über die Kategorie „Alter“ in seiner historischen Komplexität beleuchten zu können. Die Wahl der Altersklassen orientierte sich dabei v. a. bei den Patientinnen und Patienten der höheren Altersstufen an Theorien der gegenwärtigen Sozialisationsforschung, ohne deren aus aktuellen Befunden entwickelte Konzepte wie „Jugend“ oder „Adoleszenz“ auch schon für das 19. Jahrhundert als gültig vorauszusetzen. Somit boten sich das Säuglingsalter (0 bis unter 1 Jahre), das (Klein-)Kindesalter (über 1 bis unter 14 Jahre), das jüngere, mittlere und ältere Erwachsenenalter (über 14 bis unter 25; unter 25 bis über 45; über 45 bis unter 65 Jahre) und das „Greisenalter“ (über 65 Jahre) für die Strukturierung der in dieser Arbeit untersuchten Personengruppen an. Um Kontinuitäten und Brüche beim männlichen Patientenverhalten sichtbar zu machen, wurde für diese Arbeit ein Vergleich zwischen zwei Jahrzehnten gewählt. Die Jahre zwischen 1860 und 1869 dokumentieren die Phase der Konsolidierung der Praxis, jene zwischen 1890 und 1899 stehen für das letzte Jahrzehnt der ärztlichen Tätigkeit, als die Zahlen der Patientinnen und Patienten rückläufig waren. Insgesamt wurden für diese Studie alle 83 Hefte aus den einzelnen Jahren der beiden Zeiträume 1860 bis 1869 und 1890 bis 1899 ausgewertet. In diesen Heften hatte Franz v. Ottenthal knapp 30.000 Laufnummern vergeben.930 Der Osttiroler Maler Franz v. Defregger (1835–1921) fertigte um 1880 ein Ölgemälde an, auf dem er die Sprechstundenpraxis eines Arztes zu dieser Zeit in einer Momentaufnahme bildlich festgehalten hat (vgl. Abb. 4.1). Männer und Frauen unterschiedlichsten Alters sitzen auf Holzbänken oder lehnen geduldig an der Wand im Wartezimmer. Einige von diesen Patientinnen und Patienten erscheinen von ihren Beschwerden deutlich gezeichnet. Hinter einem von zwei Frauen leicht gehobenem Vorhang nimmt sich der Doktor gerade eines Säuglings an, der auf dem Schoß der Mutter ängstlich der nahenden Untersuchung entgegen blickt. Richtet man den Blick allein auf die abgebildeten Männer als Patienten dieses Arztes, so sind auf dem Gemälde bis auf die Gruppe der männlichen Kinder und Jugendlichen alle Altersstufen abgebildet. Lediglich bei dem Säugling ist nicht erkennbar, ob er weiblichen oder männlichen Geschlechts ist. Inwiefern ist dieses interessante Bilddokument als identisches Abbild der Geschlechter- und Alterszusammensetzung einer durchschnittlichen Landarztpraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu lesen? Nahmen männliche Jugendliche ärztliche Hilfe tatsächlich so selten in Anspruch, wie Defreggers Bild suggeriert? Die in dieser Studie ermittelten Daten zur geschlechter- und altersspezifischen Nutzung der Arztpraxis Franz v. Ottenthals konnten darüber Aufschluss geben. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse auf diese Fragestellung hin nochmals zusammengefasst. 1) In einem einführenden Kapitel wurde zunächst der geografische, politische und sozioökonomische Raum des Tauferer Ahrntals als dem eigentlichen Einzugsgebiet des Arztes Franz v. Ottenthal näher beleuchtet. Dieser 930 Der Bestand an Krankenjournalen aus der Zeit in Sand umfasst 230 Hefte.
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Abb. 4.1: Franz Defregger (1835–1921): „Beim Arzt“, Öl auf Leinwand, um 1880; Besitzer unbekannt Quelle: Entnommen aus: Defregger, Hans Peter, Defregger. 1835–1921, Rosenheim 1983, 118
Bezirk war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wenig industrialisiert, das Kupferbergwerk im hinteren Ahrntal als der einzige Industriebetrieb im Tal befand sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits in der Krise und wurde kurz vor der Jahrhundertwende endgültig geschlossen. Die Bevölkerung des Tales lebte weitgehend von der Forst- und Landwirtschaft, wobei Vieh und Molkereiprodukte ebenso wie Holz die grundlegenden Exportgüter dieser Region waren. Der Bezirk muss daher als agrarisch geprägter Raum bezeichnet werden. Ein Blick auf die Veränderung der medizinischen Infrastruktur zeigte, dass neben Ottenthal ein weiterer akademischer Arzt und ein Wundarzt im Tal tätig waren. Im Zuge der Konstituierung von Sanitätssprengeln ab den 1880er Jahren wurde allerdings versucht, diese Wundarztstelle im hinteren Ahrntal mit einem Doktor der Allgemeinmedizin zu besetzen. Aufgrund der abgelegenen Lage und des allgemeinen Ärztemangels in ländlichen Gebieten blieb diese Stelle jedoch oftmals über längere Zeit vakant, sodass Franz v. Ottenthal zumindest provisorisch neben dem Gemeindearzt der einzige akademische Arzt für die rund 9.000 Personen umfassende Talbevölkerung war. Ein umfangreicher Abschnitt des zweiten Kapitels widmete sich der vergleichenden Analyse des Todesursachenspektrums, das in den 1860er und 1890er Jahren im Tauferer Ahrntal vorherrschte. Gefragt wurde nach den Haupttodesursachen für beide Geschlechter und für die einzelnen Altersstufen, um die spezifischen Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen herausarbeiten zu können. Angenommen wurde, dass die unterschiedlichen sozio-
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ökonomischen Lebens- und Arbeitsverhältnisse für Männer und Frauen in diesem Tal bei beiden Geschlechtern auch zu verschieden hohen Risiken führten, von bestimmten Krankheiten befallen zu werden. Dieser Überlegung liegt dabei der augenblicklich in allen Industrieländern feststellbare Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Lebenserwartung von fünf bis acht Jahren zugrunde. Dieses unter dem Schlagwort „gender gap“ bekannt gewordene Phänomen gehört laut Andreas Weigl „zum nahezu selbstverständlichen ‚Inventar‘ moderner Industriegesellschaften“931. Wie die Wortwahl dieses historischen Demografen nahelegt, ist die Übersterblichkeit von Männern in nahezu allen Lebensphasen ein historisch recht junges Phänomen, das in engem Zusammenhang mit den durch Industrialisierung, Urbanisierung und Arbeitsmigration ausgelösten Transformationsprozessen zu sehen ist. Eine Analyse des Todesursachenspektrums im Tauferer Ahrntal für den Zeitraum zwischen ca. 1860 und 1900 schien daher einen sinnvollen strukturellen Rahmen zu geben, um vor dem Hintergrund physisch erfahrener Krankheiten konkreten medikalen Praktiken und krankheitsbezogenem Handeln von Männern nachzugehen. Auf Grundlage der Sterbebücher der einzelnen Gemeinden des Bezirks Taufers wurden daher anhand der Parameter Lebenserwartung, Mortalität und Todesursachen geschlechts- und altersspezifische Anfälligkeiten für die während des Untersuchungszeitraums wichtigsten Gesundheitsgefährdungen herausgearbeitet. Allerdings lagen für den Bezirk Taufers selbst keine statistischen Angaben zur Entwicklung der geschlechtsspezifischen Lebenserwartung im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor. Verfügbare Daten auf der gesamttiroler Ebene zeigten jedoch, dass etwa in der Periode zwischen 1830 und 1847 Tiroler (und Vorarlberger) Frauen mit einer Lebenserwartung bei der Geburt von 35,3 Jahren rechnen konnten, ihre männlichen Kollegen mit 32,2 Jahren. Der gender gap war in Tirol um die Mitte des 19. Jahrhunderts folglich deutlich ausgeprägt. Das Mortalitätsgeschehen selbst zeigte im Bezirk Taufers einen im Vergleich zum überregionalen Ländertrend divergierenden Verlauf. Während die Sterberaten in Tirol im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stetig zu sinken begannen und somit dem allgemeinen Trend in der Monarchie folgten, schlug der Verlauf der Sterblichkeitsentwicklung im Bezirk Taufers eine weniger günstige Richtung ein. Dort stiegen nämlich die Sterberaten bis zur Jahrhundertwende entgegen dem generellen Muster an, erreichten um 1890 sogar ihren einmaligen Höhepunkt in jenem Jahrhundert und begannen erst mit einer zeitlichen Verzögerung zu den Raten in Tirol und der Monarchie zu sinken. Als eine mögliche Ursache für dieses untypische Verlaufsmuster der Sterblichkeit wurden die im Bezirk kurz vor der Wende ins 20. Jahrhundert ungewöhnlich stark angestiegenen Geburtenraten ausgemacht. Die in dieser Periode zwar nicht mehr exorbitante, aber dennoch hohe Sterblichkeit unter den Säuglingen beeinflusste die allgemeine Sterberate aufgrund der höheren Zahl 931 Weigl, „gender gap“, 23.
