Das Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Ausländern (§ 42f SGB VIII) [1 ed.] 9783428585243, 9783428185245

Das Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Ausländern gemäß § 42f SGB VIII wurde im Jahr 2015 im Zusa

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Das Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Ausländern (§ 42f SGB VIII) [1 ed.]
 9783428585243, 9783428185245

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1471

Das Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Ausländern (§ 42f SGB VIII) Von

Maximilian Weinand

Duncker & Humblot · Berlin

MAXIMILIAN WEINAND

Das Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Ausländern (§ 42f SGB VIII)

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1471

Das Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Ausländern (§ 42f SGB VIII)

Von

Maximilian Weinand

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18524-5 (Print) ISBN 978-3-428-58524-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2021 von der Juristischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung erfolgte am 2. August 2021. Aktualisierungen wurden teils bis Oktober 2021 vorgenommen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Hermann Butzer für seine herausragende Unterstützung von der ersten Seite an bis zur Veröffentlichung. Er betreute mein Dissertationsprojekt mit sehr großem Interesse und stand mir stets mit wertvollem Rat zur Seite. Zudem danke ich auch Herrn Prof. Dr. Veith Mehde für die außerordentlich zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Weiter möchte ich mich recht herzlich bei meinem Freund Maximilian Zahn für die umfassende und gewissenhafte Korrekturlektüre, aber auch für die wertvollen Anmerkungen und die konstruktive Kritik bedanken. Der größte Dank gilt jedoch meiner Familie, insbesondere meinen beiden Eltern, Dr. Gabriele Weinand und Dr. Rudolf Weinand. Ohne die unermüdliche Förderung und bedingungslose Unterstützung meiner Eltern auf meinem gesamten Werdegang wäre diese Arbeit nicht entstanden. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Frankfurt am Main, im Oktober 2021

Maximilian Weinand

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung

15

§ 1 Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 § 2 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 § 3 Ziel und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Kapitel 2 Das Verfahren der Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer gemäß §§ 42a ff. SGB VIII – Einfachgesetzliche Lage und Rechtspraxis

23

§ 1 Das Verfahren der Inobhutnahme bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern gemäß §§ 42 ff. SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 A. Personale Tatbestandvoraussetzungen gemäß § 42a Abs. 1 SGB VIII . . . . . . . . . 24 I. Das Tatbestandsmerkmal „ausländische Person“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Ausländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Asylsuchender und Asylbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Anerkannter Asylberechtigter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4. Flüchtling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 5. Subsidiär Schutzberechtigter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 6. Bedeutung des Aufenthaltsstatus des ausländischen Minderjährigen . . . . . 27 II. Das Tatbestandsmerkmal „Minderjährigkeit“ – Kinder und Jugendliche . . . . 27 III. Das Tatbestandsmerkmal „Unbegleitet“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 B. Die Verfahrensschritte der Inobhutnahme im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Sinn und Zweck der vorläufigen Inobhutnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Erstscreening gemäß § 42a Abs. 1, Abs. 2 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Vertretungsbefugnisse des Jugendamts, § 42a Abs. 3 SGB VIII . . . . . . . . . 34 a) Interessenkonflikt des Jugendamts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Gerichtliche Durchsetzung der Inobhutnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 aa) Partielle Prozessfähigkeit nach § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I . . . . . . . . . . 36 bb) Fiktion der Volljährigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

8

Inhaltsverzeichnis cc) Analoge Anwendung von § 42a Abs. 3 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . 38 dd) Ergänzungspflegschaft nach § 1909 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4. Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme, § 42a Abs. 6 SGB VIII . . . . . 41 II. Verteilungsverfahren gemäß § 42b SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Örtliche Zuständigkeit des Jugendamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Die Zuweisungsentscheidung nach § 42b SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Die Aufnahmequote gemäß § 42c SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 III. Reguläre Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII . . . . . . . . . . 49 1. Charakter der regulären Inobhutnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Pflichten des Jugendamts bei der regulären Inobhutnahme . . . . . . . . . . . . 50

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 A. Erste Stufe des Verfahrens zur Altersfeststellung, § 42f Abs. 1 SGB VIII . . . . . . 55 I. Einsichtnahme in Ausweispapiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 II. Qualifizierte Inaugenscheinnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Grundsätze bei der Durchführung der qualifizierten Inaugenscheinnahme

60

2. Wertung der äußeren Altersmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Bewertung der geistigen Reife des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4. Durchsuchungsbefugnis des Jugendamts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Wortlautauslegung des § 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Mitwirkungspflichten nach § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . 65 c) Analoge Anwendung des § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5. Auswertung von Datenträgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Wortlautauslegung des § 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Mitwirkungspflichten nach § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . 71 c) Analoge Anwendung des § 15a AsylG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 d) Schaffung einer Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 III. Beteiligung des Ausländers am Verfahren zur Altersfeststellung . . . . . . . . . . 73 B. Zweite Stufe des Verfahrens zur Altersfeststellung, § 42f Abs. 2 SGB VIII . . . . . 73 I. Medizinische Altersfeststellung im Zweifelsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Vorliegen eines Zweifelsfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Widersprüchliche Angaben des Ausländers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 II. Aufklärung über die Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1. Inhalt und Umfang der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Person des Aufklärenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 III. Einwilligung des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 IV. Verweigerung der ärztlichen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 V. Medizinische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Nichtinvasive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Inhaltsverzeichnis

9

b) Genitaluntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Analyse der Gebissentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 d) Psychosoziale Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2. Invasive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Handradiogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Orthopantogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 c) Schlüsselbeinuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 d) Darmbeinkammuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 e) Anwendung des Mindestalterskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Methoden in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Ultraschalluntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Studien zur Ultraschalluntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 bb) PRIMSA-Handscanner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Magnetresonanztomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 c) DNA-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4. Stellungnahme zu den medizinischen Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 VI. Zulässigkeit von Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Beschränkung gemäß § 83 Abs. 1 StrlSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Zulässigkeit aufgrund der Einwilligung des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Wirksamkeit der Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Freiwilligkeit der Mitwirkung an der medizinischen Altersfeststellung 120 c) Doppelte Einwilligungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 § 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII . . . . . . . . . . . . 123 A. Feststellung der Minderjährigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I. Bindungswirkung für andere Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Auslegung des Zweifelbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Aufenthaltsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 III. Familiennachzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 IV. Gewährung von Krankenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 V. Leistungen zum Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 B. Feststellung der Volljährigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Abweichende Entscheidung des Jugendamts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Bindung des Jugendamts an das ärztliche Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Aufnahme eines Volljährigen – Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

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Inhaltsverzeichnis II. Hilfe für Volljährige durch das Jugendamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Inhalt der Hilfeleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 C. Folgen einer Täuschung des Jugendamts über das Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 I. Erstattungspflicht des volljährigen Ausländers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 II. Strafbarkeit des volljährigen Ausländers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Leistungsbetrug nach § 263 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Rechtsfolgen einer Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

§ 4 Rechtsvergleichende Betrachtung zum Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 A. Strafmündigkeit und Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 B. Übertragung auf das Verfahren der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII . . . . 151 I. Bindungswirkung des Altersgutachtens im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 II. Ausweitung der Inobhutnahme auf Heranwachsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 § 5 Stellungnahme zur einfachgesetzlichen Rechtslage und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Kapitel 3 Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII

155

§ 1 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 1 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 A. Einsichtnahme in Ausweispapiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 I. Berührung des Schutzbereichs des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II. Eingriff in den Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 III. Rechtfertigung der Einsichtnahme in Ausweispapiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 B. Qualifizierte Inaugenscheinnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 I. Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . 161 II. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) . . 162 1. Eingriff in den Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Das legitime Ziel der qualifizierten Inaugenscheinnahme . . . . . . . . . . . 165 b) Geeignetheit der Altersfeststellung durch das Jugendamt . . . . . . . . . . . 165 c) Erforderlichkeit der qualifizierten Inaugenscheinnahme . . . . . . . . . . . . 166 d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Inhaltsverzeichnis

11

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 A. Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 I. Eingriff in den Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Nicht-invasive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Invasive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Gesundheitsschädigung durch Röntgenstrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Kein Röntgenzwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Einwilligung des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 II. Rechtfertigung der Röntgendiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Zulässige Methoden zur Altersfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Folgen bei Verweigerung der Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 a) Das legitime Ziel der medizinischen Altersfeststellung . . . . . . . . . . . . . 182 b) Geeignetheit von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung . . . . . 183 c) Erforderlichkeit einer Altersgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 d) Angemessenheit der Ausgestaltung von § 42f Abs. 2 SGB VIII . . . . . . 186 aa) Verhinderung von Täuschungen über das Alter . . . . . . . . . . . . . . . . 186 bb) Leistungsfähigkeit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 cc) Gleichbehandlung bei der Leistungsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . 190 dd) Verletzung des Kindeswohls bei Fehleinschätzung . . . . . . . . . . . . . 193 ee) Risiko einer Gesundheitsschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 ff) Ethische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 gg) Ergebnis der Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 III. Lösung über verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 IV. Anforderungen an eine verfassungskonforme Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . 206 B. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 I. Begriff der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 II. Eingriff in die Menschwürde durch medizinische Altersfeststellung . . . . . . . 208 1. Nicht-invasive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Invasive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 C. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . 212 I. Nicht-invasive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 II. Invasive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 D. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 I. Ungleichbehandlung von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 II. Ungleichbehandlung gegenüber deutschen Staatsangehörigen . . . . . . . . . . . . 215 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

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Inhaltsverzeichnis

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 A. Verfassungskonformität von Genitaluntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 I. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) . . 221 1. Eingriff in den Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 B. Verfassungskonformität der Aufnahme einer Durchsuchungsbefugnis . . . . . . . . . 229 I. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) 230 1. Eingriff in den Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 2. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Legitimes Ziel und Geeignetheit einer Durchsuchung . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . 232 II. Voraussetzungen für die verfassungskonforme Gestaltung einer Durchsuchungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 C. Verfassungskonformität der Aufnahme einer Datenauswertungsgrundlage . . . . . 235 I. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Art. 10 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . 235 II. Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Eingriff in den Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 a) Geeignetheit zur Altersfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 b) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Kapitel 4 Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung gemäß § 42 f SGB VIII mit Europäischem Recht und Völkerrecht

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§ 1 Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII mit der Richtlinie 2013/32/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 A. Inhalt der Asylverfahrensrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 B. Vereinbarkeit des § 42f SGB VIII mit Art. 25 RL 2013/32/EU . . . . . . . . . . . . . . . 245 I. Anwendbarkeit der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 II. Ärztliche Untersuchung nach Art. 25 Abs. 5 RL 2013/32/EU . . . . . . . . . . . . 248 1. Voraussetzungen der Durchführung einer ärztlichen Untersuchung . . . . . . 248 2. Rechtsfolge von verbleibenden Zweifeln nach der Altersfeststellung . . . . 249 3. Methoden der Altersfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4. Verweigerung der Einwilligung in die ärztliche Untersuchung . . . . . . . . . 251 5. Sprachmittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Inhaltsverzeichnis

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C. Stellungnahme zur Richtlinienkonformität des § 42f SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . 255 § 2 Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII mit der EU-Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 A. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf § 42f SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 B. Vereinbarkeit mit einzelnen Unionsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 I. Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 3 GrC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 II. Rechte des Kindes (Art. 24 GrC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1. Recht auf Schutz und Fürsorge (Art. 24 Abs. 1 GrC) . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Kindeswohl als vorrangiges Interesse (Art. 24 Abs. 2 GrC) . . . . . . . . . . . . 261 III. Menschenwürde (Art. 1 GrC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 § 3 Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII mit der UN-Kinderrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 A. Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 B. Verhältnis der Konvention zum nationalen Recht in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 264 C. Vereinbarkeit mit einzelnen Bestimmungen der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 I. Kindeswohlprinzip (Art. 3 Abs. 1 KRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 II. Besonderer Schutz von Flüchtlingskindern (Art. 22 KRK) . . . . . . . . . . . . . . . 269 III. Recht auf Gesundheitsschutz (Art. 24 Abs. 1 KRK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 D. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Kapitel 5 Fazit und Vorschlag de lege ferenda

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§ 1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 § 2 Vorschlag de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Kapitel 1

Einleitung § 1 Problemaufriss Die Einreise von hunderttausenden Menschen im Rahmen der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 nach Deutschland hat auch den nationalen Gesetzgeber vor zahlreiche Herausforderungen gestellt. Allein im Jahr 2015 wurden in Deutschland 476.510 Asylanträge gestellt, europaweit waren es 1.322.825.1 Die Bundesregierung wurde damit nicht nur mit einem erheblichen finanziellen Aufwand konfrontiert, sondern auch mit Fragen der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber. Eine Randgruppe der Asylbewerber stellt Legislative und Exekutive vor eine besondere Herausforderung: Unbegleitete, minderjährige Ausländer. Dies sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die ohne Begleitung von Eltern oder anderen sorgepflichtigen Erwachsenen nach Deutschland eingereist sind. Sie haben in der Regel in ihren Heimatländern Terror erlebt, wurden von ihren Eltern und anderen erwachsenen Bezugspersonen getrennt und haben eine gefährliche Reise nach Europa hinter sich. Nach ihrer Ankunft in Europa werden sie mit einer ihnen fremden Kultur konfrontiert, beherrschen die jeweilige Landesprache nicht und müssen sich gleichzeitig allein zurechtfinden. Der Staat hat gegenüber Minderjährigen, deren Kindeswohl nicht ausreichend durch ihre Eltern gewährleistet werden kann, aufgrund von verfassungsrechtlichen wie auch völkerrechtlichen Vorgaben besondere Schutzpflichten.2 Es stellt sich daher die Frage, wie eine für unbegleitete minderjährige Ausländer angemessene Unterbringung und Versorgung ausgestaltet werden muss. Volljährige Asylbewerber, die den Weg in die Bundesrepublik Deutschland geschafft haben, stellen in der Regel einen Asylantrag gemäß § 13 AsylG und werden anschließend nach § 22 AsylG in einer Erstaufnahmeeinrichtung bzw. Gemeinschaftsunterkunft untergebracht, bis über ihr weiteres Schicksal entschieden worden ist. Unbegleitete minderjährige Ausländer sind ohne den Schutz ihrer Eltern aber in

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Europäische Kommission: Eurostat Datenbank, https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/ show.do?dataset=migr_asyappctza&lang=en, zuletzt abgerufen am 01. 10. 2021. 2 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 6 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 95; Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2017, Art. 3 KRK Rn. 3.

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Kap. 1: Einleitung

besonderem Maße kulturellen Differenzen, gewaltsamen Übergriffen und der schlichten räumlichen Enge in Erstaufnahmeeinrichtungen ausgesetzt. Dieses Problem löst der Gesetzgeber, indem er unbegleitete minderjährige Ausländer der Zuständigkeit der Jugendämter zuweist. Gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII sind die Jugendämter berechtigt und verpflichtet, ausländische Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre in Obhut zu nehmen, wenn sie unbegleitet und ohne Personensorge- und Erziehungsberechtigte im Inland nach Deutschland einreisen. Durch die Obhut der Jugendämter soll gewährleistet werden, dass die minderjährigen Ausländer die erforderliche Fürsorge erhalten. Für die Jugendämter stellt sich allerdings regelmäßig die Frage, wer von den einreisenden Ausländern tatsächlich minderjährig ist. Gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen fällt es oft schwer, Volljährige und Minderjährige nach dem äußerlichen Erscheinungsbild zu unterscheiden. Ausweispapiere sind dabei meist nicht hilfreich, da in einigen Ländern des Nahen Ostens auf eine genaue Geburtsurkunde kein Wert gelegt wird, sodass die Altersangaben in den Pässen fehlerhaft sein können.3 Manche junge Asylbewerber führen außerdem keinen Pass bei sich, weil sie ihn verloren haben, ihn bewusst entsorgen oder missbräuchlich fälschen. Anreize hierzu ergeben sich insbesondere aus der besseren Behandlung von Minderjährigen in Deutschland. Neben einer vorteilhafteren Unterbringung durch das Jugendamt profitieren minderjährige Asylsuchende auch von höheren Voraussetzungen bei der Abschiebung, einem erleichterten Familiennachzug sowie zuletzt von den Besonderheiten des Jugendstrafrechts. Die Problematik wird dadurch verschärft, dass gerade diese Altersgruppe am häufigsten nach Deutschland einreist. So waren beispielsweise von den knapp 45.000 unbegleiteten, minderjährigen Ausländern, die im Jahr 2016 von deutschen Jugendämtern in Obhut genommen worden waren, ca. 93 % als 14- bis 17-Jährige registriert.4 Dabei stellen missbräuchliche Angaben über das eigene Alter keine zu vernachlässigenden Einzelfälle dar. Die genaue Zahl missbräuchlicher Angaben in Deutschland ist zwar nicht bekannt, da hierzu bislang keine Daten erhoben wurden.5 Auf Basis von Erhebungen in Dänemark und Österreich wird allerdings geschätzt, dass etwa 30 % der sich als minderjährig vorstellenden Ausländer tatsächlich volljährig sind.6 Laut einer unveröffentlichten Studie des Universitätsklinikums Münster sollen sogar 40 % der nach Deutschland einreisenden Asylsuchenden sich fälschlicherweise als minderjährig ausgeben haben. Ausgewertet wurden dazu 594 Altersgutachten aus den Jahren 2007 bis 2018. Das Ergebnis der Studie ist allerdings dadurch zur relativieren, dass nur Altersgutachten zur Prüfung vorgelegt wurden, bei 3

OVG Münster, Beschl. v. 29. 9. 2014 – 12 B 923/14, BeckRS 2014, 57324. Statistisches Bundesamt, DESTATIS, Pressemitteilung Nr. 290 v. 23. 08. 2017, https: //www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2017/08/PD17_290_225.html, zuletzt abgerufen am 01. 10. 2021. 5 BT-Drs. 19/14616 v. 30. 10. 2019, S. 1 f. 6 BT-Drs. 19/461 v. 17. 01. 2018, S. 2. 4

§ 1 Problemaufriss

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denen bereits ein Anlass für Zweifel am Alter bestand.7 Gleichzeitig ist nicht bekannt, welche Methoden zur Altersfeststellung angewandt wurden, sodass die Inhalte der Studie mit Vorsicht zu genießen sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist von dieser Problematik im europäischen Vergleich stärker betroffen, da diese zahlenmäßig das beliebteste Zielland in der Europäischen Union darstellt. Im Jahr 2019 wurden 142.400 Asylsuchende in Deutschland registriert, was 23,3 % aller Asylerstantragssteller in der Europäischen Union entsprach.8 2.700 dieser Asylerstanträge wurden in Deutschland von unbegleiteten Minderjährigen gestellt.9 Der Grund für diesen Beliebtheitsgrad dürfte in erster Linie im deutschen Sozialsystem liegen, das – auch im europäischen Vergleich – international einen guten Ruf genießt. Die Bundesrepublik Deutschland gilt als vorbildlicher Wohlfahrtsstaat mit einer guten Sozialsicherung, insbesondere im Bereich der Kranken- und Arbeitslosenversorgung.10 Dies sind auch für Asylsuchende wichtige Kriterien. Die Verwaltung, insbesondere die Jugendämter, stehen damit vor der Frage, wie sie die Anspruchsberechtigung von jungen Ausländern zur Inobhutnahme feststellen können. Gerade bei der Altersgruppe der 14- bis 21-Jährigen ist es regelmäßig unmöglich, allein vom äußeren Erscheinungsbild her eine klare Alterszuordnung zu treffen. Bestünde allerdings die Verpflichtung, pauschal alle Zweifelsfälle aufzunehmen, wären die Jugendämter personell und finanziell überlastet. Die Kosten für die Inobhutnahme und die Hilfen zur Erziehung variieren nach Angaben der Bundesländer zwischen EUR 90,00 und EUR 205,00 für einen unbegleiteten, minderjährigen Ausländer pro Tag.11 Die jährlichen Kosten eines unbegleiteten Minderjährigen liegen damit zwischen EUR 32.850,00 und EUR 74.825,00. Legt man die knapp 45.000 Inobhutnahmen von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern im Jahr 2016 zugrunde, zeigt sich das Ausmaß der finanziellen Belastung besonders deutlich. Zu berücksichtigen ist dabei aber auch, dass das Jahr 2016 eine Extremsituation darstellte. Im Jahr 2019 wurden nur noch 8.647 unbegleitete, minderjährige Ausländer in Obhut genommen, wobei auch dies noch eine nicht zu unterschätzende 7

Welt (dpa), Artikel vom 17. 09. 2019, „40 Prozent der überprüften Flüchtlinge gaben falsches Alter an“, https://www.welt.de/politik/deutschland/article200417362/Studie-vonRechtsmedizinern-40-Prozent-der-ueberprueften-Fluechtlinge-gaben-falsches-Alter-an.html, zuletzt abgerufen am 01. 10. 2021. 8 Europäische Kommission: Eurostat Datenbank, https://ec.europa.eu/eurostat/news/ themes-in-the-spotlight/asylum2019, zuletzt abgerufen am 01. 10. 2021. 9 Statistisches Bundesamt, DESTATIS, Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber in Deutschland von 2009 bis 2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/581550/ umfrage/unbegleitete-minderjaehrige-asylbewerber-in-deutschland/, zuletzt abgerufen am 01. 10. 2021. 10 GIZ-Studie 2017/2018, „Deutschland in den Augen der Welt“, S. 79, https://www.giz.de/ de/downloads/Deutschland-in-den-Augen-der-Welt-GIZ-Erhebung-2017-2018.pdf, zuletzt abgerufen am 01. 10. 2021. 11 Vgl. Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand v. 27. 08. 2018, WD 9 – 3000 – 062/18, S. 9.

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Kap. 1: Einleitung

Anzahl darstellt.12 Neben der Kostenfrage ist auch zu bedenken, dass das Schutzniveau für tatsächlich minderjährige Ausländer durch eine in Kauf genommene Aufnahme volljähriger Asylbewerber gefährdet werden kann, unter anderem durch eine schädliche Einflussnahme. Die Problemkreise rund um unbegleitete minderjährige Ausländer sind schon längere Zeit in der politischen Diskussion. Bereits im Jahr 2012 brachte die Fraktion der SPD einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht in den Bundestag ein, der allerdings erfolglos blieb. In dem Gesetzentwurf wurde erstmalig vorgesehen, eine Rechtgrundlage für die Durchführung einer medizinischen Altersuntersuchung bei Zweifeln über das Alter zu schaffen.13 Denn Mediziner können das Alter von Heranwachsenden durch verschiedene Untersuchungsmethoden zumindest schätzen und den Behörden dadurch die Entscheidung erleichtern. In Betracht kommen beispielsweise eine ärztliche Begutachtung des körperlichen Wachstums oder das Abgleichen von Röntgenaufnahmen der Knochen mit Referenzstudien. Im Jahr 2014 stellte die Bayerische Staatsregierung einen Gesetzesantrag zur Änderung der Zuständigkeitsregelungen von Jugendämtern, um mittels eines interkommunalen Verteilungsverfahrens die häufig stark beanspruchten Jugendämter an Einreiseknotenpunkten zu entlasten.14 Ein Verfahren zur Altersschätzung war hier nicht vorgesehen. Das Gesetz wurde allerdings auch nicht verabschiedet. Erst im Jahr 2015 wurde schließlich vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ vom Bundestag verabschiedet.15 Hiermit wurde erstmals das Verfahren zur Inobhutnahme von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern durch die Einführung der §§ 42a – f SGB VIII an deren besondere Situation angepasst. Unter anderem wurde in diesem Zusammenhang ein „behördliches Verfahren zur Altersfeststellung“ in § 42f SGB VIII eingeführt. Den zentralen Kern des Gesetzes stellt allerdings eine verfahrensrechtliche Neuerung durch Einführung einer vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII dar. In Deutschland aufgegriffene unbegleitete minderjährige Ausländer werden direkt vom nächstgelegenen Jugendamt vor Ort vorläufig aufgenommen, sodass möglichst früh ein Erstscreening zur Person des Ausländers durchgeführt werden kann. In diese Phase fällt auch das Verfahren der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII. Ist das Erstscreening beendet, wird je nach Ergebnis ein Verteilungs12 Statistisches Bundesamt, DESTATIS, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe v. 17. 09. 2020, S. 11, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Kinderhilfe-Ju gendhilfe/Publikationen/Downloads-Kinder-und-Jugendhilfe/vorlaeufige-schutzmassnahmen5225203197004.pdf; jsessionid=A0B042D68BA33D95FCEF5DF8F33BF3EF.live722?__blo b=publicationFile, zuletzt abgerufen am 01. 10. 2021. 13 BT-Drs. 17/9187 v. 28. 03. 2012, S. 1 ff. 14 BR-Drs. 443/14 v. 30. 09. 2014, S. 1 ff. 15 BGBl. 2015 I, S. 1802.

§ 2 Stand der Forschung

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verfahren nach § 42b SGB VIII durchgeführt. Der als minderjährig eingestufte Ausländer wird dann zur regulären Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII einem anderen Jugendamt mit entsprechenden Kapazitäten zugewiesen. Damit soll eine bessere Verteilung der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer auf das gesamte Bundesgebiet gewährleistet werden. Dadurch sollen die Jugendämter an den Einreiseknotenpunkten entlastet werden. Eine gleichmäßige Verteilung wird durch die Vereinbarung einer Aufnahmequote zwischen den Ländern im Sinne von § 42c SGB VIII gesichert. Das Verfahren zur Altersfeststellung – genauer zur Altersschätzung – stellt aus rechtlicher Sicht eine komplexe Schnittstelle zwischen Asylrecht, Medizinrecht, Europarecht und Sozialrecht dar. Dabei sind insbesondere die Methoden zur Altersschätzung unter Medizinern und Juristen umstritten, da beispielsweise die Anfertigung von Röntgenaufnahmen zu einer Gesundheitsbeeinträchtigung der Betroffenen führen kann. Hier ergeben sich sowohl aus rechtlicher als auch aus ethischer Sicht verschiedene Folgefragen, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind.

§ 2 Stand der Forschung Die juristische Literatur hat sich mit dem behördlichen Verfahren zur Altersfeststellung bislang nur vereinzelt auseinandergesetzt. Eine ganzheitliche Betrachtung, insbesondere eine Prüfung der Verfassungskonformität des § 42f SGB VIII, ist bislang noch nicht vorgenommen worden. Zu nennen sind bislang nur Aufsatzbeiträge. Guido Kirchhoff und Ernst Rudolf, letzterer ist Mediziner, haben sich in einem Aufsatz mit verschiedenen Einzelproblemen des § 42f SGB VIII auseinandergesetzt.16 So sind sie zur Auffassung gelangt, dass im Rahmen des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung Mitwirkungspflichten von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern zur Feststellung ihres Alters bestehen, und zwar nach den §§ 60 ff. SGB I.17 Weiterhin vertreten sie die Ansicht, dass auf eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung nur verzichtet werden kann, wenn (1) kein Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit von Ausweisdokumenten besteht, (2) der Betroffene seine Volljährigkeit einräumt oder (3) die Volljährigkeit derart offensichtlich ist, dass niemand ernsthaft die Minderjährigkeit des Betroffenen in Erwägung ziehen würde. Letzteres soll jedenfalls ab einem Alter von 23 Jahren in Betracht kommen.18 Die Durchführung einer ärztlichen Untersuchung wird damit als Grundsatz aufgefasst. Kirchhoff und Rudolf vertreten weiterhin die Ansicht, dass die Anwendung von 16 17 18

Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167. Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167, 1169. Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167, 1170.

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Kap. 1: Einleitung

Röntgenuntersuchungen aufgrund der geringen Strahlenexposition grundsätzlich unproblematisch ist und jedenfalls keinen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellen würde.19 In seiner Kommentierung zu § 42f SGB VIII im juris Praxiskommentar vertritt Kirchhoff außerdem die Ansicht, dass den Röntgenuntersuchungen auch nicht die Vorschriften der Röntgenverordnung entgegenstünden, da es sich hierbei um disponibles Recht handele.20 Weiter ist er der Ansicht, dass eine vorläufige Inobhutnahme durch das Jugendamt nur verweigert werden darf, wenn sich keine vernünftigen Zweifel an der Volljährigkeit ergeben und die Weigerung des Betroffenen, sich ärztlich untersuchen zu lassen, nicht nachvollziehbar begründet wurde.21 Kathleen Neundorf hat in zwei Aufsätzen eine ähnliche Linie wie Kirchhoff vertreten. Die Ablehnung der vorläufigen Inobhutnahme soll zulässig sein, wenn keine vernünftigen Zweifel an der Volljährigkeit des Betroffenen bestehen, wobei dessen Verhalten bei der Entscheidung mit einbezogen werden soll. Neundorf stellt ebenfalls fest, dass die Thematik juristisch und medizinisch umstritten ist und das Verhältnis zwischen einzelnen Rechtsgrundlagen mangels gesetzlicher Klarstellungen unklar bleibt.22 Lasse Gundelach gibt in einem Aufsatz einen Überblick zur mittlerweile umfangreichen Rechtsprechung zur medizinischen Altersfeststellung. Gundelach übt dabei insbesondere Kritik an der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Bremen, das aus pragmatischer Perspektive – stellvertretend für viele Gerichte – keinen Anlass zu Zweifeln an der wissenschaftlichen Eignung der ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung sieht, obwohl die Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission, „ZEKO“) in einer Stellungnahme den Altersfeststellungsverfahren mangels Geeignetheit die Verhältnismäßigkeit abspricht.23 Noch vor Inkrafttreten des § 42f SGB VIII hat sich Anne Klein in einem Aufsatz mit der Verfassungskonformität von Verfahren zur Altersschätzung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern im Rahmen von § 49 Abs. 6 AufenthG auseinandergesetzt. Sie kam zum Ergebnis, dass § 49 Abs. 6 AufenthG keine taugliche Rechtsgrundlage für radiologische Untersuchungen darstellt. Altersschätzungen zur Einstufung der Minderjährigkeit seien außerdem aufgrund eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, insbesondere da die Röntgendiagnostik zu unzuverlässig und potenziell gesundheitsschädlich sei.24 19

Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167, 1172. Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 47. 21 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 56. 22 Neundorf, ZAR 2018, 238, 246; ZAR 2016, 201, 206. 23 Gundelach, NVwZ 2018, 1849, 1851; vgl. auch ZEKO, DÄ 2016, A1726. 24 Klein, KJ 2015, 405, 420. 20

§ 3 Ziel und Gang der Untersuchung

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Zusammenfassend machen die vereinzelten Veröffentlichungen zum Thema Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern deutlich, dass insbesondere aus rechtlicher, aber auch ethischer Sicht erheblicher Diskussionsbedarf besteht.

§ 3 Ziel und Gang der Untersuchung Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, im Rahmen einer umfassenden Grundrechtsprüfung herauszuarbeiten, ob die Regelungen zur Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern im Sinne des § 42f SGB VIII verfassungskonform sind. Zunächst wird die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern dargestellt. Um einen vollständigen Überblick über die damit einhergehenden Fragestellungen zu gewährleisten, wird vorab das Verfahren der Inobhutnahme in Jugendämtern gemäß § 42 ff. SGB VIII erläutert. Schwerpunktmäßig wird hierbei auf die vorläufige Inobhutnahme im Sinne von § 42a SGB VIII eingegangen, in deren Rahmen die Altersfeststellung vorgenommen wird. In einem weiteren Schritt wird dann das System der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII erläutert. Dabei wird insbesondere auf die Funktionsweisen der medizinischen Untersuchungsmethoden und rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung eingegangen. Hierauf folgt als Kern der Arbeit eine ausführliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII. Im Zentrum dieser Prüfung wird die vielfach umstrittene medizinische Altersfeststellung stehen. Hierbei sollen insbesondere auch die medizinischen Problemfelder des Themas vollumfänglich Beachtung finden. Zusätzlich soll unter Berücksichtigung von rechtlichen, sozialethischen und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten auch die Zweckmäßigkeit der Vorschriften untersucht werden. In einem weiteren Schritt soll außerdem auf den europarechtlichen Kontext der Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern eingegangen werden. Dazu sollen zunächst die unionsrechtlichen Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU herausgearbeitet werden, um anschließend zu prüfen, inwieweit der nationale Gesetzgeber diese bei Einführung von § 42f SGB VIII umgesetzt hat. Zusätzlich wird die Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung mit der europäischen Grundrechte-Charta überprüft. In einem weiteren Punkt findet eine Wertung des Verfahrens der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) statt.

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Kap. 1: Einleitung

Abschließend werden die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammengefasst dargestellt. Dabei werden Handlungsempfehlungen und Verbesserungsvorschläge de lege ferenda zur aktuellen Rechtslage um die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII erarbeitet und gegeben.

Kapitel 2

Das Verfahren der Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer gemäß §§ 42a ff. SGB VIII – Einfachgesetzliche Lage und Rechtspraxis § 1 Das Verfahren der Inobhutnahme bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern gemäß §§ 42 ff. SGB VIII Das Verfahren der Inobhutnahme bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern knüpft unmittelbar an die allgemein in § 42 SGB VIII geregelte Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen an. Es steht damit zunächst nicht zwingend mit der Herkunft des Betroffenen in Zusammenhang. Kern der Regelung ist die Befugnis des Jugendamts, den Minderjährigen in einer geeigneten Einrichtung oder einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen (§ 42 Abs. 1 S. 2 SGB VIII). Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen zählt sowohl nach dem Wortlaut der Überschrift des Dritten Kapitels des Achten Buches Sozialgesetzbuch als auch gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII zu den sogenannten „anderen Aufgaben“ der Jugendhilfe. Es handelt sich dabei nicht um Sozialleistungen im Sinne von § 11 SGB I, sondern um Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche zu ihrem Wohl vor Gefahren schützen sollen.1 Eine Berechtigung und Verpflichtung des Jugendamts, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, besteht gemäß § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII, wenn der Minderjährige um Obhut bittet. Gleiches gilt gemäß § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und entweder die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Handelt es sich bei dem Betroffenen um einen unbegleiteten, minderjährigen Ausländer, richtet sich die Befugnis und Verpflichtung des Jugendamts zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII. Mit der Einführung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder 1 Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 2 SGB VIII Rn. 5; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 16; BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 10; vgl. auch Mrozynski, in: Mrozynski, SGB I, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, § 11 SGB I Rn. 12.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

und Jugendlicher im Jahr 2015 wird in diesem Fall allerdings das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme gemäß §§ 42a ff. SGB VIII vorgeschaltet. Hierbei sollen in erster Linie bereits vorab die meisten Voraussetzungen für eine Inobhutnahme des Betroffenen geprüft werden sowie eine ausgeglichene bundesweite Verteilung der minderjährigen Ausländer erreicht werden.2

A. Personale Tatbestandvoraussetzungen gemäß § 42a Abs. 1 SGB VIII Die vorläufige Inobhutnahme, deren Voraussetzungen primär in § 42a Abs. 1 SGB VIII geregelt sind, verlangt die Feststellung der unbegleiteten Einreise eines ausländischen Kindes oder ausländischen Jugendlichen. Die im Folgenden erläuterten Tatbestandsmerkmale müssen von jeder Person, die eine vorläufige Inobhutnahme durch das Jugendamt in Anspruch nehmen möchte, erfüllt werden. I. Das Tatbestandsmerkmal „ausländische Person“ Sowohl in § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII als auch in § 42a Abs. 1 SGB VIII findet sich die pauschale Bezeichnung „ausländisch“. Der Gesetzgeber hat die Inobhutnahme damit nicht an einen bestimmten Aufenthaltsstatus, sondern an die Staatsangehörigkeit geknüpft.3 Dies ist insofern sinnvoll, als im Zeitpunkt der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII in der Regel noch kein Asylantrag gestellt sein dürfte und ein Aufenthaltsstatus erst ermittelt werden muss. Da die vorläufige Inobhutnahme im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 eingeführt worden ist, wird im allgemeinen Sprachgebrauch häufig auch von unbegleiteten, minderjährigen „Flüchtlingen“, „Asylbewerbern“ oder „Asylberechtigten“ gesprochen.4 Die Begriffe werden dabei teilweise synonym verwendet. Aus juristischer Sicht muss hier allerdings differenziert werden, da an die verschiedenen Begriffe unterschiedliche Voraussetzungen und Rechtsfolgen geknüpft werden. Um hier Klarheit zu schaffen, werden die verschiedenen Begriffe im Folgenden kurz erläutert.

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BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 23. Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 5; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 42a SGB VIII Rn. 1a. 4 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 116. 3

§ 1 Das Verfahren der Inobhutnahme

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1. Ausländer Unter den Ausländerbegriff fällt nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 AufenthG jeder, der nicht Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ist, also nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Damit können grundsätzlich auch Unionsbürger aus anderen Mitgliedsstaaten unbegleitete minderjährige Ausländer sein und die vorläufige Inobhutnahme in Anspruch nehmen oder von Amts wegen aufgenommen werden, auch wenn dies in der Praxis nur in Ausnahmefällen vorkommen dürfte.5 2. Asylsuchender und Asylbewerber Die Begriffe des Asylsuchenden oder des Asylbewerbers werden in der rechtlichen Literatur nicht näher definiert. In § 55 AsylG verwendet der Gesetzgeber die Formulierung „Ausländer, der um Asyl nachsucht“, ohne dabei den Begriff des Asylbewerbers zu gebrauchen. Es handelt sich dabei in erster Linie um einen Ausländer, der in Deutschland einen Asylantrag stellen möchte oder bereits gestellt hat, über den noch nicht durch die zuständige Behörde abschließend entschieden worden ist. Ein formaler Asylantrag liegt nach der Legaldefinition des § 13 Abs. 1 AsylG erst dann vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs.1 AsylG droht. Der Asylantrag selbst knüpft damit dem Wortlaut nach noch nicht an einen bestimmten begehrten Schutzstatus an.6 Aus einem Asylbewerber kann aus rechtlicher Sicht somit sowohl ein anerkannter Asylberechtigter als auch ein Flüchtling werden. Der Status als Asylbewerber ist in erster Linie mit Blick auf den Aufenthaltsstatus und die daran anknüpfenden Rechte bedeutsam. So erhält der Asylbewerber gemäß § 55 Abs. 1 AsylG eine Aufenthaltsgestattung, sobald er bei einer Grenzbehörde, Polizei, Ausländerbehörde oder jeder anderen sachnahen Behörde im Sinne des § 13 AsylG Asyl begehrt hat.7 Aus § 55 Abs. 2 AsylG ergibt sich, dass die Aufenthaltsgestattung keinen eigenen Aufenthaltstitel darstellt, sondern lediglich vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit. Die bloße Aufenthaltsgestattung gibt außerdem

5 Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, 2. Fassung 2017, S. 9, http://www.bagljae.de/con tent/empfehlungen/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 6 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 13 AsylG Rn. 3; Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 13 AsylG Rn. 6. 7 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 55 AsylG Rn. 6; Neundorf, in: BeckOK Ausländerrecht, § 55 AsylG Rn. 7.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

gemäß § 55 Abs. 1 S. 2 AsylG keinen Anspruch auf einen bestimmten Aufenthaltsort. Es handelt sich lediglich um einen Übergangsstatus.8 3. Anerkannter Asylberechtigter Wird ein Asylbewerber in einem von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durchgeführten Asylverfahren als politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG anerkannt, bezeichnet man ihn als sogenannten anerkannten Asylberechtigten.9 Der Begriff der politischen Verfolgung ist dabei nicht definiert, um das Asylrecht nicht zu eng zu fassen oder auf einen bestimmten Personenkreis zu beschränken.10 Allgemein wird vorausgesetzt, dass der Ausländer aus politischen Gründen in seinem Heimatland Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit ausgesetzt ist.11 4. Flüchtling Ein Flüchtling ist im Gegensatz zum anerkannten Asylberechtigten ein Ausländer, der entweder die Voraussetzungen der Anerkennung als Asylberechtigter nicht erfüllt oder nicht beantragt hat, dafür aber die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG aufweist.12 Trotz der häufig anzutreffenden Verwendung der Begrifflichkeit „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ muss ein Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4 AsylG aufweisen, um nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII beim Jugendamt in Obhut genommen werden zu können.13 Der Wortlaut der §§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 42a Abs. 1 SGB VIII knüpft lediglich an die Eigenschaft „ausländisch“ an. Die vorläufige Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Ausländer steht damit nicht notwendig im Zusammenhang mit einem Asylverfahren, wobei dies in der Praxis der Regelfall sein dürfte. 5. Subsidiär Schutzberechtigter Der Vollständigkeit halber wird an dieser Stelle noch die subsidiäre Schutzberechtigung als dritter möglicher Schutzstatus erläutert. Subsidiär schutzberechtigt ist gemäß § 4 Abs. 1 AsylG ein Ausländer, der stichhaltige Gründe für die Annahme 8

Neundorf, in: BeckOK Ausländerrecht, § 55 AsylG Rn. 18 f. Maaßen/Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 25 AufenthG Rn. 6. 10 BVerfG, Beschl. v. 04. 02. 1959, 1 BvR 193/57, NJW 1959, 763, 764; Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Art. 16a GG Rn. 6; Maaßen, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 16a GG Rn. 12. 11 BVerfG, Beschl. v. 02. 07. 1980, 1 BvR 147, 181, 182/80; NJW 1980, 2641, 2642. 12 Maaßen/Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 25 AufenthG Rn. 21 ff. 13 OVG Bremen, Urt. v. 22. 02. 2016 – 1 B 303/15 Rn. 9; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 94.3. 9

§ 1 Das Verfahren der Inobhutnahme

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vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Relevanz besitzt dieser Schutzstatus für schwere Menschenrechtsverletzungen, die unterhalb der Schwelle von politischer Verfolgung im Sinne von Art. 16a GG liegen.14 Allerdings ist dieses Aufenthaltsrecht ohne Verlängerung gemäß § 26 Abs. 1 S. 3 AufenthG auf ein Jahr begrenzt. 6. Bedeutung des Aufenthaltsstatus des ausländischen Minderjährigen Für die Voraussetzungen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII spielt der konkrete Aufenthaltsstatus des Ausländers keine Rolle.15 Dies ergibt sich bereits systematisch aus § 42 Abs. 2 S. 5 SGB VIII, wonach das Jugendamt erst nach der vorläufigen Inobhutnahme verpflichtet ist, einen Asylantrag für den ausländischen Minderjährigen zu stellen. Aufgrund der Primärzuständigkeit des Jugendamts bei der Einreise eines unbegleiteten, minderjährigen Ausländers16 ist dies zum Zeitpunkt der vorläufigen Inobhutnahme regelmäßig noch nicht geschehen. Es entspricht aufgrund dieser Primärzuständigkeit der gesetzgeberischen Intention, dass die Inobhutnahme durch das Jugendamt nicht an den Aufenthaltsstatus des Betroffenen anknüpft. Das Jugendamt soll minderjährige Ausländer vielmehr bei der Klärung des Aufenthaltsstatus unterstützen. Dies ist aus Kindeswohlgesichtspunkten auch zweckmäßig. Für die Inobhutnahme kommt es insofern lediglich darauf an, dass es sich bei dem Betroffenen um einen Nicht-Deutschen im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG handelt. Dies ist in der Regel unproblematisch festzustellen. II. Das Tatbestandsmerkmal „Minderjährigkeit“ – Kinder und Jugendliche Bei dem Ausländer muss es sich außerdem um ein Kind oder einen Jugendlichen handeln, da nur diese Personengruppe gemäß § 42a Abs. 1 SGB VIII vorläufig in Obhut genommen werden kann. Diese Begriffe sind in § 7 Abs. 1 SGB VIII legaldefiniert. Kind ist gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII, wer noch nicht 14 Jahre alt ist. Jugendlicher ist gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Maßstab der Altersgrenze ist damit das deutsche Recht und nicht das Recht des Herkunftslands.17

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Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 4. Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 SGB VIII Rn. 5.Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 20. 16 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 19. 17 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 11. 15

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Die Prüfung dieses Tatbestandsmerkmals stellt sich in der Praxis als besonders problematisch dar, da viele Ausländer keine offiziellen Dokumente, die eine zuverlässige Identifikation zulassen würde, mit sich führen. In solchen Fällen kommt regelmäßig das Verfahren zur Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII zur Anwendung, da das Alter sonst nicht ohne Weiteres feststellbar ist. Gleichzeitig trägt das Jugendamt aber die Verantwortung dafür, dass ausschließlich minderjährige Ausländer aufgenommen werden. Die Inobhutnahme Volljähriger ist rechtswidrig.18 Bei volljährigen Ausländern ist lediglich eine Inobhutnahme nach den Polizeibzw. Unterbringungsgesetzen der Länder möglich.19 Das Jugendamt ist dann nicht zuständig. III. Das Tatbestandsmerkmal „Unbegleitet“ Weitere Voraussetzung der Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII ist, dass der minderjährige Ausländer unbegleitet ist. In § 42a Abs. 1 S. 2 SGB VIII ist legaldefiniert, dass ein ausländisches Kind oder Jugendlicher grundsätzlich dann als unbegleitet zu betrachten ist, wenn die Einreise nicht in Begleitung eines Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten erfolgt. Eine sonstige Familienangehörigkeit oder Verwandtschaft reicht nicht aus.20 Unklar bleibt aber, welche Anforderungen an dieses Tatbestandsmerkmal in besonderen Einzelfällen gestellt werden müssen. Fraglich ist insbesondere, wie sich der Aufenthalt eines Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten im Inland auf das Unbegleitet-Sein auswirkt, da § 42a Abs. 1 S. 2 SGB VIII dem Wortlaut nach auf die Einreise abstellt. Die reguläre Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII im Anschluss an die vorläufige Inobhutnahme setzt die Abwesenheit von Personensorge- und Erziehungsberechtigten im Inland – anders als bei der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII – als eigene Tatbestandsvoraussetzung voraus. Dafür, dass dieser Zusatz nicht lediglich der Klarstellung dient, spricht auch § 42 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII. Nach dieser Vorschrift hat das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme unter anderem zu prüfen, ob sich eine mit dem Kind oder Jugendlichen verwandte Person im Inland befindet. Dies inkludiert auch die Prüfung, ob sich bereits ein Personensorge- oder Erziehungsberechtigter im

18 BVerwG, Urt. v. 26. 04. 2018 – 5 C 11/17, juris-Rn. 28; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 47.1; Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 42 SGB VIII Rn. 16a. 19 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 47; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 42 SGB VIII Rn. 1. 20 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 46; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 21.

§ 1 Das Verfahren der Inobhutnahme

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Inland aufhält.21 Aus Systematik und Wortlaut des Gesetzes ergibt sich in der Folge, dass der Aufenthalt einer personensorge- oder erziehungsberechtigten Person erst im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme geprüft werden soll. Ein solcher Aufenthalt hat damit keine Auswirkung auf das Unbegleitet-Sein.22 In der Praxis dürfte es für das Jugendamt schwierig sein, nach erfolgter Einreise noch festzustellen, ob der Minderjährige tatsächlich unbegleitet eingereist ist, wenn er nicht gerade bei der Einreise von der Polizei aufgegriffen worden ist. Denkbar sind Konstellationen, in denen Eltern oder andere Personensorgeberechtigte sich unmittelbar nach der Einreise bewusst von einem Minderjährigen trennen, um ihm bessere Lebensbedingungen durch eine Inobhutnahme durch das Jugendamt zu ermöglichen.

B. Die Verfahrensschritte der Inobhutnahme im Einzelnen Das Verfahren der Inobhutnahme kann in verschiedene Abschnitte unterteilt werden. Es beginnt mit der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII, an die sich das Verteilungsverfahren gemäß § 42b SGB VIII anschließt. Wurde das Verteilungsverfahren erfolgreich abgeschlossen, wird der minderjährige Ausländer von dem ermittelten, künftig zuständigen Jugendamt anschließend nach § 42 SGB VIII in Obhut genommen. Hier wird dann für eine Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform gesorgt. In diesem Stadium erfolgt dann regelmäßig auch die unverzügliche Stellung des Asylantrags gemäß § 42 Abs. 2 S. 5 SGB VIII. I. Vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII Zunächst muss der minderjährige Ausländer gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen werden. Dieser Schritt ist aufgrund der umfangreichen Prüfungserfordernisse des Jugendamts sehr aufwendig. Im Folgenden werden zunächst Sinn und Zweck sowie Ablauf der vorläufigen Inobhutnahme dargestellt, um anschließend ausgewählte Problemfelder zu erläutern. 1. Sinn und Zweck der vorläufigen Inobhutnahme Die vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII ist erst im Rahmen des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung auslän21

Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 6. 22 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 40 ff.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

discher Kinder und Jugendlicher im Jahr 2015 eingeführt worden.23 Sie ist der regulären Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII vorgeschaltet und soll verschiedenen Zwecken dienen. Zum einen soll die vorläufige Inobhutnahme das Kindeswohl sicherstellen.24 Denn unbegleitete minderjährige Ausländer reisen ohne Erziehungsberechtigte und in der Regel auch ohne finanzielle Mittel und Wohnmöglichkeiten nach Deutschland ein. Sie sind dadurch in erhöhtem Maße Gefahren wie Obdachlosigkeit und Kriminalität ausgesetzt. Die vorläufige Inobhutnahme soll hier als zeitlich begrenzte Schutzmaßnahme zur Beseitigung einer akuten Notlage dienen.25 Dies könnte zwar auch durch die dem Wesen nach vergleichbare reguläre Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII gewährleistet werden. Der Gesetzgeber hat mit der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII aber zusätzlich eine bessere Verteilung der Betroffenen in Deutschland bezweckt. Dies ergibt sich aus dem neu eingeführten Verteilungsverfahren nach § 42b SGB VIII.26 Vor Einführung des Gesetzes zur Verbesserung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher hatte sich als besonderes Problem der verstärkten Einreise unbegleiteter minderjähriger Ausländer die örtliche Zuständigkeit von Jugendämtern nach § 87 SGB VIII herausgestellt.27 Danach ist für die Inobhutnahme eines Minderjährigen nach § 42 SGB VIII der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält. Im Fall von unbegleitet einreisenden minderjährigen Ausländern waren daher regelmäßig Jugendämter an bestimmten Knotenpunkten in Grenzgebieten zur Aufnahme nach § 42 SGB VIII zuständig. Dies führte zu einer Überlastung der Aufnahmekapazitäten dieser Jugendämter, sodass eine Unterbringung und Betreuung der Minderjährigen nach § 42 SGB VIII nicht mehr gewährleistet werden konnte.28 Ein ausreichender Schutz des Kindeswohls konnte dadurch nicht mehr sichergestellt werden. Das Verteilungsverfahren ist damit lediglich Mittel zum Zweck der Sicherung des Kindeswohls der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer.29 23

Vgl. BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 23. Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 6; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 17; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 2. 25 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 23; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 21. 26 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 2 f. 27 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 16. 28 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 4; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 18; BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 16. 29 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 23; Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder24

§ 1 Das Verfahren der Inobhutnahme

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Zur Lösung dieses Problems wurde mit § 42b SGB VIII ein Verfahren zur deutschlandweiten Verteilung der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer eingeführt. Ermöglicht wurden damit eine bedarfsgerechte Versorgung und Betreuung der Minderjährigen. Zusätzlich konnten dadurch ehemals überlastete Kommunen auf Dauer entlastet werden. Diesem Verfahren wurde die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII vorgeschaltet, um vor Durchführung der aufwandsintensiven bundesweiten Verteilung die grundsätzlichen Voraussetzungen einer Inobhutnahme vorab prüfen zu können.30 Der Gesetzgeber behielt hier bewusst die Primärzuständigkeit des Jugendamts in der Jugend- und Kinderhilfe bei, um der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Personengruppe gerecht zu werden.31 Dies könnte bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber nicht ausreichend gewährleistet werden. Die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII dient zusammenfassend der Ermöglichung des Verteilungsverfahrens gemäß § 42b SGB VIII und somit mittelbar dem Schutz vor einer Überlastung der Jugendämter an den Außengrenzbereichen Deutschlands und dem Schutz des Kindeswohls. 2. Erstscreening gemäß § 42a Abs. 1, Abs. 2 SGB VIII Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII findet zunächst ein sogenanntes Erstscreening der Situation des unbegleiteten, minderjährigen Ausländers statt. Gemäß § 42a Abs. 2 S. 2 SGB VIII sind die Ergebnisse dieses Erstscreenings die Grundlage für die Entscheidung des Jugendamts über die Durchführung des Verteilungsverfahrens nach § 42b SGB VIII. Die Durchführung eines Verteilungsverfahrens ist damit nicht in jedem Fall zwingend. Ausschlaggebend ist, ob die Durchführung des Verteilungsverfahrens zu einer Kindeswohlgefährdung führen könnte.32 Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass die Sicherung des Kindeswohls das oberste Gebot bei der Inobhutnahme nach den §§ 42 ff. SGB VIII darstellt. Gegenstand der Entscheidung des Jugendamts ist nur das „Ob“ der Durchführung des Verteilungsverfahrens. Ein zwingender Ausschluss des Verteilungsverfahrens ergibt sich aus § 42b Abs. 4 SGB VIII, der insofern § 42a Abs. 2 S. 2 SGB VIII ergänzt. § 42a Abs. 2 S. 2 SGB VIII regelt weder die Beendigung der

und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 2; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 18. 30 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 16; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 19. 31 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 19. 32 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 11; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 72; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 12.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

vorläufigen Inobhutnahme noch besteht ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII. Nach § 42a Abs. 2 S. 1 SGB VIII hat das Jugendamt hierbei verschiedene Aspekte zu prüfen, um bei der Verteilung der einzelnen Ausländer ihrer individuellen Situation gerecht zu werden. So muss gemäß § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB VIII eingeschätzt werden, ob das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen durch die Durchführung des Verteilungsverfahrens gefährdet werden könnte. Damit soll vorrangig dem Kindeswohl Rechnung getragen werden, da das Verteilungsverfahren mit einer physischen oder psychischen Belastung für den Minderjährigen verbunden sein kann. Die Durchführung des Verteilungsverfahren kann danach beispielsweise ausgeschlossen sein, wenn die Transportfähigkeit eines Ausländers aus physischen oder psychischen Gründen so stark beeinträchtigt ist, dass erhebliche gesundheitliche Schäden durch die Umverteilung zu erwarten wären.33 Es handelt sich bei § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB VIII um eine Generalklausel, da die weiteren Prüfungspunkte im Ergebnis ebenfalls auf die Prüfung einer Kindeswohlgefährdung abzielen. Nach § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB VIII hat das Jugendamt weiterhin zu prüfen, ob sich eine mit dem Kind oder dem Jugendlichen verwandte Person im Inland oder Ausland aufhält. Damit soll bereits in einer frühen Phase des Verfahrens die Möglichkeit einer Familienzusammenführung überprüft werden.34 Dies wird insbesondere bei Ausländern, die im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan eingereist sind, nur selten der Fall sein. Zusätzlich dürfte sich der Nachforschungsprozess an sich schwierig gestalten, falls der Ausländer keine Ausweispapiere bei sich hat und somit Zweifel über die Identität bestehen. Regelmäßig sind die personellen Kapazitäten der Jugendämter mit der Durchführung ernsthafter, eigener Nachforschungen überfordert.35 Andererseits sind nach der Gesetzesbegründung36 auch keine vertieften Recherchen erforderlich, da für die Dauer des Erstscreenings nach § 42a Abs. 4 S. 1 SGB VIII nur sieben Werktage vorgesehen sind.37 Gemäß § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VIII muss außerdem festgestellt werden, ob das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen eine gemeinsame Inobhutnahme mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen 33

BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 23. BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 23 f. 35 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 34. 36 Es handelt sich hierbei um die Begründung des Gesetzesentwurfs, die in der überwiegenden Literatur allerdings schlicht als Gesetzesbegründung bezeichnet wird. Der Einfachheit halber wird dieser Terminus im Rahmen dieser Arbeit übernommen. 37 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24; Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 12; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 75. 34

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erfordert. Geschwister sind dabei zwingend gemeinsam in Obhut zu nehmen.38 Dadurch dürfte ebenfalls dem Kindeswohlgedanken Rechnung getragen werden, da hier in der Regel eine emotionale Bindung besteht und eine Trennung eine Belastung darstellen würde.39 Auch aus behördlicher Sicht dürfte die gemeinsame Behandlung sinnvoll sein, da bestimmte Prüfungspunkte des Erstscreenings dann nur einmal geprüft werden müssen, wie beispielsweise die Suche nach Personensorge- und Erziehungsberechtigten im Inland. Bei weniger eng oder nicht verwandten Kindern oder Jugendlichen muss eine besondere soziale Bindung festgestellt werden, die aus Gründen des Kindeswohls eine gemeinsame Inobhutnahme erfordert.40 Hier dürften Kinder bzw. Jugendliche gemeint sein, die eine ähnlich enge Bindung wie Geschwister aufweisen. Denkbar wäre eine gemeinsame Kindheit der Betroffenen oder die gemeinsame Fluchtreise.41 Schließlich muss nach § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB VIII geprüft werden, ob der Gesundheitszustand des Kindes oder des Jugendlichen die Durchführung des Verteilungsverfahrens innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme ausschließt. Hierzu soll nach der Gesetzesbegründung in der Regel eine ärztliche Stellungnahme eingeholt werden.42 Die Notwendigkeit der medizinischen Versorgung von minderjährigen Geflüchteten ergibt sich bereits aus Art. 24 KRK, wonach die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit anerkannt haben (vgl. S. 270 f.).43 Die Überprüfung des Gesundheitszustands des betroffenen Ausländers ist in der Praxis auch äußerst relevant: Eine Untersuchung von 100 geflüchteten minderjährigen Ausländern in einer Münchner Erstaufnahmeeinrichtung hat ergeben, dass 80 % von ihnen unter somatischen Krankheiten wie Atemwegsinfektionen litten, während 40 % psychische Beschwerden aufwiesen. 10 % der Betroffenen litten außerdem unter infektiösen bzw. parasitären Erkrankungen.44 Durch das ärztliche Gutachten soll damit auch eine Gefährdung Dritter durch ansteckende Krankheiten verhindert werden. Bei Vorliegen eines Krankheitsfalles soll daher die ärztliche Stellungnahme auch eine Aussage über die voraussichtliche Dauer einer Ansteckungsgefahr enthalten.45 Grund hinter dieser Vorkehrung sind die schlechten medizinischen Bedingungen in den Her38

BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24. Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 35; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 79. 40 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24. 41 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 36; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 80. 42 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24. 43 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 37. 44 Pfeil/Kobbe/Trapp/Kitz/Hufnagel, Internist 2016, 416. 45 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24. 39

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

kunftsländern der von der Flüchtlingskrise betroffenen Minderjährigen. Insbesondere Impfungen und ähnliche präventive Behandlungsmaßnahmen gehören in diesen Ländern nicht zum Standard. Selbst Kinder mit Impfdokumenten weisen häufig einen unvollständigen Impfstatus auf.46 Es muss daher die Ausbreitung von Krankheiten vermieden werden, um Epidemien zu verhindern. In das Stadium der vorläufigen Inobhutnahme fällt außerdem das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII (vgl. dazu S. 52 ff.).47 3. Vertretungsbefugnisse des Jugendamts, § 42a Abs. 3 SGB VIII Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme stellen sich nicht nur Probleme tatsächlicher, sondern auch rechtlicher Natur. Dies betrifft unter anderem die ordnungsgemäße Vertretung der Ausländer bei Rechtshandlungen. Die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII steht nur minderjährigen Ausländern offen (vgl. S. 27). Diese sind allerdings gemäß §§ 104, 106 BGB gar nicht oder nur beschränkt geschäftsfähig. Gleiches gilt für die Prozessfähigkeit nach § 51 Abs. 1 ZPO bzw. § 62 VwGO, die an die Geschäftsfähigkeit anknüpft. In diesem Stadium ist allerdings regelmäßig noch kein Vormund oder Pfleger für den Minderjährigen bestellt, der die Vertretung nach § 1793 Abs. 1 S. 1 BGB bzw. gemäß § 1688 Abs. 1 BGB übernehmen könnte. Es stellt sich daher die Frage nach einer wirksamen Vertretung bei Rechtshandlungen. In § 42a Abs. 3 SGB VIII ist geregelt, dass das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet ist, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen notwendig sind. Das Kind bzw. der Jugendliche sind nach Satz 2 dabei zu beteiligen. Außerdem soll der mutmaßliche Wille von Personen- oder Erziehungsberechtigten angemessen berücksichtigt werden. Aufgabe der Jugendämter ist es dabei insbesondere, dringliche Maßnahmen zur rechtlichen Aufenthaltssicherung des Minderjährigen zu treffen.48 Zu klären ist zunächst, wann eine Rechtshandlung notwendig im Sinne von § 42a Abs. 3 S. 1 SGB VIII ist. Dies ist nach den Umständen des Einzelfalls zu ermitteln. Allgemein wird damit von der Vertretungsbefugnis alles erfasst, was zur Erfüllung der Aufgaben im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme erforderlich ist und unaufschiebbar ist.49 Notwendig kann beispielsweise auch der vorläufige Rechts46

Pfeil/Kobbe/Trapp/Kitz/Hufnagel, Internist 2016, 416. Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 83; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 12. 48 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 18. 49 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42a SGB VIII Rn. 43; Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinderund Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 16; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 94. 47

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schutzantrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Entscheidung zur Aufhebung der vorläufigen Inobhutnahme sein. Dies betrifft vor allem Fälle, in denen das Jugendamt die Volljährigkeit des Ausländers festgestellt hat. Auch ein gerichtliches Vorgehen gegen eine Verteilungsentscheidung des Jugendamts kann die Notwendigkeit einer Rechtshandlung begründen.50 a) Interessenkonflikt des Jugendamts Mit der Vertretung durch das Jugendamt kann allerdings ein Interessenkonflikt entstehen. Denn das Jugendamt muss neben der Vertretung gleichzeitig als zuständige Behörde Entscheidungen über das weitere Schicksal des Minderjährigen fällen. Darunter fallen beispielsweise das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII, die Durchführung des Verteilungsverfahrens nach § 42b SGB VIII und die Gewährung von Leistungen. Das Jugendamt könnte ein gewisses finanzielles Interesse haben, möglichst zügig ein Verteilungsverfahren durchzuführen oder die Volljährigkeit festzustellen. Es besteht damit zumindest theoretisch die Gefahr, dass die Interessen der Minderjährigen vernachlässigt werden. Zur Lösung dieses Interessenkonflikts wird in der Gesetzesbegründung daher eine personelle und organisatorische Trennung der Aufgabenerfüllung zwischen vorläufiger Inobhutnahme und Wahrnehmung der Notvertretung gefordert.51 Nach der herrschenden Meinung sollen beispielsweise Mitarbeiter des für die Altersfeststellung zuständigen Referats gehindert sein, für den Betroffenen eine Einwilligung nach § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII zu erteilen. Diese Aufgabe soll vielmehr von Personen wahrgenommen werden, die im Jugendamt für Amtsvormundschaften zuständig sind.52 b) Gerichtliche Durchsetzung der Inobhutnahme Rechtliche Probleme ergeben sich im Zusammenhang mit der Prozessfähigkeit eines tatsächlich Minderjährigen, wenn das Jugendamt fehlerhaft von Volljährigkeit ausgeht, die vorläufige Inobhutnahme beendet und der Minderjährige Rechtsmittel gegen diese Entscheidung einlegen möchte. Eine Vertretung des Minderjährigen ist für diesen Fall nicht gesetzlich geregelt. Die Vertretungsbefugnis des Jugendamts nach § 42a Abs. 3 SGB VIII ist in diesen 50

Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 16. 51 BT-Drs. 18/5921, S. 24; vgl. auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 98; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 18; Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, NK. 2015, § 42 f SGB VIII N 11. 52 OVG Bremen, Urt. v. 04. 06. 2018 – 1 B 53/18, juris-Rn. 33; Kirchhoff, in: Schlegel/ Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 98.1; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 18.

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Fällen dem Wortlaut und der Systematik nach nicht anwendbar, da die vorläufige Inobhutnahme dann bereits beendet ist. In § 42a Abs. 3 SGB VIII wird lediglich eine Vertretungsbefugnis und -verpflichtung des Jugendamts während der vorläufigen Inobhutnahme normiert.53 § 42f Abs. 3 SGB VIII bestimmt zudem ausdrücklich, dass Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII oder die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung haben. Eine Vertretung des Ausländers nach der Beendigung der Inobhutnahme erscheint zunächst auch nicht zwingend nötig, da ein Volljähriger – nur dann kann die Inobhutnahme abgelehnt oder beendet werden – keiner gesetzlichen Vertretung bedarf. Wenn das Jugendamt die Volljährigkeit des Betroffenen allerdings fehlerhaft angenommen hat, bleibt es ohne eine gesetzliche Fiktionswirkung oder anderweitig normierte Bindungswirkung der Entscheidung des Jugendamtes für die Gerichte bei der tatsächlichen Minderjährigkeit des Betroffenen. Diese müsste der Minderjährige im Rahmen einer Klage auf Durchführung der (vorläufigen) Inobhutnahme inzident geltend machen. Eine solche Klage des Minderjährigen wäre allerdings wegen fehlender Prozessfähigkeit unzulässig, da er als zumindest beschränkt Geschäftsfähiger eine Vertretung benötigen würde. aa) Partielle Prozessfähigkeit nach § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I In der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte wird die Prozessfähigkeit des Minderjährigen in diesen Fällen teilweise über § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I hergeleitet.54 Gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist in eigenen Sachen prozessfähig, wer durch Vorschriften des bürgerlichen oder des öffentlichen Rechts für den Gegenstand des Verfahrens als geschäftsfähig anerkannt wird. Nach § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I kann in diesem Sinne Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen, wer das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hat. Die Rechtsprechung leitet über diese Vorschriften eine partielle Geschäftsfähigkeit von Ausländern her, die zumindest unzweifelhaft mindestens 15 Jahre alt sind. Einige Gerichte55 vertreten dabei die Auffassung, dass es sich bei der Inobhutnahme um eine Sozialleistung nach § 11 SGB I handle, da es dem klagenden Minderjährigen um mit der Inobhutnahme verbundene Begünstigungen gehe. 53 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 16. 54 OVG Bremen, Beschl. v. 18. 11. 2015 – 2 B 221/15, NVwZ 2016, 1188, Rn. 11; OVG Hamburg, Beschl. v. 14. 02. 2011 – 4 Bs 282/10, juris-Rn. 11; OVG Hamburg, Beschl. v. 23. 12. 2010 – 4 Bs 243/10, juris-Rn. 23; NordÖR 2011, 454. 55 OVG Bremen, Beschl. v. 18. 11. 2015 – 2 B 221/15, NVwZ 2016, 1188, Rn. 11; OVG Hamburg, Beschl. v. 14. 02. 2011 – 4 Bs 282/10, juris-Rn. 12; OVG Hamburg, Beschl. v. 23. 12. 2010 – 4 Bs 243/10, juris-Rn. 26, NordÖR 2011, 454.

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Dies überzeugt allerdings nicht. Nach der herrschenden Meinung56 handelt es sich bei der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII nicht um eine Sozialleistung (vgl. S. 23). Die Inobhutnahme ist weder im Leistungskatalog des § 27 Abs. 1 SGB I noch in der Aufzählung der Leistungen der Jugendhilfe in § 2 Abs. 2 SGB VIII enthalten. Stattdessen wird sie im Gesetz in § 2 Abs. 3 SGB VIII ausdrücklich unter der Kategorie der sonstigen Aufgaben der Jugendhilfe aufgeführt.57 Insbesondere weist die Inobhutnahme auch belastende Elemente auf, die unabhängig von der Gesetzessystematik gegen die Annahme einer Sozialleistung sprechen. Denn die Inobhutnahme berührt die Rechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Sorgeberechtigten. Letztendlich handelt es sich um eine hoheitliche Tätigkeit in Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts.58 Dass ein Minderjähriger durch die Inobhutnahme auch mittelbar begünstigt werden kann, ändert nichts an dieser Bewertung. Gegen eine Anwendung von § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I spricht in diesem Zusammenhang, dass die Norm keine Differenzierung nach dem subjektiven Anspruchsziel des Minderjährigen zulässt. Der Minderjährige wäre bei einer Qualifikation der Inobhutnahme als Sozialleistung im Sinne des § 11 SGB I auch als partiell prozessfähig anzusehen, wenn der Staat als Kläger oder Antragsteller Eingriffsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Inobhutnahme gegen den Minderjährigen durchsetzen wollen würde. Nach der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Bremen59 wird das Schutzinteresse des Minderjährigen in diesen Konstellationen zwar ausreichend gewürdigt, da § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I nicht die Befugnisse der gesetzlichen Vertreter völlig verdrängt, sondern diese neben der partiellen Handlungsfähigkeit des Minderjährigen bestehen bleiben. Diese Ansicht wird der Situation von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern allerdings nicht gerecht. Denn diese begehren die Inobhutnahme durch das Jugendamt gerade aus dem Grund, dass ihnen keine personensorge- und erziehungsberechtigten Personen als gesetzliche Vertreter zur Verfügung stehen, welche ihre Schutzinteressen wahren könnten. Solche Konstellationen entsprechen nicht dem Sinn und Zweck von § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I, der lediglich begünstigten Minderjährigen die selbstständige Inanspruchnahme von Sozialleistungen ohne Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters ermöglichen soll.60 56

BVerwG, Urt. v. 11. 07. 2013 – 5 C 24/12, NVwZ-RR 2013, 967, 968 Rn. 16; BT-Drs. 18/ 6392 v. 14. 10. 2015, S. 10; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 27; Winkler, in: Rolfs/Giesen/ Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 2 SGB VIII Rn. 5; vgl. auch Mrozynski, in: Mrozynski, SGB I, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, § 11 SGB I Rn. 12. 57 BVerwG, Urt. v. 11. 07. 2013 – 5 C 24/12, NVwZ-RR 2013, 967, 968 Rn. 17; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 27. 58 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 27. 59 OVG Bremen, Beschl. v. 18. 11. 2015 – 2 B 221/15, NVwZ 2016, 1188, Rn. 11. 60 Reyels, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 36 SGB I Rn. 11.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

bb) Fiktion der Volljährigkeit Man könnte zur Lösung des Problems die Volljährigkeit des Minderjährigen fingieren oder die Gerichte für die Frage der Prozessfähigkeit an Ergebnisse der Altersfeststellung des Jugendamts binden (vgl. zur Bindungswirkung der Altersfeststellung S. 123 ff.), sodass der Minderjährige zumindest zulässig gegen die Entscheidung des Jugendamts Rechtsbehelfe einlegen könnte. Allerdings ließe sich dies nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, insbesondere mit dem Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG vereinbaren. Denn der Gesetzgeber hat die fehlende Prozessfähigkeit von Minderjährigen nicht grundlos normiert. Sie dient gerade dem Schutz des jeweiligen Beteiligten vor nachteiligen Folgen unsachgemäßer Prozessführung.61 Insbesondere für minderjährige Ausländer dürfte es unzumutbar und im Ergebnis praktisch unmöglich sein, Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des Jugendamts zu nutzen, ohne dabei die Unterstützung von Volljährigen zu erhalten. Die Komplexität solcher Verfahren bereitet selbst juristischen Laien, die volljährig sind, teilweise große Probleme. Von einem Minderjährigen zu verlangen, seine Rechte selbstständig einzuklagen, wäre verfassungsrechtlich bedenklich und würde im Übrigen den Schutzgedanken der vorläufigen Inobhutnahme konterkarieren. In vielen Fällen mag dem minderjährigen Ausländer zwar eine kostenlose anwaltliche Beratung über Flüchtlingsberatungsstellen zur Verfügung stehen.62 Das ist aber nicht zwingend und kann nicht ohne Weiteres vom Gesetzgeber angenommen werden. cc) Analoge Anwendung von § 42a Abs. 3 SGB VIII Es bleibt damit die Frage, wie die gesetzlich nicht geregelte Vertretungsproblematik gelöst werden könnte. Neben einer Fiktion wäre die analoge Anwendung von § 42a Abs. 3 SGB VIII denkbar. Bei einer solchen Analogie würde sich die Vertretungsbefugnis und -verpflichtung des Jugendamts während der vorläufigen Inobhutnahme auf Rechtsbehelfsverfahren gegen die erfolgte Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42f Abs. 3 SGB VIII erstrecken. Voraussetzung der analogen Anwendung wäre das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage.63 Da der Gesetzgeber die Vertretung in dieser Konstellation nicht gesetzlich geregelt hat, der Sachverhalt allerdings aus rechtlicher und praktischer Sicht zwingend regelungsbedürftig ist, ist eine Regelungslücke gegeben. Es ist auch davon auszugehen, dass die Regelungslücke planwidrig ist.

61 Bier/Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch/Schneider, VwGO, § 62 VwGO (Stand: 39. EL 2021) Rn. 2. 62 Vgl. Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Flüchtlingsberatungsstellen, https: //www.igfm.de/fluechtlingsberatungsstellen/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 63 BGH, Urt. v. 13. März 2003 – I ZR 290/00, NJW 2003, 1932, 1933; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 194 ff.

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Fraglich ist einzig das Vorliegen einer vergleichbaren Interessenlage. Regelungszweck von § 42a Abs. 3 SGB VIII ist, dass dem Minderjährigen ein Vertreter zur Seite gestellt wird, der für ihn Rechtsgeschäfte wirksam abschließen kann, da ihm dies selbst als nicht Geschäftsfähigem noch nicht möglich ist.64 Ähnlich verhält es sich auch in der nicht geregelten Konstellation: Mittelbar durch seine fehlende Geschäftsfähigkeit bedingt ist es dem Minderjährigen nicht möglich, Rechtsbehelfe einzulegen. Einziger Unterschied zur geregelten Vertretungsbefugnis des Jugendamts ist, dass die vorläufige Inobhutnahme bereits beendet worden ist. Rechtsbehelfe gegen die Altersfeststellung durch das Jugendamt sind allerdings so eng mit dem Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII und damit mit der vorläufigen Inobhutnahme selbst verknüpft, dass von einer vergleichbaren Interessenlage im Ergebnis ausgegangen werden kann. Es bestünde damit Raum für eine analoge Anwendung des § 42a Abs. 3 SGB VIII auf Rechtsbehelfe im Sinne von § 42f Abs. 3 SGB VIII. Allerdings wäre damit immer noch nicht das Problem des Interessenkonflikts gelöst. Denn insbesondere bei Rechtsbehelfen gegen die Altersfeststellung durch das Jugendamt stellt sich die Problematik verschärft dar: Der Antragsgegner bzw. Beklagte soll gleichzeitig Vertreter des Antragsstellers bzw. des Klägers sein. Dies erscheint wenig hilfreich für den Minderjährigen. Es bestünde stets die Gefahr, dass das Jugendamt die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes gegen die eigene Entscheidung torpedieren könnte. dd) Ergänzungspflegschaft nach § 1909 BGB Interessenkonflikte bei gesetzlichen Vertretern sind dem Gesetzgeber nicht fremd. So hat der Gesetzgeber im Rahmen der Eltern-Kind-Vertretung nach § 1629 BGB für Interessenkonflikte verschiedene Lösungsmöglichkeiten vorgesehen. Diese Regelungskonzepte könnten sich auf die vorliegende Konstellation übertragen lassen. Eltern bedürfen beispielsweise der Genehmigung des Familiengerichts, wenn ein genehmigungspflichtiges Geschäft im Sinne von § 1643 Abs. 1 BGB vorliegt. Allerdings handelt es sich bei den genehmigungspflichtigen Geschäften insbesondere um solche, die das Vermögen des Minderjährigen betreffen. In der vorliegenden Konstellation würde die Genehmigung des Familiengerichts auch nicht weiterhelfen, da eine Vertretung für einen bestimmten Zeitraum benötigt wird. Passender ist daher die Vorschrift des § 1795 Abs. 1 Nr. 3 BGB. Danach kann ein Minderjähriger nicht von seinem Vormund vertreten werden, wenn ein Rechtsstreit zwischen seinem Ehegatten, seinem Lebenspartner oder einem seiner Verwandten in gerader Linie einerseits und dem Minderjährigen andererseits besteht. Die Vorschrift ist gemäß § 1629 Abs. 2 BGB auch bei der gesetzlichen Vertretung durch die Eltern des Minderjährigen anwendbar. In diesen Fällen besteht ein Interessenskonflikt zwi-

64 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 91.

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schen dem Vertreter und einer Partei des Prozesses. Als Rechtfolge ist daher die Bestellung eines Ergänzungspflegers gemäß § 1909 Abs. 1 BGB vorgesehen.65 Die Bestellung eines Ergänzungspflegers könnte auch auf die vorliegende Konstellation angewandt werden. Hier ist zwar kein gesetzlicher Vertreter im Sinne von § 1909 Abs. 1 BGB „verhindert“, sondern erst gar nicht vorhanden. Allerdings geht es auch bei Rechtsbehelfen gegen das Verfahren der Altersfeststellung nur um die Notwendigkeit der Vertretung in einer bestimmten Angelegenheit und nicht für einen größeren Zeitraum, wie es Sinn und Zweck von § 1909 BGB vorsehen.66 Entweder wird die Behörde beziehungsweise das Gericht die Rechtswidrigkeit der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme feststellen – dann ist § 42a Abs. 3 SGB VIII wieder unmittelbar anwendbar – oder aber die Entscheidung wird bestätigt, sodass einem tatsächlich Minderjährigen nach Rechtswegerschöpfung nur noch die Verfassungsbeschwerde als Rechtsbehelf bliebe. Die Bestellung eines Ergänzungspflegers müsste in der vorliegenden Konstellation daher dogmatisch begründet werden. In Betracht käme die unmittelbare Anwendbarkeit von § 1909 Abs. 1 S. 1 BGB. Dem Wortlaut nach erhält einen Pfleger, wer unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, für Angelegenheiten, an deren Besorgung die Eltern oder der Vormund verhindert sind. Der als volljährig eingestufte minderjährige Ausländer steht aber gerade nicht unter der elterlichen Sorge oder unter Vormundschaft, sodass § 1909 Abs. 1 S. 1 BGB nicht direkt anwendbar ist.67 In Betracht kommt stattdessen die Ersatzpflegschaft nach § 1909 Abs. 3 BGB. Danach ist die Pflegschaft auch dann anzuordnen, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung einer Vormundschaft vorliegen, ein Vormund aber noch nicht bestellt ist. Die Ersatzpflegschaft soll gerade dann zur Anwendung kommen, wenn die Voraussetzungen einer Vormundschaft nach § 1773 BGB vorliegen und eine gesetzliche Vertretung zwingend erforderlich ist, aber die Bestellung eines Vormunds nicht rechtzeitig möglich ist. Bezweckt wird also ein vorübergehender vormundschaftlicher Schutz im jeweils erforderlichen Umfang.68 Die Voraussetzungen der Vormundschaft nach § 1773 BGB liegen bei einem unbegleiteten Minderjährigen, der als volljährig eingestuft wurde, vor, da er nicht unter elterlicher Sorge steht. Über § 1909 Abs. 3 BGB wäre einem tatsächlichen Minderjährigen, der gem. § 42f SGB VIII als volljährig eingestuft wurde, für seine Klage gegen die ablehnende Entscheidung des Jugendamts ein Ersatzpfleger zu bestellen. Damit wäre die Prozessfähigkeit des Klägers unabhängig vom Ausgang des Verfahrens sichergestellt. 65 Bettin, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 1795 Rn. 7; Spickhoff, in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 1795 BGB Rn. 42. 66 Bettin, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 1909 Rn. 1; Roth, in: Westermann/Grunewald/Maier-Reimer, Erman BGB, 16. Aufl. 2020, § 1909 BGB Rn. 2. 67 Bettin, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 1909 Rn. 4; Schneider, in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 1909 BGB Rn. 1. 68 Schneider, in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 1909 BGB Rn. 4.

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Da die Notwendigkeit der Bestellung eines Ersatzergänzungspflegers bei Einlegung eines Rechtsmittels durch den betroffenen Ausländer gegen eine Ablehnungsentscheidung des Jugendamts aufgrund Feststellung der Volljährigkeit nach § 42f SGB VIII in den §§ 42 ff. SGB VIII nicht explizit vorgesehen ist, sollte in § 42f SGB Abs. 3 SGB VIII ein entsprechender Verweis auf § 1909 Abs. 3 BGB aufgenommen werden. Eine solche Gesetzesänderung stünde auch nicht im Gegensatz zu der Auffassung, die eine partielle Prozessfähigkeit von Minderjährigen über § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I begründet. Denn das Bedürfnis der Bestellung eines Ergänzungsbzw. Ersatzpflegers entfällt nicht bereits damit, dass der Betroffene verfahrensfähig ist. Erforderlich ist vielmehr, dass die betroffene Person ihre Rechte in tatsächlicher Hinsicht effektiv wahrnehmen kann.69 Daran dürfte es bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern jedenfalls ohne Rechtsanwalt fehlen. 4. Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme, § 42a Abs. 6 SGB VIII Im Zusammenhang mit der Durchführung des Verteilungsverfahrens stellt sich gleichzeitig die Frage, wann die vorläufige Inobhutnahme beendet ist und auf welche Arten sie beendet werden kann. Gemäß § 42a Abs. 6 SGB VIII bestehen mehrere Möglichkeiten der Beendigung. Der Gesetzgeber hat dabei als Anknüpfungspunkt die Sicherung des Kindeswohls gewählt und nicht den Zeitablauf nach § 42a Abs. 4 SGB VIII.70 Dies ist vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Inobhutnahme – das Kindeswohl – auch geboten. Die erste Alternative nimmt auf das Erstscreening nach § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB VIII Bezug: Konnte im Rahmen des Erstscreenings eine personensorge- oder erziehungsberechtigte Person ausfindig gemacht werden, endet die vorläufige Inobhutnahme mit der Übergabe des Minderjährigen an diese. Dies wäre insbesondere denkbar, wenn Eltern oder Verwandte des Minderjährigen getrennt nach Deutschland eingereist sind. Aufgrund der häufigen Probleme bei der Identitätsfeststellung von Asylbewerbern dürfte es den Behörden regelmäßig schwerfallen, Personensorgeoder Erziehungsberechtigte von Minderjährigen aufzufinden. Dieser Beendigungsgrund dürfte daher in der Praxis selten einschlägig sein.71 Hat sich das Jugendamt entschieden, das Kind zum Verteilungsverfahren nach § 42b SGB VIII anzumelden, endet die vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 6 Alt. 2 SGB VIII mit der Übergabe an dasjenige Jugendamt, das aufgrund einer Zuweisungsentscheidung durch die zuständige Landesbehörde für zuständig erklärt wurde. Die örtliche Zuständigkeit des neuen Jugendamts ergibt sich dabei aus §§ 88a Abs. 2 S. 1, 42b Abs. 3 SGB VIII. Kriterien sind insbesondere die spezifischen 69

Roth, in: Westermann/Grunewald/Maier-Reimer, Erman BGB, 16. Aufl. 2020, § 1909 BGB Rn. 12. 70 BR-Drs. 349/15 v. 25. 09. 2015, S. 23; BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 25. 71 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 131.