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von „sterbeanfälligeren“ Unter-Einjährigen, zumal sich durch massive Abwanderungsbewegungen der jüngeren Erwachsenen aus den einzelnen Gemeinden des Tals die dortige Bevölkerungsstruktur ungünstig entwickelt hatte. Denn gerade bei den jüngsten und höchsten Altersgruppen lagen die altersspezifischen Sterberaten überdurchschnittlich hoch. Die für die Monarchie, Tirol/Vorarlberg und den Bezirk Bruneck erstellte Statistik zur langfristigen Veränderung des Todesursachenspektrums erbrachte für den Zeitraum von 1873 bis 1910 signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede bei einzelnen Todesursachen. So war bei den Frauen der Anteil der Tuberkulosesterbefälle an den Gesamtsterbefällen in diesem Zeitraum angestiegen, wohingegen die Männer einen Rückgang verbuchen konnten. Noch augenscheinlicher gestalteten sich die Sterblichkeitsdifferentiale bei der Todesursache „Lungenentzündung“. Während bei den Männern im gesamten Bezirk Bruneck der Anteil der diesbezüglichen Sterbefälle ebenfalls rückläufig war, mussten die Frauen nicht nur einen Anstieg hinnehmen. Die Werte fielen sogar noch höher aus als bei der Tuberkulosesterblichkeit. Diese ungleiche Entwicklung der Mortalität hinsichtlich ausgewählter Erkrankungen der Atemwege wurde als ein deutlicher Hinweis gewertet, dass die Agrarrevolution des 19. Jahrhunderts aufgrund der gestiegenen Arbeitsbelastungen in der bäuerlichen Wirtschaftsweise für Frauen in diesem Bezirk ungleich negativere Folgen für die gesundheitliche Konstitution hatte als für den männlichen Teil der Bevölkerung. Ausgehend von diesen Befunden zur geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägten Sterblichkeit bei ausgewählten Krankheiten wurde in den folgenden Abschnitten versucht, die Strategien zur Bewältigung von Erkrankungen am Beispiel des Inanspruchnahmeverhaltens medizinischer Angebote eines privaten Allgemeinmediziners zu untersuchen. Mit diesem Ansatz rückten auch jene spezifischen Bedürfnisse von Männern und Frauen in den einzelnen Altersgruppen in den Fokus der Betrachtung, die diese von den zur Verfügung stehenden ärztlichen Therapien befriedigt wissen wollten. 2) Für einen reibungslosen Start ins Leben sind männliche Säuglinge ungleich schlechter ausgerüstet als ihre weiblichen Altersgenossen, denn in nahezu allen Ländern und in allen verfügbaren historischen Datenreihen liegt die Säuglingssterblichkeit von Knaben über jener von Mädchen. Diese Übersterblichkeit konnte auf Grundlage der Sterbebücher der einzelnen Gemeinden des Bezirks Taufers sowohl für die 1860er als auch für die 1890er Jahre bestätigt werden. Analog zur höheren Sterblichkeit der männlichen Unter-Einjährigen waren in beiden Jahrzehnten deutlich mehr neugeborene Knaben als Mädchen in der Praxis Ottenthals anzutreffen. Auch wenn stets mehr männliche als weibliche Säuglinge geboren werden, erschien der ermittelte geschlechtsspezifische Unterschied zu hoch, um sozioökonomische und kulturelle Faktoren als Ursache dieser unterschiedlichen Inanspruchnahme gänzlich auszuschließen. Der endgültige Nachweis, dass Eltern im Tauferer Ahrntal des 19. Jahrhunderts ihren männlichen Nachwuchs bewusst bevorzugt hätten, indem sie diesen etwa im Erkrankungsfalle schneller und häufiger zum Arzt brachten, war allein auf Grundlage der Historiae Morborum allerdings nicht zu erbringen.
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Widerlegt werden konnte indessen die in der medizinhistorischen Forschung lange Zeit verbreitete Einschätzung, Eltern hätten angesichts der hohen Säuglingssterblichkeit die Inanspruchnahme eines Arztes für ihren Nachwuchs als wenig nützlich erachtet. Denn eine Auswertung des Konsultationszeitpunktes nach einzelnen Lebensvierteln des Säuglingsalters erbrachte etwa das Ergebnis, dass in beiden untersuchten Jahrzehnten zwischen 30 und 40 Prozent aller getätigten Konsultationen auf Säuglinge entfielen, die zum Zeitpunkt der Konsultation nicht älter als drei Monate waren. Hingegen nahm der Anteil von älteren Säuglingen (zehnter bis zwölfter Lebensmonat) durchschnittlich nur 13 bis 15 Prozent ein. Es waren folglich hauptsächlich die Allerjüngsten der Unter-Einjährigen, für die die Eltern eine ärztliche Intervention als hilfreich erachteten. Da in den ersten Lebensmonaten aber die Säuglingssterblichkeit am höchsten war, spricht dieser Befund für den Glauben der Eltern, den Krankheitsverlauf ihrer kranken „Sorgenkinder“ mit einer ärztlichen Behandlung positiv beeinflussen zu können. Andererseits zählten Säuglinge insgesamt betrachtet und gemessen an ihrer tatsächlichen Position in der damaligen Bevölkerungspyramide mit einem Anteil von lediglich vier bis sechs Prozent an der Patientenschaft Franz v. Ottenthals in beiden Jahrzehnten nicht zur „bevorzugten“ ärztlichen Klientel, was auch für andere Praxen dieses Zeitraums belegt ist. Viele Krankengeschichten zeigten dennoch, dass Eltern bei einigen alterstypischen Beschwerden und Leiden (etwa bei „Fraisen“) einem akademischen Arzt sehr viel Vertrauen entgegenbrachten und mitunter sehr weite Wege in Kauf nahmen, um Medikamente für ihre erkrankten Kinder verschrieben zu bekommen. Eine Auswertung der geschlechtsspezifischen Beschwerdeanlässe, die Eltern mit deren Sprösslingen zum Aufsuchen der ärztlichen Praxis veranlasst hatten, ergab für einzelne Krankheitsbilder einmal höhere Anteile bei männlichen Säuglingen, bei anderen Symptomatiken (etwa Hautkrankheiten in den 1860er Jahren) wiederum wurden die Mädchen häufiger zum Arzt gebracht. Generell wurden die Konsultationsgründe in dieser allerjüngsten Altersgruppe aber von Störungen des Verdauungssystems dominiert, und zwar bei Mädchen und Knaben gleichermaßen. Als wichtigste Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der von Ottenthal durchgeführten Behandlungen wurden die bei weiblichen Säuglingen in den 1860er Jahren auffallend hohen Anteile von Rachitis ermittelt. Bei Knaben erreichten Einträge betreffend die Geschlechtsorgane prozentual überaus hohe Werte. Diese waren in erster Linie durch Eingriffe aufgrund einer „hydrocele“, einer Wasseransammlung im Hodensack, bedingt, hatten ihre Ursachen demnach eindeutig in biologischen Prädispositionen. Hingegen verweist die bei Mädchen ungleich häufiger gestellte Diagnose „Rachitis“ auf eine mögliche Unterversorgung, da diese Erkrankung eine direkte Folge von Vitamin- und Lichtmangel ist. Der Versuch, mögliche Ungleichbehandlungen von weiblichen und Bevorzugungen von männlichen Säuglingen aus den ärztlichen Notizen direkt nachzuweisen, gestaltete sich allerdings als methodisch schwieriges Unterfangen. Eine geschlechtervergleichende Analyse, die etwa Ottenthals Anmerkungen zum Stillverhalten, Abstillen und zum Übergang auf künstliche Ernährung in den Mittelpunkt der
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Betrachtung rückte, erbrachte aufgrund der nicht bei allen Säuglingen in gleicher Belegdichte vorhandenen Informationen zu diesem klassischen Forschungsfeld der Historischen Demografie keine eindeutigen Ergebnisse. 3) Der Anteil von rund 12–13 Prozent Kindern (1.–14. Lebensjahr) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals zwischen 1860 und 1869 zeigte, dass diese Patientengruppe keinesfalls erst im Zuge einer Institutionalisierung der Pädiatrie als neues medizinisches Spezialgebiet von Ärzten als Klienten „entdeckt“ wurde. Im Vergleichsjahrzehnt 1890 bis 1899 war deren Anteil sogar noch weiter angestiegen, vermutlich aufgrund der veränderten Alterszusammensetzung bei der Bevölkerung (höhere Geburtenraten als in den 1860er Jahren). Eltern überließen ihre Kinder im Erkrankungsfall demnach weder fatalistisch dem Willen Gottes noch suchten sie ausnahmslos Hilfe bei Laienheilerinnen und Laienheilern. Entgegen den zeitgenössischen Klagen der Ärzte über eine mangelnde Inanspruchnahme medizinischer Hilfe bei (Klein-) Kindern aus einer angeblichen Sorglosigkeit heraus bestand sehr wohl eine Nachfrage nach der Behandlung erkrankter Minderjähriger durch akademische Ärzte, wie die entsprechenden Fallgeschichten in den Historiae Morborum deutlich belegen. Hinsichtlich einer geschlechtsspezifischen Inanspruchnahme der Dienste Ottenthals für männliche und weibliche Kinder zeigten die ermittelten Ergebnisse für Kleinkinder, dass männliche Ein- bis Vierjährige in beiden Jahrzehnten tendenziell öfter vom Arzt behandelt wurden als ihre weiblichen Altersgenossen. Allerdings konnten Epidemiejahre diese Tendenz zu einem männlichen Überhang stark beeinflussen und zu einem Wechsel des Geschlechterverhältnisses führen, wie dies beispielsweise im Zuge einer Pockenepidemie 1866/67 der Fall war. Bei den älteren Kindern zwischen vier und 14 Jahren konnte allerdings sowohl in den 1860er als auch in den 1890er Jahren ein deutlicher weiblicher Überhang ermittelt werden. Für dieses Ungleichgewicht war die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den meisten Ländern Europas vorherrschende Übersterblichkeit von Mädchen verantwortlich, was darauf schließen lässt, dass das weibliche Geschlecht bei bestimmten Krankheiten (etwa Tuberkulose) weitaus weniger präventiv wirkende Gesundheitsressourcen mobilisieren konnte als das männliche. Vor dem Hintergrund einer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung in ländlichen Gesellschaften wird der Befund der höheren Zahl von älteren Mädchen in der Praxis vielleicht erklärbar. Der Radius von Mädchen war durch die Heranziehung zu Hausarbeiten mehr auf das Innere eines Hauses begrenzt, und auch die Pflege kranker jüngerer Geschwister setzte Mädchen einem höheren Ansteckungsrisiko aus als Knaben. Diese wiesen aufgrund des ihnen zugesprochenen größeren Freiraums außerhalb des Hauses mehr verletzungsbedingte Behandlungen auf, die allerdings auch eine direkte Folge der ihnen zugewiesenen Arbeitsbereiche waren, etwa als Hüterbuben auf den Almen. Entsprechend der im 19. Jahrhundert das Sterblichkeitsgeschehen dominierenden Infektionskrankheiten betraf die Nachfrage nach therapeutischer Behandlung klassischer Kinderkrankheiten (Pocken, Masern, Scharlach) einen großen Teil der Konsultationsanlässe des Kindesalters. Allerdings war
342
4 Jungen und Männer als Patienten? Ein Resümee
gerade bei diesen Erkrankungen zwischen den 1860er und den 1890er Jahren der größte Rückgang innerhalb des ärztlichen Aufgabenprofils erkennbar, was in erster Linie durch das Ausbleiben schwerer Seuchenzüge der Pocken im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende bedingt war. In den 1890er Jahren sorgten vielmehr überaus letal verlaufende Diphtherieepidemien für einen vermehrten Zulauf von Kindern in der Praxis Ottenthals. Erkrankungen der Atemwege und der Verdauungsorgane dominierten auch bei dieser Altersgruppe das Behandlungsspektrum des Arztes, wobei das massive Auftreten von Magenkrankheiten bei männlichen Kleinkindern in den 1860er Jahren besonders auffallend war und zu einer unterschiedlich starken geschlechtsspezifischen Nachfrage nach dementsprechenden kurativen Maßnahmen geführt hatte. Die aus den Diagnosespektren der beiden Jahrzehnte ablesbare Tendenz zu erhöhten Werten bei Atemwegserkrankungen bei Mädchen sowie die höhere Behandlungsdichte bei Unfällen und Verletzungen von Knaben verweist auf unterschiedliche Risikofaktoren für männliche und weibliche Kinder im ländlichen Raum. In der geschlechtsspezifisch streng arbeitsteiligen bäuerlichen Gesellschaft liegt daher wohl eine der Hauptursachen für die ungleiche Inanspruchnahme Franz v. Ottenthals durch Knaben und Mädchen. 4) Erwachsene Personen stellten unbestreitbar den Hauptkundenstock in der Praxis Ottenthals dar, denn zwischen 1860 und 1869 stellten die 14 bis 65-Jährigen rund drei Viertel seiner gesamten Patientenschaft. Auch wenn im Vergleichsjahrzehnt der 1890er Jahre der Anteil dieser Gruppe auf rund 65 Prozent sank, überwogen die älteren Patienten sämtliche weiteren Altersgruppen immer noch deutlich. Eine nach den Geschlechtern differenzierte Abfrage zur Inanspruchnahme Ottenthals in den einzelnen Lebensphasen des Erwachsenenalters (jüngere E.: über 14 bis unter 25; mittlere E.: unter 25 bis über 45; ältere E.: über 45 bis unter 65 Jahre) ergab, dass Frauen in jedem dieser Abschnitte häufiger beim Arzt vorstellig wurden als Männer. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede waren dabei im mittleren Erwachsenenalter am deutlichsten ausgeprägt, während sich die Werte in den beiden anderen Altersstufen einander annäherten. Eine genauere Analyse der altersspezifischen Inanspruchnahme innerhalb der Genusgruppe der Männer zwischen 14 und 65 Jahren führte zu dem Ergebnis, dass nicht die ältesten Männer den größten Anteil an den männlichen Patienten im Erwachsenenalter stellten, sondern die 25 bis 45-Jährigen. Die jüngsten Personen zwischen 14 und 25 waren hingegen am seltensten in der Arztpraxis anzutreffen. Ältere Männer stuften den Heilungserfolg bei chronischen Erkrankungen und altersspezifischen Abbaukrankheiten, die mit zunehmendem Alter vermehrt auftraten, wohl als gering ein. Ein Arztbesuch wurde somit als wenig nutzbringend angesehen, wohingegen Männer im mittleren Erwachsenenalter sehr wohl Ressourcen für die Behandlung ihrer Erkrankungen mobilisierten und bereit waren, für entsprechende Medikamente im Glauben an deren Wirksamkeit zu bezahlen. Darauf deutet auch der in Relation zu den gesamten Konsultationsgründen sehr hohe Prozentwert bei der Forderung nach einem bestimmten Mittel, meistens ein stark wirkendes Laxans, hin.
4 Jungen und Männer als Patienten? Ein Resümee
343
Die Nachfrage der Männer im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter nach einer ärztlichen Behandlung wurde dabei hauptsächlich durch die Beschwerdekomplexe der Atemwege und des Magen-Darmtrakts bestimmt. Mit einem Anteil von jeweils rund 40 Prozent an sämtlichen diese beiden Altersgruppen betreffenden Konsultationen kann Franz v. Ottenthal als Arzt des „Hustens“ und des „Durchfalls“ bezeichnet werden. Überraschenderweise ergab die quantitative Auswertung der Konsultationsgründe nur eine geringe Nachfrage der männlichen Bevölkerung nach einer therapeutischen Behandlung von Tuberkulose, was angesichts der im späten Jahrhundert überaus hohen Sterblichkeit an dieser Erkrankung unter den Erwachsenen erstaunte. Allerdings zeigten sich gerade bei diesem Krankheitsbild die methodischen Schwierigkeiten, die von den Patienten und Patientinnen mitgeteilten und von Ottenthal notierten Symptome und Beschwerden zu systematisieren und in eine schematische Darstellung des ärztlichen Aufgabenprofils zu bringen. Franz v. Ottenthal notierte vielfach die einzelnen Symptome oder längere Symptomketten, ohne diese in einer abschließenden Reflexion über die Erkrankung in eine Krankheitsentität zu fassen oder eine eindeutige Diagnose zu geben. Viele Erkrankungen an Tuberkulose dürften sich daher in der Rubrik „Atemwege“ oder „Sonstige“ verbergen, in die etwa die nicht näher bezeichneten Symptome wie „starker Husten“ letztlich eingetragen wurden. In der Phase des Heranwachsens zu einem jungen Erwachsenen sind Jugendliche nicht nur mit den biologischen Reifungsprozessen des Körpers beschäftigt, sie müssen auch gesellschaftlich vorgegebene Geschlechterrollen einüben, um den vollen Erwachsenenstatus annehmen zu können. Der Gleichaltrigengruppe kommt bei der Einübung dieser allgemein akzeptierten Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen insofern eine große Bedeutung zu, als etwa durch von Jungen häufig an den Tag gelegte riskante Verhaltensweisen im kollektiven Rahmen der peer group bestimmte Männerbilder nachgeahmt und reproduziert werden. Auch wenn die Gültigkeit eines Konzeptes, das als „Jugend“ bezeichnet wird und durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe mit spezifischen kulturellen Attributen gekennzeichnet ist, für historische Gesellschaften nicht vorausgesetzt werden kann, wurden diese Thesen für eine Auswertung derjenigen Krankengeschichten in den Historiae Morborum, die jüngere Erwachsene zwischen 14 und 25 Jahren betrafen, adaptiert. Die Frage, inwiefern sich bei den Jungen ein doing gender als Riskieren des Körpers oder mittels körperbezogener Praktiken in den ärztlichen Journalen niederschlug, wurde am Beispiel von altersspezifischen Erfahrungen mit Sexualität und Körperlichkeit zu beantworten versucht. Der Befund, dass etwa Onanie von den männlichen Patienten in dieser Altersgruppe nur überaus selten thematisiert oder vom Arzt als Erklärung für bestimmte Krankheitssymptome herangezogen wurde, erstaunte. Schließlich gilt der Onaniediskurs für das 18. und 19. Jahrhundert als dermaßen wirkmächtig, dass er vielen jungen Männern das Entdecken des eigenen Körpers verbot und diesbezügliche Körpererfahrungen von Jugendlichen überaus negativ besetzte. Die geringe Problematisierung der „krankmachenden Onanie“ in der Praxis Ottenthals legt die
344
4 Jungen und Männer als Patienten? Ein Resümee