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Schutzbedürfnisse und Bedarfe unbegleiteter, minderjähriger Ausländer (§ 42b Abs. 3 S. 2 SGB VIII). Darunter fallen insbesondere eine angestrebte Familienzusammenführung, die Gewährleistung gesetzlicher Vertretung, die Klärung des aufenthaltsrechtlichen Status, sowie die Gewährleistung physischer wie psychischer Gesundheit.72 Die vorläufige Inobhutnahme endet außerdem, wenn das Jugendamt den Ausschluss des Verteilungsverfahrens nach § 42b Abs. 4 SGB VIII angezeigt hat. Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls durch die Verteilung befürchtet wird. Der Minderjährige wird dann unmittelbar vom gleichen Jugendamt gemäß § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen. Er wird dann konsequenterweise im Rahmen der Ermittlung der Aufnahmequote nach § 42c SGB VIII berücksichtigt.73 Im Gesetz nicht geregelt ist, ob eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme auch vorliegt, wenn sich ein Minderjähriger während der vorläufigen Inobhutnahme dem Jugendamt entzieht, beispielsweise durch heimliches Verlassen seiner Unterkunft. Einerseits kann es aufgrund seiner Schutzbedürftigkeit nicht zur Disposition des Minderjährigen stehen, ob das Jugendamt seine gesetzlichen Pflichten zur Personenvorsorge ausübt.74 Dies muss insbesondere bei unbegleiteten Ausländern gelten. Bei diesen geht es nicht nur um die Sicherstellung des Kindeswohls, sondern auch um die Prüfung einer Aufenthaltserlaubnis. Andererseits hat das Jugendamt keine Befugnisse, den Minderjährigen zwangsweise gegen seinen Willen festzuhalten.75 Nach § 42 Abs. 5 SGB VIII sind zwar freiheitsentziehende Maßnahmen des Jugendamts grundsätzlich möglich. Diese Möglichkeit betrifft allerdings lediglich die reguläre Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII. Somit ist fraglich, ob auch im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII eine freiheitsentziehende Maßnahme zulässig sein kann. Denkbar wäre eine entsprechende Anwendung von § 42 Abs. 5 SGB VIII, da insofern zumindest eine Regelungslücke bei durchaus vergleichbarer Interessenlage besteht, die auch planwidrig sein dürfte. Selbst wenn aber § 42 Abs. 5 SGB VIII anwendbar sein sollte, sind die hohen Hürden einer solchen Maßnahme zu bedenken. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind auch nach Maßgabe von § 42 Abs. 5 SGB VIII im Sinne des ultima ratio-Grundsatzes nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Minderjährigen oder eine Gefahr für Leib oder 72 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42b SGB VIII Rn. 11; vgl. auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 26. 73 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 25. 74 Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 54; Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Aufl. 2015, § 42 SGB VIII Rn. 54. 75 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 242; Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Aufl. 2015, § 42 SGB VIII Rn. 54.

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Leben Dritter abzuwenden. Für das Vorliegen einer Gefahr sind konkrete Anhaltspunkte erforderlich.76 Gerade daran wird es im Fall des Entziehens der Inobhutnahme aber regelmäßig fehlen, sodass sich das Problem über Maßnahmen zur Freiheitsentziehung kaum lösen lassen wird. Zumindest in formeller Hinsicht ließe sich eine Beendigung nach § 48 SGB X vertreten, wenn die Inobhutnahme als ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Sinne der §§ 44 ff. SGB X zu qualifizieren wäre.77 Bei der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII handelt es sich als hoheitliche Maßnahme zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit Außenwirkung um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 SGB X. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn ein auf Dauer berechnetes, unter Umständen befristetes, Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert wird.78 Im Fall der vorläufigen Inobhutnahme wird zumindest bis zur weiteren Entscheidung über die Durchführung eines Verteilungsverfahrens ein auf Dauer angelegtes Rechtsverhältnis zwischen dem Jugendamt und dem unbegleiteten, minderjährigen Ausländer begründet. Das Vorliegen der Tatbestandvoraussetzungen von § 48 Abs. 1 SGB X zur Aufhebung eines Verwaltungsakts ist im Falle eines Entweichsens des Minderjährigen allerdings fernliegend. Insbesondere würde die Aufhebung der Inobhutnahme nicht gemäß § 48 Abs. 1 Nr. SGB X zugunsten des Minderjährigen erfolgen. Er ist weiterhin schutzbedürftig. An einer rechtlichen Regelung fehlt es damit. Die Auslegungshilfe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher differenziert zwischen einem Entweichen während der vorläufigen Inobhutnahme und der regulären Inobhutnahme.79 Entweicht ein Minderjähriger während der vorläufigen Inobhutnahme, soll nach 48 Stunden eine jugendhilferechtliche Zuständigkeit nicht mehr bestehen. Entweicht ein Minderjähriger dagegen während der regulären Inobhutnahme oder einer anderen Anschlussmaßnahme, bleibt die Zuständigkeit des Ju76 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 218. 77 So jedenfalls Grünenwald, ZKJ 2019, 296, 299; Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/ Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 26; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 135. 78 BVerwG, Urt. v. 17. 09. 1987 – 5 C 26/84, BVerwGE 78, 101, 111; BVerwG, Urt. v. 28. 02. 1997 – 1 C 29.95, BVerwGE 104, 115, 120; Merten, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch X, § 45 SGB X Rn. 123. 79 BMFSFJ, Auslegungshilfe zur Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, S. 2, https://www. bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetz-zur-verbesserung-der-unterbringung-versorgung-undbetreuung-auslaendischer-kinder-und-jugendlicher/86348, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021; so auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, 2. Aufl. 2017, S. 48.

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gendamts bestehen. In beiden Fällen ist der Minderjährige nicht mehr zu melden. Klargestellt wird aber auch, dass die Trägerverantwortung unberührt bleibt und Vermisstenanzeige zu stellen ist. Dies ist aus Gesichtspunkten des Kindeswohls zwingend geboten. Kein Beendigungsgrund nach § 42a Abs. 6 SGB VIII liegt vor, wenn das Jugendamt im Rahmen der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII entschieden hat, dass es sich bei dem Betroffenen um einen Volljährigen handelt. Auch ein Beendigungstatbestand für den Fall, dass der Minderjährige während der vorläufigen Inobhutnahme volljährig wird, ist nicht vorgesehen. Nach § 42a SGB VIII ist die Inobhutnahme eines Volljährigen nämlich rechtswidrig. Die Beendigungstatbestände nach § 42a Abs. 6 SGB VIII setzen implizit voraus, dass die grundlegenden Voraussetzungen einer Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII vorliegen, also auch die Minderjährigkeit des Betroffenen. Insofern kann die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme im Sinne der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts gemäß § 45 SGB X erfolgen. II. Verteilungsverfahren gemäß § 42b SGB VIII Die Einführung des Verteilungsverfahrens nach § 42b SGB VIII stellt eine der zentralen Änderungen bei der Inobhutnahme von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern durch das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Betreuung und Versorgung von ausländischen Kindern und Jugendlichen dar. Das Verteilungsverfahren schließt sich direkt an die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII an. Weitere zugehörige Regelungen wie die Festlegung einer Aufnahmequote finden sich in §§ 42c ff. SGB VIII. Ziel des Verfahrens – wie bereits erwähnt – ist eine deutschlandweite Verteilung der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer, um die an Einreiseknoten gelegenen Ämter zu entlasten.80 1. Örtliche Zuständigkeit des Jugendamtes Zu diesem Zweck bedurfte es einer Änderung der örtlichen Zuständigkeit von Jugendämtern bei der Inobhutnahme von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen. Vor Einführung des Verteilungsverfahrens war gemäß § 87 SGB VIII a.F. auch für unbegleitete, minderjährige Ausländer das Jugendamt für die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII zuständig, in dessen Bereich sich der Minderjährige vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhielt. Der tatsächliche Aufenthalt ist in diesem Sinne an dem Ort gegeben, an dem der Minderjährige vor Beginn der Maßnahme physisch anwesend ist. Bei der Inobhutnahme ist das regelmäßig der Ort, an dem der Min80

BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 2.

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derjährige um Inobhutnahme durch das Jugendamt bittet.81 Diese Zuständigkeitsregelung hatte zur Folge, dass die Jugendämter, deren Zuständigkeitsbereich die Einreiseknotenpunkte der Bundesrepublik Deutschland umfasste, alle unbegleiteten, minderjährigen Ausländer gemäß § 42 Abs. 1 S. 2 SGB VIII unterbringen mussten. Dies führte zu einer Überlastung der Aufnahmekapazitäten dieser Jugendämter. § 87 SGB VIII n.F. verweist nun im neu eingefügten Satz 2 für die örtliche Zuständigkeit bei der Aufnahme von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen auf den neu aufgenommenen § 88a SGB VIII als lex specialis.82 Während § 88a Abs. 1 SGB VIII parallel zu § 87 S. 1 SGB VIII die örtliche Zuständigkeit des Jugendamts für die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII bestimmt, also an den tatsächlichen Aufenthalt anknüpft, regelt § 88a Abs. 2 SGB VIII eine neue örtliche Zuständigkeit für die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII. Diese Zuständigkeit knüpft dabei unmittelbar an den Zuweisungsentscheid der zuständigen Landesbehörde aus dem Verteilungsverfahren nach § 42b Abs. 3 SGB VIII an. Durch diesen Zuweisungsentscheid kann nun eine gleichmäßige Verteilung der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer auf das ganze Bundesgebiet erfolgen. § 88a Abs. 2 S. 3 SGB VIII enthält weiterhin eine Ausnahmeregelung, nach der ein Jugendhilfeträger eine vom Zuweisungsentscheid abweichende Zuständigkeit übernehmen kann. Hierfür sind allerdings Gründe des Kinderwohls oder andere, vergleichbare humanitäre Gründe notwendig. Ein solcher Grund liegt beispielsweise vor, wenn Kinder und Jugendliche, die nicht miteinander verwandt sind, auf ihrer Flucht eine Schicksalsgemeinschaft gebildet haben. In Betracht kommt auch die Notwendigkeit einer besonderen medizinischen Versorgung eines Minderjährigen, die im Gebiet des nach § 88a Abs. 2 S. 1 SGB VIII zuständigen Jugendamts nicht ausreichend gewährleistet werden kann.83 2. Die Zuweisungsentscheidung nach § 42b SGB VIII Sobald ein unbegleiteter, ausländischer Minderjähriger durch die zuständige Landesstelle gemäß § 42a Abs. 4 S. 2 SGB VIII angemeldet worden ist, hat das Bundesverwaltungsamt gemäß § 42b Abs. 1 SGB VIII innerhalb von zwei Werktagen das zur Aufnahme verpflichtete Land zu benennen. Die Entscheidung orientiert sich dabei an der Aufnahmequote gemäß §§ 42b Abs. 1 S. 1, 42c Abs. 1 SGB VIII. Der Zuweisungsentscheid des Bundesverwaltungsamts stellt einen Verwaltungsakt 81 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 87 SGB VIII Rn. 9; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 87 SGB VIII Rn. 3. 82 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 87 SGB VIII Rn. 5; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 87 SGB VIII Rn. 4. 83 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 88a SGB VIII Rn. 11; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 88a SGB VIII Rn. 30.

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gemäß § 31 SGB X gegenüber dem Land dar.84 Gegen diesen kann gemäß § 42b Abs. 7 SGB VIII kein Widerspruch eingelegt werden. Weiterhin entfällt danach die aufschiebende Wirkung von Klagen. Damit soll eine möglichst reibungslose Durchführung des Verteilungsverfahrens sichergestellt werden.85 § 42b Abs. 2 SGB VIII bestimmt, dass bei der Zuweisungsentscheidung im Rahmen der Aufnahmequote das Land vorrangig berücksichtigt werden soll, in dem bereits die vorläufige Inobhutnahme stattfand. Falls dieses Land die Aufnahmequote bereits erfüllt hat, soll das nächstgelegene Land benannt werden. Zweck dieser Vorschrift ist es, die mit der Überführung verbundenen Belastungen sowohl für den Minderjährigen als auch für die Behörden zu verringern.86 Hat das Bundesverwaltungsamt ein Land benannt, ist dessen jeweilige Landesbehörde gemäß § 42b Abs. 3 S. 1 SGB VIII verpflichtet, den Minderjährigen innerhalb von zwei Tagen einem in ihrem Bereich gelegenem Jugendamt nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII zuzuweisen. Auch bei diesem Zuweisungsentscheid handelt es sich um einen Verwaltungsakt gemäß § 31 SGB X. Es liegt dabei allerdings eine gebundene Entscheidung vor.87 Gleichzeitig muss die Landesbehörde das Jugendamt, das für die vorläufige Inobhutnahme zuständig ist, über die Zuweisung informieren. Maßgebliche Kriterien bei der Zuweisung sind gemäß § 42b Abs. 3 S. 2 SGB VIII spezifische Schutzbedürfnisse und Bedarfe unbegleiteter ausländischer Minderjähriger. Dabei kommen insbesondere das Vorhandensein von besonderen Sprach- und Kulturmittlern, einer traumatischen bzw. psychotherapeutischen Versorgung und ähnliche Belange als Auswahlkriterien in Betracht.88 Im Ergebnis ist für die Auswahl des zur Aufnahme zuständigen Landes das Bundesverwaltungsamt zuständig, während anschließend auf Landesebene die jeweilige oberste Landesbehörde bestimmt, welchem Jugendamt der Betroffene innerhalb des Landesgebiets zugeteilt wird. In § 42b Abs. 4 SGB VIII sind verschiedene Tatbestände geregelt, die als Rechtsfolge den Ausschluss eines Minderjährigen von der Durchführung des Verteilungsverfahrens vorsehen. Dies stellt eine Ergänzung zu § 42a Abs. 2 S. 2 84 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 2; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 15; Mann, in: Schellhorn/Fischer/Mann/Schellhorn/Kern, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Aufl. 2016, § 42b SGB VIII Rn. 2. 85 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 27. 86 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 19. 87 Sächsisches OVG, Urt. v. 19. 12. 2019 – 3 A 719/18; Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/ Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 5; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 25.1 f. 88 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42b SGB VIII Rn. 11; Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 4.

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SGB VIII dar, wonach das für die vorläufige Inobhutnahme zuständige Jugendamt über den Ausschluss des Verteilungsverfahrens entscheidet. Es handelt sich dabei nach dem Wortlaut „ist ausgeschlossen“ um eine gebundene Entscheidung.89 Nach § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII ist der Minderjährige vom Verteilungsverfahren auszuschließen, wenn das Kindeswohl durch die Durchführung gefährdet würde. Dieser Ausschlussgrund beruht auf Art. 23 Abs. 1 der EU-Richtlinie 2013/ 33/EU und knüpft unmittelbar an die Einschätzung des vorläufig zuständigen Jugendamts nach § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB VIII an.90 Es ist davon auszugehen, dass die psychische Belastung durch die Durchführung des Verteilungsverfahrens bei stark traumatisierten Minderjährigen Berücksichtigung finden sollte. Weiterhin ist die Durchführung des Verteilungsverfahrens nach § 42b Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII ausgeschlossen, wenn diese aufgrund des Gesundheitszustands des Minderjährigen innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme nicht möglich ist. Hierbei geht es parallel zu § 42a Abs. 2 S.1 Nr. 4 SGB VIII darum, die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten zu verhindern.91 Gleichzeitig wird entsprechend zu Nummer 1 dem Kindeswohl Rechnung getragen, da die Durchführung eines Verteilungsverfahrens je nach Schwere der Erkrankung der Genesung abträglich sein dürfe. Nach § 42b Abs. 4 Nr. 3 SGB VIII findet eine Verteilung nicht statt, wenn die Zusammenführung mit einer verwandten Person kurzfristig erfolgen kann und dies dem Kindeswohl entspricht. Verwiesen wird dabei explizit auf die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-Verordnung). Es fehlt allerdings an einer näheren Bestimmung, wann noch von einer „Kurzfristigkeit“ der Zusammenführung ausgegangen werden kann.92 Abschließend ist die Durchführung des Verteilungsverfahrens nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII ausgeschlossen, wenn diese nicht innerhalb eines Monats nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme erfolgt. Allerdings soll es dem Jugendamt selbst nach Ablauf der Monatsfrist möglich sein, ein anderes Jugendamt um die Übernahme der Zuständigkeit für die Inobhutnahme des Minderjährigen zu bitten.

89 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 7; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 33. 90 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 26. 91 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 26. 92 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 23; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42b SGB VIII Rn. 36.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Das soll insbesondere dann gelten, wenn die Betreuung bzw. Unterbringung in einem anderen Jugendamt dem Kindeswohl zuträglicher ist.93 In § 42b Abs. 5 S. 1 SGB VIII wird explizit festgehalten, dass Geschwister grundsätzlich nicht getrennt werden dürfen, außer wenn das Kindeswohl eine Trennung erfordert. Nach § 42b Abs. 5 S. 2 SGB VIII sollen außerdem unbegleitete ausländische Kinder oder Jugendliche im Rahmen der Aufnahmequote nach Durchführung des Verteilungsverfahrens gemeinsam nach § 42 SGB VIII in Obhut genommen werden. Im Gegensatz zu Satz 1 stellt das Erfordernis des Kindeswohls bei dieser Soll-Vorschrift allerdings eine Bedingung dar, die für eine gemeinsame Inobhutnahme zwingend erfüllt sein muss. Es sollen vor allem besondere soziale Bindungen zu anderen unbegleiteten, minderjährigen Ausländern berücksichtigt werden.94 Bei Geschwistern kann von diesen besonderen sozialen Bindungen grundsätzlich ausgegangen werden, sodass hier das Kindeswohl folgerichtig als negatives Tatbestandmerkmal formuliert ist. 3. Die Aufnahmequote gemäß § 42c SGB VIII Eine gleichmäßige bundesweite Verteilung der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer kann nur gewährleistet werden, wenn die einzelnen Bundesländer verpflichtet sind, jeweils eine festgelegte Anzahl dieser Personen aufzunehmen. § 42c SGB VIII regelt dazu eine Aufnahmequote, die sich jährlich neu aus den beiden Faktoren Steuereinnahmen und Bevölkerungszahl der Länder errechnet. Nach § 42c Abs. 1 S. 1 SGB VIII haben zunächst die Länder das Recht, untereinander einen Schlüssel als Grundlage zur Benennung des zur Aufnahme verpflichteten Landes zu vereinbaren. Bislang ist eine solche Vereinbarung allerdings nicht zustande gekommen. Der Gesetzgeber hat daher vorsorglich in § 42c Abs. 1 S. 2 SGB VIII eine eigene Übergangsregelung eingeführt. Nach dieser Regelung richtet sich die Verteilung in erster Linie nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel. Berücksichtigung findet zusätzlich ein Ausgleich für unbegleitete minderjährige Ausländer, die vor dem 1. November 2015, also vor Einführung des Verteilungsverfahrens, nach Deutschland eingereist sind und Jugendhilfe gewährt bekommen haben. Der Königsteiner Schlüssel wurde erstmals im Jahr 1949 als Mittel zur Finanzierung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen im Rahmen des Königsteiner Staatsabkommens eingeführt.95 Nach Art. 6 des Abkommens berechnet sich der Schlüssel zu zwei Dritteln aus der Höhe der Steuereinnahmen der Länder und zu einem Drittel aus der Bevölkerungszahl der Länder. Der Königsteiner Schlüssel wird 93

BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 26. BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 26. 95 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42c SGB VIII Rn. 3; Heusch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 45 AsylG Rn. 5. 94

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jährlich neu berechnet und im Bundesanzeiger veröffentlicht.96 Die Zugrundelegung des Königsteiner Schlüssels zur Berechnung von Aufnahmequoten nach § 42c Abs. 1 S. 2 SGB VIII wurde aus der parallelen Vorschrift des § 45 Abs. 1 S. 2 AsylG übernommen. Vorteil der Anwendung dieser Berechnungsmethode ist insbesondere die überwiegende Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Bundesländer.97 Diese wird durch die Aufnahme von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern stark beansprucht. Der gesetzliche Ausgleich für vor Einführung des Verteilungsverfahrens eingereiste unbegleitete minderjährige Ausländer wurde von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend festgelegt. Danach waren für den Ausgleich drei Faktoren in Ansatz zu bringen: die Anzahl der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen und jungen Volljährigen, die am Tag des Inkrafttretens in Maßnahmen der Jugendhilfe befindlich waren, sowie die durchschnittliche Dauer der Gewährung von Jugendhilfemaßnahmen und -leistungen von 182 Tagen und die durchschnittlich pro Fall angefallenen Tageskosten, die in der Gesetzesbegründung auf EUR 175,00 geschätzt wurden.98 In § 42c Abs. 2 SGB VIII ist außerdem eine Anrechnung der von der Durchführung des Verteilungsverfahren ausgeschlossenen Kinder und Jugendlichen auf die Aufnahmequote festgelegt, wenn diese im Land verbleiben. Gleichermaßen angerechnet wird die Übernahme der Zuständigkeit eines örtlichen Trägers nach § 88a Abs. 2 SGB VIII. III. Reguläre Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII Ist das Verteilungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden, befindet sich der unbegleitete minderjährige Ausländer in der „regulären“ Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII. Die Betroffenen werden hier regelmäßig in Heimeinrichtungen oder Pflegefamilien untergebracht.99 1. Charakter der regulären Inobhutnahme Auch bei der „regulären“ Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII handelt es sich dem Grunde nach um eine vorläufige Inobhutnahme. Die Formulierung „vorläufige In96

Vgl. zum Königsteiner Schlüssel für das Jahr 2016: BAnZ. v. 20. 06. 2016 B 1. Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42c SGB VIII Rn. 14; Ruge, ZAR 2016, 89, 93. 98 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 27. 99 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/ Kepert/ Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 49; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 29. 97

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

obhutnahme“ in § 42a SGB VIII kann insofern missverstanden werden.100 Die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII wird nämlich in der Folge teilweise als endgültige Inobhutnahme bezeichnet.101 Dies wiederum impliziert, dass die Inobhutnahme beim Jugendamt nach § 42 SGB VIII auf Dauer angelegt wäre. Tatsächlich ist aber auch diese Inobhutnahme als vorläufige Inobhutnahme gedacht. Dies ergibt sich schon aus der Überschrift des ersten Abschnitts des dritten Kapitels des SGB VIII: In den §§ 42 ff. SGB VIII sind danach „vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen“ geregelt. Für die Unterbringung wird dies in Bezug auf die reguläre Inobhutnahme in § 42 Abs. 1 S. 2 konkretisiert. Die Befugnis des Jugendamts zur Unterbringung bei einer geeigneten Person oder in einer geeigneten Einrichtung oder sonstigen Wohnform besteht danach nur bei einer vorläufigen Unterbringung.102 Diese zeitliche Begrenzung im Rahmen von § 42 SGB VIII ist auch durch den verfassungsrechtlichen Rahmen geboten. Die Inobhutnahme stellt nämlich einen Eingriff in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG dar und ist im Zusammenhang mit dem staatlichen Wächteramt im Sinne von Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zu sehen.103 Sie wird im Übrigen durch das relative Trennungsgebot gemäß Art. 6 Abs. 3 GG beschränkt.104 Danach dürfen Kinder gegen den Willen der Erziehungsberechtigten nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Das relative Trennungsgebot betrifft damit auch die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII. Dem wird durch den vorläufigen Charakter der Inobhutnahme Rechnung getragen. Bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern ist dies allerdings weniger relevant, da hier häufig über einen längeren Zeitraum keine Erziehungsberechtigten zu erreichen sind. 2. Pflichten des Jugendamts bei der regulären Inobhutnahme Das Jugendamt hat neben der Pflicht zur vorläufigen Unterbringung nach § 42 Abs. 1 S. 2 SGB VIII noch weitere Verpflichtungen. 100 Um Verwechslungen vorzubeugen wird die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII im Rahmen dieser Arbeit als „reguläre Inobhutnahme“ bezeichnet. 101 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42a SGB VIII Rn. 3. 102 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 SGB VIII Rn. 19; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 29. 103 Baltz/Fuchs/Habermann/Westerholt/Kepert/Kunkel, in: Praxis der Kommunalverwaltung, Bundesrepublik Deutschland, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 SGB VIII Rn. 311; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 22. 104 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 6 GG (Stand: 92. EL 2018) Rn 141; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 6 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 741.

§ 1 Das Verfahren der Inobhutnahme

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Gemäß § 42 Abs. 2 S. 1 SGB VIII hat das Jugendamt mit dem Minderjährigen die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zu klären und dabei Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen. Daraus ergibt sich der grundsätzliche Charakter der Jugendämter als sozialpädagogische Hilfestellen, die in erster Linie bei akuten Krisensituationen Abhilfe schaffen sollen.105 Im Fall von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern sind die Jugendämter darauf beschränkt, den Minderjährigen ihre aktuelle Situation und die weitere Vorgehensweise zu erklären. Ein gewichtiges Problem stellt dabei häufig die Sprache dar, da die minderjährigen Ausländer in der Regel weder Deutsch noch Englisch sprechen können. Nach § 42 Abs. 2 S. 2 SGB VIII ist dem Kind oder Jugendlichen unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person des Vertrauens zu kontaktieren. Dies dürfte bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern grundsätzlich weniger von Bedeutung sein. § 42a Abs. 1 S. 3 SGB VIII erklärt diese Vorschrift nämlich bereits für die vorläufige Inobhutnahme entsprechend anwendbar, sodass das Erstaufnahme-Jugendamt hierfür bereits Sorge zu tragen hat. In der Praxis dürfte dann im Rahmen der regulären Inobhutnahme nur noch in seltenen Fällen Bedarf bestehen. Zu beachten ist dennoch, dass eine Person des Vertrauens nicht zwangsweise ein Personensorgeoder Erziehungsberechtigter sein muss. In Betracht kommen beispielsweise auch Freunde oder Nachbarn.106 Das Jugendamt hat außerdem nach § 42 Abs. 2 S. 3 SGB VIII für das Wohl des Minderjährigen zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen. Unter Sorge um das Kindeswohl ist insbesondere die Sorge um das körperliche, seelische und psychische Wohl zu verstehen. Die Jugendämter haben danach insbesondere Unterkunftskosten, Verpflegung, Kleidung, Körperpflege und andere Sachaufwendungen für die täglichen Bedürfnisse des Lebens zu tragen.107 Nach Wortlaut und Sinn des § 42 Abs. 2 S. 3 SGB VIII ist zudem Krankenhilfe gemäß § 40 SGB VIII zu leisten, sofern nicht ein anderer Versicherungsschutz des Minderjährigen besteht, beispielsweise durch eine gesetzliche Familienversicherung der Eltern.108 § 42 Abs. 2 S. 4 SGB VIII bestimmt, dass das Jugendamt während der Inobhutnahme berechtigt ist, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Minderjährigen notwendig sind. Notwendige Maßnahmen sind solche, die unauf105

Kepert/Röchling, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 56. 106 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 163; Mann, in: Schellhorn/Fischer/Mann/Schellhorn/Kern, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Aufl. 2016, § 42 SGB VIII Rn. 23. 107 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 SGB VIII Rn. 40; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 39. 108 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 168; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 39.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

schiebbare Willenserklärungen des Minderjährigen betreffen, die er nicht selbst vornehmen kann, z. B. Willenserklärungen zur Krankenbehandlung.109 Dem Wortlaut nach besteht lediglich eine Berechtigung des Jugendamts und keine Verpflichtung. Allerdings kann eine Verpflichtung aus der Notwendigkeit der Maßnahme gefolgert werden. Dies war vom Gesetzgeber wohl auch so gedacht.110 Außerdem soll nach § 42 Abs. 2 S. 4 HS. 2 SGB VIII der mutmaßliche Wille von Personensorge- und Erziehungsberechtigten dabei angemessen berücksichtigt werden. Große Relevanz für unbegleitete, minderjährige Ausländer kommt § 42 Abs. 2 S. 5 SGB VIII zu. Satz 5 ist erst im Jahr 2017 im Rahmen des Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht hinzugefügt worden.111 Danach ist das Jugendamt – im Zusammenhang mit der Berechtigung zur Übernahme von Rechtshandlungen aus Satz 4 – verpflichtet, unverzüglich einen Asylantrag für den unbegleiteten, minderjährigen Ausländer zu stellen. Dies gilt allerdings nur, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass das Kind oder der Jugendliche internationalen Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG benötigt. Dies ist auch zweckmäßig, da minderjährige Ausländer, die vom Jugendamt in Deutschland in Obhut genommen werden, nicht zwingend Asyl benötigen. Beispielsweise können auch minderjährige Ausländer aus anderen EU-Mitgliedsstaaten nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen werden. Der Minderjährige ist außerdem bei der Antragsstellung zu beteiligen. Die Jugendämter sollen bei der Antragstellung laut der Gesetzesbegründung insbesondere die persönliche Situation des Minderjährigen berücksichtigen.112 Die Asylantragsstellung ist ausdrücklich nur im Rahmen der regulären Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII geregelt, sodass im Umkehrschluss keine Berechtigung der Jugendämter besteht, bereits im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII einen Asylantrag zu stellen.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII Bereits vor Inkrafttreten des § 42f SGB VIII wurden Altersfeststellungen von Jugendämtern zur Prüfung der Voraussetzungen einer Inobhutnahme nach § 42

109

Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 36; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 170. 110 BT-Drs. 18/11546 v. 16. 03. 2017, S. 24. 111 BT-Drs. 17/11546 v. 16. 03. 2017, S. 1 ff. 112 BT-Drs. 18/11546 v. 16. 03. 2017, S. 24.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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SGB VIII durchgeführt, auch wenn dies im Gesetz nicht explizit geregelt war.113 Die Verpflichtung des Betroffenen, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, wurde damals auf die allgemeine Vorschrift des § 62 SGB I gestützt, wobei von der Rechtsprechung114 beispielsweise eine zahnärztliche Untersuchung sowie eine Untersuchung des Schlüsselbeins unter Anwendung radiologischer Maßnahmen als zulässig erachtet worden sind. Im ursprünglichen Gesetzesentwurf der Bundesregierung war ein Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern dementsprechend auch noch nicht vorgesehen.115 Der Bundesrat regte dann im Rahmen des ersten Durchgangs des Entwurfs an, eine Nummer 5 in § 42a Abs. 2 S. 1 SGB VIII aufzunehmen, nach der das Jugendamt im Rahmen des Erstscreenings zusätzlich die Minderjährigkeit des betreffenden Ausländers überprüfen sollte.116 Intention des Bundesrats war es ausweislich der Gesetzesbegründung, im Nachhinein entstehende Auseinandersetzungen um das Alter zu vermeiden. Die Kodifizierung dürfte aber auch der Rechtssicherheit und der Rechtsvereinheitlichung bei den komplexen Altersfeststellungen dienen, auch wenn diese Gesichtspunkte nicht in der Gesetzesbegründung angeführt werden. Als Beispiel für eine Methode der Altersfeststellung war zunächst nur eine qualifizierte Inaugenscheinnahme ohne Entkleidung aufgenommen worden.117 Im endgültigen Gesetzesentwurf wurde dann auf Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestages hin § 42f SGB VIII einfügt, in dem nun das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung umfassender geregelt wird als ursprünglich in § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB VIII vorgesehen.118 Neu aufgenommen wurde dabei die Möglichkeit der Durchführung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung bei verbleibenden Zweifelsfällen (§ 42f Abs. 2 SGB VIII). Dogmatisch handelt es sich bei der Altersfeststellung um eine unselbstständige Verfahrenshandlung im Sinne von § 44a VwGO.119 Rechtsbehelfe können damit nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden. Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Klage und Wi113 Vgl. zur früheren Rechtslage Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 42 SGB VIII Rn. 16a; Klein, KJ 2015, 405, 406. 114 OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 14. 10. 2009 – 6 S 22/09, NVwZ-RR 2010, 274, 275; OVG Hamburg, Beschl. v. 09. 02. 2011 – 4 Bs 9/11, juris-Rn. 55, NordÖR 2013, 72; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29. 08. 2012 – 6 S 34.12 / 142.12, juris-Rn. 3, BeckRS 2012, 56700. 115 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 1 ff. 116 BR-Drs. 349/15 v. 25. 09. 2015, S. 3; BR-Drs. 349/1/15 v. 14. 09. 2015, S. 3. 117 BR-Drs. 349/15 v. 25. 09. 2015, S. 3; BR-Drs. 349/1/15 v. 14. 09. 2015, S. 3. 118 BT-Drs 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 119 BVerwG, Urt. v. 26. 04. 2018 – 5 C 11/17, NVwZ-RR 2018, 659, 662 Rn. 29; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 13.1.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

derspruch nach § 42f Abs. 3 SGB VIII bezieht sich in der Konsequenz auf Rechtsbehelfe gegen die Entscheidung des Jugendamts, die Inobhutnahme abzulehnen oder zu beenden. Dies ist auch zweckmäßig, da das Jugendamt regelmäßig keine vom Ergebnis des Verfahrens der Altersfeststellung abweichende Inobhutnahme-Entscheidung treffen wird und das Interesse des Betroffenen primär auf die Inobhutnahme als solche gerichtet sein wird. Offen lässt der Wortlaut von § 42f SGB VIII, in welchem Verfahrensstadium das Verfahren zur Altersfeststellung durchgeführt werden soll. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang, ob die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII dem Erstscreening nicht vorgelagert werden müsste, da die Minderjährigkeit des Ausländers bereits für die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII tatbestandliche Voraussetzung ist.120 Dem Wortlaut nach hat die Altersfeststellung „im Rahmen“ der vorläufigen Inobhutnahme zu erfolgen. Damit könnte die Altersfeststellung bereits vor der vorläufigen Inobhutnahme erfolgen.121 Dies würde aber Sinn und Zweck von § 42f Abs. 3 SGB VIII widersprechen. Aus § 42f Abs. 3 SGB VIII ergibt sich, dass Widerspruch und Klage gegen eine Entscheidung des Jugendamts, die vorläufige Inobhutnahme aufgrund des Ergebnisses der Altersfeststellung abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung haben. Die zweite Alternative käme damit nur zu Anwendung, wenn die Altersfeststellung tatsächlich erst nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme durchgeführt wird.122 Dies entspricht auch der Absicht des Gesetzgebers. In der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird festgehalten, dass Personen aus der Inobhutnahme zu entlassen sind, nachdem deren Volljährigkeit festgestellt worden ist.123 Die Rechtsprechung hat sich dieser Ansicht weitgehend angeschlossen. Nach einem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs124 aus 2016 ist die Altersfeststellung keine Voraussetzung für die vorläufige Inobhutnahme, sondern vielmehr eine Aufgabe während der Inobhutnahme. Aus Gesichtspunkten des Kindeswohls könne eine vorläufige Inobhutnahme nicht aus Zweifeln an der Minderjährigkeit abgelehnt werden. Das Bundesverwaltungsgericht125 hat sich dieser Ansicht mit Urteil vom 26. April 2018 im Ergebnis angeschlossen. Aus dem Verfahrensgang der Gesetzesänderung ergebe sich zwar grundsätzlich, dass die Minderjährigkeit als zwingende Tatbestandsvoraussetzung normiert worden sei. Die 120

Das Problem könnte auf Tatbestandsebene gelöst werden, indem das Tatbestandsmerkmal der Minderjährigkeit durch das nicht offensichtlich falsche Behaupten der Minderjährigkeit ersetzt werden würde. 121 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 20; BayVGH, Beschl. v. 05. 04. 2017 – 12 BV 17.185. 122 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 14; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 f SGB VIII Rn. 2. 123 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 124 BayVGH, Beschl. v. 18. 08. 2016 – 12 CE 16.1570, BeckRS 2016, 51383 Rn. 12. 125 BVerwG, Urt. v. 26. 04. 2018 – 5 C 11/17, NJW-RR 2018, 659, 661 Rn. 26.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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vorläufige Inobhutnahme Volljähriger sei gesetzlich ausgeschlossen. Allerdings ergibt sich nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts gleichzeitig aus § 42f SGB VIII, dass ausnahmsweise zum Zwecke der Altersfeststellung eine vorläufige Inobhutnahme auch für Personen zulässig sein soll, bei denen die Minderjährigkeit nicht ohne weiteres feststeht, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann. Es solle damit lediglich zum Zwecke der Altersfeststellung in Kauf genommen werden, dass volljährige Ausländer in Obhut genommen werden. Die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts ist zwar nachvollziehbar und zweckmäßig, allerdings aus dogmatischer Sicht fragwürdig. Denn aus § 42f SGB VIII ergibt sich keine Befugnis des Jugendamts, ausländische Personen, bei denen die Minderjährigkeit zweifelhaft erscheint, in Obhut zu nehmen. Auf diese Fälle muss bereits § 42a SGB VIII anwendbar sein, da ansonsten schon die Vertretungsbefugnis des Jugendamts nach § 42a Abs. 3 SGB VIII fehlen würde. Diese ist aber für die Durchführung der ärztlichen Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII erforderlich. Dogmatisch naheliegender erscheint es daher, die Tatbestandsvoraussetzung „minderjährig“ in § 42a SGB VIII als gesetzgeberisches Versehen zu werten. Sinnvoller erscheint dann eine teleologische Extension auf solche ausländischen Personen, bei denen – mit dem Wortlaut des Bundesverwaltungsgerichts – die Minderjährigkeit nicht ohne weiteres feststeht, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann.126 Das Bundesverwaltungsgericht rechtfertigt seine Argumentation zwar damit, dass andernfalls die Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII ablaufen könnte, bevor das Alter der ausländischen Person feststeht.127 Allerdings kann nach hier vertretener Auffassung § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII in solchen Fällen mit der Maßgabe teleologische ausgelegt werden, dass die Frist erst zu laufen beginnt, wenn feststeht, dass es sich um einen Minderjährigen handelt. Die Altersfeststellung fällt damit trotz der von § 42a SGB VIII losgelösten Regelung bei genauer Betrachtung in den Bereich des Erstscreenings nach § 42a Abs. 2 SGB VIII.

A. Erste Stufe des Verfahrens zur Altersfeststellung, § 42f Abs. 1 SGB VIII § 42f SGB VIII folgt einem zweistufigen System: Zunächst hat das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 1 SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. Verbleiben hiernach noch Zweifel, kommt § 42f Abs. 2 SGB VIII nur subsidiär zur Anwendung. Das Jugendamt hat dann entweder auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts 126 So im Ergebnis auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 22. 127 BVerwG, Urt. v. 26. 04. 2018, 5 C 11/17, NJW-RR 2018, 659, 661 Rn. 27.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen. § 42f Abs. 3 SGB VIII regelt lediglich Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund des Ergebnisses der Altersfeststellung die vorläufige Inobhutnahme abzulehnen oder zu beenden. Verlässliche Zahlen zur Häufigkeit von Altersfeststellungen und der dabei angewandten Methoden existieren bislang nicht.128 Eine Online-Umfrage des Bundesfachverbandes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge („BumF“) bei Fachkräften hat ergeben, dass nur ca. 8,9 % der Teilnehmenden oft oder immer medizinische Altersfeststellungen durchführen, während 36,2 % angegeben haben, diese nie anzuwenden. Eine Mehrheit von 54,9 % gab an, nur selten medizinische Altersfeststellungen durchzuführen.129 In der Literatur wird teilweise vertreten, dass ungeschriebene Voraussetzung der Durchführung eines Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 SGB VIII sei, dass der die Inobhutnahme begehrende Ausländer dem Jugendamt sein Alter nicht glaubhaft machen kann. Es gelte das Primat der Selbstauskunft.130 Dem Betroffenen sei zunächst die Möglichkeit einzuräumen, das Jugendamt von selbst von seiner Minderjährigkeit zu überzeugen. Dies ist insofern richtig, als die Durchführung der Altersfeststellung nicht erforderlich wäre, wenn der Betroffene das Jugendamt auch ohne das Verfahren nach § 42f SGB VIII das Jugendamt von seiner Minderjährigkeit überzeugen kann. Dies dürfte allerdings ohne eine Einsichtnahme in die Ausweispapiere kaum möglich sein. Da die spätere, reguläre Inobhutnahme eines Volljährigen rechtswidrig wäre,131 hat das Jugendamt bloße Behauptungen des Betroffenen mit den gesetzlich zulässigen, zur Verfügung stehenden Mitteln ohnehin zu überprüfen. Dies wird regelmäßig – bereits in Durchführung von § 42f Abs. 1 SGB VIII – die Einsichtnahme in die Ausnahmepapiere sein. Dem Primat der Selbstauskunft kommt damit in der Praxis kaum Bedeutung zu. Zu beachten ist weiterhin, dass nach dem Willen des Gesetzgebers das Kindeswohl bzw. das Wohl der ausländischen Person Maßstab zur Festsetzung des Alters sein soll. Die Gesetzesbegründung verweist insofern darauf, dass die Altersfestsetzung unter Achtung der Menschwürde und der körperlichen Integrität der be128

Vgl. BT-Drs. 19/17819 v. 05. 03. 2020, S. 69; die Veröffentlichung des Berichts der Bundesregierung nach § 42e SGB VII zum 31. Dezember 2020, in dem erstmals im Rahmen einer Vollerhebung bei den Jugendämtern zur Häufigkeit der Altersfeststellungsverfahren Stellung genommen werden soll, steht noch aus. 129 BumF, Die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge – Auswertung der OnlineUmfrage 2019, S. 21, https://b-umf.de/material/umfrage-2019/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 130 Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42f SGB VIII Rn. 4; Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Aufl. 2015, Nachtragskommentierung Dezember 2015, N 6. 131 BayVGH, Beschl. v. 23. 9. 2014 – 12 CE 14.1833 u. 12 C 14.1865, NVwZ-RR 2014, 959, 960 Rn. 16; BayVGH, Beschl. v. 13. 12. 2016 – 12 CE 16.2333, juris-Rn. 21; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 47.1; Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 42 SGB VIII Rn. 16a.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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troffenen Person erfolgen muss.132 Im Übrigen ist dies mit Blick auf die potenzielle Minderjährigkeit des Betroffenen auch völkerrechtlich im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention geboten (vgl. dazu S. 263 ff.). Die Altersfeststellung soll nach der Gesetzesbegründung außerdem auf Grundlage von Standards erfolgen, wie sie in den „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter beschlossen worden ist.133 Bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter handelt es sich um einen Zusammenschluss aller 17 Landesjugendämter, der überörtliche Aufgaben der Landesjugendämter wahrnimmt, beispielsweise die Entwicklung von Verfahrensweisen und Grundsätzen für die Jugendhilfe.134 I. Einsichtnahme in Ausweispapiere Da eine Selbstauskunft des Ausländers regelmäßig nicht zweifelsfrei überzeugen kann, hat das Jugendamt zunächst gemäß § 42f Abs. 1 Alt. 1 SGB VIII Einsicht in die Ausweispapiere des betroffenen Ausländers zu nehmen. Nach dem Willen des Gesetzgebers genügen hierfür auch „ähnliche Dokumente“, aus denen das Alter eindeutig hervorgeht.135 Welche Anforderungen an die Zuverlässigkeit ähnlicher Dokumente zu stellen sind, bleibt dabei unklar. Da die Maßnahmen in § 42f SGB VIII einer möglichst exakten Altersfeststellung dienen sollen, ist davon auszugehen, dass nur offizielle, insbesondere behördliche Dokumente in Betracht kommen. Ausreichen dürften beispielsweise Geburts- und Personenstandsurkunden, Führerscheine oder ähnliche behördliche Verfügungen und Erlaubnisse, welche die Identität des Betroffenen hinreichend verlässlich nachweisen.136 Mittlerweile gibt es umfangreiche Rechtsprechung zur Zulässigkeit von anderen Dokumenten, die Angaben zum Alter des Ausländers enthalten. So sind insbesondere nichtamtliche Dokumente grundsätzlich unzureichend, beispielsweise der Identitätsnachweis durch einen syrischen Ortsvorsteher. Dabei handelt es sich nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch unter Benennung von zwei Zeugen nicht um ein amtliches Dokument, sodass das Geburtsdatum immer noch zweifelhaft bleibt.137

132

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 134 Website der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, http://www.bagljae.de/ content/ueber-uns/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 135 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 136 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 27.1; Möller, in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 4. 137 BayVGH, Beschl. v. 13. 12. 2016 – 12 CE 16.2333, BeckRS 2016, 56085 Rn. 12. 133

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Problematisch ist häufig schon die Verlässlichkeit behördlicher Dokumente aus den Herkunftsländern der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer. Selbst der Zivilregisterauszug aus dem syrischen Innenministerium ist beispielsweise nach der Rechtsprechung138 nicht ausreichend, wenn das Dokument kein Lichtbild des Betroffenen enthält. Dann kann nämlich nicht sichergestellt werden, dass die vorgelegten Daten tatsächlich zu der Person gehören, die vom Jugendamt in Obhut genommen werden möchte. In einigen Ländern des Nahen Ostens wird bei der Erstellung einer Geburtsurkunde nicht auf die Richtigkeit des Geburtsdatums geachtet. So hat das Oberverwaltungsgericht Bremen139 in einem Urteil entschieden, dass die sogenannte „Tazkira“ als ein in Afghanistan übliches Identitätsdokument in Deutschland nicht als Identitätsnachweis zur Belegung der Minderjährigkeit genügt. Die Entscheidung beruht dabei auf konsularischen Hinweisen des Auswärtigen Amts über fehlende Urkundensicherheit öffentlicher Urkunden aus Afghanistan. Gleiches hat das Oberverwaltungsgericht Bremen140 für eine Geburtsurkunde aus Gambia festgestellt. Diese könne keine Gewähr für ihre inhaltliche Richtigkeit bieten. Auch Geburtsurkunden aus dem Jemen sind nach Ansicht des Verwaltungsgerichts München141 nicht ausreichend verlässlich, da dort kein konsistentes Geburtenregister bestehe. Dies hat das Gericht auf einen Länderbericht des US-Außenministeriums sowie auf einen Hinweis des deutschen Auswärtigen Amts vom 5. Februar 2018 gestützt, nach dem keine Möglichkeit bestehe, jemenitische Urkunden auf ihre Echtheit und inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen.Weiterhin sind nach der Ansicht des Verwaltungsgerichts München142 auch Urkunden aus dem Irak nicht ausreichend glaubhaft. Als Grund wurde wiederum ein Bericht des Auswärtigen Amts angeführt, nach dem im Irak jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, gegen Bezahlung zu beschaffen sei. Weiterhin seien gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums im Umlauf, sodass Legalisationen und auch eine inhaltliche Richtigkeitsprüfung mangels Amtshilfe der irakischen Behörden nicht möglich seien. Zu Fehlern bei der Altersfeststellung durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere kann außerdem führen, dass einige Länder des Nahen Ostens dem islamischen oder persischen Kalender folgen, sodass eine Umrechnung erforderlich ist.143 Diese umfangreiche Rechtsprechung zu ausländischen Identitätsnachweisen zeigt, dass kaum typische Herkunftsländer von Asylsuchenden existieren, deren Ausweispapiere von Gerichten als zuverlässig erachtet werden. Dies führt zu einer größeren Bedeutung des Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII. Es 138 139 140 141 142 143

BayVGH, a.a.O. OVG Bremen, Urt. v. 19.08.16 – 1 B 169/16; BeckRS 2016, 51781 Rn. 8. OVG Bremen, Beschl. v. 18. 11. 2015 – 2 B 221/15; NVwZ 2016, 1188, 1191 Rn. 32. VG München, Beschl. v. 28. 04. 2020 – M 18 E 20.1548, BeckRS 2020, 8674 Rn. 34. VG München, Beschl. v. 23. 07. 2019 – M 18 E 19.2076, BeckRS 2019, 41597 Rn. 26. Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167, 1168.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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wird deutlich, dass Altersfeststellungen nicht nur dann stattfinden, wenn Ausländer ihre Ausweispapiere fälschen oder vernichten. In der Literatur wird teilweise kritisch darauf hingewiesen, dass es nicht zulässig sei, aufgrund einer unzuverlässigen amtlichen Dokumentation im Ausland betroffene Ausweispapiere zwingend als fehlerhaft oder gefälscht einzuordnen.144 Die Rechtsprechung ist aber insofern überzeugend, als sie mit dem Telos von § 42 Abs. 1 SGB VIII übereinstimmt. Denn die Einsichtnahme in die Ausweispapiere bezweckte eine möglichst zuverlässige Altersbestimmung, die nur durch zuverlässige oder überprüfbare Dokumente gewährleistet werden kann. Steht aufgrund objektiver Anhaltspunkte, wie sie beispielsweise den Berichten des Auswärtigen Amts zugrunde liegen, fest, dass Urkunden aus bestimmten Ländern per se nicht zuverlässig sind, muss das Jugendamt das angegebene Alter des Betroffenen über das weitere Verfahren der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII überprüfen.145. Das Jugendamt stuft unzuverlässige Ausweispapiere damit auch nicht im Umkehrschluss als fehlerhaft oder gefälscht ein. Gegenstand der weiteren Altersfeststellung ist bei der Vorlage unzuverlässiger Ausweispapiere lediglich die Verifizierung der gemachten Angaben. II. Qualifizierte Inaugenscheinnahme Häufig kommt es zusätzlich zu den zweifelhaften Identitätspapieren zu widersprüchlichen Aussagen seitens eines unbegleitet eingereisten Ausländers. In anderen Fällen kann der Ausländer keine Ausweispapiere vorlegen. Nach Schätzungen der Bundesregierung aus September 2016 konnten ca. 60 % der Asylbewerber in Deutschland kein Identifikationsdokument vorlegen.146 Eine Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGB VIII ist daher bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern nur selten erfolgreich. Das Jugendamt hat deshalb regelmäßig in einem nächsten Schritt der Altersfeststellung eine qualifizierte Inaugenscheinnahme gemäß § 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGB VIII durchzuführen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die Inaugenscheinnahme lediglich „hilfsweise“ durchzuführen ist, also gegenüber der Einsichtnahme in Ausweispapiere subsidiären Charakter hat.147 Lässt sich das Alter nach der Einsichtnahme in die Ausweispapiere eindeutig und zweifelsfrei feststellen, ist die Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt nicht zulässig. Es fehlt 144

Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42f SGB VIII Rn. 5. 145 So auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 28. 146 BT Stenographischer Bericht, 192. Sitzung, Plenarprotokoll 18/192 v. 28. 09. 2016, S. 19130 B. 147 Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42f SGB VIII Rn. 6; Tillmanns, in: MüKo zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 42f SGB VIII Rn. 5.

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aufgrund des subsidiären Charakters dann bereits an einer Rechtsgrundlage. Hinzu kommt, dass die qualifizierte Inaugenscheinnahme grundsätzlich einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG darstellt (vgl. S. 161). Dieser muss verhältnismäßig ausgestaltet sein, da er sonst nicht gerechtfertigt werden kann. Kann der Ausländer zuverlässige Identifikationsdokumente vorlegen, die seine Minderjährigkeit glaubhaft machen, ist eine qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGB VIII nicht mehr erforderlich, somit unverhältnismäßig und im Ergebnis nicht gerechtfertigt. Fraglich ist, welche Anforderungen an eine „qualifizierte“ Inaugenscheinnahme zu stellen sind. Bereits dem Wortlaut nach geht diese über eine „normale“ Inaugenscheinnahme hinaus. Nach der Gesetzesbegründung148 soll die qualifizierte Inaugenscheinnahme den Gesamteindruck würdigen, der neben dem äußeren Erscheinungsbild insbesondere auch die Bewertung der in einem Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand miteinbeziehen. Weiterhin soll auch die Einholung von Auskünften jeder Art, die Anhörung von Beteiligten, die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, die Berücksichtigung von schriftlichen oder elektronischen Äußerungen von Beteiligten und der Bezug von Dokumenten, Urkunden und Akten von dieser Befugnis umfasst sein. Es handelt sich bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme demnach nicht nur um eine bloße Bewertung der äußeren Merkmale, sondern auch um eine umfassende Einschätzung der geistigen Reife. Dies ist nachvollziehbar und begrüßenswert, da sich auch über die geistige Reife Schätzungen zum Alter des Betroffenen treffen lassen. 1. Grundsätze bei der Durchführung der qualifizierten Inaugenscheinnahme Aus der Gesetzesbegründung selbst ergibt sich nicht, auf welche Art und Weise die qualifizierte Inaugenscheinnahme durchzuführen ist. Es wird lediglich festgehalten, dass das Kindeswohl unter Achtung der Menschenwürde und körperlichen Integrität Maßstab zur Festsetzung des Alters sein soll. Des Weiteren wird – wie bereits erwähnt – auf die Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter verwiesen.149 Nach den Handlungsempfehlungen der Bundearbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter soll die qualifizierte Inaugenscheinnahme im Vier-Augen-Prinzip stets durch zwei Personen durchgeführt werden.150 Dies ist nach hier vertretener Ansicht aus verschiedenen Gründen auch geboten. Zum einen ist die Bewertung der äußerlichen Merkmale und des Verhaltens des Betroffenen durch zwei Personen zu-

148

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 150 Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, 2. Fassung 2017, S. 21. 149

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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verlässiger. Gleichzeitig dient dies aber auch Beweiszwecken sowie dem Schutz des mutmaßlich Minderjährigen selbst. Qualifizierte Personen können nach der Handlungsempfehlung Sozialpädagogen, Sozialarbeiter oder psychologische Fachkräfte sein. Sie sollen fundierte Berufserfahrung in der Kriseninterventionsarbeit haben und staatlich anerkannt sein. Weiterhin wird Erfahrungswissen in der sozialpädagogischen bzw. psychotherapeutischen Arbeit mit Migranten aus unterschiedlichen Kulturen gefordert. Zusätzlich sollen sie Kenntnisse über kulturelle und ethnische Hintergründe der Flüchtlinge haben. Auch erfahrene Verwaltungskräfte des Jugendamts können den Handlungsempfehlungen zufolge zur Durchführung der Inaugenscheinnahme geeignete Personen sein. Die Mitarbeiter sollen allerdings eine langjährige Berufserfahrung im Umgang mit jungen Menschen haben und von erfahrenen Vorgängern in diese Aufgabe eingearbeitet worden sein. Außerdem ist beim Gespräch zur Hilfe gegebenenfalls ein Sprachmittler hinzuzuziehen.151 Auch hierbei handelt es sich um eine gebotene Regelung. Denn die qualifizierte Inaugenscheinnahme stellt eine vergleichsweise unzuverlässige Methode der Altersfeststellung dar. Wenn bereits bei der Auswertung von Röntgenaufnahmen der Knochen durch medizinisches Fachpersonal Fehlerspannen existieren (vgl. S. 96 ff.), gilt dies umso mehr für eine Wertung des äußerlichen Erscheinungsbildes durch sozialpädagogisches Fachpersonal.152 Durch die Beschränkung auf ausreichend erfahrene und geschulte Personen kann die Fehlerspanne bei der Altersfeststellung eingegrenzt werden. Auch die Rechtsprechung hat mittlerweile vereinzelt Kriterien aufgestellt, die von Jugendämtern beachtet werden müssen. Die Gerichte haben sich dabei weitgehend an den Vorgaben der Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft orientiert und fordern ebenfalls die Hinzuziehung eines Sprachmittlers sowie die Einhaltung des Vier-Augen-Prinzips.153 Besonders hervorgehoben wird dabei auch die Bedeutung der beruflichen Erfahrung der Mitarbeiter des Jugendamts.154 Der von der Inaugenscheinnahme betroffene Ausländer soll außerdem mit den Zweifeln an seiner Eigenangabe konfrontiert und ihm dabei die Möglichkeit geboten werden, die Zweifel auszuräumen.155 Das Ergebnis der Altersfeststellung muss nachvollziehbar und überprüfbar dokumentiert werden, die Gesamtwürdigung muss transparent gestaltet sein.156 151 Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, 2. Fassung 2017, S. 57. 152 So auch Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 f SGB VIII Rn. 8. 153 OVG Bremen, Beschl. v. 04. 06. 2018 – 1 B 82/18, NVwZ 2018, 1899, 1900 Rn. 15; OVG Bremen, Beschl. v. 22. 02. 2016 – 1 B 303/15, NVwZ-RR 2016, 592, 593 Rn. 13. 154 OVG Münster, Beschl. v. 13. 11. 2014 – 12 B 1280/14, juris-Rn. 18, BeckRS 2015, 41340. 155 OVG Bremen, Urt. v. 21. 09. 2016 – 1 B 164/16, BeckRS 2016, 52525 Rn. 14. 156 OVG Lüneburg Beschl. v. 22. 03. 2017 – 4 ME 83/17, BeckRS 2017, 108453 Rn. 5.

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2. Wertung der äußeren Altersmerkmale Wichtiger Faktor der Altersfeststellung durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme ist eine Wertung der äußeren Altersmerkmale des Betroffenen. Maßgebliche Kriterien sind hierbei Größe und Gewicht, Proportionen der Größe der Gliedmaßen im Verhältnis zum Gesamtorganismus, Stirnfalten, Gesichtszüge, Bartansatz, Stimmhöhe und -lage, Schulterbreite, Muskelaufbau, Ausprägung sekundärer weiblicher Geschlechtsmerkmale.157 Sowohl die Gesetzesbegründung als auch die Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter schweigen zu dem zulässigen Ausmaß der Körperuntersuchung. In Bezug auf die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII findet sich in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Frauen, Senioren und Jugend des Bundestages lediglich der Hinweis, dass Genitaluntersuchungen ausgeschlossen werden sollen.158 Unklar bleibt dabei, wie weit beispielsweise die Untersuchung der sekundären weiblichen Geschlechtsorgane gehen darf. Vor dem Hintergrund, dass die qualifizierte Inaugenscheinnahme im Gegensatz zur ärztlichen Untersuchung nicht durch geschultes medizinisches Fachpersonal durchgeführt wird, müssen dort noch strengere Maßstäbe gesetzt werden. Es ist daher davon auszugehen, dass die Inaugenscheinnahme – auch bzw. insbesondere bezüglich der sekundären Geschlechtsmerkmale – nur bei bekleidetem Körper erfolgen darf.159 Problematisch ist, dass es bei den äußeren Merkmalen insbesondere in der kritischen Altersgruppe der 14- bis 21-Jährigen große Wachstumsunterschiede geben kann. So setzt der Bartwuchs bei einigen Männern bereits mit 15 Jahren ein, während er bei anderen gänzlich ausbleibt. Auch der Stimmbruch setzt bei vielen Jungen in einem unterschiedlichen Alter ein. Lediglich das Fehlen des Stimmbruchs könnte als Indiz für fehlende Volljährigkeit herangezogen werden. Die Wertung der äußeren Merkmale hängt stark von der subjektiven Einschätzung der Personen ab, welche die Inaugenscheinnahme vornehmen und ist folglich stark fehleranfällig. In der Rechtsprechung ist in diesem Zusammenhang festgehalten worden, dass eine Alterseinschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale für sich genommen keine ausreichende Grundlage für die Annahme von Volljährigkeit darstellt.160 Daraus ergibt sich ein weiterer wesentlicher Grundsatz der qualifizierten Inaugenscheinnahme: Das Jugendamt darf die Altersschätzung unabhängig von seiner Überzeugung vom Alter des Betroffenen nicht ausschließlich an einer Wertung der 157 OVG Bremen, Beschl. v. 22. 02. 2016 – 1 B 303/15, NVwZ-RR 2016, 592, 594 Rn. 19; OVG Lüneburg Beschl. v. 22. 03. 2017 – 4 ME 83/17, BeckRS 2017, 108453 Rn. 6. 158 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. 159 So auch im Ergebnis Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42f SGB VIII Rn. 5; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 f SGB VIII Rn. 7. 160 BayVGH, Beschl. v. 13. 12. 2016 – 12 CE 16.2333, BeckRS 2016, 56085 Rn. 34; BayVGH, Beschl. v. 23. 9. 2014 – 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865, NVwZ-RR 2014, 959, 961 Rn. 21.

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äußeren Altersmerkmale festmachen, sondern muss auch die geistige Reife des Betroffenen mit einbeziehen. Dies ergibt sich sowohl tatsächlich aus der hohen Fehleranfälligkeit der äußerlichen Inaugenscheinnahme, aber auch rechtlich aus der Gesetzesbegründung.161 3. Bewertung der geistigen Reife des Betroffenen Nach der Gesetzesbegründung erfolgt die Bewertung der geistigen Reife des Betroffenen in erster Linie auf Basis eines Gesprächs mit dem Ausländer.162 Dies kann in der Praxis Probleme bereiten. In der Regel sprechen unbegleitete minderjährige Ausländer lediglich ihre Muttersprache und nur in seltenen Fällen gebrochenes Englisch. An den Gesprächen sind daher gegebenenfalls Sprachmittler zu beteiligen.163 Die Zwischenschaltung eines Dolmetschers kann bereits die Einschätzung der geistigen Reife des Betroffenen erschweren, da das Jugendamt dann die Ausdrucksweise nicht mehr unmittelbar bewerten kann. Nach den Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter haben die Fachkräfte, welche die Inaugenscheinnahme durchführen, außerdem einen Evaluierungsbogen zur Dokumentation auszufüllen. Neben den Fragen nach Herkunft und Verwandten werden auf dieser Basis auch ein Schulbesuch, die Motivation für die Ausreise und der Fluchtweg dokumentiert.164 Eine Einschätzung der geistigen Reife ist auch aus Praxissicht zweckmäßig. Denn die geistige Reife lässt ebenfalls Rückschlüsse auf das tatsächliche Alter einer Person zu. Zwar gibt es auch hier naturgemäß eine erhebliche Fehlerspanne, da der geistige Entwicklungsstand auch unter Gleichaltrigen massiv divergieren kann. Allerdings lässt insbesondere eine Begutachtung der geistigen Reife annährend zuverlässige Schlüsse auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen zu – unabhängig vom tatsächlichen Alter. 4. Durchsuchungsbefugnis des Jugendamts Eine weitere praxisrelevante Frage zum Umfang der Befugnisse der Mitarbeiter eines Jugendamts ist, ob diese im Rahmen der Inaugenscheinnahme berechtigt sind, den Ausländer und dessen mitgeführte Sachen zu durchsuchen. Dies könnte für das Jugendamt vor allem dann interessant sein, wenn der Eindruck entsteht, dass der Betroffene Ausweisdokumente oder ähnliches verbergen möchte. Die Durchsuchung von Personen auf staatliche Veranlassung stellt grundsätzlich einen nicht unerheblichen Eingriff in die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 161

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 163 OVG Bremen, Beschl. v. 22. 02. 2016 – 1 B 303/15, NVwZ-RR 2016, 592, 593 Rn. 13. 164 Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, 2. Fassung 2017, S. 58 ff. 162

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GG sowie in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dar.165 Da insbesondere die Eingriffsverwaltung bei ihrem Handeln an den Vorbehalt des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gebunden ist,166 wäre für eine Durchsuchung der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer eine taugliche Rechtsgrundlage erforderlich. Ausdrücklich ergeben sich Durchsuchungsbefugnisse des Jugendamts zum Zwecke der Altersfeststellung weder aus dem Gesetz noch aus der Gesetzesbegründung. a) Wortlautauslegung des § 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII Fraglich ist, ob der Wortlaut des § 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII selbst hierzu herangezogen werden kann. Eine ausdrückliche Durchsuchungsbefugnis ergibt sich daraus unzweifelhaft nicht. Allerdings könnte eine weite Auslegung des Begriffs der „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ eine Befugnis zur Durchsuchung von Gegenständen des Betroffenen beinhalten. Der Zusatz, dass die Inaugenscheinnahme „qualifiziert“ zu erfolgen hat, lässt zwar darauf schließen, dass der Gesetzgeber dem Jugendamt weitere Befugnisse einräumen wollte als eine „normale“ Inaugenscheinnahme zuließe. Allerdings ergibt sich aus der Gesetzesbegründung kein Hinweis auf die Möglichkeit einer Durchsuchung des Betroffenen. Vielmehr wird der „Qualifizierung“ der Inaugenscheinnahme dadurch Rechnung getragen, indem nicht nur das äußere Erscheinungsbild gewertet wird, wie es bei einer „normalen“ Inaugenscheinnahme denkbar wäre, sondern auch im Gespräch mit der betroffenen Person gewonnene Informationen zum Entwicklungsstand gewertet werden.167 Daraus lässt sich kein Rückschluss auf eine Durchsuchungsbefugnis schließen. Auch die in der Gesetzesbegründung enthaltene Aufzählung von weiteren, von der qualifizierten Inaugenscheinnahme umfassten Befugnissen deutet nicht auf das Bestehen einer Durchsuchungsbefugnis nach § 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII hin. Danach ist unter anderem lediglich die „Beiziehung“ von Dokumenten, Urkunden und Akten möglich.168 Auch wenn die Aufzählung nicht eindeutig als abschließend bezeichnet ist, dürfte eine Durchsuchung gegen den Willen des Betroffenen den Umständen nach nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen sein. Die Beiziehung von Dokumenten, Urkunden und Akten dürfte sich lediglich auf den behördlichen Austausch beziehen. Allein der Wortlaut „qualifizierte“ Inaugenscheinnahme lässt somit keinen Schluss auf eine Befugnis des Jugendamts zur Personendurchsuchung zu, sodass § 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII nicht entsprechend als Rechtsgrundlage herangezogen werden kann. 165

Leggereit, in: Möstl/Mühl, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht, § 36 HSOG Rn. 4. Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 20 GG Rn. 172; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20 Abs. 3 GG (Stand: 92. EL 2018) Rn. 111. 167 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 168 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 166

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b) Mitwirkungspflichten nach § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII Möglicherweise trifft den unbegleiteten, minderjährigen Ausländer jedoch eine Pflicht zur Duldung einer solchen Durchsuchung. Diese könnte sich aus der Verweisung von § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII auf § 60 Abs. 1 SGB I ergeben. Gemäß § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB I hat jeder, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. Dass es sich beim Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII nicht unmittelbar um die Beantragung und den Erhalt von Sozialleistungen im Sinne von § 11 SGB I handelt (vgl. S. 23), sondern um die Altersfeststellung, ist aufgrund der entsprechenden Verweisung in § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII unbeachtlich.169 Denkbar wäre in diesem Zusammenhang eine Anordnung des Jugendamts zur Entleerung von Taschen und Gegenständen des Betroffenen, deren Zulässigkeit sich aus einer solchen Mitwirkungspflicht ergeben könnte. Dabei ergeben sich allerdings zwei dogmatische Probleme. Zum einen müsste sich die Verweisung aus § 42f Abs. 2 SGB VIII auch auf Absatz 1 beziehen, zum anderen müsste ein Verstoß des Ausländers gegen die Mitwirkungspflicht auf Rechtsfolgenseite eine Durchsuchung zulassen. Es stellt sich zunächst die Frage, ob sich die Verweisung auf die Mitwirkungspflichten aus § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII auch auf die qualifizierte Inaugenscheinnahme aus Absatz 1 bezieht. Die Verweisung auf die entsprechende Anwendbarkeit der Mitwirkungspflichten aus §§ 60 ff. SGB I findet sich lediglich in § 42f Abs. 2 SGB VIII. Dort ist ausschließlich das Verfahren zur ärztlichen Altersfeststellung geregelt. Eine Anwendung von § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII auf § 42f Abs. 1 SGB VIII, der die Einsichtnahme in Ausweispapiere und die qualifizierte Inaugenscheinnahme als erste Stufe der Altersfeststellung regelt, ist mit der Systematik der Norm nur schwer zu vereinbaren. Sämtliche Regelung in Absatz 2 beziehen sich auf die ärztliche Altersuntersuchung. Auch in der Gesetzesbegründung findet sich kein Hinweis dahingehend, dass die Mitwirkungspflichten der §§ 60 ff. SGB VIII auch im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme Anwendung finden sollen. Die Verweisung wird hier nur im Zusammenhang mit der ärztlichen Altersfeststellung erwähnt.170 Dies spricht dagegen, dass die Anwendung auf § 42f Abs. 1 SGB VIII Intention des Gesetzgebers war. Ein teleologischer Ansatz könnte allerdings zu einem anderen Ergebnis führen. Zweck der Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I ist es, neben der aktiven Einbeziehung des Leistungsempfängers dem Interesse der Sozialleistungsträger an einer schnellen Sachverhaltsaufklärung mit möglichst geringem Aufwand gerecht zu 169

Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 55; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 f SGB VIII Rn. 12. 170 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

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werden. Zusätzlich liegt es im öffentlichen Interesse, dass den Leistungsempfängern Mitwirkungspflichten im Zusammenhang mit steuer- und sozialabgabenfinanzierten Leistungen auferlegt werden.171 Vorliegend würde es insbesondere dem Interesse der Jugendämter an einer zügigen Klärung der Altersfeststellung dienen, wenn überprüft werden könnte, ob der die Inobhutnahme begehrende Ausländer nicht doch Ausweispapiere oder ähnliche Identitätsdokumente bei sich trägt. In manchen Fällen könnte sich dann eine aufwändige und zeitintensive ärztliche Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII erübrigen. Es ist auch nicht zweckmäßig, dass Mitwirkungspflichten von Ausländern im Rahmen des § 42f SGB VIII nur bei der ärztlichen Untersuchung, aber nicht bei der Einsichtnahme in Ausweispapiere oder der qualifizierten Inaugenscheinnahme bestehen sollen. Denn auch hier bedarf es einer Mitwirkung des Betroffenen. Zeigt sich dieser unkooperativ, dürfte es dem Jugendamt schwerfallen, das Alter auf bloßer Basis der Inaugenscheinnahme zu schätzen. Zwar könnte dann regelmäßig eine ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII durchgeführt werden. Allerdings ist Zweck der Mitwirkungspflichten gerade eine Schonung von Zeit und Kosten der staatlichen Behörden. Insofern erscheint es gerechtfertigt, § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII auch auf Absatz 1 anzuwenden. Beide Überlegungen können jedoch dahinstehen, wenn selbst eine entsprechende Anwendbarkeit der §§ 60 ff. SGB VIII nicht zur gewollten Rechtsfolge führen würde. Das ist hier der Fall. Denn das bloße Bestehen einer Mitwirkungspflicht kann nicht automatisch zur Pflicht der Duldung einer Durchsuchung führen. Dies ergibt sich aus der Systematik der §§ 60 ff. SGB VIII. Trotz des Wortlauts „Mitwirkungspflicht“ handelt es sich dabei nicht um unmittelbar „vollstreckbare“ Pflichten, sondern vielmehr um „Mitwirkungsobliegenheiten“, bei deren Verweigerung dem Leistungsempfänger Rechtsnachteile drohen.172 So können gemäß § 66 Abs. 1 SGB I Sozialleistungen ganz oder teilweise versagt bzw. entzogen werden, wenn der Leistungsempfänger seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt oder die Aufklärung des Sachverhalts erschwert. Ein Verstoß gegen Mitwirkungspflichten führt damit lediglich zu Nachteilen für den Leistungsempfänger, aber nicht zu Rechten der Behörde zur zwangsweisen Durchsetzung der Mitwirkung. Aus diesem Grund kann sich im Zusammenhang mit § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII und § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB I keine Befugnis des Jugendamts zur Durchsuchung des Ausländers ergeben. c) Analoge Anwendung des § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG Dem Gesetzgeber hat Durchsuchungsbefugnisse von Behörden zum Zwecke der Identifizierung von Ausländern allerdings an anderer Stelle vorgesehen. Sowohl im Asylverfahrensrecht gemäß § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG als auch im Aufenthaltsrecht 171

Hase, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 60 SGB I Rn. 3; Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 60 SGB I Rn. 28. 172 Hase, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 60 SGB I Rn. 4; Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 60 SGB I Rn. 82.

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gemäß § 48 Abs. 3 S. 2 AufenthG besteht eine Befugnis der Ausländerbehörden zur Durchsuchung von Ausländern. Diese Vorschriften könnten ihrem Zweck nach im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme zur Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGB VIII entsprechend anwendbar sein.173 Gemäß § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG können die mit der Ausführung des Gesetzes betrauten Behörden den Ausländer und mitgeführte Sachen durchsuchen, wenn der Ausländer seinen Verpflichtungen nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 und 5 AsylG nicht nachkommt. Danach ist er verpflichtet, seinen Pass bzw. Passersatz den mit der Ausführung des AsylG betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 5 AsylG muss er weiterhin den gleichen Behörden alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in seinem Besitz sind, vorlegen, aushändigen und überlassen. Eine weitere Durchsuchungsbefugnis besteht, wenn der Ausländer entgegen seiner Mitwirkungspflicht aus § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG im Falle des Nichtbesitzes von Pass oder Passersatz bei der Beschaffung eines Identitätspapieres nicht mitwirkt oder trotz Verlangen Datenträger, die für die Identität und Staatsangehörigkeit Bedeutung haben, nicht vorlegt, aushändigt oder überlässt und Anhaltspunkte bestehen, dass er im Besitz solcher Unterlagen oder Datenträger ist. Eine direkte Anwendung der Norm scheidet bereits dem Wortlaut nach aus. Die Mitwirkungspflichten nach § 15 Abs. 2 AsylG bestehen lediglich gegenüber den zuständigen Asylbehörden, nicht aber gegenüber den Jugendämtern. Eine Durchsuchungsbefugnis der Jugendämter nach § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG könnte sich damit nur aus einer analogen Anwendung der Norm ergeben. Voraussetzung für eine solche Analogie ist grundsätzlich eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage.174 Den Ausgangspunkt einer Analogiebildung bildet stets die Feststellung einer Regelungslücke, aus der sich die Notwendigkeit zur analogen Anwendung einer dem Wortlaut nach sachverhaltsfremden Norm ergibt.175 Das Bestehen einer Regelungslücke ergibt sich vorliegend daraus, dass sich auch nach weiter Auslegung des Wortlauts keine Durchsuchungsbefugnis des Jugendamts aus § 42f SGB VIII ergibt. Es existiert auch außerhalb von § 42f SGB VIII keine Norm, die eine solche Maßnahme in direkter Anwendung zulassen würde. Es bleibt damit lediglich der Rückgriff auf die analoge Anwendung einer vergleichbaren Norm wie § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG. Für eine Analogiebildung ist außerdem eine vergleichbare Interessenlage erforderlich. Eine solche ist gegeben, wenn der ungeregelte Sachverhalt und die von der 173 Aufgrund der inhaltlichen Ähnlichkeit von § 15 AsylG und § 48 AufenthG wird lediglich eine analoge Anwendung von § 15 AsylG – der unmittelbar im Rahmen des Asylverfahrens zur Anwendung kommt, geprüft. 174 BGH, Urt. v. 13. März 2003 – I ZR 290/00, NJW 2003, 1932, 1933; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 194 ff. 175 Beaucamp, AöR 2009, 83, 84.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

heranzuziehenden Norm geregelten Sachverhalte eine gewisse Ähnlichkeit im Sinne eines gemeinsamen Grundgedankens aufweisen.176 Zweck von der Durchsuchungsbefugnis nach § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG ist es, zu verhindern, dass Ausländer ihren Pass oder ähnliche Identifikationspapiere bei sich tragen, aber vor den zuständigen Behörden verstecken.177 Geregelt werden Sachverhalte, in denen sich Ausländer einer Identitätsfeststellung entziehen wollen, um dadurch aufenthaltsrechtliche Vorteile zu erzielen. Ähnlich verhält es sich mit volljährigen Ausländern, die missbräuchlich die Inobhutnahme nach § 42ff. SGB VIII begehren. Auch sie wollen ihre Identitätsfeststellung bezüglich ihres Geburtsdatums verhindern, um aufenthaltsrechtliche Vorteile zu erzielen und verstecken deshalb möglicherweise Identifikationspapiere. Das Interesse der Jugendämter, dieses Vorgehen zu verhindern, steht dem Interesse der Asylbehörden an der Durchsuchungsbefugnis gleich. Eine vergleichbare Interessenlage ist damit gegeben. Das Vorliegen einer Regelungslücke und eine interessenmäßig vergleichbare Norm sind allerdings nichts ausreichend für einen Analogieschluss. Berücksichtigt werden muss zwingend auch der Wille des Gesetzgebers. Aufgrund der Gewaltenteilung nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG liegt die Gesetzgebung in Deutschland grundsätzlich im Aufgabenbereich des Gesetzgebers. Die Gerichte sind nur begrenzt zur Rechtsfortbildung befugt.178 Hat sich der Gesetzgeber also bewusst dafür entschieden, einen Sachverhalt nicht zu regeln, steht dies einer Analogiebildung entgegen. Zu prüfen ist damit, ob die festgestellte Regelungslücke planwidrig ist. Planwidrig ist eine Regelungslücke immer dann, wenn sie im Widerspruch zu Überlegungen und Plänen des Gesetzgebers oder zu höherrangigem Recht steht.179 Ein Widerspruch zu höherrangigem Recht besteht durch die fehlende Regelung einer Durchsuchungsbefugnis im Rahmen der Altersfeststellung bei unbegleiteten Ausländern nicht. Die Einräumung einer Durchsuchungsbefugnis an einer Person stellt im Gegenteil unter Umständen einen Eingriff in die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG sowie in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dar und bedarf einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Für die Planwidrigkeit der Regelungslücke müsste also das Fehlen einer Rechtsgrundlage für eine Durchsuchungsbefugnis des Jugendamts in Widerspruch zu der Intention des Gesetzgebers stehen. Maßgebliche Quelle zur Ermittlung der Intention des Gesetzgebers ist vorliegend die Gesetzesbegründung der Norm, die einen Sachverhalt ungeregelt gelassen hat. 176

Beaucamp, AöR 2009, 83, 84 ff. BT-Drs. 12/2718 v. 02. 06. 1992, S. 60; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 15 AsylG Rn. 13. Houben, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 15 AsylG Rn. 16. 178 BVerfG, Beschl. v. 10. 07. 1968 – 1 BvF 1/58, BVerfGE 8, 71, NJW 1958, 1388; Drechsler, ZJS 2015, 344, 352; Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 449; Walter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 93 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 113. 179 Beaucamp, AöR 2009, 83, 84. 177

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Sowohl in der Stellungnahme des Bundesrats, in der ein verbindliches Verfahren zur Altersfeststellung erstmals gefordert wurde, als auch in der späteren Gesetzesbegründung findet sich kein Hinweis auf eine Durchsuchungsbefugnis.180 In Betracht zu ziehen wäre demnach, dass der Gesetzgeber diesen Fall mit der Einführung von § 42f SGB VIII im Jahr 2015 übersehen hat. Auch das Vergessen oder Übersehen eines regelbedürftigen Sachverhalts kann für die Planwidrigkeit einer Regelungslücke sprechen.181 Allerdings könnte der Gesetzgeber eine Durchsuchungsbefugnis des Jugendamts auch bewusst im Sinne eines „beredten Schweigens“ nicht geregelt haben, sodass kein Übersehen oder Vergessen vorliegen würde. Denn anders als bei § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG geht es im vorliegenden Fall ausschließlich um Ausländer, bei denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie minderjährig sind. In jedem Fall wären Minderjährige von einer solchen Durchsuchungsbefugnis betroffen. Der Gesetzgeber hatte bei der Frage, ob auch das Jugendamt eine Durchsuchungsbefugnis entsprechend der Asylbehörden haben sollte, zusätzlich Kindeswohlgesichtspunkte zu berücksichtigen. In der Gesetzesbegründung zu § 42f Abs. 1 SGB VIII wird festgehalten, dass der Maßstab zur Festsetzung des Alters das Kindeswohl bzw. das Wohl der ausländischen Person sein soll. Dabei sind insbesondere die Achtung der Menschenwürde und der körperlichen Integrität zu wahren.182 Bei einer Personen- und Sachdurchsuchung handelt es sich um einen nicht unerheblichen Eingriff in die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG sowie in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.183 Diesem Eingriff steht nur ein geringer Nutzen der Durchsuchungsbefugnis gegenüber. Denn nur in wenigen Fällen werden Ausländer mit Täuschungsabsicht enttarnende Dokumente noch bei sich tragen. In den meisten Fällen dürften diese spätestens mit der Einreise nach Deutschland entsorgt worden sein. In diesem Zusammenhang erscheint es überzeugender, dass der Gesetzgeber dem Jugendamt bewusst keine Befugnis zur Durchsuchung der Ausländer einräumen wollte. Damit fehlt es an der Planwidrigkeit der Regelungslücke, sodass eine analoge Anwendung ausscheidet. Unabhängig vom gesetzgeberischen Willen könnte eine analoge Anwendung von § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG auch noch an der Analogiefähigkeit der Norm scheitern. Denn in bestimmten Fällen darf auch die Judikative den Anwendungsbereich einer Norm nicht eigenständig ausdehnen. Problematisch im vorliegenden Fall ist, dass es sich bei § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG um eine Eingriffsermächtigung der Verwaltung im öffentlichen Recht handelt. Grundsätzlich sind Normen des öffentlichen Rechts wie auch im Zivilrecht zwar analogiefähig, um auch im Interesse des Bürgers Rechtsfortbildung und -anwendung vorantreiben zu können.184 Nach der Rechtsprechung 180

BT-Drs. 18/6289 v. 08. 10. 2015, S. 2; BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20 f. Beaucamp, AöR 2009, 83, 85. 182 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 183 Nachbaur, in: Möstl/Trurnit, BeckOK, Polizeirecht Baden-Württemberg, § 29 PolG Rn. 3 f. 184 Beaucamp, AöR 2009, 83, 86. 181

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

des Bundesverfassungsgerichts gilt bei hoheitlichen Eingriffen aber ein allgemeines Analogieverbot. Dies ergibt sich bereits aus dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, der aus dem Rechtsstaatsgebot gem. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet wird.185 Im Ergebnis bleibt damit kein Raum für eine analoge Anwendung von § 15 Abs. 4 S. 1 AsylG. Gleiches gilt auch für die ähnlich lautende Durchsuchungsbefugnis im Aufenthaltsrecht gemäß § 48 Abs. 3 S. 2 AufenthG. Es besteht somit keine Durchsuchungsbefugnis der Jugendämter im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme gemäß § 42f Abs. 1 Alt. 2 SGB VIII. Hierfür wäre eine explizite Rechtsgrundlage erforderlich. 5. Auswertung von Datenträgern Für Mitarbeiter des Jugendamts stellt sich weiterhin die praxisrelevante Frage, ob sie auf Datenträger der Ausländer zugreifen dürften. Häufig führen unbegleitete, minderjährige Ausländer Handys mit sich, um in Kontakt zu ihren Eltern oder Verwandten im Heimatland zu bleiben. Nachrichtenverläufe, Bilder oder anderweitige Eintragungen im Handy (beispielsweise Kalendereinträge) könnten Rückschlüsse auf das Alter des Ausländers zulassen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Jugendämter nach der aktuellen Gesetzeslage berechtigt sind, diese Daten auszulesen und auszuwerten. a) Wortlautauslegung des § 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII Problematisch ist, dass die Auswertung von personenbezogenen Daten einen Grundrechtseingriff darstellt. Betroffen ist insbesondere bei Mobiltelefonen das Recht auf informelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und unter Umständen auch das Fernmeldegeheimnis gemäß Art. 10 GG (einfachgesetzlich in § 88 Abs. 1 TMG geregelt). Wie bei der Durchsuchungsbefugnis (vgl. S. 63) gilt auch hier der Vorbehalt des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG.186 Um die Datenträger eines unbegleiteten, minderjährigen Ausländers auszulesen und zu verwerten, bräuchte das Jugendamt dementsprechend eine taugliche Rechtsgrundlage. Ausdrücklich lässt sich eine solche Rechtsgrundlage aus dem Wortlaut der §§ 42 ff. SGB VIII nicht entnehmen. Möglicherweise könnte die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach weiter Auslegung des Wortlauts eine solche Maßnahme umfassen. Allerdings besteht das qualifizierende Element der Inaugenscheinnahme nach der Gesetzesbegründung lediglich in der Würdigung der im Gespräch ge-

185

BVerfG, Beschl. v. 14. 08. 1996 – 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146; Konzak, NVwZ 1997, 872. 186 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20 Abs. 3 GG (Stand: 92. EL 2018) Rn. 111; Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 20 GG Rn. 172.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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wonnenen Informationen zum Entwicklungsstand des Ausländers.187 Zwar können danach auch schriftliche und elektronische Äußerungen von Beteiligten eingeholt werden sowie Dokumente, Urkunden und Akten eingezogen werden.188 Allerdings würde sich eine Ausweitung dieses Maßnahmenkatalogs auf die Auswertung von Datenträgern gerade im Lichte der grundrechtssensiblen persönlichen Daten zu weit von der Gesetzesbegründung entfernen. b) Mitwirkungspflichten nach § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII Auch aus den Mitwirkungspflichten von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern nach § 42 f Abs. 2 S. 4 SGB VIII i.V.m. § 60 Abs. 1 SGB I lässt sich keine Rechtsgrundlage für eine Auswertung von Datenträgern ableiten. Auch vor dem Hintergrund der strengen Anforderungen des Sozialdatenschutzrechts und der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) sind an eine Rechtsgrundlage für eine Auswertung von Datenträgern besondere Anforderungen zu stellen. Eine Ableitung einer solchen Befugnis aus bloßen Mitwirkungspflichten genügt schon nicht den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Zu beachten ist dabei auch, dass im Rahmen einer solchen Auswertung nicht lediglich altersrelevante Daten ausgewertet werden würden, sondern zwangsläufig auch andere Informationen, die dem engen persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind. Hier ist insbesondere an die besonderen Kategorien personenbezogener Daten im Sinne des Art. 9 Abs. 1 DS-GVO zu denken. c) Analoge Anwendung des § 15a AsylG Entsprechende Vorschriften zur Zulässigkeit der Auswertung von Datenträgern finden sich im mit § 42f SGB VIII eng verwandten Asyl- und Aufenthaltsrecht. Möglicherweise könnte sich die Zulässigkeit der Datenauswertung aus einer analogen Anwendung der §§ 15 Abs. 2 Nr. 6, 15a AsylG ergeben. Gemäß § 15a Abs. 1 S. 1 AsylG ist die Auswertung von Datenträgern zulässig, soweit es für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit des Ausländers unter Verweis auf § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG erforderlich ist und der Zweck der Maßnahme nicht durch mildere Mittel erreicht werden kann. Aus § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG ergibt sich die Verpflichtung eines Ausländers auf Verlangen der für die Ausführung des Asylgesetzes zuständigen Behörden alle Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Eine analoge Anwendung der Normen würde zumindest laut der Gesetzesbegründung zu § 15a AsylG den strengen Anforderungen hinsichtlich des Eingriffs in den Bereich privater Lebensführung Rechnung tragen, da die Daten dort nur von einer Person mit Befähigung zum 187 188

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Richteramt ausgewertet werden dürfen.189 Allerdings steht der analogen Anwendung einer dem Sozialgesetzbuch fremden Norm bereits § 35 Abs. 2 SGB I entgegen. Danach sind die Datenschutzregelungen des Sozialgesetzbuches mit Ausnahme der DS-GVO abschließend. Eine analoge Anwendung von § 15a AsylG wäre damit – unabhängig von der Frage, ob eine planwidrige Regelungslücke mit vergleichbarer Interessenlage besteht – contra legem. Im Übrigen stellt die Auswertung von Datenträgern eine Maßnahme der Eingriffsverwaltung dar, sodass auch hier das Analogieverbot bei hoheitlichen Eingriffen greift und § 15a AsylG nicht analog herangezogen werden kann.190 Das Jugendamt ist damit auf Basis der aktuellen Gesetzeslage weder zur Erhebung noch zur Auswertung von Datenträgern der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer zum Zwecke der Altersfeststellung berechtigt. d) Schaffung einer Rechtsgrundlage Unabhängig davon, ob eine Auswertung von Datenträgern der Betroffenen nach § 42f Abs. 1 SGB VIII rechtlich zulässig wäre, stellt sich die Frage, ob nicht eine Rechtsgrundlage hierzu geschaffen werden sollte. Denn eine Auswertung von Datenträgern könnte insbesondere für die Betroffenen einen geringeren Grundrechtseingriff darstellen als die Durchführung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersbestimmung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII, die nach aktueller Handhabung – was noch zu zeigen sein wird (vgl. S. 88) – den Einsatz von Röntgenstrahlung beinhaltet. Fraglich ist, welche Anforderungen an eine solche Rechtsgrundlage zu stellen wären. Grundsätzlich könnte sich an der entsprechenden Rechtsgrundlage im Asylverfahrensrecht (§ 15a AsylG) orientiert werden. Beachtet werden muss allerdings neben den datenschutzrechtlichen Anforderungen der DS-GVO im Rahmen der Sozialgesetzgebung der Sozialdatenschutz nach § 35 SGB I. Dabei wäre insbesondere der Grundsatz der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung zu beachten. Gerade Handydaten sind der Manipulation zugänglich. So kann beispielsweise ohne größere Umstände ein falsches Geburtsdatum in den Kalender eingetragen werden. Den meisten Handydaten dürfte ohnehin maximal eine Indizwirkung zukommen, sodass der tatsächliche Nutzen gegenüber dem massiven Grundrechtseingriff verschwindend gering erscheint. Auf der anderen Seite könnten die Daten zumindest ergänzend genutzt werden, um die Auskünfte des Ausländers im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme auf Widersprüche zu untersuchen. Im Einzelfall könnte den Handydaten somit zumindest eine Art negativer Beweiskraft zukommen.