These nahe, dass sich das „onanistische Subjekt“932 im ländlichen Raum weniger pathologisch denn moralisch definierte und diese Aktivitäten eher einem Pfarrer als einem Arzt gebeichtet wurden. 5) Der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtzahl von Ottenthals Patientinnen und Patienten erfuhr während der beiden Vergleichsjahrzehnte einen leichten Anstieg. Befanden sich im Jahrzehnt zwischen 1860 und 1869 rund acht Prozent aller behandelten Männer und Frauen bereits jenseits des 65. Lebensjahres, so betrug deren Anteil im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende rund vierzehn Prozent. Die erste Vermutung, die Zunahme älterer Personen in der Praxis wäre auf die allmählich gestiegene Lebenserwartung der Talbevölkerung zurückzuführen, konnte bei einer genauen Betrachtung der langfristigen Entwicklung der ferneren Lebenserwartung in den höheren Altergruppen nicht bestätigt werden. Diesbezügliche Daten aus der historischen Demografie zeigten, dass eine nennenswerte Erhöhung der Lebenserwartung für Menschen ab 60 erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts eintrat. Die Zugewinne an weiteren Lebensjahren für die hier untersuchte Periode fielen bei der Gruppe der ältesten Patientinnen und Patienten Ottenthals hingegen bescheiden aus. Plausibler erscheint eine durch Abwanderung bedingte Verschiebung der Altersstruktur der ansässigen Bevölkerung hin zu einer „Vergreisung“ der meisten Dörfer im Tal, was auch die Praxis dieses Landarztes „altern“ ließ. Diese unter den Schlagworten der „Land- und Höhenflucht“ diskutierte Entwicklung erfasste im ausgehenden 19. Jahrhundert neben dem Bezirk Taufers viele weitere Gebiete im ländlichen Tiroler Raum. Bemerkenswert ist der Befund, dass sich der in den 1860er Jahren die Praxis dominierende männliche Überhang in der Altersgruppe der über 65-jährigen Patienten und Patientinnen bis zu den 1890er Jahren in eine deutliche Überrepräsentation älterer Frauen gewandelt hatte. Diese – bezogen auf betagte Kranke – „Feminisierung der Praxis“ dürfte eine Folge des sich im späten 19. Jahrhunderts immer stärker ausbildenden gender gaps in der Lebenserwartung sein. Vermutlich führte das Auseinanderdriften der Lebenserwartung zugunsten der Frauen in der Praxis Ottenthals zu einem deutlich höheren Anteil weiblicher Patienten in den höheren Altersgruppen, allerdings ist diese These nur mit einer historisch-demografischen Studie zur Bevölkerung des Tauferer Ahrntales zu beweisen. Für eine generelle „Medikalisierung des (weiblichen) Alters“ oder einer Spezialisierung des Arztes auf die besonderen Bedürfnisse dieser Klientinnengruppe konnten keine Hinweise gefunden werden. Ebensowenig plausibel erscheint es, dass ältere Männer aufgrund eines zunehmend „virilen“ und „härter“ werdenden Männlichkeitsbildes („soldatische Männlichkeit“) einen Arztbesuch nunmehr als schmachvoller empfunden hätten als drei Jahrzehnte zuvor. Bei beiden Geschlechtern waren Atemwegserkrankungen und Beschwerden rund um das Verdauungssystem die häufigsten Beweggründe, den Arzt in Sand aufzusuchen. Die geringen Anteile an Konsultationen aufgrund degene932 Eder, Kultur, 103.
4 Jungen und Männer als Patienten? Ein Resümee
345
rativer Alterskrankheiten wie Krebs oder aufgrund damals v. a. die älteren Bevölkerungsgruppen bedrohenden Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Lungenentzündung sind durch mangelnde diagnostische Möglichkeiten dieser Zeit zu erklären sowie durch die spezifische Journalführung Ottenthals, der oftmals nur Symptomketten ohne abschließende Diagnose notierte. Wie bei der Gruppe der Erwachsenen erschwerte dies in vielen Fällen eine Unterscheidung der Tuberkulosefälle von sonstigen Lungeninfekten und eine entsprechende Zuordnung in das systematisierte Diagnosespektrum. Hinsichtlich des geschlechtsspezifischen Krankheitsverhaltens ist für die Altersgruppe der betagten und hochbetagten Frauen deren ungleich höhere Nachfrage nach Behandlungen signifikant, die auf Abnützungserscheinungen des Muskel- und Skelettapparates verweisen. Hier scheinen die harten Arbeitsprozesse einer ländlichen Ökonomie der weiblichen Talbevölkerung im Alter mehr Beschwerden bereitet zu haben als der männlichen. Bei älteren Männern erwies sich die sehr hohe Anzahl an Beschwerden im Bereich der Harnorgane als Bereich, der in einer Detailstudie näher beleuchtet werden könnte. Der nachweislich hohe Bedarf älterer Männer an ärztlichen Therapien und Eingriffen zur Linderung von Beschwerden, die durch krankhafte Veränderungen der Prostata ausgelöst wurden, eröffnet in der Tat ein weites Forschungsfeld. Neben der Frage nach den Möglichkeiten eines Landarztes, im 19. Jahrhundert den verschiedenen Ursachen eines Prostataleidens therapeutisch überhaupt begegnen zu können, wäre auch der Umgang von Männern mit diesem ausgesprochenen Männerleiden eine historische Betrachtung wert. Ein derartiger Fokus auf die Historiae Morborum würde weiter führende Einblicke in die Wahrnehmung von (älteren) Männern ihrem kranken Körper gegenüber ermöglichen. Jungen und Männer als Patienten? Die Studie zum unterschiedlichen Inanspruchnahmeverhalten einer Südtiroler Landarztpraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Männer (und Frauen) konnte jenen von Martin Dinges durch den Vergleich mehrerer Arztpraxen herausgearbeiteten Trend am regionalen Beispiel bestätigen, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bevölkerten mehrheitlich Frauen die Wartezimmer von Ärzten. Durch die Fokussierung auf die einzelnen Altersgruppen konnte dieser Befund allerdings dahingehend differenziert werden, dass im Säuglings- und frühen Kleinkindalter männliche Patienten bei weitem überwogen. Erst im späteren Kleinkindalter begann sich das Geschlechterverhältnis umzudrehen, und von nun hatten bis ins „Greisenalter“ hinein Frauen die größeren Anteile an der Patientenschaft und an den Konsultationen zu verzeichnen als Männer. Bei den über 65-jährigen Männern und Frauen herrschte in den 1860er Jahren einmal ein männlicher, dann wieder ein weiblicher Überhang, der in den 1890er Jahren jedoch verschwunden ist. Die demografischen Voraussetzungen hatten sich durch die zunehmend gestiegene weibliche Lebenserwartung während dieser wenigen Jahrzehnte dermaßen verändert, dass in den letzten Jahren der Praxis Franz v. Ottenthals die Frauen das Bild seiner älteren Patientenschaft prägten. Im Hinblick auf das männliche Krankheitsverhalten konnte anhand unzähliger Krankengeschichten deutlich gemacht werden, dass Männer weder einen
346
4 Jungen und Männer als Patienten? Ein Resümee
sorgloseren Umgang mit ihrem Körper hatten als Frauen noch mit einem Fernbleiben aus der Arztpraxis auf Gesundheitsgefährdungen reagierten. Wenn etwa der 41-jährige Martin Innerhofer* im August 1866 Franz v. Ottenthal gegenüber über Appetitlosigkeit und Völlegefühl klagte und die Vermutung äußerte, dass sich aufgrund eines Pferdetritts die Milz verhärtet hätte, so mag der Arzt diese Beschwerden als Simulation des Mannes abgetan haben, um der Landsturmpflicht zu entgehen.933 Aus der Perspektive des „Patienten“ spricht dieses Verhalten aber gerade für eine große Sorge und Verantwortung um den eigenen Körper. Und auch die Inanspruchnahme Ottenthals durch den 70-jährigen Johann Oberkofler* aus St. Johann im Oktober 1890 zehn Tage nach dem Auftauchen der ersten Magenbeschwerden mag nach heutigem Verständnis etwas spät erscheinen.934 Diese Krankengeschichte macht aber deutlich, dass der Mann letztlich doch die Hilfe des Arztes als notwendig erachtete, nachdem sich nach einer Zeit des Zuwartens die Symptome nicht gebessert hatten. Zudem ist nicht auszuschließen, dass der Kranke vorher nicht zu Formen der Selbsthilfe gegriffen hatte, sei es durch bewährte Hausmittel oder durch das Hinzuziehen von Personen aus dem medikalen Laiensystem. Diese Formen der Krankheitsbewältigung vor der Inanspruchnahme des Arztes fanden nur selten Eingang in die Krankenjournale. Am Beispiel der Verknüpfung von Geschlecht mit der Differenzkategorie „Alter“ wurde allerdings auch deutlich, wie wichtig eine Unterscheidung nach weiteren Kategorien, etwa der sozialen Schicht oder dem Zivilstand, wäre, um das unterschiedliche Inanspruchnahmeverhalten innerhalb der Gruppe der Männer präziser beschreiben und erklären zu könne. Ebenso gewinnbringend wäre eine Untersuchung in Hinblick auf mögliche Unterschiede zwischen Männern unterschiedlicher Altersgruppen in städtischen und ländlichen Regionen bei der Nutzung ärztlicher Angebote. Die Bearbeitung dieser Fragestellungen muss jedoch anderen Studien überlassen werden.
933 [„41 ann. laborat saepe adpetitu dejecto facile oppletur ante [10] ann. ab equo calcitrante ictus est in latus sinistrum ibi lien induratum esse vult die Dreckseele möchte nur gern ein Zeugniß um der Landsturmpflicht zu entgehen“]. HM 938/1866, Eintrag vom 6.8.1866. 934 [„70 ann. dolor ischiad. et cephalea remiserunt ante 10 dies grave onus de alpi portavit ex eo tempore cardialgia vomituritio lingua alba, horripilat“] („70 Jahre Ischiasschmerzen und Kopfweh haben sich vermindert. Vor zehn Tagen hat er eine Last von der Alm getragen, seither Magenschmerzen, Erbrechen, Zunge weißlich, schaudert“). HM 1971/1890, Eintrag vom 3.10.1890.
5 Verzeichnis der Anhänge
Abb. A.1.2a: Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch
348
5 Verzeichnis der Anhänge
Abb. A.1.2b: Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch
5 Verzeichnis der Anhänge
349
Abb. A.1.2c: Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch
Grafik A.2.1b: Geburten- und Sterberate des Bezirkes Bruneck (pro 1.000 Lebende), 1839–1914 Quelle: Schematismen der Diözese Brixen 1839–1914; eigene Berechnungen
350
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.2.1b: Durchschnittliche (rohe) Geburtenrate für die österreichische Monarchie, Tirol und die Bezirkshauptmannschaft Taufers auf 1.000 der Bevölkerung
Jahrzehnt
Monarchie (Zisleithanien)
Tirol (1819–1870 inkl. Vorarlberg)
BH Taufers1
1819–1830
40,22
33,82
k. A.
1831–1840
37,7
31,1
26,3
1841–1850
38,3
31,3
26,5
1851–1860
37,5
29,8
25,9
1861–1870
39,0
29,6
27,3
1871–1880
39,2
29,3
30,1
1881–1890
38,2
29,1
31,9
1891–1900
37,53
28,55
32,2
1901–1910
34,7
30,2
35,5
1911–1913
30,9
31,16
31,6 (1911–1920)
1921–1930
19,94
24,07
34,1
1931–1937
14,0
17,87,8
31,8 (1931–1940)
Quelle: 1: Irschara, Bevölkerungs- und Agrargeographie, Tab. 6, 9 (1831–1940); 2: Daimer, Geburten- und Sterblichkeitsverhältnisse, 27 (1819–1890); 3: Öst. Stat. Handbuch 1912, Tab. 2, 452 (1891–1913); 4: Stat. Handbuch 1954, Tab. V.1, 13 (1921–1937); 5: Mathis, Umwälzung, Tab. 6, 38 (1891–1910); 6: Öst. Stat. Handbuch 1916–17, Tab. C.5, 33 (1911–1913); 7: Stat. Jahrbuch 1938, Tab. 3a, 28 (1921–1930; 1931–36); 8: Mathis, Umwälzung, Tab. 6, 38 (1937); teilweise eigene Berechnungen Tab. A.2.7a: Von je 100.000 Lebenden sind im Jahre 1873 gestorben an
1873
1
2
3
4
5
6
Monarchie (Zisleithanien)
씹
568
749
378
309
29
4165
씸
545
665
319
260
38
3711
Tirol/ Vorarlberg
씹
195
164
279
289
57
2667
씸
179
147
250
241
59
2412
Bezirk Bruneck 씹
159
241
229
270
29
2703
씸
170
269
121
209
55
2406
351
5 Verzeichnis der Anhänge Tab. A.2.7b: Von je 100.000 Lebenden sind im Jahre 1889 gestorben an
1889
1
2
3
4
5
6
Monarchie (Zisleithanien)
씹
358
96
364
295
46
2815
씸
343
89
345
263
56
2584
Tirol/Vorarlberg
씹
123
37
271
303
79
2464
씸
129
31
271
280
74
2272
Bezirk Bruneck 씹
158
29
281
305
100
2513
씸
140
22
230
252
73
2241
Tab. A.2.7c: Von je 100.000 Lebenden sind im Jahre 1910 gestorben an
1910
1
2
3
4
5
6
Monarchie (Zisleithanien)
씹
144
18
292
208
73
2193
씸
135
17
281
187
82
2024
Tirol/Vorarlberg
씹
40
9
256
174
115
2045
씸
52
7
251
150
109
1910
Bezirk Bruneck 씹
22
16
130
244
119
2093
씸
33
17
140
268
100
2009
Quelle: Österreichisches Statistisches Handbuch 1873, 1889, 1910; 1 (Pocken, Scharlach, Masern, Keuchhusten, Diphtherie); 2 (Typhus, Cholera, Ruhr); 3 (Tuberkulose); 4 (Lungenentzündung); 5 (Krebs); 6 (Alle Ursachen). Eigene Berechnungen Tab. A.2.8b: Ausgewählte Todesursachen im Bezirk Bruneck im Wandel, 1873–1889 und 1889–1910
Todesursache
Rückgang 1873–1889 und 1889–1910 bei Männern
Rückgang 1873–1889 und 1889–1910 bei Frauen
1873–1889 prozentual
1889–1910 prozentual
1873–1889 prozentual
1889–1910 prozentual
Pocken, Scharlach, Masern, Keuchhusten, Diphtherie
0,5
32,4
18,2
46,1
Typhus, Cholera, Ruhr
111,6
3,1
149,7
2,2
Tuberkulose
-27,4
35,9
-66,1
38,8
Lungenentzündung
-18,4
14,5
-26,1
-6,9
Krebs
-37,4
-4,5
-10,9
-11,6
Alle Ursachen
100
100
100
100
Quelle: Österreichisches Statistisches Handbuch 1873, 1889, 1910; eigene Berechnungen
352
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.1.2b: Veränderung des Todesursachenspektrums bei Säuglingen: 1860–1869 und 1890–1899
Todesursachen
An einer Todesursache verstarben Knaben (Zahlen absolut) 1860–1869
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä.
1890–1899
An einer Todesursache verstarben Mädchen (Zahlen absolut) 1860–1869
1890–1899
5 25 126 0 20 17 1 0 0 0
7 6 84 1 61 98 5 0 0 2
3 31 77 1 14 13 0 0 0 5
2 6 68 2 41 69 2 0 0 0
79 6
120 8
49 12
84 8
0
0
0
0
Total
279
392
205
282
Total mit Totgeburten
284
415
208
294
Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen
353
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.1.4b: Veränderung der Konsultationsgründe bei Säuglingen, Praxisjournale 1860– 1869 und 1890–1899
Konsultationsgrund
bei Knaben (Zahlen absolut) 1860–1869
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total
1890–1899
bei Mädchen (Zahlen absolut) 1860–1869
1890–1899
57 11 26 1 45 160 8 23 0 24
7 11 32 0 120 262 14 37 1 54
54 6 13 0 32 110 1 5 1 20
6 8 21 1 78 222 3 1 0 37
1 44
5 48
2
6
0
4
37 1
43 3
400
595
282
429
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen
354
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.2.2b: Veränderung des Todesursachenspektrums bei (Klein-)Kindern (1–14 J.): 1860– 1869 und 1890–1899
Todesursachen
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total
An einer Todesursache verstarben Knaben (Zahlen absolut)
An einer Todesursache verstarben Mädchen (Zahlen absolut)
1860–1869
1890–1899
1860–1869
1890–1899
5 116 25 0 12 52 0 0 0 1
4 7 12 2 45 120 1 0 1 0
8 114 19 0 27 40 0 0 0 1
9 17 23 4 38 98 3 0 0 3
16 9
12 4
9 9
6 2
0
0
0
0
236
208
227
203
Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen
355
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.2.3b: Veränderung der Konsultationsgründe bei (Klein-)Kindern, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899
Konsultationsgrund
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total
bei Knaben (Zahlen absolut)
bei Mädchen (Zahlen absolut)
1860–1869
1890–1899
1860–1869
1890–1899
42 111 37 7 116 248 20 19 31 41
30 40 80 7 188 332 23 4 42 62
64 104 61 4 127 232 10 7 30 66
64 37 61 7 231 346 14 3 62 107
33 100
36 119
23 141
22 118
3
10
0
9
803
973
869
1081
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen
356
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.3.3a: Konsultationsgründe bei männlichen Erwachsenen, Praxisjournale 1860–1869
Konsultationsgrund
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total
Anteil der Konsultationsgründe innerhalb der Gruppe der erwachsenen Männer in der Altersgruppe von (Zahlen absolut) 14 bis unter 25 Jahren
25 bis unter 45 Jahren
45 bis unter 65 Jahren
22 57 70 10 134 203 13 18 72 43
40 55 167 7 248 474 15 48 250 99
52 15 133 14 217 289 15 26 201 85
41 119
125 231
95 133
22
216
218
824
1975
1493
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869; eigene Berechnungen
357
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.3.3b: Veränderung der Konsultationsgründe bei männlichen Erwachsenen, Praxisjournale 1890–1899
Konsultationsgrund
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total
Anteil der Konsultationsgründe innerhalb der Gruppe der erwachsenen Männer in der Altersgruppe von (Zahlen absolut) 14 bis unter 25 Jahren
25 bis unter 45 Jahren
45 bis unter 65 Jahren
36 11 89 13 139 180 18 12 63 113
28 1 130 18 226 365 8 19 138 144
26 1 177 40 299 360 39 18 166 116
34 74
94 112
72 108
34
85
121
816
1368
1543
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1890–1899; eigene Berechnungen