189

BR-Drs. 179/17 v. 23. 02. 2017, S. 21. BVerfG, Beschl. v. 14. 08. 1996 – 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146; Konzak, NVwZ 1997, 872. 190

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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Unabhängig von den einfachrechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen müsste die Auswertung im Ergebnis auch verfassungsgemäß sein. Dies wird noch an späterer Stelle untersucht werden (vgl. S. 235 ff.). III. Beteiligung des Ausländers am Verfahren zur Altersfeststellung Für das Jugendamt ist bei der Durchführung des Verfahrens zur Altersfeststellung auf erster Stufe § 42f Abs. 1 S. 2 SGB VIII zu beachten. Danach sind § 8 Abs. 1 SGB VIII sowie § 42 Abs. 2 S. 2 SGB VIII entsprechend anzuwenden. Daraus ergibt sich, dass Kinder und Jugendliche entsprechend ihres Entwicklungsstandes an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind. Unterbleibt diese Beteiligung, ist die Entscheidung der Jugendhilfe formell rechtswidrig.191 Außerdem müssen die Betroffenen gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VIII auf ihre Rechte im Verwaltungsverfahren, im Verfahren vor dem Familiengericht und vor dem Verwaltungsgericht hingewiesen werden. Aus der entsprechenden Anwendung von § 42 Abs. 2 S. 2 SGB VIII ergibt sich weiterhin, dass dem Kind bzw. dem Jugendlichen unverzüglich Gelegenheit zu geben ist, eine Person seines Vertrauens zu kontaktieren. Vertrauenspersonen können auch Geschwister oder Freunde sein.192 Das Jugendamt hat den Betroffenen auf dieses Recht hinzuweisen und darf den Kontakt nur unterbinden, wenn Tatsachen dafür sprechen, dass durch die „Vertrauensperson“ eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten ist.193 Die Verweisung ist erforderlich, da § 42 SGB VIII auf das Stadium der vorläufigen Inobhutnahme nicht anwendbar ist.

B. Zweite Stufe des Verfahrens zur Altersfeststellung, § 42f Abs. 2 SGB VIII Weder die Einsichtnahme in Ausweispapiere noch die qualifizierte Inaugenscheinnahme gemäß § 42f Abs. 1 SGB VIII werden den Problemen der Praxis bei der Altersfeststellung gerecht. Für die Jugendämter ist es auch nach einer oberflächlichen Altersschätzung im Wege der qualifizierten Inaugenscheinnahme schwierig zu entscheiden, ob ein jugendlicher Ausländer beispielsweise 17 oder 18 Jahre alt ist.

191 Heußner, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 8 SGB I Rn. 19; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 8 SGB VIII Rn. 6; vgl. auch Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 f SGB VIII Rn. 3. 192 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 22; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 42 SGB VIII Rn. 25. 193 Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 42 SGB VIII Rn. 29.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof194 hat mittlerweile entschieden, dass eine qualifizierte Inaugenscheinnahme zur Feststellung der Volljährigkeit nur ausreichend sein kann, wenn mit ihr eine für jedermann erkennbare, über jeden Zweifel erhabene, eindeutige Volljährigkeit festgestellt werden kann. Ein Sich-Berufen auf den Status der Minderjährigkeit muss evident rechtsmissbräuchlich erscheinen. Auch der Gesetzgeber hat dieses Problem erkannt und § 42f Abs. 2 SGB VIII als zweite Stufe der Altersfeststellung eingeführt. Danach hat das Jugendamt entweder auf Antrag des Betroffenen bzw. seines Vertreters oder von Amts wegen in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung zu veranlassen. Die betroffene Person ist dabei durch das Jugendamt umfassend über die Untersuchungsmethode und die möglichen Folgen der Altersbestimmung aufzuklären. Außerdem darf die Untersuchung bei einer Veranlassung von Amts wegen nur mit Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden. Weiterhin ist geregelt, dass den Betroffenen aufgrund der entsprechenden Anwendbarkeit der §§ 60, 62 und 65 bis 67 SGB I Mitwirkungspflichten treffen. Aus einer Befragung der Jugendämter im Jahr 2018 durch die Bundesregierung geht allerdings hervor, dass nur ca. 50 % der Jugendämter überhaupt vom Verfahren der medizinischen Altersfeststellung Gebrauch machen, während ca. 85 % immer eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durchführen.195 Absolute Zahlen existieren allerdings noch nicht.196 Insbesondere aus fachmedizinischen Kreisen wird im Zusammenhang mit § 42f Abs. 2 SGB VIII kritisiert, dass der Gesetzgeber die ärztliche Untersuchung als „Altersfeststellung“ bezeichnet hat. Denn eine Altersfeststellung im Sinne einer taggenauen Feststellung des Alters ist nach aktuellem Stand der Wissenschaft und Technik nicht möglich.197 Ziel der Untersuchung ist deshalb auch nicht die genaue Feststellung eines Alters, sondern lediglich die für die Inobhutnahme relevante Feststellung, ob ein Ausländer minderjährig ist oder nicht.198 Im Ergebnis wird diese Differenzierung im Wortlaut für das Verfahren selbst und die Verwertung der Ergebnisse allerdings keinen bezeichnenden Unterschied machen.

194 BayVGH, Beschl. v. 18. 08. 2016 – 12 CE 16.1570, BeckRS 2016, 51383 Rn. 19; BayVGH, Beschl. v. 16. 08. 2016 – 12 CS 15.1550, BeckRS 2016, 50450 Rn. 23. 195 BT-Drs. 19/4517 v. 20. 09. 2018, S. 103. 196 Vgl. BT-Drs. 19/17819 v. 05. 03. 2020, S. 69; die Veröffentlichung des Berichts der Bundesregierung nach § 42e SGB VII zum 31. Dezember 2020, in dem erstmals im Rahmen einer Vollerhebung bei den Jugendämtern zur Häufigkeit der Altersfeststellungsverfahren Stellung genommen werden soll, steht noch aus. 197 Nowotny/Eisenberg/Mohnike, DÄ 2014, A786, A788. 198 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 36; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42f SGB VIII Rn. 2.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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I. Medizinische Altersfeststellung im Zweifelsfall Eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung wird gemäß § 42f Abs. 2 S. 1 SGB VIII nur in Zweifelsfällen durchgeführt. 1. Vorliegen eines Zweifelsfalls Hier steht das Jugendamt in der Praxis vor der Frage, wann ein solcher Zweifelsfall vorliegt. Aus der Gesetzesbegründung ergeben sich hierzu keine weiteren Anhaltspunkte. Nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs199 handelt es sich dogmatisch um einen unbestimmten Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum, der verwaltungsgerichtlich nachprüfbar ist. Den Jugendämtern würde damit keine Einschätzungsprärogative zukommen, sodass die Entscheidung vollständig der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. Nach dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof liegt ein Zweifelsfall vor, wenn die qualifizierte Inaugenscheinnahme nicht zu einem hinreichend sicheren Ergebnis führt. Dies soll zumindest immer dann der Fall sein, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass durch ein ärztliches Fachgutachten Minderjährigkeit festgestellt wird.200 Dieser Definition hat sich die herrschende Literaturmeinung angeschlossen.201 In einer weiteren Entscheidung führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof202 aus, dass eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts allenfalls dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden kann, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle eindeutiger Volljährigkeit auszuschließen, in welchen ein Sich-Berufen des Betroffenen auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigener Unkenntnis vom genauen Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss. Bei allen anderen Fällen soll vom Vorliegen eines Zweifelfalls ausgegangen werden. Damit hat das Gericht eine weite Auslegung des Begriffs gewählt, da nur in wenigen Fällen mit Sicherheit ausgeschlossen werden können dürfte, dass ein ärztliches Fachgutachten Minderjährigkeit feststellen könnte. Aus teleologischer Sicht kann daran bemängelt werden, dass ein weiter Begriff des Zweifelfalls dazu führen kann, dass die Durchführung einer medizinischen Altersfeststellung zum Regelfall wird, obwohl dies nach der Systematik des § 42f SGB VIII nicht die In199

BayVGH, Beschl. v. 05. 04. 2017 – 12 BV 17.185, juris-Rn. 34. BayVGH, Beschl. v. 18. 08. 2016 – 12 CE 16.1570, BeckRS 2016, 51383 Rn. 14; BayVGH, Beschl. v. 05. 04. 2017 – 12 BV 17.185, juris-Rn. 16. 201 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 5; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 39; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42f SGB VIII Rn. 9. 202 BayVGH, Beschl. vom 16. 08. 2016 – 12 CS 16.1550, NVwZ-RR 2017, 238, 240 Rn. 23. 200

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

tention des Gesetzgebers war. Diese Ansicht wird auch teilweise in der Literatur vertreten. Nach einer Auffassung203 soll eine ärztliche Untersuchung nur dann unterbleiben können, wenn entweder die Volljährigkeit derart offensichtlich ist, dass niemand auch bei näherer Befassung mit der Person eine Minderjährigkeit überhaupt in Erwägung ziehen würde, oder, wenn der betroffene Ausländer bereits vorher eingeräumt hat, volljährig zu sein. Dies hätte zur Folge, dass die qualifizierte Inaugenscheinnahme überflüssig werden würde. Statt dieser weiten Auslegung könnte man den Begriff des Zweifelsfalls allerdings auch restriktiv auslegen und das Vorliegen eines solchen nur dann annehmen, wenn konkrete Anhaltspunkte zur Annahme führen, dass der Ausländer volljährig ist. Diese Definition könnte gerade mit Blick auf eine unionskonforme Auslegung im Lichte des Art. 25 RL 2013/32/EU erforderlich sein (vgl. zur Anwendbarkeit S. 245 ff.). Nach dieser Vorschrift ist bei „Zweifeln“ nämlich von Minderjährigkeit auszugehen, sodass daraus folgen könnte, dass das Verfahren nach § 42f Abs. 2 SGB VIII nur restriktiv anzuwenden ist. Das setzt aber voraus, dass das Jugendamt grundsätzlich von der Minderjährigkeit des Betroffenen im konkreten Einzelfall ausgeht. Tendiert das Jugendamt dagegen zur Annahme der Volljährigkeit, liegt es im Interesse des Betroffenen, diese Annahme durch eine zuverlässigere medizinische Altersfeststellung zu überprüfen. Richtlinienkonform ist dann die weite Auslegung, da die medizinische Altersfeststellung dann die Möglichkeit bietet, die Annahme des Jugendamts zu revidieren. Diese – auch für die Praxis problematische – Differenzierung entsteht dadurch, dass sich der Gesetzgeber in § 42f Abs. 2 SGB VIII nicht festgelegt hat, ob der Zweifelsbegriff an die Volljährigkeit oder die Minderjährigkeit anknüpft, also ob Zweifel an der Volljährigkeit oder ob Zweifel an der Minderjährigkeit Voraussetzung für die Durchführung einer medizinischen Altersfeststellung sind.204 In der Praxis ist zu befürchten, dass die fehlende Begriffsklärung zu einer uneinheitlichen Handhabung des Verfahrens der Altersfeststellung führt, da die Auslegung des Begriffs den einzelnen Mitarbeitern des Jugendamts überlassen wird. Dass die Entscheidung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt, hilft nur in Fällen weiter, in denen ein Betroffener gegen die Entscheidung des Jugendamts, die Inobhutnahme zu verweigern, klagt. Mitarbeiter des Jugendamts, die sich der weiten Auslegung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs anschließen würden, könnten praktisch in jedem Fall ein Verfahren nach § 42f Abs. 2 SGB VIII durchführen lassen. Aufgrund der hohen Unzuverlässigkeit einer qualifizierten Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter des Jugendamts nach § 42f Abs. 1 SGB VIII dürfte danach nur in seltenen Fällen mit absoluter Sicherheit von Minderjährigkeit des Betroffenen auszugehen sein, bei203

Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 41. 204 Vgl. dazu auch Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42f SGB VIII Rn. 9.

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spielsweise bei 13- oder 14-Jährigen. Im Ergebnis dürften die meisten jungen Ausländer, die sich einer qualifizierten Inaugenscheinnahme unterziehen müssen, einen Zweifelsfall darstellen, sodass die Durchführung einer medizinischen Altersfeststellung geboten wäre.205 Gleichzeitig könnte ein anderer Mitarbeiter der Auffassung sein, dass ein Zweifelsfall nur vorliegt, wenn konkrete Anhaltspunkte dafürsprechen, dass Volljährigkeit vorliegt. Hier müssten sich betroffene Ausländer dann keiner medizinischen Altersfeststellung unterziehen. Um eine allzu unterschiedliche Auslegung des Zweifelbegriffs durch die Jugendämter und Gerichte zu verhindern, wäre es sinnvoll, eine Definition in 42f SGB VIII aufzunehmen, die zu mehr Rechtssicherheit verhelfen könnte. Empfehlenswert wäre es, sich dabei an der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu orientieren, wonach immer dann ein Zweifelsfall vorliegt, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass durch ein ärztliches Fachgutachten Minderjährigkeit festgestellt wird.206 Diese Definition ist praxistauglich und schließt subjektive Wertungen des Jugendamts, bei der Bewertung des Vorliegens eines Zweifelsfalls aus. Anknüpfungspunkt ist lediglich das hypothetische Ergebnis eines objektiven, ärztlichen Altersgutachtens. 2. Widersprüchliche Angaben des Ausländers Durch das Fehlen einer einheitlichen Definition stellt sich auch die höchstrichterlich noch nicht geklärte Frage, wie mit widersprüchlichen Angaben im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme umzugehen ist. Nach Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Bremen207 soll kein Anlass zur Annahme eines Zweifelsfalls gemäß § 42f Abs. 2 SGB VIII bestehen, wenn zusätzlich zur qualifizierten Inaugenscheinnahme widersprüchlicher Vortrag und Lichtbilder, die die behördliche Altersschätzung stützen, hinzutreten. Nach der Ansicht dieses Gerichts können sich damit widersprüchliche Angaben des Ausländers faktisch zu seinen Lasten auswirken. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof208 ist dagegen der Ansicht, dass aufgrund der ungenauen Altersdokumentation in vielen Herkunftsländern von geflüchteten Ausländern widersprüchlichen Vortrag des Betroffenen über sein Alter nicht zu dessen Nachteil gewertet werden könne. Auch ein Antragsteller, der widersprüchliche Angaben mache, könne aufgrund eigener Unkenntnis tatsächlich minderjährig sein. Widersprüchliche Angaben sollen aber jedenfalls Zweifel an der Selbstauskunft

205

So auch Achterfeld, JAmt 2019, 294, 296 f. BayVGH, Beschl. v. 05. 04. 2017 – 12 BV 17.185, BeckRS 2017, 108039 Rn. 33; BayVGH, Beschl. v. 18. 08. 2016 – 12 CE 16.1570, BeckRS 2016, 51383 Rn. 14. 207 OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 01. 04. 2016 – OVG 6 S 7.16, OVG 6 M 20.16, NVwZ-RR 2016, 594, 595 Rn. 9. 208 BayVGH, Beschl. v. 16. 08. 2016 – 12 CS 16.1550, BeckRS 2016, 50450 Rn. 25 f. 206

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des Betroffenen begründen, denen durch eine ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII von Amts wegen nachzugehen sei. Nachvollziehbar ist, dass die Betroffenen oft selbst nicht genau über ihr Geburtsdatum und ähnliche Angaben Bescheid wissen, sodass Widersprüche nicht auf eine missbräuchliche Täuschung hinweisen müssen, sondern jugendliche Ausländer aus Unsicherheit möglicherweise irgendwelche Angaben machen.209 Der Wortlaut von § 42f Abs. 2 S. 1 SGB VIII ist insofern klar: In Zweifelsfällen hat das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung anzuordnen. Ein Zweifelsfall ist mit der überzeugenden Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gerade bei widersprüchlichen Aussagen gegeben, unabhängig von einer Missbrauchsabsicht des Ausländers. Die ärztliche Untersuchung soll gerade dazu dienen, solche Zweifel auszuräumen. Die in einem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs210 zitierte Feststellung des Jugendamts, dass nach Durchführung der qualifizierten Inaugenscheinnahme „[a]uch das dominante und fordernde Verhalten […] zweifelsfrei den Schluss zu [lässt], dass es sich bei ihm um eine volljährige Person handelt“,steht nicht im Einklang mit dem Telos von § 42f SGB VIII. Die Annahme des Jugendamts zeigt auch, dass sich eine weite Auslegung des Begriffs „Zweifelsfalls“ positiv für den Ausländer auswirken kann. Denn dann steht ihm die Möglichkeit der Beantragung einer objektiveren, unvoreingenommenen Altersschätzung durch einen Arzt offen. II. Aufklärung über die Untersuchungsmethode Soll eine ärztliche Untersuchung durchgeführt werden, ist das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII verpflichtet, den Ausländer über die Untersuchungsmethode und mögliche Folgen der Altersbestimmung aufzuklären. 1. Inhalt und Umfang der Aufklärung Wie weit diese Aufklärungspflicht reicht und worauf sie sich im Einzelnen beziehen soll, lässt sich weder dem Gesetz noch der Gesetzesbegründung näher entnehmen. In der Gesetzesbegründung heißt es lediglich, dass der Ausländer über die Untersuchungsmethode, die Folgen des Untersuchungsergebnisses und über die Folgen einer Weigerung zur ärztlichen Untersuchung aufzuklären ist.211 Aus dem Wortlaut „über die Untersuchungsmethode“ lässt sich zumindest schließen, dass das Jugendamt über die konkret durchzuführende Methode aufklären soll und dem Betroffenen nicht nur allgemein die möglichen Methoden der Altersdiagnostik nennen soll. Es bleibt aber auf Basis des Wortlauts der Interpretation 209 Vgl. auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 40. 210 BayVGH, Beschl. v. 05. 04. 2017 – 12 BV 17.185 Rn. 13. 211 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

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des Jugendamts überlassen, ob es der Aufklärungspflicht schon genügt, wenn es die bloße Methode nennt oder ob darüber hinaus auch über gesundheitliche Risiken aufgeklärt werden muss. Letzteres ist nach Sinn und Zweck der Norm naheliegender, da die Aufklärungspflicht eng mit der erforderlichen Einwilligung nach § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII des Betroffenen zusammenhängt. Eine wirksame Einwilligung setzt auch eine Aufklärung über die Risiken der angewandten Methode voraus.212 Für eine tiefgehende Erläuterung der verschiedenen möglichen Methoden und gesundheitlicher Risiken spricht im Übrigen, dass der Betroffene nach dem Gesetzeswortlaut „umfassend“ aufzuklären ist. Hinsichtlich der Aufklärung über die „Folgen der Altersbestimmung“ ergibt sich aus dem Wortlaut nicht eindeutig, ob der Betroffene auch über die rechtlichen Folgen der Altersbestimmung aufgeklärt werden soll. Geht man davon aus, dass jedenfalls die Aufklärung über gesundheitliche Risiken von den Aufklärungspflichten nach § 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII mitumfasst sein soll, dürfte sich die Aufklärung über die „Folgen der Altersbestimmung“ auf eine Erläuterung der rechtlichen Konsequenzen der Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung beziehen. Dem Ausländer wäre mitzuteilen, dass bei Feststellung der Minderjährigkeit unter der Bedingung des Vorliegens der weiteren Voraussetzungen gemäß §§ 42a ff. SGB VIII ein Verteilungsverfahren angestrebt werden würde, bei Feststellung der Volljährigkeit dagegen eine Inobhutnahme abgelehnt werden würde. Die Aufklärung über diese Folgen ist für den Ausländer bedeutsam, um die Abgabe seiner Einwilligungserklärung nach § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII abwägen zu können. Fraglich ist insbesondere, ob eine umfassende Aufklärung des Jugendamts über die Folgen der Altersbestimmung auch eine Aufklärung über mögliche Rechtsmittel des Betroffenen gegen eine belastende Entscheidung des Jugendamts beinhaltet. Einerseits dient die Aufklärung sinngemäß der Willensbildung des Betroffenen, insbesondere bezüglich der Abgabe seiner Einwilligungserklärung zur Altersbestimmung, wozu eine Aufklärung über mögliche Rechtsmittel bei einem unerwünschten Ergebnis nützlich sein dürfte. Andererseits handelt es sich bei den Rechtsmitteln nicht um unmittelbare „Folgen“ der Altersbestimmung. Ein gesonderter Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln findet sich außerdem regelmäßig in der Rechtsbehelfsbelehrung bei der Versagung der Inobhutnahme. Eine umfassende Aufklärung über mögliche Rechtsmittel dürfte daher nicht notwendig sein, um der Aufklärungspflicht nach § 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII nachzukommen. Der Ausländer ist allerdings über die Freiwilligkeit der Durchführung einer ärztlichen Untersuchung aufzuklären, auch wenn sich dies dem Wortlaut des § 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII nicht unmittelbar entnehmen lässt.213 § 42f 212

Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl. 2021, S. 118 Rn. 5; Rehborn/Gescher, in: Westermann/Grunewald/Maier-Reimer, Erman BGB, 16. Aufl. 2020, § 630d BGB Rn. 30; vgl. auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 50.1. 213 So auch unter Verweis auf § 66 Abs. 3 SGB I Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/ Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 7.

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SGB VIII ermöglicht dem Jugendamt nämlich keine Zwangsmaßnahmen (vgl. S. 66).214 Dies ist insbesondere für die Freiwilligkeit der Einwilligung des Ausländers bedeutsam. In tatsächlicher Hinsicht ist für eine ordnungsgemäße Aufklärung außerdem das Hinzuziehen eines Sprachmittlers erforderlich. Zwar enthalten weder das Gesetz noch die Gesetzesbegründung zu § 42f Abs. 2 SGB VIII hierzu einen konkreten Hinweis, allerdings sind die Ausführungen der Gesetzesbegründung zu § 42f Abs. 1 SGB VIII konsequenterweise auf § 42f Abs. 2 SGB VIII zu übertragen.215 Das Hinzuziehen eines Sprachmittlers ist aufgrund des Rechts auf rechtliches Gehör auch geboten.216 Im Asylverfahrensrecht ergibt sich das Recht außerdem aus Art. 12 Abs. 1 der europäischen Asylverfahrensrichtlinie. Welche Anforderungen an einen entsprechenden Sprachmittler zu stellen sind, wird allerdings in Bezug auf das Verfahren zur Altersfeststellung nicht erläutert. Auch die Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter schweigen zu dieser Frage.217 Im Asylrecht hat der Gesetzgeber zur Identifikation des Ausländers diesbezüglich eine spezielle Regelung geschaffen. Nach § 17 AsylG ist von Amts wegen bei der Anhörung des Asylantragstellers ein Dolmetscher, Übersetzer oder ein sonstiger Sprachmittler hinzuzuziehen, wenn der Ausländer der deutschen Sprache nicht hinreichend kundig ist. Eine Person mit qualifizierter Sprachausbildung ist damit nicht erforderlich, sodass es sich bei dem Sprachmittler nicht zwingend um einen (ausgebildeten) Dolmetscher handeln muss.218 Erforderlich ist aber, dass eine ausreichende Verständigung gewährleistet wird.219 Die zuständige Behörde hat dies im Einzelfall zu überprüfen. Grundsätzlich steht die konkrete Auswahl des Sprachmittlers damit im Ermessen der zuständigen Behörde.220 Denkbar wäre grundsätzlich auch die Verwendung einer digitalen, automatisierten Übersetzungssoftware, wie etwa Google Translate. Aufgrund der teils ungenauen – und teilweise auch falschen – Übersetzungen dieser digitalen Über214

Hase, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 60 SGB I Rn. 4; Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 60 SGB I Rn. 82. 215 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 216 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15. 09. 2006 – 12 A 979/06, juris-Rn. 8; Jaber, ZAR 2017, 318, 319; Sieweke/Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 17 AsylG Rn. 1. 217 Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, 2. Fassung 2017, S. 57. 218 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 17 AsylG Rn. 5; Houben, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 17 AsylG Rn. 9; Jaber, ZAR 2017, 318, 318. 219 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 17 AsylG Rn. 2; Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 17 AsylVfG Rn. 5; Houben, in: Kluth/ Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 17 AsylG Rn. 4. 220 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 17 AsylG Rn. 5; Houben, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 17 AsylG Rn. 5; Jaber, ZAR 2017, 318, 320.

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setzungsfunktionen ist davon nach hier vertretener Auffassung allerdings abzusehen. Gerade traumatisierte Ausländer dürften Schwierigkeiten haben, ihre Gedanken geordnet und für eine automatisierte Übersetzungssoftware verständlich niederzuschreiben.221 Es besteht ein erhebliches Risiko von Missverständnissen. Ein Sprachmittler hat dagegen die Möglichkeit, bei Verständnisproblemen Nachfragen zu stellen, um den Ausländer besser verstehen zu können. Er kann dem Ausländer gegebenenfalls auch Fragen seitens des Jugendamts bei Verständnisproblemen erläutern. Die rechtliche Bedeutung eines Sprachmittlers im Verwaltungsverfahren mit ausländischem Bezug sowie die vergleichsweise detaillierte Regelung in § 17 AsylG zeigen, dass auch im Bereich der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII eine ausdrückliche Regelung angebracht wäre. Zumindest ein Verweis auf eine entsprechende Anwendbarkeit von § 17 AsylG dürfte dem genügen. Dies gilt dort umso mehr, als der Sprachmittler zur Erfüllung der behördlichen Aufklärungspflichten im Rahmen der äußerst grundrechtssensiblen ärztlichen Untersuchung dient. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass bei der Aufklärung über die Untersuchungsmethode nicht nur die Sprache selbst ein Hindernis darstellen dürfte. Den Betroffenen wird es regelmäßig aufgrund des jungen Alters und des regelmäßig geringen Bildungshintergrunds schwerfallen, gesundheitliche Risiken einer radiologischen Untersuchung nachvollziehen zu können. 2. Person des Aufklärenden Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich außerdem nicht eindeutig, durch wen die Aufklärung über die Untersuchungsmethode und ihre gesundheitlichen Risiken durchzuführen ist. Zwar soll die Aufklärung, auch diejenige über die Untersuchungsmethode, nach dem Wortlaut von § 42f Abs. 2 SGB VIII durch das Jugendamt selbst erfolgen.222 Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob die Aufklärung über die Untersuchungsmethoden und die gesundheitlichen Folgen durch das Jugendamt selbst vernünftigerweise vorgenommen werden kann. Im Rahmen ärztlicher Behandlungen im Sinne der §§ 630a ff. BGB ist anerkannt, dass stets der behandelnde Arzt selbst zur Aufklärung verpflichtet ist. Der Patient muss die Gelegenheit haben, Fragen zu stellen, Einwände zu erheben und diese mit dem Arzt zu diskutieren.223 Die Aufklärungspflicht kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs224 221

Vgl. zu Sprachbarrieren als größte Herausforderung bei der Versorgung von Geflüchteten auch Bühring, DÄ 2019, A308, A312. 222 Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 42 f SGB VIII Rn. 8. 223 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl. 2021, S. 119 Rn. 7; Rehborn/Gescher, in: Westermann/Grunewald/Maier-Reimer, Erman BGB, § 630e BGB Rn. 21; Wagner, in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 630e BGB Rn. 40. 224 BGH, Urt. v. 7. 11. 2006 – VI ZR 206/05, NJW-RR 2007, 310, 311; BGH, Urt. v. 27. 11. 1973 – VI ZR 167/72, NJW 1974, 604, 605.

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lediglich an andere Ärzte abgegeben werden. Dies ist mittlerweile in § 630e Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB ausdrücklich festgehalten und lässt sich auch auf die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII übertragen. Zum einen dürfte es dem Jugendamt schwerfallen, mangels tiefergehender fachlicher Kenntnisse über alle gesundheitlichen Risiken aufzuklären. Mitarbeiter des Jugendamts dürften auch nicht ausreichend Fachkenntnisse aufweisen, um angemessen auf Rückfragen antworten zu können. Wenn der Gesetzgeber schon im Rahmen eines gewöhnlichen Behandlungsvertrages eine Aufklärung durch einen Arzt verlangt, muss dies bei einer ärztlichen Untersuchung von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern erst recht der Fall sein. Denn diese gelten als besonders schutzbedürftig. Auch wenn es im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt ist, sollte der untersuchende Arzt daher bereits zur Aufklärung über die Untersuchungsmethode und mögliche gesundheitliche Risiken hinzugezogen werden, wobei dessen medizinische Aufklärung von Seiten des Jugendamts überwacht werden sollte. Die Verantwortung über eine ordnungsgemäße Aufklärung trägt nämlich das Jugendamt selbst.225 Lediglich über die rechtlichen Folgen der ärztlichen Altersfeststellung und einer Verweigerung derselben kann unproblematisch das Jugendamt die Aufklärung übernehmen. Insofern wäre eine Klarstellung im Gesetz wünschenswert. III. Einwilligung des Betroffenen Weiterhin ist für die Durchführung der ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII die Einwilligung des Betroffenen und seines Vertreters erforderlich. Die ärztliche Untersuchung kann somit nicht mit Mitteln des Verwaltungsvollstreckungsrechts zwangsweise durchgesetzt werden (vgl. S. 66).226 In der Gesetzesbegründung wird lediglich der ungefähre Wortlaut des § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII wiederholt, sodass sich hieraus nichts zu den Voraussetzungen oder Umständen der Einwilligung ergibt. Erforderlich ist die Einwilligung im Rahmen der ärztlichen Untersuchung insbesondere aufgrund der grundrechtsensiblen Methoden der Altersfeststellung. Bereits die bloße körperliche Untersuchung durch einen Arzt kann grundsätzlich einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen.227 Probleme ergeben sich bezüglich der Einwilligungserklärung bei der Veranlassung der ärztlichen Untersuchung von Amts wegen. Denn dann ist gemäß § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII nicht nur die Einwilligung des Betroffenen erforderlich, 225 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 50; kritisch dazu Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 f SGB VIII Rn. 10. 226 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 6; Hase, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 60 SGB I Rn. 4; Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 60 SGB I Rn. 82. 227 VG Berlin, Beschl. v. 07. 03. 2019 – VG 5 L 5.19, BeckRS 2019, 3255 Rn. 19.

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sondern auch die seines Vertreters. Im Fall von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern sind allerdings gerade keine personensorge- und erziehungsberechtigten Personen vorhanden, sodass sich die Frage stellt, wer den mutmaßlich Minderjährigen vertreten soll. In Betracht käme eine Vertretung durch das Jugendamt selbst. Gemäß § 42a Abs. 3 SGB VIII ist das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen notwendig sind. Daraus könnte man auch eine Vertretungsbefugnis des Jugendamts für die Erteilung der Einwilligung in die ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung ableiten.228 Allerdings besteht das Vertretungserfordernis nur bei einer Altersbestimmung von Amts wegen. Für diesen Fall hat gerade das Jugendamt die Durchführung einer ärztlichen Untersuchung angeordnet. Würde das Jugendamt gleichzeitig als Vertreter des Betroffenen fungieren, käme dies einem Insichgeschäft im Sinne von § 181 BGB gleich. Zur Vermeidung dieses Interessenkonflikts wird in der Literatur229 eine organisatorische und personelle Trennung innerhalb des Jugendamts vorgeschlagen. Nach einer anderen Ansicht230 muss für eine wirksame Vertretung daher grundsätzlich ein gesetzlicher Vertreter durch das Familiengericht bestellt werden. Das Einwilligungserfordernis soll zur Lösung des daraus resultierenden Zeitaufwands teleologisch ausgelegt werden, sodass die Einwilligung eines einwilligungsfähigen Betroffenen ausreichend sein soll. Teilweise wird zur Lösung des Problems zumindest bei Jugendlichen in der Literatur231 die Aufnahme eines Verweises auf § 630d Abs. 1 BGB in § 42f Abs. 2 SGB VIII vorgeschlagen. Danach setzt eine Einwilligung in eine medizinische Behandlung lediglich die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen voraus, nicht aber die Geschäftsfähigkeit. Eine Vertretung wäre in diesen Fällen folglich nicht notwendig, da auch Minderjährige als einwilligungsfähig gelten, sofern sie über das Einsichtsvermögen und die Urteilskraft verfügen, die Aufklärung über die Behandlung zu verstehen, Nutzen und Risiko der Untersuchung abzuwägen und schließlich eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen.232 Problematisch ist 228 So Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 53. 229 OVG Bremen, Urt. v. 04. 06. 2018 – 1 B 53/18, NVwZ 2018, 1903; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 53. 230 OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 08. 01. 2018 – OVG 6 S 40.17; Bohnert, in: Hauck/ Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42f SGB VIII Rn. 11. 231 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 54. 232 BT-Drs. 17/10488 v. 15. 08. 2012, S. 23; Katzenmeier, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 630d BGB Rn. 13; Rehborn/Gescher, in: Westermann/Grunewald/MaierReimer, Erman BGB, 16. Aufl. 2020, § 630d BGB Rn. 7; Wagner, in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 630d BGB Rn. 9.

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daran allerdings, dass bei den Betroffenen die Einwilligungsfähigkeit nicht in jedem Fall an das Alter geknüpft werden kann, da dieses gerade fraglich ist. Die Einwilligungsfähigkeit müsste dann ausschließlich anhand der Reife des Ausländers, ähnlich wie bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme, im Sinne einer der eigentlichen Altersfeststellung vorgelagerten Altersschätzung bestimmt werden. Zur ärztlichen Untersuchung kommt es allerdings nur, wenn schon die qualifizierte Inaugenscheinnahme Fragen offengelassen hat. Die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit dürfte im Ergebnis dann regelmäßig willkürlich ausfallen. Zusätzlich kann nach ständiger Rechtsprechung bei einem Minderjährigen ab 14 Jahren auf die Einwilligung des Vertreters nur verzichtet werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass er nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und der Einwilligung begreifen kann.233 Dies müsste für jeden Einzelfall gesondert geprüft werden. Insbesondere angesichts der psychischen und physischen Belastung durch die Reise nach Deutschland sowie der sprachlichen und kulturellen Differenzen dürfte dies in der Regel eher zu verneinen sein. Hinzu kommt, dass die Einwilligungsfähigkeit von Minderjährigen bei medizinisch nicht indizierten ärztlichen Eingriffen, wie die Altersuntersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII sie bei radiologischen Untersuchungsmethoden darstellen kann, besonders restriktiv zu beurteilen ist.234 Nach einer anderen Literaturmeinung ist die Bestellung eines Vormunds für den betroffenen Ausländer zwingend erforderlich, sodass eine ärztliche Untersuchung regelmäßig erst nach der Zuweisungsentscheidung erfolgen könne.235 Dies widerspricht allerdings dem Sinn und Zweck der §§ 42a ff. SGB VIII. Würde die ärztliche Untersuchung erst mit der Bestellung eines Vormunds nach der vorläufigen Inobhutnahme durchgeführt werden, bestünde ein Risiko, dass ein Ausländer nach § 42b SGB VIII innerhalb Deutschlands einem anderen Jugendamt zugewiesen wird, später aber festgestellt wird, dass er in Wahrheit volljährig ist. Als volljähriger Asylbewerber unterfällt der Betroffene allerdings einem eigenständigen Verteilungsverfahren gemäß §§ 44 ff. AsylG, das nun durchgeführt werden müsste. Eine ärztliche Untersuchung nach Zuweisungsentscheidung würde zu einem unverhältnismäßigen bürokratischen Aufwand führen. Nach einer weiteren, gesetzeskritischen Auffassung236 kann aufgrund des Erfordernisses der Einwilligung eines Vertreters des Betroffenen während der vorläufigen Inobhutnahme generell keine ärztliche Untersuchung durchgeführt werden. § 42a Abs. 3 SGB VIII stellt nach dieser Ansicht keine Vertretungsbefugnis dar, 233 BGH, Urt. v. 05. 12. 1958 – VI ZR 266/57, NJW 1959, 807; OLG Hamm, Beschl. v. 29. 11. 2019 – 12 UF 236/19, NJW 2020, 1373, 1374 Rn. 20. 234 Katzenmeier, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 630d BGB Rn. 14 vgl. auch Rehborn/Gescher, in: Grunewald/Maier-Reimer/Westermann, Erman BGB, 16. Aufl. 2020, § 630d BGB Rn. 7. 235 Neundorf, ZAR 2016, 201, 206. 236 Veit, FamRZ 2016, 93, 97.

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sondern lediglich eine Ausübung des öffentlichen Amtes. Dies widerspricht allerdings schon der Gesetzesbegründung, wonach § 42a Abs. 3 SGB VIII eine Pflicht zur sofortigen Vertretung des Ausländers begründet.237 Nach nochmals anderer Ansicht soll die ärztliche Untersuchung aus Sicht des Ausländers die einzige Möglichkeit darstellen, in Zweifelsfällen seine Minderjährigkeit glaubhaft zu machen, sodass die Untersuchung dem Kindeswohl entspreche. Wenn behördlicherseits niemand an der Volljährigkeit des Betroffenen zweifele, müsse das Jugendamt nach dieser Meinung seine Zustimmung nur hilfsweise erklären, falls die ärztliche Untersuchung im Ergebnis wider Erwarten die Minderjährigkeit des betroffenen Ausländers bestätige.238 In der Gesetzesbegründung239 des Bundestags zum gleichlautenden Gesetzesentwurf heißt es zu dieser Problematik lediglich, dass das Jugendamt durch entsprechende organisatorische und personelle Vorkehrungen einen solchen Konflikt zu verhindern hat. Der Gesetzgeber hat im Stadium der vorläufigen Inobhutnahme folglich keine Notwendigkeit der Bestellung eines Vormunds gesehen. Fraglich ist hierbei bereits, wie organisatorische und personelle Vorkehrungen in der Praxis sinnvoll ausgestaltet werden können. Selbst bei einer organisatorischen und personellen Trennung wird im Ergebnis die Vertretung immer durch einen Mitarbeiter des Jugendamtes erfolgen, sodass sich an der Insichgeschäfts-Konstellation im Ergebnis wenig ändert. Es besteht nach wie vor die Gefahr, dass Mitarbeiter nicht alle möglichen rechtlichen Schritte gegen Entscheidungen von Kollegen ausschöpfen werden.240 Der Interessenkonflikt kann durch bloße organisatorische und personelle Vorkehrungen nicht zweifelsfrei gelöst werden. Andererseits dürfte es in tatsächlicher Hinsicht schwierig sein, eine konfliktfreie Lösung zu finden. Bereits im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme einen Vormund zu bestellen, dürfte wenig sinnvoll sein, da die vorläufige Inobhutnahme nur vorübergehend ist und auf kurze Dauer angelegt ist. Der Betroffene wird nach kurzer Zeit einem anderen Jugendamt zugeteilt, das an einem ganz anderen Ort in Deutschland liegen kann. Hier müsste dann erneut ein Vormund bestellt werden. Die Hinzuziehung eines Ersatz-Ergänzungspflegers nach § 1909 Abs. 3 BGB für jede Einwilligung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII wäre ebenfalls nicht zweckmäßig, da hierdurch das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme nicht unwesentlich verzögert werden würde. Die Sachlage stellt sich hier anders als bei Widerspruch oder Klage eines Betroffenen gegen eine Ablehnung oder Beendigung der Inobhutnahme durch 237

BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24. Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 53. 239 BT-Drs. 18/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24; so auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 53. 240 Stellungnahme „Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge eV.“ zur BT-Drs. 18/5921, S. 4 (https://b-umf.de/material/stellungnahme-des-bumf-zum-gesetzes-zurverbesserung-der-unterbringung-versorgung-und-betreuung-auslaendischer-kinder-und-jugendli cher/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021). 238

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das Jugendamt aufgrund des Ergebnisses der Altersfeststellung dar. Die vorläufige Inobhutnahme soll nach der gesetzgeberischen Intention ein kurzes Durchgangsstadium darstellen, in dem die wesentlichen Voraussetzungen einer Inobhutnahme und die Möglichkeit der landesweiten Verteilung nach § 42b SGB VIII geklärt werden sollen. Zweck der vorläufigen Inobhutnahme gem. § 42a SGB VIII ist gerade eine Entlastung der Jugendämter an den Einreiseknotenpunkten (vgl. S. 19).241 Das Erfordernis der Bestellung eines Ersatz-Ergänzungspflegers für die Durchführung einer ärztlichen Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII, um eine ordnungsgemäße Vertretung des Ausländers sicherzustellen, könnte dazu führen, dass die überlasteten Jugendämter an den Einreiseknotenpunkten vorschnell Volljährigkeit auf Basis der qualifizierten Inaugenscheinnahme annehmen, um den Verwaltungsaufwand der Bestellung eines Ersatz-Ergänzungspflegers zu vermeiden. Insofern ist im Ergebnis die Lösung über eine personelle und organisatorische Trennung innerhalb des Jugendamts am sachgerechtesten. Eine Einwilligung durch den Vertreter des Ausländers im Sinne von § 42f Abs. 2 SGB VIII kann dann zeitnah eingeholt werden. Die Trennung sollte sichergestellt werden, indem die Einwilligung nicht von Mitarbeitern des für die Altersfeststellung zuständigen Referats, sondern nur von den im Jugendamt für Amtsvormundschaften zuständigen Personen erteilt werden darf.242 IV. Verweigerung der ärztlichen Untersuchung § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII verpflichtet das Jugendamt außerdem, den Betroffenen über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufzuklären. Das Gesetz lässt offen, welche Folgen die Verweigerung der ärztlichen Untersuchung durch den Betroffenen nach sich zieht, was für die Jugendämter in der Praxis problematisch ist. Auch die Gesetzesbegründung243 bleibt vage. Es wird lediglich festgehalten, dass das Jugendamt aufgrund der entsprechenden Anwendbarkeit der §§ 60, 62, 65 bis 67 SGB I eine Aufgabenerfüllung, die an die Minderjährigkeit anknüpft, entsprechend § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I verweigern oder einstellen und Leistungen versagen oder entziehen kann. Das Jugendamt soll hierüber eine Ermessensentscheidung treffen. Gleichzeitig soll die Weigerung des Betroffenen allein nicht reflexhaft zur Annahme der Volljährigkeit und dem Verlust aller korrespondierenden Schutzrechte Minderjähriger führen. Es stellt sich damit die Frage, welche Aufgabenerfüllung das Jugendamt verweigern oder einstellen kann bzw. welche Leistungen versagt oder entzogen werden können, wenn der Ausländer die Einwilligung in die ärztliche Untersuchung ver241

BR-Drs. 349/15 v. 25. 09. 2015, S. 2. Vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 04. 06. 2018 – 1 B 53/18, NVwZ 2018, 1903, BeckRS 2018, 16955 Rn. 33; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinderund Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 53.1. 243 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. 242

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weigert. In der Literatur wird aus § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII in Verbindung mit §§ 60 ff. SGB I abgeleitet, dass junge unbegleitete Ausländer verpflichtet sind, an der Feststellung ihres Alters mitzuwirken, sodass das Jugendamt berechtigt wäre, dem Betroffenen die begehrte Inobhutnahme zu verweigern, wenn dieser nicht kooperiert und seine Minderjährigkeit offensichtlich nicht gegeben ist.244 Fraglich ist, ob §§ 60 ff. SGB I diese Rechtsfolge tatsächlich tragen. Gem. § 66 Abs. 1 SGB I kann ein Leistungsträger die Leistung nur versagen oder entziehen, wenn durch die Verletzung der Mitwirkungspflichten die Sachverhaltsaufklärung erheblich erschwert wird. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, tatsächlich den Tatbestand des § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I erfüllt. Dass es sich bei der Inobhutnahme um eine Aufgabe und nicht um eine Leistung handelt, ist aufgrund der entsprechenden Anwendbarkeit der Vorschrift gemäß § 42 Abs. 2 S. 4 SGB VIII unproblematisch.245 Allerdings müsste es durch eine Verweigerung der ärztlichen Untersuchung zu einer erheblichen Erschwerung der Sachverhaltsaufklärung kommen. Um eine erhebliche Erschwerung handelt es sich nur, wenn bei der Sachverhaltsaufklärung Schwierigkeiten auftreten, die allenfalls durch beträchtlichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand überwindbar wären.246 Ob eine solche Erschwerung der Sachverhaltsaufklärung bei der Verweigerung von ärztlichen Untersuchungen zur Altersbestimmung erheblich ist, ist zweifelhaft. Denn unter Ärzten ist die Genauigkeit und Zielführung der ärztlichen Untersuchungen umstritten. Geht man davon aus, dass das Verfahren zur Altersbestimmung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII in der aktuellen Fassung nur zu einer unwesentlich genaueren Altersfeststellung führt (vgl. S. 193 f.), kann die Sachverhaltsaufklärung durch die Verweigerung der ärztlichen Untersuchung nicht unerheblich erschwert worden sein. Zwischen der unterlassenen Mitwirkungshandlung und der erschwerten Sachverhaltsaufklärung muss nämlich ein Kausalitätszusammenhang bestehen.247 Dieser würde hier jedoch fehlen, denn auch bei erfolgter Einwilligung des Betroffenen und Durchführung der ärztlichen Untersuchung wäre der Sachverhalt immer noch nicht aufgeklärt. Es ist lediglich eine im Vergleich zur qualifizierten Inaugenscheinnahme geringfügig genauere Altersfeststellung möglich. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die konsequente Anwendung von § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I bei Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung faktisch dazu 244

Vgl. Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167, 1168. Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 34. 246 Sauer, in: Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar Sozialrechtsberatung, 2. Aufl. 2018, § 66 SGB I Rn. 8; Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 66 SGB I Rn. 37. 247 Mrozynski, in: Mrozynski, SGB I, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, § 66 SGB I Rn. 13; Sauer, in: Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar Sozialrechtsberatung, 2. Aufl. 2018, § 66 SGB I Rn. 9; Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 66 SGB I Rn. 34. 245

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führen würde, dass die Verweigerung automatisch zur Annahme der Volljährigkeit führen würde. Bei § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I handelt es sich zwar um eine Ermessensnorm,248 allerdings bleibt dem Jugendamt bei der Anwendung kaum Spielraum. Das Jugendamt hat im Wesentlichen nur die zwei Optionen, entweder § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I nicht anzuwenden und den Betroffenen in Obhut zu nehmen oder aber die Inobhutnahme im Sinne einer Leistungsversagung analog § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I zu verweigern. Eine teilweise Inobhutnahme gibt es nicht. Die Versagung der Inobhutnahme würde im Ergebnis aber der Annahme von Volljährigkeit gleichkommen. Nach der Gesetzesbegründung soll die Verweigerung allerdings gerade nicht reflexhaft zur Annahme der Volljährigkeit und Verlust aller korrespondierenden Schutzrecht Minderjähriger führen.249 Zwar folgt aus der Anwendung von § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I aufgrund des Ermessensspielraums nicht zwingend, dass der betroffene Ausländer als volljährig einzustufen ist, allerdings wird die Einwilligungserklärung entwertet, wenn der Betroffene im Zweifel bei Versagung der Einwilligung mit Ablehnung der Inobhutnahme zu rechnen hat. Insofern darf eine Verweigerung der ärztlichen Untersuchung nicht automatisch zu einer Ablehnung der Inobhutnahme führen. Vielmehr müssen weitere Anhaltspunkte für die Volljährigkeit des Betroffenen hinzukommen. Dies geht aus § 42f SGB VIII allerdings nicht eindeutig hervor und bedarf der Klarstellung. V. Medizinische Methoden Sobald das Jugendamt das Vorliegen eines Zweifelsfalls festgestellt hat, der Betroffene aufgeklärt worden ist und seine Einwilligung vorliegt, kann die ärztliche Untersuchung durchgeführt werden. Der Gesetzeswortlaut von § 42f SGB VIII und die Gesetzesbegründung sind allerdings bezüglich der zulässigen Untersuchungsmethoden zur Altersschätzung sehr vage. Während der Gesetzeswortlaut keine Beschränkung der zulässigen Methoden beinhaltet, heißt es in der Gesetzesbegründung lediglich, dass die Untersuchung mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen ist.250 Genitaluntersuchungen sollen außerdem ausgeschlossen sein.251 Nicht geklärt ist, ob im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung zwingend alle zur Verfügung stehende Methoden angewandt werden müssen oder sich die Untersuchung auf eine einzelne Methode beschränken kann. Unklar ist insoweit auch, ob und in welchem Umfang dem Jugendamt hierbei ein Ermessensspielraum zukommt. Teile der Rechtsprechung ver248 Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 5. Aufl. 2017, § 66 SGB I Rn. 5; Mrozynski, in: Mrozynski, SGB I, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, § 66 SGB I Rn. 10; Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 66 SGB I Rn. 66. 249 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. 250 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. 251 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

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langen jedenfalls eine zusammenfassende Auswertung der Ergebnisse einer ärztlichen Untersuchung, die auch eine Röntgenuntersuchung beinhalten soll.252 Die Gerichte folgen teilweise den aktuellen Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (AGFAD),253 die eine Kombination aus körperlicher Untersuchung sowie radiologischer Untersuchung von Hand, Kiefer und Schlüsselbeine für sinnvoll erachtet.254 Auch in der juristischen und medizinischen Literatur wird gefordert, dass möglichst mehrere Methoden zur Altersschätzung durchgeführt werden, um die Gefahr fehlerhafter Altersschätzungen zu vermindern.255 Dies ist grundsätzlich auch sinnvoll, da noch keine Methode bekannt ist, mit der das Alter zweifelsfrei bestimmt werden kann.256 Die Kosten eines medizinischen Altersgutachten belaufen sich auf bis zu EUR 1.500,00, wobei die kombinierte Anwendung verschiedener Methoden bereits berücksichtigt ist.257 Im Folgenden wird die Funktionsweise der vorhandenen medizinischen Methoden der Altersdiagnostik erläutert. Zur systematischen Kategorisierung der Untersuchungsmethoden wird dabei zwischen sogenannten nichtinvasiven und potenziell gesundheitsschädigenden invasiven Methoden differenziert. Diese Kategorisierung hat sich in der Literatur mittlerweile durchgesetzt.258 1. Nichtinvasive Methoden Zu den nichtinvasiven Methoden zählen im Wesentlichen die körperliche Untersuchung, eine Analyse der Gebissentwicklung sowie eine psychologische Begutachtung des Betroffenen.259 All diese Methoden erfolgen insbesondere ohne die Verwendung von Röntgendiagnostik. 252 BayVGH, Beschl. v. 13. 12. 2016 – 12 CE 16.2333, BeckRS 2016, 56085 Rn. 34; VG Magdeburg, Beschl. v. 16. 07. 2013 – 1 B 185/13, juris-Rn. 7; VG Augsburg, Beschl. v. 23. 09. 2015 – Au 3 E 15.1306, juris-Rn. 29. 253 OVG Bremen, Beschl. v. 21. 05. 2019 – 1 B 86/19, ZAR 2019, 350, BeckRS 2019, 9597 Rn. 8; OVG Bremen, Beschl. v. 04. 06. 2018 – 1 B 82/18, NVwZ 2018, 1899, 1900 Rn. 13. 254 AGFAD, Criteria for age estimation in living individuals, S. 2 (https://www.medizin.unimuenster.de/en/rechtsmedizin/schmeling/agfad/recommendation.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021). 255 Befurt/Kirchhoff/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 241, 244; Klein, KJ 2015, 405, 417. 256 Hagen/Schmidt/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 233, 233. 257 Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand v. 25. 01. 2018, WD 9 – 3000 – 001/18, S. 9. 258 Vgl. Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42f SGB VIII Rn. 8; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42f SGB VIII Rn. 10. 259 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 f SGB VIII Rn. 8; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 f SGB VIII Rn. 10.

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a) Körperliche Untersuchung Bei der körperlichen Untersuchung werden Körpergröße, Gewicht und Hautbeschaffenheit des Betroffenen durch einen Arzt überprüft und mit Referenzwerten und Vergleichspersonen abgeglichen. Häufig nimmt die Untersuchung ein Kinderarzt vor.260 Es wird außerdem eine allgemeine körperliche Untersuchung vorgenommen, um die Dokumentation von Merkmalen zu ermöglichen, die im Widerspruch zu Reifezeichen stehen könnten.261 Grundsätzlich gehört auch die Alterseinschätzung von geschlechtlichen Reifezeichen zur körperlichen Untersuchung. Dazu gehören vor allem die Ausgeprägtheit der Geschlechtsmerkmale sowie der Schambehaarung.262 Die Standards dieser Untersuchungen gehen auf Studien von Tanner aus dem Jahr 1962 zurück, mittels derer er das Wachstum in verschiedene Pubertätsstufen eingeteilt hatte, an denen sich Ärzte bei der Untersuchung orientieren können.263 Im Rahmen der Altersbestimmung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII sollen laut Gesetzesbegründung264 allerdings keine Genitaluntersuchungen durchgeführt werden. Dies dürfte neben der Grundrechtsintensität eines solchen Eingriffs in die Intimsphäre und der ethischen Bedenklichkeit auch an der großen Unzuverlässigkeit der Altersschätzung mittels Genitaluntersuchungen liegen.265 Ein Vorteil an der körperlichen Untersuchung als solcher ist, dass das körperliche Wohlbefinden des Kindes angemessen berücksichtigt werden kann, insbesondere wenn die Beurteilung durch einen Kinderarzt erfolgt. Diese sind nämlich mit der körperlichen und psychologischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen besonders vertraut (gleichwohl die Alterseinschätzung durch einen Kinderarzt gesetzlich nicht vorgeschrieben ist). Zudem ermöglicht diese Methode die Interaktion mit dem Kind, sodass dieses nicht zum Objekt des Verfahrens reduziert wird.266 Problematisch ist allerdings, dass die körperliche Untersuchung kaum auf altersmaßgebliche Faktoren wie die Ethnie, Ernährung bzw. medizinische Versorgung

260 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 61 (https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/ceefc444-a67e-11e8-99ee01aa75ed71a1/language-de, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021). 261 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 3. 262 Anysley-Green, The assessment of age in undocumented migrants, 2011, S. 16; Müller/ Fuhrmann/Püschel, Rechtsmedizin, 2010, 33, 36. 263 Di Maio, Positionspapier zur Altersfestsetzung bei unbegleiteten Minderjährigen in Europa, S. 20. 264 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. 265 Eikvil/Kvaal/Teigland/Haugen/Grøgaard, Age estimation in youths and young adults, S. 10. 266 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 62.

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und sozioökonomische Hintergründe des Betroffenen eingehen kann.267 Gerade junge Ausländer, die aus Krisengebieten wie Syrien kommen, haben regelmäßig unter Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung zu leiden, was einen Einfluss auf ihre körperliche Entwicklung gehabt haben kann. Hinzu kommt in den meisten Fällen eine lange Reise aus dem Heimatland, die in einigen Fällen mehrere Jahre dauert und gleichermaßen mit Mangelernährung und fehlender medizinischer Versorgung verbunden ist. Es fehlt hier an aussagekräftigen Referenzstudien aus den Herkunftsländern von Asylsuchenden, da aktuell die Standards von Mittel- und Nordeuropäern sowie weißen Nordamerikanern herangezogen werden.268 Aber selbst bei gleichalten Menschen der gleichen Ethnie und mit gleichem sozioökonomischem Hintergrund kann das äußere Erscheinungsbild variieren.269 Ein weiteres Risiko der körperlichen Begutachtungen ist außerdem, dass strikte Qualitätsrichtlinien und nachprüfbare Methoden fehlen.270 Dies führt zu erheblichen Zweifeln an körperlichen Untersuchungen, da diese in der Folge sehr subjektiv geprägt sind. Zu beachten sind außerdem altersrelevante Krankheitserscheinungen. Der Arzt muss überprüfen, ob Skelett- und Zahnalter mit der Entwicklung des Gesamtorganismus übereinstimmen. Während die meisten Erkrankungen zwar zu einer für den Betroffenen mit Blick auf die Einstufung als Minderjähriger förderlichen Altersunterschätzungen führen, haben hormonell bedingte Entwicklungsbeschleunigungen wie Gigantismus oder Minderwuchs einen nachteiligen Effekt. Die Wahrscheinlichkeit solcher hormonellen Erkrankungen ist allerdings geringer als ein Promille.271 Die körperliche Untersuchung dient im Ergebnis vor allem einer ersten groben Alterseinschätzung durch einen Arzt. Einziger Mehrwert gegenüber der qualifizierten Inaugenscheinnahme ist, dass die Schätzung durch einen erfahrenen Arzt erfolgt. Eine zuverlässige Altersbestimmung im hier relevanten Grenzbereich von 15 bis 18 Jahren (vgl. S. 16) ist aufgrund dieser Methode nach den vorstehenden Ausführungen nicht möglich. b) Genitaluntersuchungen Auch Genitaluntersuchungen können grundsätzlich als Methode zur Altersschätzung herangezogen werden, da das sekundäre Geschlechtswachstum sowohl 267 Crawley, When is a child not a child? Asylum, age disputes and the process of age assessment, S. 31, 33. 268 Müller/Fuhrmann/Püschel, Rechtsmedizin, 2010, 33, 37. 269 Crawley, When is a child not a child? Asylum, age disputes and the process of age assessment, S. 28. 270 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 1. Aufl. 2013 (https://easo.europa.eu/sites/default/files/public/2013.9603_DE_V4.pdf, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021). 271 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 7 f.

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bei Männern als auch bei Frauen in altersmäßig eingrenzbaren Zeiträumen stattfindet. Genitaluntersuchungen stellen im Grunde eine Form der körperlichen Untersuchung dar, werden hier aber gesondert behandelt, da sie gesetzlich nicht zugelassen sind und besonders grundrechtssensibel sind (vgl. S. 220 ff.). Bei Genitaluntersuchungen wird das sekundäre Geschlechtswachstum anhand von Vergleichsstudien von Marshall und Tanner untersucht. Bei Männern werden dabei Größe, Gewicht und Volumen der Hoden, die Größe des Penis sowie das Wachstum der Schamhaare eingeschätzt.272 Bei Frauen untersucht man ebenfalls das Wachstum der Schamhaare sowie das Brustwachstum.273 In der Studie wurde bei allen Geschlechtsmerkmalen zwischen fünf verschiedenen Wachstumsphasen differenziert. Mit Erreichen der fünften Wachstumsphase ist die Geschlechtsreife abgeschlossen. Untersucht wurden jeweils 192 Frauen und 228 Männer aus Großbritannien, die in Dreimonats-Intervallen begutachtet wurden. Bei Männern wurde der Beginn der Pubertät und damit der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale im Alter zwischen 9,7 und 14,1 Jahren festgestellt. Das Wachstum endete im Bereich zwischen 13,7 und 17,9 Jahren.274 Bei Frauen wurde ein Beginn der Pubertät zwischen 8,5 und 13 Jahren und ein Ende des Wachstums der sekundären Geschlechtsmerkmale im Alter zwischen 11,8 und 18,9 Jahren festgestellt.275 Bei Frauen ist insbesondere das sehr unterschiedliche Wachstum der Brust für die weite Spanne verantwortlich. Zwar war bei der Mehrzahl der Probandinnen der Marshall-Tanner-Studie Phase 5 des Brustwachstums mit 15,3 Jahren abgeschlossen. Allerdings gab es auch einzelne Frauen, bei denen die Brust bereits mit 11,8 oder aber erst mit 18,9 Jahren ausgereift war.276 Auch bei der Mehrzahl der männlichen Probanden war sowohl die Geschlechtsreife der Genitalien sowie der Schambehaarung mit ca. 15 Jahren abgeschlossen.277 Bei beiden Geschlechtern zeigt sich im Ergebnis eine große Spannweite beim Abschluss des sekundären Geschlechtswachstums, sodass Genitaluntersuchungen zur Altersschätzung nur bedingt geeignet sind. Hinzu kommt, dass bei beiden Geschlechtern die Geschlechtsreife regelmäßig bereits mit 15 Jahren abgeschlossen ist. Tanner selbst hat sich bereits im Jahr 1998 kritisch zur Verwendung seiner Studien über die Geschlechtsreifestadien zur chronologischen Altersschätzung geäußert, nachdem diese von US-Behörden als Beweismittel im Zusammenhang mit Ermittlungen wegen Kinderpornographie verwendet wurden. Er hat klargestellt, dass seine Studien zu Genitaluntersuchungen der Einschätzung des physischen – und nicht des chronologischen – Alters zu Gesundheits-, Lehr- und Sportzwecken dienen sollen, 272 Marshall/Tanner, Archives of Disease in Childhood 1970, 13, 14; Tomova/Deepinder/ Robeva/Lalabonava, Arch Pediatr Adolesc Med 2010, 1152, 1156. 273 Marshall/Tanner, Archives of Disease in Childhood 1969, 291, 292. 274 Tomova/Deepinder/Robeva/Lalabonava, Arch Pediatr Adolesc Med 2010, 1152, 1156. 275 Marshall/Tanner, Archives of Disease in Childhood, 1969, 291, 302. 276 Marshall/Tanner, Archives of Disease in Childhood, 1969, 291, 294. 277 Marshall/Tanner, Archives of Disease in Childhood 1970, 13, 16.

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insbesondere um frühreife oder spätreife Menschen zu identifizieren. Für eine chronologische Altersschätzung seien die Studien auch wegen der großen Spannbreiten zu unzuverlässig.278 Im Ergebnis steht damit fest, dass Genitaluntersuchungen allenfalls ergänzend zur Altersschätzung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII herangezogen werden könnten. Genitaluntersuchungen können jedenfalls dann von Nutzen sein, wenn festgestellt wird, dass das Wachstum der sekundären Geschlechtsorgane beim Betroffenen noch nicht abgeschlossen ist. Denn dann kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Minderjährigkeit des Betroffenen ausgegangen werden kann. Allerdings kann – auch unter Berücksichtigung des unionsrechtlichen Grundsatzes in dubio pro minore279 (vgl. S. 249) – nie zweifelsfrei Volljährigkeit festgestellt werden. Selbst wenn die Geschlechtsreife des Betroffenen bereits abgeschlossen ist, könnte er noch minderjährig sein, wobei auch ein Alter von 15 oder 16 Jahren nicht ausgeschlossen wäre. Ob Genitaluntersuchungen verfassungsrechtlich zulässig wären und im Rahmen einer Gesetzesänderung in § 42f Abs. 2 SGB VIII aufgenommen werden könnten, wird noch im Rahmen des verfassungsrechtlichen Teils der Arbeit untersucht werden (vgl. S. 220 ff.). c) Analyse der Gebissentwicklung Eine weitere Methode, die ohne die Verwendung von Röntgendiagnostik durchgeführt werden kann, ist eine Analyse der Gebissentwicklung. Es handelt sich dabei um eine rein visuelle Untersuchung, bei der die Zahnreife geschätzt werden soll. Sie ist zu unterscheiden von einem Orthopantogramm, bei dem eine Röntgenaufnahme des Gebisses angefertigt wird.280 Die Methode muss durch einen ausgebildeten Zahnarzt durchgeführt werden, der die Zahnentwicklung mit einer Reihe von Entwicklungsstadien abgleicht.281 Untersucht wird im Einzelnen, ob die Zähne des Dauergebisses, die sogenannten Molaren, bereits durchgebrochen sind. Unterschieden wird zwischen drei Typen von Molaren: Die ersten beiden Molaren brechen regelmäßig zwischen dem 12. und dem 16. Lebensjahr durch, während die dritten Molaren („Weisheitszähne“) erst zwischen dem 16. und dem 25. Lebensjahr durchbrechen.282 Daraus ergibt sich eine wesentliche Schwäche dieser Methode: Die Aussagekraft des Zahndurchbruchs über das Erreichen des 18. Lebensjahres ist verschwindend gering. Denn lediglich die dritten 278

Rosenbloom/Tanner, in: Pediatrics 1998, 1494, 1494. Möller, in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2017, § 42f SGB VIII Rn. 9. 280 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 10. 281 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 57. 282 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 10. 279

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Molaren können zuverlässig genutzt werden, um festzustellen, ob der Betroffene volljährig ist.283 Der Durchbruch der ersten und zweiten Molaren kann höchstens als Anhaltspunkt dafür dienen, dass der Betroffene mindestens 12 Jahre alt ist. Umgekehrt besteht beim Zahndurchbruch der dritten Molaren eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene volljährig ist. Da die Weisheitszähne allerdings auch schon im Alter von 16 Jahren durchbrechen können, kann Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen werden. Gerade bei den dritten Molaren muss mit erheblichen interindividuellen Schwankungen gerechnet werden.284 Es lässt sich höchstens eine ungefähre Alterseinschätzung vornehmen, die allerdings keine direkte Aussagekraft über das Erreichen des 18. Lebensjahres haben kann. Selbst wenn sich die Aussagen der betreffenden Person über das eigene Alter mit den Ergebnissen der Zahnuntersuchung widersprechen, muss eine gewisse Fehlerspanne berücksichtigt werden.285 Im Ergebnis wird auch nach Durchführung dieser Methode immer noch ein Zweifelsfall vorliegen. Ein großer Vorteil der Gebissanalyse ist auf der anderen Seite, dass sie ohne gesundheitlichen Eingriff wie bei einer Röntgenbestrahlung durchgeführt werden kann. d) Psychosoziale Begutachtung Eine ebenfalls anerkannte Methode zur Alterseinschätzung ist eine psychosoziale Begutachtung durch einen Psychologen oder Sozialpädagogen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen nicht wie bei den anderen Methoden physische Wachstumsprozesse, sondern die psychische Reife des Betroffenen. Es soll eine kognitive, verhaltensbezogene und psychologische Begutachtung des jungen Menschen durchgeführt werden.286 Ziel der psychologischen Begutachtung ist es, nähere Umstände über die Lebensgeschichte des Betroffenen herauszufinden, um dann durch den Umgang des jungen Menschen mit bestimmten Ereignissen die mentale Reife einschätzen zu können.287 Die psychologische Begutachtung ist von ihrer Zwecksetzung folglich mit der Einschätzung der geistigen Reife durch das Gespräch im Rahmen der qualifizierten Inobhutnahme vergleichbar. Anknüpfungspunkt der Untersuchung ist nämlich nicht das physische Alter, sondern das geistige Alter des Betroffenen. 283 Di Maio, Positionspapier zur Altersfestsetzung bei unbegleiteten Minderjährigen in Europa, S. 20. 284 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 10. 285 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 58. 286 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 55. 287 Smith/Brownless, Age assessment practices: a literature review and annotated bibliography, S. 22.

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Vorteilhaft an dieser Untersuchungsmethode ist, dass keine körperliche Untersuchung stattfindet. Problematisch ist dagegen, dass es kaum Forschung oder Studien dazu gibt, anhand welcher Faktoren eine psychologische bzw. soziale Altersschätzung durchgeführt werden kann.288 Es stehen anders als bei der forensisches Altersdiagnostik keine Referenzstudien zur Verfügung, sodass diese Methode stark den subjektiven Eindrücken der begutachtenden Person überlassen wird, was zu einer hohen Fehlerspanne führen kann.289 In einer Studie zur Zuverlässigkeit von psychosozialen Altersschätzungen wurden die Ergebnisse einer psychosozialen Altersschätzungen mit denen eines forensischen Altersgutachtens verglichen. Als psychosoziale Merkmale wurden insbesondere das Verhalten im sozialen Umfeld, die kognitiven Fähigkeiten, die Motorik, das Körperbild, die Zukunftsplanung, die Emotionen, die Moral die Hilfsbedürftigkeit und sonstige Ressourcen ausgewertet.290 Im Ergebnis wurden nach der psychosozialen Begutachtung bei 44 von 47 Personen Minderjährigkeit festgestellt, während nach den forensischen Altersgutachten bei nur 34 der 47 Personen Minderjährigkeit möglich oder wahrscheinlich war und bei 13 Personen sogar – unter Berücksichtigung des Mindestalterskonzepts – von Volljährigkeit ausgegangen wurde. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die psychosoziale Untersuchungsmethode einen höheren Anteil an falsch-positiven Minderjährigkeitsfeststellungen aufweise.291 Dieses Ergebnis steht allerdings unter der Annahme, dass die Anwendung des Mindestalterskonzepts keine Fehlerquote aufweise. Teilweise wird auch die Ansicht vertreten, dass psychosoziale Untersuchungen in Bezug auf das Alter zutreffender als jedes Röntgen- oder Genitaluntersuchungsergebnis wären.292 Psychologische Begutachtungen werden unter anderem auch vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes empfohlen293 und können bei einer umfassenden ärztlichen Untersuchung zur Altersbestimmung zumindest einen nützlichen Beitrag leisten. Die Association of Directors of Childrens Services Ltd. (ADCS) hat beispielsweise umfangreiche Richtlinien zur psychosozialen Altersschätzung für Sozialarbeiter in Großbritannien herausgegeben.294 Bedeutender Vorteil ist, dass in einem ruhigen Gespräch der kognitive, soziale und emotionale Entwicklungsstand, die Bedürfnisse, 288 Smith/Brownless, Age assessment practices: a literature review and annotated bibliography, S. 22. 289 Hagen/Schmidt/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 233, 238. 290 Hagen/Schmidt/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 233, 236. 291 Hagen/Schmidt/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 233, 239. 292 Eisenberg, Sozialmagazin 2016, 100, 112. 293 UNHCR, Guidelines on international protection No. 8 (2009), Child Asylum Claims under Articles 1(A)2 and 1(F) of the 1951 Convention and/or 1967 Protocol relating to the Status of Refugees, S. 27, Nr. 75, https://www.unhcr.org/publications/legal/50ae46309/guide lines-international-protection-8-child-asylum-claims-under-articles.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 294 Vgl. Age Assessment Guidance, https://adcs.org.uk/safeguarding/article/age-assess ment-information-sharing-for-unaccompanied-asylum-seeking-children, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021.

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die Glaubwürdigkeit und im Ergebnis das Alter eines Menschen eingeschätzt werden können.295 e) Zusammenfassung Nichtinvasive Methoden sind zwar besonders schonend und damit aus gesundheitlicher und ethischer Sicht grundsätzlich zu bevorzugen. Allerdings zeichnen sich die Methoden gleichzeitig durch eine besonders hohe Fehlerspanne aus. Die Zuverlässigkeit der nichtinvasiven Methoden ließe sich durch eine kombinierte Anwendung mittels einer Gesamteinschätzung unter Berücksichtigung von äußerlichen Merkmalen und der geistigen Reife – wie etwa bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme (vgl. S. 62 f.) – naturgemäß erhöhen. Insbesondere die psychosoziale Begutachtung kann als nützliches Korrektiv herangezogen werden, wenn ein tatsächlich minderjähriger Ausländer aufgrund eines frühen, starken Körper- und Reifewachstums volljährig erscheint. Es bleibt aber dabei, dass nichtinvasive Methoden stark subjektiv geprägt und damit besonders fehleranfällig sind. Sinn und Zweck des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung – nämlich eine möglichst genaue Eingrenzung des Alters – sprechen dafür, die ärztliche Untersuchung nicht auf diese nichtinvasiven Methoden zu beschränken. 2. Invasive Methoden Unter invasive Methoden, die in Deutschland bei der Erstellung von forensischen Altersgutachten zum Einsatz kommen, fallen im Wesentlichen Röntgenuntersuchungen der Hand, der Zahnmineralisation sowie der Schlüsselbeine des Betroffenen.296 Grundgedanke der Altersschätzung mittels Röntgendiagnostik ist, dass sich bei allen Menschen in jungen Jahren ein vergleichbarer biologischer Wachstumsprozess abspielt. Insbesondere Zähne, Knochen und die Geschlechtsreife entwickeln sich physisch wahrnehmbar in statistisch bestimmbaren Zeiträumen. Diese Zeiträume lassen sich wiederum jeweils in verschiedene Wachstumsphasen unterteilen, die dann unter Verwendung von Referenzstudien einem statistisch wahrscheinlichen Alter zugeordnet werden können.297 Das Wachstum von Zähnen und Knochen ist allerdings nicht ohne Weiteres von außen in der erforderlichen Genauigkeit messbar. Um dies zu ermöglichen, werden in der Altersdiagnostik Röntgenaufnahmen der Zähne und Knochen angefertigt. Unter Röntgenstrahlung versteht man elektromagnetische Wellen, die von verschiedenen 295

Eisenberg, Sozialmagazin 2016, 100, 112. AGFAD, Criteria for age estimation in living individuals, S. 2, https://www.medizin.unimuenster.de/en/rechtsmedizin/schmeling/agfad/recommendation.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 297 Vgl. Mostad/Tamsen, International Journal of Legal Medicine 2019, 613, 613. 296

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Gewebsarten im Körper unterschiedlich absorbiert werden. Insbesondere das in Knochen enthaltene Kalzium absorbiert die Röntgenstrahlung am stärksten. Darüber ist es möglich, Bilder mit unterschiedlichen Schwarz-Weiß-Schattierungen zu erhalten, mit denen sich der Wachstumsfortschritt der Knochen zeigen lässt.298 Die elektromagnetischen Wellen haben allerdings eine ionisierende Wirkung auf das Gewebe, d. h., es kommt zu chemischen Reaktionen in nahezu allen Bestandteilen der betroffenen Zellen, die wiederum zu einer Schädigung der Biomoleküle führen können. Diese Schäden können auch die Desoxyribonukleinsäure (DNA) betreffen und somit die Integrität der Struktur und Funktion von Erbsubstanz gefährden.299 Die Anwendung von Röntgendiagnostik zur nicht medizinisch indizierten Altersschätzung ist unter Medizinern stark umstritten. Der Deutsche Ärztetag hat im Jahr 2014300 den Beschluss gefasst, dass Alterseinschätzungen bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern durch Knochenröntgen oder Computertomographie medizinisch nicht vertretbar seien und zu diesem Zweck nicht angewandt werden dürften. Begründet wurde dies mit der fehlenden medizinischen Indikation und der hohen Standardabweichung der Ergebnisse. Dieser Beschluss wurde von anderen Rechtsmedizinern heftig kritisiert, da die Einwände unsachlich und fehlerhaft seien.301 Kern des Streits ist insbesondere die Frage, ob es im Niedrigdosisbereich, in dem sich die medizinische Röntgendiagnostik vorwiegend bewegt, zu einer relevanten Gesundheitsschädigung kommen kann und wie zuverlässig eine Altersfeststellung mittels Röntgendiagnostik ist.302 Letztlich besteht auf diesem Gebiet noch immer Forschungsbedarf, da dies in der Wissenschaft noch nicht abschließend geklärt ist.303

298 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 62. 299 Strahlenschutzkommission, Einfluss der natürlichen Strahlenexposition auf die Krebsentstehung, Stellungnahme 2007, https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_ PDF/2007/NatuerlicheStrahlexposition_Krebsentstehung.html?nn=2041716, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 300 117. Deutscher Ärztetag, 2014, Beschlussprotokoll, S. 275, https://www.bundesaerztekam mer.de/aerztetag/aerztetage-der-vorjahre/117-daet-2014-in-duesseldorf/beschlussprotokoll/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 301 Parzeller, Rechtsmedizin 2015, 21, 28. 302 Kein Gesundheitsnachteil durch Röntgenstrahlung: vgl. Schmeling/Püschel, Rechtsmedizin 2015, 5, 5; kein Schwellenwert, unter dem Schädigung völlig auszuschließen ist: vgl. Shannou/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41. 44. 303 Vgl. Strahlenkommission, Biologische Wirkungen niedriger Dosen ionisierender Strahlung, Stellungnahme 2007, S. 5, https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_ PDF/2007/BiologischeWirkungen_niedrigerDosen.html?nn=2041716, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021; Pearce/Salotti/Little/McHugh, Lancet 2012, 499, 499.