358
5 Verzeichnis der Anhänge
Grafik A.3.3.4a: Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1860–1869: männliche Erwachsene (14–65 Jahre) Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869; eigene Berechnungen
Grafik A.3.3.4b: Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Verstorbenen in der entsprechenden Altersgruppe 1860–1869 (Frauen = 100) Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869; eigene Berechnungen
359
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.3.5a: Todesursachenspektrum bei männlichen Erwachsenen: 1860–1869 (prozentual)
Todesursachen
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total (Zahlen absolut)
Prozentualer Anteil einer Todesursache innerhalb der Gruppe der erwachsenen Männer in der Altersgruppe von 14 bis unter 25 Jahren
25 bis unter 45 Jahren
8,2 47,6 9,8 1,6 9,8 11,5 0 0 0 0
12,5 26,3 10,5 0,7 10,5 13,2 1,3 0 0 1,3
18,2 11,8 10,3 6,1 18,6 11,4 0,4 0 0 2,7
8,2 3,3
9,8 13,8
9,5 11
0
0
0
100 (62)
100 (152)
45 bis unter 65 Jahren
100 (263)
Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869; eigene Berechnungen
360
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.3.5b: Todesursachenspektrum bei männlichen Erwachsenen: 1860–1869 (Zahlen absolut)
Todesursachen
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total
Anteil einer Todesursache innerhalb der Gruppe der erwachsenen Männer in der Altersgruppe von (Zahlen absolut) 14 bis unter 25 Jahren
25 bis unter 45 Jahren
45 bis unter 65 Jahren
5 29 6 1 6 7 0 0 0 0
19 40 16 1 16 20 2 0 0 2
48 31 27 16 49 30 1 0 0 7
5 2
15 21
25 29
0
0
0
61
152
263
Quelle: Sterbebücher der Pfarreien Gais, Uttenheim, Taufers, Rein, Mühlwald, Lappach, Luttach, St. Johann, St. Jakob, St. Peter, Prettau 1860–1869; eigene Berechnungen
361
5 Verzeichnis der Anhänge
Tab. A.3.4.1b: Veränderung der Konsultationsgründe bei Über 65-Jährigen, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899
Konsultationsgrund
Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Nervensystem Zirkulationsorgane Atmungsorgane Verdauungsorgane Harnorgane Geschlechtsorgane Bewegungsorgane Hautdecke nicht krankhafte Ursachen Sonstige Gutachten, Atteste u. ä. Total
bei Männern (Zahlen absolut)
bei Frauen (Zahlen absolut)
1860–1869
1890–1899
1860–1869
1890–1899
39 2 80 4 109 107 36 1 54 42
92 0 141 15 211 177 60 10 66 47
45 2 81 4 91 115 9 5 65 34
142 0 209 36 290 209 20 29 164 63
34 41
55 67
17 62
45 104
98
54
53
46
647
995
583
1357
Quelle: SLA, Nachlass Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869 und 1890–1899; eigene Berechnungen
6 Quellen- und Literaturverzeichnis 6.1 Archivalien Archivio di Stato di Bolzano/Staatsarchiv Bozen (= ASBz): Bezirksamt (BA) Taufers 1860, Bündel 146, Bündel 147, Bündel 149 Bezirksamt (BA) Taufers 1861, Bündel 150 Bezirksamt (BA) Taufers 1862, Bündel 152, Bündel 153 Bezirksamt (BA) Taufers 1863, Bündel 155, Bündel 156, Bündel 157 Bezirksamt (BA) Taufers 1864, Bündel 158, Bündel 159 Bezirksamt (BA) Taufers 1865, Bündel 160, Bündel 162 Bezirksamt (BA) Taufers 1866, Bündel 163, Bündel 164 Bezirksamt (BA) Taufers 1867, Bündel 165, Bündel 167 Südtiroler Landesarchiv (= SLA): Nachlass Franz v. Ottenthal, Historiae Morborum 1860–1869; 1890–1899 Kirchenmatriken der Pfarren: Gais Taufbuch 1844–1869 [Mikrofilm 110], Taufbuch 1870–1901 [Mikrofilm 110], Totenbuch 1815– 1882 [Mikrofilm 112], Totenbuch 1882–1924 [Mikrofilm 112] Lappach Taufbuch 1851–1887 [Mikrofilm 108], Taufbuch 1887–1924 [Mikrofilm 108], Totenbuch 1784– 1865 [Mikrofilm 108], Totenbuch 1865–1924 [Mikrofilm 108] Luttach Taufbuch 1829–1868 [Mikrofilm 102], Taufbuch 1869–1925 [Mikrofilm 102], Totenbuch 1829–1868 [Mikrofilm 102], Totenbuch 1869–1925 [Mikrofilm 102] Mühlwald Taufbuch 1820–1925 [Mikrofilm 104], Totenbuch 1818–1910 [Mikrofilm 105] Rein: Taufbuch 1844–1899 [Mikrofilm 106], Totenbuch 1784–1866 [Mikrofilm 107], Totenbuch 1867–1930 [Mikrofilm 107] St. Jakob Taufbuch 1785–1867 [Mikrofilm 91], Taufbuch 1867–1915 [Mikrofilm 92], Totenbuch 1817– 1869 [Mikrofilm 92], Totenbuch 1875–1928 [Mikrofilm 93] St. Johann Taufbuch 1844–1894 [Mikrofilm 94], Taufbuch 1895–1925 [Mikrofilm 94], Totenbuch 1853– 1909 [Mikrofilm 95] St. Peter Taufbuch 1860–1864 [Mikrofilm 90], Taufbuch 1865–1925 [Mikrofilm 91], Totenbuch 1787– 1913 [Mikrofilm 91] Taufers Taufbuch 1815–1863 [Mikrofilm 98], Taufbuch 1864–1920 [Mikrofilm 98], Totenbuch 1790– 1882 [Mikrofilm 100], Totenbuch 1883–1814 [Mikrofilm 100] Uttenheim Taufbuch 1801–1901 [Mikrofilm 103], Totenbuch 1808–1928 [Mikrofilm 103] Pfarrarchiv Prettau: Taufbuch 1759–1866 und 1867–1908, Totenbuch 1759–1866 und 1867–1908
6.2 Gedruckte Quellen und Literatur
363
Pfarrarchiv St. Jakob: Pfarrgemeinde-Chronik der Seelsorgs-Gemeinde St. Jakob in Ahrn von ihren Anfängen bis zum Jahre 1900. Zusammengestellt von Hochw. Herrn Adrian Egger, Cooperator, [Manuskript, o. O. und o. J.] Tiroler Landesarchiv (= TLA): Akten Statthalterei 1859, Sanität Akten Statthalterei 1860, Sanität Akten Statthalterei 1888, Sanität Akten Statthalterei 1890, Sanität Akten Statthalterei 1895, Sanität Landesgericht Innsbruck, Vr-Akten 1932
6.2 Gedruckte Quellen und Literatur Literatur: Alexander, Helmut, Geschichte der Tiroler Industrie. Aspekte einer wechselvollen Entwicklung. Mit einem Beitrag von Claudia Wedekind zur Fabrikarchitektur in Tirol, Innsbruck 1992. Amann, Gabriele / Wipplinger, Rudolf, Die Relevanz subjektiver Krankheitstheorien in der Gesundheitsförderung, in: dies. (Hrsg.), Gesundheitsförderung. Ein multidimensionales Tätigkeitsfeld, Tübingen 1998, 153–175. Ankele, Monika, Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn, Wien/Köln/Weimar 2009. Annandale, Ellen, Egalitärer Feminismus und der Gesundheitsstatus von Frauen: Eine kritische Reflexion, in: Maurer, Gerlinde (Hrsg.), Frauengesundheit in Theorie und Praxis. Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften, Bielefeld 2010, 27–51. Appelt, Erna / Reiterer, Albert, Demografische Grundlagen des Pflegebedarfs in Österreich. Status quo und Prognose, in: Appelt, Erna u. a. (Hrsg.), Who Cares? Betreuung und Pflege in Österreich. Eine geschlechterkritische Perspektive (= Demokratie im 21. Jahrhundert), Innsbruck/Wien/Bozen 2010, 129–142. Attias-Donfut, Claudine, Die Abhängigkeit alter Menschen: Familiale und gesellschaftliche Versorgung, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 11 (1991), 355–373. Auspitz, H., Über die Impffrage, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 1–12 (1873), 8–10, 31–35, 54–57, 79–82, 103–106, 129–131, 152–154, 175–178, 222–226, 247–250, 275–279. van Baal, Anne Hilda Martina, In Search of a Cure. The Patients of the Ghent Homoeopathic Physician Gustave A. van den Berghe (1837–1902), Rotterdam 2008. Babitsch, Birgit / Ducki, Antje / Maschewsky-Schneider, Ulrike, Geschlecht und Gesundheit, in: Hurrelmann, Klaus / Laaser, Ulrich / Razm, Oliver (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim/München 42006, 511–527. Babitsch, Birgit, Soziale Ungleichheit, Geschlecht und Gesundheit, Bern 2005. Backes, Gertrud / Clemens, Wolfgang, Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung, Weinheim/München 1998. Bade, Klaus, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Bardehle, Doris / Stiehler, Matthias (Hrsg.), Erster Deutscher Männergesundheitsbericht. Ein Pilotbericht, Germering/München 2010. Bargfrede, Anja / Pauli, Andrea / Hornberg, Claudia, Gesundheit: Zur gesundheitlichen Situation von Frauen, in: Becker, Ruth / Kortendiek, Beate (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004, 519–528.