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a) Handradiogramm Eine Möglichkeit der Altersbestimmung mittels Röntgendiagnostik ist die Erstellung eines sogenannten Handradiogrammes, also Röntgenaufnahmen der Handwurzelknochen. Ausgewertet werden hierbei insbesondere Form und Größe der Knochenelemente sowie der Grad der Verwachsung der Knochenepiphyse, die sogenannte epiphysäre Ossifikation. Die Röntgenaufnahmen werden in der Regel von der linken Hand angefertigt, da die rechte Hand bei einer überdurchschnittlichen Anzahl an Rechtshändern häufiger Störungen ausgesetzt ist, die die Entwicklung beeinflussen kann.304 Die Röntgenaufnahmen werden dann mit Standardaufnahmen aus einem Röntgenatlas, der auf entsprechenden Referenzstudien basiert, abgeglichen. Es gibt zwei verbreitete Untersuchungsmethoden zur Altersbestimmung mittels Handradiogramm. Zum einen kann ein Abgleich der Röntgenaufnahmen mit dem Röntgenatlas von Greulich und Pyle vorgenommen werden.305 Der Röntgenatlas enthält Standardaufnahmen für verschiedene Altersgruppen und Geschlechter. Die Standardaufnahmen stammen von 1.000 US-Amerikanern nordeuropäischer Abstammung im Alter von 0 bis 18 Jahren im Zeitraum von 1931 bis 1942.306 Die einfache Standardabweichung des Skelettalters liegt nach Greulich und Pyle bei sieben bis 13 Monaten. Das Handskelett ist mit 18 Jahren voll ausgereift, sodass ab diesem Stadium nur noch ein Mindestalter angegeben werden kann.307 Die Methode nach Greulich und Pyle gehört zu den weltweit anerkanntesten Methoden der Altersbestimmung.308 Problematisch ist, dass sich Faktoren wie Rasse, sozioökonomischer Hintergrund sowie Ernährung nachgewiesenermaßen auf die Knochenreife auswirken.309 Wird die Methode bei Ausländern aus Krisengebieten angewandt, muss daher mit einer größeren Fehlerspanne gerechnet werden. Diese dürfte allerdings eher zugunsten der Ausländer ausfallen, da beispielsweise eine Unterernährung die Knochenreife verlangsamt, sodass sie im Zweifelsfall nach dieser Methode jünger eingeschätzt werden als sie tatsächlich sind.310 Eine Studie kam bei einer Auswertung von 650 Handradiogrammen von Minderjährigen im Alter zwischen 3 und 16 Jahren zum Ergebnis, dass eine Schätzung des Skelettalters nach Greulich und Pyle (1959) eine eindeutige Tendenz zur Überschätzung des Kalenderalters auf304

Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 8. European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 63. 306 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 9. 307 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 9. 308 Koch, Untersuchungen zur Anwendbarkeit der Skelettalterbestimmungsmethoden von Greulich und Pyle sowie Thiemann und Nitz in der forensischen Altersdiagnostik bei Lebenden, S. 45. 309 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 63. 310 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 18 ff. 305

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weise.311 Die durchschnittliche Standardabweichung betrug danach bei Mädchen 1,0 Jahre und bei Jungen 0,7 Jahre.312 Bei der Einzelknochenmethode nach Tanner und Whitehouse wird dagegen der Grad der Reife jedes Einzelnen der 20 Knochen der Hand untersucht und anschließend mit einer Reihe von Bildern abgeglichen, um die Entwicklung feststellen zu können. Als Referenz dienen dabei Studien aus den 1950er und 60er Jahren. Auch bei dieser Methode stellt sich das Problem, dass das Knochenwachstum durch den ethnischen und sozioökonomischen Hintergrund beeinflusst werden kann.313 Problematisch an beiden Methoden zur Altersbestimmung mittels Handradiogramm ist außerdem, dass der Betroffene durch die Röntgenstrahlung einer Strahlenbelastung ausgesetzt wird. Diese beträgt bei einem Handradiogramm zwar nur 0,0001 mSv314 und ist damit vergleichsweise gering. Allerdings liegen zwischen der Strahleneinwirkung als Primärereignis und möglichen Langzeitfolgen noch nicht vollständig aufgeklärte physikalisch-chemische und biologische Reaktionsketten.315 b) Orthopantogramm Ein weiteres radiologisches Verfahren zur Altersbestimmung stellt eine Gebissanalyse mittels Auswertung eines Orthopantogramms dar. Dabei handelt es sich um eine Röntgenaufnahme des Gebisses. Untersucht wird dabei die Skelettentwicklung bezüglich der sequenziellen Änderungen beim Durchbruch und der Struktur der Zähne während des Wachstums in der Kindheit.316 Im Alter zwischen 16 und 20 Jahren sind regelmäßig alle Zähne außer den dritten Molaren voll ausgebildet. Letztere weisen dabei die größte Spannbreite bei der Entwicklung von Zahnkrone und -wurzel auf und werden daher am häufigsten zur Altersbestimmung herangezogen.317 Zur Altersschätzung werden die Entwicklungsstadien der einzelnen Zahnkronen und -wurzeln, die sich aus den Röntgenaufnahmen ergeben, mit Hilfe von Tabellen in 311

Koch, Untersuchungen zur Anwendbarkeit der Skelettalterbestimmungsmethoden von Greulich und Pyle sowie Thiemann und Nitz in der forensischen Altersdiagnostik bei Lebenden, S. 46, 68. 312 Koch, Untersuchungen zur Anwendbarkeit der Skelettalterbestimmungsmethoden von Greulich und Pyle sowie Thiemann und Nitz in der forensischen Altersdiagnostik bei Lebenden, S. 68. 313 Crawley, When is a child not a child? Asylum, age disputes and the process of age assessment, S. 30. 314 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 46. 315 Wigge/Loose, MedR 2016, 318, 319. 316 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 63. 317 Anysley-Green, The assessment of age in undocumented migrants, S. 26; Europäische Union, European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 63.

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das Zahnalter umgerechnet. Es gibt verschiedene Referenzstudien, die hierzu herangezogen werden können. Zu den gebräuchlichsten gehören die Studien von Gleiser und Hunt (1955) sowie von Demirjian (1973).318 Allerdings weist auch die Altersbestimmung mittels Orthopantogramm einige Schwächen auf. Problematisch ist insbesondere die Anwendung der Studien auf Ausländer ohne Berücksichtigung deren Herkunft, Ernährung und Umwelt. Bei einer Studie von Koshy und Tandon aus 1998 wurden südindische Mädchen und Jungen nach der Methode von Demirjian durchschnittlich 2,82 bzw. 3,04 Jahre älter eingeschätzt, als sie tatsächlich waren.319 Nach einer weiteren Studie von Eid et al. (2002) hat sich bei brasilianischen Mädchen und Jungen eine Abweichung von 0,616 bzw. 0,681 Jahren vom tatsächlichen Alter bei Anwendung der gleichen Methode ergeben.320 Thorson und Hagg (1991) zweifeln in ihrer Studie außerdem einen verlässlichen, aussagekräftigen Zusammenhang zwischen Zahnalter und tatsächlichem Alter an. Sie stellten eine Abweichung von bis zu 4,5 Jahren bei Frauen und 2,8 Jahren bei Männern bei der Untersuchung der Genauigkeit der Entwicklung eines häufig zur Altersbestimmung verwendeten Molaren fest.321 Eine weitere Studie mit australischen Kindern aus Sydney ergab eine durchschnittliche Unterschätzung des Alters von 0,6 Jahren.322 Grundsätzliche bewegten sich die Fehlerspannen hier in einem Intervall von : 1,8 Jahren für beide Geschlechter.323 Für die gewöhnlichen Herkunftsländer der Asylbewerber liegen ebenfalls keine entsprechenden Referenzstudien vor.324 Ihr Zahnwachstum wird in der Folge an europäischen Studien gemessen, wodurch größere Fehlerspannen als gewöhnlich berücksichtigt werden müssten. Einzelne Forscher gehen dagegen davon aus, dass die Ethnie keinen nennenswerten Unterschied auf die Altersbestimmung mittels Orthopantogramm hat bzw. eine maximale Abweichung von zwölf Monaten haben kann.325 Allerdings ist nach aktuellem Stand der Forschung davon auszugehen, dass 10 % der Mädchen und 16 % der Jungen schon vor Erreichen des 19. Lebensjahres bei der Anlage der Weisheitszähne die Kriterien eines mindestens 18-Jährigen

318

European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2019, S. 63 f. 319 Crawley, When is a child not a child? Asylum, age disputes and the process of age assessment, S. 31. 320 Eid/Simi/Friggi/Fisberg, International Journal of Paediatric Dentistry 2002, 423, 427. 321 Thorson/Hogg, Swedish Dental Journal 1991, 15, 22. 322 Blenkin/Evans, Journal of Forensic Sciences, 2010, 1504, 1507. 323 Blenkin/Evans, Journal of Forensic Sciences, 2010, 1504, 1507. 324 Crawley, When is a child not a child? Asylum, age disputes and the process of age assessment, S. 32. 325 Einzenberger, Workshop on Age Assessment and Identification, Report, Annex 6, 2003, S. 42, https://resourcecentre.savethechildren.net/library/workshop-age-assessment-and-identifi cation, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021.

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aufweisen,326 sodass die Gebissanalyse mittels Röntgenstrahlung schon unabhängig von der Ethnie eine gewisse Fehlerspanne aufweist. Nicht abschließend geklärt ist weiterhin der Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds einer Person auf das Knochen- und Zahnwachstum. Vermutet wird teilweise, dass schwierige Umweltbedingungen, schlechte Ernährung und ein allgemein nachteiliger soziökonomischer Hintergrund zu einem verzögerten Knochenund Zahnaufbau führen.327 In einer Studie von Bogin and Loucky (1997) wurden mit Blick auf soziale, wirtschaftliche und politische Einflussfaktoren Größe, Gewicht, Körperfettanteil und Muskulatur von in den USA geborenen Maya-Kindern mit in Guatemala lebenden Maya-Kindern verglichen. Im Ergebnis konnte festgestellt werden, dass die in den USA geborenen Maya-Kinder durchschnittlich größer und schwerer als in Guatemala lebende Maya-Kinder waren.328 Daraus konnte gefolgert werden, dass der sozioökonomische Hintergrund einer Person das Wachstum und damit auch den Knochen- und Zahnaufbau beeinflusst. Allerdings dürfte dies – wie bereits erwähnt – im Ergebnis nicht zum Nachteil für die Betroffenen der Altersbestimmung führen, da Folge eines schlechten sozialökonomischen Hintergrunds eher eine Verzögerung des Wachstums ist, die zu einer Unterschätzung des Alters führt.329 Unbestritten ist dagegen, dass die Anfertigung eines Orthopantogramms beim Betroffenen zu einer Strahlenbelastung von ca. 0,026 mSv führt.330 Dies ist bereits die 260-fache Strahlendosis eines Handradiogrammes, auch wenn die Belastung immer noch sehr deutlich unter der jährlichen alltäglichen Strahlendosis von 2,1 bis 2,6 mSv pro Jahr liegt.331 Dennoch ist zu berücksichtigen, dass die ionisierende Röntgenstrahlung Langzeitschäden verursachen kann.332 c) Schlüsselbeinuntersuchung Zur Altersbestimmung kann auch eine Röntgenuntersuchung des Schlüsselbeins durchgeführt werden. Verbreitet ist diese Methode vor allem im Strafrecht, da im Jugendstrafrecht gemäß § 1 Abs. 2 JGG auch das Erreichen des 21. Lebensjahres noch eine Rolle spielt, das Wachstum des Handskeletts und der Zahnwurzeln in

326 Crawley, When is a child not a child? Asylum, age disputes and the process of age assessment, S. 32 f. 327 Schmeling/Reisinger/Loreck/Vendura/Markus/Geserick, International Journal of Legal Medicine 2000, 253, 257. 328 Bogin/Loucky, American Journal of Physical Anthropology 1997, 102, 17, 21. 329 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 20. 330 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016 44, 46. 331 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016 44, 46. 332 Wigge/Loose, MedR 2016, 318, 319.

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diesem Altersbereich in der Regel aber bereits abgeschlossen ist.333 Nützlich kann diese Methode aber auch bei der Feststellung der Minderjährigkeit bzw. Volljährigkeit sein. Hierbei wird der Verknöcherungszustand der brustnahen Wachstumsfuge des Schlüsselbeins untersucht. Zu diesem Zweck gibt es verschiedene anatomische und radiologische Studien. Bei den anatomischen Studien wird die Verknöcherung im Rahmen einer Sektion bzw. bei Skeletten durch direkte Inspektion beurteilt, während bei den radiologischen Studien eine Computertomographie durchgeführt wird.334 Bei einer Studie wurden 873 Thorax-Übersichtsaufnahmen von 16- bis 30-jährigen Mitarbeitern am Berliner Universitätsklinikum Charité aufgenommen und anschließend evaluiert. Dabei kam man zum Ergebnis, die Ossifikation des Schlüsselbeins in fünf verschiedene Stadien einzuteilen: Im Stadium 1 war die Epiphyse noch nicht verknöchert. In Stadium 2 lässt sich ein Knochenkern erkennen. In Stadium 3 kommt es bereits zu einer partiellen Fusion, während in Stadium 4 die Fusion abgeschlossen ist. Im Rahmen der Studie konnte außerdem ein 5. Stadium festgestellt werden, wenn die Epiphysennarbe bei komplettierter Fusion verschwunden ist.335 Die Studie ergab, dass Phase 3, also die partielle Fusion der Wachstumsfuge des Schlüsselbeins, frühestens mit 16 Jahren auftritt, und zwar unabhängig vom Geschlecht.336 Zu einer kompletten Fusion als Beginn des 4. Stadiums kommt es bei Frauen frühestens mit 20 Jahren, bei Männern erst mit 21 Jahren. Die Epiphysennarbe verschwindet erst mit Erreichen des 26. Lebensjahres.337 Für die Altersbestimmung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern bedeutet dies, dass bei Feststellung der kompletten Fusion der Wachstumsfuge des Schlüsselbeins sowohl bei Männern als auch Frauen mit großer Sicherheit von Volljährigkeit ausgegangen werden kann. Allerdings wird auch die Zuverlässigkeit der Schlüsselbeinuntersuchung angezweifelt. Eine Studie aus dem Jahr 2010 hat ergeben, dass die relevante Phase 3 der Verknöcherung in Einzelfällen bereits mit 15 Jahren eintreten kann, teilweise aber auch erst mit 28 Jahren.338 Damit besteht hier eine sehr große Spannbreite. Orientiert man sich für die Annahme der Volljährigkeit an der Vollendung von Phase 3, besteht eine erhebliche Gefahr, dass ein großer Teil der Volljährigen als minderjährig eingestuft wird, sodass der faktische Nutzen der Methode fragwürdig ist. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2012 hat ergeben, dass sogar bei der gleichen Person erhebliche rechts-links-Seitenunterschiede bei den Brustbein333 Schmeling/Schulz/Reisinger/Mühler/Wernecke/Geserick, International Journal of Legal Medicine 2004, 5, 6. 334 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 11. 335 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 12, Schmeling/Schulz/Reisinger/Mühler/Wernecke/Geserick, International Journal of Legal Medicine 2004, 5, 6. 336 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 12. 337 Schmeling, Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren, S. 12. 338 Eisenberg, Sozialmagazin 2016, 100, 106.

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Schlüsselbeingelenken von 15- bis 25-Jährigen bestehen. Die Studie ergab eine Abweichung der beiden Schlüsselbeinepiphysen von bis zu 3,1 Jahren.339 Hier müssten in der Praxis beide Gelenke geschätzt werden, um dann nach dem Mindestalterskonzept dem Altersgutachten das für den Betroffenen günstigere Schlüsselbeingelenk zugrunde zu legen. Vorteilhaft ist dagegen, dass es für verschiedene ethnische Gruppen definierte Ossifikationsstadien gibt, sodass relevante Referenzstudien auch auf ethnische Gruppen aus den überwiegenden Herkunftsländern von Asylsuchenden angewandt werden können.340 Problematisch an dieser Methode ist wiederum, dass sie zwingend mit Röntgenstrahlung verbunden ist. Im Rahmen der Computertomographie wird der Betroffene sogar einer Strahlung in Höhe von 0,4 mSv ausgesetzt.341 Die Strahlenbelastung ist hier also um ein Vielfaches höher als bei der Gebissanalyse anhand eines Orthopantogrammes. Nach neueren Studien müssen herkömmliche Röntgenaufnahmen des Schlüsselbeines für eine hinreichend genaue Auswertung des Ossifikationsstadiums in drei Ebenen erfolgen, sodass es zusätzlich zu einer erhöhten Strahlenexposition kommt.342 Gleichzeitig fehlt es der Methode an hinreichender Genauigkeit, da nur mit großer Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, ob der oder die Betroffene schon 20 bzw. 21 Jahre alt ist. Das bedeutet allerdings gleichzeitig, dass die Altersgruppe der 18- bis 20-Jährigen unberücksichtigt bleiben würde bzw. im Zweifel als Minderjährige einzustufen wäre.343 Es ist allerdings gerade diese Altersgruppe, die optisch am schwierigsten von den Minderjährigen abzugrenzen ist. Der Nutzen der Methode bleibt damit eingeschränkt. d) Darmbeinkammuntersuchung Eine Altersbestimmung durch eine Untersuchung des Wachstums des Darmbeinkamms kann nicht nur auf sonographischem Wege, sondern auch mittels einer Röntgenaufnahme erfolgen. Das Skelettalter kann dann ähnlich wie bei der Untersuchung des Schlüsselbeins anhand des Aussehens bestimmter Knochen bestimmt werden.344 Auch wenn diese Methode als zuverlässig mit geringer Fehlerspanne gilt,345 wird sie in der medizinischen Praxis kaum angewandt. Dies dürfte insbe339

Eisenberg, Sozialmagazin 2016, 100, 106. European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung 2013, S. 36. 341 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 46. 342 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung 2013, S. 36. 343 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung 2013, S. 36. 344 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung 2013, S. 41. 345 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung 2013, S. 41. 340

in Europa, 1. Aufl.

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sondere an dem hohen Schädigungspotenzial dieser Methode liegen, da die Genitalien des Betroffenen im Gang der Röntgenstrahlen liegen.346 Damit dürfte diese Methode auch aus rechtlicher Sicht nicht zur Anwendung kommen (dürfen). e) Anwendung des Mindestalterskonzepts Die Ausführungen zu den verschiedenen nichtinvasiven und invasiven Methoden verdeutlichen, dass noch keine Methode existiert, mit der ein exaktes Alter eines Menschen festgestellt werden kann. Vergleicht man aber insbesondere die Ossifikationsstadien der unterschiedlichen Knochen, zeigt sich, dass diese nicht deckungsgleich sind. Eine Kombination der verschiedenen Methoden kann somit dazu führen, dass ein Altersgutachten im Gesamtergebnis zu einem zuverlässigeren Ergebnis kommt.347 Um noch besser ausschließen zu können, dass Minderjährige aufgrund der zuvor dargestellten teils erheblichen Standardabweichungen fälschlicherweise als volljährig eingestuft werden, hat sich in der Praxis die Anwendung des sogenannten Mindestalterskonzepts etabliert. Dieses ergibt sich aus dem Altersminimum der verwendeten Referenzstudie für die festgestellte Merkmalsausprägung. Der Altersschätzung wird also das Alter der jüngsten Person aus der Referenzpopulation, die das jeweilige Entwicklungsstadium aufweist, zugrunde gelegt.348 Es kann dann grundsätzlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Aussage getroffen werden, dass der Betroffene tatsächlich volljährig ist, wenn das Altersgutachten auf Basis des Mindestalterskonzepts ein Mindestalter von 18 Jahren oder älter ergibt.349 Dadurch kann zumindest mit Blick auf die Volljährigkeit das Vorliegen von Zweifeln nach Abschluss des Altersgutachtens nahezu ausgeschlossen werden. Allerdings kann nicht mit absoluter Sicherheit davon ausgegangen werden, dass ein betroffener Ausländer im Einzelfall nicht doch jünger als diese jüngste Referenzperson ist. Hervorzuheben ist dabei der Umstand, dass die Referenzstudien teils vor über 50 Jahren angefertigt wurden, sodass fraglich ist, ob diese Studien heute noch zuverlässig anwendbar sind. Dies sollte bei der Anwendung des Mindestalterskonzepts beachtet werden. Wünschenswert wären hier Referenzstudien zu der Bevölkerung aus den jeweiligen typischen Fluchtgebieten von Asylsuchenden, um das Risiko noch weiter zu verringern. Ein weiterer Nachteil des Mindestalterskonzepts aus praktischer Sicht ist außerdem, dass ein großer Teil der tatsächlich volljährigen Ausländer als minderjährig eingestuft wird, da immer die jüngste Referenzperson herangezogen und dadurch der 346

European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 1. Aufl. 2013, S. 41. 347 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 47. 348 Berfurt/Kirchhoff/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 241, 242; Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 49. 349 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 49.

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Betroffene meist als zu jung eingestuft wird.350 Dies betrifft dann insbesondere die 18 und 19 Jahre alten Ausländer. Denn die vorhandene Standardabweichung kann bei Anwendung des Mindestalterskonzepts nicht ausgeblendet werden. Vielmehr führt dieses lediglich dazu, dass innerhalb der Standardabweichung immer vom jüngsten Alter ausgegangen wird. Aus statistischer Sicht sinkt dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass das festgestellte Alter dem tatsächlichen Alter des Betroffenen entspricht. Dies wirkt sich hier zwar zugunsten der Betroffenen aus, da die Wahrscheinlichkeit enorm steigt, als minderjährig eingestuft zu werden. Gleichzeitig geht dies zulasten der Kapazitäten und Ressourcen der Jugendämter, deren Schonung das eigentliche Ziel der Altersfeststellung ist. Auffällig ist im Übrigen, dass § 42 Abs. 2 SGB VIII keinerlei Hinweise enthält, welche Anforderungen an ein Altersgutachten für die Feststellung der Volljährigkeit zu stellen sind. Erachtet man radiologische Untersuchungen grundsätzlich für zulässig, sollte jedenfalls im Gesetz aufgenommen werden, dass die Feststellung der Volljährigkeit in einem Altersgutachten erfordert, dass eine Kombination verschiedener Methoden angewandt wurde und das Mindestalterskonzept eingehalten wurde. Damit kann nach aktuellem Stand der Forschung mit größtmöglicher Sicherheit verhindert werden, dass Minderjährige als volljährig eingestuft werden. 3. Methoden in der Forschung Wegen der aufgezeigten Schwächen der Altersbestimmung mittels Röntgenbildaufnahmen351 widmet sich die medizinische Forschung in den letzten Jahren vermehrt der Erprobung anderer Methoden zur Altersbestimmung. a) Ultraschalluntersuchung Eine in der medizinischen Literatur und Praxis noch wenig beachtete Methode zur Altersbestimmung ist eine sonographische Untersuchung der Verknöcherung verschiedener Körperteile. aa) Studien zur Ultraschalluntersuchung Eine der ersten Studien hierzu führten Schulz et al. (2008) durch.352 Sie untersuchten, ob eine Altersbestimmung anhand der Verknöcherung des Schlüsselbeins mittels Ultraschalls möglich ist. Untersucht wurden dazu 84 rechte Schlüsselbeine von 12- bis 30-Jährigen. Die über Ultraschall erkennbare Ossifikation wurde in vier

350

Hagen/Schmidt/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 233, 238. Vgl. kritisch zur Zuverlässigkeit der forensischen Altersdiagnostik Winkelmann/Wunderle, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 49 AufenthG Rn. 20. 352 Schulz/Zwiesigk/Schiborr/Schmidt/Schmeling, International Journal of Legal Medicine 2008, 163, 166. 351

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

verschiedene Stadien nach Owings Webb und Myers Suchey353 eingeteilt. Im 1. Stadium ist der Knochenkern noch nicht verknöchert. Im 2. Stadium ist der Knochenkern dann verknöchert, die Epiphysenplatte allerdings noch nicht. Im 3. Stadium ist die Epiphysenplatte teilweise, im 4. Stadium dann vollständig verknöchert. In 80 der untersuchten Fälle konnte eine Einteilung in die verschiedenen Stadien erfolgen. Die Studie hat ergeben, dass die 2. Stufe bei Mädchen frühestens mit 17,1 Jahren, bei Jungen mit 18,7 Jahren erreicht wurde. Die 3. Stufe wurde mit 17,6 bzw. 16,7 Jahren erreicht, die letzte Stufe mit 22,5 bzw. 22,9 Jahren. Insbesondere die dritte Stufe ist damit ein guter Anknüpfungspunkt für die Altersbestimmung bezüglich der Volljährigkeit. Bei Nichterreichen dieses Stadiums kann mit großer Wahrscheinlichkeit von Minderjährigkeit ausgegangen werden. Umgekehrt kann bei Feststellung des Erreichens der vierten Stufe mit hoher Wahrscheinlichkeit von Volljährigkeit ausgegangen werden. Die Verlässlichkeit der Methode anhand der Studie ist allerdings nicht zweifelsfrei, da sie nur an einer kleinen Studienpopulation mit 84 Teilnehmern durchgeführt wurde.354 In einer weiteren Studie von Schmidt et al. (2011) wurde dann erforscht, ob sich das Alter eines jungen Menschen anhand von Reifestadien des Knochenfortsatzes am Darmbeckenkamm mittels Ultraschallbild bestimmen lässt.355 Untersucht wurden 307 Frauen und 309 Männer aus Deutschland, die in etwa der durchschnittlichen Zusammensetzung der Bevölkerung entsprachen. Bei der Stadieneinteilung hat man sich an der Ultraschallstudie zur Schlüsselbeinossifikation von Schulz et al. (2008) orientiert. Untersucht wurden 16 Frauen und 23 Männer im Alter von 11 bis 20 Jahren. Stadium 3 wurde frühestens jeweils im Alter von 15,2 bzw. 16,2 Jahren erreicht, während Stadium 4 frühestens mit 17,1 bzw. 18,0 Jahren erreicht wurde. Das Erreichen des vierten Stadiums liegt damit wieder sehr nahe an der relevanten Schwelle zur Volljährigkeit, sodass diese Methode sehr erfolgsversprechend ist. Um die Verlässlichkeit dieses Versuchs zu überprüfen, wiederholten Schmidt et al. (2013) die Studie mit nunmehr 616 Teilnehmern, darunter 307 Frauen und 309 Männern im Altersbereich zwischen 10 und 25 Jahren.356 Diesmal ergab sich für das Erreichen von Stadium 3 ein Mindestalter von 14,7 bzw. 15,6 Jahren und für Stadium 4 ein Mindestalter von 17,9 bzw. 17,4 Jahren. Damit konnte die Zuverlässigkeit dieser Methode bestätigt werden. Lediglich bei drei der Teilnehmer, also bei 0,49 %, konnten keine verwertbare Ergebnisse erzielt werden.357 Auch wenn die Ultraschalluntersuchung des Darmbeckenkamms damit sehr zuverlässig ist, ist sie für den Anwendungsbereich der Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII im Vergleich zur Röntgendiagnostik von geringerem Nutzen, da auch mit dem Erreichen des 353

Webb/Suchey, American Journal of Physical Anthropology, 1985, 457, 462 f. Schulz/Zwiesigk/Schiborr/Schmidt/Schmeling, International Journal of Legal Medicine 2008, 163, 166. 355 Schmidt/Schmeling/Zwiesigk/Pfeiffer/Schulz, International Journal of Legal Medicine 2011, 271, 273 f. 356 Schmidt/Schiborr/Pfeiffer/Schmeling/Schulz, Science & Justice 2013, 395, 400. 357 Schmidt/Schiborr/Pfeiffer/Schmeling/Schulz, Science & Justice 2013, 395, 400. 354

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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letzten Stadiums noch Minderjährigkeit vorliegen kann. Mit dieser Methode ist es aber zumindest möglich, die Volljährigkeit des Betroffenen auszuschließen, wenn Stadium 4 noch nicht erreicht wurde. Ein großer Vorteil einer Altersbestimmung mittels Ultraschalluntersuchung ist, dass das Verfahren anders als bei der bloßen körperlichen und psychologischen Begutachtung ein objektives Ergebnis liefert und dabei trotzdem ohne einen körperlichen Eingriff wie bei einer Röntgenbestrahlung auskommt. Die Methode eignet sich daher besonders für Angelegenheiten, in denen keine medizinische Indikation für eine Röntgenbestrahlung gegeben ist.358 Ein weiterer Vorteil ist außerdem, dass eine Ultraschalluntersuchung, insbesondere im Vergleich zu einer Computertomographie oder einer Magnetresonanztomographie (MRT), recht kostengünstig ist.359 Die Ultraschalluntersuchung des Schlüsselbeins stellt damit eine gute Alternative zur Anwendung von Röntgentechnik dar, hat allerdings noch wenig Aufmerksamkeit in der medizinischen Praxis erhalten. Diese Methode könnte allerdings in der Zukunft eine größere Bedeutung erlangen. bb) PRIMSA-Handscanner Besondere Aufmerksamkeit gilt im Zusammenhang mit Ultraschalluntersuchungen dem sogenannten „PRIMSA-Handscanner“. Dabei handelt es sich um einen mobilen Ultraschall-Handscanner, der vom Fraunhofer Institut in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt entwickelt wurde.360 PRIMSA ist der Projektname und steht als Abkürzung für „Prävention und Intervention bei Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung“. Zweck der Entwicklung des Handscanners war die Identifizierung minderjähriger Opfer von Menschenhandel bei einer illegalen Einreise durch Schleuser. Der PRIMSA-Handscanner misst und analysiert die Schallgeschwindigkeit einer Ultraschallwelle durch unterschiedliche Verknöcherung von Handgelenksknochen oder Wachstumsfugen zwischen Handgelenk und Unterarm.361 Der Einsatz des PRIMSA-Handscanners für die Altersfeststellung bei unbegleiteten, jungen Ausländern nach § 42f SGB VIII wird derzeit in einer Studie des Universitätsklinikums des Saarlands, die durch die Bundesregierung gefördert wird, erprobt. Erste Ergebnisse der Studie werden im Juli 2021 erwartet.362 358

Schmidt/Schiborr/Pfeiffer/Schmeling/Schulz, Science & Justice 2013, 395, 400. Schulz/Schiborr/Pfeiffer/Schmidt/Schmeling, Journal of Forensic and Legal Medicine 2014, 68, 71. 360 BT-Drs. 19/22341 v. 11. 09. 2020, S. 2. 361 Fraunhofer Institut, Projekt-Highlight: Mobiler Ultraschallscanner im Projekt PRIMSAPrävention und Intervention bei Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung, https: //www.ibmt.fraunhofer.de/content/dam/ibmt/de/Dokumente/PDFs/ibmt-projektbeispiele/US_ PRIMSA_d.pdf, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 362 KLEVUS-Studie des Universitätsklinikums des Saarlandes, vgl. dazu BT-Drs. 19/22341 v. 11. 09. 2020, S. 3. 359

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Die PRISMA-Forschungsgruppe selbst hatte sich zuvor kritisch zum Einsatz des Handscanners für migrationsrechtliche Maßnahmen geäußert.363 Der Handscanner sei zweckgebunden zum Schutz von Minderjährigen vor Prostitution entwickelt worden. Die ultraschallbasierte Technologie sei weder bei weiblichen noch bei männlichen Personen zur Feststellung der Volljährigkeit konzipiert oder geeignet. Bei dieser Stellungnahme dürfte es sich sehr wahrscheinlich um eine bloße Vermutung handeln, unter anderem, um die angesprochene zweckgebundene Verwendung sicherzustellen. Grundsätzlich dürfte der PRIMSA-Handscanner zumindest dafür geeignet sein, die Minderjährigkeit festzustellen. Dazu soll er nach Aussage des Fraunhofer Instituts jedenfalls verwendet werden können. Letztendlich sind hier die Studienergebnisse des Universitätsklinikums des Saarlands abzuwarten. b) Magnetresonanztomographie Eine weitere Methode, die noch erforscht wird und daher noch nicht weit verbreitet ist, ist die Durchführung einer Magnetresonanztomographie zur Altersbestimmung. Hierbei können die Handgelenke, die Knie und das Schlüsselbein untersucht werden. MRT-Untersuchungen zur Altersbestimmung wurden erstmals im Jahr 2007 von Dvorak et al. bei Fußballspielern eingesetzt, um überprüfen zu können, ob die Altersbegrenzungen bei bestimmten internationalen Turnieren eingehalten werden.364 Untersucht wurden dabei die Handgelenke von insgesamt 496 jungen Männern im Altersbereich von 14 bis 19 Jahren aus Algerien, Argentinien, Malaysia und der Schweiz. Die verschiedenen Herkunftsländer sollten dabei gleichzeitig Aufschluss über den Einfluss der Ethnie auf den Wachstumsfortschritt geben. Das Knochenwachstum wurde in sechs Stadien eingeteilt, von noch gar nicht verwachsen bis gänzlich verwachsen. Problematisch an dieser Studie ist allerdings, dass eine komplette Verknöcherung teilweise bereits mit 17 Jahre festgestellt werden konnte,365 sodass der Erkenntniswert der Durchführung dieser Untersuchung darauf reduziert wird, dass bei nicht abgeschlossener Verknöcherung mit hoher Wahrscheinlichkeit noch Minderjährigkeit vorliegt. Es kann aber nicht umgekehrt von Volljährigkeit ausgegangen werden. Im Rahmen der Studie wurde außerdem nicht auf Faktoren wie Größe und Gewicht der Teilnehmer eingegangen, sodass hierdurch nicht einkalkulierte Abweichungen möglich wären.366

363 PRIMSA, Stellungnahme zur Technologie zur Feststellung von Minderjährigkeit bei weiblichen Personen, https://primsa.eu/aktuelles/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 364 Dvorak/George/Junge/Hodler, British Journal of Sports Medicine 2007, 45, 51. 365 Dvorak/George/Junge/Hodler, British Journal of Sports Medicine 2007, 45, 51. 366 Dvorak/George/Junge/Hodler, British Journal of Sports Medicine 2007, 45, 51.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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Eine weitere Studie zur Zuverlässigkeit von MRT-Untersuchungen zur Altersbestimmung wurde von Dedouit et al. (2012) durchgeführt.367 Diesmal wurde der Grad der Verknöcherung von Frauen und Männern im Altersbereich von 10 bis 30 Jahren getestet. Allerdings lässt auch diese Studie nur den Schluss zu, dass Männer, die das entsprechende Stadium 3 (ab 20,1 Jahren) erreicht haben, mit großer Wahrscheinlichkeit volljährig sind. Bei Frauen kann ab Stadium 5 (ab 22,6 Jahren) von Volljährigkeit ausgegangen werden.368 Dies bedeutet allerdings wiederum, dass die Altersgruppe der 18- bis 20-Jährigen häufig im Zweifelsfall als minderjährig eingestuft werden müsste. Vorteilhaft an dieser Methode ist, dass eine MRT-Untersuchung gänzlich ohne ionisierende Strahlung auskommt weitverbreitet ist.369 Festgestellt werden konnte zudem, dass das MRT eine genauere Bildgebung als Röntgenstrahlung zulässt.370 Beachtet werden sollte allerdings, dass ein gewisses Verletzungsrisiko besteht, wenn der Betroffene unentdeckte Metallteile, möglicherweise aus den Krisen- oder Kriegsgebieten, im Körper hat.371 Vernachlässigt werden darf allerdings nicht, dass MRT-Untersuchungen für den Betroffenen eine große psychische Belastung aufgrund der räumlichen Enge und der Lautstärke des Geräts beim Betriebsvorgang darstellen kann. Dies dürfte verstärkt für mutmaßlich Minderjährige gelten, die ohne sorgeberechtigte Erziehungspersonen nach Deutschland eingereist sind. Diese leiden nicht selten unter posttraumatischen Belastungsstörungen.372 Dies sollte vor der Durchführung einer MRT-Untersuchung überprüft werden. Gleichzeitig verursacht eine MRT-Untersuchung auch erhebliche Kosten. Bei der Altersbestimmung mittels MRT handelt es sich in jedem Fall um eine Methode, die viel Potenzial aufweist, allerdings noch nicht abschließend erforscht ist. c) DNA-Analyse Eine weitere Methode zur Altersschätzung stellt eine DNA-Analyse des Speichels oder von Blutproben des Betroffenen dar. Dabei werden bestimmte Genome der 367

Dedouit/Auriol/Rousseau/Rougé/Crubézy/Telmon, Forensic Science International 2012, 232.e1, 232.e6. 368 Dedouit/Auriol/Rousseau/Rougé/Crubézy/Telmon, Forensic Science International 2012, 232.e1, 232.e6. 369 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 1. Aufl. 2013, S. 50. 370 Dedouit/Auriol/Rousseau/Rougé/Crubézy/Telmon, Forensic Science International 2012, 232.e1, 232.e4. 371 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 1. Aufl. 2013, S. 50. 372 Sauer/Nicholson/Neubauer, European Journal of Pediatrics 2016, 299, 300.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

DNA untersucht, bei denen eine lineare Korrelation mit dem chronologischen Alter festgestellt worden ist. Bei einer hierzu durchgeführten Studie, in der verschiedene Modelle zur Altersschätzung mittels DNA-Analyse erprobt wurden, wurde allerdings eine mittlere Abweichung von bis zu acht Jahren vom tatsächlichen Alter festgestellt.373 In einer anderen Studie wurde eine Standardabweichung von 4,34 Jahren bei der relevanten Altersgruppe von 17 Jahre alten Probanden festgestellt. Die einzelnen geschätzten Alter lagen sogar im Bereich zwischen 3,77 und 31,65 Jahren.374 Diese starke Abweichung macht die Verwendung von DNA-Analysen zur Altersschätzung im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII zumindest aktuell weitgehend unbrauchbar.375 Ursache der starken Abweichungen ist unter anderem der Umstand, dass bei der epigenetischen Altersschätzung das sogenannte „DNA-Methylierungsalter“ als biologisches Alter zugrunde gelegt wird. Dieses kann aber nicht ohne Weiteres mit dem chronologischen Alter gleichgesetzt werden, da das epigenetische Alter mutmaßlich auch von anderen Faktoren beeinflusst wird.376 Ein Nutzen dürfte einer solchen Altersschätzung höchstens in einem Strafverfahren zur Ermittlung eines ungefähren Täterprofils zukommen. 4. Stellungnahme zu den medizinischen Methoden Die oben dargestellten verschiedenen Methoden zeigen im Ergebnis, dass zumindest eine exakte Altersfeststellung oder -bestimmung weder mittels nichtinvasiver noch mittels invasiver Methoden möglich ist. Auch bei den grundsätzlich zuverlässigeren invasiven Methoden handelt es sich um statistische Wahrscheinlichkeitsaussagen. Aufgrund der biologischen Vielfalt wird sehr wahrscheinlich nie eine taggenaue Altersschätzung auf Basis von Referenzstudien durchführbar sein. Das ist auch unter Medizinern unumstritten.377 Die nichtinvasiven Methoden haben jedenfalls den Vorteil, dass auch eine potenzielle Gesundheitsgefährdung ausgeschlossen werden kann. Klammert man zumindest die Genitaluntersuchungen aus, sind die körperliche und psychosoziale Begutachtung gerade bei traumatisierten minderjährigen Asylsuchenden deutlich schonender. Speziell die psychosoziale Begutachtung ermöglicht es den Ärzten, das Alter des Betroffenen an seinen tatsächlichen Bedürfnissen festzumachen.378 Diese

373

87. 374

Alghanim/Antunes/Silva/Alho/Balamurugan/McCord, Forensic Sci Int Genet. 2017, 81,

Ritz-Timme/Schneider/Mahlke/Koop/Eickhoff, Rechtsmedizin 2018, 202, 204. Vgl. auch Aussage von Schmeling, Niedersächsischer Landtag, Niederschrift über die öffentliche Sitzung des Ausschusses für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung am 08. 02. 2018, S. 10 f. 376 Ritz-Timme/Schneider/Mahlke/Koop/Eickhoff, Rechtsmedizin 2018, 202, 205. 377 Vgl. hierzu Gelbrich/Schwerdt/Hirsch/Dannhauer/Tausche/Gelbrich, Rechtsmedizin 2015, 7, 11. 378 Vgl. Eisenberg, Sozialmagazin 2016, 100, 112. 375

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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stimmen nicht zwingend mit dem chronologischen Alter einer Person überein.379 Die nichtinvasiven Methoden ermöglichen zumindest auch eine ungefähre Einschätzung des Alters. Dadurch können regelmäßig besonders „alte“ Ausländer als volljährig und besonders junge Ausländer als minderjährig eingestuft werden. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch die nichtinvasiven Methoden im Rahmen der medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII von entsprechenden Fachärzten durchgeführt werden. Dies ermöglicht jedenfalls eine Plausibilitätsprüfung und, falls erforderlich, eine Korrektur der qualifizierten Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter des Jugendamts nach § 42f Abs. 1 SGB VIII. Die nichtinvasiven Methoden weisen aber die wesentliche Schwäche auf, dass sie dennoch sehr ungenau sind. Für die körperliche Begutachtung der jeweiligen Person wird beispielsweise lediglich das äußere Erscheinungsbild herangezogen. Dieses kann im hier besonders relevanten Altersbereich von 15 bis 20 Jahren stark variieren. Dadurch besteht eine erhebliche Gefahr, dass minderjährige Ausländer als volljährig eingestuft werden und dagegen volljährige Ausländer als minderjährig vom Jugendamt in Obhut genommen werden. Dieses Risiko kann zwar gegebenenfalls durch eine Kombination der körperlichen Begutachtung mit einer psychosozialen Analyse verringert werden. Psychologische Begutachtungen sind wiederum sehr täuschungsanfällig. Geschickten volljährigen Ausländern könnte es gelingen, einen für Minderjährige typischen Reifezustand vorzutäuschen. Nicht immer werden Psychologen die erforderliche Sicherheit haben, solche Täuschungen zweifelsfrei zu durchschauen. Insgesamt sind nichtinvasive Methoden sehr subjektiv, da hier einheitliche, objektive Kriterien – wie beispielsweise die verschiedenen Wachstumsphasen bei den Referenzstudien im Rahmen der Röntgendiagnostik – fehlen. Somit könnte es angebracht sein, die Anwendung nichtinvasiver Methoden durch radiologische Untersuchungen zu ergänzen. Denn die Ausführungen zu den verschiedenen radiologischen Knochenwachstumsauswertungen haben gezeigt, dass diese im Vergleich zu einer rein äußerlichen Begutachtung objektiver und zuverlässiger sind. Der Abgleich von Röntgenaufnahmen verschiedener Ossifikationsstadien mit Referenzstudien lässt zwar auch einen Wertungsspielraum offen, allerdings ist dieser geringer und nachprüfbarer als bei der körperlichen Begutachtung. Eine höhere Objektivität könnte hier noch dadurch erreicht werden, dass jeweils zwei Radiologen bzw. Zahnärzte die gleiche Auswertung unabhängig voneinander vornehmen. Nur wenn beide Mediziner zum Ergebnis kommen, dass der Betroffene volljährig ist, wird diesem dann Volljährigkeit attestiert. So wird die medizinische Altersfeststellung beispielsweise in Schweden praktiziert.380 Wendet man gleichzeitig das Mindestalterskonzept an, kann grundsätzlich sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass ein minderjähriger 379

Vgl. VG Göttingen, Beschl. v. 17. 07. 2014 – 2 B 195/14, juris-Rn. 7, 37; sowie auch Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42f SGB VIII Rn. 9. 380 Mostad/Tamsen, International Journal of Legal Medicine 2019, 613, 614.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Ausländer als volljährig eingestuft wird. Dadurch werden verbleibende Zweifelsfälle nach Erstellung des Altersgutachtens verringert.381 Dennoch steht die Zuverlässigkeit der Röntgenuntersuchungen immer wieder in der Kritik.382 Auch das Mindestalterskonzept, kann – wie bereits ausgeführt wurde – keine absolute Gewissheit schaffen. Zweifel an der Zuverlässigkeit von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung wurden in jüngster Zeit383 auch aufgrund einer Studie aus Schweden geäußert, nach der eine Wahrscheinlichkeit von 33 % bestünde, dass Minderjährige als volljährig eingestuft werden.384 Forscher haben dabei die Altersfeststellung in Schweden, wie sie auf Basis der Schwedischen Nationalbehörde für Forensische Medizin (Rättsmedicinalverket bzw. RMV) durchgeführt wird, auf Basis eines allgemeinen stochastischen Modells (general stochastic model) überprüft. Nach dem Verfahren der RMV ist für eine Altersfeststellung eine Kombination aus einer Röntgenuntersuchung der Zahnmineralisation und einer MRT-Untersuchung des Oberschenkelknochens durchzuführen. Bei genauer Betrachtung sind die Ergebnisse der Studie für die Zuverlässigkeit von Altersfeststellungen in Deutschland allerdings wenig repräsentativ. Denn die von den Wissenschaftlern vermutete Fehlerquote geht im Wesentlichen auf zwei problematische Faktoren zurück. Zum einen wird in Schweden von einem Alter von 18 Jahren oder älter ausgegangen, sobald nur eine der beiden angewandten Methoden die Volljährigkeit des Betroffenen ergeben hat. Zum anderen wurde im Rahmen der Studie berücksichtigt, dass in 137 Fällen, in denen die RMV dem Ausländer Volljährigkeit attestiert hatte, Zweitgutachten von deutschen Medizinern eingeholt wurden. In 55 % der Fälle kamen die deutschen Mediziner zum gegenteiligen Ergebnis, dass tatsächlich Minderjährigkeit vorliege. Die Autoren der Studie relativieren diesen Faktor selbst, indem sie angeben, dass diese Zweitgutachten privat veranlasst waren und somit nicht zufällig ausgewählt wurden.385 Aus der Studie kann allerdings die Erkenntnis gezogen werden, dass Voraussetzung einer annähernd zuverlässigen Altersfeststellung mittels Röntgendiagnostik ist, dass eine echte Kombination der verschiedenen Methoden erfolgt, d. h. eine Gesamtauswertung der Ergebnisse aller einzelnen Knochenwachstumsauswertungen erfolgt. Es widerspricht schon dem Grundsatz in dubio pro minore, wenn bereits auf Basis des 381 Befurt/Kirchhoff/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 241, 242; Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 49. 382 Winkelmann/Wunderle, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 49 AufenthG Rn. 20; Möller, in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2017, § 42f SGB VIII Rn. 13. 383 Vgl. De Vigo/Wiesinger, Alterseinschätzung, Rechtlicher Rahmen, Fachliche Standards und Hinweise für die Praxis, 2019, S. 23; OVG Bremen, Urt. v. 21. 05. 2019 – 1 B 86/19, ZAR 2019, 350: im Urteil wurden auf Basis der Studie vom Antragsteller geäußerte Zweifel an der Zuverlässigkeit von radiologischen Untersuchungen vom Gericht verworfen, da die Methoden aus dem streitgegenständlichen Altersgutachten nicht mit denen aus der Studie übereinstimmten. 384 Mostad/Tamsen, International Journal of Legal Medicine 2019, 613, 622. 385 Mostad/Tamsen, International Journal of Legal Medicine 2019, 613, 614 f.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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Ergebnisses einer einzelnen Methode Volljährigkeit angenommen wird und die übrigen Auswertungen dann unberücksichtigt bleiben. Die Studie ist damit überwiegend als Kritik am System der Altersfeststellungen in Schweden zu verstehen. Die Autoren geben selbst an, dass sie trotz der Zweifel an den in Schweden angewandten Methoden grundsätzlich glauben, dass medizinische Altersfeststellungen richtig angewandt sinnvoll sein können.386 Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Röntgendiagnostik einen nützlichen Beitrag zur Altersschätzung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern leisten kann. Insbesondere kann über das Mindestalterskonzept gewährleistet werden, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Minderjährigen von der Inobhutnahme ausgeschlossen werden und zumindest ein Teil der Volljährigen als solche erkannt werden kann. Röntgendiagnostik kann insbesondere dazu dienen, die Untersuchungsbefunde einer körperlichen Begutachtung in Kombination mit einer psychosozialen Analyse kritisch zu überprüfen. Das bedeutet auch mit Blick auf § 42f Abs. 2 SGB VIII, dass ein Mindestalterskonzept bei Anwendung invasiver Methoden verpflichtend sein sollte. Allerdings darf dies nicht dazu führen, dass nichtinvasive Methoden – das betrifft auch die qualifizierte Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt – grundsätzlich übersprungen werden und per se Röntgenuntersuchungen durchgeführt werden. Denn es muss stets berücksichtigt werden, dass radiologische Untersuchungen auch im Niedrigdosisbereich zumindest potenziell Gesundheitsschädigungen als Langzeitfolge hervorrufen können. VI. Zulässigkeit von Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung Die Zulässigkeit von Röntgendiagnostik zur Schätzung des Alters für verwaltungs- bzw. sozialrechtliche Zwecke ist nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern auch aus formalrechtlicher Sicht umstritten. Denn im deutschen Recht ist die Anwendung von Röntgendiagnostik bei Menschen gesetzlich beschränkt und darf nicht ohne Weiteres angewendet werden. Der gesetzlich geregelte Strahlenschutz geht auf die Richtlinie 2013/59/EURATOM zurück, zu deren Umsetzung die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Mitgliedschaft in der europäischen Atomgemeinschaft EURATOM verpflichtet ist. 1. Beschränkung gemäß § 83 Abs. 1 StrlSchG Die Umsetzung der Richtlinie findet sich im Strahlenschutzgesetz (StrlSchG) und in der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV). Beide Regelungsmaterien haben im Jahr 2019 die bis dahin geltende Röntgenverordnung (RöV) abgelöst. Nach dem Wortlaut des § 83 Abs. 1 StrlSchG dürfen ionisierende Strahlung und radioaktive Stoffe am Menschen nur (i) im Rahmen einer medizinischen Exposition oder (ii) im Rahmen der Exposition der Bevölkerung zur Untersuchung einer Person 386

Mostad/Tamsen, International Journal of Legal Medicine 2019, 613, 622.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

in durch Gesetz vorgesehenen oder zugelassenen Fällen oder nach Vorschriften des allgemeinen Arbeitsschutzes oder nach Einwanderungsbestimmungen anderer Staaten (nichtmedizinische Anwendung) angewandt werden. Der Begriff „Exposition der Bevölkerung“ wird in § 2 Abs. 6 StrlSchG als Exposition von Personen mit Ausnahme beruflicher oder medizinischer Exposition legaldefiniert. Was eine medizinische Exposition ist, ergibt sich unionsrechtlich aus den Begriffsbestimmungen der RL 2013/59/EURATOM. Danach handelt es sich um die Exposition von Patienten oder asymptomatischen Personen als Teil ihrer eigenen medizinischen oder zahnmedizinischen Untersuchung oder Behandlung, die ihrer Gesundheit zugutekommen soll, sowie um die Exposition von Betreuungs- und Begleitpersonen wie auch Probanden im Rahmen der medizinischen oder biomedizinischen Forschung. Bei der Altersuntersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII geht es zweifelsfrei weder um die Verbesserung der Gesundheit der Betroffenen noch unmittelbar um medizinische Forschung, sodass die Alternative „medizinische Exposition“ nicht gegeben ist. In Betracht käme aber eine Zulässigkeit der Anwendung ionisierender Strahlung in durch Gesetz vorgesehenen oder zugelassenen Fällen. Dazu müsste § 42f SGB VIII ein Gesetz darstellen, das die Anwendung ionisierender Strahlung am Menschen zulässt oder zumindest vorsieht. In der Literatur wird dies teilweise ohne nähere Begründung bejaht.387 Auch das Oberverwaltungsgericht Bremen388 geht in einem Urteil davon aus, dass § 42f SGB VIII einen solchen gesetzlich vorgesehenen oder zugelassenen Fall darstellt. Radiologische Untersuchungen seien bereits dann „durch Gesetz zugelassen“, wenn das Gesetz die körperliche Untersuchung durch einen Arzt gestatte, da die Röntgenuntersuchung zu den anerkannten ärztlichen Untersuchungsmethoden gehöre. Eine ausdrückliche Erwähnung sei nicht erforderlich. Diese Argumentation überzeugt schon deshalb nicht, weil Röntgenuntersuchungen nicht pauschal mit jeder anderen ärztlichen Untersuchung gleichgesetzt werden können. Bereits der Charakter des Strahlenschutzgesetzes und der spezielle Gesetzesvorbehalt in § 83 StrlSchG sowie zuletzt die besonderen unionsrechtlichen Regulierungen im Strahlenschutzrecht sprechen dagegen.389 Insbesondere würde der Sinn und Zweck von § 83 StrlSchG, radiologische Untersuchungen am Menschen nur in besonderen Fällen zuzulassen, ausgehöhlt werden, wenn die allgemeine Zulassung ärztlicher Untersuchungen ausreichend wäre.

387

Vgl. Befurt/Kirchhoff/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 241, 244. OVG Bremen, Urt. v. 10. 05. 2019 – 1 B 56/19, BeckRS 2019, 25663 Rn. 12; so auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 47. 389 So auch AG Schöneberg, Beschl. v. 23. 05. 2014 – 85 F 106/14, FamRZ 2015, 1071, 1072. 388

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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a) Historische Auslegung Zunächst stellt sich insofern die Frage, welche Anforderungen an den Wortlaut „gesetzlich vorgesehen oder zugelassen“ zu stellen sind. Dazu ist zu klären, inwiefern der Gesetzgeber in § 83 StrlSchG zwischen gesetzlich „zugelassen“ und „vorgesehen“ differenziert. Es ist fernliegend, dass die Aufnahme beider Begriffe ein gesetzgeberisches Versehen war. Die Gesetzesbegründung zu § 83 StrlSchG trifft allerdings keine Aussage, wann ein gesetzlich zugelassener oder vorgesehener Fall anzunehmen ist.390 Das Oberverwaltungsgericht Hamburg hat in diesem Zusammenhang im Jahr 2011 in einem Beschluss zu § 25 RöV entschieden, dass die Differenzierung zwischen gesetzlich „vorgesehen“ und „zugelassen“ darin liegen müsse, dass letztere Alternative keine ausdrückliche Nennung im Gesetz verlange.391 Ansonsten käme dieser Alternative keine eigenständige Bedeutung zu. Begründet wurde dies mit dem historischen Kontext der Röntgenverordnung. Die Anwendung von radiologischen Untersuchungen am Menschen sei bis zum Jahr 1973 gesetzlich nicht geregelt gewesen – auch nicht in der Röntgenverordnung. Vielmehr habe man vorher die Zulässigkeit der Anwendung von Röntgendiagnostik am Menschen ungeschrieben vorausgesetzt. Wenn der Verordnungsgeber die Zulässigkeit der Anwendung nun auf gesetzlich ausdrücklich vorgesehen Röntgenuntersuchungen beschränkt hätte, hätte er seine Rechtsetzungskompetenz überschritten. Röntgenuntersuchungen im Bereich der Strafprozessordnungen wären dann beispielsweise unzulässig geworden.392 Diese historische Argumentation ist schlüssig und lässt eine sinnvolle und praktikable Differenzierung zwischen „gesetzlich vorgesehen“ und „gesetzlich zugelassen“ vor. Bei konsequenter Anwendung führt sie allerdings genau genommen zur Unzulässigkeit der Anwendung von Röntgendiagnostik im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII. Denn dann wäre bei nach dem Jahr 1973 in Kraft getretenen Gesetzen – beispielsweise bei § 42f SGB VIII – eine ausdrückliche Zulassung der Anwendung von Röntgendiagnostikverfahren im Gesetz erforderlich. Würde dagegen bei nach dem Jahr 1973 in Kraft getretenen Gesetzen ein Zulassen im Sinne einer nicht ausdrücklich genannten Kodifizierung ausreichen, wäre umgekehrt die Alternative „gesetzlich vorgesehen“ überflüssig. Gesetzlich vorgesehen Anwendungen sind denklogisch immer vom Gesetzgeber zugelassen. Der Gesetzgeber hätte sich ohne Weiteres auf eine Zulässigkeit von Röntgendiagnostik in „gesetzlich zugelassenen“ Fällen beschränken können. Der Gesetzgeber wollte augenscheinlich nach der in dieser Hinsicht überzeugenden Argumentation des Oberverwaltungsgerichts Hamburg mit der Regelung im Jahr 1973 für die Zukunft gerade das Erfordernis einer ausdrücklichen gesetzlichen Zulassung kodifizieren. 390

BT-Drs. 18/11241 v. 20. 02. 2017, S. 333. OVG Hamburg, Beschl. v. 09. 02. 2011 – 4 Bs 9/11, juris-Rn. 79, JAmt 2011, 472; die damalige Gesetzesbegründung schweigt zu dieser Differenzierung, vgl BR-Drs. 230/02 v. 13. 03. 2002, S. 93. 392 OVG Hamburg, Beschl. v. 09. 02. 2011 – 4 Bs 9/11, juris-Rn. 80, JAmt 2011, 572. 391

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

b) Teleologische Auslegung Selbst ohne nähere Differenzierung hinsichtlich des Wortlauts „gesetzlich vorgesehen oder zugelassen“ in § 83 Abs. 1 StrlSchG muss nach Sinn und Zweck des Strahlenschutzgesetzes eine restriktive Auslegung erfolgen.393 Es müssten nach hier vertretener Auffassung zumindest objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Gesetzgeber im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII radiologische Untersuchungen zulassen wollte. Für eine solche restriktive Auslegung – insbesondere im Zusammenhang mit § 42f SGB VIII – spricht, dass § 83 Abs. 1 StrlSchG auf der RL 2013/59/EURATOM basiert. Diese wiederum sieht in Art. 22 Abs. 1 vor, dass die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union für die Ermittlung von Tätigkeiten, die mit einer Exposition zwecks nicht-medizinischer Bildgebung verbunden sind, sorgen und dabei insbesondere den in Anhang V aufgeführten Tätigkeiten Rechnung tragen müssen. Anlage 5 Nr. 5 der Richtlinie sieht dabei die radiologische Altersbestimmung als eine solche Tätigkeit vor. In Art. 22 Abs. 2 der Strahlenschutzrichtlinie heißt es weiter, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass der Rechtfertigung von Tätigkeiten, die mit einer Exposition zwecks nicht-medizinischer Bildgebung verbunden sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dem wird in § 83 Abs. 2 und Abs. 3 S. 3 StrlSchG Rechnung getragen. Danach sind bei nichtmedizinischen Expositionen eine Abwägung sowie die anschließende Feststellung erforderlich, dass der mit der jeweiligen Untersuchung verbundene Nutzen gegenüber dem Strahlenrisiko überwiegt. Trotz der Bedeutung, die sowohl der europäische wie auch der nationale Gesetzgeber dem Strahlenschutz bei der Anwendung auf Menschen im nichtmedizinischen Bereich beigemessen hat, findet sich in den Gesetzgebungsmaterialen kein Hinweis auf den Strahlenschutz. Hätte der Gesetzgeber die Anwendung von Röntgenstrahlung im Zusammenhang mit der ärztlichen Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII tatsächlich – im weiten Sinne – vorgesehen, wäre hierzu zumindest eine grundlegende Abwägung zu erwarten und auch erforderlich gewesen. Mit Blick auf § 42f SGB VIII ist in diesem Zusammenhang besonders problematisch, dass die Norm keinen Hinweis auf die Anwendung ionisierender Strahlung enthält. Wenigstens in der Gesetzesbegründung wäre angesichts der Bedeutung des Themas eine eindeutige Aussage des Gesetzgebers zu erwarten gewesen. Dort findet sich aber lediglich der pauschale Hinweis, dass die Untersuchung mit den schonendsten und zuverlässigsten Methoden durchzuführen ist.394 Dabei wurde die Zulässigkeit von Röntgendiagnostik bereits vor Einführung des § 42f SGB VIII im Jahr 2015 in der Rechtsprechung thematisiert. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof395 393

1072. 394

So auch AG Schöneberg, Beschl. v. 23. 05. 2014 – 85 F 106/14, FamRZ 2015, 1071,

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. BayVGH, Beschl. v. 23. 09. 2014 – 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865, NVwZ-RR 2014, 959, 961 Rn. 21; so auch OLG München, Beschl. v. 15. 03. 2012 – 26 UF 308/12, FamRZ 2012, 1958, 1959; LG Berlin, Beschl. v. 16. 06. 2009 – 83 T 480/08, JAmt 2009, 457, 458. 395

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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hatte noch im September 2014 zur medizinischen Altersfeststellung durch das Jugendamt entschieden, dass außerhalb von Strafverfahren zu beachten sei, dass keine juristische Legitimation für die Durchführung von Röntgenuntersuchungen vorliege und insofern nur ein eingeschränktes Methodenspektrum zur Verfügung stehe. Die grundsätzliche Zulässigkeit ärztlicher Untersuchungen zur Altersfeststellung wurde damals auf § 62 SGB I gestützt (vgl. S. 52). Der Gesetzgeber hätte diese Rechtsprechung zum Anlass nehmen können, mit der Einführung von § 42f SGB VIII Klarheit zu schaffen. Stattdessen ist § 42f SGB VIII hinsichtlich der Art und des Umfangs der ärztlichen Untersuchung in keiner Weise konkreter als § 62 SGB I geworden, obwohl es sich um eine neue, spezialgesetzliche Rechtsgrundlage handelt. Bei einer weniger restriktiven Betrachtungsweise könnte man zumindest den Passus „mit den zuverlässigsten und schonendsten Methoden“ in der Gesetzesbegründung dahingehend auslegen, dass Röntgenuntersuchungen als die derzeit zuverlässigsten Methoden zur Altersschätzung vom Gesetzgeber vorhergesehen waren. Dafür spräche ferner, dass Röntgenuntersuchungen im Rahmen von § 42f SGB VIII auch nach dem Inkrafttreten der Vorschrift im Bundestag diskutiert worden sind, ohne dass sich der Gesetzgeber ausdrücklich davon distanziert hat.396 Teilweise wird argumentiert, dass jedenfalls im Rahmen der Altersschätzung nach § 49 AufenthG Röntgendiagnostik nach der Gesetzesbegründung zu § 49 Abs. 6 AufenthG vorgesehen ist. Daraus ließe sich ableiten, dass der Gesetzgeber auch im Rahmen von § 42f SGB VIII Röntgenuntersuchungen zulassen wollte.397 In der Gesetzesbegründung heißt es, dass mit der Aufnahme „körperlicher Eingriffe“ in § 49 Abs. 6 S. 1 AufenthG eine Rechtsgrundlage für invasive Eingriffe eingeführt wurde, auf die auch Röntgenuntersuchungen gestützt werden könnten.398 Zitiert wird auch die Gesetzesbegründung zum Zuwanderungsgesetz aus dem Jahr 2002, wonach durch die ausdrückliche Nennung der Anwendung von Röntgenstrahlen die erforderliche gesetzliche Ausnahme von den Anwendungsbeschränkungen des § 24 RöV geschaffen werden sollte.399 Bei genauer Betrachtung sprechen diese Beispiele aber gerade gegen einen ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen, Röntgenuntersuchungen im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII zuzulassen. Denn in beiden Fällen wurde die Zulässigkeit von Röntgenuntersuchungen ausdrücklich in der Gesetzesbegründung aufgenommen. Die Gesetzesbegründung zu § 42f Abs. 2 SGB VIII enthält – wie bereits mehrfach erwähnt – gerade keinen Hinweis hierauf. Selbst wenn man die Ansicht vertritt, dass eine ausdrückliche Zulassung im Gesetz nicht erforderlich ist, so fehlt es dennoch an konkreten Anhaltspunkten, welche den Gesetzesvorbehalt aus § 83 Abs. 1 StrlSchG erfüllen könnten. 396 397 398 399

Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand, WD 3 – 3000 – 008/18, S. 1. Rudolf, Rechtsmedizin 2016, 526, 532. BT-Drs. 16/5065 v. 23. 04. 2007, S. 179. BT-Drs. 14/8414 v. 28. 02. 2002, S. 22; vgl. auch Rudolf, Rechtsmedizin 2016, 526, 532.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung von Strahlenschutz – insbesondere im Bereich von Minderjährigen – kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Exposition von jungen Ausländern mit ionisierender Strahlung in § 42f SGB VIII nach § 83 Abs. 1 Nr. 2 StrlSchG gesetzlich vorgesehen oder zugelassen ist. Es fehlt hierzu an einem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen. Mit der Einschränkung auf die „zuverlässigsten und schonendsten Methoden“ in der Gesetzesbegründung hat sich der Gesetzgeber seiner Verantwortung entzogen, klar zu definieren, ob ionisierende Strahlung zur Altersbestimmung zulässig sein soll oder nicht. Folgt man dem konsequenteren historischen Verständnis des Oberverwaltungsgerichts Hamburg von § 83 Abs. 1 StrlSchG, wären radiologische Untersuchungen im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII bereits unzulässig, weil sie nicht gesetzlich ausdrücklich zugelassen worden sind. Auf eine verfassungsrechtliche Zulässigkeit käme es dann gar nicht mehr an, da Röntgendiagnostikverfahren zur medizinisch nicht indizierten Altersfeststellung nach § 42 SGB VIII bereits einfachgesetzlich gem. § 83 Abs. 1 StrlSchG nicht – jedenfalls nicht ohne Weiteres – zulässig wären. 2. Zulässigkeit aufgrund der Einwilligung des Betroffenen Eine Zulässigkeit der radiologischen Untersuchungen könnte sich aber trotz § 83 Abs. 1 StrlSchG aus der Einwilligung des betroffenen Ausländers ergeben. Bereits zu §§ 23, 25 RöV wurde häufig diskutiert, ob die im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII erteilte Einwilligung des Betroffenen zu der Zulässigkeit von radiologischen Untersuchungen führen könnte. Dieser Streit lässt sich entsprechend auf § 83 StrlSchG übertragen. Es ist davon auszugehen, dass die Rechtsprechung ihre Ansicht zu den §§ 23, 25 RöV auch im Bereich des StrlSchG weiterführen wird. Die damals herrschende Meinung400 hat zu §§ 23, 25 RöV vertreten, dass es sich dabei um dispositives Recht handele, das wirksam durch eine Einwilligung der betreffenden Person abbedungen werden könne. Nach einem Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm sollte §§ 23, 25 RöV lediglich individualschützender Charakter zukommen, da allein der Betroffene vor der Röntgenstrahlung geschützt werden sollte. Da das Recht auf körperliche Unversehrtheit disponibel sei, sollte der Betroffene nach Auffassung des Gerichts wirksam in die Bestrahlung einwilligen können.401 Die nach § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII erteilte Einwilligung würde demnach ausreichen, um eine rechtlich zulässige und verwertbare Röntgenuntersuchung zur Altersbestimmung entgegen §§ 23, 25 RöV durchzuführen. Teils wurde dies darauf gestützt, dass der Betroffene unter Berücksichtigung der Aufklärungspflichten aus § 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII wisse, was er tue und auf dieser Grundlage 400

OLG Hamm, Beschl. v. 30. 01. 2015 – 6 UF 155/13, FamRZ 2015, 1635, 1636; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 28.4. 401 OLG Hamm, Beschl. v. 30. 01. 2015 – 6 UF 155/13, FamRZ 2015, 1635, 1636.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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eine eigene Güterabwägung anstellen könne. Diese Ansicht ist grundsätzlich auch schlüssig. Möchte sich jemand nach entsprechender Aufklärung über die Gesundheitsrisiken freiwillig einer Strahlenexposition unterziehen, ohne dabei andere zu gefährden, ist dies nicht bedenklich. a) Wirksamkeit der Einwilligung Dies setzt aber eine wirksame Einwilligung voraus. Zu berücksichtigen ist im Rahmen der Röntgendiagnostik gem. § 42f Abs. 2 SGB VIII, dass es sich bei den Betroffenen zu einem Großteil um unbegleitete, minderjährige Asylbewerber handelt, die häufig traumatisiert sind. Auch aufgrund unterschiedlicher Bildungsstandards, der fremden Sprache und allgemein soziokulturellen Unterschieden wird es den Betroffenen – auch nach erfolgter Aufklärung – zumeist schwerfallen, die Bedeutung der Einwilligung in eine Röntgenuntersuchung zu begreifen.402 Die wenigsten von ihnen werden eine Vorstellung von Röntgenstrahlung und der potenziellen Gefahr einer Gesundheitsschädigung gewinnen können. Gleichzeitig werden sie über ihre Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60, 62, 65 bis 67 SGB I, insbesondere die Rechtsfolge von § 62 SGB I belehrt. Willigt der Ausländer in die Röntgenuntersuchung nicht ein, wird sich dies mit Blick auf die Altersfeststellung regelmäßig nachteilig auswirken. Zumindest wird der Betroffene regelmäßig davon ausgehen, dass ihn eine Verweigerung der Untersuchung als unglaubhaft erscheinen lassen wird.403 Dabei ist gleichzeitig nachvollziehbar, dass ein Jugendamt mit kritischer Grundhaltung gegenüber der behaupteten Minderjährigkeit eines Ausländers Druck bei der Aufklärung über die Folgen einer Verweigerung aufbauen möchte. Der Betroffene wird sonst regelmäßig wenig Veranlassung sehen, einer ärztlichen Untersuchung zuzustimmen, wenn er sich nicht mit möglichen Nachteilen im Falle einer Verweigerung konfrontiert sieht. Gleichzeitig ist das Jugendamt gehalten, in Zweifelsfällen den Ausländer als minderjährig einzustufen. Dennoch ist fraglich, ob in einer solchen Situation eine freiwillige Einwilligung im Sinne eines „informed consent“ vorliegen kann, die Einwilligung also tatsächlich auf Konsens und Achtung der Entschließungsfreiheit gründet und nicht etwa auf Macht oder Zwang.404 Die Freiwilligkeit ist notwendiges Tatbestandsmerkmal einer wirksamen Einwilligung. Dies zeigt schon ein kurzer Blick ins Strafrecht: Auch hier ist die Freiwilligkeit einer Einwilligung zwingende Voraussetzung, da sonst Sinn und Zweck

402

Aynsley-Green, British Dental Journal 2009, 337, 337. Vgl. LG Berlin, Beschl. v. 02. 02. 2010 – 83 T 517/09. 404 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl. 2021, S. 118 Rn. 5; vgl. hierzu auch Crawley, When is a child not a child? Asylum, age disputes and the process of age assessment, S. 35. 403

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

der Einwilligung verfehlt werden würde.405 Würde man auf das Merkmal der Freiwilligkeit als Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung im Rahmen der Röntgenverordnung bzw. des Strahlenschutzgesetzes verzichten, käme man sogar zum paradoxen Ergebnis, dass die radiologische Untersuchung zur Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII zwar zulässig wäre, der untersuchende Arzt sich allerdings gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB wegen gefährlicher Körperverletzung und gemäß § 311 Abs.1 Nr. 1 StGB wegen Freisetzens ionisierender Strahlen strafbar machen könnte.406 Auch im Verfassungs- und Verwaltungsrecht ist allgemein anerkannt, dass eine wirksame Einwilligung und ein Grundrechtsverzicht freiwillig erfolgen müssen.407 b) Freiwilligkeit der Mitwirkung an der medizinischen Altersfeststellung Die Zulässigkeit der Röntgenuntersuchung nach §§ 23, 25 RöV bzw. § 83 StrlSchG steht und fällt damit mit der Freiwilligkeit der Einwilligung. Auch im zuvor angeführten Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm408 wurde die Röntgenuntersuchung entgegen §§ 23, 25 RöV nur für zulässig erklärt, da der Betroffene vor Durchführung der Untersuchung ohne jegliche Bedenken eingewilligt hatte, um dann im Nachhinein, vermutlich wegen eines für ihn nachteiligen Ergebnisses, die Unzulässigkeit der Maßnahme wegen §§ 23, 25 RöV zu rügen. Hier war folglich auch der Gedanke des Rechtsmissbrauchs für die Entscheidung des Gerichts tragend. Wird dem um Inobhutnahme bittenden Ausländer aber in Aussicht gestellt, dass bei Nichterteilung seiner Einwilligung zur ärztlichen Untersuchung wahrscheinlich seine Volljährigkeit festgestellt wird, kann nicht mehr zweifelsfrei von der Freiwilligkeit der Erklärung ausgegangen werden. Auf die Frage der Disponibilität der §§ 23, 25 RöV bzw. von § 83 Abs. 1 StrlSchG käme es dann gar nicht mehr an, da es schon an einer wirksamen Einwilligung fehlen würde. Diese Ansicht wird auch teilweise in der zivilrechtlichen Rechtsprechung vertreten. So sah das Oberlandesgericht München409 eine Röntgenuntersuchung, die lediglich auf Basis der Einwilligung des Betroffenen ohne darüber hinausgehende juristische Legitimation durchgeführt würde, als „sehr problematisch“ an und erwähnte, dass zur Altersbestimmung in diesem Falle lediglich ein eingeschränktes

405 Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017, § 228 StGB Rn. 17a. 406 BGH, Urt. v. 03. 12. 1997 – 2 StR 397/97, NJW 1998, 833, 835 f.; nach Ansicht des BGH ist Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung jedenfalls gegeben, wenn die Gefahr des Eintritts von Langzeitschäden nicht nur unwesentlich erhöht wird. 407 BVerwG, Urt. v. 22. 10. 2003 – 6 C 23/02, NJW 2004, 1191, 1192; BVerfG, Beschl. v. 18. 08. 1981 – 2 BvR 166/81, NJW 1982, 375. 408 OLG Hamm, Beschl. v. 30. 01. 2015 – 6 UF 155/13, FamRZ 2015, 1635, 1636. 409 OLG München, Beschl. v. 12. 03. 2012 – 26 UF 308/12, juris-Rn. 9.

§ 2 Das Verfahren der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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Methodenspektrum zur Verfügung stünde. Eine ausdrückliche Entscheidung, ob §§ 23, 25 RöV disponibel sind, blieb allerdings aus. Die 83. Zivilkammer des Landgerichts Berlin410 ging noch einen Schritt weiter und lehnte die Disponibilität von §§ 23, 25 RöV grundsätzlich ab. Die Durchführung einer Röntgenuntersuchung sei allein auf Basis einer Einwilligung des Betroffenen nicht zulässig. Dadurch solle dem gesetzgeberischen Zweck Rechnung getragen werden, den Betroffenen davor zu schützen, aus gesetzlich nicht vorgesehenen Motiven (wie z. B. dem „gefühltem Zwang, bei Verweigerung der Zustimmung als unglaubhaft gesehen zu werden“) zu einem „unnötig gesundheitsgefährdenden Einverständnis“ bewegt zu werden. Problematisch an dieser Extremposition ist wiederum, dass eine Röntgenuntersuchung dann selbst bei tatsächlich freiwillig erfolgter Einwilligung nicht zulässig wäre. Geht man beispielsweise von einem tatsächlich minderjährigen Ausländer aus, der ganz bewusst alle Möglichkeiten ausschöpfen möchte, seine Minderjährigkeit einem skeptischen Jugendamt gegenüber glaubhaft zu machen, könnte dieser trotzdem keine Röntgenuntersuchung durchführen lassen. Die fehlende Disponibilität der §§ 23, 25 RöV bzw. des § 83 Abs. 1 StrlSchG würde sich dann zulasten des Minderjährigen auswirken. Denn abgesehen von den gesundheitlichen Bedenken gehört die Röntgendiagnostik – trotz der vorhandenen Fehlerspannen – zu den zuverlässigsten Methoden zur Altersschätzung (vgl. S. 104 f.). Die Intention des Gerichts war aber augenscheinlich nur, die Zulässigkeit einer unfreiwilligen Einwilligung auszuschließen. Die Problematik des „gefühlten Zwangs“ könnte jedenfalls durch eine sorgfältige Aufklärung darüber abgemildert werden, dass die Verweigerung nicht zur Annahme der Volljährigkeit führen wird und auch nicht die Glaubwürdigkeit des Betroffenen mindert. Zum Teil wird der Ansicht des Landgerichts Berlin in der Literatur411 entgegengehalten, dass auch für die Beantragung anderer Sozialleistungen, wie bei der Sozialhilfe, der Invaliditätsrente oder beim Pflegegeld, die Anspruchsberechtigung durch den Antragsteller nachzuweisen sei. Es sei mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar, dass jemand eine Sozialleistung erzwingen könne, ohne den Nachweis der Anspruchsberechtigung zu erbringen. Die Freiwilligkeit der Einwilligung könne daher kein ausschlaggebendes Argument sein. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass die Altersschätzung mittels Röntgendiagnostik nicht die einzige Methode zur Altersschätzung darstellt, sondern auch nichtinvasive Methoden eine Schätzung zulassen. Weiterhin sind die beispielhaft aufgeführten Sozialleistungen ihrer Natur nach nicht mit der Inobhutnahme nach §§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 42a SGB VIII vergleichbar. Denn der Nachweise für die Leistungsberechtigung bezüglich des Empfangs von Sozialhilfe, Pflegegeld oder Invaliditätsrente setzen grundsätzlich keine potenziell gesundheitsschädigenden 410

LG Berlin, Beschl. v. 02. 02. 2010 – 83 T 517/09. Schmeling, Die aktuelle medizinethische Debatte über forensische Altersdiagnostik bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, S. 23. 411

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Behandlungen voraus, die lediglich verwaltungsrechtlichen Zwecken dienen. Die Anwendung von Röntgendiagnostik zum Nachweis von Erkrankungen zur Leistungsberechtigung steht gleichzeitig unweigerlich im Zusammenhang mit deren medizinisch indizierten Behandlung. Bei der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII dient die Röntgendiagnostik lediglich dem behördlichen Nachweis der Minderjährigkeit von jungen Ausländern, die aus Krisengebieten kommen. c) Doppelte Einwilligungslösung Bei dem Streit um die Bedeutung der Einwilligung nach § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII wird häufig vergessen, dass weder Gesetzeswortlaut noch Gesetzesbegründung auf Röntgenuntersuchungen Bezug nehmen. Die Ansicht, die davon ausgeht, dass §§ 23, 25 RöV bzw. § 83 StrlSchG disponibel sind, geht gleichzeitig davon aus, dass Röntgendiagnostik zur ärztlichen Altersschätzung gemäß § 42f Abs. 2 SGB VIII auch zwingend zum Einsatz kommen muss. Dabei wird übersehen, dass sich die Einwilligung nach § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII auch ausschließlich auf die nichtinvasiven Methoden beziehen könnte. Dafür spricht auch der Wortlaut der Gesetzesbegründung, wonach die medizinische Altersbestimmung mit den schonendsten Mitteln durchzuführen ist. Nach hier vertretener Auffassung wäre als Mittelweg zwischen der zwingenden Anwendung und dem absoluten Verbot von Röntgenstrahlung eine gesonderte Einwilligung des unbegleiteten Ausländers, die sich nach dem Prinzip einer doppelten Einwilligungslösung lediglich auf die Durchführung von Röntgenuntersuchungen beziehen würde, zweckmäßig. Dazu wäre allerdings eine Gesetzesänderung erforderlich. Diese könnte so ausgestaltet werden, dass der Betroffene zunächst in die medizinische Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII als solche einwilligen müsste und anschließend ein Wahlrecht hätte, ob auch Röntgenuntersuchungen durchgeführt werden sollen. Dabei wäre gesetzlich klarzustellen, dass die Nichteinwilligung in invasive Methoden bei der Altersschätzung nicht berücksichtigt werden darf. Verweigert der Antragssteller danach bereits eine nichtinvasive medizinische Untersuchung, wären Zweifel des Jugendamts an der Glaubwürdigkeit des Betroffenen durchaus berechtigt. Denn hier hat der Ausländer, der von seiner Minderjährigkeit überzeugt ist, keine Nachteile zu befürchten. Eine Weigerung wäre objektiv nicht nachvollziehbar und könnte dann zumindest als gewichtiges Indiz für seine Volljährigkeit herangezogen werden. Willigt der Ausländer dagegen grundsätzlich in die medizinische Altersfeststellung ein, verweigert er aber die Durchführung von invasiven Methoden, darf dies dann keinen Einfluss auf die Entscheidung über die Altersfestsetzung haben. Darüber müsste der Betroffene entsprechend aufgeklärt werden. Um das Risiko eines gefühlten Zwangs nahezu auszuschließen, wäre dies außerdem – wie bereits erwähnt – klarstellend in das Gesetz aufzunehmen. Wird dennoch die Einwilligung in die Anwendung von Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung erteilt, würde diese nicht

§ 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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an der Freiwilligkeit scheitern, da der Betroffene auch die Möglichkeit hätte, nur die nichtinvasiven Methoden durchzuführen, ohne Nachteile zu befürchten.

§ 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII Von großer Relevanz für die Betroffenen, aber auch für den Staat, sind die Rechtsfolgen, die sich aus der Durchführung eines behördlichen Verfahrens zur Altersbestimmung nach § 42f SGB VIII ergeben. Die Frage nach den Rechtsfolgen betrifft dabei sowohl Fälle, in denen der Betroffene als minderjährig eingestuft wurde, als auch Fälle, in denen von Volljährigkeit ausgegangen wurde und ist insbesondere für das Verständnis von der Interessenlage von asylsuchenden Ausländern in Deutschland wichtig.

A. Feststellung der Minderjährigkeit Ergibt die Altersfeststellung, dass es sich bei dem unbegleiteten Ausländer mit überwiegender Wahrscheinlichkeit um einen Minderjährigen handelt, kann das Verteilungsverfahren nach § 42b SGB VIII durchgeführt und der Minderjährige regulär nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen werden. Dieser Fall scheint damit zunächst als unproblematisch. Es stellen sich allerdings einige Folgefragen, die im Gesetz nicht eindeutig geregelt worden sind. I. Bindungswirkung für andere Behörden Aus §§ 42 ff. SGB VIII ergibt sich nicht, ob die Feststellungen der Altersuntersuchung auch für andere nationale Behörden von Bedeutung sein sollen. In Betracht kämen hier insbesondere die Asyl- und Ausländerbehörden, bei denen das Jugendamt spätestens im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 2 S. 5 SGB VIII einen Asylantrag für den unbegleiteten, minderjährigen Flüchtling stellen muss. Dies stellt insbesondere mit Blick auf den Aufenthaltsstatus und den Familiennachzug eine entscheidende Frage dar, da sowohl § 58 Abs. 1a AufenthG (Abschiebung von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern) als auch § 36 AufenthG (Familiennachzug von minderjährigen Ausländern) die Minderjährigkeit des Ausländers als Tatbestandsmerkmal voraussetzen. Auch die Ausländerbehörden, die gemäß § 71 Abs. 1 AufenthG für aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach dem AufenthG zuständig sind, müssen dieses Tatbestandsmerkmal grundsätzlich prüfen. Als Rechtsgrundlage für die Überprüfung der Minderjährigkeit wird § 49 AufenthG herangezogen. Hat der Ausländer allerdings bereits eine Altersfeststellung

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

nach § 42f SGB VIII durchlaufen, würde sich diese Prüfung für die Ausländerbehörden erübrigen, wenn sie an die Feststellung durch das Jugendamt gebunden wären. Umgekehrt stellt sich spiegelbildlich ebenso die Frage, ob das Jugendamt an eine Altersfeststellung der Ausländerbehörde gebunden sein könnte, wobei dieser Fall aufgrund der Primärzuständigkeit des Jugendamtes für Minderjährige412 in der Praxis seltener vorkommen dürfte. 1. Rechtsprechung und Literatur Allerdings finden sich weder im Achten Buch Sozialgesetzbuch noch im Aufenthaltsgesetz Regelungen zu dieser Fragegestellung. Die herrschende Rechtsprechung vertritt bislang die Ansicht, dass unter den verschiedenen Behörden keine Bindungswirkung bezüglich der Altersfeststellungen besteht.413 Als Begründung wird regelmäßig die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angeführt, nach der eine Bindungswirkung der Ausländerbehörden bezüglich der Altersfeststellung durch das Jugendamt ausgeschlossen sein soll. Dort heißt es wiederum, dass eine Bindungswirkung zu einer vorgreiflichen Prüfung führen könnte, die eine Verfahrensverzögerung bei den Ausländerbehörden zur Folge haben könnte.414 Inwieweit dies tatsächlich zu einer Verfahrensverzögerung führen könnte, wird allerdings nicht weiter begründet. Im Gegenteil würde sich durch die Bindung der Ausländerbehörde an die Feststellung des Jugendamtes eine weitere Altersfeststellung des betroffenen Ausländers erübrigen, sodass eine Bindungswirkung sogar zur Verfahrensbeschleunigung führen würde und damit verfahrensökonomisch wäre. Im Widerspruch hierzu steht außerdem die Begründung der Erforderlichkeit der Altersfeststellung in der gleichen Gesetzesbegründung. Die Altersfeststellung sei erforderlich, „um spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen zu vermeiden“.415 Spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen dürften sich aber gerade auch außerhalb der Inobhutnahme durch das Jugendamt stellen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Aufenthaltserlaubnis oder der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge soll sich beispielsweise nach einer eigenen internen Dienstanweisung an die Altersschätzung durch das Jugendamt halten.416 Damit läuft die Argumentation gegen eine Bindungswirkung aus den Gesetzgebungsmaterialien faktisch ins Leere.

412 Unter der Annahme, dass sich die Primärzuständigkeit auf alle Personen bezieht, die ihre Minderjährigkeit zumindest behaupten. 413 OVG Saarland, Beschl v. 23. 11. 2020 – 2 D 268/20, AuAS 2021, 20, 21; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 06. 12. 2018 – 7 A 10777/18.OVG, juris-Rn. 25; OVG Bremen, Beschl v. 02. 03. 2017 – 1 B 331/16, JAmt 2017, 262, 263; KG Berlin, Beschl. 13. 11. 2019 – 3 UF 107/19, FamRZ 2020, 842, 845; VG München, Beschl. v. 13. 11. 2019 – M 19 S 19.51178, juris-Rn. 34. 414 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 415 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 416 Achterfeld, JAmt 2019, 294, 298.

§ 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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Die herrschende Literaturmeinung lehnt – wie die Rechtsprechung – ebenfalls eine Bindungswirkung grundsätzlich ab, wobei teilweise darauf hingewiesen wird, dass es den Behörden unbenommen bleibt, auf ein bereits von anderer Stelle eingeholtes Altersgutachten zurückzugreifen.417 Vereinzelt wird auch das Problem erkannt, dass es aufgrund der fehlenden Bindungswirkung bei der gleichen Person zu unterschiedlichen Altersfeststellungen kommen kann.418 Lösungsansätze werden dort allerdings nicht diskutiert. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass eine Berücksichtigung der in den jeweiligen Verfahren erlangten Erkenntnisse geboten sein kann. Als weiteres in der Literatur bislang nicht diskutiertes Argument für die Position des Gesetzgebers könnte man anführen, dass durch die fehlende Bindungswirkung zumindest bei der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII Missbrauchsanreize reduziert werden. Volljährige Ausländer profitieren durch eine Täuschung des Jugendamts nur von den unmittelbaren Folgen der Inobhutnahme, wie beispielsweise einer besseren Unterbringung im Vergleich zu den Gemeinschaftsunterkünften. Wenn sie einen Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung oder auf Familiennachzug geltend machen wollen, ist eine separate Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde erforderlich. Dem kann aber entgegengehalten werden, dass ein Ausländer diese Differenzierung regelmäßig nicht kennen wird und sich die Ausländerbehörden zudem regelmäßig an der Entscheidung des Jugendamts orientieren werden. In Bezug auf Missbrauchsanreize führt die fehlende Bindungswirkung lediglich zu einer Verlagerung des Problems, löst dieses aber nicht. 2. Auslegung des Zweifelbegriffs Eine Bindungswirkung der Entscheidung des Jugendamts für Ausländerbehörden könnte sich entgegen der Gesetzesbegründung aber durch eine entsprechende Auslegung von Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes ergeben. Gemäß § 49 Abs. 3 AufenthG hat die Ausländerbehörde bei Zweifeln an der Identität des Ausländers – dazu gehört nach dem Wortlaut auch das Lebensalter – die zur Feststellung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Dies gilt nach der abschließend formulierten Aufzählung in § 49 Abs. 3 AufenthG zumindest dann, wenn dem Ausländer die Einreise erlaubt oder ein Aufenthaltstitel erteilt ist, die Abschiebung ausgesetzt werden soll oder es zur Durchführung anderer Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz erforderlich ist. Hierunter fällt auch Behördenhandeln 417 Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 SGB VIII Rn. 6; Erb-Klünemann/Kößler, FamRB 2016, 160, 163; Kirchhoff, in: Schlegel/ Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 6; Möller, in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2017, § 42f SGB VIII Rn. 32 f.; Veit, in: Staudinger, BGB, § 1773 BGB Rn. 8. 418 Achterfeld, JAmt 2019, 294, 298; Möller, in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2017, § 42f SGB VIII Rn. 32f; Neundorf, ZAR 2018, 238, 242.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

nach § 58 Abs. 1a AufenthG sowie gemäß § 36 AufenthG.419 Nach § 49 Abs. 6 AufenthG kommen als Maßnahmen zur Altersbestimmung auch körperliche Eingriffe in Betracht, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zum Zweck der Feststellung des Alters vorgenommen werden, wenn kein Nachteil für die Gesundheit des Ausländers zu befürchten ist. Die Vorschrift ist insoweit mit § 42f SGB VIII vergleichbar. Auch im Rahmen dieser Vorschrift herrscht Streit über die Zulässigkeit von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung.420 Vorliegend könnte eine grammatische Auslegung von § 49 Abs. 3 AufenthG zumindest mittelbar zu einer Bindungswirkung der Altersfeststellungen von Behörden führen. Ähnlich wie § 42f Abs. 2 SGB VIII knüpft § 49 Abs. 3 AufenthG an das Vorliegen von Zweifeln am Alter des betroffenen Ausländers an. Zweifel bestehen nach der herrschenden Literaturmeinung im Rahmen dieser Vorschrift, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass die Angaben der befragten Person unzutreffend sind.421 Es handelt sich hierbei allerdings wie auch bei § 42f SGB VIII um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Dieser könnte von den Ausländerbehörden bei Betroffenen, deren Alter bereits nach § 42f SGB VIII bestimmt worden ist, – gegebenenfalls zwingend – so auszulegen sein, dass keine Zweifel mehr über das Alter des Betroffenen bestehen. Auch wenn die Altersfeststellung rein tatsächlich betrachtet stets Zweifel am richtigen Alter offenlässt, würde eben diese Fehlerspanne bei der Altersfeststellung häufig dazu führen, dass – wie bereits erwähnt – widersprüchliche Entscheidungen getroffen werden würden.422 Denkbar wäre, dass das Jugendamt nach § 42f SGB VIII zum Schluss kommt, dass der Betroffene minderjährig ist, die Ausländerbehörde allerdings der Auffassung ist, dieselbe Person sei volljährig. Teilweise würden ihr besondere Ansprüche und Rechte Minderjähriger zugestanden, teilweise aber nicht. Hat aber schon eine behördlich durchgeführte Altersbestimmung dem Ausländer Minderjährigkeit attestiert, müssen ihm auch die vollumfänglichen Rechte eines Minderjährigen gewährt werden. Widersprüchliche Entscheidungen sind hier auch aus Kindeswohlgesichtspunkten zwingend zu vermeiden. Würde man gegenteilig damit argumentieren, dass die Ungenauigkeit der Altersfeststellung eine Überprüfung des Verfahrens bei einer anderen Behörde erforderlich mache, müsste man die Verhältnismäßigkeit des Verfahrens generell in Frage stellen. Denn wenn sich nicht einmal der Staat auf ein einmal durchgeführtes Verfahren verlassen möchte, ist die Durchführung desselben einem mutmaßlich Minderjährigem insgesamt nicht zuzumuten. 419 Winkelmann/Wunderle, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 49 AufenthG Rn. 10. 420 Hörich, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 49 AufenthG Rn. 36; vgl. auch Klein, KJ 2015, 405, 408; Parzeller, Rechtsmedizin 2015, 21, 26. 421 Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 49 AufenthG Rn. 9; Weichert/ Stoppa, in: Hubert, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 49 AufenthG Rn. 21; Winkelmann/ Wunderle, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 49 AufenthG Rn. 6. 422 Achterfeld, JAmt 2019, 294, 298; Möller, in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2017, § 42f SGB VIII Rn. 32f; Neundorf, ZAR 2018, 238, 242.

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Für die hier vorgeschlagene, einschränkende Auslegung des Zweifelsbegriffs in § 49 AufenthG spricht auch die Subsidiaritätsregelung in § 49 Abs. 6 S. 3 AufenthG. Danach sind Maßnahmen zur Feststellung der Identität nach § 49 AufenthG nur zulässig, wenn die Identität in anderer Weise, insbesondere durch Anfragen bei anderen Behörden nicht oder nicht rechtzeitig oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Hier könnte man zwar bei strenger Wortlautauslegung vertreten, dass § 49 Abs. 2 AufenthG zwischen Identität und Alter differenziert, sodass sich § 49 Abs. 6 S. 3 AufenthG nicht auf die Altersfeststellung bezieht. Allerdings handelt es sich bei dieser Regelung um eine gesetzliche Ausformung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.423 Dieser Vorbehalt muss jedenfalls im Wege eines Erst-recht-Schlusses auch auf die Feststellung des Alters übertragen werden, da diese bei Anwendung von invasiven Methoden grundsätzlich einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG darstellt (vgl. S. 171 ff.). Insofern könnte die Ausländerbehörde auf Basis von § 49 Abs. 6 S. 3 AufenthG bei dem für den Betroffenen zuständigen Jugendamt anfragen, was die Altersfeststellung ergeben hat und die Übermittlung des Altersgutachtens verlangen, statt ein eigenes Gutachten anfertigen zu lassen. Lediglich wenn danach Anhaltspunkte bestehen, dass das Jugendamt die Alterseinschätzung nicht unter Beachtung der fachlichen Standards durchgeführt hat, dürfte die Ausländerbehörde ein eigenes Gutachten anfertigen lassen.424 Auch abseits dieser konkreten Regelung in § 49 Abs. 6 S. 3 AufenthG gilt, dass dem Minderjährigen nicht erneut eine Altersuntersuchung mit den entsprechenden körperlichen Eingriffen durch einen Arzt zugemutet werden darf. Dies ist auch unter dem Gesichtspunkt überzeugend, als der Ausländerbehörde im Ergebnis genau der gleiche Maßnahmenkatalog zur Verfügung steht wie den Jugendämtern. Es fehlt damit auch an der Erforderlichkeit einer zweiten Altersfeststellung durch die Ausländerbehörden. Insofern könnte sich auch aus verfassungsrechtlicher Sicht eine Bindungswirkung der Ausländerbehörden an die Altersfeststellung des Jugendamts ergeben, da – wie zuvor ausgeführt – die medizinische Altersfeststellung unter Verwendung von Röntgendiagnostik grundsätzlich einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG darstellt. Es bleibt festzuhalten, dass das Gesetz zwar keine ausdrückliche Bindungswirkung der Altersfeststellung einer Behörde vorsieht, Behörden nach der hier vertretenen Auffassung über die Einschätzung von Zweifeln am tatsächlichen Alter des Betroffenen aber an die Ergebnisse von anderen Behörden bereits durchgeführten Altersfeststellungen gebunden sind. Dies muss zumindest solange gelten, wie das Verfahren zur Altersfeststellung durch die erstentscheidende Behörde gleichermaßen zuverlässig ist wie die Altersfeststellung durch die Ausländerbehörde. Daraus folgt, dass sowohl eine Ausländerbehörde an eine Entscheidung des Jugendamts nach § 42f SGB VIII gebunden ist als auch das Jugendamt an eine Entscheidung 423 424

Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 49 AufenthG Rn. 29. So auch Achterfeld, JAmt 2019, 294, 298.

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einer Ausländerbehörde nach § 49 Abs. 3 AufenthG, sollte diese ausnahmeweise vorher erfolgt sein. Da sich aus den Gesetzgebungsmaterialien etwas anderes ergibt und auch die Praxis nicht von einer Bindungswirkung ausgeht, wäre eine klarstellende Gesetzesänderung wünschenswert.425 II. Aufenthaltsstatus Für unbegleitete minderjährige Ausländer stellt eine der wichtigsten Rechtsfolgen der Feststellung ihrer Minderjährigkeit neben der Inobhutnahme durch das Jugendamt der rechtliche Aufenthaltsstatus dar. Denn für diese Personengruppe gelten besondere aufenthaltsrechtliche Bestimmungen. Ausgangspunkt ist dabei die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG, die am 24. Dezember 2010 in Kraft trat. Gemäß Art. 10 Abs. 1 RL 2008/115/EG soll unbegleiteten Minderjährigen vor Ausstellung einer Rückkehrentscheidung Unterstützung durch geeignete Stellen unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohls gewährt werden. Die geeigneten Stellen dürfen dabei nicht die Stellen sein, die für die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zuständig sind. Diese Bestimmung findet ihre Umsetzung in der regulären Inobhutnahme durch die Jugendämter gemäß § 42 SGB VIII, die eine solche geeignete Stelle darstellen.426 Aus Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie ergibt sich die für den Aufenthaltsstatus eines Minderjährigen bedeutsame Bestimmung, dass sich die Behörden eines Mitgliedsstaates, aus dessen Hoheitsgebiet ein unbegleiteter Minderjähriger abgeschoben werden soll, vergewissern müssen, dass der Minderjährige einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben wird (sog. Vergewisserungspflicht). Diese Bestimmung hat der nationale Gesetzgeber mit Gesetzesänderung vom 26. November 2011 durch die Einführung von § 58 Abs. 1a AufenthG umgesetzt. Der dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 RL 2008/115/EG nachgebildete § 58 Abs. 1a AufenthG begründet ein Vollstreckungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG für die Abschiebung eines unbegleiteten, minderjährigen Ausländers mit dilatorischer Wirkung.427 Eine Abschiebung ist damit nicht möglich, wenn nicht sichergestellt werden kann, dass im Rückkehrstaat eine personensorge- und erziehungsberechtigte Person oder Institution vorhanden ist. Da es sich hierbei um ein Vollstreckungshindernis im Rahmen einer Abschiebung handelt, betrifft dies auch bzw. insbesondere Ausländer, die grundsätzlich nicht aufenthaltsberechtigt wären. Das bedeutet, dass der Minderjährige in Deutschland verbleiben kann, auch wenn sein – in der Regel gemäß § 42 425

So auch Achterfeld, JAmt 2019, 294, 298. Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 58 AufenthG Rn. 4; Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 58 AufenthG Rn. 41; andere Ansicht aufgrund fehlender fachlicher Eignung der Jugendämter nach Hocks, in: Hofmann, Ausländerrecht 2. Aufl. 2016, § 58 AufenthG Rn. 27. 427 BVerwG, Urt. v. 13. 06. 2013 – 10 C 13/12, NVwZ 2013, 1489, 1491 Rn. 17; Hocks, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 58 AufenthG Rn. 26. 426

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Abs. 2 S. 5 SGB VIII durch das Jugendamt gestellter – Asylantrag abgelehnt worden ist. Äußerst unbestimmt ist allerdings, welche konkreten Prüfpflichten die Behörden im Rahmen des „Sich-Vergewisserns“ treffen. Nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts428 ist der Wortlaut des § 58 Abs. 1a AufenthG restriktiv auszulegen. Das Gericht orientiert sich dabei an der Gesetzeshistorie des zugrundeliegenden Art. 10 Abs. 2 RL 2008/115/EG. Die Behörde soll danach verpflichtet sein, sich vor Durchführung jeder Abschiebung u. a. durch Einschaltung des Bundesamts oder der Botschaften und Konsulate vor Ort positiv davon zu vergewissern, dass eine Übergabe an konkret benannte Personen bzw. Stellen tatsächlich vollzogen wird.429 Das Oberverwaltungsgericht Bremen430 hat diese Rechtsprechung in einem jüngeren Urteil konkretisiert. Danach muss überprüft werden, ob die benannte Person bzw. Stelle auch zur Übernahme bereit und geeignet ist. Im Fall des Oberverwaltungsgerichts sollte sich die Behörde beispielsweise vergewissern, dass die in Gambia lebende Mutter der unbegleiteten Minderjährigen tatsächlich sorgeberechtigt und aufnahmebereit war, nachdem diese vorgetragen hatte, dem Vater das alleinige Sorgerecht nach gambischen Recht übertragen zu haben. Außerdem sollte geprüft werden, ob das von der Minderjährigen besuchte Internat noch bereit wäre, diese nach längerer Zeit der Unterbrechung aufzunehmen. Der Praxisfall zeigt, dass die Rechtsprechung äußerst strenge Anforderungen an die Vergewisserung im Sinne von § 58 Abs. 1a AufenthG stellt und im Einzelfall einer Rückführung erhebliche tatsächliche Hindernisse im Weg stehen können. Das Bundesverwaltungsgericht hebt in seiner Grundsatzentscheidung außerdem hervor, dass dem Minderjährigen ausreichend Möglichkeiten zur Verfügung stehen, eine Entscheidung der Ausländerbehörde, dass § 58 Abs. 1a AufenthG der Abschiebung nicht mehr entgegenstehe, gerichtlich überprüfen zu lassen. Der Minderjährige kann nach Mitteilung der Ausländerbehörde Rechtsbehelfe gegen deren damit einhergehende Entscheidung, die Abschiebung nicht länger gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG auszusetzen oder die Duldung gemäß § 60a Abs. 5 S. 2 AufenthG zu widerrufen, einlegen.431 Im Ergebnis bedeutet dies, dass ein unbegleiteter Ausländer, der als minderjährig eingestuft wurde, nur unter strengen Voraussetzungen abgeschoben werden kann. Dies erhöht in der Konsequenz die Missbrauchsanfälligkeit der vorläufigen Inobhutnahme, da sich auch volljährige Ausländer erhoffen, als unbegleiteter Minderjähriger ohne Aufenthaltstitel in Deutschland verbleiben zu können. Dies gilt umso mehr, wenn nach hier vertretener Ansicht die für die Abschiebung nach § 58 Abs. 1a

428

BVerwG, Urt. v. 13. 06. 2013 – 10 C 13/12, NVwZ 2013, 1489, 1491 Rn. 18. So auch Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 58 AufenthG Rn. 6; Hocks, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 58 AufenthG Rn. 26. 430 OVG Bremen, Beschl. v. 22. 08. 2018 – 1 B 161/18, ZAR 2018, 363, 364. 431 BVerwG, Urt. v. 13. 06. 2013 – 10 C 13/12, NVwZ 2013, 1489, 1491 Rn. 21. 429

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AufenthG zuständige Ausländerbehörde an die Ergebnisse der Altersfeststellung durch das Jugendamt gemäß § 42f SGB VIII gebunden ist. Selbst wenn man sich der herrschenden Meinung432 anschließt und eine solche Bindungswirkung ablehnt, wird sich die Ausländerbehörde regelmäßig an der Einschätzung des Jugendamts orientieren, sodass dort bereits Anreize für volljährige Ausländer bestehen können.433 Möglich ist auch, dass junge, unbegleitete Ausländer zumindest glauben, dass die Feststellung der Minderjährigkeit durch das Jugendamt unmittelbaren Einfluss auf ihren Aufenthaltsstatus hat. Zu beachten ist, dass sich § 58 Abs. 1a AufenthG nach der herrschenden Meinung nur auf Fälle bezieht, die in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fallen, sodass Überstellungen nach den Dublin-Verordnungen von der Vorschrift unberührt bleiben.434 Eine Rückführung in einen anderen EU-Mitgliedsstaat wie beispielsweise Italien bleibt damit trotz Minderjährigkeit möglich. III. Familiennachzug Für viele unbegleitete minderjährige Ausländer stellt sich bei ihrer Ankunft in Deutschland die Frage, ob sie ihre Eltern oder andere Familienangehörige nach Deutschland nachziehen lassen können. Da zahlreiche Ausländer über die gesetzlichen Regelungen zum Familiennachzug nach Deutschland bzw. Europa gelangen, ist die Frage, wer in welchem Umfang Anspruch auf Nachzug von Familienangehörigen hat, für den Staat von großer Bedeutung.435 Das System des Familiennachzugs in Deutschland ist in §§ 27 ff. AufenthG geregelt. Grundsätzlich ist es Ausländern lediglich gestattet, Ehegatten und eigene, minderjährige ledige Kinder nachziehen zu lassen.436 Für unbegleitete minderjährige Ausländer enthält § 36 AufenthG spezielle Regelungen, nach denen es ihnen ermöglicht wird, Eltern und sonstige Familienangehörige unter bestimmten Voraussetzungen nach Deutschland zu holen. Beachtet werden sollte hierbei, dass sich der Begriff des unbegleiteten Minderjährigen nach der der Norm zugrundeliegenden Richtlinie 2003/86/EG

432

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20; OVG Saarland, Beschl v. 23. 11. 2020 – 2 D 268/ 20, AuAS 2021, 20, 21; OVG Bremen, Beschl v. 02. 03. 2017 – 1 B 331/16, JAmt 2017, 262, 263; Bohnert, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 SGB VIII Rn. 6; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 6; Möller, in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, Kinderund Jugendhilfe, 2. Aufl. 2017, § 42f SGB VIII Rn. 32 f. 433 Vgl. auch Achterfeld, JAmt 2019, 294, 298. 434 OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17. 10. 2013 – 3 S 40.13, juris-Rn. 3; Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 58 AufenthG Rn. 4. 435 Thym, NVwZ 2016, 409, 413. 436 Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 58 AufenthG Rn. 2; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 36 AufenthG Vorb.

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(„Familienzusammenführungsrichtlinie“) richtet.437 Art. 2 lit. f der RL 2003/86/EG knüpft anders als §§ 42a ff. SGB VIII nicht an Personensorge- und Erziehungsberechtigte des Minderjährigen an, sondern an nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortliche Erwachsene, solange sich der Minderjährige nicht in Obhut einer solchen Person befindet. In Betracht kommt nach der Legaldefinition der Richtlinie auch ein Zurücklassen des Minderjährigen, sodass nicht zwingend auf das Unbegleitet-Sein bei der Einreise in den Mitgliedsstaat abgestellt wird. Der Begriff des unbegleiteten Minderjährigen ist hier somit weiter zu verstehen als im Achten Buch Sozialgesetzbuch. Das Gesetz unterscheidet bei unbegleiteten Minderjährigen zunächst zwischen dem Familiennachzug von Eltern und dem Familiennachzug von sonstigen Familienangehörigen. Letzterer ist in § 36 Abs. 2 AufenthG geregelt und wird nur unter strengen Voraussetzungen gewährt. Für den Familiennachzug der Eltern nach § 36 Abs. 1 AufenthG ist eine Aufenthaltserlaubnis des Minderjährigen, der bereits in Deutschland ist, erforderlich. Allerdings besteht nach dem Wortlaut nur bei bestimmten Formen der Aufenthaltserlaubnis ein Anspruch auf Familiennachzug. In Betracht kommen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 AufenthG (sogenannte Resettlement-Flüchtlinge) oder eine anerkannte Asylberechtigung gemäß § 25 Abs. 1 AufenthG, die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 AufenthG sowie zuletzt eine subsidiäre Schutzberechtigung gemäß § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 AufenthG im Zusammenhang mit einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Separat in § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG geregelt ist außerdem der Familiennachzug von Eltern von minderjährigen Ausländern, die lediglich gemäß § 4 AsylG subsidiär schutzberechtigt sind, aber keine Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG erhalten haben. Keinen Anspruch auf Familiennachzug haben damit Ausländer, die lediglich geduldet werden oder deren Abschiebung beispielsweise wegen § 58 Abs. 1a AufenthG nicht vollzogen werden kann. Es darf sich außerdem kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhalten. Dieser Zusatz dürfte der weiten Definition des unbegleiteten Minderjährigen gemäß Art. 2 lit. f RL 2003/ 86/EG geschuldet sein. Die Anknüpfung an diese bestimmten Formen der Aufenthaltserlaubnis des Minderjährigen macht deutlich, dass es bei der Frage des Familiennachzugs um eine andere Problematik geht als bei der Frage des Aufenthaltsstatus. Es steht nun nicht mehr die missbräuchliche Erschleichung eines Bleiberechts im Mittelpunkt, sondern die missbräuchliche Ermöglichung des Nachzugs von Familienangehörigen, die ohne Minderjährigkeit des in Deutschland registrierten Ausländers keinen Anspruch darauf hätten.

437 Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 58 AufenthG Rn. 10; Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 36 AufenthG Rn. 6 ff; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 8.

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Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs438 vom 12. April 2018 ist zu beachten, dass für die Frage nach dem Tatbestandsmerkmal der Minderjährigkeit der Zeitpunkt der Asylantragsstellung maßgeblich ist. Daraus folgt, dass ein Anspruch auf Familiennachzug zumindest nach Art. 10 Abs. 3 lit. a RL 2003/86/EG auch dann besteht, wenn der unbegleitete minderjährige Ausländer nach Asylantragsstellung volljährig geworden ist. Der Betroffene soll dann immer noch als „Minderjähriger“ im Sinne der Vorschrift anzusehen sein. Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Befürchtung, dass Mitgliedsstaaten die Verpflichtungen aus der Richtlinie durch verzögerte Bearbeitung umgehen.439 Der Europäische Gerichtshof macht damit deutlich, dass ein missbräuchlicher Umgang mit Asylund Aufenthaltsrechten auch von Seiten des Staates zu befürchten sein kann. Eng verbunden mit dem Nachzug der Eltern ist auch der Nachzug von Geschwistern eines minderjährigen Ausländers. In der Praxis wird der Geschwisternachzug insbesondere relevant, wenn Eltern mehrere Kinder haben und nur eines von ihnen geflüchtet ist. Dies ist insbesondere in Herkunftsländern wie Syrien häufig der Fall, da einige Familien nur für eine Person ausreichende finanzielle Mittel für die Reise nach Europa zur Verfügung haben. Möchten die Eltern dann im Rahmen des Elternnachzugs nach Deutschland kommen, sollen die übrigen Kinder in der Regel nicht im Heimatstaat verbleiben müssen. Der Geschwisternachzug ist jedoch nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt oder anderweitig privilegiert.440 In der Regel wird für den Geschwisternachzug daher an den Kindernachzug gemäß § 32 AufenthG angeknüpft. Da ein Voraufenthalt der Eltern hierfür nicht erforderlich ist, können die Geschwister dann über § 32 AufenthG gemeinsam mit den Eltern einreisen.441 Berücksichtigt werden müssen dabei allerdings die weiteren Tatbestandsmerkmale des Kindernachzugs. Die Geschwister müssen ihrerseits minderjährig und ledig sein. Scheitert es daran, bleibt nur noch ein Nachzug über § 36 Abs. 2 AufenthG, wonach sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. In der Praxis kann dies im Einzelfall bedeuten, dass die Eltern ihre Kinder zurücklassen müssen. Über § 36 Abs. 2 AufenthG können auch alle weiteren Familienangehörigen des sich bereits in Deutschland befindlichen Minderjährigen nachreisen. Unter den Begriff der sonstigen Familienangehörigen fallen alle Mitglieder der Großfamilie wie volljährige ledige und verheiratete Kinder, Pflegekinder, Eltern, Großeltern, Schwager und Schwägerinnen, Onkel und Tanten sowie Neffen und Nichten.442 Der 438

EuGH, Urteil vom 12. 04. 2018 – C-550/16, NVwZ 2018, 1463, 1464 f. Hruschka, NVwZ 2018, 1451, 1452. 440 Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 15; vgl. dazu auch Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 36 AufenthG Rn. 11. 441 Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 16. 442 Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 36 AufenthG Rn. 23; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 19; vgl. auch Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 36 AufenthG Rn. 15. 439

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Familiennachzug von minderjährigen Kindern und Ehegatten bestimmt sich dagegen nach §§ 28 bis 35 AufenthG.443 Im Gegensatz zu § 36 Abs. 1 AufenthG verlangt der Nachzug von sonstigen Familienangehörigen allerdings eine Erforderlichkeit zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte und setzt mit dieser Voraussetzung eine hohe Hürde. Die Besonderheiten des Einzelfalls müssen hierfür nach Art und Schwere so groß sein, dass die Folgen der Visumsversagung oder Nichterteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Berücksichtigung des Zwecks der Nachzugsvorschriften, die Herstellung und Wahrung der Familieneinheit zu schützen, sowie des Schutzgebots des Art. 6 GG schlechthin unvertretbar sind.444 Daraus ergibt sich, dass der Familiennachzug von sonstigen Angehörigen nur in Einzelfällen möglich sein kann und in der Praxis kaum vorkommt. Die Regelungen des Familiennachzugs wären mit Blick auf die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII allerdings nur relevant, wenn das Ergebnis der Altersuntersuchung durch das Jugendamt eine Bindungswirkung hätte. Das ist zumindest nach der herrschenden Meinung nicht der Fall. Geht man mit der hier vertretenen Ansicht allerdings von einer Bindungswirkung aus, gewinnt das Ergebnis der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII erheblich an Bedeutung. Eine möglichst zuverlässige Altersdiagnostik wäre umso wichtiger. IV. Gewährung von Krankenhilfe Eine weitere, mittelbare Folge der Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f SGB VIII ist der Anspruch des Betroffenen auf Gewährung von Krankenhilfe nach § 40 SGB VIII. Wenn das Jugendamt von der Minderjährigkeit des Ausländers überzeugt ist, kann dieser gemäß § 42b SGB VIII am Verteilungsverfahren teilnehmen und letztendlich einer regulären Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII zugeführt werden. Das nun zuständige Jugendamt hat gemäß § 42 Abs. 2 S. 3 SGB VIII die Pflicht, den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen. Diese Verpflichtung gilt allerdings gemäß § 10 Abs. 1 SGB VIII nur, falls dies nicht anderweitig, beispielsweise durch die gesetzlichen Krankenkassen, geregelt ist.445 Eine entsprechende Regelung fehlt allerdings für unbegleitete minderjährige Ausländer. Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt sind für Asylbewerber und vergleichbare Personengruppen in § 4 AsylbLG geregelt. Allerdings wird dort in erster Linie nur die zur Behandlung akuter Erkrankungen und 443

Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 36 AufenthG Rn. 23. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 36 AufenthG Rn. 24; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 19. 12. 2011 – OVG 3 B 17.10, OVGE BE 32, 271; BVerwG, Beschl. v. 25. 6. 1997 – 1 B 236.96, NVwZ 1998, 297, 298 f. 445 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 168; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 42 SGB VIII Rn. 29. 444

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Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen gewährt. Die Behandlung von chronischen Erkrankungen ist beispielsweise nach § 4 Abs. 1 AsylbLG ausgeschlossen.446 Die lediglich eingeschränkte Gewährung von Leistungen der Gesundheitsvorsorge hat den Hintergrund, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass sich der erfasste Personenkreis nur vorübergehend in Deutschland aufhalten wird.447 Da dies allerdings in der Praxis – unter anderem aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Duldungen von Ausländern gemäß § 60a AufenthG – nicht der Fall ist, bestehen zahlreiche verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dieser Vorschrift.448 Im Ergebnis ändert dies nichts daran, dass eine anderweitige Regelung der Krankenhilfe von unbegleiteten Minderjährigen fehlt, sodass gemäß § 42 Abs. 2 S. 3 SGB VIII bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern regelmäßig ein Anspruch auf Krankenhilfe gemäß § 40 SGB VIII besteht. In § 40 S. 1 SGB VIII wird bezüglich des Umfangs der Leistungen auf §§ 47 bis 52 SGB XII verwiesen. Dies umfasst nach § 47 SGB XII insbesondere auch vorbeugende Gesundheitshilfe, aber auch Leistungen der Krankenbehandlung nach § 48 SGB XII i.V.m. §§ 27 ff. SGB V, Hilfe zur Familienplanung, bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie bei Sterilisation. Da unter den Krankheitsbegriff nach § 27 SGB V jeder regelwidrige Körper- oder Geisteszustand fällt, dessen Eintritt entweder allein die Notwendigkeit von Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat,449 können auch chronische Krankheiten behandelt werden. Umfasst wird im Rahmen der Krankenhilfe für Minderjährige gemäß § 40 S. 2 SGB VIII der notwendige Bedarf in voller Höhe, sodass hier ein weitergehender Leistungsumfang als nur nach dem Fünften Buch und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch gegeben ist. Denn der volle Bedarf richtet sich hier allein nach der medizinischen Erforderlichkeit einer Leistung und kann sogar über das Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehen.450 Über-

446 Frerichs, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 4 AsylbLG Rn. 47; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 4 AsylbLG Rn. 27. 447 BT-Drs. 12/4451 v. 02. 03. 1993, S. 9. 448 Frerichs, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 4 AsylbLG Rn. 35; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 4 AsylbLG Rn. 1. 449 BSG, Urt. v. 11. 05. 2017 – B 3 KR 30/15 R, NZS 2018, 772, 774 Rn. 22; Fahlbusch, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB V, 4. Aufl. 2020, § 27 SGB V Rn. 23; Lang, in: Becker/Kingreen, SGB V, 7. Aufl. 2020, § 27 SGB V Rn. 14. 450 Stähr, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 40 SGB VIII Rn. 7a.; Tammen, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 40 SGB VIII Rn. 5; von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 40 SGB VIII Rn. 21; Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 40 SGB VIII Rn. 7.

§ 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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nommen werden damit beispielsweise auch die vollen Kosten für Sehhilfen, Fahrtkosten oder Dolmetscherkosten, wenn sie im Einzelfall erforderlich sind.451 Das zeigt, dass unbegleitete, minderjährige Ausländer im Rahmen der Inobhutnahme durch das Jugendamt einen deutlich besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung als volljährige Asylsuchende haben. Dies kann zu einer Sogwirkung führen und schafft zusätzlich Missbrauchsanreize bei Letzteren. Beachtlich ist dabei insbesondere, dass der Anspruch von Minderjährigen in der Inobhutnahme mindestens dem der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht und teilweise sogar darüber hinausgehen kann. Problematisch kann dabei auch gesehen werden, dass diese Gesundheitsleistungen ausschließlich aus Steuermitteln finanziert werden, obwohl nicht einmal hinreichend Aussicht besteht, dass diese jemals eigene Beiträge leisten werden. Auf der anderen Seite ist es mit Blick auf europarechtliche Kindeswohlerwägungen auch nachvollziehbar und richtig, dass tatsächlich minderjährige Ausländer ausreichend gesundheitlich versorgt sind. Das hohe Leistungsspektrum in der Krankenhilfe macht dann aber eine genaue Prüfung der Anspruchsberechtigung zwingend erforderlich. Dies betrifft – jedenfalls mittelbar – auch die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII. Mit Blick auf gesetzgeberische Erwägungen sollte gleichzeitig aber auch berücksichtigt werden, dass – wie zuvor erwähnt – die wenigen Leistungen für volljährige Asylsuchende nach § 4 AsylbLG verfassungsrechtlich bedenklich sind. Dieses starke Gefälle zwischen den beiden Leistungsansprüchen verschärft die Anreize für volljährige Asylbewerber, sich missbräuchlich als minderjährig auszugeben, um eine Inobhutnahme durch ein Jugendamt zu erreichen. Ziel des Gesetzgebers müsste es daher neben einer möglichst genauen Altersfeststellung sein, Missbrauchsanreize durch eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung bei volljährigen Asylbewerbern zu verringern. V. Leistungen zum Unterhalt Im Rahmen der regulären Inobhutnahme erhält ein unbegleiteter minderjähriger Ausländer außerdem gemäß § 42 Abs. 2 S. 3 SGB VIII Leistungen zum notwendigen Unterhalt. Für die Frage des Umfangs wird auf den entsprechend anwendbaren § 39 SGB VIII zurückgegriffen.452 Nach § 39 Abs. 1 SGB VIII hat das Jugendamt primär den notwendigen Unterhalt des Minderjährigen sicherzustellen. Darunter fallen nach dem Gesetzeswortlaut Kosten für den Sachaufwand sowie für die Pflege und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen. Unter den Sachaufwand fallen dabei insbesondere die in § 27 Abs. 1 451 von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 40 SGB VIII Rn. 22. 452 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 167; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 39.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

SGB XII bzw. § 20 Abs. 1 SGB II genannten Positionen, beispielsweise Kosten für Unterkunft, Ernährung, Kleidung und Dinge des persönlichen Bedarfs.453 Gemäß § 39 Abs. 2 SGB VIII wird dabei der regelmäßig wiederkehrende Bedarf durch laufende Leistungen gedeckt. Dazu gehören auch die Kosten für Ernährung, Unterkunft und Nebenkosten, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Schulbedarf.454 Nach § 39 Abs. 4 SGB VIII sollen diese laufenden Leistungen auf Grundlage der tatsächlichen Kosten gewährt werden. Als Grenze hierfür wird gemäß § 39 Abs. 4 S. 1 SGB VIII die Angemessenheit der Kosten gesetzt. Da es sich dabei um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, muss die Angemessenheit im Einzelfall ermittelt werden.455 Die Leistungsgewährung auf Grundlage der tatsächlichen Kosten wird aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung allerdings als monatlicher Pauschalbetrag gewährt, der sich an den in einer durchschnittlichen Familie entstehenden Kosten orientiert.456 Für das Jahr 2021 hat der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. für Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren monatlich Pflegegeld in Höhe von EUR 722,00 für Sachaufwand und zusätzlich EUR 249,00 für Pflege und Erziehung zu gewähren.457 Gemäß § 39 Abs. 2 S. 2 SGB VIII wird dem Minderjährigen allerdings auch ein Barbetrag zur persönlichen Verfügung gewährt. Die Höhe dieses Betrages muss wiederum angemessen sein und wird gemäß § 39 Abs. 2 S. 3 SGB VIII bei Unterbringung in einer Einrichtung oder bei intensiver sozialpädagogischer Betreuung durch die jeweilige nach Landesrecht zuständige Behörde festgesetzt, es findet dann eine Staffelung nach Altersgruppen statt.458 Bei 17-Jährigen hat das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie zuletzt beispielsweise EUR 72,80 pro Monat festgesetzt.459 Unbegleitete minderjährige Ausländer erhalten somit auch 453

Kunkel/Pattar, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 6; von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 17. 454 Stähr, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 39 SGB VIII Rn. 16; von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 20. 455 Kunkel/Pattar, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 19; von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 22. 456 von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 30; vgl. auch Stähr, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 39 SGB VIII Rn. 17. 457 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Empfehlungen zur Fortschreibung der Pauschalbeträge in der Vollzeitpflege (§§ 33, 39 SGB VIII) für das Jahr 2021 v. 16. 09. 2020, 5, https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2020/dv13-20_pauschalbetraege_vollzeitpflege.pdf, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 458 Kunkel/Pattar, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 14; von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 22. 459 Nds. MBl. 2017 Nr. 46, S. 1540.

§ 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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unmittelbare Geldleistungen zu ihrer freien Verfügung, wenn sie vom Jugendamt in Obhut genommen worden sind. Dies stellt einen Gegensatz zum Sachleistungsprinzip dar, nach dem grundsätzlich volljährige Asylbewerber behandelt werden.460 Gemäß § 3 Abs. 2 S. 1 AsylbLG wird der notwendige Bedarf von Betroffenen, die in Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 Abs. 1 AsylG untergebrecht sind, explizit durch Sachleistungen gedeckt. Auch volljährige Asylbewerber erhalten zwar zusätzlich gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 AsylbLG Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse. Allerdings werden diese nicht durch ein Taschengeld ausgeglichen, sondern sollen nach § 3 Abs. 2 S. 4 AsylbLG grundsätzlich durch zusätzliche Sachleistungen gedeckt werden, soweit dies mit vertretbarem Verwaltungsaufwand möglich ist. Erst wenn volljährige Asylbewerber außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen untergebracht werden, haben sie nach § 3 Abs. 3 S. 1 AsylbLG einen vorrangigen Anspruch auf Geldleistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs. Unbegleitete, minderjährige Ausländer erhalten nach § 39 Abs. 3 SGB VIII außerdem zusätzlich einmalige Beihilfen oder Zuschüsse zur Erstausstattung einer Pflegestelle, bei wichtigen Anlässen sowie für Urlaubs- und Ferienreisen. Zur Erstausstattung der Pflegestelle fallen insbesondere Mobiliar, Spielsachen oder Schönheitsreparaturen. Zu den wichtigen persönlichen Anlässen zählen Einschulung, Weihnachten, Geburtstage einschließlich anfallender Bewirtungs- und Fahrtkosten.461 Im Ergebnis bedeutet dies, dass ein unbegleiteter, minderjähriger Ausländer auch im Bereich der Unterhaltsleistungen eine bessere Rechtsstellung als ein volljähriger Asylbewerber hat, der vordergründig Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhält. Dies ist ein weiter Punkt, der die Gefahr einer missbräuchlichen Inanspruchnahme der Jugendämter durch volljährige Ausländer erhöht.

B. Feststellung der Volljährigkeit Zu problematischen Fallkonstellationen kann es allerdings auch kommen, wenn die ärztliche Untersuchung ergibt, dass der Betroffene in Wahrheit bereits volljährig ist. Wurde der Minderjährige noch nicht vorläufig in Obhut genommen, wird in der Regelung eine Ablehnung der vorläufigen Inobhutnahme stattfinden.

460

Rn. 3

Frerichs, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 3 AsylbLG

461 von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 39 SGB VIII Rn. 24; Stähr, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 39 SGB VIII Rn. 18.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

I. Abweichende Entscheidung des Jugendamts Eine der vom Gesetzgeber nicht geklärten Fragen ist, welche Bindungswirkung dem ärztlichen Gutachten zur Altersuntersuchung gegenüber dem Jugendamt selbst zukommt. Herausgearbeitet wurde bereits, dass die Behörden untereinander an die Feststellungen eines Gutachtens über das Alter des betroffenen Ausländers gebunden sein können. Es bleibt die Frage, ob das Jugendamt als Behörde bei seiner Entscheidung über das Alter des Betroffenen an die Ergebnisse des ärztlichen Gutachtens gebunden ist. Unproblematisch ist dies in Fällen, in denen ein ärztliches Gutachten im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII dem Betroffenen Minderjährigkeit attestiert, ein zuständiger Mitarbeiter des Jugendamts allerdings von einer offensichtlichen Unrichtigkeit des Gutachtens ausgeht. Das Jugendamt könnte dann zwar theoretisch die Inobhutnahme beenden, der nach dem ärztlichen Gutachten Minderjährige könnte gegen diese Entscheidung allerdings gerichtlich vorgehen. Kommt dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung Bindungswirkung zu, kann die Rechtswidrigkeit der Maßnahme des Jugendamts bereits aus der Bindungswirkung des Gutachtens abgeleitet werden. Kommt dem Ergebnis der Untersuchung dagegen keine Bindungswirkung zu, kann der Minderjährige zumindest das Gutachten als Beweismittel in den Prozess einbringen. Das Jugendamt müsste die Ergebnisse des Gutachtens dann widerlegen. Dies dürfte wiederum schwerfallen. In beiden Fällen besteht nahezu keine Rechtsunsicherheit, sodass es auf die Bindungswirkung in dieser Konstellation nicht ankommt. Schwieriger liegt der Sachverhalt aber, wenn der untersuchende Arzt zum Schluss kommt, der Ausländer sei volljährig, der für die Aufnahme bzw. Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme zuständige Mitarbeiter des Jugendamts allerdings dennoch die Auffassung vertritt, dass der Betroffene minderjährig sei. Das Jugendamt könnte hier auf den Gedanken kommen, den aus ärztlicher Sicht als volljährig eingestuften Ausländer dennoch aufzunehmen. Es stellt sich also die Frage, inwieweit das Jugendamt an die Ergebnisse des ärztlichen Gutachtens gebunden ist und ob ihm im Falle einer Bindungswirkung Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, das ärztliche Gutachten aufzuheben. 1. Bindung des Jugendamts an das ärztliche Gutachten § 42f Abs. 2 SGB VIII verpflichtet das Jugendamt lediglich, in Zweifelsfällen eine ärztliche Altersuntersuchung durchführen zu lassen. Da hier ohne weitere gesetzgeberische Vorgaben bereits ein großer Ermessensspielraum des Jugendamts besteht, könnte es bei Überzeugung von der Minderjährigkeit des Ausländers bereits von der ärztlichen Untersuchung absehen. Allerdings sind Fälle denkbar, in denen jeweils unterschiedliche Mitarbeiter des Jugendamts über Durchführung der ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f SGB VIII und die weitere Durchführung der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII

§ 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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entscheiden. Möglich wäre auch, dass Indizien bestehen, dass das ärztliche Gutachten fehlerhaft ist. Ob das Jugendamt verpflichtet ist, die Ergebnisse dieser Untersuchung zwingend zu beachten oder ob auch eine abweichende Entscheidung möglich wäre, ist allerdings nicht gesetzlich geregelt. Betrachtet man § 42f Abs. 2 SGB VIII genauer, wird man feststellen, dass der Gesetzgeber an die Durchführung der ärztlichen Untersuchung keine unmittelbare Rechtsfolge angeknüpft hat. Rechtlich bedeutsam wird diese damit erst im Rahmen der Entscheidung des Jugendamts über die Durchführung der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII.462 Das Jugendamt ist danach berechtigt und verpflichtet, einen minderjährigen unbegleiteten Ausländer aufzunehmen. Es besteht damit grundsätzlich kein Ermessensspielraum, sodass das Jugendamt grundsätzlich verpflichtet wäre, den Ausländer aufzunehmen, wenn es von der Minderjährigkeit überzeugt ist, selbst wenn dies der ärztlichen Stellungnahme widerspricht. Man könnte dagegen argumentieren, dass das Jugendamt dann im Vorfeld keine ärztliche Altersuntersuchung hätte anordnen müssen. Eine Entscheidung entgegen dem Gutachten ist insofern fragwürdig, als der Arzt eine weitaus größere Fachkunde im Bereich der Altersschätzung besitzt als ein Mitarbeiter des Jugendamts. Könnte sich das Jugendamt abweichend vom ärztlichen Gutachten, das die Volljährigkeit des Ausländers festgestellt hat, rechtmäßig für die Inobhutnahme des Betroffenen entscheiden, könnte es faktisch jeden unbegleiteten Ausländer aufnehmen, der behauptet minderjährig zu sein. Eine abweichende Entscheidung des Jugendamts dürfte aufgrund der medizinischen Fachkunde von Ärzten jedenfalls ermessensfehlerhaft sein. So wird vereinzelt in anderen, vergleichbaren Rechtsfragen auch ausdrücklich eine Bindungswirkung von ärztlichen Gutachten vertreten.463 Allerdings sind Behörden grundsätzlich an den Amtsermittlungsgrundsatz gebunden und müssen auch fachfremde Sachverständigengutachten und Stellungnahmen auf ihre Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit überprüfen.464 Die Behörde kann die abschließende Entscheidungskompetenz nicht auf einen Dritten (hier den Arzt) übertragen. Fachgutachten schränken den Ermessensspielraum von Behörden sicherlich weitgehend ein. Allerdings kann daraus nicht zwingend ein gebundenes Ermessen abgeleitet werden. Die Behörde muss insbesondere die Möglichkeit haben, eine abweichende Entscheidung zu treffen, wenn ein Gutachten schwere Mängel aufweist, in sich widersprüchlich ist, von unzutreffenden Voraussetzungen ausgeht oder es Zweifel an der Sachkunde oder Sachlichkeit des Sachverständigen hat.465 462

Die abschließende Altersfeststellung ist kein Verwaltungsakt, sondern bloße Vorfrage, vgl. dazu Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 13. 463 Hohm, in: Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl. 2015, § 4 AsylbLG Rn. 13 bzgl. der Bindungswirkung einer ärztlichen Stellungnahme zur Beurteilung der Erforderlichkeit von ärztlichen Behandlungsleistungen. 464 Leopold, in: Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 4 AsylbLG Rn. 27. 465 Vgl. dazu BSG, Beschl. v. 16. 02. 2012 – B 9 V 17/11 B, juris-Rn. 13, ZOV 2014, 69; BSG, Beschl. v. 24. 03. 2005 – B 2 U 368/04 B, juris-Rn. 5.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

Das bedeutet im Ergebnis, dass dem Altersgutachten bereits aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes keine absolute Bindungswirkung gegenüber dem Jugendamt zukommen kann. Nur wenn das Jugendamt feststellt, dass das ärztliche Gutachten offensichtlich fehlerhaft ist, wäre es aus Ermessensgründen gezwungen, dieses zu überprüfen und gegebenenfalls abweichend zu entscheiden. Das könnte beispielsweise der Fall sein, wenn offensichtlich ist, dass zwingende fachliche Standards im Rahmen der ärztlichen Untersuchung nicht eingehalten wurden.466 2. Aufnahme eines Volljährigen – Rechtsfolgen Dennoch wäre in der Praxis ein Fall denkbar, in dem das Jugendamt einen volljährigen Ausländer aufnimmt, obwohl ein fehlerfreies und schlüssiges ärztliches Gutachten ergeben hat, dass der Betroffene mindestens 18 Jahre alt sei. Fraglich ist, welche Konsequenzen sich daraus sowohl für den Ausländer als auch für das Jugendamt ergeben. Unmittelbare Folge dieser Inobhutnahme wäre zunächst die Rechtswidrigkeit der Maßnahme, wenn die Volljährigkeit nunmehr behördlich feststeht (vgl. S. 27).467 Daraus folgt, dass der der vorläufigen Inobhutnahme zugrundeliegende Verwaltungsakt gemäß § 45 SGB X zurückgenommen werden kann. In Betracht käme dann aber ein Ausschluss der Rücknahme des Verwaltungsakts aufgrund Vertrauensschutzes gemäß § 45 Abs. 2 SGB X. Beruht die Durchführung der vorläufigen Inobhutnahmen auf bewusst oder grob fahrlässig falsch getätigter Behauptungen des Ausländers, ist dieser Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 S. 3 in der Regel verwirkt.468 In einem solchen Fall kann der Ausländer sogar gemäß § 50 SGB X auf Erstattung durch das Jugendamt erbrachter Leistungen (z. B. Taschengeld) in Anspruch genommen werden.469 Beruht die Durchführung der vorläufigen Inobhutnahme allerdings auf einer Fehleinschätzung des Jugendamts und kann sich der Ausländer erfolgreich auf Vertrauensschutz berufen, wäre eine Rücknahme nach § 45 Abs. 2 SGB X nicht möglich. II. Hilfe für Volljährige durch das Jugendamt Ist die Volljährigkeit des Betroffenen endgültig festgestellt, bedeutet dies nicht zwingend, dass er nun keinerlei Leistungen des Jugendamts mehr in Anspruch 466

Vgl. dazu Achterfeld, JAmt 2019, 294, 298. BVerwG, Urt. v. 26. 04. 2018 – 5 C 11/17, NVwZ-RR 2018, 659, 662 Rn. 28; BayVGH, Beschl. v. 23. 09. 2014 – 12 CE 14.1833, NVwZ-RR 2014, 959, 961 Rn. 21; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 47.1. 468 VG München, Urt. v. 06. 12. 2017 – M 18 K 16.2363, BeckRS 2017, 137397 Rn. 45. 469 VG München, Urt. v. 06. 12. 2017 – M 18 K 16.2363. BeckRS 2017, 137397 Rn. 54. 467

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nehmen kann. § 41 SGB VIII eröffnet jungen Volljährigen nämlich die Möglichkeit, Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung durch das Jugendamt zu erhalten. Dies ist von Bedeutung für die Verhältnismäßigkeit des Verfahrens der Altersfeststellung, da es vorkommen kann, dass ein Ausländer fehlerhaft als volljährig eingestuft wird und die Inobhutnahme abgelehnt wird. Kann dieser Ausländer dann dennoch bestimmte Leistungen der Jugendhilfe beanspruchen, relativiert dies die Ablehnung der Inobhutnahme. 1. Voraussetzungen § 41 SGB VIII müsste dazu überhaupt auf Ausländer, insbesondere Asylbewerber, anwendbar sein. Es handelt sich um eine Leistung der Jugendhilfe im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII, sodass der Geltungsbereich für Leistungen der Jugendhilfe gemäß § 6 SGB VIII eröffnet sein müsste. Gemäß § 6 Abs. 2 SGB VIII können Leistungen im Rahmen des Achten Buches Sozialgesetzbuch von Ausländern nur in Anspruch genommen werden, wenn diese rechtmäßig oder auf Grund ausländerrechtlicher Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Strittig ist hier, ob bei Asylbewerbern bereits von einem gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland ausgegangen werden kann. Eine Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts ergibt sich aus § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I. Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiert nicht nur vorübergehend verweilt. Nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts470 ist hierbei entscheidend, ob der örtliche Lebensschwerpunkt faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft wird dabei als zukunftsoffen, also nicht auf Beendigung angelegt, definiert. Insbesondere bei einer auflösend bedingten Aufenthaltserlaubnis soll ein gewöhnlicher Aufenthalt daher nicht gegeben sein. Das Bundessozialgericht hält in seinem Urteil allerdings auch fest, dass der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts unter Berücksichtigung des Zwecks des Gesetzes bestimmt werden kann, in welchem der Begriff gebraucht wird.471 In der Literatur472 wird teilweise vertreten, dass Asylbewerber stets ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hätten. Dies wird teilweise historisch damit begründet, dass auch junge Asylbewerber Hilfeleistungen erhalten sollten. Außerdem wird angeführt, dass andernfalls ein nach § 60a AufenthG geduldeter Ausländer besser stehen würde als ein Ausländer mit einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG, die sachlich befristet ist. Alternative Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach § 41 SGB VIII ist der rechtmäßige bzw. ausländerrechtlich geduldete Aufenthalt im In470

BSG, Urt. v. 27. 01. 1994 – 5 RJ 16/93, juris-Rn. 4, MDR 1994, 1229. BSG, Urt. v. 27. 01. 1994 – 5 RJ 16/93, juris-Rn. 25, MDR 1994, 1229. 472 Elmauer, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 6 SGB VIII Rn. 19; Lange, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 6 SGB VIII Rn. 46. 471

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land. Umfasst sind davon insbesondere Ausländer mit Aufenthaltstitel gemäß § 4 AufenthG – hierunter fällt beispielsweise eine Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Sinne der §§ 22 ff. AufenthG –, Ausländer mit Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 AsylG sowie geduldete Ausländer gemäß § 60a AufenthG. Erforderlich ist damit zumindest die Stellung eines Asylantrags gemäß § 13 AsylG. Stellt der Asylbewerber somit einen Asylantrag und geht man davon aus, dass auch im Rahmen einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland begründet wird, fällt der Ausländer in den Geltungsbereich des Achten Buches Sozialgesetzbuch und kann auch grundsätzlich Leistungen nach § 41 SGB VIII beanspruchen, sofern er die weiteren Voraussetzungen erfüllt. Die Hilfe wird jungen Volljährigen nur dann gewährt, wenn und solange sie auf Grund der individuellen Situation notwendig ist. Auch wenn unter den Begriff des jungen Volljährigen gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII Personen zwischen 18 und 27 Jahren fallen, stellt § 41 Abs. 1 S. 2 SGB VIII klar, dass die Hilfe nach § 41 SGB VIII in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt wird und nur in begründeten Einzelfällen verlängert werden kann. Letzte Voraussetzung ist damit die Notwendigkeit der Hilfeleistung aufgrund der individuellen Situation des Betroffenen. Hierunter fallen insbesondere Probleme wie Obdachlosigkeit, Suchtkrankheiten, Drogenabhängigkeit, psychische Probleme, wirtschaftliche Benachteiligung oder eine unzureichende schulische Bildung.473 Es stellt sich damit die Frage, ob bei jungen Asylbewerbern eine Hilfeleistung durch das Jugendamt aufgrund ihrer individuellen Situation notwendig ist. Aus dem Tatbestandsmerkmal „individuelle Situation“ kann geschlossen werden, dass bei der Beurteilung des Sachverhalts stets eine Einzelfallentscheidung zu treffen ist, sodass die Asylbewerber-Eigenschaft allein nicht für die Notwendigkeit von Hilfe ausreichen kann. Das Oberverwaltungsgericht Bremen474 hat beispielsweise mit Urteil vom 13. Dezember 2017 festgehalten, dass jungen Volljährigen keine Hilfe nach § 41 SGB VIII zu gewähren ist, wenn der Hilfebedarf lediglich auf migrationstypischen Schwierigkeiten bei der Integration in fremde Lebensverhältnisse beruht. In Betracht kommen Hilfeleistungen nach § 41 SGB VIII für Asylbewerber damit nur noch, wenn sie die oben genannten Kriterien erfüllen und damit Schwierigkeiten bei der Persönlichkeitsentwicklung und einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu erwarten sind. In der Praxis dürfte dies dazu führen, dass § 41 SGB VIII bei jungen Asylbewerbern nur selten anwendbar ist, obwohl gerade aufgrund der Ungenauigkeiten bei der Altersfeststellung ein zuverlässiges Auffangsystem für mutmaßlich junge Volljährige zielführend wäre.

473 Berneiser, in: Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar SRB, 2. Aufl. 2018, § 41 SGB VIII Rn. 6. 474 OVG Bremen, Urteil vom 13. 12. 2017 – 1 B 136/17, JAmt 2018, 169, 170.

§ 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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2. Inhalt der Hilfeleistungen Sollte es einem Asylbewerber dennoch gelingen, die Notwendigkeit für die Persönlichkeitsentwicklung und die eigenverantwortliche Lebensführung durch das Jugendamt darzulegen, stellt sich die Frage, welche Hilfeleistungen im Einzelnen gewährt werden können. Geregelt ist dies in § 41 Abs. 2 SGB VIII. Danach gelten für die Ausgestaltung der Hilfe §§ 27 Abs. 3 u. 4, 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass der junge Volljährige an die Stelle des Personensorgeberechtigten tritt. Umfasst sind dabei in erster Linie pädagogische und therapeutische Angebote. Da insbesondere auch die §§ 39, 40 SGB VIII mit aufgeführt werden, ist also durchaus auch denkbar, dass junge Asylbewerber über diesen Weg Unterhaltsleistungen sowie eine Krankenhilfe erhalten könnten. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass bei der Auswahl der Hilfeleistungen der Verselbstständigungsprozess des Volljährigen im Vordergrund stehen muss.475 Die Leistungen müssen daher dieses Ziel verfolgen, da sie ansonsten nicht notwendig im Sinne von § 41 Abs. 1 SGB VIII sind. Dabei dürften Unterhalt und Krankenhilfe im Zweifel ausscheiden, da Asylbewerbern gemäß §§ 3, 4 AsylbLG bereits Leistungen zu diesem Zweck erhalten. Denkbar wären im Ergebnis eher therapeutische Leistungen mit Blick auf mögliche psychische Erkrankungen aufgrund traumatischer Erlebnisse im Rahmen der Flucht aus dem Herkunftsland. Aus materieller Sicht dürften Hilfeleistungen nach § 41 SGB VIII somit für Asylbewerber eher uninteressant sein und keinen Pull-Faktor darstellen. Dass die Vorschrift in der Praxis im Zusammenhang mit Migrations- bzw. Asylfragen noch nicht stark beachtet wurde, zeigt sich auch an der (bislang) wenig vorhandenen Rechtsprechung zu diesem Thema.

C. Folgen einer Täuschung des Jugendamts über das Alter Bereits festgestellt wurde, dass im deutschen Ausländer- und Sozialsystem zahlreiche Anreize für volljährige Asylsuchende und Flüchtlinge bestehen, sich als minderjährig auszugeben. Es stellt sich dabei die Frage, ob der Staat – neben einer sorgfältigen Prüfung der Leistungsberechtigung – wirksame Abwehrmechanismen hat, um einer Täuschung über die eigene Volljährigkeit zur Leistungserschleichung entgegenzuwirken. Solche Abwehrmechanismen können insbesondere im Fall einer ernstzunehmenden schadensrechtlichen und strafrechtlichen Verfolgung von Missbrauchsfällen liegen.

475 Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 41 SGB VIII Rn. 23; von Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 41 SGB VIII Rn. 24.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

I. Erstattungspflicht des volljährigen Ausländers In Betracht kommt insbesondere eine Erstattungspflicht des volljährigen Ausländers, der sich gegenüber dem Jugendamt erfolgreich als minderjährig ausgegeben hat. Hat ein tatsächlich volljähriger Ausländer zu Unrecht aus der Jugendhilfe erhalten, besteht grundsätzlich ein Erstattungsanspruch des Rechtsträger des Jugendamts gegen diesen nach § 50 Abs. 1 SGB X (vgl. S. 140).476 Der Ausländer hat danach alle empfangenen Leistungen herauszugeben, die zu Unrecht erbracht worden sind. Auch Sach- und Dienstleistungen sind gemäß § 50 Abs. 1 S. 2 SGB X zu erstatten. Falls Rückübertragung des Eigentums möglich ist, ist diese grundsätzlich ausreichend, sodass dann kein Wertersatz zu leisten ist.477 Ein Zinsanspruch besteht mangels ausdrücklicher Regelung allerdings nicht.478 Problematisch ist dabei, dass § 50 SGB X kaum sanktionierend wirkt. Der volljährige Ausländer hat nur tatsächlich empfangene Leistungen zu erstatten. Täuschungen bei der Altersangabe werden aber regelmäßig nur im Rahmen der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII erkannt. Zu diesem Zeitpunkt hat der Betroffene höchstens geringe Leistungen im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme erhalten. Wurde der volljährige Ausländer nach der Altersfeststellung regulär nach § 42 SGB VIII in Obhut genommen, wird kaum ein Anlass bestehen, das Alter nochmals zu überprüfen. Er hat dann kaum etwas zu befürchten. Die Erstattungspflicht nach § 50 SGB X ist daher ein stumpfes Schwert des Staates, um volljährige Ausländer davon abzuhalten, sich als minderjährig auszugeben. II. Strafbarkeit des volljährigen Ausländers Volljährige Asylsuchende bzw. Flüchtlinge können sich allerdings strafbar machen, wenn sie gegenüber dem Jugendamt Minderjährigkeit vortäuschen, um dadurch Sozialleistungen zu erhalten, auf die sie keinen Anspruch haben. 1. Leistungsbetrug nach § 263 Abs. 1 StGB In Betracht kommt dann regelmäßig eine Strafbarkeit wegen Leistungsbetrugs nach § 263 Abs. 1 StGB. Denn der volljährige Ausländer täuscht den zuständigen Mitarbeiter des Jugendamts über leistungserhebliche Tatsachen, wenn er behauptet, 476

So auch Grünenwald, ZJK 2019, 296, 299. Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB X, 2. Aufl. 2017, § 50 SGB X Rn. 108 ff; Schütze, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 50 SGB X Rn. 29; Steinwedel, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 50 SGB X (Stand: 112. EL. 2020) Rn. 24. 478 Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB X, 2. Aufl. 2017, § 50 SGB X Rn. 111; Schütze, in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 50 SGB X Rn. 29. 477

§ 3 Rechtliche Folgefragen der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII

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minderjährig zu sein. Diese Täuschung führt dann kausal zu einer Vermögensverfügung in Form der Inobhutnahme und der damit zusammenhängenden Leistungen, die beim Leistungsträger des Jugendamts einen Vermögensschaden verursacht.479 Steht die Täuschung des Jugendamts erst einmal fest, dürfte es der Staatsanwaltschaft auch nicht schwer fallen, dem Betroffenen eine Bereicherungsabsicht nachzuweisen. Der Ausländer wird regelmäßig selbst wissen, dass er bereits volljährig ist. Weitere Straftatbestände werden allerdings im Regelfall nicht verwirklicht. Es stellt sich daher die Frage, ob die Schaffung einer spezielleren Strafnorm angebracht wäre, um volljährige Ausländer im Sinne einer Signalwirkung vor einer Täuschung des Jugendamts abzuschrecken. Durch die Betrugsstrafbarkeit besteht jedenfalls keine unmittelbare Strafbarkeitslücke. Festgestellt wurde allerdings, dass missbräuchliche Antragsstellungen regelmäßig nur im Rahmen der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII auffallen. Zu diesem Zeitpunkt wird in einigen Fällen noch kein Vermögensschaden realisiert sein, sodass dann eine fakultativ gemilderte Strafbarkeit wegen versuchtem Betruges nach §§ 263, 22, 23 Abs. 1 StGB in Betracht kommt. Insofern könnte es sinnvoll sein, den Leistungsbetrug als Unternehmensdelikt zu gestalten, sodass ein entsprechender Straftatbestand bereits mit der bewusst falschen Angabe der Minderjährigkeit vollendet wäre. Dann wäre jedenfalls die fakultative Strafmilderung nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB ausgeschlossen.480 Jugendämter könnten hierauf bei der Antragsstellung zur vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII hinweisen, um volljährige Ausländer vor Falschangaben abzuhalten. Dabei könnte sich der Gesetzgeber beispielsweise an § 42 StAG orientieren, wonach sich strafbar macht, wer unrichtige oder unvollständige Angaben zu wesentlichen Voraussetzungen der Einbürgerung macht oder benutzt, um für sich oder einen anderen eine Einbürgerung zu erschleichen. 2. Rechtsfolgen einer Verurteilung Diese Überlegungen führen zu der Frage, inwiefern die Drohung mit einer harten Strafverfolgung volljährige Ausländer tatsächlich vor Leistungsmissbrauch abschreckt. Asylsuchende und Flüchtlinge sind ohnehin überwiegend mittellos und daher kaum in der Lage, Geldstrafen zu zahlen. In der Folge wären die Gerichte verpflichtet, Ersatzfreiheitsstrafen zu verhängen. Das kann einerseits als besonders abschreckend gesehen werden, andererseits kommen Asylsuchende und Flüchtlinge dadurch verstärkt mit (organisierter) Kriminalität in Kontakt. Das schärfste Sanktionsmittel für volljährige Ausländer dürfte eine Ausweisung nach § 53 AufenthG darstellen, die sich als Folge einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat ergeben kann. Es bestehen allerdings hohe Hürden für eine solche Ausweisung. Gem. § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, der die öf479 Vgl. zu den Voraussetzungen eines Leistungsbetrugs Wieser, in: Adolph, Kommentar zum SGB II, SGB XII, AsylbLG, Kap. 9 § 63 Anhang II (Stand: 68. EL 2021) Rn. 4 ff. 480 Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 11 StGB Rn. 44.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

fentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Eine Ausweisung setzt also eine umfassende Interessenabwägung zwischen Ausweisungsinteresse des Staates und Bleibeinteresse des Ausländers voraus.481 Ein Ausweisungsinteresse wiegt nach § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG beispielsweise besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer Straftaten nach § 263 StGB zu Lasten eines Leistungsträgers oder Sozialversicherungsträgers nach dem Sozialgesetzbuch rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Erfasst werden hiervon auch volljährige Ausländer, die sich als unbegleitete Minderjährige ausgegeben und zu Unrecht Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch erhalten haben und deswegen nach § 263 StGB verurteilt worden sind.482 Das Vorliegen eines besonders schweren Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 AufenthG führt aber noch nicht zwingend zu einer Ausweisung, sondern ist lediglich entsprechend gewichtig bei der Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen.483 Problematisch ist, dass § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG in dieser Konstellation nur in seltenen Fällen einschlägig sein wird. Es ist unwahrscheinlich, dass volljährige Ausländer bei einem erstmaligen Betrug nach § 263 StGB zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt werden. Dies dürfte nur bei einschlägig vorbestraften Tätern vorkommen, denn der Strafrahmen sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor. Hinzu kommt, dass die Täuschung – wie bereits erwähnt – häufig nur bei der Altersfeststellung aufgedeckt wird, wenn meist noch keine Leistungen erhalten wurden und daher nur ein versuchter Betrug vorliegt. Zudem sind sich die Gerichte bei der Strafzumessung der Gefahr einer Ausweisung für den Ausländer im Falle der Verurteilung von einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr regelmäßig bewusst und werden im Zweifel noch einen Warnschuss gewähren. Liegt ein besonders schweres Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 AufenthG aber nicht vor, dürfte es äußerst schwierig sein, die Abwägung mit dem Bleibeinteresse des Ausländers zu dessen Lasten zu entscheiden. Denn der Gesetzgeber hat mit dem Katalog in § 54 AufenthG insbesondere mit Blick auf Straftaten einen Maßstab zur Gewichtung des Ausweiseinteresses vorgegeben. Ein einmaliger Leistungsbetrug, der nicht unter § 54 AufenthG fällt, dürfte nur in Ausnahmefällen ein überwiegendes Ausweiseinteresse begründen. 481 Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 79; Cziersky-Reis, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 53 AufenthG Rn. 20. 482 Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 54 AufenthG Rn. 22. 483 BT-Drs. 18/4097 v. 25. 02. 2015, S. 50; Cziersky-Reis, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 54 AufenthG Rn. 1; Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 4.

§ 4 Rechtsvergleichende Betrachtung zum Jugendstrafrecht

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Hinzu kommt, dass ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist oder den Flüchtlingsstatus erhalten hat, gem. § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden kann, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. In Betracht kommen hier insbesondere eine Verurteilung wegen Vergewaltigung, Drogenhandels, versuchten Mords, schweren Raubs oder schwerer Körperverletzung.484 Gleiches gilt nach § 53 Abs. 4 AufenthG für Ausländer, die bislang nur einen Asylantrag gestellt haben, sofern das Asylverfahren nicht bereits unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgeschlossen wurde. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Ausweisung eines volljährigen Ausländers, der sich gegenüber dem Jugendamt als minderjährig ausgibt, nur in seltenen Fällen erfolgen wird, beispielsweise wenn der Betroffene noch weitere, bedeutend schwerere Straftaten begangen hat. Ein Ausländer, der lediglich über sein Alter täuscht und ansonsten nicht weiter straffällig geworden ist, hat damit neben einer Geldstrafe oder einer Ersatzfreiheitsstrafe, die sich jeweils in Grenzen halten werden, nicht viel zu befürchten.

§ 4 Rechtsvergleichende Betrachtung zum Jugendstrafrecht Das Alter von Personen spielt allerdings nicht nur im Asyl- und Aufenthaltsrecht eine wichtige Rolle. Im Strafrecht ist das Alter des Beschuldigten für die Frage der Strafmündigkeit des Täters und die Anwendbarkeit des Jugendstrafrechts maßgeblich. Diese Regelungen könnten auch für das Verfahren der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII relevant sein. Im Folgenden soll insbesondere der Umstand beleuchtet werden, dass auch Volljährige nach dem Willen des Gesetzgebers unter bestimmten Voraussetzungen wie Jugendliche behandelt werden sollen. Möglicherweise ließe sich dieser Gedanke auf die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe übertragen.

484 Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 98; vgl. auch Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 116.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

A. Strafmündigkeit und Jugendstrafrecht Nach § 19 StGB gilt, dass Personen unter 14 Jahren im Zeitpunkt der Tatbegehung nicht schuldfähig sind. Es handelt sich dabei um eine unwiderlegliche Vermutung, die gleichzeitig einen materiellrechtlichen Schuldausschließungsgrund als auch ein Prozesshindernis darstellt.485 Daraus folgt, dass bereits die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens unzulässig ist. Hat die Staatsanwaltschaft dennoch ein solches Verfahren eingeleitet, hat sie es nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen.486 Der Grund für die Strafunmündigkeit von Minderjährigen unter 14 Jahren ist der Gedanke des Gesetzgebers, dass dieser Altersgruppe regelmäßig die Einsichtsreife fehlt und sie damit auch nicht zu der erforderlichen Handlungssteuerung fähig ist.487 Der Gesetzgeber hat sich trotz der grundsätzlich individuell zu bestimmenden Einsichtsreife für eine starre Altersgrenze in Bezug auf die Strafmündigkeit entschieden. Unabhängig davon, wie einsichtsreif ein 13-jähriges Kind ist, ist es strafunmündig. Dies weist eine gewisse Parallele zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII auf. Auch hier hat sich der Gesetzgeber für eine starre Altersgrenze entschieden, obwohl der aktuelle Stand der Forschung lediglich eine ungefähre Altersschätzung zulässt. Das Jugendstrafrecht kennt allerdings noch weitere Abstufungen, sodass die Frage nach dem Alter des Betroffen – anders als bei der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII – nicht von einem Alles-oder-Nichts-Prinzip geprägt ist. Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) sieht weitere Besonderheiten bei Jugendlichen und Heranwachsenden vor. Als Jugendlicher gilt im Jugendstrafrecht ein Minderjähriger zwischen 14 und 18 Jahren (§ 1 Abs. 2 JGG). Heranwachsender ist gemäß § 1 Abs. 2 JGG, wer im Zeitpunkt der Tat bereits 18 Jahre, aber noch nicht 21 Jahre alt ist. Jugendliche sind nach § 3 JGG „relativ“ strafmündig. Das bedeutet, dass im konkreten Einzelfall für eine Strafbarkeit positiv festgestellt werden muss, dass der Betroffene zur Zeit der Tat schuldfähig war.488 Dies richtet sich gemäß § 3 JGG danach, ob ein Jugendlicher zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Nach seiner geistigen Entwicklung ist der Jugendliche reif, wenn er zur rationalen Erfassung der Strafwürdigkeit seines Verhaltens in der Lage ist. Zur sittlichen Reife gehört, dass der Jugendliche dieses Wissen innerlich richtig verar-

485

Streng, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, § 19 StGB Rn. 5. Heintschel-Heinegg, in: Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, § 19 StGB Rn. 19; Streng, in: MüKoStGB, 3. Aufl. 2017, § 19 StGB Rn. 11. 487 Streng, in: MüKoStGB, 3. Aufl. 2017, § 19 StGB Rn. 1; vgl. auch Schild, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017, § 19 Rn. 1. 488 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 3 JGG Rn. 20; Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, § 3 JGG Rn. 11; Laue, in: MüKoStGB, 3. Aufl. 2017, § 3 JGG Rn. 1. 486

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beitet hat, so dass er den Ernst der sittlichen Forderung verstehen kann.489 Die richterliche Beurteilung erfolgt auf Grundlage der Feststellungen zu den persönlichen Entwicklungen des Jugendlichen, seiner Persönlichkeit zur Tatzeit und den Umständen der konkreten Tat.490 Wird festgestellt, dass der Jugendliche nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wird wie beim Minderjährigen unter 14 Jahren das Verfahren eingestellt.491 Aber auch im Fall, dass der Jugendliche relativ strafmündig ist, gelten für ihn strafrechtliche Besonderheiten. Die Hauptstrafen des allgemeinen Strafrechts finden keine Anwendung. Stattdessen sieht das Jugendstrafrecht in § 5 JGG ein eigenes Rechtsfolgensystem vor.492 Primäre Rechtsfolge einer Verurteilung im Jugendstrafrecht ist nach § 5 Abs. 1 JGG die Anordnung einer Erziehungsmaßregel. Anordnung und Auswahl von Erziehungsmaßregeln, die eine erneute Straffälligkeit des Täters verhindern sollen, stehen im Ermessen des Gerichts.493 Eine Ahndung der Straftat mittels Zuchtmittel494 oder einer Jugendstrafe kommt nach der Systematik von § 5 Abs. 2 JGG nur subsidiär in Betracht. Zuchtmittel können nach § 13 JGG angeordnet werden, wenn dem Jugendlichen bewusst gemacht werden muss, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat. Eine Jugendstrafe nach § 17 JGG kommt dagegen nur in Betracht, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld eine Strafe erforderlich ist. § 18 JGG sieht ein eigenes Strafmaß für die Verhängung einer Jugendstrafe vor. Das Mindestmaß beträgt danach sechs Monate, das Höchstmaß fünf Jahre bzw. bei einem Höchstmaß von mehr als zehn Jahren im allgemeinen Strafrecht ein Höchstmaß von zehn Jahren. Jugendliche, deren Taten mit einer Jugendstrafe geahndet werden, werden folglich milder bestraft als Erwachsene. Es gilt das Verbot der Schlechterstellung gegenüber Erwachsenen.495. Im Übrigen findet auch eine Ahndung von Handlungen nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) nur unter bestimmten Voraussetzungen Anwendung auf Jugendliche. Gemäß § 12 Abs. 1 S. 1 OWiG handelt nicht vorwerfbar, wer bei Be489 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 3 JGG Rn. 12 f.; Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, § 3 JGG Rn. 17 ff.; Laue, in: MüKoStGB, 3. Aufl. 2017, § 3 JGG Rn. 9. 490 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 3 JGG Rn. 15. 491 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 3 JGG Rn. 31; Laue, in: MüKoStGB, 3. Aufl. 2017, § 3 JGG Rn. 31. 492 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 5 JGG Rn. 3; Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, § 5 JGG Rn. 10. 493 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 5 JGG Rn. 6; Laue, in: MüKoStGB, 3. Aufl. 2017, § 5 JGG Rn. 13 f. 494 Vgl. § 13 Abs. 2 JGG: Verwarnung, Erteilung von Auflagen oder Jugendarrest. 495 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 18 JGG Rn. 4; Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, § 18 JGG Rn. 8.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

gehung einer Handlung noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Hier gilt damit parallel zum Strafrecht, dass Kinder nicht strafmündig sind. Für Jugendliche bestimmt § 12 Abs. 1 S. 2 OWiG, dass diese nur unter den Voraussetzungen des § 3 S. 1 JGG vorwerfbar handeln. Jugendliche müssen also auch im Ordnungswidrigkeitenrecht zur Zeit der Tat nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug sein, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.496 Der Gesetzgeber macht damit deutlich, dass auch Jugendliche ihrer geistigen Reife nach nicht mit Erwachsenen gleichzusetzen sind und einer besonderen Behandlung bedürfen. Dies stellt eine Parallele zu dem rechtlich anerkannten Grundsatz, dass Minderjährige, also Personen unter 18 Jahren besonders schutzbedürftig sind. Eine Besonderheit des Jugendstrafrechts ist, dass dort wesentliche Vorschriften unter bestimmten Voraussetzungen auch auf Heranwachsende, also grundsätzlich volljährige Personen, anwendbar sind. Nach § 105 Abs. 1 JGG gelten §§ 4 bis 32 JGG – mit Ausnahme der §§ 9 Nr. 2, 12 JGG – 497 entsprechend für Heranwachsende, sofern entweder die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt. Im Übrigen gilt für Heranwachsende nach § 105 Abs. 3 JGG, dass das Höchstmaß der Jugendstrafe zehn Jahre beträgt, beziehungsweise bei besonderer Schwere der Schuld in einem Morddelikt 15 Jahre. Grund der Ausdehnung des strafrechtlichen Jugendschutzes auf Heranwachsende ist der Gedanke des Gesetzgebers, dass volljährige Straftäter Jugendlichen gleichstehen können und daher gegebenenfalls strafrechtlich gleich zu behandeln sind.498 Dies basiert wiederum auf der Erkenntnis, dass es sich bei dem Eintritt der Volljährigkeit um eine rein formale Schwelle handelt, Personen in diesem Zeitpunkt aber nicht den gleichen Reife- und Erkenntnisgrad aufweisen. Der Gesetzgeber hat hier eine gewisse Übergangsphase bis zum Alter von 21 Jahren anerkannt. Denn die psychische und soziale Entwicklung des Menschen ist nicht zwingend mit der biologischen und physischen Reife gleichlaufend.499 Dabei ergibt sich nach der herrschenden Meinung500 aus einer teleologischen Auslegung von § 105 JGG, dass im Normalfall und bei Zweifeln Jugendstrafrecht 496 Bohnert/Krenberger/Krumm, in: Krenberger/Krumm, OWiG, 6. Aufl. 2020, § 12 Rn. 4; Coen, in: Graf, BeckOK OWiG, § 12 OWiG Rn. 11. 497 Erziehungsmaßregelung kann bei Heranwachsenden daher nicht die Anordnung, Hilfe zur Erziehung im Sinne von § 12 JGG in Anspruch zu nehmen, sein. 498 Laue, in: MüKoStGB, 3. Aufl. 2017, § 105 JGG Rn. 1. 499 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 105 JGG Rn. 8. 500 BGH, Beschl. v. 26. 06. 1990 – 1 StR 303/90, juris-Rn. 2, StV 1990, 508; BGH, Urt. v. 23. 10. 1958 – 4 StR 327/58, NJW 1959, 159; BGH, Beschl. v. 03. 05. 1983 – 5 StR 246/83, StV 1983, 377, 378; Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 105 JGG Rn. 9; Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, § 105 JGG Rn. 7.