364
6 Quellen- und Literaturverzeichnis
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6.2 Gedruckte Quellen und Literatur
365
Borscheid, Peter, Historische Altersforschung, in: Schulz, Günther u. a. (Hrsg.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven. 100 Jahre Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (= VSWG Beiheft 169), Stuttgart 2004, 359–374. Borscheid, Peter, Geschichte des Alters. Vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert, München 1989. Boucherin, Nadine, Die Krankengeschichten von C. A. Bloesch (1804–1863), in: DietrichDaum, Elisabeth / Dinges, Martin / Jütte, Robert / Roilo, Christine (Hrsg.), Arztpraxen im Vergleich: 18.–20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 26), Innsbruck/Wien/Bozen 2008, 147–165. Bourgeois-Pichat, J.[ean], The general development of the population of France since the eighteenth century, in: Wrigley, E.[dward] et al., English population history from family reconstitution 1580–1837, Cambridge 1997, 474–506. Bourlière, François, Geschichte der Pflege und Behandlung des alten Menschen, in: Toellner, Richard (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der Medizin, Band 4, Vaduz/Erlangen 1992, 2017– 2043. Brähler, Elmar / Goldschmidt, Susanne / Kupfer, Jörg, Männer und Gesundheit, in: Brähler, Elmar / Kupfer, Jörg (Hrsg.), Mann und Medizin, Göttingen u. a. 2001, 11–33. Brandström, Anders u. a., Lebenserwartungen in Schweden 1750–1900, in: Imhof, Arthur E. (Hrsg.), Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, 335–363. Brantenberg, Gerd, Die Töchter Egalias. Ein Roman über den Kampf der Geschlechter, München 1987. Bratassevic, [Eduard], Ärztlich behandelte und beglaubigte Todesfälle, in: Statistische Monatsschrift N. F. 9 (1904), 238–240. Bratassevic, [Eduard], Die Bewegung im Stande der Sanitätspersonen in den letzten 40 Jahren, in: Statistische Monatsschrift N. F. 8 (1903), 809–828. Bratassevic, [Eduard], Die Sterbefälle an Tuberculose während der letzten 27 Jahre (1870– 1896), in: Statistische Monatsschrift N. F. 4 (1899), 346–352. Bratassevic, [Eduard], Das Sanitätspersonale in den österreichischen Ländern, in: Statistische Monatsschrift 13 (1887), 634–642. Bratassevic, [Eduard], Die Sanitätsverhältnisse des k. k. Heeres in den Jahren 1880, 1881 und 1882 [Rezension], in: Statistische Monatsschrift 11 (1885), 268–271. Bratassevic, [Eduard], Sanitäts-Verhältnisse des k. und k. Heeres im Jahre 1878 [Rezension], in: Statistische Monatsschrift 10 (1884), 206 f. Braun, Karl, Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge der modernen Sexualität im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 1995. von Braun, Christina, NICHT ICH. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt a. M. 41994. Bründel, Heidrun / Hurrelmann, Klaus, Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann, Stuttgart u. a. 1999. Burg, Thomas N., „Sieches Volk macht siechen Staat“. Arzt, Stand und Staat im 19. Jahrhundert, Wien 1994. Burgdörfer, Fritz, Geburtenhäufigkeit und Säuglingssterblichkeit mit besonderer Berücksichtigung bayerischer Verhältnisse, in: Allgemeines Statistisches Archiv 7 (1907/1914), 63–154. Casper, Waldtraud, Mortalität und Morbidität im Kindes- und Jugendalter, in: Kolip, Petra (Hrsg.), Lebenslust und Wohlbefinden. Beiträge zur geschlechtsspezifischen Jugendgesundheitsforschung, Weinheim/München 1994, 47–61. Chvojka, Erhard, „Dank sei ihnen, den guten und braven Schwiegereltern.“ Leitbilder in ländlichen Milieus des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Ehmer, Josef / Gutschner, Peter (Hrsg.), Das Alter im Spiel der Generationen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge, Wien/Köln/Weimar 2000, 283–319. Connell, Robert, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit (= Geschlecht und Gesellschaft 8), Opladen 22000.
366
6 Quellen- und Literaturverzeichnis
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367
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388
6 Quellen- und Literaturverzeichnis
6.3 Internetquellen http://www.lebenserwartung.info/index-Dateien/geschdiff.htm [Zugriff am 25.10.2010] http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur/bevoelkerung_nach_alter_geschlecht/index.html [Zugriff am 6.1.2012] http://www.statistik.at/web_de/statistiken/gesundheit/todesursachen/todesursachen_im_ueberblick/index.html [Zugriff am 17.11.2010]
7 Tabellenverzeichnis 7.1 Tabellen Tabelle 1.1 Tabelle 1.2 Tabelle 2.1 Tabelle 2.2 Tabelle 2.3 Tabelle 2.4 Tabelle 2.5 Tabelle 2.6a Tabelle 2.7a Tabelle 2.7b Tabelle 2.7c Tabelle 2.8a Tabelle 3.1.1a Tabelle 3.1.1b Tabelle 3.1.2a Tabelle 3.1.3a Tabelle 3.1.3b Tabelle 3.1.4a Tabelle 3.2.1 Tabelle 3.2.2a Tabelle 3.2.3a
Durchschnittliche Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte pro Tag in vier ausgewählten Arztpraxen des 19. Jahrhunderts . Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch und deren Adaption für Ottenthal ................................................. Entwicklung der Bevölkerung in den einzelnen Bezirksämtern der Bezirkshauptmannschaft Bruneck nach den Volkszählungen von 1869 bis 1900 ............................................................................ Berufstätige in den verschiedenen Sektoren nach der Volkszählung von 1869 ............................................................................. Ernteerträge verschiedener Getreide- und Gemüsesorten und Hackfrüchte im Bezirk Taufers vom Jahr 1864 ..................... Sanitätspersonal im politischen Bezirk Bruneck und im Tiroler Durchschnitt für ausgewählte Jahre ............................................... Zahl der akademischen Ärzte und Wundärzte im politischen Bezirk Bruneck in ausgewählten Jahren ........................................ Durchschnittliche (rohe) Sterberate für die österreichische Monarchie, Tirol und die Bezirkshauptmannschaft Taufers auf 1.000 der Bevölkerung .............................................................. Anteil der jeweiligen Todesursachengruppe an den Gesamtsterbefällen in Prozent im Jahre 1873 ............................................ Anteil der jeweiligen Todesursachengruppe an den Gesamtsterbefällen in Prozent im Jahre 1889 ............................................ Anteil der jeweiligen Todesursachengruppe an den Gesamtsterbefällen in Prozent im Jahre 1910 ............................................ Der Wandel bei ausgewählten Todesursachen im Bezirk Bruneck, 1873–1910 ......................................................................... Anteil der Sterblichkeit nach Lebensvierteljahren und Geschlecht, 1860–1869.................................................................... Anteil der Sterblichkeit nach Lebensvierteljahren und Geschlecht, 1890–1899.................................................................... Veränderung des Todesursachenspektrums bei Säuglingen: 1860–1869 und 1890–1899 ............................................................. Anteil der Konsultationen nach Lebensvierteljahren und Geschlecht, 1860–1869.................................................................... Anteil der Konsultationen nach Lebensvierteljahren und Geschlecht, 1890–1899.................................................................... Veränderung der Konsultationsgründe bei Säuglingen, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899 ................................... Prozentualer Anteil einer Todesursache innerhalb der entsprechenden Geschlechtergruppe für die Altersgruppe 1–14 Jahre in Südtirol in den Jahren 1994–2004.......................... Veränderung des Todesursachenspektrums bei (Klein-)Kindern (1–14 J.) im Tauferer Ahrntal: 1860–1869 und 1890–1899.......... Veränderung der Konsultationsgründe bei (Klein-)Kindern im Tauferer Ahrntal, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899 ........................................................................................