§ 4 Rechtsvergleichende Betrachtung zum Jugendstrafrecht

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anzuwenden ist. Es handelt sich bei der Gleichstellung von jungen Volljährigen mit Jugendlichen im Strafrecht nicht um eine Ausnahmeregelung, die nur unter ganz besonderen Umständen zum Tragen kommt. Anerkannt ist dabei auch, dass insbesondere Migrationsbedingungen ein starker Faktor für die Anwendung von Jugendstrafrecht darstellen. Nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs501 soll beispielsweise der Tatsache, dass sich ein Angeklagter nach seiner Einreise in Deutschland in einer Situation weitgehender sozialer Entwurzelung befand, erhöhte Bedeutung zukommen. In der Literatur502 wird dazu auch hervorgehoben, dass gerade bei Heranwachsenden, die unbegleitet nach Deutschland einreisen, die Herausbildung einer psychosozial gereiften Persönlichkeit auch noch nach der Einwanderung erschwert wird, beispielsweise durch Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften. Das Ordnungswidrigkeitenrecht sieht dagegen keine Sonderregelung für Heranwachsende im Sinne von § 1 Abs. 2 JGG vor. Diese sind damit materiellrechtlich wie Erwachsene zu behandeln.503 Lediglich in prozessualer Hinsicht werden Heranwachsende nach § 98 Abs. 4 OWiG bei der Vollstreckung wie Jugendliche behandelt. Dies hat insbesondere zur Folge, dass sie anstelle einer Geldbuße zu Arbeitsleistungen und zur Schadenswiedergutmachung verpflichtet werden können.

B. Übertragung auf das Verfahren der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII Den aufgeführten Besonderheiten des Jugendstrafrechts kommt auch eine Bedeutung für die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII zu. I. Bindungswirkung des Altersgutachtens im Strafprozess Zunächst ist festzuhalten, dass volljährige Ausländer ein Interesse haben könnten, aufgrund der milderen Bestrafung von Jugendlichen als minderjährig eingestuft zu werden. Ein Gericht ist im Strafprozess zwar nicht an das Ergebnis eines Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII gebunden, sondern sind aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatz grundsätzlich verpflichtet, sich ein eigenes Bild vom Alter des Beschuldigten zu machen.504 Die Gerichte haben insofern die Möglichkeit, auf Grundlage von § 81a StPO ein Gutachten über das Alter des Betroffenen als

501

BGH, Beschl. v. 26. 06. 1990 – 1 StR 303/90, juris-Rn. 2, StV 1990, 508. Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, § 105 JGG Rn. 34. 503 Coen, in: Graf, BeckOK OWiG, § 12 OWiG Rn. 19. 504 KG Berlin, Beschl. v. 13. 11. 2019 – 3 UF 107/19, FamRZ 2020, 842, 845; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 6.4. 502

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

verfahrenserhebliche Tatsache einzuholen.505 Dennoch ist denkbar, dass sich ein Gericht an einem bereits eingeholten Altersgutachten gemäß § 42f Abs. 2 SGB VIII orientieren wird. Wenn in diesem zugunsten des Betroffenen dessen Minderjährigkeit festgestellt wurde, wäre dies eine prozessual grundsätzlich unproblematische und unter Berücksichtigung von derzeit überlasteten Strafverfolgungsbehörden und Gerichten auch effiziente Vorgehensweise. Praktisch ist aber unwahrscheinlich, dass volljährige Ausländer die Vorteile der Minderjährigkeit in einem Strafverfahren konkret vor Augen haben, wenn sie die Inobhutnahme bei einem Jugendamt begehren. Hieraus dürften sich also kaum Missbrauchsanreize ableiten lassen. II. Ausweitung der Inobhutnahme auf Heranwachsende Für das behördliche Verfahren der Altersfeststellung ist aus rechtsvergleichender Sicht besonders der Umstand relevant, dass der Gesetzgeber im Strafverfahren nicht lediglich zwischen minderjährig und volljährig unterscheidet, sondern auch eine besondere Schutzbedürftigkeit von Heranwachsenden bis zum Alter von 21 Jahren anerkannt hat. Auf Heranwachsende kann – wie zuvor ausgeführt – Jugendstrafrecht angewendet werden, wenn eine Berücksichtigung der Umweltbedingungen ergibt, dass der Betroffene zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand. Nach hier vertretener Auffassung könnte daraus eine Parallele zur Inobhutnahme von unbegleiteten Ausländern gezogen werden. Zumindest diejenigen Heranwachsenden, die im Sinne des § 105 JGG nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung einem Jugendlichen gleichstehen, können aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit ebenfalls der Inobhutnahme durch ein Jugendamt bedürfen. Denn die Inobhutnahme bezweckt in erster Linie die Sicherung des Kindeswohls und damit die Sicherstellung der Grundbedürfnisse von Personen, die hierzu aufgrund fehlender eigener Reife noch nicht selbstständig in der Lage sind.506 Nimmt man Heranwachsende unter entsprechender Anwendung der Voraussetzungen des § 105 JGG in den Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 42 ff. SGB VIII auf, würde man den psychologischen Faktoren bei der Frage nach einem Anspruch auf Inobhutnahme mehr Gewicht verleihen, was auch dem Zweck der Inobhutnahme entsprechen würde. Zwar könnte man einer Ausdehnung der Inobhutnahme auf Heranwachsende im Sinne des § 105 JGG entgegenhalten, dass dies aus Kindeswohlgesichtspunkten nicht geboten ist. Allerdings würde dieses Argument einen Zirkelschluss darstellen. Denn auch das Kindeswohl knüpft an die strenge Altersgrenze von 18 Jahren an, was 505 Goers, in: Graf, BeckOK StPO, § 81a StPO Rn. 3; Trück, in: MüKo StPO, 1. Aufl. 2014, § 81a StPO Rn. 16. 506 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 21; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 1.

§ 4 Rechtsvergleichende Betrachtung zum Jugendstrafrecht

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in gleicher Weise wie die Minderjährigkeit als Voraussetzung der Inobhutnahme nach §§ 42 ff. SGB VIII hinterfragt werden könnte. Auch das Kindeswohlprinzip beruht auf dem Gedanken, dass Minderjährige noch nicht die erforderliche geistige und soziale Reife haben, um die volle, selbstständige Verantwortung über ihr Leben zu übernehmen. Gedanke der Ausweitung der Inobhutnahme auf Heranwachsende unter den Voraussetzungen des § 105 JGG ist gerade, dass auch diese Personengruppe hierzu nicht ausnahmslos in der Lage ist und daher des gleichen Schutzes bedarf. Teilweise wird politisch sogar gefordert, Leistungen der Jugendhilfe bei Bedarf für junge Menschen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres zu gewähren507. Dies dürfte allerdings eine überschießende Forderung sein, da bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahr die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Erwachsenen abgeschlossen sein dürfte. Weiterhin könnte man als Gegenargument gegen eine Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs der Inobhutnahme im Sinne des § 105 JGG anführen, dass sich die besondere Behandlung von Heranwachsenden im Strafrecht überwiegend aus kriminologischen Gesichtspunkten ergibt. Junge Erwachsene sollen davor bewahrt werden, aufgrund von Verurteilungen sozial ausgegrenzt und stigmatisiert zu werden.508 Allerdings ist dem entgegenzuhalten, dass diese kriminologische Erwägung nur daraus folgt, dass die Persönlichkeitswerdung von Heranwachsenden noch nicht abgeschlossen ist und sie noch leicht in ihrer sozialen Rolle prägbar sind. Dies ist besonders im Fall von unbegleiteten, jungen erwachsenen Ausländern bedeutsam. Gerade bei einer Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sind sie verschiedenen Kulturen ausgeliefert und finden sich gegebenenfalls nur schwer zurecht.509 Ein Abrutschen in die Kriminalität wird dadurch erleichtert. Gleichzeitig würde mit der hier vorgeschlagenen Ausweitung des persönlichen Anwendungsbereichs der Inobhutnahme auf Heranwachsende unter den Voraussetzungen des § 105 JGG die Gefahr einer rechtswidrigen Ablehnung der Inobhutnahme aufgrund einer fehlerhaften Altersfeststellung verringert werden. Das Jugendamt könnte bei Personen, die jedenfalls nicht mindestens 21 Jahre alt sind, die Inobhutnahme mit einer Schutzbedürftigkeit aus psychologischer Sicht begründen. Erst ab Schätzung eines Alters von mindestens 21 Jahren müsste der Antrag auf Inobhutnahme ohne Weiteres endgültig abgelehnt werden. Eine Ausweitung des berechtigten Personenkreises nach den §§ 42a ff. SGB VIII auf Heranwachsende im Sinne von § 105 JGG wäre somit zweckmäßig, um die Gefahr zu verringern, zu Unrecht schutzbedürftige Personen abzulehnen. Die Beschränkung auf Ausländer, die in ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung Jugendlichen gleichstehen, wäre nach hier vertretener Auffassung allerdings zwingende Voraussetzung, da ansonsten 507

Vgl. LT Mecklenburg-Vorpommern, Ausschuss-Drs.7/301 v. 07. 05. 2018, Stellungnahme des Flüchtlingsrats Mecklenburg-Vorpommern e.V. v. 03. 05. 2018, S. 16. 508 Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 105 JGG Rn. 8. 509 Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, § 105 JGG Rn. 34.

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Kap. 2: Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer

die zuvor ausgeführten Erwägungen hinsichtlich der besonderen Schutzbedürftigkeit von Heranwachsenden nicht greifen.

§ 5 Stellungnahme zur einfachgesetzlichen Rechtslage und Praxis Als Zwischenergebnis bleibt zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Verfahrens zur behördlichen Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII festzuhalten, dass mit der Einführung der §§ 42a ff. SGB VIII zahlreichen Problemen in der Praxis bei der Versorgung und Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Ausländer abgeholfen wurde. Dies betrifft insbesondere das Verteilungsverfahren nach § 42b SGB VIII. Allerdings ist mit Blick auf das Verfahren zur Altersfeststellung festzustellen, dass viele Rechtsfragen – vermutlich aufgrund der kurzfristigen Behandlung der Thematik im Gesetzgebungsverfahren – noch ungeklärt sind und die konkrete Ausgestaltung von § 42f SGB VIII auch einige neue Probleme für die Praxis geschaffen hat. Das betrifft insbesondere die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale von § 42f Abs. 2 SGB VIII. Nicht eindeutig ist insbesondere, wann ein Zweifelsfall vorliegt, welche Anforderungen an die Einwilligung eines Ausländers in die medizinische Untersuchung zu stellen sind und ob andere Behörden an das Ergebnis der Altersfeststellung des Jugendamts gebunden sind. In Bezug auf die ärztliche Untersuchung geht aus dem Gesetz nicht klar hervor, welche Methoden zur medizinischen Altersfeststellung zulässig sind und ob das Altersgutachten zwingend das Mindestalterskonzept beachten muss, wenn die Volljährigkeit des Ausländers festgestellt werden soll. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass bereits ohne eine Prüfung der Verfassungskonformität von § 42f SGB VIII ein deutlicher Nachbesserungsbedarf von Seiten des Gesetzgebers besteht. In manchen Regelungsbereichen bedeutet dies eine Entschärfung der Vorschriften, in anderen wiederum eine Verschärfung. Insbesondere explizite Regelungen zur Durchsuchungsbefugnis und Datenträgerauswertung könnten in § 42f SGB VIII aufgenommen werden. Notwendig ist stellenweise auch eine Konkretisierung einzelner Voraussetzungen des Verfahrens der Altersbestimmung.

Kapitel 3

Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII Das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII ist hoch umstritten. Es wird rechtspolitisch und verfassungsrechtlich teils scharf kritisiert1, teils vehement verteidigt.2 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Behörden auch in anderen Bereichen der Verwaltung aufgrund gesetzlicher Vorschriften berechtigt und in der Regel sogar verpflichtet sind, die Voraussetzungen für die Gewährung bestimmter Leistungen an Bürger zu überprüfen. Kommt es im Rahmen dieser Überprüfung zu Eingriffen in Grundrechte von Bürgern, hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung seiner Vorschriften allerdings zu beachten, dass diese in verfassungskonformer Weise gerechtfertigt sind. Dies kann nur dann der Fall sein, wenn die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Bestimmtheit gewahrt wurden. Zusätzlich ist erforderlich, dass das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Rechtsstaatsprinzip nicht verletzt werden darf. Die Einführung eines behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung für unbegleitete, minderjährige Ausländer ist aus verschiedenen Gründen auch zweckmäßig. Zum einen hat der Staat zu gewährleisten, dass nur tatsächlich Minderjährige in den Genuss von besonderen Schutzrechten kommen, die speziell für Minderjährige gedacht sind. Nur so können die begrenzten Kapazitäten den tatsächlich Schutzbedürftigen zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig besteht ein finanzielles Interesse des Staatshaushalts, die Kosten für die Inobhutnahme möglichst gering zu halten. Gleichzeitig stellt das behördliche Verfahren zur Altersbestimmung nach § 42f SGB VIII eine staatliche Maßnahme dar, die sich aufgrund ihrer Art, aber auch 1 Anysley-Green, British Dental Journal, 2009, 337; Di Maio, Positionspapier zur Altersfestsetzung bei unbegleiteten minderjährigen in Europa, S. 19 ff.; Eisenberg, Sozialmagazin 2016, 100, 112; Nowotny/Eisenberg/Mohnike, DÄ 2014, A786, A788; Sauer/Nicholson/Neubauer, European Journal of Pediatrics 2016, 299, 303; ZEKO, DÄ 2016, A1726; 117; Deutscher Ärztetag, 2014, Beschlussprotokoll, S. 275, https://www.bundesaerztekammer.de/aerztetag/ aerztetage-der-vorjahre/117-daet-2014-in-duesseldorf/beschlussprotokoll/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 2 AGFAD, Criteria for age estimation in living individuals, S. 2, https://www.medizin.unimuenster.de/en/rechtsmedizin/schmeling/agfad/recommendation.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021; Befurt/Kirchhoff/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2015, 241, 242; Kirchhoff/ Rudolf, NWvZ 2017, 1167; Meier/Schmeling/Loose/Vieth, Rechtsmedizin 2015, 30, 33; Parzeller, Rechtsmedizin 2015, 21, 22; Rudolf, Rechtsmedizin 2016, 526, 532.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

aufgrund ihrer potenziellen Rechtsfolgen in einem grundrechtssensiblen Bereich bewegt. Im Folgenden erfolgt daher eine Untersuchung der Verfassungskonformität von § 42f SGB VIII. Die Untersuchung wird sich im Aufbau an den vom Gesetzgeber in § 42f SGB VIII vorgesehenen zwei Stufen der Altersbestimmung orientieren. Der erste Teil dieses Kapitels wird sich daher mit der Altersbestimmung unmittelbar durch das Jugendamt nach § 42f Abs. 1 SGB VIII befassen, während der zweite Teil die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII behandeln wird. Ein dritter Teil wird sich mit der grundsätzlichen Verfassungskonformität weiterer Maßnahmen zur Altersbestimmung, die nicht in § 42f SGB VIII kodifiziert sind, aber zweckmäßig sein könnten, auseinandersetzen. Dies betrifft namentlich die Zulässigkeit von Genitaluntersuchungen im Rahmen der ärztlichen Untersuchung, die Aufnahme von Durchsuchungsbefugnissen des Jugendamts sowie die Möglichkeit, Datenträger von Ausländern auszulesen.

§ 1 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 1 SGB VIII Nach § 42f Abs. 1 SGB VIII werden dem Jugendamt zwei grundrechtsrelevante Maßnahmen zur Alterseinschätzung ermöglicht: Zum einen die Einsichtnahme in Ausweispapiere des Ausländers, zum anderen die qualifizierte Inaugenscheinnahme des Betroffenen.

A. Einsichtnahme in Ausweispapiere Die Einsichtnahme in die Ausweispapiere stellt die am wenigsten grundrechtsrelevanteste Maßnahme des behördlichen Verfahrens der Altersbestimmung dar. Die Einsichtnahme ist mit einer klassischen Identitätskontrolle vergleichbar und gehört somit zu den typischen behördlichen Mitteln, um die Identität einer Person zu überprüfen. Deutsche im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG sind beispielsweise gemäß § 1 Abs. 1 PAuswG ab 16 Jahren verpflichtet, einen gültigen Ausweis zu besitzen und diesen auf Verlangen einer berechtigten Behörde vorzulegen. Berechtigte Behörden sind gemäß § 2 Abs. 2 PAuswG öffentliche Stellen, die befugt sind, zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben als hoheitliche Maßnahme die Identität von Personen festzustellen. Darunter fallen insbesondere Maßnahmen der Eingriffsverwaltung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder zur Strafverfolgung, wie beispielsweise Identitätskontrollen durch die Polizeibehörden nach den jeweiligen Landesgesetzen.3 Nicht erfasst sind dagegen Behörden, die im Rahmen 3 Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz, 1. Aufl. 2018, § 2 PAuswG Rn. 4; Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 2 PAuswG (Stand: 233. EL 2020) Rn. 2.

§ 1 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 1 SGB VIII

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der Leistungsverwaltung tätig sind. Hier ist ein Identitätsnachweis lediglich Voraussetzung für eine bestimmte Leistungsgewährung, es besteht allerdings keine Ausweispflicht.4 Es muss also im Rahmen der Ausweisvorlage differenziert werden, ob tatsächlich eine Ausweispflicht besteht, deren Verletzung sanktioniert werden kann, oder ob lediglich eine Obliegenheit des Antragsstellers besteht, um eine bestimmte Leistung zu erhalten. Vorliegend ist dies einfach: Bei der Einsichtnahme in die Ausweispapiere nach § 42f Abs. 1 SGB VIII handelt es sich um eine Maßnahme im Rahmen der Leistungsverwaltung. Es besteht somit lediglich seitens des Betroffenen eine Obliegenheit, die Einsichtnahme in Ausweispapiere – sofern vorhanden – zu ermöglichen, wenn er die Feststellung seiner Minderjährigkeit begehrt, um vorläufig in Obhut genommen werden zu können. Fraglich ist, ob das Verlangen des Jugendamts gegenüber dem Ausländer, sich die Ausweispapiere vorzeigen zu lassen und in diese Einsicht zu nehmen, als Maßnahme im Rahmen des Verfahrens der Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 SGB VIII einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen darstellt. Dieses stellt eine Ausgestaltung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar, welches wiederum als Produkt richterlicher Rechtsfortbildung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet wird.5 I. Berührung des Schutzbereichs des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung umfasst ganz allgemein das Recht des Einzelnen, selbst zu entscheiden, wann und wem gegenüber er zu welchem Zweck Lebenssachverhalte und insbesondere personenbezogene Daten offenbart.6 Der Einzelne soll selbst über Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmten können.7 Unter den Begriff der persönlichen Daten fallen dabei alle Daten zu persönlichen und sachlichen Verhältnissen einer bestimmten Person.8 4 BT-Drs. 16/10489 v. 07. 10. 2008, S. 32; Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz, 1. Aufl. 2018, § 2 PAuswG Rn. 4. 5 BVerfG, Beschl. v. 13. 01. 1981 – 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431, 1432 f.; BVerfG, Beschl. v. 03. 06. 1980 – 1 BvR 185/77, NJW 1980, 2070, 2071; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 GG Rn. 69 f; Horn, in: Stern/Becker, Grundrechtekommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 2 GG Rn. 35; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 36; Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 60. 6 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 GG Rn. 79; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 42; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 2 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 105; BVerfG, Urt. v. 19. 09. 2018 – 2 BvF 1/ 15, 2/15, NVwZ 2018, 1703. 7 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1983 – 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83, NJW 1984, 419, 422; Antoni, in: Hömig/Wolff, Grundgesetz, 12. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 14; Jarass, in: Jarass/

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Bei den auf Ausweispapieren angegebenen Daten handelt es sich um personenbezogene Daten wie Name, Geburtsdatum und ähnliche Angaben. Daher werden durch die Einsichtnahme in die Ausweispapiere durch das Jugendamt persönliche Daten des Betroffenen offenbart. Der sachliche Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wird durch die behördliche Maßnahme berührt. Im Übrigen handelt es sich bei dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht um eine Deutschengrundrecht, sodass sich jede natürliche Person darauf berufen kann. Folglich fallen auch unbegleitete minderjährige Ausländer in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.9 II. Eingriff in den Schutzbereich Nicht eindeutig ist allerdings, ob auch ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorliegt. Denn es handelt sich um eine staatliche Maßnahme im Bereich der Leistungsverwaltung. Es besteht kein unmittelbarer Zwang für den Betroffenen, seine Ausweispapiere vorzulegen. Die Vorlage ist lediglich zur Feststellung der Minderjährigkeit erforderlich, um die vom Betroffenen begehrte vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII durchführen zu können. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff muss allerdings ein hoheitlicher Rechtsakt vorliegen, der final und unmittelbar den geschützten Bereich eines Grundrechts beeinträchtigt.10 Bei dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung fällt darunter beispielsweise die Verpflichtung, persönliche Daten zu offenbaren.11 Die Einsichtnahme in die Ausweispapiere erfolgt im Rahmen der Altersfeststellung allerdings nicht grundlos und ohne Zusammenhang, sondern ausschließlich, weil der Ausländer seine vorläufige Inobhutnahme durch das Jugendamt begehrt. Die Einsichtnahme dient lediglich der Überprüfung der Minderjährigkeit als Voraussetzung für die vorläufige Inobhutnahme. Es besteht aber kein staatlicher Zwang. Folge der Verweigerung der Ausweisvorlage ist lediglich die Nichtdurchführung der vorläufigen Inobhutnahme. Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Geltung der Grundrechte allerdings nicht an einen bestimmten Eingriffsbegriff gebunden, sodass Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 42; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 2 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 105. 8 BVerfG, Urt. v. 24. 11. 2010 – 1 BvF 2/05, NVwZ 2011, 94, 100; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 43; Murswiek/Rixen, in: Sachs, Art. 2 Rn. 73. 9 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 2 GG Rn. 3; Antoni, in: Hömig/Wolff, Grundgesetz, 12. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 4. 10 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 40; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Vorb. Art. 1 – 19 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 46. 11 Antoni, in: Hömig/Wolff, Grundgesetz, 12. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 14; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 53; Horn, in: Stern/Becker, Grundrechtekommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 2 GG Rn. 50.

§ 1 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 1 SGB VIII

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der Abwehrgehalt von Grundrechten auch bei faktischen und mittelbaren Beeinträchtigungen betroffen sein kann.12 Darunter fällt unter anderem auch der Fall, dass eine Grundrechtsausübung durch eine im Zusammenhang nicht gewährte Leistung mit einem spürbaren Nachteil verbunden wird.13 So verhält es sich auch bei der Einsichtnahme in die Ausweispapiere eines Ausländers, der die vorläufige Inobhutnahme begehrt. Auch wenn er nicht unmittelbar vom Staat gezwungen wird, die Einsichtnahme zu gewähren, ist die Verweigerung mit dem Nachteil verbunden, dass ihm eine vorläufige Inobhutnahme mangels Durchführung eines Verfahrens zur Altersbestimmung nach § 42f SGB VIII versagt werden würde. Aufgrund der fehlenden kindgerechten Betreuung in Gemeinschaftsunterkünften und der weiteren Vorteile sind unbegleitete Minderjährige auf die Inobhutnahme durch das Jugendamt angewiesen, sodass sie im Ergebnis faktisch gezwungen sind, ihre Ausweispapiere offenzulegen. Ein Eingriff ist damit zumindest faktisch gegeben. III. Rechtfertigung der Einsichtnahme in Ausweispapiere Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht vorbehaltslos gewährt, sodass der Eingriff gerechtfertigt sein könnte. Hierzu werden von der Rechtsprechung die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG herangezogen,14 sodass Eingriffe bei der Verletzung der Rechte anderer und aus Gründen der verfassungsmäßigen Ordnung und des Sittengesetzes gerechtfertigt sein können. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts legt das Bundesverfassungsgericht einen wesentlich strengeren Maßstab als bei der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG an.15 Allerdings stellt sich unter einer Gesamtwertung die Einsichtnahme in Ausweispapiere als verhältnismäßig dar. Die Einsichtnahme in die Ausweispapiere dient dem legitimen Ziel, das Alter des Ausländers auf möglichst unkomplizierte Weise herauszufinden, um festzustellen, ob die Minderjährigkeit als Voraussetzung für die Inobhutnahme durch das Jugendamt gegeben ist. Sind Papiere vorhanden, ist die Methode auch geeignet und als mildestes Mittel, insbesondere im Vergleich zur ärztlichen Altersuntersuchung, auch erforderlich. Da Ausweispapiere in der Regel auch nur Auskunft über die oberflächlichen Identifikationsmerkmale einer Person 12 BVerfG, Urt. v. 11. 07. 2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51, 53; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 28. 13 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 28; Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 157; vgl. allgemein zum mittelbaren Grundrechtseingriff: BVerfG, Beschl. v. 26. 06. 2002 – 1 BvR 558/91, 1428/91, NJW 2002, 2621; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 41. 14 BVerfG, Urt. v. 17. 02. 1998 – 1 BvF 1/91, NJW 1998, 1627, 1632; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 2 GG Rn. 58; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 133; Michael/Morlok, Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Rn. 638. 15 Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 2 GG Rn. 52.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

wie Name, Geburtsdatum und Anschrift geben, liegt auch ein verhältnismäßig geringer Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Ausländers vor, dem der Ausländer selber kaum schützenswerte Interessen der Geheimhaltung dieser Informationen entgegenhalten kann. Die Einsichtnahme ist im Ergebnis damit auch angemessen und somit insgesamt verhältnismäßig. Auch wenn die Berechtigung des Jugendamts zur Einsichtnahme in die Ausweispapiere eines Ausländers, der als unbegleiteter Minderjähriger die vorläufige Inobhutnahme begehrt, eine als selbstverständlich erscheinende Maßnahme darstellt, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten stets das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen ist. Aufgrund der geringen Eingriffsintensität ist der Eingriff allerdings ohne Weiteres gerechtfertigt, sodass ein Ausländer durch § 42 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGB VIII nicht in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt wird. Dieses Ergebnis ist wenig überraschend. Begehrt jemand eine Leistung von einer Behörde, muss er dieser grundsätzlich auch die Prüfung ermöglichen, ob die Voraussetzungen der Leistungsgewährung in seiner Person erfüllt sind. Die Vorlage von Ausweispapieren ist dabei ohne Weiteres zumutbar und wesentlicher Bestandteil eines funktionierenden Rechtsstaats.

B. Qualifizierte Inaugenscheinnahme Die qualifizierte Inaugenscheinnahme gemäß § 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGB VIII erfolgt nur hilfsweise, wenn die Einsichtnahme in die Ausweispapiere entweder aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen erfolglos geblieben ist und immer noch keine Gewissheit über das Alter des Betroffenen besteht (vgl. S. 59). Über den Umfang der Maßnahme sagt der Wortlaut von § 42f Abs. 1 SGB VIII wenig aus. Nach der Gesetzesbegründung soll insbesondere ein Gesamteindruck gewürdigt werden, der neben dem äußeren Erscheinungsbild insbesondere die Bewertung der in einem Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand umfassen soll.16 Da Genitaluntersuchungen nach der Gesetzesbegründung ausgeschlossen sein sollen, ist die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach der aktuellen Gesetzesfassung wenig grundrechtssensibel ausgestaltet worden. Es wird in der Gesetzesbegründung außerdem festgehalten, dass die Festsetzung des Alters unter der Achtung der Menschenwürde und der körperlichen Integrität der ausländischen Person zu erfolgen hat.17 Die vage gehaltene Gesetzesbegründung wirft in diesem Kontext dennoch einige verfassungsrechtlich relevante Fragen auf. Insbesondere liegt bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme eine weitaus größere Eingriffsintensität als bei der Vorlage von Ausweispapieren vor. 16 17

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20.

§ 1 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 1 SGB VIII

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I. Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) In Betracht käme ein Eingriff in das Recht der körperlichen Unversehrtheit des Betroffen durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII. Nach dem Wortlaut von § 42f Abs. 1 SGB VIII und der zugehörigen Gesetzesbegründung soll es zwar nicht zu Eingriffen in die körperliche Integrität kommen.18 Allerdings umfasst der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 GG auch die darauf bezogene körperliche Selbstbestimmung.19 Diese könnte durch die stattfindende Wertung des äußerlichen Erscheinungsbildes durch Mitarbeiter des Jugendamts beschränkt werden. Wie genau diese zu erfolgen hat, ist auch in der Gesetzesbegründung nicht näher beschrieben, sodass hier ein großer Ermessensspielraum für die Jugendämter besteht. Denkbar wäre jedenfalls eine körperliche Untersuchung, die je nach Art der Durchführung auch einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten könnte. In der Gesetzesbegründung wird für die Standards der Durchführung der Inaugenscheinnahme auf die Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter verwiesen. Dort findet sich zwar keine detaillierte Beschreibung, wie die Wertung des äußerlichen Erscheinungsbildes erfolgen soll. Allerdings ergibt sich aus Anlage 4 der Handlungsempfehlungen, dass äußere Merkmale wie beispielsweise Stimmlage, Haarwuchs, Körperbehaarung und Falten ausgewertet werden sollen, sodass nicht zwingend eine vollständige Entkleidung notwendig ist, sondern höchstens Oberkörper und Beine zur Auswertung der Behaarung frei gemacht werden müssen.20 Die qualifizierte Inaugenscheinnahme dürfte damit vorwiegend in das seelische und soziale Wohlbefinden des betroffenen Ausländers eingreifen. Dieses steht aber grundsätzlich nicht mehr unter dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG, da die Psyche nur insoweit hiervon geschützt wird, als durch eine staatliche Maßnahme zumindest mittelbar in die Gesundheit biologisch-physisch eingewirkt wird, was beispielsweise bei rein äußerlichen, diagnostischen Maßnahmen abzulehnen ist.21 Bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme fehlt es nach ihrer aktuellen Ausgestaltung somit an der erforderlichen Eingriffsintensität. Gleiches gilt für das psychische Wohlbefinden. Dieses wird nur berührt, wenn der Eingriff zumindest mit körperlichem Schmerz qualitativ ver18

Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. BVerfG, Beschl. v. 23. 03. 2011 – 2 BvR 882/09, NJW 2011, 2113, 2114; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 83; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 2 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 60. 20 Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, 2. Fassung 2017, S. 55. 21 BVerfG, Beschl. v. 25. 07. 1963 – 1 BvR 542/62, NJW 1963, 2368, 2369; Murswiek/ Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 156; vgl. allgemein Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Abs. 2 GG Rn. 193; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 83. 19

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

gleichbar ist.22 Dies ist bei einer qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42f SGB VIII nicht der Fall. Anders könnte dies zu würdigen sein, wenn in diesem Rahmen die nach der Gesetzesbegründung ausgeschlossenen Genitaluntersuchungen zulässig wären (vgl. dazu S. 220 ff.). Im Ergebnis ist festzuhalten, dass durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme, wie sie nach der Gesetzesbegründung zur aktuellen Fassung von § 42f SGB VIII durchgeführt werden soll, der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 GG nicht berührt wird. Insofern bestehen hier keine verfassungsrechtlichen Bedenken. II. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) Die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII könnte in ihrer aktuellen Ausgestaltung allerdings einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit. Art. 1 Abs. 1 GG darstellen. 1. Eingriff in den Schutzbereich Neben dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ein Recht auf einen abgeschirmten Bereich privater Lebensgestaltung und damit einen Schutz vor staatlichem Eindringen in den Privatbereich.23 Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht kein Deutschen-Grundrecht ist, haben auch Ausländer ein Recht auf diesen Schutz des Privatbereichs.24 Werden Ausländer zum Zwecke der Altersfeststellung auf ihr Erscheinungsbild und ihr Verhalten im Rahmen eines persönlichen Gesprächs geprüft, ist der Privatbereich und damit der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundsätzlich betroffen. Dies gilt umso mehr, als nach der Gesetzesbegründung zur Altersfeststellung im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme Auskünfte jeder Art eingeholt werden können sowie Dokumente, Urkunden und Akten beizuziehen sind.25

22 BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 1981 – 1 BvR 612/72, NJW 1981, 1655, 1656; Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 62a; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 83; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 2 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 55; Horn, in: Stern/Becker, Grundrechtekommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 2 GG Rn. 125. 23 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 GG Rn. 71; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 57; Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 69. 24 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 2 GG Rn. 3; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 223. 25 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20.

§ 1 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 1 SGB VIII

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Da diese Maßnahme durch das Jugendamt als staatliche Behörde erfolgt, liegt im Ergebnis staatliches Handeln vor, das zumindest mittelbar durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG von betroffenen Ausländern eingreift. 2. Rechtfertigung Dieser Eingriff könnte allerdings gerechtfertigt sein. Fraglich ist hier, ob der Eingriff verhältnismäßig ist. Im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat das Bundesverfassungsgericht eine besondere Rechtsprechung mit Blick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip entwickelt. Nach der sogenannten Sphärentheorie ist zwischen Eingriffen in der Intimsphäre, der Privatsphäre sowie der Sozialsphäre zu differenzieren. Je nachdem, auf welcher Ebene der Eingriff vorliegt, sind strengere Anforderungen an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu stellen.26 Zu prüfen ist daher, welche Ebene vorliegend betroffen ist. Die Intimsphäre ist grundsätzlich immer dann berührt, wenn der Kernbereich der privaten Lebensführung betroffen ist.27 Aufgrund der Nähe zur Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG ist auf dieser Ebene ein Eingriff durch den Staat meistens nicht zu rechtfertigen. Dies könnte insbesondere bei der Durchführung von Genitaluntersuchungen zu diskutieren sein. Allerdings sind diese nach der Gesetzesbegründung von § 42f Abs. 1 SGB VIII gerade ausgeschlossen, sodass ein Eingriff in die Intimsphäre nach aktueller Gesetzeslage nicht gegeben ist. In Betracht käme allerdings ein Eingriff in die Privatsphäre. Die Privatsphäre umfasst ebenfalls den engeren persönlichen Lebensbereich, grenzt sich von der Intimsphäre allerdings durch einen signifikanten Sozialbezug ab. Dies ermöglicht die rechtliche Regelung von Sachverhalten, die in die Privatsphäre fallen28. Zu beachten ist, dass im Falle eines Eingriffs aufgrund der Privatbezogenheit eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist. Für die Rechtmäßigkeit müssen überwiegende Belange des Gemeinwohls gegeben sein, die im Ergebnis die Beein-

26 BVerfG, Beschl. v. 16. 07. 1969 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707; Lang, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 52; Horn, in: Stern/Becker, Grundrechtekommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 2 GG Rn. 17. 27 BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98 u. 1 BvR 1084/99, NJW 2004, 999, 1002; Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 39; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 130. 28 BVerfG, Beschl. v. 13. 06. 2007 – 1 BvR 1783/05, NJW 2008, 39, 42; Lang, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 41; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 159; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 2 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 36; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 65.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

trächtigung des Geheimhaltungsinteresses erforderlich machen.29 Dies unterscheidet die Privatsphäre von der Sozialsphäre, die sich dadurch auszeichnet, dass sie einen Bereich der privaten Lebensführung betrifft, der ohnehin nicht von der Öffentlichkeit abschirmbar ist und somit nur geringe Anforderungen an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung stellt.30 Vorliegend geht es um die Wertung des äußeren Erscheinungsbildes einer Person sowie die Prüfung des geistigen Entwicklungsstandes im Rahmen eines persönlichen Gesprächs unter Hinzuziehung von Dokumenten, Urkunden und Akten. Nach einer Auffassung ist insbesondere das äußere Erscheinungsbild von der Privatsphäre grundsätzlich umfasst, wobei dabei insbesondere ein Verändern des äußeren Erscheinungsbildes, zum Beispiel das Färben und Abschneiden von Haar- und Barttracht, als Eingriff in die Privatsphäre bejaht wurde.31 Bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme geht es allerdings um eine bloße Betrachtung und äußerliche Wertung des äußeren Erscheinungsbildes. § 42f Abs. 1 SGB VIII ermächtigt das Jugendamt nicht dazu, auf irgendeine Art und Weise auf das Erscheinungsbild Einfluss zu nehmen. Insofern könnte es sich bei der bloßen Inaugenscheinnahme um einen Bereich der privaten Lebensführung handeln, der ohnehin der Öffentlichkeit ohne weiteres zugänglich ist und somit lediglich in die Sozialsphäre fallen würde. Zu bedenken, ist aber, dass die Gesetzesbegründung nur die Genitaluntersuchung von der qualifizierten Inaugenscheinnahme ausnimmt. Denkbar – und vom Wortlaut des § 42f Abs. 1 SGB VIII her auch zulässig – wäre es dagegen, den Betroffenen aufzufordern, sich bis auf die Unterwäsche zu entkleiden. Das wird in der Praxis auch häufig passieren, beispielsweise um die Entwicklung der Körperbehaarung festzustellen. Dies geht grundsätzlich über einen Eingriff in die Sozialsphäre hinaus und betrifft zumindest die Privatsphäre. Denn der freie Oberkörper eines Menschen ist der Öffentlichkeit nicht ohne Weiteres zugänglich. Zudem umfasst die qualifizierte Inaugenscheinnahme auch ein persönliches Gespräch und die Einsichtnahme in verschiedene Dokumente, die in der Gesetzesbegründung nicht näher beispielhaft benannt werden (vgl. S. 64). Da die qualifizierte Inaugenscheinnahme allerdings der Altersschätzung dient, ist davon auszugehen, dass dies insbesondere persönliche Dokumente umfassen soll, die Aussagen über das mutmaßliche Alter des Betroffenen geben können. Durch die Begriffe „Akten“ und „Urkunden“ ist außerdem davon auszugehen, dass dies keine Dokumente sind, die der Öffentlichkeit offensichtlich zugänglich sind. Vielmehr dürfte es sich um solche 29 BVerfG, Beschl. v. 08. 03. 1972 – 2 BvR 28/71, NJW 1972, 1123, 1124; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 159; Horn, in: Stern/ Becker, Grundrechtekommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 2 GG Rn. 104. 30 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 160; Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 43; Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 104. 31 BVerfG, Beschl. v. 14. 02. 1978 – 2 BvR 406/77, NJW 1978, 1149, 1150; BVerfG, Beschl. v. 25. 07. 1972 – I WB 127/72, NJW 1972, 1726, 1727; Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 42.

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Dokumente handeln, die den engen persönlichen Lebensbereich des Betroffenen betreffen und damit der Privatsphäre zuzuordnen sind. Auch der Inhalt des Gesprächs erfasst Themen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Dies bedeutet, dass die qualifizierte Inaugenscheinnahme einen Eingriff in die Privatsphäre darstellt und somit eine vergleichsweise strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist. a) Das legitime Ziel der qualifizierten Inaugenscheinnahme Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit eines jeden staatlichen Eingriffs in ein Grundrecht ist ein legitimes Ziel des Gesetzgebers. Der Zweck eines Gesetzes ist hierzu durch Auslegung zu ermitteln. Maßgeblich ist regelmäßig, wenn auch nicht zwingend, der subjektiv feststellbare Wille des Gesetzgebers.32 Das Verfahren zur Altersfeststellung bezweckt nach der Gesetzesbegründung, spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen zu vermeiden.33 Der Gesetzgeber gibt den Jugendämtern als zuständiger Behörde mit der qualifizierten Inaugenscheinnahme eine weitere, subsidiär zur Einsichtnahme in die Ausweispapiere auszuführende Maßnahme an die Hand, um die Behauptung eines Ausländers, minderjährig zu sein, überprüfen zu können. Die Legitimität dieses Ziels ergibt sich einerseits aus dem Gemeinwohlinteresse, dass nur Personen nach § 42a SGB VIII bzw. § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen werden können, die auch tatsächlich schutzbedürftig und anspruchsberechtigt sind. Gleichzeitig ist der Staat auch verpflichtet, aus Gründen des Kindeswohls dafür zu sorgen, dass die tatsächlichen Minderjährigen vor Übergriffen durch erwachsene Personen geschützt werden. Es handelt sich dabei um einen grundlegenden Schutzgedanken der Inobhutnahme durch das Jugendamt als solche. Dies kann allerdings nur sichergestellt werden, wenn ausschließlich Minderjährige aufgenommen werden. Dazu ist bei Personen mit ungewissem Alter eine Altersfeststellung durchzuführen, die unter anderem mit der qualifizierten Inaugenscheinnahme ausgestaltet wird. Damit ist grundsätzlich ein legitimes Ziel der qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 S.1 Alt. 2 SGB VIII gegeben. b) Geeignetheit der Altersfeststellung durch das Jugendamt Weiterhin ist erforderlich, dass die gesetzgeberische Regelung auch geeignet ist, dieses legitime Ziel zu erreichen. An die Geeignetheit einer gesetzgeberischen Maßnahme sind grundsätzlich geringe Anforderungen zu stellen. Es ist ausreichend,

32

Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 111; Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 20 GG Rn. 149; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 20 GG Rn. 181; Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 50. 33 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

dass die Maßnahme der Zweckerreichung in irgendeiner Weise dienlich ist, wobei die bloße Möglichkeit der Zweckerreichung genügt.34 Im Rahmen von § 42f SGB VIII ist eine begriffliche Differenzierung erforderlich. Denn die amtliche Überschrift des § 42f SGB VIII lautet „behördliches Verfahren zur Altersfeststellung“. Entnimmt man dieser Überschrift, dass der Gesetzgeber im Rahmen von § 42f SGB VIII eine Altersfeststellung bezweckt, so wäre nur die Einsicht in Ausweispapiere hierzu geeignet. Denn die qualifizierte Inaugenscheinnahme – wie auch die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII – ermöglicht lediglich eine Altersschätzung. Ein konkretes Alter des Betroffenen kann nach dem aktuellen Stand der Forschung nicht, insbesondere nicht durch eine Inaugenscheinnahme, festgestellt werden.35 Vielmehr kann das Jugendamt lediglich schätzen, ob der Betroffene noch minderjährig ist. Eine Zweckerreichung durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme kann folglich nur festgestellt werden, wenn eine Altersschätzung bezweckt werden soll. Denn die qualifizierte Inaugenscheinnahme ermöglicht zumindest eine ungefähre Altersschätzung. Das Ziel, das Alter des Betroffenen möglichst genau festzustellen, kann zwar aufgrund der Ungenauigkeit und der daraus resultierenden Fehlerquote nicht immer erreicht werden. Die Wahrscheinlichkeit, volljährige Personen von der Inobhutnahme durch das Jugendamt auszuschließen ist mittels der qualifizierten Inaugenscheinnahme aber höher, als wenn gar keine Altersschätzung durchgeführt werden würde. Die gesetzliche Regelung ist damit zur Zweckerreichung in Bezug auf eine Altersschätzung geeignet. c) Erforderlichkeit der qualifizierten Inaugenscheinnahme Zusätzlich müsste die qualifizierte Inaugenscheinnahme eine erforderliche Regelung sein, um das legitime Ziel zu erreichen. Es gilt der Ultima-Ratio-Grundsatz. Das bedeutet, dass unter mehreren Mitteln mit gleicher Erfolgseignung dasjenige ausgewählt werden muss, dass die geringste Eingriffsintensität aufweist.36 In Bezug auf Methoden zur Altersfeststellung ist als Ausgangspunkt festzuhalten, dass nach aktuellem Stand noch keine Methode existiert, das Alter eines Menschen exakt zu bestimmen.37 Insofern sind ausschließlich Methoden vergleichend heranzuziehen, die zumindest einen ähnlichen Erfolgswert versprechen können. Die einzig zuverlässigere Methode als eine qualifizierte Inaugenscheinnahme ist die Ein34 BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 1965 – 1 BvL 14/60, NJW 1966, 291, 292; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 112; Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 53. 35 Hagen/Schmidt/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 233, 238. 36 BVerfG, Urt. v. 14. 07. 1999 – 1 BvR 2226/94, NJW 2000, 55, 61; Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 20 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 113; Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 55. 37 Hagen/Schmidt/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 233, 238.

§ 1 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 1 SGB VIII

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sichtnahme in aussagekräftige Ausweispapiere, die der Gesetzgeber allerdings in § 42f Abs. 1 SGB VIII bereits als Primärmaßnahme kodifiziert hat. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme greift nach dem Gesetzeswortlaut nur hilfsweise hierzu, also wenn beispielsweise keine Papiere vorhanden sind. In diesen Fällen ist die Einsichtnahme in Ausweispapiere also gerade keine erfolgsgeeignetere Methode. In Betracht käme noch, unmittelbar eine ärztliche Untersuchung durchzuführen. Die körperliche Untersuchung ist ohnehin zusätzlich in § 42f Abs. 2 SGB VIII vorgesehen und dürfte verlässlichere Ergebnisse bringen, wenn sie durch einen Arzt durchgeführt wird als durch Mitarbeiter des Jugendamts. Zweifel an der qualifizierten Inaugenscheinnahme werden auch vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof38 geäußert, der teilweise dazu tendiert, eine bloße qualifizierte Inaugenscheinnahme nicht für eine Altersfeststellung für ausreichend zu erachten und in jedem Fall eine ärztliche Untersuchung fordert. Begründet wird dies damit, dass das Verfahren zur Altersfeststellung nur Näherungswerte liefern kann und im Grenzbereich zwischen Volljährigkeit und Minderjährigkeit dann regelmäßig vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen sei, der zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII zwingt. Müsste im Ergebnis beinahe in jedem Fall eine ärztliche Untersuchung tatsächlich durchgeführt werden, wäre die qualifizierte Inaugenscheinnahme überflüssig und im Ergebnis auch nicht zur Altersfeststellung im rechtlichen Sinne erforderlich. Allerdings muss bei der Prüfung der Erforderlichkeit im Sinne des Ultima-RatioGrundsatzes auch die Eingriffsintensität berücksichtigt werden. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme ist nämlich zunächst weniger eingriffsintensiv als eine ärztliche Untersuchung, die in der aktuellen Praxis auch Röntgenuntersuchungen erfasst und somit sogar die körperliche Unversehrtheit betreffen kann. Höchstrichterlich ist auch noch nicht geklärt, ob die Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof allgemeingültig zu übernehmen ist. Nach hier vertretener Auffassung dürfen die Anforderungen an den Grad der Sicherheit des Jugendamts über das Alter des Betroffenen nach der qualifizierten Inaugenscheinnahme nicht überspannt werden. Ansonsten wird die qualifizierte Inaugenscheinnahme entwertet. Aus der zweistufigen Systematik des § 42f SGB VIII ergibt sich, dass zumindest der Gesetzgeber davon ausgeht, dass eine qualifizierte Inaugenscheinnahme grundsätzlich zur Altersfeststellung ausreichen kann. Es liegt damit im Ergebnis auch eine erforderliche Regelung vor.

38 BayVGH, Beschl. v. 05. 04. 2017 – 12 BV 17.185, juris-Rn. 36, KommunalPraxis BY 2017, 234; BayVGH, Beschl. v. 23. 09. 2014 – 12 CE 14.1833 u. 12 CE 14.1865, NVwZ-RR 2014, 959, 960; vgl. dazu auch Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 29.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Schließlich ist erforderlich, dass die gesetzgeberische Regelung angemessen, also verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Hierzu muss eine Gesamtabwägung der Schwere des Grundrechtseingriffes im Verhältnis zu dem beabsichtigten Zweck der gesetzgeberischen Maßnahme vorgenommen werden. Es gilt grundsätzlich, dass je schwerwiegender der Grundrechtseingriff ist, desto wichtiger das Ziel sein muss.39 Vorliegend wurde ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die Auswertung des äußerlichen Erscheinungsbildes und durch die Wertung der Entwicklungsreife eines Menschen durch ein persönliches Gespräch im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme festgestellt. Dieser Eingriff steht dem Ziel gegenüber, das Alter von Ausländern feststellen zu wollen, die die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII begehren. Geschützt werden dadurch sowohl die tatsächlich Minderjährigen, die bereits in Obhut genommen worden sind oder noch kommen sollen, als auch die finanziellen Kapazitäten des Staates. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme ist insgesamt vom Gesetzgeber sehr grundrechtsschonend ausgestaltet worden, was sich bereits an der Gesetzesbegründung zeigt, nach der beispielsweise Genitaluntersuchungen ausgeschlossen sind.40 Die Wertung des äußeren Erscheinungsbildes stellt zudem im Rahmen einer Gesamtbetrachtung nur einen marginalen Grundrechtseingriff dar. Berücksichtigt werden muss im Rahmen der Angemessenheit auch, dass die qualifizierte Inaugenscheinnahme eine recht kostengünstige Methode darstellt, die kaum Kapazitäten in Anspruch nimmt. Dafür liefert sie dennoch Ergebnisse, die eine ungefähre Beurteilung des Alters zulassen und kann damit zumindest in einigen Fällen verhindern, dass volljährige Ausländer vom Jugendamt in Obhut genommen werden. Im Ergebnis handelt es sich bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme um eine angemessene und somit insgesamt verhältnismäßige Maßnahme zur Altersschätzung von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern, sodass der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gerechtfertigt ist.

C. Zwischenergebnis Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass § 42f Abs. 1 SGB VIII in der aktuellen Fassung eine verfassungskonforme Regelung darstellt. Während sich die Einsichtnahme in die Ausweispapiere als verfassungsrechtlich unproblematisch 39 BVerfG, Beschl. v. 05. 08. 2020 – 2 BvR 1985/19, 1986/19, NJW 2020, 2953, 2954; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 117; Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 20 GG Rn. 154; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 20 GG Rn. 184; Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 57. 40 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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darstellt, muss bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme bereits genauer auf die den Jugendämtern damit eröffneten Möglichkeiten geachtet werden, um insbesondere im Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eine verhältnismäßige Ausgestaltung sicherzustellen. Solange die qualifizierte Inaugenscheinnahme die Intimsphäre der Betroffenen unberührt lässt, stellen sich hierbei allerdings keine verfassungsrechtlichen Probleme. Insofern können sich die Jugendämter zuverlässig an den „Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ orientieren.41

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII Schwieriger sieht es dagegen bei den Maßnahmen zur medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII aus. Die ärztliche Untersuchung ist aus ethischen, soziologischen, medizinischen und auch rechtlichen Gesichtspunkten hoch umstritten (vgl. dazu S. 155). Im Zentrum des Streits steht dabei die Vertretbarkeit der Anwendung von Röntgenuntersuchungen, mit deren Hilfe das Alter einer Person möglichst genau bestimmt werden soll. Aus ärztlicher Sicht werden insbesondere die Zuverlässigkeit und die potenziellen gesundheitlichen Folgen einer medizinisch nicht indizierten Röntgenuntersuchung diskutiert. Die Problematik wird durch die weite Fassung des Gesetzestextes verschärft, da die zulässigen Methoden zur ärztlichen Untersuchung nicht näher bestimmt oder festlegt werden. Auch die Gesetzesbegründung bleibt hier weitgehend offen. Gleichzeitig ist die Debatte auch stark rechtspolitisch geprägt. Zum Teil wird beispielsweise von Gegnern der Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung in diesem Zusammenhang gefordert, jungen Asylsuchenden keine Steine in den Weg zu legen, sondern sie willkommen zu heißen, da unter anderem die Zuwanderung junger Menschen in eine „überalterte („vergreisende“) Gesellschaft“ auch aus demografischen Gesichtspunkten erwünscht sei.42 Im Folgenden wird daher untersucht, ob § 42f Abs. 2 SGB VIII und die damit zusammenhängende ärztliche Untersuchung an unbegleiteten, jungen Ausländern zur Altersfeststellung verfassungskonform ist.

41 Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, 2. Aufl. 2018, S. 21 ff. 42 Vgl. Eisenberg, Sozialmagazin 2016, 100, 112.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

A. Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) Bereits im Jahr 2007, rund acht Jahre vor der Flüchtlingswelle im Jahr 2015, hatte sich der 110. Deutsche Ärztetag43 „mit aller Entschiedenheit“ gegen die Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten an der Feststellung des Alters von Ausländern ausgesprochen. Dieser Entschluss wurde in den Jahren 2010 sowie 2014 nochmals bekräftigt.44 Als Begründung wurde unter anderem angeführt, dass Röntgenstrahlen potenziell gefährlich seien. Auch andere Stimmen betonen immer wieder die potenzielle Gefährlichkeit von radiologischen Untersuchungen im Zusammenhang mit der Altersfeststellung.45 Dies gibt Anlass zur Untersuchung, ob die medizinische Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG darstellt. I. Eingriff in den Schutzbereich Das Recht auf körperliche Unversehrtheit schützt insbesondere die Gesundheit im physiologisch-biologischen Sinne, sowie die Psyche, soweit die Einwirkungen zu körperlichen Schmerzen oder körperlichen Beeinträchtigungen mit vergleichbaren Wirkungen führen.46 Ein Eingriff liegt dabei bei jeder staatlichen Maßnahme vor, die unmittelbar oder mittelbar die Ausübung eines Grundrechts zumindest beeinträchtigt.47 Im Rahmen der ärztlichen Untersuchung muss ein möglicher Eingriff allerdings differenziert betrachtet werden, da § 42f SGB VIII unterschiedliche Maßnahmen von unterschiedlicher Eingriffsintensität ermöglicht. Es wird daher im Folgenden zwischen den nicht-invasiven Methoden wie der körperlichen Begutachtung durch einen Arzt und invasiven Methoden wie der Untersuchung mittels Röntgenbestrahlung unterschieden. Denn bei Letzteren liegt nach den bisherigen Ausführungen ein Eingriff in den Schutzbereich besonders nahe.

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110. Deutscher Ärztetag, 2007, Beschlussprotokoll, S. 80. 113. Ärztetag, 2010, Beschlussprotokoll, S. 110; 117. Deutscher Ärztetag, 2014, Beschlussprotokoll, S. 275. 45 Eisenberg, Sozialmagazin 2016, 100, 112; Anysley-Green, British Dental Journal, 2009, 337; Di Maio, Positionspapier zur Altersfestsetzung bei unbegleiteten minderjährigen in Europa, S. 19 ff.; Sauer/Nicholson/Neubauer, European Journal of Pediatrics 2016, 299, 303. 46 BVerfG, Beschl. v. 25. 07. 1963 – 1 BvR 542/62, NJW 1963, 2368, 2369; Murswiek/ Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 156; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Abs. 2 GG Rn. 193; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 83. 47 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 40; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Vorb. Art. 1 – 19 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 46. 44

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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1. Nicht-invasive Methoden Zu den nicht-invasiven Methoden gehören die körperliche Untersuchung, die psychologische Begutachtung sowie die Analyse der Gebissentwicklung ohne radiologische Bildgebung. Diese Methoden unterscheiden sich von den invasiven Methoden dadurch, dass nicht unmittelbar auf die körperliche Unversehrtheit eingewirkt wird, sondern lediglich die Anatomie des Körpers oder von Körperteilen begutachtet und ausgewertet wird. Die Methoden sind in der Gesamtbetrachtung mit der qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII vergleichbar. Der maßgebliche Unterschied liegt darin, dass die Maßnahmen nicht durch Mitarbeiter des Jugendamts durchgeführt werden, sondern durch medizinisches Fachpersonal. Da dieses hinsichtlich der Altersschätzung qualifizierter ist, dürften Untersuchungen durch medizinischen Fachpersonal eine geringere Fehlerspanne aufweisen. Wie bereits bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme kann festgestellt werden, dass bloße äußerliche Begutachtungen und körperlichen Untersuchungen, die den Betroffenen nicht weiter gesundheitlich beeinträchtigen, keinen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit darstellen. Dies betrifft auch die Gebissanalyse, da diese im Rahmen der nicht-invasiven Methoden nicht mittels Röntgenbestrahlung erfolgt, sondern ebenfalls durch eine bloße Begutachtung. Es handelt sich lediglich um eine spezielle Form der körperlichen Begutachtung. Im Ergebnis sind diese Methoden im Rahmen von Art. 2 Abs. 2 GG mangels gesundheitlicher Beeinträchtigung nicht zu beanstanden, sodass hier kein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit vorliegt. 2. Invasive Methoden Anders verhält es sich bei den invasiven Methoden, insbesondere solche unter Verwendung von Röntgenstrahlung. Diese kann sowohl zur Untersuchung des Zahnwachstums als auch zur Untersuchung der Verknöcherung verschiedener Gelenke wie der Handgelenke oder des Schlüsselbeins eingesetzt werden, um darüber Informationen über das mögliche Alter des Betroffenen zu gewinnen. Da die medizinische Altersfeststellung mittels Röntgendiagnostik aktuell die einzige invasive ärztliche Untersuchungsmethode darstellt, die in der Praxis regelmäßig Anwendung findet, wird im Folgenden nur die Verfassungskonformität von invasiven Methoden zur Altersfeststellung am Beispiel von Untersuchungen mittels Röntgendiagnostik geprüft. Dass die Anwendung von Röntgenbestrahlung als Methode der medizinischen Altersfeststellung einfachgesetzlich zulässig sein soll, geht weder aus dem Gesetzestext noch aus der Gesetzesbegründung ausdrücklich hervor (vgl. S. 88). Nach der Gesetzesbegründung soll die ärztliche Untersuchung mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden durchgeführt werden.48 Die Altersfest48

Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

stellung über Knochenuntersuchungen mittels Röntgenbestrahlung gehört zwar nicht zu den schonendsten Methoden, allerdings zu den derzeit nach der Forschung zuverlässigsten Methoden der Altersfeststellung. Dafür, dass die Anwendung von Röntgenstrahlung nach dem Willen des Gesetzgebers möglich sein soll, spricht außerdem, dass in der Gesetzesbegründung Genitaluntersuchungen ausdrücklich ausgeschlossen wurden.49 Dies ist mit Blick auf Röntgenuntersuchungen nicht geschehen, obwohl diese Methode dem Gesetzgeber ebenfalls bekannt war und auch vor Einführung des § 42f SGB VIII zur Altersfeststellung regelmäßig angewendet wurde.50 Es ist außerdem davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die ärztliche Altersuntersuchung nicht eingeführt hat, um im Ergebnis eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch medizinisches Fachpersonal durchführen zu lassen. Daraus ergibt sich, dass die Anwendung von Röntgenbestrahlung im Rahmen der ärztlichen Altersfeststellung grundsätzlich dem aktuellen Willen des Gesetzgebers entspricht, auch wenn es mit Blick auf § 83 Abs. 1 StrlSchG an einer ausdrücklichen Zulassung fehlt (vgl. S. 113 ff.). Für die Frage nach der Eingriffsqualität radiologischer Untersuchungen ist irrelevant, dass diese lediglich zu Zwecken der Bildgebung für die Altersfeststellung dienen und nicht darauf ausgelegt sind, den Betroffenen in irgendeiner Art zu schädigen. Eine schädigende Zielrichtung ist keine zwingende Voraussetzung für einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit.51 a) Gesundheitsschädigung durch Röntgenstrahlung Ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit setzt allerdings voraus, dass der Körper des Betroffenen im biologisch-physiologischen Sinne beeinträchtigt wird oder er jedenfalls in seiner körperlichen Integrität verletzt wird.52 Ob durch die Röntgenstrahlen tatsächlich die Gesundheit des Betroffenen beeinträchtigt wird, ist eine der wesentlichen medizinisch umstrittenen Fragen im Zusammenhang mit Röntgenuntersuchungen. Zum einen wird angeführt, dass gesundheitliche Folgen einer solchen Untersuchung vernachlässigbar seien. Die effektive Strahlendosis bei der Untersuchung der Schlüsselbeine liegt beispielsweise

49

Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. OVG Hamburg, Beschl. v. 09. 02. 2011 – 4 Bs 9/11, juris-Rn. 77, JAmt 2011, 472; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29. 08. 2012 – 6 S 34.12 / 142.12, juris-Rn. 3; Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 42 SGB VIII Rn. 16a. 51 BVerfG, Beschl. v. 22. 09. 1993 – 2 BvR 1732/93, NJW 1994, 1590, 1591; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 2 GG Rn. 68. 52 BVerfG, Beschl. v. 25. 07. 1963 – 1 BvR 542/62, NJW 1963, 2368; Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 156; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Abs. 2 GG Rn. 193; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 83. 50

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bei 0,4 mSv und damit im Niedrigdosisbereich.53 Dies ist gleichzeitig die Untersuchungsmethode, bei der im Bereich der Altersfeststellung mittels Röntgenuntersuchung die stärkste Strahlendosis anfällt. Die Strahlungsbelastung beim Handradiogramm beträgt sogar lediglich 0,0001 mSv und beim Orthopantogramm 0,026 mSv.54 Als Vergleichswert wird dazu die natürliche effektive Strahlendosis in Deutschland genannt, die durchschnittlich bei 2,1 mSv pro Jahr liegt. Der Betroffene wird also durch die Untersuchung immer noch deutlich weniger gesundheitlich gefährdet als durch die jährliche natürliche Strahlenbelastung im Alltag in Deutschland. Die Risikozunahme durch Röntgenuntersuchungen im Rahmen der Altersfeststellung liege im Bereich anderer Alltagsrisiken, wie zum Beispiel der Teilnahme am Straßenverkehr.55 Dem muss aber entgegengehalten werden, dass nach dem heutigen Stand der Forschung insbesondere die Langzeitfolgen von Röntgenstrahlung im Niedrigdosisbereich noch unklar sind.56 Auch Befürworter der Röntgendiagnostik zur Altersschätzung gestehen ein, dass auf Grundlage des gegenwärtigen Wissenstands Strahlenrisiken im Niedrigdosisbereich nicht auszuschließen sind.57 Bei ionisierender Strahlung wird grundsätzlich zwischen stochastischen und deterministischen Schäden unterschieden. Eine deterministische Schädigung liegt vor, wenn das Ausmaß der Schädigung von der applizierten Dosis und ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung abhängt. Es kann dann ein Strahlenwert festgestellt werden, bei dessen Überschreitung eine Strahlenwirkung, insbesondere die Schädigung von Zellen, Geweben und Organen festgestellt werden kann.58 Stochastische Effekte liegen dagegen vor, wenn die Wahrscheinlichkeit des Auftretens, nicht aber der Schweregrad von der Dosis abhängt. Solche stochastischen Effekte werden insbesondere bei niedrigen Dosen beobachtet.59 Hier treten die strahlenbedingten Erkrankungen erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Bestrahlung auf, sodass sie sich nicht von spontan auftretenden Krankheiten unterscheiden lassen. Sie können damit nur durch statistische Methoden festgestellt werden, etwa wenn in einer hinreichend großen Personengruppe die Häufigkeit an Erkrankungen auffällig 53 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016 44, 46; Meier/Schmeling/Loose/ Vieth, Rechtsmedizin 2015, 30, 31; Müller/Fuhrmann/Püschel, Rechtsmedizin 2010, 33, 37. 54 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 46; Meier/Schmeling/Loose/ Vieth, Rechtsmedizin 2015, 30, 31; Müller/Fuhrmann/Püschel, Rechtsmedizin 2010, 33, 37. 55 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016 44, 46. 56 Vgl. Pearce/Salotti/Little/McHugh, Lancet 2012, 499, 503; Strahlenschutzkommission, Zusammenfassung und Bewertung der Klausurtagung 2007 „Biologische Wirkungen niedriger Dosen ionisierender Strahlung“, 2007, S. 5, https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnis se_PDF/2007/BiologischeWirkungen_niedrigerDosen.html?nn=2041716, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 57 Meier/Schmeling/Loose/Vieth, Rechtsmedizin 2015, 30, 33. 58 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 43; Wigge/Loose, MedR 2016, 318, 319. 59 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 44.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

größer ist als in einer vergleichbaren unbestrahlten Personengruppe.60 Krebserkrankungen und genetische Schäden können Folgen solcher stochastischen Effekte infolge von Röntgenstrahlung sein.61 Es wird davon ausgegangen, dass es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen eine Schädigung vollkommen ausgeschlossen werden kann.62 Im Niedrigdosisbereich liegen allerdings keine belastbaren Risikowerte vor, um ein konkretes Strahlenrisiko abwägen zu können.63 Problematisch ist hier bereits, dass sich eine Kausalität zwischen einer Röntgenbestrahlung und einer Krebserkrankung ca. 30 Jahre später kaum belastbar nachweisen lässt.64 Aufgrund dieser Unabwägbarkeiten im Niedrigdosisbereich wird regelmäßig postuliert, dass die Anwendung ionisierender Strahlung nur nach einer strengen Indikationsstellung erfolgen darf, also wenn der zu erwartende gesundheitliche Nutzen das Strahlenrisiko überwiegt.65 Bei der Bewertung des Strahlenrisikos ist zwingend das Alter und die Lebenserwartung des Betroffenen im Zeitpunkt der Exposition zu berücksichtigen, da das Mortalitätsrisiko bei jungen Menschen höher ist.66 Das Kernproblem bei den radiologischen Untersuchungen ist damit, dass aufgrund der unvorhersehbaren Langzeitfolgen im Einzelfall unklar bleibt, ob einem Ausländer, der sich einer radiologischen Untersuchung unterzieht, tatsächlich dadurch ein gesundheitlicher Schaden entstehen wird. Die Röntgendiagnostik im Niedrigdosisbereich fällt damit – zumindest nach dem aktuellen Stand der Forschung – in den Bereich von bloßen Gesundheitsrisiken bzw. -gefährdungen. Nach der herrschenden Meinung67 erfasst der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 GG auch ein Freisein von Risiken für Leben und Gesundheit, da es Aufgabe der staatlichen Organe ist, die Gefahr von Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit zu dämmen. Es ist insofern anerkannt, dass ein effektiver Schutz von Leben und körperlicher Un60 Bundesamt für Strahlenschutz, Strahlenwirkungen, Krebs und Leukämie, https://www. bfs.de/DE/themen/ion/wirkung/krebs/einfuehrung/einfuehrung.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 61 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 44. 62 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 44; so auch Meier/Schmeling/ Loose/Vieth, Rechtsmedizin 2015, 30, 33; Bundesamt für Strahlenschutz, Strahlenwirkungen, Krebs und Leukämie, https://www.bfs.de/DE/themen/ion/wirkung/krebs/einfuehrung/einfueh rung.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 63 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 44. 64 Wigge/Loose, MedR 2016, 318, 320. 65 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 45; Pearce/Salotti/Little/ McHugh, Lancet 2012, 499, 499. 66 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 44. 67 BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77, NJW 1979, 359, 361; BVerfG, Beschl. v. 03. 10. 1979 – 1 BvR 614/79, NJW 1979, 2607, 2608; BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 1979 – 1 BvR 385/77, NJW 1980, 759, 761; BVerfG, Beschl. v. 16. 12. 1983 – 2 BvR 1160/83, NJW 1984, 601, 602; Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 161; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 2 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 63; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 89.

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versehrtheit nur möglich ist, wenn bereits die Verursachung des Risikos einer Schutzgutbeeinträchtigung als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 GG zu qualifizieren ist.68 Da die Röntgendiagnostik grundsätzlich ein Strahlenrisiko aufweist, das potenziell zu einer Gesundheitsschädigung führen kann, liegt bei radiologischen Untersuchungen zur Altersfeststellung ein solches Gesundheitsrisiko vor, womit ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 GG zu bejahen ist. Das konkrete Ausmaß des Risikos ist dagegen Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Das Bundesverfassungsgericht69 hat in einem Beschluss insofern ausgeführt, dass die Frage, ob der Staat zur Eindämmung der Gefahr von Grundrechtsverletzungen verpflichtet ist, von Art, Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen abhängt. b) Kein Röntgenzwang Die Eingriffsqualität der radiologischen Untersuchungen könnte allerdings unter dem Gesichtspunkt, dass die betroffenen Ausländer nicht unmittelbar zur Durchführung einer Röntgenuntersuchung gezwungen werden, anders zu bewerten sein. Denn unbegleitete, minderjährige Ausländer werden nicht etwa verpflichtet, sich vom Jugendamt in Obhut nehmen zu lassen und dazu eine Altersfeststellung über sich ergehen zu lassen. Wie bereits ausgeführt wurde, handelt es sich bei der Inobhutnahme vielmehr um eine Maßnahme der Leistungsverwaltung, zu deren Inanspruchnahme ein Minderjähriger lediglich berechtigt ist (vgl. S. 158). Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg70 hat zu einem Röntgenzwang als Voraussetzung für eine Immatrikulation an einer Hochschule im Zusammenhang mit Tuberkulose im Jahr 1979 entschieden, dass dieser Röntgenzwang schon keinen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG darstellen könne. Es handle sich lediglich um eine mittelbare Belastung, da dem Betroffenen ein Anspruch oder eine Rechtsstellung versagt werden würde, wenn er sich nicht freiwillig einem bestimmten Eingriff unterziehe. Hier sei lediglich dasjenige Grundrecht betroffen, in dessen Schutzbereich die Entziehung dieses Anspruchs oder dieser Rechtsstellung fallen würde. Erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sei dann die Intensität des mittelbar erzwungenen Eingriffs in Rechnung zu stellen. Mit Blick auf die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII würde dies bedeuten, dass lediglich das staatliche Wächteramt nach Art. 6 Abs. 3 GG betroffen sein könnte, wenn der Staat einem minderjährigen Ausländer die Inobhutnahme verweigert. 68

Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 160. BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 1981 – 1 BvR 612/72, NJW 1981, 1655, 1657; so auch Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 161. 70 VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 17. 01. 1979 – IX 349/78, DÖV 1979, 338, 339 f. 69

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Diese Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg widerspricht allerdings der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts71 zum mittelbaren Eingriff. Danach gilt, dass der Abwehrgehalt von Grundrechten auch bei faktischen und mittelbaren Beeinträchtigungen betroffen sein kann. Voraussetzung ist danach lediglich, dass diese in der Zielsetzung und in ihren Wirkungen einem Eingriff gleichkommt. Insbesondere, wenn eine Grundrechtsausübung durch eine im Zusammenhang nicht gewährte Leistung mit einem spürbaren Nachteil verbunden wird, kann das mittelbar betroffene Grundrecht verletzt sein.72 Insofern wurde bereits ausgeführt, dass unbegleitete, minderjährige Ausländer faktisch auf die Inobhutnahme angewiesen sind, um kindgerecht versorgt zu werden (vgl. dazu S. 159). Die Ablehnung der Inobhutnahme für den Fall, dass eine Röntgenuntersuchung verweigert wird, steht insofern einer unmittelbaren Beeinträchtigung des Art. 2 Abs. 2 GG gleich. c) Einwilligung des Betroffenen Die ärztliche Untersuchung soll gemäß § 42f Abs. 2 SGB VIII allerdings ausschließlich mit Einwilligung des Betroffenen erfolgen. Diese Einwilligung in die Durchführung einer medizinischen Maßnahme kann den Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG grundsätzlich entfallen lassen, wenn diese auf Grundlage der gebotenen ärztlichen Aufklärung erteilt wurde und der Betroffene keinem unzulässigen Druck, etwa durch Inaussichtstellen von Nachteilen, ausgesetzt worden ist.73 Im Rahmen der einfachgesetzlichen Darstellung des § 42f Abs. 2 SGB VIII wurde bereits festgestellt, dass diese in der aktuellen Ausgestaltung von § 42f Abs. 2 SGB VIII mangels Freiwilligkeit nicht wirksam sein kann (vgl. S. 119 ff.). Im Rahmen der Prüfung der Verfassungskonformität der Norm sind die gleichen Anforderungen an die Wirksamkeit einer Einwilligung zu stellen, um Wertungswidersprüche zu vermeiden. Es kann daher zusammenfassend festgehalten werde, dass eine wirksame Einwilligung in die ärztliche Untersuchung nicht vorliegen kann, wenn der Betroffene bei einer Weigerung mit der Ablehnung der Inobhutnahme durch das Jugendamt rechnen muss. Die Erteilung der Einwilligung erfolgt dann 71 BVerfG, Urt. v. 11. 07. 2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51, 53; so auch Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 88. 72 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 88; Murswiek/ Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 157; vgl. allgemein zum mittelbaren Grundrechtseingriff: BVerfG, Beschl. v. 26. 06. 2002 – 1 BvR 558/91, 1428/91, NJW 2002, 2621; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 41. 73 BVerfG, Beschl. v. 23. 03. 2011 – 2 BvR 882/09, NJW 2011, 2113, 2114; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 2 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 514; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 90; Horn, in: Stern/Becker, Grundrechtekommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 2 GG Rn. 126.

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aufgrund eines Über-/Unterordnungsverhältnisses zwischen Jugendamt und Ausländer aus (gefühltem) Zwang. Im Ergebnis kann daher festgehalten werden, dass ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit durch die Röntgenuntersuchung vorliegend nicht aufgrund der Einwilligung des Betroffenen gemäß § 42f Abs. 2 SGB VIII entfallen kann. II. Rechtfertigung der Röntgendiagnostik Die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII erfolgt allerdings nicht willkürlich. Der Gesetzgeber verfolgt damit vielmehr verschiedene Zwecke. Primär soll sichergestellt werden, dass volljährige Ausländer, die keinen Anspruch auf eine Inobhutnahme durch das Jugendamt haben, nicht mit aufgenommen werden. Mittelbar können dadurch hohe Kosten für den Staatshaushalt eingespart werden. Gleichzeitig stehen den schutzbedürftigen Minderjährigen dann mehr Kapazitäten bei den Jugendämtern zur Verfügung. Außerdem wird das Interesse der Allgemeinheit bedient, dass keine Sozialleistungen ohne Leistungsberechtigung verteilt werden. Fraglich ist, ob diese Erwägungen die Anwendung von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung bei jungen Ausländern rechtfertigen kann. Grundsätzlich stellt § 42f SGB VIII ein Parlamentsgesetz dar, das nach dem Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG das Recht auf körperliche Unversehrtheit einschränken kann.74 1. Bestimmtheitsgrundsatz Eine Anforderung an den Schrankenvorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung besteht darin, dass das Gesetz sowohl die Voraussetzungen als auch den Umfang der Beeinträchtigung hinreichend klar umschreiben muss.75 Das allgemeine Bestimmtheitsgebot ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG.76 Dies könnte hinsichtlich der Ausgestaltung von § 42f Abs. 2 SGB VIII problematisch sein. Denn der Gesetzestext lässt offen, welche medizinische Methoden zur Altersfeststellung konkret zulässig sein sollen. Unklar bleibt außerdem, was die Folgen einer Verweigerung der Einwilligung in die ärztliche Untersuchung sind. 74 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 95; Horn, in: Stern/Becker, Grundrechtekommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 2 GG Rn. 127. 75 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83, NJW 1984, 419, 422; BVerfG, Beschl. v. 22. 06. 1977 – 1 BvR 799/76, NJW 1977, 1723, 1724; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 59; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20 und die allgemeine Rechtsstaatlichkeit (Stand: 92. EL 2020) Rn. 58. 76 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 20 GG Rn. 126; Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 20 GG Rn. 182; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 20 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 1566.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts77 müssen der Anlass, der Zweck und die Grenzen des Eingriffs in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass sich der betroffene Bürger darauf einstellen kann, dass die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet und dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können. Das Maß der erforderlichen Bestimmtheit hängt von der Schwere des Eingriffs ab.78 a) Zulässige Methoden zur Altersfeststellung Zu prüfen ist somit, ob die fehlende Festlegung von konkret zulässigen Untersuchungsmethoden im Rahmen des § 42f Abs. 2 SGB VIII das Bestimmtheitsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Problematisch ist dabei, ob dem Jugendamt, das die ärztliche Untersuchung zu veranlassen hat, als gesetzesausführende Behörde in Bezug auf die Art der Untersuchungsmethoden steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet. Der Gesetzeswortlaut sieht diesbezüglich keinerlei Handlungsmaßstäbe vor, sodass dem Jugendamt ein weiter Handlungsspielraum eröffnet wird. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass sich an den verschiedenen Jugendämtern unterschiedlichen Praxen entwickelt, welche Untersuchungsmethoden im Rahmen der ärztlichen Untersuchung durchzuführen sind.79 Eine Umfrage der Bundesregierung80 bei den Jugendämtern aus dem Jahr 2018 hat dies bestätigt. Danach gaben beispielsweise 51,6 % der Jugendämter an, nie eine medizinische Altersfeststellung durchzuführen, während 39,9 % nur in Einzelfällen und 0,3 % immer ärztliche Untersuchungen anordnen. Gleichzeitig besteht keine Notwendigkeit, den Behörden einen so weitgehenden Handlungsspielraum zu lassen. Der Gesetzgeber könnte dem Bestimmtheitsgebot aber damit Sorge getragen haben, dass sich in der Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII abstrakte Einschränkungen der zulässigen Maßnahmen zur Altersfeststellung finden. Dort ist eine Beschränkung der ärztlichen Untersuchung auf die „schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden“ vorgesehen.81 Außerdem wird – wie bereits mehrfach erwähnt – festgehalten, dass Genitaluntersuchungen unzulässig sind. Zusätzlich wird in der Gesetzesbegründung auf die Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtigen der Bundearbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter verwiesen. Dort werden wiederum als „geeignete 77 BVerfG, Beschl. v. 03. 03. 2004 – 1 BvF 3/92, NJW 2004, 2213, 2215; Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 20 GG Rn. 182. 78 BVerfG, Beschl. v. 03. 03. 2004 – 1 BvF 3/92, NJW 2004, 2213, 2216; BVerfG, Urt. v. 11. 04. 2008 – 1 BvR 2074/05, NJW 2008, 1505, 1509; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 59. 79 Gelhaar, KJ 2018, 179, 191, ebenfalls mit Kritik an einer bundesuneinheitlichen Handhabung. 80 BT-Drs. 19/4517 v. 20. 09. 2018, S. 103. 81 Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

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Mittel“ im Rahmen der ärztlichen Untersuchung die Altersschätzung aufgrund äußerlicher körperlicher Merkmale, eine körperliche Untersuchung und gegebenenfalls eine Röntgenaufnahme der Hand und der Schlüsselbeine sowie eine zahnärztliche Untersuchung genannt.82 Dennoch bleiben die Möglichkeiten der Behörde beziehungsweise des untersuchenden Arztes weit gefasst. Denn in der Gesetzesbegründung heißt es keineswegs, dass ausschließlich die in den Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter beschriebenen ärztlichen Methoden Anwendung finden dürfen. Vielmehr wird dort nur „beispielsweise“ auf diese verwiesen. Dabei wird ausdrücklich auf die Handlungsempfehlungen der 116. Arbeitstagung „Mai 2014“ Bezug genommen, sodass die Verweisung statisch zu verstehen sein dürfte.83 Es stellt sich aber die Frage, ob eine solche statische Verweisung auf die Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter den Anforderungen des Bestimmtheitsgebot genügen kann. Dafür spricht, dass die Gesetzesbegründung eine Auslegungshilfe darstellt, da sie den historischen Willen des Gesetzgebers deutlich macht. So wird teilweise auch vertreten, dass das Bestimmtheitsgebot nur Mindestanforderungen an die Fassung der Norm stellt und dafür ausreichend ist, dass sich mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für Auslegung und Anwendung der Vorschrift gewinnen lässt.84 Die Gesetzesbegründung ist als solche auch demokratisch legitimiert, da die Gesetzesbegründungen als Teil des Gesetzentwurfs dem Parlament bei den Beratungen über ein Gesetz vorliegen (vgl. Art. 77 Abs. 1 GG, § 78 GO-BT).85 Andererseits dürfen die Vorstellungen des Gesetzgebers nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts86 nicht dem objektiven Gesetzesinhalt gleichgesetzt werden. Vielmehr muss sich danach der Wille des Gesetzgebers in der betroffenen Norm selbst klar wiederfinden. Die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes soll nach dieser Rechtsprechung nur dann von Bedeutung sein, wenn sie die Richtigkeit einer nach den anderen Auslegungsgrundsätzen gewonnenen Auslegung bestätigt oder noch vorhandene Zweifel behebt. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Gesetzesbegründungen nicht zwingend den objektiven historischen Willen des Gesetzgebers darstellen, da es im Rahmen von Parlamentssitzungen regelmäßig zu

82

Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, 2. Fassung 2017, S. 37. 83 Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 84 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20 und die allgemeine Rechtsstaatlichkeit (Stand: 92. EL 2020) Rn. 61. 85 Kersten, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 77 (Stand: 92. EL 2020) Rn. 15; Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 77 GG Rn. 8. 86 BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 1959 – 1 BvL 10/55, NJW 1960, 235, 236; BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1958 – 2 BvL 4/56, NJW 1959, 475, 476; vgl. auch Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825, 2825.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Änderungen eines Gesetzesentwurfs kommt, ohne dass die Gesetzesbegründung entsprechend abgeändert wird.87 Zudem gibt es auch keine verfassungsrechtliche Begründungspflicht des Gesetzgebers bei der Verabschiedung von Gesetzen,88 sodass der Gesetzesbegründung grundsätzlich auch keine zwingende, einfachgesetzliche Bindungswirkung zukommen kann.89 Die Möglichkeiten des Gesetzgebers sind grundsätzlich auf den Erlass von Gesetzen, Verordnungen oder Satzungen beschränkt. Gesetze nehmen regelmäßig auch keinen direkten Bezug auf die Gesetzesbegründung, aus dem sich eine solche Bindungswirkung ergeben könnte.90 Dementsprechend nimmt auch § 42f SGB VIII keinen Bezug auf die Gesetzgebungsmaterialien. Der Gesetzgeber darf sich aber gerade nicht seiner Regelungsverantwortung entziehen, indem er ein Gesetz so vage gestaltet, dass die sachliche Entscheidung letztlich bei den gesetzesanwendenden Gewalten liegt.91 Zudem ist zweifelhaft, ob die ausführenden Behörden stets mit der Gesetzesbegründung vertraut sind. Oft dürfte schon die Kenntnis des Gesetzeswortlauts fehlen. Zu beachten ist außerdem, dass es auch dem Betroffenen einer behördlichen Maßnahme möglich sein muss, möglichst klar zu erfassen, was der Behörde erlaubt ist und was nicht. Ein Verweis auf die Gesetzesbegründung, die wiederum auf Handlungsempfehlungen verweist, ist intransparent und erschwert einem Betroffenen die Feststellung, ob die Behörde gesetzmäßig gehandelt hat.92 Wenn schon konkrete Bestimmungen aus der Gesetzesbegründung nicht ausreichen, um dem Bestimmtheitsgebot zu genügen, muss dies erst recht für einen Verweis auf Handlungsempfehlungen innerhalb einer Gesetzesbegründung gelten. Hinzu kommt, dass – wie bereits erwähnt – der Verweis lediglich beispielhaft erfolgt ist und sich daraus folglich auch keine abschließende Regelung entnehmen lässt. Daraus folgt, dass auch der pauschale Verweis auf die Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter nicht ausreichend ist, um die zulässigen Methoden zur ärztlichen Altersschätzung einzuschränken und zu konkretisieren.

87 Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, S. 54; Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825, 2826. 88 BVerfG, Urt. v. 06. 12. 2016 – 1 BvR 2821/11, NJW 2017, 217, 228; Gärditz, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 16a GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 374; Gartz, Begründungspflicht des Gesetzgebers, S. 143; Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, S. 28; Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825, 2826. 89 Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, S. 54; Burghart, in: Leibholz/ Rinck, Grundgesetz, Einführung (Stand: 81. EL 2020) Rn. 11; Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Kurzmitteilung v. 05. 04. 2016, WD 3 – 3000 – 114/16, S. 1. 90 Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825, 2826. 91 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 179. 92 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 20 GG Rn. 123; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 20 GG Rn. 85.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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Im Ergebnis wird das Bestimmtheitsgebot durch die aktuelle Fassung von § 42f Abs. 2 SGB hinsichtlich der zulässigen Methoden zur Altersschätzung verletzt, da die Gesetzesbegründung und der darin enthaltene Verweis auf Handlungsempfehlungen nicht berücksichtigt werden können und der bloße Wortlaut des § 42f Abs. 2 SGB hinsichtlich der Bestimmtheit von zulässigen Untersuchungsmethoden nicht ausreichend ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Unklarheit über die Zulässigkeit von grundrechtssensiblen Röntgenuntersuchungen besteht, für die auch einfachgesetzlich besondere Anwendungsvoraussetzungen bestehen (vgl. S. 113 zu § 83 Abs. 1 StrlSchG). b) Folgen bei Verweigerung der Einwilligung Auch bezüglich der Verweigerung der ärztlichen Untersuchung durch den betroffenen Ausländer findet sich keine Regelung im Gesetzestext. Hierbei handelt es sich um einen besonders sensiblen Bereich, da die unionsrechtliche Asylverfahrensrichtlinie in Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. c RL 2013/32/EU eine konkrete Regelung hierfür vorsieht. Danach darf eine ablehnende Entscheidung der Behörde nicht ausschließlich mit dem Umstand begründet werden, dass der unbegleitete Minderjährige eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung abgelehnt hat (vgl. S. 251 ff.). Die fehlende Regelung in § 42f Abs. 2 SGB VIII kann wiederum zu einem unterschiedlichen Handlungsmaßstab der Jugendämter in Deutschland führen. Während die einen die Inobhutnahme des Betroffenen bereits allein aufgrund der Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung ablehnen, könnten andere trotzdem eine Inobhutnahme veranlassen. Dies führt zu einer unangemessenen Ungleichbehandlung von unbegleiteten Minderjährigen. Für das Fehlen einer konkreten Regelung entsprechend der Asylverfahrensrichtlinie sind auch keine überzeugenden Argumente ersichtlich. Zumindest in der Gesetzesbegründung findet sich die Regelung, dass die Weigerung des Betroffenen allein nicht reflexhaft zur Annahme der Volljährigkeit und dem Verlust aller korrespondierenden Schutzrechte führt.93 Hier ist sogar der Wortlaut der Gesetzesbegründung unklar und unbestimmt. Dass die Weigerung des Betroffenen nicht reflexhaft zur Annahme der Volljährigkeit führen soll, kann sowohl bedeuten, dass zusätzlich besondere Umstände hinzutreten müssen, um von Volljährigkeit auszugehen, als auch, dass eine bloße Abwägung ohne Berücksichtigung weiterer Umstände ausreichend sein kann. Hinzu kommt, dass die Gesetzesbegründung lediglich verbietet, von der Verweigerung der ärztlichen Untersuchung auf die Volljährigkeit zu schließen. Es wird aber nicht ausdrücklich verboten, aufgrund der Weigerung die Inobhutnahme – unabhängig von einer konkreten Altersschätzung – abzulehnen. So wird in der Literatur diesbezüglich auch vertreten, dass die Verweigerung der ärztlichen Untersuchung eine Verletzung von Mitwirkungs93

Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

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pflichten des Betroffenen darstelle und einen Leistungsausschluss zur Folge habe.94 Die Verletzung der Mitwirkungspflichten knüpft hier gerade nicht an ein von der Behörde vermutetes Alter an. Folgerichtig müssen aber auch an dieser Stelle die gleichen Bestimmtheitsgrundsätze wie bei der Bestimmung von zulässigen Untersuchungsmethoden Anwendung finden. Damit gilt, dass eine Regelung in der Gesetzesbegründung nicht ausreichend ist, wenn der Normtext als solcher nicht den Anforderungen der Bestimmtheit ausreicht. Dies ist vorliegend unweigerlich der Fall, da das Gesetz hierzu gar keine Regelung enthält. Im Ergebnis genügt § 42f Abs. 2 SGB VIII auch hinsichtlich einer Regelung über die Folgen der Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung nicht dem Bestimmtheitsgebot. Damit ist die aktuelle Ausgestaltung von § 42f Abs. 2 SGB VIII schon wegen der Verletzung des Bestimmtheitsgebots aufgrund fehlender Regelungen zu den Methoden der Altersfeststellung und zu den Folgen einer Verweigerung der ärztlichen Untersuchung verfassungswidrig. 2. Verhältnismäßigkeit Selbst wenn das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechen würde, müsste die Anwendung von Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung verhältnismäßig ausgestaltet sein. a) Das legitime Ziel der medizinischen Altersfeststellung Zunächst müsste der Gesetzgeber mit der Anwendung von Röntgenbestrahlung als Methode zur ärztlichen Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern ein legitimes Ziel verfolgen. Die Gesetzesbegründung selbst enthält keine spezifischen Erläuterungen zu den verschiedenen möglichen Methoden der Altersfeststellung, sodass in Bezug auf radiologische Untersuchungen auf das allgemeine Ziel der Altersfeststellung zurückgegriffen werden muss, nämlich die Überprüfung der Minderjährigkeit eines unbegleiteten Ausländers als Voraussetzung der (vorläufigen) Inobhutnahme gemäß §§ 42 ff. SGB VIII. Zusätzlich ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, dass die ärztliche Untersuchung mit möglichst zuverlässigen Methoden durchgeführt werden soll.95 Als Ziel des Gesetzgebers konkret für die Durchführung von Untersuchungen mittels Röntgenstrahlung kann daher eine möglichst zuverlässige Überprüfung der Minderjährigkeit eines unbegleiteten 94

Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 48; Kirchhoff/Rudolf, NVwZ 2017, 1167, 1168; Neundorf, ZAR 2018, 238, 246; Kepert, ZfSH/SGB 2018, 135, 137. 95 Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20 f.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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Ausländers als Voraussetzung der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII formuliert werden. Auch wenn die Altersfeststellung mittels Röntgenuntersuchung keine absolute Gewissheit über das Alter des Betroffenen bringen kann, so gilt sie zumindest als die aktuell zuverlässigste der medizinischen Methoden zur Altersfeststellung. Die Durchführung von Röntgenuntersuchungen zum Zwecke der Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern stellt folglich ein grundsätzlich legitimes Ziel dar. b) Geeignetheit von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung Die Anwendung von Röntgenstrahlen im Rahmen der ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern müsste außerdem geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen. Ausreichend ist dabei – wie zuvor ausgeführt –, dass die Maßnahme der Zielsetzung dienlich ist, zumindest also die Möglichkeit der Zielerreichung gegeben ist.96 Wie auch bei der qualifizierten Inobhutnahme ist hier begrifflich zu differenzieren. Eine „Altersfeststellung“ ist auch mittels Röntgenuntersuchungen nicht möglich, da diese keine exakte Feststellung erlauben. Röntgenuntersuchungen können damit nicht für eine Altersfeststellung geeignet sein. Anders verhält es sich bei einer Altersschätzung, da Röntgenuntersuchungen hier zumindest eine ungefähre Schätzung erlauben. Bei einer kombinierten Anwendung der verschiedenen Methoden kann zumindest ein ungefähres Mindestalter des Betroffenen geschätzt werden. Dadurch kann es zwar immer noch vorkommen, dass Volljährige als minderjährig eingestuft werden. Zumindest aber können alle Betroffenen ausgeschlossen werden, deren Mindestalter auf 18 Jahre oder älter geschätzt wird (vgl. S. 104). Damit ist die radiologische Untersuchung zumindest zum Zwecke der Altersschätzung dienlich und im Ergebnis auch geeignet.97 c) Erforderlichkeit einer Altersgrenze Weiterhin müsste die Anwendung invasiver Methoden auch erforderlich sein. Dies bedeutet, dass unter verschiedenen, gleichermaßen geeigneten Mitteln stets dasjenige gewählt werden muss, welches die geringste Eingriffsintensität aufweist.98

96 BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 1965 – 1 BvL 14/60, NJW 1966, 291; Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 20 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 112; Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 53. 97 Andere Ansicht vertreten von Schröck, Rescriptum 2016, 39, 43. 98 BVerfG, Urt. v. 14. 07. 1999 – 1 BvR 2226/94, NJW 2000, 55, 61; Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 20 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 113; Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 55.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Problematisch ist, dass mit der bloßen körperlichen und psychologischen Begutachtung des Betroffenen Methoden vorhanden sind, die weniger eingriffsintensiv als die Altersschätzung mittels radiologischer Untersuchung sind. Erforderlich wären die radiologischen Untersuchungen demnach nur, wenn die anderen medizinischen Methoden nicht gleichermaßen gut geeignet wären. Nur dann müsste der Gesetzgeber keinen Vergleich der Eingriffsintensität vornehmen. Inwiefern die verschiedenen Methoden gleichermaßen geeignet sind, ist aus medizinwissenschaftlicher Sicht allerdings unklar. Nach aktuellem Stand der Forschung haben alle zur Verfügung stehenden Methoden gemeinsam, dass sie beträchtliche Fehlerspannen aufweisen. Auch über eine radiologische Untersuchung lässt sich das Alter nicht zweifelsfrei bestimmen. Allerdings zählt die Altersschätzung mittels dieser Methode zu den vergleichsweise zuverlässigsten Methoden und ist somit besser als die anderen verfügbaren Methoden geeignet. Dies gilt umso mehr bei Anwendung des Mindestalterskonzepts, dessen Einhaltung in § 42f SGB VIII allerdings nicht vorgesehen ist. Inwiefern diese etwas bessere Eignung trotz größerer Eingriffsintensität die Zulässigkeit der radiologischen Untersuchung rechtfertigen kann, ist Frage der Angemessenheit und nicht der Erforderlichkeit eines Grundrechteingriffs. Es stellt sich aber die Frage, ob eine möglichst zuverlässige Methode überhaupt notwendig ist. Die zumindest geringfügig höhere Zuverlässigkeit von radiologischen Untersuchungen gegenüber anderen vorhandenen Methoden zur Altersfeststellung ist der einzige, wesentliche Legitimationsgrund. Die Notwendigkeit einer besonders zuverlässigen und genauen Altersfeststellung ergibt sich erst aus der starren Altersgrenze von 18 Jahren, die sich aus dem Tatbestandsmerkmal der Minderjährigkeit ergibt. Versetzt man sich in die Situation von unbegleiteten jungen Ausländern, kann dieses Tatbestandsmerkmal im Rahmen von § 42f SGB VIII in Frage gestellt werden.99 Denn ein 18-jähriger junger Erwachsener ist nach seiner Flucht aus einem von Krieg und Terror bedrohten Land nicht zwingend weniger schutzbedürftig als ein 17jähriger Jugendlicher. Es wurde bereits aufgezeigt, dass auch jungen Erwachsenen Hilfe nach § 41 SGB VIII zuerkannt werden kann, sodass der Gesetzgeber diesen Punkt nicht gänzlich außer Acht gelassen hat. Gleichzeitig gibt es aber auch junge Erwachsene, die in Europa Asyl beantragen wollen und aus verschiedenen Gründen nicht des Schutzes einer Inobhutnahme durch das Jugendamt bedürfen. Man könnte insofern vertreten, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Inobhutnahme von unbegleiteten, jungen Ausländern nicht an die Minderjährigkeit, sondern an die psychische Bedürftigkeit knüpfen müsste. Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Altersgrenze von 18 Jahren ein Problem aller Alters- und Stichtagsregelungen darstellt. Beispielsweise knüpft auch die Wahlberechtigung bei den Bundestagswahlen an das Erreichen des 18. Le-

99

Sauer/Nicholson/Neubauer, European Journal of Pediatrics 2016, 299, 300.

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bensjahres an (Art. 38 Abs. 2 GG).100 In diesem Zusammenhang ließen sich die gleichen Erwägungen wie zur Inobhutnahme anführen, da auch hier der unterschiedlichen Reifeentwicklung verschiedener junger Menschen nicht Rechnung getragen wird. In der Praxis haben sich solche Altersgrenzen allerdings bislang als praktikabel und einfach zu handhaben erwiesen. Der Grund hierfür dürfte insbesondere darin liegen, dass der notwendige Verwaltungsaufwand geringgehalten wird, wenn an eine objektive Altersgrenze anstatt an einen subjektiven Reifezustand angeknüpft wird. Dieses Argument greift zwar gerade bei Ausländern, deren Alter nicht feststeht, nicht. Allerdings dient bei ihnen – wie auch ganz allgemein – eine feste Altersgrenze der Einheitlichkeit des Rechtssystems und ist konsequent, wenn die Rechte und Pflichten eines Menschen weitgehend an die gleiche Schwelle anknüpfen. Zusätzlich ist dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts101 ein gewisser Spielraum bei der Regelung von Sachverhalten zu zugestehen. Dieser soll danach erst überschritten sein, wenn die Erwägungen des Gesetzgebers so offensichtlich fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben können. Bei der Frage, ob eine Altersgrenze von 18 Jahren tatsächlich sachgemäß ist, handelt es sich nicht um den Vorschlag einer besser geeigneten Regelungsmöglichkeit, sondern vielmehr um eine ethische Fragestellung. Der Gesetzgeber muss bei seiner Regelungsmaterie aber auch Praktikabilitätserwägungen anstellen. Ohne eine feste Altersgrenze dürfte das Institut der Inobhutnahme für die Jugendämter kaum durchführbar machen. Es würden sich dann auch Fragen zur Ungleichbehandlung gegenüber deutschen jungen Erwachsenen stellen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang weiterhin, dass eine starre Altersgrenze von 18 Jahren als Grenze der besonderen Schutzbedürftigkeit auch im völkerrechtlichen Kontext herangezogen wird. Die UN-Kinderrechtskonvention definiert beispielsweise in Art. 1 den Begriff des Kindes als Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Nur für diese Personengruppe hat der Gesetzgeber die Vorgaben über das Kindeswohl nach Art. 3 KRK einzuhalten. Eine feste Altersgrenze als solche wird hier nicht in Frage gestellt, sondern gleichermaßen vorgegeben. Der Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, das Einhalten einer festen Altersgrenze als Voraussetzung der Inobhutnahme durch das Jugendamt aufzustellen. Er hat somit keine offensichtlich fehlsamen Erwägungen angestellt. Im Ergebnis erfüllen radiologische Untersuchungen zum Zwecke der Altersschätzung auch das Kriterium der Erforderlichkeit. 100

Vgl. zur Verfassungskonformität des Wahlalters auch BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 2009 – 2 BvC 4/04, NVwZ-RR 2009, 313, 314; Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 38 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 95. 101 BVerfG, Beschl. v. 05. 03. 1974 – 1 BvL 27/72, NJW 1974, 1317, 1319; BVerfG, Beschl. v. 16. 03. 1971 – 1 BvR 52/66, NJW 1971, 1255, 1257; vgl. auch Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsrecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 530.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

d) Angemessenheit der Ausgestaltung von § 42f Abs. 2 SGB VIII Die Anwendung von Röntgenstrahlen müsste auch angemessen, also verhältnismäßig im engeren Sinne sein. In diesem Rahmen ist eine umfangreiche Abwägung der verschiedenen widerstreitenden Interessen vorzunehmen. Im Bereich von radiologischen Untersuchungen zur Altersschätzung von minderjährigen unbegleiteten Ausländern sind dabei verschiedene Interessen zu berücksichtigen. So stehen auf der einen Seite ethische, medizinische und rechtliche Argumente, die gegen die Zulässigkeit solcher Methoden sprechen. Auf der anderen Seite stehen aber auch politische, finanzielle und öffentliche Interessen, die eine Anwendung erforderlich erscheinen lassen. aa) Verhinderung von Täuschungen über das Alter Das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung dient primär der Sicherstellung, dass nur tatsächlich Minderjährigen eine Inobhutnahme durch das Jugendamt gemäß der §§ 42ff SGB VIII zu Teil wird. Dies stellt zugleich eines der gewichtigsten Argumente dar, das für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Durchführung von radiologischen Untersuchungen zur Altersfeststellung spricht, nämlich die Verhinderung von Missbrauchsfällen. Dies dürfte auch gleichzeitig dem gesetzgeberischen Zweck entsprechen, auch wenn sich dies nicht ausdrücklich aus der Gesetzesbegründung ergibt. Wie bereits aufgezeigt wurde, können Ausländer von zahlreichen Vorteilen profitieren, wenn sie von Behörden als minderjährig eingestuft werden und durch das Jugendamt in Obhut genommen werden. Im Vordergrund stehen insbesondere die erschwerte Abschiebung aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 58 Abs. 1a AufenthG sowie bessere Lebensbedingungen bei der Unterbringung und Versorgung durch das Jugendamt im Vergleich zu einer Gemeinschaftsunterkunft. Dadurch werden Anreize für volljährige Ausländer geschaffen, dem Jugendamt Ausweispapiere vorzuenthalten und über ihr wahres Alter zu täuschen. Über eine ungefähre Zahl von Ausländern in Deutschland, welche die Inobhutnahme durch das Jugendamt beantragt haben, obwohl sie volljährig sind, wurden bislang keine Daten erhoben. Auf Basis von Erhebungen in Dänemark und Österreich wird allerdings geschätzt, dass etwa 30 % der sich als minderjährig vorstellenden Ausländer tatsächlich volljährig sind und somit über ihr Alter täuschen.102 Laut einer unveröffentlichten Studie der Universitätsklinik Münster sollen sogar 40 % der nach Deutschland einreisenden Asylsuchenden sich fälschlicherweise als minderjährig ausgeben haben. Ausgewertet wurden dazu 594 Altersgutachten aus den Jahren 2007 bis 2018. Die Studie ist allerdings dadurch zur relativieren, dass nur Altersgutachten zur Prüfung vorgelegt wurden, bei denen bereits ein Anlass für

102

BT-Drs. 19/461 v. 17. 01. 2018, S. 2.

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Zweifel am Alter bestand.103 Die Studie und ihre Erkenntnisse sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, da nicht bekannt ist, welche Methoden zur Altersfeststellung angewandt wurden. Es existieren außerdem noch keine belastbaren Zahlen oder Schätzungen, wie hoch der Anteil der volljährigen Ausländer ist, der aufgrund einer Täuschung tatsächlich in Obhut genommen worden ist. Es ist aber davon auszugehen, dass von den geschätzten 30 bis 40 % der täuschenden, volljährigen Ausländer ein erheblicher Teil in Obhut genommen werden würde, wenn man auf ein medizinisches Verfahren zur Altersfeststellung verzichten würde. Wie bereits ausgeführt wurde, wird es den Mitarbeitern des Jugendamts insbesondere im Bereich der 18- bis 21-jährigen Ausländern schwerfallen, auf Basis der qualifizierten Inaugenscheinnahme ohne verbleibende Zweifel deren Volljährigkeit festzustellen. Dies würde im Ergebnis zu einer bedenklich hohen Zahl von Volljährigen führen, die in Obhut genommen werden würden. Dies gilt insbesondere für das Jahr 2016, als die Jugendämter insgesamt ca. 45.000 unbegleitete Ausländer in Obhut genommen haben, ist aber auch heute noch von Relevanz. Beispielsweise wurden im Jahr 2019 immerhin noch ca. 8.600 unbegleitete Ausländer in Obhut genommen (vgl. S. 17). Es wäre sicherlich ein Novum im deutschen Sozialsystem, wenn der Staat auf Basis der genannten Zahlen die tatsächliche Leistungsberechtigung der Betroffenen nicht ernsthaft überprüfen wollen würde. Auch im Bereich der Sozialhilfe überprüfen die Behörden beispielsweise die Anspruchsvoraussetzungen und verfolgen strafrechtlich (zu Recht) Fälle von aufgedecktem Sozialbetrug. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass die geschätzten Zahlen zu missbräuchlichen Altersangaben im Umkehrschluss bedeuten, dass ca. 70 % der Ausländer, welche eine Inobhutnahme begehren, tatsächlich minderjährig sind und als solche im deutschen und im internationalen Rechtswesen als besonders schutzwürdig gelten. Dennoch wird sich auch ein Großteil von diesen Minderjährigen einer Altersfeststellung unterziehen müssen. Problematisch ist, dass eine exakte Altersfeststellung nicht möglich ist und in der medizinischen Fachliteratur auch umstritten ist, wie zuverlässig eine Altersfeststellung mittels Röntgenuntersuchung tatsächlich sein kann. Vor diesem Hintergrund relativiert sich das Argument der Missbrauchsabwehr, da auch radiologische Untersuchungen nur bedingt zu einer effektiven Missbrauchsabwehr beitragen können. Die Schätzung eines Mindestalters, die aus diesem Grund stark befürwortet wird,104 kann zwar durchaus verhindern, dass Ausländer in Obhut genommen werden, die deutlich über 18 Jahre alt sind. Allerdings ist es bei solchen Extremfällen gleichzeitig wahrscheinlicher, dass bei ihnen bereits im Rahmen der qualifizierten 103

Welt (dpa), Artikel vom 17. 09. 2019, „40 Prozent der überprüften Flüchtlinge gaben falsches Alter an“, https://www.welt.de/politik/deutschland/article200417362/Studie-vonRechtsmedizinern-40-Prozent-der-ueberprueften-Fluechtlinge-gaben-falsches-Alter-an.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 104 Berfurt/Kirchhoff/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2020, 241, 242; Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 49.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Inaugenscheinnahme oder zumindest einer körperlichen Begutachtung durch einen Arzt die Minderjährigkeit ausgeschlossen werden kann. Umgekehrt führt das Mindestalterskonzept dazu, dass viele Volljährige als minderjährig eingestuft werden. Insbesondere der Kreis der 18- bis 21-Jährigen dürfte nach dem Mindestalterskonzept häufig als minderjährig eingestuft werden (vgl. S. 104). Solange auch radiologische Untersuchungen nicht zu einer unumstritten zuverlässigen Altersfeststellung führen können, sind weitere Argumente erforderlich, die die Durchführung von radiologischen Untersuchungen rechtfertigen. bb) Leistungsfähigkeit des Staates Berücksichtigt werden müssen auch finanzielle Interessen des Staates. Denn die Inobhutnahme von Minderjährigen durch das Jugendamt belastet die Staatskasse in erheblichem Maße. Die Kosten für Inobhutnahme und Hilfen zur Erziehung variieren nach Angaben der Bundesländer zwischen EUR 90,00 und EUR 205,00 für einen unbegleiteten, minderjährigen Ausländer pro Tag.105 Die jährlichen Kosten eines unbegleiteten Minderjährigen liegen damit zwischen EUR 32.850,00 und EUR 74.825,00 (vgl. S. 17). Berücksichtigt man, dass sich Ende des Jahres 2017 ca. 55.000 unbegleitete minderjährige Ausländer in jugendhilferechtlicher Zuständigkeit befanden,106 bedeutet dies eine erhebliche Belastung für den Staatshaushalt. Aus diesem Grund besteht ein Interesse des Staates, die Inobhutnahme von jungen Ausländern zu reglementieren, insbesondere nur tatsächlich minderjährigen Ausländer Inobhutnahme durch das Jugendamt zu gewähren. Hinzu kommt, dass teilweise gefordert wird, dass die Gesundheitsversorgung vor allem in Bezug auf psychische Erkrankungen verbessert wird. Dazu sollen psychosoziale Zentren durch Bundes- und Landesmittel ausgebaut werden und die Erstattung von Sprachmittlungskosten gesetzlich sichergestellt werden.107 Um eine optimale Versorgung der unbegleiteten, tatsächlich minderjährigen Ausländer zu gewährleisten, müsste der Staat also noch zusätzliche finanzielle Mittel aufwenden. Problematisch ist, dass die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs aus finanziellen Interessen des Staates nicht ohne weiteres zulässig ist. Das Grundgesetz hat eine übermäßige Belastung der Staatskasse bei keinem der Grundrechte als Schranke vorgesehen. Der Staat ist grundrechtverpflichtet, aber

105

S. 9.

Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand v. 27. 08. 2018, WD 9 – 3000 – 062/18,

106 BumF, Pressemitteilung vom 26. 01. 2018, https://b-umf.de/src/wp-content/uploads/201 8/02/2018_01_26_PM_Online_Umfrage_2017.pdf, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 107 BumF, Pressemitteilung vom 26. 01. 2018.

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nicht grundrechtsberechtigt.108 Eingriffe können in diesem Rahmen nur über Schrankenvorbehalte gerechtfertigt werden. Grundsätzlich sind in der Bundesrepublik Deutschland Einnahmegesetze, Leistungsgesetze und der Staatshaushalt voneinander entkoppelt.109 Leistungsansprüche von Bürgern sollen grundsätzlich nicht von der finanziellen Interessenlage des Staates abhängig sein. Die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ist daher ausschließlich nach Rechtsstaatlichkeitsgrundsätzen zu bemessen, nicht aber nach der Kassenlage.110 Dies kann allerdings nicht zur Folge haben, dass finanzielle Interessen des Staates vorliegend gar keinen Einfluss auf die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs haben können. Im Rahmen der Angemessenheit hat eine umfassende Interessenabwägung unter Einbeziehung aller relevanten Gesichtspunkte zu erfolgen. Zwar hat der Staatshausalt als solcher keinen verfassungsrechtlich gesicherten Rang und kann folglich nicht unmittelbar im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs herangezogen worden.111 Allerdings müssen zumindest die mittelbaren Auswirkungen der Vernachlässigung des Staatshaushalts auf die Interessen der Allgemeinheit berücksichtigt werden. Diese Interessen sind der Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung grundsätzlich zugänglich. So steht es insbesondere im Interesse der Allgemeinheit, dass der Staat seinen Haushalt vernünftig führt. Denn die unbegrenzte Ausgabe von Staatsgeldern führt zu einer zunehmenden Überschuldung des Staates und damit mittelfristig zu einer Leistungskürzung für die Allgemeinheit. Dass dem Gesetzgeber dies bewusst ist, zeigt sich beispielsweise in § 7 BHO. Die öffentliche Hand hat danach bei Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten (sog. Wirtschaftlichkeitsprinzip). Einschränkend ist diesbezüglich allerdings zu beachten, dass der Gesetzgeber hier einen weiten Spielraum hat, da er zur Verfolgung politischer Ziele unwirtschaftliche gesetzliche Vorgaben machen darf, um nicht in Konflikt mit dem Demokratieprinzip zu geraten.112 Das Bundesverfassungsgericht113 hat gleichwohl anerkannt, dass eine übermäßige Staatsverschuldung und die damit verbundene Zinslast das langfristige Wachstum der Wirtschaft hemmen, die aktuellen Handlungsspielräume des Staates verengen 108 BVerfG, Beschl. v. 09. 06. 2004 – 2 BvR 1248/03, NVwZ 2005, 572, 573 f.; Kirchhof, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 115; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 1 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 73. 109 von Lewinski, DÖV 2015, 406, 411; Wernsmann, NVwZ 2019, 1401, 1404. 110 von Lewinski, DÖV 2015, 406, 411. 111 von Lewinski, DÖV 2015, 406, 411. 112 von Lewinski/Burbat, in: von Lewinski/Burbat, Bundeshaushaltsordnung, 1. Aufl. 2013, § 7 BHO Rn. 1. 113 BVerfG, Urt. v. 09. 07. 2007 – 2 BvF 1/04, NVwZ 2007, 1405, 1411; so auch Grunow, Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Steuerlast und Steuererhebung, S. 28.

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und Finanzierungslasten in die Zukunft auf künftige Generationen verlagern. Der Gesetzgeber habe die Aufgabe, mit einer situations- und konjunkturadäquaten Verschuldensgrenze verantwortlich und verfassungsgemäß umzugehen. Gleichzeitig führt eine weitere Staatsverschuldung regelmäßig zu einer Erhöhung der Steuerbelastung der Bürger, da Steuern das erste Instrument zur Finanzierung der öffentlichen Hand sind.114 Diese Steuerbelastungen berühren wiederum das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit der Allgemeinheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, was vom Staat zu rechtfertigen ist. Dieser Rechtfertigung kann allerdings nur gelingen, wenn der Staat nicht willkürlich mit dem Staatshaushalt umgeht.115 Insofern ist es im Grundsatz nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Gewährung von Sozialleistungen synallagmatisch an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten knüpft. So sieht beispielsweise § 62 SGB I generalklauselartig vor, dass sich Bürger bei der Beantragung von Sozialleistungen den erforderlichen ärztlichen Untersuchungen unterziehen müssen. Nach hier vertretener Auffassung können unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen Leistungsgesetze nicht völlig vom Staatshaushalt entkoppelt werden, da jedenfalls ein faktischer, wirtschaftlicher Zusammenhang besteht. Die Belastung des Staatshaushalts als solche stellt bei der Abwägung der Angemessenheit einer staatlichen Maßnahme zwar kein ausschlaggebendes Argument dar. Allerdings ist mittelbar zu berücksichtigen, inwiefern diese Belastung in die Rechte Dritter eingreift. Betrachtet man die Tageskosten für die Inobhutnahme eines Minderjährigen in Höhe von ca. EUR 90,00 bis ca. EUR 205,00, stellen diese bei einer hohen Anzahl an Inobhutnahmen eine nicht unerhebliche Belastung des Staatshaushalts dar. Dies kann zur Rechtfertigung einer sorgfältigen Prüfung der Leistungsberechtigung von jungen Ausländern herangezogen werden. Letztlich ist eine solche Prüfung auch als zwingende Voraussetzung eines funktionieren Rechtsund Sozialstaats anerkannt.116 cc) Gleichbehandlung bei der Leistungsgewährung Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs sind die Interessen der Allgemeinheit auch aus Gleichheitserwägungen im Sinne des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Für die Durchführung radiologischer Untersuchungen zum Zwecke einer möglichst zuverlässigen Altersfeststellung spricht, dass die Allgemeinheit ein Interesse daran hat, dass der Staat vor der Erbringung staatlicher Fürsorgeleistungen die Er114 BFH, Beschl. v. 08. 11. 1972 – II B 24/72, juris-Rn. 14, DStR 1973, 58; Kirchhof, NJW 1987, 3217, 3219; Kirchhof, DStR 2020, 1073, 1076. 115 Vgl. Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 20 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 776; Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 20 GG Rn. 197. 116 Hase, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 60 SGB I Rn. 3; Sichert, in: Hauck/Noftz. Sozialgesetzbuch I, § 60 SGB I Rn. 1; konkret zu § 42f SGB VIII Parzeller, Rechtsmedizin 2015, 21, 22.

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füllung der jeweiligen Leistungsvoraussetzungen durch den Betroffenen überprüft. Dies ergibt sich insbesondere aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip bzw. der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gem. Art. 20 Abs. 3 GG. So ist es im Bereich der Sozialleistungen anerkannt, dass Leistungsempfängern erhebliche Mitwirkungspflichten auferlegt werden. Beispielsweise müssen Bürger detailliert Auskunft über die eigenen Einkommens- und Vermögensverhältnisse geben, wenn sie Sozialhilfe oder vergleichbare Leistungen erhalten möchten.117 Auch hier sind vorwiegend die Verhinderung von Missbrauchsfällen und die finanzielle Belastung des Staates die wesentlichen Argumente für eine Überprüfung der Leistungsvoraussetzungen.118 Insofern darf die Allgemeinheit erwarten, dass der Gesetzgeber auch im Bereich der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII geeignete Maßnahmen vorsieht, die der Überprüfung der erforderlichen Voraussetzungen dienen. Ansonsten würde es eine Verletzung des Willkürverbots nach Art. 3 Abs. 1 GG darstellen, wenn der Gesetzgeber ohne Vorliegen eines besonderen Grundes bei der Inobhutnahme auf eine sorgfältige Überprüfung verzichten würde. Denn der Staat darf keine Differenzierungen vornehmen, die sich nicht auf einen vernünftigen oder sonst wie einleuchtenden Grund zurückführen lassen.119 Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen ist in § 31 SGB I auch ein ausdrücklicher Vorbehalt des Gesetzes im Sozialleistungsbereich, also über die Eingriffsverwaltung hinaus, kodifiziert. Um eine Gleichbehandlung der Bürger zu gewährleisten, soll darüber sichergestellt werden, dass die im Sozialgesetzbuch geregelten staatlichen Leistungen nicht nach freiem Ermessen der Behörden gewährt werden, sondern nur bei Vorliegen der erforderlichen Leistungsberechtigung.120 Dies dient auch der Verwirklichung des Rechts- und Sozialstaatsprinzips.121 Für die Frage, ob in Bezug auf das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII eine solche unzulässige Differenzierung im Verhältnis zu der Prüfung der Leistungsberechtigung bei anderen Sozialleistungen vorliegt, ist aber zu berücksichtigen, dass vorliegend nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ der Überprüfung der Minderjährigkeit in Frage steht. Wie bereits festgestellt worden ist, hat der Ge117 Sichert, in: Hauck/Noftz. Sozialgesetzbuch I, § 60 SGB I Rn. 38; Voelzke, in: Schlegel/ Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 60 SGB I Rn. 55. 118 Hase, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 60 SGB I Rn. 2; Sichert, in: Hauck/Noftz. Sozialgesetzbuch I, § 60 SGB I Rn. 1; Voelzke, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 60 SGB I Rn. 28; so auch Schmeling, Die aktuelle medizinethische Debatte über forensische Altersdiagnostik bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, S. 23. 119 BVerfG, Urt. v. 23. 10. 1951 – 2 BvG 1/51, NJW 1951, 877, 878, BVerfGE 1, 14; BVerfG, Beschl. v. 16. 05. 1961 – 2 BvF 1/60, NJW 1961, 1395; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 21; Kirchhof, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 264. 120 Hauck, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch I, § 31 SGB I Rn. 1 f. 121 Hauck, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch I, § 31 SGB I Rn. 1; Weselski, in: Schlegel/ Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 31SGB I Rn. 10.

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setzgeber im Rahmen des Verfahrens zur Altersfeststellung – das als solches keinen grundsätzlichen Bedenken begegnet – auf erster Stufe die Einsichtnahme in Ausweispapiere sowie eine qualifizierte Inaugenscheinnahme vorgesehen, was nach hier vertretener Auffassung verfassungsrechtlich unbedenklich ist (vgl. S. 160 ff.). Zusätzlich sind im Rahmen der ärztlichen Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII auch nichtinvasive Maßnahmen wie die äußerliche Begutachtung, eine Gebissanalyse ohne Röntgenaufnahmen und eine psychologische Begutachtung vorgesehen. Die Röntgenuntersuchungen stellen hier nicht die einzige mögliche Maßnahme zur Altersschätzung dar. Eine Überprüfung der Leistungsvoraussetzungen findet damit in jedem Fall statt. Vorliegend stellt sich lediglich die Frage, ob der Gesetzgeber aufgrund des allgemeinen Gleichheitsgebots zusätzlich verpflichtet ist, zuverlässigere radiologische Untersuchungen durchführen zu lassen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber bei Wertentscheidungen einen gewissen Regelungsspielraum hat. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz liegt erst vor, wenn Gesetzlichkeiten, die in der Sache selbst liegen, und die fundierten allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft missachtet werden.122 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts123 ist dem Gesetzgeber insbesondere im Bereich von sozialpolitischen Entscheidungen ein beachtlicher Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum anzuerkennen, solange dessen Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind. Nach hier vertretener Auffassung wird der allgemeine Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt, wenn von der Anwendung von Röntgendiagnostik im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII abgesehen wird. Es liegt keine Verletzung von fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft vor. An dem teils heftigen Streit um die Zulässigkeit von Röntgendiagnostik zeigt sich bereits, dass es diesbezüglich schon von vorneherein an fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen fehlt. Es existieren gleichermaßen Befürworter und Gegner von Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern (vgl. S. 155), ohne dass sich dabei eine klare gesellschaftspolitisch herrschende Meinung abzeichnen lässt. Aber auch in der Sache selbst wäre es nicht als willkürlich vom Gesetzgeber anzusehen, wenn er hier auf die Anwendung von Röntgendiagnostik verzichten würde. Es blieben zur Altersfeststellung immer noch die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII sowie eine nichtinvasive ärztliche Unter-

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Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 34; Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 55; Kirchhof, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 429. 123 BVerfG, Beschl. v. 08. 02. 1994 – 1 BvR 1237/85, NJW 1994, 2410, 2411; BVerfG, Beschl. v. 29. 03. 1996 – 1 BvR 1238/95, juris-Rn. 8, FamRZ 1996, 789; vgl. dazu außerdem auch BSG, Urt. v. 10. 10. 2018 – B 13 R 34/17 R, juris-Rn. 22, BSGE 127, 25.

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suchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII bestehen, wobei bei letzterer auch Ultraschalluntersuchungen denkbar wären (vgl. S. 105). In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass sich die Situation um die Inobhutnahme von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern in den Jahren 2015 bis 2017 aufgrund der Flüchtlingswelle besonders extrem dargestellt hat. Seitdem ist die Zahl der Inobhutnahmen von Ausländern aus dieser Personengruppe von ca. 45.000 im Jahr 2016 auf ca. 8.600 im Jahr 2019 mit weiter sinkender Tendenz stark zurückgegangen (vgl. S. 17). Insgesamt kann aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG kein wesentliches Argument zur Rechtfertigung von Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung gezogen werden. dd) Verletzung des Kindeswohls bei Fehleinschätzung Ein weiterer, zu beachtender Gesichtspunkt ist die verfassungsrechtlich gesicherte Stellung des Minderjährigen. Aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG wird das sogenannte staatliche Wächteramt abgeleitet. Darunter versteht man die Verpflichtung des Staates, zu überwachen, ob Eltern ihrer Pflicht zur Pflege und Erziehung nachkommen.124 Das staatliche Wächteramt soll dafür sorgen, dass Kindern eine eigene Menschenwürde und ein eigenes Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit zukommen.125 Der Erfüllung dieses staatlichen Wächteramtes dienen insbesondere die Jugendämter, aber auch die Familiengerichte.126 Bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern können deren Eltern ihre Pflicht zur Pflege und Erziehung gegenüber ihren Kindern nicht mehr wahrnehmen, sodass hier das staatliche Wächteramt eingreifen muss. Dabei muss der Staat das Kindeswohl vorrangig berücksichtigen.127 Dies wird über die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII gewährleistet. Zweck der Inobhutnahme durch das Jugendamt gemäß der §§ 42 ff. SGB VIII ist es, als Schutzmaßnahme im Sinne einer sozialpädagogischen Krisenintervention für Kinder und Jugendliche in einer aktuellen Notlage zu dienen.128 124 BVerfG, Beschl. v. 29. 07. 1968 – 1 BvL 20/63, NJW 1968, 2233, 2234; Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 6 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 139; Burghart, in: Leibholz/ Rinck, Grundgesetz, Art. 6 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 636; Antoni, in: Hömig/Wolff, Grundgesetz, 12. Aufl. 2018, Art. 6 GG Rn. 18. 125 BVerfG, Beschl. v. 29. 07. 1968 – 1 BvL 20/63, NW 1968, 2233, 2234; Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 6 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 139; Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 6 GG Rn. 60a. 126 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 6 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 139; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 6 GG Rn. 189. 127 Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 6 GG Rn. 185; von Coelln, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 6 GG Rn. 79; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 6 GG Rn. 56. 128 BVerfG, Beschl. v. 14. 06. 2007 – 1 BvR 338/07, NJW 2007, 3560, 3561; BVerwG, Urt. v. 08. 07. 2004 – 5 C 63/03, JAmt 2004, 438; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 SGB VIII Rn. 28; Bohnert, in: Hauck/ Noftz, Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, § 42 SGB VIII Rn. 1.

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Bereits aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass der Staat zur Inobhutnahme von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern verpflichtet ist, da er sonst das Kindeswohl verletzt. Problematisch ist es, wenn der Staat aufgrund fehlender Nachweise über das Alter ein Verfahren zur Altersfeststellung durchführt, das dazu führen kann, dass der Minderjährige als volljährig eingestuft und folglich nicht in Obhut genommen wird. Dies ist auch im Rahmen der Durchführung von Röntgenuntersuchungen möglich, da diese eine Standardabweichung von bis zu drei Jahren vorsehen (vgl. dazu S. 99 f.).129 Der Staat verletzt bei einer Fehleinschätzung dann das Kindeswohl des Betroffenen. Dies gilt im Übrigen auch für die qualifizierte Inaugenscheinnahme und nichtinvasive ärztliche Untersuchungen, insbesondere, wenn dabei ein strenger Maßstab angelegt wird. Dem könnte entgegengehalten werden, dass zumindest über die Anwendung des Mindestalterskonzepts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass ein Minderjähriger als volljährig eingestuft wird. Hierüber könnte sichergestellt werden, dass das Kindeswohl zumindest mit Blick auf mögliche Fehleinschätzungen aufgrund von Standardabweichungen nicht verletzt wird. Das setzt allerdings voraus, dass das Mindestalterskonzept auch verpflichtend angewendet wird. Weder der Wortlaut von § 42f SGB VIII noch die Gesetzesbegründung enthalten – wie bereits festgestellt wurde – konkrete Hinweise zu der Durchführung der ärztlichen Untersuchung. Dies führt aber dazu, dass in der Praxis Jugendämter Altersgutachten in Auftrag geben können, bei denen beispielsweise nur ein Handradiogramm oder ein Orthopantogramm erstellt werden und anschließend das wahrscheinlichste mittlere Alter festgesetzt wird. Solange eine solche Vorgehensweise nicht nach § 42f SGB VIII explizit ausgeschlossen ist, liegt ein Verstoß gegen das Kindeswohl als Ausfluss des staatlichen Wächteramts nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG vor. Der Staat hat allerdings nicht nur gegenüber den Minderjährigen, die unbegleitet aus dem Ausland nach Deutschland einreisen, solche Schutzpflichten, sondern auch gegenüber denjenigen Minderjährigen, die bereits in Deutschland vom Jugendamt in Obhut genommen worden sind. Wenn Jugendämter überlastet sind, kann der Staat dies nicht mehr uneingeschränkt gewährleisten.130 Dass der Staat also auch verfassungsrechtlich dazu verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass nur wirklich anspruchsberechtigte Personen durch das Jugendamt in Obhut genommen werden, ergibt sich damit ebenfalls aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Ein möglichst zuverlässiges Verfahren zur Altersfeststellung kann damit auch den Betroffenen – tatsächlich minderjährigen Ausländern – als Schutzmechanismus dienen. Andererseits kann dem entgegengehalten werden, dass es Aufgabe des 129

Winkelmann/Wunderle, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 49 AufenthG Rn. 20; Möller, in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2017, § 42f SGB VIII Rn. 13. 130 Vgl. auch Befurt/Kirchhoff/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2015, 241, 242.

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Staates ist, den Jugendämtern mehr Ressourcen, insbesondere Personal, zur Verfügung zu stellen. Dieses Problem hat der Gesetzgeber auch erkannt und aus diesem Grund im Jahr 2015 auch das Verteilungsverfahren in § 42b SGB VIII eingeführt (vgl. S. 44). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang aber auch, ob minderjährige Ausländer, die fälschlicherweise als volljährig eingestuft werden, tatsächlich vollkommen schutzlos bleiben. Erhalten auch junge Erwachsene noch ausreichend staatliche Hilfestellungen, relativiert dies zumindest die Nachteile für einen Minderjährigen, der nach der medizinischen Altersuntersuchung fehlerhaft als junger Erwachsener eingestuft worden ist. Unstrittig ist in diesem Zusammenhang, dass eine Inobhutnahme von Volljährigen in rechtlich zulässiger Weise nicht möglich ist. Der Wortlaut der §§ 42 ff. SGB VIII ist insoweit eindeutig und lässt keine Ausnahmen für Zweifelsfälle zu. Eine kindgerechte Unterbringung von einem Minderjährigen, der als volljährig eingestuft worden ist, kann damit in jedem Fall nicht mehr gewährleistet werden. Berücksichtigt werden muss jedoch auch, dass junge Erwachsene aus sozialrechtlicher Sicht nicht gänzlich schutzlos gestellt werden. Wie bereits aufgezeigt worden ist, sieht § 41 SGB VIII vor, jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenverantwortlichen Lebensführung zu gewähren. Dies umfasst insbesondere die Krankenhilfe nach § 40 SGB VIII und Unterhaltsleistungen nach § 39 SGB VIII (vgl. S. 133 ff.). Im Ergebnis überwiegt allerdings das Interesse des Kindes, zuverlässig als minderjährig eingestuft zu werden und in Obhut genommen zu werden. Das Kindeswohl kann nicht, jedenfalls nicht ohne ausreichende Rechtfertigung, hinter finanziellen und verwaltungstechnischen Interessen des Staates zurückbleiben. Die besondere Bedeutung des Kindeswohl wird zusätzlich durch die Garantien der Kinderrechtskonvention hervorgehoben (vgl. dazu S. 265). Mit der hier vertretenen Auffassung, dass Altersfeststellungen im Grundsatz sinnvoll und notwendig sind, ist aus Kindeswohlgesichtspunkten die Anwendung des Mindestalterskonzepts zwingend. Die Zulässigkeit von Verfahren, nach denen eine fehlerhafte Feststellung der Volljährigkeit ermöglicht wird, verletzt das Kindeswohl dagegen erheblich. ee) Risiko einer Gesundheitsschädigung Eng mit dem Kindeswohl verbunden ist die Gefahr von Gesundheitsschädigungen bei der Anwendung von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung. Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft ist unklar, wie hoch dieses Risiko ist (vgl. S. 172 ff.). Festgestellt wurde insofern bereits, dass die Existenz des bloßen Gesundheitsrisikos ausreichend ist, um einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu begründen. Es stellt sich die Frage, wie hoch dieses Risiko im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dieses Eingriffs zu gewichten ist.

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Im Bereich von Gesundheitsgefährdungen durch Umwelteinflüsse existiert eine umfangreiche Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.131 In der Kalkar-I-Entscheidung132 zur Zulassung und Betrieb eines Kernkraftwerks hat es ausführlich und sehr überzeugend ausgeführt, dass der Gesetzgeber auf Schlüsse aus der Beobachtung vergangener tatsächlicher Geschehnisse auf die relative Häufigkeit des Eintritts und den gleichartigen Verlauf gleichartiger Geschehnisse in der Zukunft angewiesen sei, um die Möglichkeit künftiger Schäden durch die Errichtung oder den Betrieb einer Anlage oder durch ein technisches Verfahren abzuschätzen. Wenn dafür eine hinreichende Erfahrungsgrundlage fehle, müsse er sich auf Schlüsse aus simulierten Verläufen beschränken. Auch naturwissenschaftliches Erfahrungswissen sei nur Annäherungswissen, solange die menschliche Erfahrung nicht abgeschlossen sei. Ohne volle Gewissheit befinde sich der Gesetzgeber immer nur auf dem neuesten Stand unwiderlegten möglichen Irrtums. Diese Gedanken lassen sich passend auf die Gesundheitsrisiken bei der Anwendung von Röntgendiagnostik im Niedrigdosisbereich übertragen. Auch hier besteht noch keine volle Gewissheit, da die Forschung noch nicht annähernd abgeschlossen ist. Als gesichert gilt zwar, dass sich Röntgenstrahlung auch im Niedrigdosisbereich grundsätzlich als stochastischer Effekt schädigend auf den Zellorganismus des Menschen auswirken kann.133 Geklärt ist aber nicht, wie hoch das konkrete Risiko im Einzelfall ist, als Langzeitfolge (früher) an Krebs zu erkranken oder genetische Schäden davonzutragen. Das durchschnittliche lebenslange zusätzliche Sterberisiko wird bei einer akuten Dosis von 100 mSv auf 0,4 bis 0,8 % für Krebs und auf 0,03 bis 0,05 % für Leukämie geschätzt, wobei ein Prozent einem zusätzlichen Todesfall pro 100 Personen entspricht.134 Das erscheint zunächst hoch, allerdings ist mit Blick auf die hier in Frage stehende Röntgendiagnostik zu berücksichtigen, dass beispielsweise bei der Bestrahlung des Schlüsselbeins lediglich eine akute Dosis von 0,4 mSv anfällt.135 Es wird außerdem nicht der gesamte Körper bestrahlt. Hier fehlt mangels vorhandener Studien ein naturwissenschaftliches Erfahrungswissen, ab welcher Strahlendosis sich Röntgenstrahlung tatsächlich auf den Betroffenen gesundheitsschädigend auswirkt (vgl. dazu S. 172 ff.).

131 BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77, NJW 1979, 359, 362 („Kalkar I“); BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 1979 – 1 BvR 385/77, NJW 1980, 759, 762 f. („Mühlheim-Kärlich“); BVerfG, Beschl. v. 14. 01. 1981 – 1 BvR 612/72, NJW 1981, 1655, 1657 („Fluglärm“); BVerfG, Beschl. v. 16. 12. 1983 – 2 BvR 1160/83, NJW 1984, 601, 602 („Pershing II“); BVerfG, Beschl. v. 17. 02. 1997 – 1 BvR 1658/96, NJW 1997, 2509, 2510 („Elektrosmog“). 132 BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77, NJW 1979, 359, 363 („Kalkar I“). 133 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 43. 134 Bundesamt für Strahlenschutz, Strahlenwirkungen, Krebs und Leukämie, https://www. bfs.de/DE/themen/ion/wirkung/krebs/einfuehrung/einfuehrung.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 135 Schmeling/Dettmeyer/Rudolf/Vieth/Geserick, DÄ 2016, 44, 46.

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Dass Bundesverfassungsgericht hat gleichwohl im Kalkar-I-Beschluss136 weiter ausgeführt, dass die Anforderungen an den Gesetzgeber nicht überspannt werden dürfen. Man würde die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen, wenn man vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung fordere, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb möglicherweise entstehen können. Für die Gestaltung der Sozialordnung müsse es insoweit bei Abschätzungen anhand praktischer Vernunft sein Bewenden haben. Ungewissheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft seien unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen. Danach ist vorliegend abzuwägen, ob das Risiko einer Gesundheitsschädigung durch die Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung so gering ist, dass es als sozialadäquate Last von asylsuchenden unbegleiteten, jungen Ausländern zu tragen ist. Dagegen spricht, dass das Auftreten von Langzeitenfolgen nach aktuellem Stand der Wissenschaft nicht ausgeschlossen werden kann. Krebserkrankungen und genetischen Schäden als mögliche Folgen einer Bestrahlung stellen grundsätzlich schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen dar. Hinzu kommt, dass es sich bei den Betroffenen um junge Menschen handelt, bei denen die Mortalitätsrate im frühen Alter besonders hoch ist.137 Auch die strengen Regulierungen des Strahlenwesens auf europäischer (Richtlinie 2013/59/Euratom) und nationaler Ebene (Strahlenschutzgesetz) zeigen, dass der Gesetzgeber Röntgendiagnostik durchaus für gefährlich hält und ernst nimmt. Die Gesetzgebung sieht beispielsweise keine Strahlendosis-Mindestwerte für das Erfordernis des Vorliegens einer medizinischen Indikation bei der medizinischen Anwendung vor (vgl. § 83 StrlSchG). Andererseits ist aufgrund der geringen Strahlenbelastung bei der Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung nur von einem sehr geringen Strahlenrisiko auszugehen.138 Auch der Umstand, dass die natürliche effektive Strahlendosis in Deutschland größer als bei der Röntgendiagnostik ausfällt, ist dabei zu berücksichtigen. Es liegen auch noch keine Erkenntnisse vor, aus denen sich ableiten lässt, dass die Krebsrate in Deutschland allgemein im Zusammenhang mit Röntgenuntersuchungen des Kiefers, der Handgelenke oder des Schlüsselbeins angestiegen wären. Nach hier vertretener Auffassung liegt die Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung damit zumindest an der Grenze des sozialadäquaten Bereichs und ist auf136 BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77, NJW 1979, 359, 363 („Kalkar I“); so auch Murswick/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 161; Horn, in: Stern/ Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019 Art. 2 GG Rn. 85; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 GG Rn. 80; Antoni, in: Hömig/Wolff, Grundgesetz, 12. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 12. 137 Shannoun/Blettner/Schmidberger/Zeeb, DÄ 2008, 41, 43. 138 Meier/Schmeling/Loose/Vieth, Rechtsmedizin 2015, 30, 30.

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grund des sehr geringen Strahlenrisikos nicht per se unzulässig.139 Die bisherigen Ausführungen zeigen aber auch, dass der Gesetzgeber nicht leichtfertig mit Röntgendiagnostik ohne medizinische Indikation umgehen darf. Betroffene dürfen dem Risiko nicht unnötig ausgesetzt werden, die Strahlenbelastung muss so gering wie möglich gehalten werden.140 Aktuell verletzt der Gesetzgeber in diesem Sinne seine Schutzpflichten, da er Behörden im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII zu viel Gestaltungsspielraum bei der Anwendung von Röntgendiagnostik überlässt. Die Norm sieht keinerlei Beschränkungen für die Anwendung von Röntgenuntersuchungen vor. Diese sollte aber auf das erforderliche Maß begrenzt bleiben. Unverhältnismäßig und nicht mehr sozialadäquat ist es zudem, wenn sich ein Ausländer mehrfach einer medizinischen Altersfeststellung unterziehen muss, beispielsweise weil im Gesetz keine Bindungswirkung vorgesehen ist. Diese kann sich mit der hier vertretenen Ansicht zwar aus einer verfassungskonformen Auslegung ergeben (vgl. S. 125 ff.). Allerdings entspricht dies nicht der aktuellen Praxis. Grund dafür ist insbesondere die Gesetzesbegründung, nach der eine solche Bindungswirkung abgelehnt wird.141 Dies stellt eine Verletzung der Schutzpflichten des Gesetzgebers dar. Solange diese Gesichtspunkte nicht gewährleistet sind, sprechen gesundheitliche Erwägungen zum Strahlenrisiko gegen eine Verhältnismäßigkeit von § 42f Abs. 2 SGB VIII in der aktuellen Ausgestaltung.142 ff) Ethische Erwägungen Im Verfassungsrecht spielen auf Ebene der Wertung von Grundrechtseingriffen ethische Gesichtspunkte eine besondere Rolle. Wie die Historie des Grundgesetzes143 als auch die ständige Rechtsprechung das Bundesverfassungsgerichts144 zeigen, stellen die Grundrechte der deutschen Verfassung nicht nur ein bloßes Beiwerk zur rechtstheoretischen Auslegung von Normen dar, sondern vielmehr ein Einfallstor für gesellschaftliche, ethische und moralische Wertungen zur Überprüfung – und gegebenenfalls zur Korrektur – der einfachrechtlichen Gesetzgebung. Die Begriffe des 139

So im Ergebnis auch Meier/Schmeling/Loose/Vieth, Rechtsmedizin 2015, 30, 30; Befurt/ Kirchhoff/Rudolf/Schmeling, Rechtsmedizin 2015, 241, 242; Parzeller, Rechtsmedizin 2015, 21, 22; Rudolf, Rechtsmedizin 2016, 526, 532. 140 Murswick/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 200. 141 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 142 So im Ergebnis auch Löhr, ZAR 2010, 378, 383 wegen unangemessener Zweck-MittelRelation. 143 Vgl. zur „Verantwortungsethik“ aus der Präambel des Grundgesetzes Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Präambel (Stand: 92. EL 2020) Rn. 31. 144 BVerfG, Urt. v. 26. 02. 2020 – 2 BvR 2347/15, NJW 2020, 905 zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung; BVerfG, Beschl. v. 10. 10. 2017 – 1 BvR 2019/16, NJW 2017, 3643 zum Schutz der geschlechtlichen Identität; BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 1741/00, NJW 2001, 879 zur Speicherung des genetischen Fingerabdrucks bei verurteilten Straftätern, BVerfG, Urt. v. 01. 07. 1998 – 2 BvR 441/90, NJW 1998, 3337 zur Gefangenenentlohnung; BVerfG, Beschl. v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 497/92, NJW 1998, 519 zum Kind als Schaden.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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Rechts und der Ethik sind eng miteinander verbunden.145 Dies gilt insbesondere im Bereich von medizinischen Fragestellungen.146 Aus ethischer Perspektive stellt sich im Rahmen des Verfahrens zur medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII die Frage, inwieweit es – insbesondere für die ausführenden Ärzte – vertretbar sein kann, Röntgendiagnostikverfahren an Minderjährigen auf staatliche Veranlassung durchzuführen, obwohl es keine medizinische Indikation dafür gibt und gleichzeitig die Gefahr besteht, dass diese als volljährig eingestuft werden. Dieses Problem wurde aus rechtlicher Sicht bereits behandelt (vgl. S. 113 ff.), allerdings handelt es sich dabei – unabhängig von der Frage der Möglichkeit und Wirksamkeit der Einwilligung eines Betroffenen – auch um eine ethische Fragestellung. Die Bundesärztekammer definiert die medizinische Indikation als die Beurteilung eines Arztes, ob eine konkrete medizinische Maßnahme angezeigt ist, um ein bestimmtes Behandlungsziel zu erreichen. Die medizinische Indikation soll das „Kernstück ärztlicher Legitimation“ sein.147 Demnach würde bei der medizinischen Untersuchung zur Altersschätzung unter Verwendung von radiologischen Untersuchungen die ärztliche Legitimation in Frage gestellt werden. Denn ein Behandlungsziel im Sinne der Behandlung einer Krankheit oder ähnlichem gibt es bei der Altersschätzung nach § 42f SGB VIII gerade nicht. Nach der Bundesärztekammer hat außerdem eine strenge Differenzierung zwischen der medizinischen Indikation und der von Befürwortern der radiologischen Untersuchungen zur Altersfeststellung ins Feld geführte Einwilligung des Betroffenen nach § 42f Abs. 2 SGB VIII zu erfolgen. Die medizinische Indikation soll als solche der Einwilligung des Betroffenen vorausgehen und wird als erster Filter und Interventionsangebot des Arztes unabhängig von der Einwilligung des Betroffenen verstanden.148 Folgt man der Auffassung der Bundesärztekammer, kann somit die fehlende medizinische Indikation nicht durch eine einfache Einwilligung des Betroffenen gerechtfertigt werden. Dies kann man zwar rechtsdogmatisch in Frage stellen, allerdings geht es im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eines staatlichen Eingriffs auch um eine ethische Deutung. Der Deutsche Bundesärztetag hat sich dementsprechend in mehreren Beschlüssen, zuletzt im Jahr 2014, ausdrücklich gegen die Mitwirkung von Ärzten bei der Alters-

145

Vgl. in Ablehnung des Rechtspositivismus Radbruch, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2003, S. 13; Kress, ZRP 2012, 28, 29; Schliesky, NJW 2019, 3692, 3694; kritisch dagegen aufgrund bloßer Bindung an „Recht und Gesetz“ Lindner, ZRP 2017, 148, 149. 146 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 25. 07. 1979 – 2 BvR 878/74, NJW 1979, 1925, 1930 mit Ausführungen zur Standesethik der Ärzte. 147 BAEK, Stellungnahme vom 20. 02. 2015, S. 2, 4, https://www.bundesaerztekammer.de/fi leadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Stellungnahmen/SN_Med._Indikationsstellung_ OEkonomisierung.pdf, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 148 BAEK, Stellungnahme vom 20. 02. 2015, S. 6.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

schätzung mittels Röntgendiagnostik ausgesprochen.149 § 1 BÄO bestimmt insofern auch, dass der Arzt der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes dient. Von Befürwortern der Altersschätzung mittels Röntgendiagnostik wird argumentiert, dass Ärzte nicht nur die Aufgabe hätten, medizinisch zur Heilbehandlung tätig zu werden, sondern auch Behörden und Gerichte als Sachverständige zu unterstützen. Gutachten zur forensisches Altersdiagnostik würden der Gewährleistung eines funktionierenden Rechtsstaats dienen.150 Verwiesen wird dazu auf eine Aussage des Weltärztebundes aus dem Jahr 2005, wonach Ärzte Aufgaben im Bereich der Volksgesundheit, der Gesundheitserziehung, des Umweltschutzes, bei auf die Gesundheit und das Wohlergehen der Gemeinschaft einwirkenden Gesetzen und der Abgabe von Gutachten von Gerichten zu übernehmen hätten.151 Dass Ärzte nicht nur Aufgaben der Heilbehandlung, sondern auch der Sachverständigentätigkeit haben, ist allerdings auch nicht ersichtlich von Gegnern der Röntgendiagnostik zur Altersschätzung bestritten worden. Fraglich ist vielmehr, ob ein nicht medizinisch indizierter Gesundheitseingriff zur behördlichen Überprüfung der Voraussetzungen einer Sozialleistung unter die ärztlichen Aufgaben fallen kann und darf. Bei der Röntgendiagnostik zur Altersschätzung besteht zumindest die Gefahr einer Gesundheitsschädigung durch den Eingriff, ohne dass eine medizinische Indikation vorliegt.152 Bejaht man dies, wirft dies zwangsläufig die weitere Frage auf, wo die Grenzen dieser Tätigkeit zu ziehen sind. Ab welcher Eingriffsintensität ist ein Arzt verpflichtet, die sachverständige Unterstützung einer Behörde zu verweigern?153 Wie verhält sich dies bei Strahlenexpositionen, deren Langzeitfolgen nicht absehbar sind? Teilweise wird damit argumentiert, dass in anderen Rechtsbereichen ein Eingriff ohne medizinische Indikation auch nicht hinterfragt werde, wie im Rahmen von § 81a StPO.154 Allerdings bestimmt § 81a Abs. 1 S. 2 StPO hierzu ausdrücklich, dass Entnahmen von Blutproben und andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne Einwilligung des Beschuldigten nur zulässig sind, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Außerdem ist dort ein Richtervorbehalt vorgesehen.

149

Vgl. 117. Deutscher Ärztetag, 2014, Beschlussprotokoll, S. 275, https://www.bundesa erztekammer.de/aerztetag/aerztetage-der-vorjahre/117-daet-2014-in-duesseldorf/beschlussproto koll/, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 150 Schmeling, Die aktuelle medizinethische Debatte über forensische Altersdiagnostik bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, S. 13. 151 Schmeling, Die aktuelle medizinethische Debatte über forensische Altersdiagnostik bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, S. 13. 152 Meier/Schmeling/Loose/Vieth, Rechtsmedizin 2015, 30, 33. 153 So Sauer/Nicholson/Neubauer, European Journal of Pediatrics 2016, 299, 301. 154 Schmeling, Die aktuelle medizinethische Debatte über forensische Altersdiagnostik bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, S. 24.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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Man könnte noch anführen, dass auch weitere Bereiche des öffentlichen Lebens existieren, in denen ärztliche Untersuchungen zwingend vorgeschrieben sind, ohne dass hier ernsthaft eine ethische Vertretbarkeit diskutiert wird. Dies betrifft beispielsweise gesetzlich verpflichtende Schuleingangsuntersuchungen in Niedersachen gem. § 5 Abs. 2 NGöGD. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Untersuchungen der Förderung oder jedenfalls dem Schutz der Gesundheit des Betroffenen dienen. In der Gesetzesbegründung155 zu § 5 Abs. 2 NGöGD heißt es beispielsweise, dass Ziel der Untersuchungen ist, im Vorfeld des Schuleintritts gesundheitliche Beeinträchtigungen festzustellen, welche die Schulfähigkeit beeinflussen können. Werden solche Beeinträchtigungen festgestellt, sollen die Ärztinnen und Ärzte dann differenzierte Empfehlungen, beispielsweise zur Zurückstellung, zu Fördermaßnahmen, sonderpädagogischem Förderbedarf und zu weiteren diagnostischen oder therapeutischen Schritten, erteilen. Nach überzeugender Ansicht des Verwaltungsgerichts Berlin156 erfüllt der Gesetzgeber damit auch seinen in Art. 7 Abs. 1 GG niedergelegten Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, wonach jede Schule die Verantwortung dafür trägt, dass Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen und Anlagen an ihrer Schule das Ziel der jeweiligen Schulart oder des jeweiligen Bildungsgangs erreichen. Insbesondere sollen dadurch eventuelle gesundheitlich bedingte Benachteiligungen einzelner Schülerinnen und Schüler ausgeglichen und Chancengleichheit hergestellt werden. Dies steht in einem Gegensatz zu den ärztlichen Untersuchungen nach § 42f Abs. 2 SGB VIII, da diese nicht der Förderung der Gesundheit und Chancengleichheit des Betroffenen dienen, sondern vordergründig dem staatlichen Interesse an der Überprüfung der Leistungsberechtigung. Dabei wird in zweierlei Hinsicht in Kauf genommen, dass dem Kind dadurch ein Nachteil entsteht, zunächst durch Gefahr einer Langzeitschädigung durch die Röntgenstrahlung, aber auch – und das ist ein wesentlicher Aspekt –, dass ein Kind fehlerhaft als volljährig eingestuft wird und von der Inobhutnahme ausgeschlossen wird. Aus ethischer Sicht ist es konsequenter, Eingriffe im Rahmen einer behördlichen Sachverständigentätigkeit abzulehnen, solange die Gefahr besteht, dass ein Minderjährig fehlerhaft als volljährig eingestuft wird und er gleichzeitig durch den Eingriff in der Gesundheit geschädigt werden könnte. Dies muss jedenfalls gelten, solange nicht sichergestellt ist, dass über ein gesetzlich vorgesehenes Mindestalterskonzept zumindest die Gefahr der Fehleinschätzung zulasten des Minderjährigen ausgeschlossen ist. Ethische Erwägungen sprechen damit auf Basis der aktuellen Ausgestaltung des § 42f Abs. 2 SGB VIII im Ergebnis gegen eine Anwendung von radiologischen Untersuchungen zur Altersschätzung.

155 156

Vgl. Niedersächischer Landtag, Drs. 15/2140 v. 16. 08. 2005, S. 19. VG Berlin, Beschl. v. 12. 07. 2010 – 3 L 248/10, BeckRS 2010, 56357.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

gg) Ergebnis der Interessenabwägung Bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung ist offensichtlich, dass verschiedenste Interessen gegeneinander abgewogen werden müssen. Während der Staat und die Allgemeinheit grundsätzlich ein hohes Interesse an einer genauen Überprüfung der Leistungsberechtigung haben, ist es für unbegleitete, minderjährige Ausländers besonders wichtig, zutreffend als minderjährig erkannt und in Obhut genommen zu werden, ohne dabei gesundheitlichen Risiken ausgesetzt zu werden. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass das Interesse des Staates an einer möglichst zuverlässigen Altersschätzung grundsätzlich begründet ist. Er ist einerseits den minderjährigen Ausländern gegenüber zur Inobhutnahme verpflichtet, muss aber andererseits dem Interesse der Allgemeinheit gerecht werden, fehlerhafte Inobhutnahmen von volljährigen Ausländern, die über ihr Alter täuschen, zu verhindern. Letzteres gilt umso mehr, wenn der Staat Anhaltspunkte dafür hat, dass ein erheblicher Teil von jungen Ausländern in Wahrheit über die eigene Volljährigkeit täuscht. Denn die Inobhutnahme ist mit einem Tagessatz zwischen EUR 90,00 und EUR 205,00 pro Person teuer und muss finanziert werden. Die hohe Zahl an Inobhutnahmen im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 hat den Gesetzgeber dabei vor eine finanzielle Herausforderung gestellt. Bereits aufgezeigt wurde insofern, dass der Steuerhaushalt zwar nicht als Selbstzweck zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen herangezogen werden kann. Er ist aber zweifelsfrei eine wichtige Stütze für das Funktionieren und die Stabilität eines Sozial- und Rechtsstaats. Das Verständnis anderer Empfänger von staatlichen Sozialleistungen, die regelmäßig gegenüber Behörden ihre Leistungsberechtigung nachweisen müssen, würde vermutlich gering ausgefallen, wenn der Staat ohne Prüfung jeden Ausländer in Obhut genommen hätte, der vorgibt minderjährig zu sein. Aus diesen Erwägungen lässt sich in einem ersten Schritt ableiten, dass der Staat jedenfalls ein verfassungsrechtlich gerechtfertigtes Interesse hat, Altersfeststellungen an unbegleiteten jungen Ausländern durchzuführen, um ihre Leistungsberechtigung zu überprüfen. Der Grundgedanke des § 42f SGB VIII ist damit nicht zu beanstanden. Es stellt sich nun die Frage, ob auch die konkrete Ausgestaltung des § 42f SGB VIII verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Dafür müssten die entgegenstehenden Interessen der Betroffenen ausreichend berücksichtigt worden sein. Der Gesetzgeber hat bei der Altersfeststellung zwei gewichtige Schutzpflichten gegenüber den minderjährigen Ausländern zu beachten. Zum einen muss verhindert werden, dass diese als volljährig eingestuft werden und ihre Inobhutnahme abgelehnt wird und zum anderen muss dafür gesorgt werden, dass sie dabei nicht in ihrer Gesundheit verletzt werden. Insofern heißt es in der Gesetzesbegründung157 auch zutreffend, dass die ärztliche Untersuchung „mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden“ durchzuführen ist. 157

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass diese beiden Schutzpflichten bei der Anwendung von Röntgenuntersuchungen zur medizinischen Altersfeststellung in einen Konflikt geraten. Denn die radiologischen Methoden sind grundsätzlich zuverlässiger als bloße körperliche oder psychologische Begutachtungen des Betroffenen – sind also besser zur Vermeidung einer Fehleinschätzung des Alters geeignet –, gleichzeitig setzen sie aber die minderjährigen Ausländer ohne medizinische Indikation einem Strahlenrisiko aus. Problematisch ist, dass der Gesetzgeber diesen Gegensatz nicht auflöst und keine Stellung dazu nimmt. Da § 42f Abs. 2 SGB VIII keinerlei Regelung enthält, wie die ärztliche Untersuchung konkret auszusehen hat, überlässt er den Jugendämtern und begutachtenden Ärzten die Abwägung zwischen den schonendsten und zuverlässigsten Methoden. Dabei ist zu bedenken, dass auch Röntgenuntersuchungen – wie bereits mehrfach ausgeführt – grundsätzlich eine Fehlerspanne aufweisen können. Die Gefahr, dass ein Minderjähriger als volljährig eingestuft wird, bleibt – in abgemilderter Form – bestehen. Es ist zweifelhaft, ob dieses Mehr an Zuverlässigkeit gegenüber nichtinvasiven Methoden das Gesundheitsrisiko rechtfertigen kann. Der Minderjährige läuft Gefahr, erst ohne medizinische Indikation der Röntgenstrahlung ausgesetzt zu werden, um dann als volljährig eingestuft und nicht in Obhut genommen zu werden. Aus wissenschaftlicher Sicht kann die Gefahr der fehlerhaften Einstufung eines minderjährigen Ausländers als volljährig zumindest über das Mindestalterskonzept mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden (vgl. S. 104). Es handelt sich damit um die einzige Methode, um die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zuverlässige Altersfeststellung zu erfüllen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bleibt dann nur noch das Strahlenrisiko zu rechtfertigen. Hierzu wurde ausgeführt, dass sich dieses grundsätzlich im Rahmen eines sozialadäquaten Risikos befindet, dass unbegleiteten jungen Ausländern grundsätzlich zumutbar ist. Die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer tatsächlichen Gesundheitsschädigung ist nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft äußerst gering, sodass der Gesetzgeber hier nicht verpflichtet ist, diese vollständig auszuschließen. Er ist danach lediglich verpflichtet, die Strahlenbelastung so gering wie möglich zu halten. Auch der Nachteil des Mindestalterskonzepts, dass ein Großteil der volljährigen Ausländer dadurch als minderjährig eingestuft werden dürfte, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn aufgrund des deutlich erhöhten Risikos von Fehleinschätzungen bei den nichtinvasiven Methoden wäre die einzige Alternative, gar keine Altersfeststellungen durchzuführen. Der Gesetzgeber ist aber aufgrund des allgemeinen Gleichheitssatzes gegenüber der Allgemeinheit verpflichtet, auch bei unbegleiteten jungen Ausländern das Vorliegen der Voraussetzungen der Inobhutnahme zu überprüfen. Mit dem Mindestalterskonzept würde der Gesetzgeber dieser Verpflichtung im Rahmen des Möglichen nachkommen. Das bedeutet, die Anwendung von Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Ausländern

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ist bei Beachtung des Mindestalterskonzepts auf dem Stand der aktuellen Wissenschaft verfassungsrechtlich grundsätzlich gerechtfertigt. Im Ergebnis ist die aktuelle Ausgestaltung von § 42f Abs. 2 SGB VIII dennoch unverhältnismäßig und der Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht gerechtfertigt. Erstens ist die Einhaltung des Mindestalterskonzepts gesetzlich nicht vorgesehen, obwohl es nach den bisherigen Ausführungen zwingende Prämisse der Zulässigkeit von Röntgenuntersuchungen ist. Es ist nicht sichergestellt, dass die Behörden das Mindestalterskonzept in der Praxis berücksichtigen. Zweitens verletzt die fehlende ausdrückliche Regelung der zulässigen Methoden der Altersfeststellung den Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG. Nach der hier vertretenen Auffassung darf der Gesetzgeber diese Verantwortung nicht auf die Exekutive übertragen (vgl. S. 178). Drittens sieht das Gesetz keine zwingende Bindungswirkung des Ergebnisses der Altersfeststellung des Jugendamts für andere Behörden vor, sodass der Minderjährige Gefahr läuft, sich gegenüber anderen Behörden einer erneuten medizinischen Altersfeststellung unterziehen zu müssen. Das verletzt den aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgeleiteten Grundsatz, dass das Strahlenrisiko als Gesundheitsgefahr so gering wie möglich zu halten ist (vgl. S. 195 f.). Viertens trifft § 42f Abs. 2 SGB VIII in der aktuellen Ausgestaltung keine klare Regelung, wie sich die Verweigerung der ärztlichen Untersuchung auf das Ergebnis der Altersfeststellung auswirkt. Dazu wurde festgestellt, dass insbesondere eine wirksame Einwilligung nur vorliegen kann, wenn die Verweigerung nicht automatisch zur Volljährigkeit führt (vgl. S. 181 f.). Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass § 42f Abs. 2 SGB VIII in seiner jetzigen Ausgestaltung nicht verhältnismäßig ist und in der Folge der Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG durch die Möglichkeit der Durchführung von Röntgenuntersuchungen nicht gerechtfertigt ist. III. Lösung über verfassungskonforme Auslegung Möglicherweise ließe sich mittels verfassungskonformer Auslegung ein anderes Ergebnis erzielen. Danach ist bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten einer Norm diejenige Variante zu wählen, die nicht zum Ergebnis der Verfassungswidrigkeit führt, sodass die fragliche Norm nicht verworfen werden muss.158 Wie zuvor ausgeführt wurde, ist die Durchführung von Röntgenuntersuchungen als Methode zur Altersfeststellung in § 42f Abs. 2 SGB VIII nicht explizit aufgeführt. Eine verfas158 BVerfG, Beschl. v. 01. 03. 1978 – 1 BvL 20/77, BVerfGE 48, 40, 44; BVerfG, Beschl. v. 10. 06. 1975 – 2 BvR 1018/74, NJW 1975, 1355, 1356; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 III GG Rn. 84; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Einführung (Stand: 81. EL 2020) Rn. 10; Voßkuhle, AöR 2000, 177, 180 f.

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sungskonforme Auslegung der Norm könnte ergeben, dass die Durchführung von Röntgenuntersuchungen nur bei Anwendung des Mindestalterskonzepts zulässig ist und eine Verweigerung des betroffenen Ausländers nicht automatisch zu der Annahme der Volljährigkeit führen darf. Denn in diesen Fällen würde kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit vorliegen, weil von der Einhaltung des Mindestalterskonzepts und von der Freiwilligkeit der Einwilligung des Betroffenen ausgegangen werden kann. § 42f Abs. 2 SGB VIII müsste dann nicht als verfassungswidrig verworfen werden. Allerdings ist eine verfassungskonforme Auslegung nicht nach freiem Belieben der Instanzgerichte möglich. Neben dem Wortlaut der Vorschrift bilden auch der erkennbare Wille des Gesetzgebers und dessen Regelungsziel eine Grenze, die nicht überschritten werden darf, da andernfalls die ausschließliche Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen werden würde.159 Problematisch ist, dass § 42f Abs. 2 SGB VIII aus mehreren Gründen als unverhältnismäßig anzusehen ist. Einer verfassungskonformen Auslegung müsste zu entnehmen sein, (i) welche Methoden im Rahmen der ärztlichen Untersuchung zulässig sind, (ii) dass bei der Anwendung von Röntgenuntersuchungen das Mindestalterskonzept anzuwenden ist, (iii) dass andere Behörden an die Feststellungen des Jugendamts zum Alter des Betroffenen gebunden sind und (iv) dass eine Verweigerung von Röntgenuntersuchungen nicht automatisch zur Feststellung der Volljährigkeit führen darf. Das dürfte die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung allerdings überschreiten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts160 ergeben sich diese aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden. Das Ergebnis verfassungskonformer Auslegung müsse jedenfalls vom Wortlaut gedeckt sein. Eine positive Gesetzgebung durch Normvariationen ist in diesem Rahmen nicht zulässig, insbesondere, wenn dadurch der normative Gehalt eines Gesetzes neu bestimmt werden würde.161 Eine verfassungskonforme Auslegung, welche die zuvor aufgeführten Defizite des § 42f Abs. 2 SGB VIII berücksichtigt, würde eine solche positive Gesetzgebung darstellen. Denn aus dem Wortlaut ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte für die Beschränkung des Jugendamts auf bestimmte Methoden zur Altersfeststellung. Insbesondere kann der Norm auch kein Gebot zur Anwendung des Mindestalterskonzepts entnommen werden. Eine solch weitgehende Auslegung wäre auch aus Gründen der Rechtssicherheit problematisch. Ohne ausdrückliche Anpassung des 159 BVerwG, Urt. v. 02. 03. 2002 – 2 C 1.99, NJW 2000, 2521; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 III GG Rn. 84. 160 BVerfG, Beschl. v. 16. 12. 2014 – 1 BvR 2142/11, NVwZ 2015, 510, 515. 161 BVerfG, Beschl. v. 10. 07. 1968 – 1 BvF 1/58, NJW 1958, 1388, 1389; vgl. abw. Meinung in BVerfG, Beschl. v. 25. 04. 1972 – 1 BvL 13/67, NJW 1972, 1934, 1940; Korioth, in: Schlaich/ Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 449; Walter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 93 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 113.