44 57 64 68 70 82 83 98 105 105 105 108 126 126 130 137 137 139 153 169 184
390 Tabelle 3.3.1 Tabelle 3.3.2 Tabelle 3.3.3a Tabelle 3.3.3b Tabelle 3.3.4 Tabelle 3.4.1a Tabelle A.2.1b Tabelle A.2.7a Tabelle A.2.7b Tabelle A.2.7c Tabelle A.2.8b Tabelle A.3.1.2b Tabelle A.3.1.4b Tabelle A.3.2.2b Tabelle A.3.2.3b Tabelle A.3.3.3a Tabelle A.3.3.3b Tabelle A.3.3.5a Tabelle A.3.3.5b Tabelle A.3.4.1b
7 Tabellenverzeichnis
Geschlechterspezifische Inanspruchnahme von Ärzten/Ärztinnen und Ambulanzen im Jahr 1999 ...................................................... 215 Prozentualer Anteil der Arztkontakte in den jeweiligen Altersgruppen, 1860–1869 ........................................................................ 223 Veränderung der Konsultationsgründe bei männlichen Erwachsenen, Praxisjournale 1860–1869 ...................................... 229 Veränderung der Konsultationsgründe bei männlichen Erwachsenen, Praxisjournale 1890–1890 ...................................... 230 Konsultationsgründe in der Rubrik „Geschlechtsorgane“ bei den jüngeren Männern zwischen 14 und 25, 1860–1869 (Zahlen absolut) ............................................................................... 245 Veränderung der Konsultationsgründe bei über 65-Jährigen, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899 ................................... 304 Durchschnittliche (rohe) Geburtenrate für die österreichische Monarchie, Tirol und die Bezirkshauptmannschaft Taufers auf 1.000 der Bevölkerung .............................................................. 350 Von je 100.000 Lebenden sind im Jahre 1873 gestorben an ........ 350 Von je 100.000 Lebenden sind im Jahre 1889 gestorben an ....... 351 Von je 100.000 Lebenden sind im Jahre 1910 gestorben an ........ 351 Ausgewählte Todesursachen im Bezirk Bruneck im Wandel, 1873–1889 und 1889–1910 .............................................................. 351 Veränderung des Todesursachenspektrums bei Säuglingen: 1860–1869 und 1890–1899 ............................................................. 352 Veränderung der Konsultationsgründe bei Säuglingen, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899 ................................... 353 Veränderung des Todesursachenspektrums bei (Klein-)Kindern (1–14 J.): 1860–1869 und 1890–1899 ............................................. 354 Veränderung der Konsultationsgründe bei (Klein-)Kindern, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899 ................................... 355 Konsultationsgründe bei männlichen Erwachsenen, Praxisjournale 1860–1869 ......................................................................... 356 Veränderung der Konsultationsgründe bei männlichen Erwachsenen, Praxisjournale 1890–1899 ...................................... 357 Todesursachenspektrum bei männlichen Erwachsenen: 1860–1869 (prozentual) ................................................................... 359 Todesursachenspektrum bei männlichen Erwachsenen: 1860–1869 (Zahlen absolut) ............................................................ 360 Veränderung der Konsultationsgründe bei Über 65-Jährigen, Praxisjournale 1860–1869 und 1890–1899 ................................... 361
7.2 Grafiken Grafik 1.1 Grafik 2.1a Grafik 2.2
Jährliche Verteilung der Patienten Franz v. Ottenthals nach Geschlecht (1850–1899) .................................................................. Geborene und Gestorbene des Bezirkes Bruneck im 5-jährigen Trend, 1839–1914 ............................................................................. Verhältnis der rohen Sterberate in der Monarchie zu jener in Tirol und dem Tauferer Ahrntal, 1819–1937 ............................
16 91 101
7.2 Grafiken
Grafik 3.1.1a Grafik 3.1.1b Grafik 3.1.2 Grafik 3.1.3a Grafik 3.1.3b Grafik 3.2.1 Grafik 3.2.2a Grafik 3.2.2b Grafik 3.2.2c Grafik 3.2.2d Grafik 3.2.3 Grafik 3.2.4a Grafik 3.2.4b Grafik 3.2.4c Grafik 3.2.4d Grafik 3.3.1 Grafik 3.3.2a Grafik 3.3.2b Grafik 3.3.3a Grafik 3.3.3b Grafik 3.4.1 Grafik 3.4.2a Grafik 3.4.2b
Patienten und Patientinnen Ottenthals 1860–1869: Säuglinge (0–1 Jahre) ........................................................................................ Patienten und Patientinnen Ottenthals 1890–1899: Säuglinge (0–1 Jahre) ........................................................................................ prozentualer Anteil der Säuglinge (0–1 Jahre) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals in den Jahrzehnten 1860–1869 und 1890–1899 ........................................................................................ Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1860–1869: Säuglinge (0–1 Jahre) ........................................................................................ Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1890–1899: Säuglinge (0–1 Jahre) ........................................................................................ Verhältnis der männlichen zur weiblichen Sterbewahrscheinlichkeit in der entsprechenden Altersgruppe und Zeitperiode für das heutige Österreich (Frauen = 100) ................ Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1860–1869: Kleinkinder (1–4 Jahre) ........................................................................................ Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1890–1899: Kleinkinder (1–4 Jahre) ........................................................................................ Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1860–1869: Kinder (4–14 Jahre)....................................................................................... Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1890–1899: Kinder (4–14 Jahre)....................................................................................... Prozentualer Anteil der Kleinkinder (1–4 Jahre) und der Kinder (4–14 Jahre) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals in den Jahrzehnten 1860–1869 und 1890–1899 ........................... Patienten und Patientinnen Ottenthals 1860–1869: Kleinkinder 1–4 Jahre).......................................................................................... Patienten und Patientinnen Ottenthals 1890–1899: Kleinkinder (1–4 Jahre) ........................................................................................ Patienten und Patientinnen Ottenthals 1860–1869: Kinder (4–14 Jahre)....................................................................................... Patienten und Patientinnen Ottenthals 1890–1899: Kinder (4–14 Jahre)....................................................................................... Prozentualer Anteil der Jugendlichen (14–18 Jahre) und der Erwachsenen (18–65 Jahre) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals in den Jahrzehnten 1860–1869 und 1890–1899 ........ Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Patienten in der entsprechenden Altersgruppe 1860–1869 (Frauen = 100)........... Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Patienten in der entsprechenden Altersgruppe 1890–1899 (Frauen = 100)........... Patienten Ottenthals in den entsprechenden Altersgruppen 1860–1869: (14–65 Jahre) ............................................................... Patienten Ottenthals in den entsprechenden Altersgruppen 1890–1899: (14–65 Jahre) ............................................................... Prozentualer Anteil der älteren Patientinnen und Patienten (über 65 Jahre) an der gesamten Patientenschaft Ottenthals in den Jahrzehnten 1860–1869 und 1890–1899 ........................... Patienten und Patientinnen Ottenthals 1860–1869: Greise (über 65 Jahre) ................................................................................. Patienten und Patientinnen Ottenthals 1890–1899: Greise (über 65 Jahre) .................................................................................
391
113 114 116 122 122 162 164 164 165 166 177 180 180 181 181 213 216 216 220 220 289 294 294
392 Grafik A.2.1b Grafik A.3.3.4a Grafik A.3.3.4b
7 Tabellenverzeichnis
Geburten- und Sterberate des Bezirkes Bruneck (pro 1.000 Lebende), 1839–1914 .................................................... Verstorbene im Gerichtsbezirk Taufers 1860–1869: männliche Erwachsene (14–65 Jahre) ............................................................... Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Verstorbenen in der entsprechenden Altersgruppe 1860–1869 (Frauen = 100) ..................................................................................
349 358 358
7.3 Abbildungen Abbildung 1.1 Abbildung 1.2
Franz von Ottenthal und seine Ehefrau Katharina von Preu ...... Krankengeschichte mit der Laufnummer 644. Detail einer Seite aus dem Krankenjournal des Jahres 1866 ............................ Abbildung 2.1 Der politische Bezirk Bruneck und seine vier Gerichtsbezirke 1910 ................................................................................................... Abbildung 2.2 Der Tauferer Boden und Sand als Gerichts- und Verwaltungsort des Bezirks Taufers. Hinter Schloss Taufers beginnt das Ahrntal. ...................................................................................... Abbildung 2.3 Blick auf St. Johann im Ahrntal. Deutlich sichtbar die steilen Hanglagen in diesem Talabschnitt ................................................. Abbildung 2.4 Der Ansitz Neumelans: Wohnhaus und Praxis Franz v. Ottenthals........................................................................... Abbildung 3.1.1 „The Doctor“ .................................................................................... Abbildung 3.2.1 Realistisch gegendertes Schutzengelbild: verhindert wird der Autounfall des „aktiven“ Jungen .................................................... Abbildung 3.2.2 „An Anxious Hour“ ......................................................................... Abbildung 3.3.1 „Tauferer Bue“ .................................................................................. Abbildung 3.3.2 „Erdgratteln“ als Teil der Bergbauernwirtschaft im steilen Gelände............................................................................................. Abbildung 3.3.3 „Einsegnung des Brautbettes“ ........................................................ Abbildung 3.4.1 Patientin verstorben – Zeichnung eines Grabhügels in der Krankengeschichte Nr. 1441 des Jahres 1872 ................................ Abbildung 3.4.2 Das Institutsgebäude der Barmherzigen Schwestern in Mühlen: Schulgebäude und Spital zugleich.............................. Abbildung 4.1 Franz Defregger (1835–1921): „Beim Arzt“, Öl auf Leinwand, um 1880; Besitzer unbekannt ......................................................... Abbildung A.1.2a Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch ..... Abbildung A.1.2b Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch ..... Abbildung A.1.2c Einteilung der Krankheitsursachen in Oesterlens Handbuch .....
46 48 62 66 72 85 141 154 171 208 232 247 296 329 337 347 348 349
ISBN 978-3-515-10612-2