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Gesetzeswortlauts fehlt es sowohl den Jugendämtern als auch den unbegleiteten, jungen Ausländern an einem Maßstab, was im Rahmen von § 42f SGB VIII nun zulässig sein soll und was nicht. Damit bleibt es bei einem nicht zu rechtfertigenden Verstoß der aktuellen Ausgestaltung des § 42f Abs. 2 SGB VIII gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG von betroffenen Ausländern durch die Anwendung von radiologischen Untersuchungen als Methode zur medizinischen Altersfeststellung. IV. Anforderungen an eine verfassungskonforme Ausgestaltung Wenn sich § 42f Abs. 2 SGB VIII nicht verfassungskonform auslegen lässt, stellt sich die Frage, wie eine konkrete verfassungskonforme Ausgestaltung vorgenommen werden könnte, die nicht gegen Art. 2 Abs. 2 GG verstößt. Wie bereits ausgeführt wurde, wäre erforderlich, dass der Gesetzgeber die zulässigen Methoden zur medizinischen Altersfeststellung konkretisiert. Danach müsste in § 42f Abs. 2 SGB VIII darauf hingewiesen werden, dass grundsätzlich alle nicht-invasiven Methoden wie eine körperliche und psychologische Begutachtung und gegebenenfalls auch Ultraschalluntersuchungen zulässig sind. Darüber hinaus dürfte auch ausdrücklich die Zulässigkeit von Röntgenuntersuchungen vorgesehen werden, sofern auf die zwingende Anwendung des Mindestalterskonzepts hingewiesen wird. Weiterhin müsste in § 42 SGB VIII klarstellend aufgenommen werden, dass weitere Behörden – wie beispielsweise die Ausländerbehörde – an das Ergebnis der Altersfeststellung des Jugendamts gebunden sind, wenn eine Röntgenuntersuchung dazu durchgeführt wurde. Die Beschränkung der Bindungswirkung auf eine erfolgte Röntgenuntersuchung (nach dem verpflichtenden Mindestalterskonzept) ist damit zu begründen, dass nur in diesem Fall die weitere Behörde Gewissheit haben kann, dass das Alter des Betroffenen ordnungsgemäß festgestellt worden ist. Außerdem greift nur dann die zuvor hergeleitete Schutzpflicht des Gesetzgebers ein, den potenziell Minderjährigen davor zu bewahren, ein weiteres Mal einem Strahlenrisiko ausgesetzt zu werden. Zuletzt müsste außerdem eine Regelung für die Verweigerung der Einwilligung in die Röntgenuntersuchung aufgenommen werden. Diese Regelung muss unter Berücksichtigung der Ausführungen zum gefühlten Zwang des Betroffenen (vgl. S. 181 f.) sicherstellen, dass die Einwilligung freiwillig erfolgt. Der Minderjährige darf nicht befürchten müssen, bei einer Weigerung als volljährig eingestuft zu werden. Zur Lösung dieser Problematik wird hier eine separate, von der Anwendung nichtinvasiver Methoden losgelöste, Einwilligung des Betroffenen in die Durchführung radiologischer Untersuchungsmethoden zur Altersfeststellung vorgeschla-

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gen („doppelte Einwilligungslösung“, vgl. S. 122 f.). Tatsächlich Minderjährige könnten danach optional zur äußeren Begutachtung, der nichtradiologischen Gebissanalyse und einer psychologischen Untersuchung auf Antrag die Durchführung radiologischer Untersuchungsmethoden unter Berücksichtigung des Mindestalterskonzepts verlangen. Ein Interesse würde insbesondere dann bestehen, wenn der Betroffene von seiner Minderjährigkeit überzeugt ist und diese besonders glaubhaft machen möchte. Die Verweigerung der radiologischen Untersuchung dürfte umgekehrt – anders als bei den nichtinvasiven Methoden – nicht als Kriterium zur Ablehnung der Inobhutnahme herangezogen werden. Dadurch würde auch den gesetzgeberischen Schutzpflichten Rechnung getragen werden. Verzichtet der Betroffene auf die Anwendung einer Röntgenuntersuchung, verzichtet er selbst auf eine gesicherte Methode zur Feststellung seiner Minderjährigkeit.162 Der Gesetzgeber verletzt dann nicht mehr seine Pflicht, beim Betroffenen die zuverlässigste Methode anzuwenden, da er ihm die Möglichkeit angeboten hat. Willigt der Betroffene dagegen freiwillig, weil ihm bei einer möglichen Weigerung keine Nachteile drohen, in die Röntgenuntersuchung ein, ist das Strahlenrisiko zu vernachlässigen, da er dann gleichzeitig in den Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG wirksam eingewilligt hat. Dadurch wird im Ergebnis dem Betroffenen die Wahl zwischen den zuverlässigsten (invasiv) und den schonendsten Methoden (nichtinvasiv) selbst überlassen. Dieses Konzept würde auch nicht einen übermäßigen organisatorischen Mehraufwand bedeuten. Der Betroffene muss lediglich zusätzlich darüber aufgeklärt werden, dass er optional zu den „nichtinvasiven“ Methoden die Möglichkeit hat, sein Alter auf Basis radiologischer Untersuchungsmethoden schätzen zu lassen. Dabei müsste er darauf hingewiesen werden, dass sich eine Ablehnung nicht nachteilig auf das Ergebnis der Altersfeststellung auswirken würde. Im Übrigen kann das Verfahren wie bereits gesetzlich vorgesehen durchgeführt werden.

B. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) Die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII könnte in ihrer aktuellen Ausgestaltung außerdem einen Eingriff in die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG darstellen, da der Staat mit der medizinischen Altersfeststellung unbegleitete, minderjährige Ausländer aus migrations- und sozialpolitischen Erwägungen unter den Generalverdacht der Täuschung über ihr Alter stellt. 162 Klarstellend sei nochmals darauf hingewiesen, dass das Mindestalterskonzept nicht garantiert, dass der Betroffene tatsächlich minderjährig ist. Über das Mindestalterskonzept wird lediglich im Rahmen der vorhandenen Standardabweichung beim Abgleich mit den Referenzstudien zugunsten des Betroffenen auf das jüngst mögliche Alter abgestellt. Es kann dadurch lediglich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass ein Minderjähriger als volljährig eingestuft wird.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

I. Begriff der Menschenwürde Zunächst müsste der Schutzbereich der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG eröffnet sein. Die Menschenwürde stellt das oberste Gebot des deutschen Grundgesetzes dar. Gleichwohl existiert keine allgemeine, konkrete Definition dieses Begriffs.163 Es bestehen vielmehr verschiedene Ansätze einer abstrakten Bestimmung.164 Das Bundesverfassungsgericht165 definiert die Menschenwürde als einen sozialen Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen wegen seines Menschenseins zukommen soll und es verbietet, ihn zum bloßen Objekt des Staates zu machen. Da diese sogenannte Objektformel sehr vage ist und die Gefahr besteht, dass die Menschenwürde beliebig zur Begründung von Grundrechtsverletzungen herangezogen wird, ist klarzustellen, dass Art. 1 Abs. 1 GG nur verletzt werden kann, wenn der Mensch ausschließlich und zielgerichtet zum Objekt des staatlichen Handelns wird.166 Das ist dann anzunehmen, wenn gleichzeitig die Subjektqualität des Menschen in Frage gestellt wird, seine Behandlung durch die öffentliche Gewalt also die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner Willen zukommt.167 Da die Menschenwürde den Menschen als „Gattungswesen“ schützen soll, muss sie allen natürlichen Personen ohne Rücksicht auf Eigenschaften, Leistungen und sozialen Status zukommen.168 Ausländer und Asylsuchende fallen damit zweifelsfrei unter den Schutzbereich der Norm. II. Eingriff in die Menschwürde durch medizinische Altersfeststellung Es stellt sich die Frage, ob Ausländer, die eine Inobhutnahme durch das Jugendamt nach den §§ 42ff SGB VIII begehren, tatsächlich in ihrer Menschenwürde 163 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I GG Rn. 52; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 1 GG Rn. 2. 164 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I GG Rn. 53 ff. 165 BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457, 1459 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 1 GG Rn. 6. 166 BVerfG Beschl. v. 16. 07. 2019 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707; BVerfG, Urt. v. 21. 06. 1977 – 1 BvL 14/76, NJW 1977, 1525, 1526; Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 15; Enders, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 1 GG Rn. 34. 167 BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279, 312; BVerfG, Urt. v. 15. 02. 2006 – 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118, 153; Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 16; Enders, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 1 GG Rn. 34. 168 BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457, 1459 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 1 GG Rn. 7.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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verletzt werden, wenn sie sich einer ärztlichen Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII unterziehen müssen. Aus dem Begriff „unantastbar“ in Art. 1 Abs. 1 GG wird eine absolute Garantie im Sinne einer Unabwägbarkeit abgeleitet. Die Menschenwürde unterliegt keinerlei Beschränkungsmöglichkeiten.169 Dies bedeutet, dass anders als bei den übrigen Grundrechten ein Eingriff nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Der Eingriff selbst stellt bereits einen Verfassungsverstoß dar.170 Dies bedeutet für das behördliche Verfahren zur medizinischen Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII, dass die bloße Feststellung eines Eingriffs in die Menschenwürde die Verfassungswidrigkeit der Norm zur Folge hätte. Vorliegend müsste für einen solchen per se verfassungswidrigen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG allerdings in der medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII eine den Betroffenen in seinem sozialen Wert- und Achtungsanspruch verletzende Maßnahme des Staates liegen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass aufgrund der oben genannten Rechtsfolgen hohe Anforderungen an einen Eingriff in die Menschenwürde gesetzt werden müssen. Ein Eingriff kann nach diesem restriktiven Verständnis nur bei einer schweren Beeinträchtigung des Kernbereichs menschlicher Existenz angenommen werden.171 Untersucht werden muss daher, ob durch die medizinischen Methoden der Altersfeststellung, insbesondere durch die radiologischen Untersuchungen, der soziale Wert- und Achtungsanspruch von Ausländern, die eine Inobhutnahme nach den §§ 42 ff. SGB VIII begehren, verletzt wird. Dabei ist zu beachten, dass auch die nach § 42f Abs. 2 SGB VIII vorausgesetzte Einwilligung in keinem Fall einen möglichen Eingriff ausschließen kann, da nach herrschender Meinung im Geltungsbereich der Menschenwürde die Zustimmung des Betroffenen nicht möglich ist, also unabhängig davon, ob bei einer Verweigerung Nachteile entstehen können.172 Um einen Verstoß gegen die Objektformel feststellen zu können, ist zunächst vom Zweck der medizinischen Altersfeststellung auszugehen. Dieser liegt in der Überprüfung des Alters des Betroffenen, um feststellen zu können, ob die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme durch das Jugendamt vorliegen. Festgestellt wurde insofern bereits, dass dies grundsätzlich ein legitimes Ziel des Gesetzgebers darstellt (vgl. S. 182).

169

Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I GG Rn. 46; Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 11; Baldus, AöR 2011, 529, 530. 170 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I GG Rn. 46; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 34. 171 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020 Art. 1 GG Rn. 11a; Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 18. 172 BVerwG, Urt. v. 27. 11. 1990 – 2 WD 20/90, NZWehrr 1991, 77, 78 f.; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 1 GG Rn. 13; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I GG Rn. 149.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

1. Nicht-invasive Methoden Bei der körperlichen und psychologischen Begutachtung handelt es sich außerdem um die schonendsten zur Verfügung stehenden Methoden, die zur Verfügung stehen. Dadurch, dass Genitaluntersuchungen in der Gesetzesbegründung ausgeschlossen worden sind, greift die körperliche Untersuchung auch nicht in die Intimsphäre ein. Im Ergebnis muss hier eine Beeinträchtigung des Kernbereichs der menschlichen Existenz verneint werden. 2. Invasive Methoden Problematischer sind im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG dagegen die radiologischen Untersuchungen, die nach der Gesetzesbegründung zumindest nicht ausgeschlossen und in der Praxis üblich sind. Aktuell werden sie grundsätzlich auch von Seiten der Rechtsprechung akzeptiert.173 Insbesondere vor dem Hintergrund, dass auch die Altersfeststellung mittels radiologischer Untersuchung nur eine bloße Altersschätzung sein kann, stellt sich die Frage, ob unbegleitete minderjährige Ausländer durch die faktisch zwingende Durchführung einer Altersfeststellung nicht zum Objekt des Staates gemacht werden. Dafür könnte ins Feld geführt werden, dass die Überlastung der Jugendhilfe im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 zunehmend durch gehäufte Medienberichte174 in der Öffentlichkeit zum Politikum gemacht wurde und der Verdacht aufkommen könnte, dass die Einführung des § 42f Abs. 2 SGB VIII bloßer Aktionismus des Gesetzgebers war. Dabei kann zwar davon ausgegangen werden, dass dieser mit der Einführung des § 42f SGB VIII nicht beabsichtigt hat, die Betroffenen in ihrer Menschenwürde zu verletzen. Allerdings ist dies auch kein Erfordernis für eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG.175 Gerade im Bereich des Migrationsrechts kann es aus gesellschaftspolitischen Gründen dazu kommen, dass Ausländer zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden, ohne dass auf die Bedürfnisse der Betroffenen Rücksicht genommen wird. Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, dass an eine Verletzung der Menschenwürde grundsätzlich hohe Anforderungen zu stellen sind. Wie bereits ausgeführt, kommt es darauf an, ob dem Betroffenen seine Subjektqualität abge-

173

Vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 04. 06. 2018 – 1 B 82/18, NVwZ 2018, 1899, 1890. Welt, Art. v. 15. 07. 2015, „Betreuung junger Flüchtlinge hat drastische Mängel“ https: //www.welt.de/politik/deutschland/article144067451/Betreuung-junger-Fluechtlinge-hat-drasti sche-Maengel.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021; FAZ, Art. v. 20. 08. 2015, „Asylbewerber kosten bis zu 10 Milliarden Euro“, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspoli tik/asylbewerber-kosten-bis-zu-10-milliarden-euro-13758770.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021; Badische Zeitung, Art. v. 30. 07. 2015, „Medizinische Altersbestimmung entscheidet über Flüchtlingsschicksale“, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 175 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 14. Aufl. 2016, Art. 1 GG Rn. 13. 174

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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sprochen wird.176 Eine bloße Objektivierung als nebensächliche Folge einer staatlichen Maßnahme reicht nicht für eine Verletzung aus. Überprüft der Staat die Berechtigung einer Person für den Empfang von staatlichen Leistungen, wäre es bedenklich, bereits diesen Umstand als Verletzung der Menschenwürde zu werten. Ansonsten würden alle Empfänger von Sozialleistungen wie beispielsweise Sozialhilfe in ihrer Menschenwürde verletzt werden. Auch sie müssen Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse erteilen.177 Der Staat stellt den Leistungsempfänger damit auch nicht unter einen unzulässigen Generalverdacht, sondern prüft lediglich aus Gründen der Fairness präventiv die Leistungsberechtigung. Niemand würde sich beispielsweise in seiner Menschwürde verletzt fühlen, wenn er in einer öffentlichen Einrichtung eine Kinder- oder Seniorenvergünstigung beanspruchen möchte und dafür seinen Ausweis zur Kontrolle des Alters vorzeigen muss. Dass der Staat dort, wo eine Altersverifizierung über einen Ausweis nicht möglich ist, Alternativen sucht, kann die Menschenwürde nicht ohne Weiteres verletzen. Dass es sich bei dem Verfahren zur Altersfeststellung auch nicht etwa um ein ausländerächtendes Verfahren handelt, zeigt sich dadurch, dass die deutsche Rechtsordnung ähnliche Verfahrensweisen in anderen Bereichen bereits kennt. Auch bei der Musterung im Rahmen der Tauglichkeitsprüfung für den Wehrdienst wurde vor der Abschaffung der Verpflichtung verpflichtend eine ärztliche Untersuchung gemäß § 17 Abs. 4 WPflG durchgeführt. Dabei soll statt des Alters die geistige und körperliche Tauglichkeit festgestellt werden. Die Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII und die Musterung ähneln sich vom Grad der Eingriffsintensität. Nach § 17 Abs. 6 WPflG kann ebenfalls eine radiologische Untersuchung des Betroffenen durchgeführt werden. Der Gesetzgeber hat hier allerdings explizit in den Gesetzestext aufgenommen, dass es sich bei einer Röntgenuntersuchung nicht um eine Maßnahme handelt, die in die körperliche Unversehrtheit eingreift. Dieser deklaratorische Zusatz ist allerdings nach dem aktuellen Stand der Forschung aus rechtlicher Perspektive nicht richtig (vgl. S. 172 f.).178 Es ist darauf zu achten, dass aufgrund des bloßen Umstands, dass von der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII nur junge Ausländer betroffen sind, kein unangemessen enger Maßstab angewandt und direkt auf eine Verletzung der Menschenwürde geschlossen wird. Dies ist vielmehr objektiven Umständen geschuldet und stellt nicht automatisch eine entwürdigende Maßnahme dar.

176 BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279, 312; BVerfG, Urt. v. 15. 02. 2006 – 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118, 153; Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 1 GG Rn. 16; Enders, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 1 GG Rn. 34. 177 Sichert, in: Hauck/Noftz. Sozialgesetzbuch I, § 60 SGB I Rn. 38; Voelzke, in: Schlegel/ Voelzke, Praxiskommentar SGB I, 3. Aufl. 2018, § 60 SGB I Rn. 55. 178 Vgl. Wigge/Loose, MedR 2016, 318, 320.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Im Ergebnis ist kein Eingriff in die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG durch das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII festzustellen. Auch die radiologischen Untersuchungen stellen in diesem Zusammenhang keine Verletzung der Menschenwürde dar.

C. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) Weiterhin könnte die Durchführung einer medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII einen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG darstellen, da der Körper des Betroffenen im Rahmen der ärztlichen Untersuchung eingehend untersucht und die Untersuchungsergebnisse anschließend zu einer Altersschätzung ausgewertet werden. I. Nicht-invasive Methoden In Bezug auf körperliche und psychische Untersuchungen kann dabei weitgehend auf die Ausführungen zur Verfassungskonformität von § 42f Abs. 1 SGB VIII in Bezug auf die qualifizierte Inaugenscheinnahme verwiesen werden. Weitgehendster Unterschied ist hier, dass die Untersuchungen im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII durch medizinische Fachkräfte durchgeführt werden. Da Genitaluntersuchungen laut Gesetzesbegründung ausgeschlossen sind, liegt auch im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII kein Eingriff in die Intimsphäre vor. Es kann im Ergebnis festgehalten werden, dass körperliche Untersuchung und psychologische Begutachtung zwar grundsätzlich einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen, dieser allerdings aufgrund der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme gerechtfertigt ist. II. Invasive Methoden Nicht geprüft wurde allerdings, inwieweit radiologische Untersuchungen nach § 42f Abs. 2 SGB VIII einen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG darstellen könnten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt das Recht auf einen abgeschirmten Bereich privater Lebensführung und vor staatlichem Eindringen in den Privatbereich.179 Auch die Anfertigung von Röntgenbildaufnahmen von Handwurzelknochen, Schulterbeinknochen oder dem Gebiss kann grundsätzlich ein Eindringen in den Privatbereich darstellen, da auch hier persönliche Daten und Merkmale aus179 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 GG Rn. 71; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 57; Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 69.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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gewertet werden, sodass ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gegeben wäre. Da es sich allerdings um bloße Aufnahmen von Knochen handelt, die insbesondere nicht den Intimbereich betreffen, liegt kein Eingriff in den Kernbereich der privaten Lebensführung vor. Die Intimsphäre ist nicht betroffen, sodass der Eingriff auch hier gerechtfertigt werden kann.180 Es stellt sich somit die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Auch wenn sich die Interessenlage ähnlich verhält, wie bei der Frage nach einem Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit durch radiologische Untersuchungen zur Altersfeststellung, muss hier beachtet werden, dass es bei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht um eine potenzielle Gesundheitsverletzung geht, sondern nur in Frage steht, ob der Eingriff in den Privatbereich gerechtfertigt werden kann. Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass die Anfertigung von Röntgenbildern von Handwurzelknochen, Schulterbeinknochen und Gebiss nur einen geringen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellt. Es ergeben sich hier keine grundrechtsrelevanten Besonderheiten gegenüber der qualifizierten Inaugenscheinnahme (vgl. dazu S. 162 ff.). Dem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht steht ein Interesse des Staates an möglichst zuverlässigen Methoden der Altersfeststellung gegenüber, um die Inobhutnahme nur den rechtlich tatsächlich berechtigten Personen gewähren zu müssen. Im Ergebnis stellt auch die Durchführung von Röntgenuntersuchungen im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dar.

D. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) Zusätzlich kommt eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG durch das behördliche Verfahren zur medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII in Betracht. Auch Ausländer unterfallen dem Schutz des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG.181 Dabei sind in der vorliegenden Konstellation verschiedene Anknüpfungspunkte für eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes denkbar.

180

BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98 u. 1 BvR 1084/99, NJW 2004, 999, 1002; Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 39; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 130. 181 BVerfG, Beschl. v. 23. 03. 1971 – 2 BvR 59/71, BVerfGE 30, 409, 411; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 GG Rn. 4; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 2.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

I. Ungleichbehandlung von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern untereinander Zum einen könnte eine Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer liegen. Ausgangspunkt ist hierbei die Ausgestaltung von § 42f Abs. 2 SGB VIII. Die Norm lässt den Sachbearbeitern des Jugendamts einen weiten Anwendungsspielraum, ob überhaupt eine medizinische Altersfeststellung durchgeführt wird (unbestimmter Rechtsbegriff „Zweifelsfall“) und falls ja, welche Methoden angewandt werden. Dies kann dazu führen, dass bei einigen unbegleiteten, minderjährigen Ausländern eine medizinische Altersfeststellung inklusive radiologischer Untersuchung durchgeführt wird, während bei anderen bereits nach der qualifizierten Inaugenscheinnahme eine endgültige Entscheidung getroffen wird oder aber eine medizinische Altersfeststellung durch bloße physische und psychische Begutachtung stattfindet. Fraglich ist allerdings, ob dies tatsächlich eine Ungleichbehandlung innerhalb der Personengruppe der unbegleiteten, minderjährigen Ausländer im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG darstellt, die zur Gleichheitswidrigkeit von § 42f Abs. 2 SGB VIII führen würde. Problematisch ist dabei insbesondere, dass die vorgenannte Fallkonstellation eine Ungleichbehandlung durch einen Exekutivakt des Jugendamts und damit nur mittelbar eine Ungleichbehandlung durch § 42f Abs. 2 SGB VIII als Legislativakt darstellt. Es könnte im Ergebnis lediglich eine mittels Rechtsbehelfes angreifbare fehlerhafte Entscheidung der Verwaltung vorliegen. Beachtet werden muss an dieser Stelle, dass eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG auch im Rahmen der Verwaltung nur vorliegen kann, wenn Vergleichsfälle der gleichen Stelle zugerechnet werden können.182 Die unterschiedliche Auslegung von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen durch verschiedene Behörden ist nicht gleichheitswidrig.183 Relevant bleiben damit nur uneinheitliche Entscheidungen desselben Jugendamts. Allerdings können uneinheitliche Entscheidungen desselben Jugendamts, aus denen eine Ungleichbehandlung von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern folgt, nicht automatisch zur Verfassungswidrigkeit von § 42f Abs. 2 SGB VIII führen. Die bloße Ermöglichung einer solchen Fallkonstellation stellt keinen Verstoß gegen die in Frage stehenden Norm gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar. Die Überprüfung der Beachtung des Gleichheitssatzes innerhalb der Auslegungs- und Entscheidungsspielräume obliegt vielmehr den Fachgerichten, die diesen Verstoß durch eine

182

BVerfG, Beschl. v. 12. 01. 1967 – 1 BvR 335/63, BVerfGE 21, 87, 90; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 GG Rn. 4; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 179. 183 BVerfG, Beschl. v. 12. 05. 1987 – 2 BvR 1226/83, NJW 1988, 626, 634; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 3 GG Rn. 48; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 178.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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Aufhebung der Entscheidung des Jugendamts beheben können.184 Die Nichtigkeit der zugrundeliegenden Norm selbst ist dafür nicht erforderlich. Jede Ermessensnorm der Verwaltung wäre ansonsten gleichheitswidrig, da innerhalb der Auslegungsspielräume einer solchen Norm immer eine Ungleichbehandlung von gleichen Sachverhalten durch die Behörde erfolgen kann. Lediglich in Ausnahmefällen, nämlich wenn das Ergebnis einer gleichheitswidrigen Auslegung dem Gesetzgeber zuzurechnen ist, kann ein Gesetzesverstoß durch die Verwaltung Auswirkungen auf die Gültigkeit einer Norm haben.185 Für einen solchen Ausnahmefall liegen bei § 42f Abs. 2 SGB VIII allerdings keine Anhaltspunkte vor. Der Gesetzgeber kann nach der Zielsetzung der Norm kein Interesse daran haben, dass vom gleichen Jugendamt unterschiedliche Auslegungsergebnisse erzielt werden. Abgesehen davon handelt es sich dabei um ein sehr theoretisches Problem, da keine Gründe ersichtlich sind, warum dasselbe Jugendamt in gleichgearteten Fällen gänzlich unterschiedliche Handlungsmaßstäbe heranziehen sollte. Ein praktisches Problem dürfte sich lediglich beim Bewertungsmaßstab unterschiedlicher Jugendämter stellen. Dabei handelt es sich – wie bereits festgestellt – aber nicht um eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes. Im Ergebnis stellt § 42f Abs. 2 SGB VIII trotz des weiten Ermessenspielraums der Jugendämter keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar. II. Ungleichbehandlung gegenüber deutschen Staatsangehörigen § 42f SGB VIII könnte allerdings eine Ungleichbehandlung von ausländischen Kindern und Jugendlichen gegenüber deutschen Staatsangehörigen, die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII begehren, darstellen. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG setzt die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem ohne einen rechtfertigenden sachlichen Grund voraus.186 Zunächst stellt sich damit die Frage, ob im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII überhaupt eine Ungleichbehandlung von ausländischen Personen gegenüber deutschen Staatsbürgern vorliegt. Eine Ungleichbehandlung liegt immer dann vor, wenn ein Vergleichspaar bildende Personengruppen mit unterschiedlichen Rechtsfolgen

184 BVerfG, Beschl. v. 03. 02. 1959 – 2 BvL 10/56, NJW 1959, 931, 932; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 3 GG Rn. 50; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 186. 185 BVerfG, Urt. v. 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89, NJW 1991, 2129, 2130; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 3 GG Rn. 60; Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 103. 186 Sodan, in: Sodan, Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 3 GG Rn. 2; Kischel, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 14; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 21.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

belegt werden.187 Das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII gilt nur für Ausländer, aber nicht für deutsche Staatsangehörige. Dies könnte eine Ausländerdiskriminierung darstellen, die gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen würde. Vergleichspaar wären daher vorliegend ausländische und deutsche Staatsangehörige. Um einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG im Sinne einer Ungleichbehandlung festzustellen, müsste es sich bei diesem Vergleichspaar um wesentlich Gleiches handeln, ansonsten wäre umgekehrt eine Gleichbehandlung verfassungswidrig.188 Es müssen bei den Vergleichsgruppen im Wesentlichen gleiche Sachverhalte vorliegen.189 Gedanke hinter der Ausgestaltung von § 42f SGB VIII ist unzweifelhaft, dass insbesondere bei ausländischen Staatsangehörigen das Alter zweifelhaft ist, sodass hier ein Verfahren zur Altersfeststellung notwendig ist, während bei deutschen Staatsangehörigen über Geburtsurkunde und das behördliche Personalwesen das Geburtsdatum in aller Regel zweifelsfrei ist und keiner Überprüfung bedarf. Zulässiges Differenzierungskriterium könnte daher sein, dass Minderjährige, bei denen das Alter über zuverlässige Geburtsurkunden und Personalien feststellbar ist, keiner Altersfeststellung bedürfen. Allerdings schreibt § 42f Abs. 1 SGB VIII ohnehin auf erster Stufe die Vorlage von Ausweispapieren vor, bevor es überhaupt zum weiteren Verfahren mit qualifizierter Inaugenscheinnahme oder ärztlicher Untersuchung kommt. Zusätzlich ist zu bemerken, dass keine Differenzierung nach dem Herkunftsland erfolgt. Insbesondere bei EU-Drittstaaten wie beispielsweise Frankreich oder Österreich dürfte die Identität und das Alter von Minderjährigen ebenfalls genauso zuverlässig überprüfbar sein wie bei deutschen Staatsangehörigen. Außerdem werden auch bei deutschen Staatsangehörigen in der Praxis denklogisch vor der Inobhutnahme zunächst die Personalien kontrolliert, bevor eine Inobhutnahme stattfindet. § 42f SGB VIII könnte daher unabhängig von der Staatsangehörigkeit ausgestaltet werden. Bei deutschen Kindern und Jugendlichen wäre das Verfahren dann in der Regel nach der Vorlage der Ausweispapiere beendet und die Minderjährigkeit festgestellt. Ausländische Staatsangehörige und deutsche Staatsangehörige sind damit im Bereich der Altersfeststellung durchaus wesentlich gleiche Vergleichsgruppen. Zu einem anderen Ergebnis könnte man kommen, wenn man als Vergleichsgruppen Staatsangehörige von EU-Drittstaaten und Staatsangehörige aus dem EU-Land vergleichen würde. Hier könnte man darlegen, dass eine zweifelsfreie Altersbeurkundung nicht garantiert werden kann. Als Zwischenergebnis kann damit festgehalten werden, dass es sich bei ausländischen als auch bei deutschen Staatsangehörigen um wesentlich Gleiches handelt, das ungleich behandelt wird. Allerdings kann eine Ungleichbehandlung von im Wesentlichen gleichen Vergleichsgruppen gerechtfertigt sein. Dazu bedarf es eines hinreichenden sachlichen 187 Sodan, in: Sodan, Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 3 GG Rn. 9; Kischel, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 17. 188 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 GG Rn. 7 f.; Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 17. 189 BVerfG, Beschl. v. 24. 01. 2012 – 1 BvR 1299/05, NJW 2012, 1419, 1420; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 3 GG Rn. 7.

§ 2 Verfassungskonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII

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Rechtfertigungsgrundes.190 Bei der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem nach Art. 3 Abs. 1 GG wird zwischen einer bloßen Willkürkontrolle und einer ausführlicheren Verhältnismäßigkeitsprüfung unterschieden.191 Während bei der Willkürkontrolle ein Verstoß lediglich vorliegt, wenn sich kein vernünftiger und sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung finden lässt,192 genügt es nach der sogenannten „Neuen Formel“, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können“.193 Im Ergebnis wird in der Gerichtspraxis regelmäßig eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt, sofern kein Fall evidenter Willkür vorliegt.194 Im Bereich der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber deutsche Staatsangehörige und Ausländer nicht willkürlich unterschiedlich behandeln wollte. Vielmehr war Zweck der Altersfeststellung bei Ausländern, deren Alter aufgrund fehlender oder eingeschränkt glaubhafter Identitätsnachweise feststellen zu können. Darüber sollte entschieden werden, ob der Betroffene die Voraussetzungen der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII erfüllt. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt damit jedenfalls nicht vor. Fraglich ist allerdings, ob die gesetzliche Ausgestaltung den Anforderungen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung genügt. Voraussetzung hierfür wären jeweils ein verfassungsrechtlich zulässiges Differenzierungsziel sowie ein Differenzierungskriterium. Das Differenzierungskriterium muss dabei im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geeignet, notwendig und angemessen sein, das Differenzierungsziel zu erreichen.195 190 Sodan, in: Sodan, Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 3 GG Rn. 13; Kirchhof, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 264. 191 Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 24; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 64. 192 BVerfG, Urt. v. 23. 10. 1951 – 2 BvG 1/51, NJW 1951, 877, 878; Englisch, in: Stern/ Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 3 GG Rn. 11; Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 24; Kirchhof, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 265. 193 BVerfG, Beschl. v. 07. 10. 1980 – 1 BvL 50/79, 1 BvL 89/79, 1 BvR 240/79, NJW 1981, 271, 272; Englisch, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 3 GG Rn. 12; Kirchhof, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 266. 194 Kingreen/Poscher, Grundrechte, 34. Aufl. 2018, Rn. 438 ff.; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 3 GG Rn. 26; Kirchhof, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 265. 195 Kingreen/Poscher, Grundrechte, 34. Aufl. 2018, Rn. 440 ff.; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 3 GG Rn. 26; Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 24.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Das Differenzierungsziel ergibt sich vorliegend aus dem Umstand, dass bei deutschen Staatsangehörigen das Alter stets mittels Geburtsurkunde zweifelsfrei feststellbar ist, sodass kein Verfahren zur Altersfeststellung erforderlich ist. Differenzierungsziel ist damit, dass ein behördliches Verfahren zur Altersfeststellung nur in Fällen durchgeführt werden muss, in denen das Alter des Betroffenen aufgrund fehlender oder unzuverlässiger Ausweispapiere nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann. Da dies ein sachlich nachvollziehbares Interesse des Staates ist, welches insbesondere überflüssigen bürokratischen Aufwand spart, handelt es sich um eine grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässiges Differenzierungsziel. Als Differenzierungskriterium hat der Gesetzgeber dabei das Tatbestandsmerkmal der Ausländereigenschaft gewählt. Bei deutschen Staatsangehörigen wird ein Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII nicht durchgeführt. Dieses Kriterium der ausländischen Staatsangehörigkeit müsste geeignet, notwendig und angemessen sein, um das Differenzierungsziel zu erreichen. Eine Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit ist grundsätzlich nicht per se unverhältnismäßig. Dies wird bereits aus der verfassungsrechtlichen Ungleichbehandlung von Ausländern und Deutschen im Bereich des persönlichen Schutzbereiches von einigen Grundrechten, auf die sich ausschließlich Deutsche berufen können, geschlossen.196 Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine Beschränkung des behördlichen Verfahrens der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII ausschließlich auf ausländische Staatsangehörige erforderlich ist. Dagegen spricht, dass zumindest eine Kontrolle von Ausweispapieren auch bei der Inobhutnahme deutscher Kinder und Jugendlicher nach § 42 Abs. 1 SGB VIII in der Praxis erfolgen muss. Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Verfahren zur Altersfeststellung im Zusammenhang mit der vorläufigen Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Ausländer eingeführt worden ist und sich ausschließlich auf diese bezieht. Mit § 42f SGB VIII sollte gerade ein abgestuftes Verfahren eingeführt werden, um bei Ausländern mit unklarer Identität die Voraussetzungen der Inobhutnahme überprüfen zu können. Dies ist gerade bei deutschen Staatsangehörigen nicht erforderlich, da bei diesen das Alter regelmäßig unproblematisch über Ausweispapiere feststellbar ist. Die Differenzierung zwischen deutscher und nichtdeutscher Staatsangehörigkeit ist folglich ein verfassungsrechtlich zulässiges Differenzierungskriterium. Im Ergebnis verstößt das Verfahren zur behördlichen Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG.

196 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 3 GG Rn. 43; Burghart, in: Leibholz/ Rinck, Grundgesetz, Art. 3 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 64; Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 GG Rn. 132.

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen

219

E. Zusammenfassung Die vorhergehenden Ausführungen zeigen, dass das behördliche Verfahren zur medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII in seiner jetzigen kodifizierten Form nicht nur einfachgesetzliche Problemfelder aufweist, sondern auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einer Überarbeitung bedarf. Während beispielsweise Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aufgrund einer diesbezüglich verhältnismäßigen Ausgestaltung gerechtfertigt sind, kann der Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerechtfertigt werden, da § 42f Abs. 2 SGB VIII nicht den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots genügt und das Kindeswohl beeinträchtigt wird. Dieser Verstoß kann aufgrund des eindeutigen Willens des Gesetzgebers auch nicht im Wege der verfassungskonformen Auslegung der Norm beseitigt werden. Im Ergebnis ist zumindest das behördliche Verfahren zur medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII in seiner aktuellen Ausgestaltung nicht verfassungskonform und bedarf einer entsprechenden Anpassung.

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen Die Darstellung über die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Methoden des Jugendamts zur Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 SGB VIII hat gezeigt, dass der Gesetzgeber noch nicht alle praktisch denkbaren Mittel zur Altersfeststellung ohne medizinische Altersuntersuchung ausnutzt. Beispielsweise sind – wie zuvor ausgeführt – Genitaluntersuchungen nach der Gesetzesbegründung untersagt.197 Außerdem enthält § 42f SGB VIII anders als die entsprechenden Regelungen im Asylgesetz und im Aufenthaltsgesetz noch keine Rechtsgrundlage für eine Durchsuchung des Betroffenen oder für die Auswertung von Datenträgern, die Auskunft über das Alter des Betroffenen geben könnten. Denkbar wäre es daher, diese Möglichkeiten in § 42f SGB VIII mitaufzunehmen. In manchen Fällen könnte dadurch eine ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII überflüssig werden. Grundsätzlich wird die Prüfung der Verfassungskonformität einer Norm an ihrer konkreten Ausgestaltung vorgenommen. Im Folgenden wird dennoch eine abstrakte Prüfung der Verfassungsmäßigkeit möglicher Maßnahmen und Methoden zur Altersfeststellung erfolgen, um anhand dieser Prüfung Anforderungen an eine verfassungskonforme Ausgestaltung herauszuarbeiten. Bislang wurde lediglich festgestellt, dass eine Rechtsgrundlage noch nicht vorhanden ist und ähnliche Vorschriften nicht analogiefähig sind. Im Folgenden soll daher geprüft werden, ob die Aufnahme einzelner Regelungen verfassungsrechtlich zulässig wäre. 197

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

A. Verfassungskonformität von Genitaluntersuchungen Grundsätzlich wäre es denkbar, bei unbegleiteten jungen Ausländern im Rahmen der ärztlichen Untersuchung Genitaluntersuchungen durchführen zu lassen, um die Ausprägung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale überprüfen zu können. In der Literatur werden Genitaluntersuchungen allerdings grundsätzlich kritisch gesehen.198 In der Praxis mancher Jugendämter kommt es dennoch in einigen Fällen zu Genitaluntersuchungen.199 Auch die Ausländerabteilung des EinwohnerZentralamts Hamburg hat im Jahr 2009 noch eine Verfügung zur Durchführung von Untersuchungen zur Altersschätzung ausgearbeitet, nach der auch eine Untersuchung des Genitalbereichs erfolgen sollte.200 Es stellt sich dabei die Frage, ob Genitaluntersuchungen aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich unzulässig sind oder ob abweichend von der Gesetzesbegründung eine Genitaluntersuchung zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII zulässig sein könnte. Das Oberverwaltungsgericht Hamburg201 hat in diesem Zusammenhang in einem Beschluss vor der Einführung der §§ 42a ff. SGB VIII die Ansicht vertreten, dass eine durch einen Arzt oder eine Ärztin vorgenommene körperliche Untersuchung des Genitalbereichs von Rechts wegen nicht zu beanstanden sei. Dies wurde damit begründet, dass urologische und gynäkologische Untersuchungen in Deutschland allgemein akzeptiert und selbstverständlich seien. Personen aus einem anderen Kulturkreis hätten ein anderes Schamgefühl darzulegen und glaubhaft zu machen, wenn sie eine andere Beurteilung der Zumutbarkeit geltend machen wollten.202 Zwar hat das Oberverwaltungsgericht Hamburg in seinem Beschluss unberücksichtigt gelassen, dass zwischen einem freiwilligen Eingriff in die Intimsphäre des Betroffenen im privaten Bereich und einem staatlichen Eingriff ohne freiwillige Einwilligung differenziert werden muss.203 Dennoch gibt die Entscheidung des Gerichts Anlass, die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Genitaluntersuchung genauer zu überprüfen.

198 Vgl. European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 2. Aufl. 2018, S. 62; Di Maio, Positionspapier zur Altersfestsetzung bei unbegleiteten Minderjährigen in Europa, S. 20. 199 Vgl. Karpenstein/Klaus, Die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland, Auswertung Online-Umfrage 2018, S. 23, https://b-umf.de/src/wp-content/uplo ads/2019/05/2019_05_20_auswertung-bumf-online-umfrage-2018.pdf, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021. 200 Müller/Fuhrmann/Püschel, Rechtsmedizin 2010, 33, 35, 36. 201 OVG Hamburg, Beschl. v. 09. 02. 2011 – 4 Bs 9/11, JAmt 2011, 472, 475; vgl. auch VG Düsseldorf, Urt. v. 21. 06. 2007 – 13 K 6992/04.A, juris-Rn. 18, das eine Genitaluntersuchung ohne Beanstandung verwertet hat. 202 OVG Hamburg, Beschl. v. 09. 02. 2011 – 4 Bs 9/11, JAmt 2011, 472, 475. 203 BVerfG, Beschl. v. 16. 07. 1969 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707, 1708; Lang, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 52; Horn, in: Stern/Becker, Grundrechtekommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 2 GG Rn. 17.

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen

221

Wie bereits dargestellt wurde, werden bei der Untersuchung der Geschlechtsreife in erster Linie die sichtbaren Zeichen der Genitalien bemessen und in ihrer Reife beurteilt (vgl. S. 91 f.). Der Vorteil dieser Methode ist insbesondere, dass es anders als bei radiologischen Untersuchungen nicht zu physischen Gesundheitsschädigungen kommen kann. Problematisch ist allerdings, dass ein Eingriff in die Intimoder Privatsphäre des Betroffenen vorliegen könnte.204 Gleichzeitig weist auch die Untersuchung von Genitalien eine hohe Fehlerspanne auf. Da die Geschlechtsreife mit Erreichen des 18. Lebensjahres bei beiden Geschlechtern bereits abgeschlossen ist, kann über Genitaluntersuchungen lediglich zuverlässig die Minderjährigkeit festgestellt werden, wenn die Geschlechtsreife noch nicht abgeschlossen ist. Ist diese dagegen bereits abgeschlossen – was durchaus bereits mit 13 oder 14 Jahren der Fall sein kann – kann keine Aussage über das Erreichen der Volljährigkeit gemacht werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Genitaluntersuchung daher die am wenigsten zuverlässige aller verfügbaren Methoden ist.205 Dennoch können auch Genitaluntersuchungen als Teil einer multidisziplinären Untersuchung der Betroffenen zur Plausibilisierung des Ergebnisses der Altersschätzung herangezogen werden.206 Aus rein medizinisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten könnte eine Genitaluntersuchung folglich sinnvoll sein. Der Gesetzesentwurf der Partei AFD für ein Gesetz über die Feststellung von Volljährigkeit bei jungen Ausländern sieht beispielsweise die Durchführung von Genitaluntersuchungen vor. Nach der Begründung sollen Genitaluntersuchungen entsprechend der Begründung im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Hamburg zulässig sein, da urologische und gynäkologische Untersuchungen in Deutschland allgemein akzeptiert und selbstverständlich seien.207 I. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) Solche Genitaluntersuchungen zur Altersfeststellung könnten allerdings einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG darstellen, da es sich dabei um einen sehr intimen und persönlichen Bereich handelt.

204 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 1. Aufl. 2013, S. 33. 205 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 1. Aufl. 2013, S. 33. 206 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, 1. Aufl. 2013, S. 33. 207 BT-Drs. 19/461 v. 17. 01. 2018, S. 10.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

1. Eingriff in den Schutzbereich Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt nicht nur ein Recht auf einen abgeschirmten Bereich privater Lebensgestaltung, sondern bietet auch Schutz vor staatlichem Eindringen in den Privatbereich.208 Insbesondere der Sexualbereich fällt dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.209 Bei einer staatlichen angeordneten Genitaluntersuchung im Rahmen des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung würde unweigerlich in diesen Schutzbereich eingegriffen werden. 2. Rechtfertigung Dieser Eingriff müsste gerechtfertigt sein. Dabei sind beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht zunächst die Schranken der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG entsprechend heranzuziehen.210 Zulässig ist daher grundsätzlich ein Eingriff, soweit dies die verfassungsmäßige Ordnung vorsieht. Bei der verfassungsmäßigen Ordnung handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts um die allgemeine Rechtsordnung, die die materiellen und formellen Normen der Verfassung zu beachten hat.211 Darunter fällt grundsätzlich auch § 42f SGB VIII, der nach einer strengen Wortlautauslegung auch Genitaluntersuchungen zulässt. Allerdings dürfte der Eingriff auch nicht unverhältnismäßig sein. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Sphärentheorie zu beachten. Danach kann ein Eingriff im Rahmen der Intimsphäre nicht gerechtfertigt sein, da in diesem Bereich eine besondere Nähe zur Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG besteht.212 Die Intimsphäre wird als Kernbereich der privaten Lebensführung definiert. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts213 handelt es sich dabei um den letzten unantastbaren Bereich 208 BVerfG, Beschl. v. 13. 06. 2007 – 1 BvR 1783/05, NJW 2008, 39, 41; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 GG Rn. 71; Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 41; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 159; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 2 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 36; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 65. 209 BVerfG, Beschl. v. 16. 03. 1982 – 1 BvR 938/81, NJW 1982, 2061, 2062; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz, 14. Aufl. 2017, Art. 2 GG Rn. 41. 210 BVerfG, Urteil vom 17. 2. 1998 – 1 BvF 1/91, NJW 1998, 1627, 1632; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 58. 211 BVerfG, Urt. v. 16. 01. 1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32, 41; Sodan, in: Sodan, Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 12. 212 BVerfG, Beschl. v. 16. 07. 1969 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707, 1708; Lang, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 39; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020), Art. 2 GG Rn. 158. 213 BVerfG, Urt. v. 16. 01. 1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32, 41; BVerfG, Beschl. v. 16. 07. 1969 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707, 1708; Sodan, in: Sodan, Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 17.

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen

223

menschlicher Freiheit, der dem Zugriff staatlicher Gewalt völlig entzogen ist, sodass eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht stattfindet. Könnten Genitaluntersuchungen der Intimsphäre zugeordnet werden, würden diese einen unverhältnismäßigen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG darstellen. In Betracht käme allerdings auch eine Zuordnung zur Privatsphäre. Die Privatsphäre wird allgemein als Bereich privater, der Öffentlichkeit entzogener Lebensgestaltung definiert.214 Es stellt sich damit die Frage, ob die Untersuchung von Genitalien bereits der Intimsphäre oder nur der Privatsphäre zuzuordnen ist. Grundsätzlich können hier keine allzu strengen Maßstäbe gesetzt werden, da der Staat im Ergebnis sonst schnell handlungsunfähig werden würde. Klar ist, dass staatliche Handlungen, die den menschlichen Intimbereich betreffen, schon dem Wortlaut nach eng an die Intimsphäre anknüpfen. Nach teilweise vertretener Auffassung215 zählen allerdings private Aufzeichnungen, etwa in Tagebüchern, oder auch molekulargenetische Untersuchungen zur Identitätsfeststellung in Strafverfahren nicht ausnahmslos zum absolut geschützten Kernbereich. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt damit, dass keine absolute Zuordnung eines bestimmten Bereichs zu einer der Sphären erfolgen kann. Insbesondere die Rechtsprechung zu der strafprozessualen Verwertung von Tagebuchaufzeichnungen zeigt, dass eine rein formale Betrachtung nicht erfolgen kann, sondern vielmehr im Einzelfall entschieden werden muss, ob der absolut geschützte Kernbereich der Lebensgestaltung eines Betroffenen verletzt wird.216 Überprüft werden muss daher, ob im konkreten Fall der Altersfeststellung bei einem unbegleiteten, minderjährigen Ausländer eine Verletzung des Kernbereichs seiner Lebensgestaltung verletzt wird, wenn seine Geschlechtsreife untersucht wird. Das Bundesverfassungsgericht217 geht in seiner Rechtsprechung zur körperlichen Durchsuchung von Strafgefangenen davon aus, dass Durchsuchungen, die mit einer vollständigen Entkleidung verbunden sind, zulässig sein können. Insbesondere bei der Inspizierung von normalerweise bedeckten Körperöffnungen liegt nach dieser Rechtsprechung zwar ein schwerwiegender Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Allerdings kann eine körperliche Durchsuchung dennoch verfassungskonform sein, wenn eine abstrakte Gefahr des Einbringens von Drogen und anderen verbotenen Gegenständen in die Vollzugsanstalt besteht. Das Bundesverfassungsgericht stellt damit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung an und ordnet die

214

BVerfG, Beschl. v. 15. 01. 1970 – 1 BvR 13/68, NJW 1970, 555; Sodan, in: Sodan, Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 2 GG Rn. 17. 215 BVerfG, Beschl. v. 14. 09. 1989 – 2 BvR 1062/87, NJW 1990, 563, 565; BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 1741/99, NJW 2001, 879, 880; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020), Art. 2 GG Rn. 158. 216 BVerfG, Beschl. v. 14. 09. 1989 – 2 BvR 1062/87, NJW 1990, 563, 565; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 161. 217 BVerfG, Beschl. v. 10. 07. 2013 – 2 BvR 2815/11, NJW 2013, 3291, 3292; BVerfG Beschl. v. 05. 11. 2016 – 2 BvR 6/16, NJW 2017, 725, 727.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Untersuchung von Genitalien nicht grundsätzlich dem unantastbaren Kern der privaten Lebensgestaltung zu. Im Strafrecht ist eine körperliche Untersuchung nicht nur im Rahmen des Strafvollzugs bei Strafgefangenen möglich, sondern auch im Strafverfahren bei anderen Personen zur Beweiserhebung. Gemäß § 81c Abs. 1 StPO ist eine körperliche Untersuchung von anderen Personen als Beschuldigten sogar ohne Einwilligung zulässig, soweit zur Erforschung der Wahrheit festgestellt werden muss, ob sich an ihrem Körper eine bestimmte Spur oder Folge einer Straftat befindet. Darunter fallen insbesondere im Bereich von Sexualdelikten auch Untersuchungen des Genitalbereichs. Bei Minderjährigen gilt hier allerdings im Rahmen des Zumutbarkeitskriteriums, dass solche Untersuchungen eine besondere Atmosphäre der Kooperation mit der Untersuchungsperson bedürfen.218 Daraus folgt, dass insbesondere im Umgang mit Minderjährigen eine besondere Behandlung unter Berücksichtigung von Gesichtspunkten des Kindeswohls zu erfolgen hat, ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aber trotz fehlender Einwilligung möglich sein soll. Durch das in § 81c Abs. 4 StPO kodifizierte Zumutbarkeitskriterium wird allerdings eine Interessenabwägung vorausgesetzt. Dabei muss das Aufklärungsinteresse der Staatsanwaltschaft die Interessen des Betroffenen überwiegen, wobei wirtschaftliche Interessen keine Bedeutung haben sollen.219 Feststeht damit, dass bei einer Genitaluntersuchung ein starker Bezug zur Intimsphäre vorhanden ist, da hier in einen Bereich eingegriffen wird, der der Außenwelt regelmäßig nicht zugänglich ist.220 Wie die oben genannten Beispiele zeigen, können Genitaluntersuchung dadurch nur in engen Grenzen zulässig sein. Die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII dient aber weder der Gefahrenabwehr noch der Aufklärung von Straftaten und der damit verbundenen Pflicht des Staates zur Strafverfolgung. Bei der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII sind außerdem zwei besondere Umstände zu beachten. Zum einen handelt es sich bei den Betroffenen weit überwiegend um tatsächlich Minderjährige, die besonders schutzbedürftig sind und sich gegenüber Erwachsenen kaum wehren können. Hinzu kommt, dass die betroffenen Minderjährigen in ihrem Heimatland und auf ihrer Flucht nach Deutschland teilweise Opfer von Gewalt geworden sind. Dazu zählen in einigen Fällen auch Missbrauchsfälle. Eine Genitaluntersuchung kann hier auf Betroffene höchst traumatisierend wirken.221 Weiter ist zu berücksichtigen, dass eine Genitaluntersuchung zum Zwecke der Altersschätzung nicht zwingend erforderlich und auch nur bedingt geeignet ist. Eine Altersschätzung ist auch, wie in § 42f SGB VIII vorgesehen, durch eine qualifizierte Inaugenscheinnahme oder eine ärztliche Un218

Trück, in: MüKoStPO, 1. Aufl. 2014, § 81c StPO Rn. 43 f. Goers, in: Graf, BeckOK StPO, § 81c StPO Rn. 16; Trück, in: MüKoStPO, 1. Aufl. 2014, § 81c StPO Rn. 43. 220 Vgl. auch Schröck, Rescriptum 2016, 39, 42, wonach die Genitaluntersuchung einen Eingriff in die Intimsphäre darstellt. 221 Di Maio, Positionspapier zur Altersfestsetzung bei unbegleiteten Minderjährigen in Europa, S. 20; so auch Schröck, Rescriptum 2016, 39, 40. 219

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen

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tersuchung ohne Auswertung des Genitalbereichs möglich. Eine zusätzliche Genitaluntersuchung würde keinen weitergehenden Nutzen bringen, da auch diese nicht zu verlässlichen, genauen Ergebnissen führt (vgl. S. 91 f.). Das Ergebnis der Interessenabwägung führt daher zu einer Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. Auch ein rechtsvergleichender Blick auf ärztliche Untersuchungen im Rahmen der Musterung ändert nichts an diesem Ergebnis. Genitaluntersuchungen wurden vor der Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 2011222 grundsätzlich verpflichtend im Rahmen der Tauglichkeitsprüfung bei der Musterung nach § 17 WPflG durch einen Musterungsarzt durchgeführt. Es waren dabei alle Untersuchungen zulässig, die zur Feststellung der Tauglichkeit notwendig sind.223 Dabei sollte gleichzeitig eine möglichst breite Untersuchung zur Erforschung des tatsächlichen Tauglichkeitsgrades erfolgen.224 Eine umfassende ärztliche Prüfung sollte erst dann abgebrochen werden, wenn klar war, dass der Wehrpflichtige nicht tauglich ist.225 Daraus ergibt sich, dass im Rahmen der Musterung Genitaluntersuchungen zur Tauglichkeitsprüfung zumindest aus Sicht des Gesetzgebers zulässig sein sollen. Sie wurden – und werden im Rahmen der freiwilligen Musterung auch noch – in der Praxis entsprechend durchgeführt. Allerdings sind die Musterung von Wehrpflichtigen und die Altersfeststellung von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern nach ihrem Sinn und Zweck nicht zu vergleichen. Der Schutzzweck der ärztlichen Tauglichkeitsuntersuchung besteht nämlich nach der herrschenden Rechtsprechung darin, nicht Taugliche davor zu bewahren, durch einen Wehrdient, dem sie gesundheitlich nicht gewachsen sind, Gesundheitsschäden zu erleiden.226 Wird ein Wehrpflichtiger als untauglich anerkannt, wird er von seiner Wehrpflicht befreit. Hätte man vor der Abschaffung der Wehrpflicht keine ärztliche Tauglichkeitsuntersuchung durchgeführt, hätte dagegen die Gefahr bestanden, dass Wehrpflichtige trotz unerkannter Krankheiten in den Wehrdienst übernommen werden und dadurch gesundheitliche Folgeschäden davontragen. Bei dem Verfahren zur medizinischen Altersfeststellung verhält es sich anders. Die Altersfeststellung dient primär dem Interesse des Staates an der Überprüfung der Leistungsberechtigung und damit der Verhinderung von missbräuchlichen Antragsstellungen. Der Betroffene hat hier keinen gesundheitlichen Nutzen von der Genitaluntersuchung. Tauglichkeitsuntersuchung und medizinische Altersfeststellung verhalten sich genau umgekehrt zueinander. Während die Tauglichkeitsunter222 Vgl. BT-Drs. 14/4821 v. 21. 02. 2011, S. 13, Abschaffung unter Verweis auf erheblichen Grundrechtseingriff, heute ist damit die Musterung nicht mehr zwingend. 223 Walz, in: Steinlechner/Walz, Wehrpflichtgesetz, 6. Aufl. 2003, § 17 WPflG Rn. 37. 224 Walz, in: Steinlechner/Walz, Wehrpflichtgesetz, 6. Aufl. 2003, § 17 WPflG Rn. 35. 225 Walz, in: Steinlechner/Walz, Wehrpflichtgesetz, 6. Aufl. 2003, § 17 WPflG Rn. 37. 226 BGH, Urt. v. 23. 10. 1975 – III ZR 97/73, NJW 1976, 186, 187; BVerwG, Urt. v. 09. 12. 1981 – 8 C 39/80, NVwZ 1982, 560, 561; so auch Walz, in: Steinlechner/Walz, Wehrpflichtgesetz, 6. Aufl. 2003, § 17 WPflG Rn. 33; Silberkuhl, NVwZ 1987, 286, 288.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

suchung zum Schutz des Betroffenen vor dem grundsätzlich verpflichtenden Wehrdienst im Sinne eines Grundrechtseingriffs erfolgte, dient die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII als belastende Maßnahme der Prüfung, ob der Anspruch auf eine staatliche Leistung in Form der Inobhutnahme besteht. Mit anderen Worten: Der Wehrpflichtige hatte einen Anspruch auf die Tauglichkeitsuntersuchung, bevor er zum Wehrdienst herangezogen wurde. Der minderjährige Ausländer ist dagegen zur Altersfeststellung verpflichtet, wenn er die Inobhutnahme beanspruchen möchte. Im Ergebnis wäre eine Genitaluntersuchung zum Zwecke der Altersschätzung nicht gerechtfertigt und somit wegen Verstoßes gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungswidrig. II. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) Weiterhin könnten Genitaluntersuchungen im Rahmen des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII einen Eingriff in die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG darstellen.227 Das Bundesverfassungsgericht228 definiert die Menschenwürde als einen sozialen Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen wegen seines Menschenseins zukommen soll und es verbietet, ihn zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. dazu S. 208). Fraglich ist, ob ein unbegleiteter, möglicherweise minderjähriger Ausländer tatsächlich durch eine Genitaluntersuchung im Rahmen des Verfahrens zur Altersfeststellung in seiner Menschwürde verletzt werden würde. Die Genitaluntersuchung müsste ihn zum bloßen Objekt des Staates machen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Behandlung eines Menschen durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes vermissen lässt, die einem jeden Menschen um seiner selbst willen zukommt.229 Zwar würde eine Genitaluntersuchung nicht vorsätzlich dazu dienen, dem Betroffenen in menschenverachtender Weise seine Menschqualität abzusprechen. Allerdings kann nicht allein aufgrund subjektiver Merkmale die Frage nach einem Eingriff in die Menschwürde beantwortet werden.230 Vorliegend ist dabei zu berücksichtigen, dass (i) es sich bei den Betroffenen weitgehend um Minderjährige handelt und (ii) die Genitaluntersuchung als Untersuchungsmethode keine zuverlässigen Ergebnisse zur Altersschätzung bieten kann. Gleichzeitig kann die körperliche Untersuchung der Genitalien von Kindern und jungen Erwachsenen in 227

Vgl. auch Gelhaar, KJ 2018, 179, 187, ohne nähere Prüfung eines Eingriffs. BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457, 1458 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 1 GG Rn. 6. 229 BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98, NJW 2004, 999, 1001; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 1 GG Rn. 13. 230 Schmidt, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Aufl. 2020, Art. 1 GG Rn. 6. 228

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Einzelfällen traumatisierend sein, insbesondere, wenn sie durch verschiedene medizinische Fachkräfte durchgeführt wird.231 Dabei ist zu berücksichtigen, dass insbesondere im Nahen Osten und in Nordafrika aus religiösen Gründen eine hohe Sensitivität bezüglich des Sexualbereichs besteht. Zusätzlich leiden viele junge Frauen in diesen Ländern unter Genitalverstümmelungen.232 Aus einer aktuellen Datenerhebung von UNICEF geht beispielsweise hervor, dass in Eritrea 83 %, in Äthiopien 65 % und im Sudan 87 % der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren Opfer weiblicher Genitalverstümmelungen wurden.233 Das gewichtigste Argument gegen Genitaluntersuchungen ist allerdings, dass diese – insbesondere im Vergleich zu den anderen Untersuchungsmethoden – nicht zweckmäßig sind (vgl. dazu S. 91 f.). Dabei muss sich zusammenfassend vor Augen geführt werden, dass (1) der Abschluss der Geschlechtsreife als der für die Altersschätzung relevante Zeitpunkt bei Jungen nach dem Mindestalterskonzept ein Alter von 13,7 Jahren, bei Mädchen ein Alter von 11,8 Jahren bedeutet234 und (2) eine große Spannbreite bezüglich des Zeitpunkts des Abschlusses der Geschlechtsreife bei Menschen besteht, was die Methode im Hinblick auf eine feste Stichtags-Altersgrenze von 18 Jahren untauglich macht. Bei Mädchen beträgt die Varianz beispielsweise 7,1 Jahre.235 Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass auch die Feststellung, dass bei einer Person die Geschlechtsreife noch nicht abgeschlossen ist, nicht weiterführend ist. Zwar steht in diesem Fall die Minderjährigkeit des Betroffenen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest. Allerdings liegt dann auch nahe, dass die Minderjährigkeit auch durch eine bloße körperliche Begutachtung ohne Genitaluntersuchung festgestellt werden könnte. Denn statistisch ist die Geschlechtsreife bei beiden Geschlechtern regelmäßig bereits mit ca. 15 Jahren abgeschlossen.236 Würde der Gesetzgeber trotz dieser erheblichen Einwände in § 42f SGB VIII vorsehen, dass sich Betroffene einer Genitaluntersuchung unterziehen müssen, würde sich die zwingende Frage aufdrängen, welchem weitergehendem Zweck dies neben den anderen Methoden dienen sollte. Wie der bereits erwähnte Gesetzesentwurf der Partei AFD zeigt,237 würde nahe liegen, dass Genitaluntersuchungen in erster Linie symbolpolitischen Erwägungen dienen sollen und der legitime Zweck 231

Di Maio, Positionspapier zur Altersfestsetzung bei unbegleiteten Minderjährigen in Europa, S. 20; so auch Schröck, Rescriptum 2016, 39, 40. 232 Aynsley-Green, The assessment of age in individuals seeking asylum, 2011, S. 16. 233 Unicef, https://data.unicef.org/topic/child-protection/female-genital-mutilation, zuletzt abgerufen am 30. Juli 2021. 234 Marshall/Tanner, Archives of Diesease in Childhood 1969, 291, 294; Marshall/Tanner, Archives of Diesease in Childhood 1970, 13, 16. 235 Marshall/Tanner, Archives of Diesease in Childhood 1969, 291, 294. 236 Marshall/Tanner, Archives of Diesease in Childhood 1969, 291, 300; Marshall/Tanner, Archives of Diesease in Childhood 1970, 13, 16. 237 BT-Drs. 19/461 v. 17. 01. 2018, S. 4, 10, vgl. beispielsweise dort die Anregung, ärztliche Untersuchungen durch das Bundeskriminalamt im Wege der Amtshilfe durchführen zu lassen.

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der möglichst zuverlässigen Altersschätzung in den Hintergrund gerät. Dies würde aber unbegleitete, minderjährige Ausländer auf ein innerpolitisches Sachproblem reduzieren und sie dadurch objektivieren. Dies würde eine Verletzung ihres subjektiven Achtungsanspruchs darstellen. Dem könnte entgegengehalten werden, dass aufgrund des hohen Stellenwerts der Menschenwürde im Grundgesetz ein Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu leichtfertig bejaht werden darf, um dessen Bedeutung nicht auszuhöhlen.238 So sind nach der herrschenden Meinung239 beispielsweise staatlich angeordnete Folter und vergleichbare Handlungen als Verletzung anerkannt. Eine solche Intensität erreicht eine ärztlich durchgeführte Genitaluntersuchung unzweifelhaft nicht. Allerdings sieht Art. 1 GG auch keine ausdrückliche Erheblichkeitsschwelle vor, die beispielsweise eine besonders schwere Verletzung der körperlichen Integrität fordert, sodass jeder potenzielle Eingriff im konkreten Einzelfall bewertet werden muss.240 So wurde in einem Sondervotum des Bundesverfassungsgerichts241 zur Vereinbarkeit von Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG auch eine Verletzung der Menschenwürde ohne eine mit Folter vergleichbaren Eingriffsintensität vertreten. Nach Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG kann das Gesetz bestimmen, dass Beschränkungen des Post- und Fernmeldegeheimnisses dem Betroffenen nicht mitgeteilt werden und dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt. Im Sondervotum242 wurde die Verletzung der Menschenwürde bereits mit dem Umstand begründet, dass in einem Ermittlungsverfahren Unverdächtige von heimlichen Eingriffen unter Ausschluss des Rechtswegs betroffen sein können und nicht in der Lage wären, sich aus einer unerwünschten Verstrickung zu lösen. Allgemein wurde zur Menschenwürde überzeugend ausgeführt, dass diese nicht auf ein Verbot der Wiedereinführung von Folter, des Schandpfahls und der Methoden des Dritten Reichs reduziert werden dürfe.243 Vielmehr handle es sich um ein tragendes Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes, dass es dem Staat verbiete, den Menschen wie einen Gegenstand zu behandeln. Dies wäre vorliegend mit Blick auf Genitaluntersuchungen bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern aus symbolpolitischen Erwägungen (vgl. S. 227) aller238 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 49 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 1 GG Rn. 11a; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 13. 05. 1953 – 1 BvR 93/52, BVerfGE 2, 292, 295 zur Verletzung der Menschenwürde durch Pflicht zur Erbringung von Spesenbelegen zur steuerlichen Absetzbarkeit. 239 BVerfG, Beschl. v. 31. 03. 1987 – 2 BvM 2/86, BVerfGE 75, 1, 16 f.; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 139; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 1 GG Rn. 21. 240 Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 1 GG (Stand 81. EL 2020) Rn. 10; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 GG (Stand 92. EL. 2020) Rn. 46 f. 241 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/69, juris-Rn. 125, BVerfGE 30, 1. 242 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/69, juris-Rn. 127, BVerfGE 30, 1. 243 BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/69, juris-Rn. 121, BVerfGE 30, 1.

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dings der Fall. Im Ergebnis würde eine Genitaluntersuchung einen Eingriff in die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG darstellen. Aufgrund der Abwägungsfestigkeit der Menschenwürde wäre ein solcher Eingriff auch keiner Rechtfertigung zugänglich.244 III. Zwischenergebnis Es kann damit festgehalten werden, dass Genitaluntersuchungen im Rahmen der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zulässig sind. Genitaluntersuchungen zur Altersfeststellungen verstoßen sowohl gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als auch gegen die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber hat die Durchführung von Genitaluntersuchungen daher zu Recht in der Gesetzesbegründung ausgeschlossen.245 Da Genitaluntersuchungen in der Praxis dennoch durchgeführt werden, sollten diese unmissverständlich im Wortlaut des § 42f Abs. 2 SGB VIII ausgeschlossen werden. Es muss davon ausgegangen werden, dass Mitarbeiter des Jugendamts und Ärzte den Inhalt der Gesetzesbegründung nicht zwingend kennen. Dies erklärt jedenfalls, warum Genitaluntersuchungen im Rahmen von § 42f SGB VIII entgegen der Gesetzesbegründung in der Praxis teilweise stattfinden.246 Ein ausdrückliches Verbot in § 42f Abs. 2 SGB VIII würde hier Klarheit schaffen und auch dem Schutz der Minderjährigen dienen.

B. Verfassungskonformität der Aufnahme einer Durchsuchungsbefugnis In Kapitel 2 wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob es den Mitarbeitern des Jugendamts nicht möglich wäre, von der Altersfeststellung Betroffene auf das Mitführen von Ausweispapieren oder anderen Gegenständen, die Auskunft über das Alter geben könnten, in rechtlich zulässiger Weise zu durchsuchen. Es konnte festgestellt werden, dass eine solche Rechtsgrundlage bislang fehlt und auch sonst keine vergleichbare Vorschrift existiert, die analog herangezogen werden könnte. Denkbar wäre es daher, im Rahmen einer Gesetzesänderung eine Durchsuchungsbefugnis der Mitarbeiter des Jugendamtes aufzunehmen. Es stellt sich daher die Frage, ob dies verfassungsrechtlich möglich wäre, und wie eine entsprechende 244 BVerfG, NJW 1988, 317, 318; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 1 GG Rn. 10. 245 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. 246 Karpenstein/Klaus, Die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland, Auswertung Online-Umfrage 2018, S. 23, https://b-umf.de/src/wp-content/uplo ads/2019/05/2019_05_20_auswertung-bumf-online-umfrage-2018.pdf, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021.

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Rechtsgrundlage formuliert sein könnte bzw. müsste. Insbesondere mit Blick auf die mögliche Minderjährigkeit der Betroffenen im Rahmen von § 42f SGB VIII könnten hier Besonderheiten zu berücksichtigen sein. I. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) In Betracht käme eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, da bei einer Durchsuchung von Unterlagen und Sachen der Privatbereich der betroffenen Person berührt wird. 1. Eingriff in den Schutzbereich Zunächst müsste durch eine Durchsuchung von Unterlagen und Sachen tatsächlich ein Eingriff in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorliegen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt den engeren persönlichen Lebensbereich und die Erhaltung seiner Grundbedingungen.247 Neben der Darstellung der eigenen Person und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung werden insbesondere auch Intim- und Privatsphäre geschützt. Unter den Schutz der Privatsphäre fallen dabei insbesondere Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsgehalts typischerweise als privat eingestuft werden.248 Bei einer Durchsuchung von Sachen und Unterlagen einer Person erlangt eine Behörde Kenntnis von Angelegenheiten und Informationen, die üblicherweise als privat eingestuft werden. In Betracht kämen hier Dinge wie persönliche Aufzeichnungen, Bilder oder Gegenstände mit einem ähnlich privaten Informationsgehalt. Die Privatsphäre eines unbegleiteten, minderjährigen Ausländers würde damit zumindest betroffen werden, wenn das Jugendamt die Befugnis hätte, seine Unterlagen und Sachen auf Ausweispapiere und Pässe zu durchsuchen. Die Durchsuchungsbefugnis könnte mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts249 sogar die Intimsphäre betreffen, wenn dadurch der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung berührt werden würde. Selbst höchstpersönliche Tagebuchaufzeichnungen fallen allerdings nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts250 im Grundsatz nicht darunter. Vielmehr soll dann eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen, bei der das Interesse der Behörden an der Verwertung der 247 BVerfG, Urt. v. 01. 04. 2008 – 1 BvR 1620/04, NJW 2008, 1287, 1288; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 39. 248 BVerfG, Beschl. v. 24. 02. 2015 – 1 BvR 472/14, NJW 2015, 1506, 1507; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 47. 249 BVerfG, Urt. v. 16. 01. 1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32, 41; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 87. 250 BVerfG, Beschl. v. 14. 09. 1989 – 2 BvR 1062/87, NJW 1990, 563, 565; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 87.

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Aufzeichnungen gegen das Interesse des Betroffenen an der Geheimhaltung abgewogen werden muss.251 Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann auf die Durchsuchung von Unterlagen und Sachen von unbegleiteten Ausländern zum Zwecke der Altersfeststellung übertragen werden. Der Kernbereich privater Lebensführung wäre demnach hierbei grundsätzlich nicht berührt, es hat allerdings eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen, bei der die gegenseitigen Interessen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen. Eine Durchsuchung von Unterlagen und Sachen von Ausländern, wie sie beispielsweise bereits in § 15 AsylG oder § 48 AufenthG kodifiziert ist, greift damit in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein. 2. Rechtfertigung Damit eine Durchsuchung von Unterlagen und Sachen eines Ausländers im Rahmen von § 42f SGB VIII dennoch verfassungskonform sein kann, müsste der Eingriff verhältnismäßig sein. Im Übrigen wäre aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG die Schaffung einer entsprechenden Rechtsgrundlage erforderlich. Daneben müsste die konkrete Ausgestaltung des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht verhältnismäßig sein. An einer konkreten Ausgestaltung fehlt es mangels Kodifikation zwar noch, allerdings sollen im Folgenden im Rahmen einer abstrakten Verhältnismäßigkeitsprüfung Anforderungen für eine verhältnismäßige Kodifikation einer Dursuchungsbefugnis herausgearbeitet werden. a) Legitimes Ziel und Geeignetheit einer Durchsuchung Der Zweck der Durchsuchungsbefugnis wäre es, zu verhindern, dass ein Ausländer einen Pass oder vergleichbare Ausweispapiere in seinem Gepäck oder seinen Sachen versteckt, um diesen den Behörden bewusst vorzuenthalten.252 Dabei handelt es sich grundsätzlich um ein legitimes Ziel. Mit Blick auf die Geeignetheit253 kann festgehalten werden, dass die Durchsuchung von Unterlagen und Sachen eines Ausländers grundsätzlich dazu führen kann, versteckte Pässe und Ausweispapiere zu finden. Zwar könnte man hinterfragen, ob eine Durchsuchungsbefugnis zum eigentlichen Ziel der Altersfeststellung überhaupt 251

BVerfG, Beschl. v. 14. 09. 1989 – 2 BvR 1062/87, NJW 1990, 563, 565. BT-Drs 12/2718 v. 02. 06. 1992, S. 60; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 15 AsylG Rn. 13; Houben, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 15 AsylG Rn. 16. 253 Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 53. 252

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geeignet wäre, da in der Rechtsprechung Ausweispapiere aufgrund der unzuverlässigen Beurkundungsbedingungen in einigen Herkunftsländern nicht als Altersnachweis anerkannt werden (vgl. S. 57 ff.).254 Allerdings besteht zumindest die Möglichkeit, dass bei einer Durchsuchung der Betroffenen Ausweisdokumente oder anderweitige Nachweise gefunden werden, die einen Hinweis auf deren Alter geben. Aufgrund solcher Dokumente kann auch die Glaubhaftigkeit der Angaben des Betroffenen gegenüber dem Jugendamt überprüft werden. Im Ergebnis wäre eine Durchsuchungsbefugnis damit geeignet, das legitime Ziel zu erfüllen. b) Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Die Durchsuchungsbefugnis wäre grundsätzlich auch erforderlich,255 da gleichermaßen erfolgsgeeignete Mittel nicht ersichtlich sind. Insbesondere die bloße Aufforderung zur Herausgabe von Ausweispapieren unter Verweis auf Mitwirkungspflichten und das Verfahren zur Altersfeststellung dürfte einen betroffenen Ausländer, der tatsächlich Pässe oder Ausweispapiere versteckt hält, nicht davon abhalten. Voraussetzung für die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist damit eine Gesamtabwägung der Schwere des Grundrechtseingriffs im Verhältnis zu dem beabsichtigten Zweck der gesetzgeberischen Maßnahme.256 Vorliegend ist damit der staatliche Anspruch auf Überprüfung des Alters von Ausländern, welche die Inobhutnahme durch das Jugendamt nach den §§ 42 ff. SGB VIII begehren, gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG von diesen Ausländern abzuwägen. Gegen eine Durchsuchungsbefugnis spricht insbesondere, dass es in der Praxis selten Fälle geben wird, in denen Ausländer ihre Ausweispapiere tatsächlich in ihrem Gepäck verstecken, wenn diese die Volljährigkeit des Betroffenen beurkunden würden. Wahrscheinlicher ist, dass Ausländer, die ohnehin eine Täuschungsabsicht bezüglich ihres tatsächlichen Alters haben, ihre Ausweispapiere zuvor vernichten. Die Durchsuchungsbefugnis des Jugendamts dürfte daher nur in vereinzelten Fällen zu Erfolg führen, stellt aber gleichzeitig eine starke Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar. Hinzu kommt, dass es sich bei den von einer Durchsuchung betroffenen Ausländern in zahlreichen Fällen um tatsächlich unbegleitete Minderjährige handeln dürfte. Diese müssen bereits aus Gesichtspunkten des Kindeswohls besonders schonend behandelt werden. Auf Kinder und Jugendliche 254 Vgl. OVG Bremen, Urt. v. 19.08.16 – 1 B 169/16, juris-Rn. 8; OVG Bremen; Beschl. v. 18. 11. 2015 – 2 B 221/15, JAmt 2016, 42, 44 f.; vgl. dazu ausführlich Kirchhoff, in: Schlegel/ Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 28 ff. 255 Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2019, Rn. 55. 256 Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2019, Rn. 57.

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kann eine Durchsuchung von Gepäck und persönlichen Gegenständen belastendend wirken. Die Maßnahme ist insofern nicht gänzlich mit den Durchsuchungsbefugnissen von Ausländerbehörden nach § 15 Abs. 4 AsylG bzw. § 48 Abs. 3 S. 2 AufenthG vergleichbar, da hierunter in erster Linie volljährige Ausländer fallen. Unbegleitete minderjährige Ausländer dürften aufgrund der Primärzuständigkeit des Jugendamtes davon nicht betroffen sein,257 auch wenn dies nicht positiv in den zitierten Vorschriften ausgeschlossen ist. In der Praxis dürften es jedenfalls kaum zu Durchsuchungen von Minderjährigen im Rahmen des Asylgesetzes bzw. des Aufenthaltsgesetzes kommen. Die Durchsuchungsbefugnis hat jedoch auch gewichtige Vorteile. Zum einen stellt die Durchsuchung von Unterlagen und Sachen der Betroffenen gegenüber einer vollumfänglichen Altersfeststellung von qualifizierter Inaugenscheinnahme bis hin zur radiologischen Untersuchung eine schonendere Behandlung dar. Sollten glaubhafte Ausweispapiere gefunden werden, könnte das Verfahren nach § 42f SGB VIII zügig beendet werden, sodass sowohl die Belastung der Staatskasse geringgehalten werden würde als auch der Betroffene bei Feststellung der Minderjährigkeit ohne weitere medizinische Altersfeststellung in Obhut genommen werden kann. Dem könnte zwar entgegengehalten werden, dass in zahlreichen Fällen selbst bei vorhandenen, freiwillig vorgezeigten Ausweispapieren das Alter von der Verwaltung und den Gerichten angezweifelt wird,258 da die Dokumente aus einigen Herkunftsländern als nicht verlässlich genug gelten. In einem solchen Fall würde selbst das Auffinden von Ausweispapieren den Betroffenen nicht vor dem weiteren Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII bewahren. Allerdings könnte eine Überprüfung dieser Papiere zumindest auf Widersprüche zu dem Vortrag des Betroffenen zu seinem tatsächlichen Alter überprüft werden. Daraus ergibt sich gleichzeitig, dass die Durchsuchungsbefugnis für den Betroffenen selbst keinen Vorteil darstellt. Entweder er hat tatsächlich keine Ausweispapiere, oder er versteckt diese. Dies ist allerdings nur in Fällen wahrscheinlich, in denen der Ausländer gerade seine Volljährigkeit verschleiern möchte. Dass eine Durchsuchungsbefugnis in diesem Fall für den Betroffenen nachteilig ist, kann allerdings kein schützenswertes Interesse sein, sodass dies nicht im Rahmen der Angemessenheit berücksichtigt werden kann. Um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu wahren, müsste dem Ausländer zuvor allerdings die Möglichkeit gegeben werden, die Ausweispapiere freiwillig herauszugeben. Das Jugendamt dürfte zur Durchsuchung entsprechend der Regelung in § 48 Abs. 3 AufenthG erst dann berechtigt sein, wenn der Betroffene dem behördlichen Verlangen, alle Ausweispapiere vorzulegen, nicht nachkommt und tat-

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Vgl. zu den Verteilungsvorschriften: Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 15a AufenthG Rn. 8. 258 Vgl. OVG Bremen, Urt. v. 19.08.16 – 1 B 169/16, juris-Rn. 8; OVG Bremen; Beschl. v. 18. 11. 2015 – 2 B 221/15, JAmt 2016, 42, 44 f.

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sächliche Anhaltspunkte bestehen, dass er im Besitz solcher Unterlagen ist. Ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht wäre damit zu rechtfertigen. II. Voraussetzungen für die verfassungskonforme Gestaltung einer Durchsuchungsbefugnis Da eine abstrakte und unbedingte Durchsuchungsbefugnis unverhältnismäßig wäre und das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzen würde, stellt sich die Frage, wie die Maßnahme gesetzlich ausgestaltet werden könnte, ohne das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu verletzen. Zunächst bedürfte es zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einer Einschränkung, sodass die Jugendämter eine Durchsuchung nicht willkürlich durchführen können und Gesichtspunkte des Kindeswohls berücksichtigt werden müssen. Bereits in § 15 Abs. 4 AsylG und in § 48 Abs. 3 S. 2 AufenthG wird für eine Durchsuchung des Ausländers durch die Behörde vorausgesetzt, dass tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass der Betroffene im Besitz von Unterlagen zur Identifikation ist. Damit kann verhindert werden, dass Betroffene per se durchsucht werden. Tatsächliche Anhaltspunkte sollen im Rahmen von § 15 Abs. 4 AsylG nicht bereits vorliegen, wenn ein Pass nicht abgegeben wird. Vielmehr müssen Indizien vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Ausländer Passdokumente mit sich führt.259 Als weiteres Kriterium sollte darauf geachtet werden, dass die Durchsuchung durch eine geschlechtsgleiche Person durchgeführt wird. Bezüglich der Durchsuchung von Ausländern im Rahmen von § 15 Abs. 4 AsylG wird zwar teilweise die Auffassung260 vertreten, dass eine Durchsuchung von Sachen nicht zwingend durch eine geschlechtsgleiche Person erfolgen muss. Vor dem Hintergrund, dass von der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII zumindest mit gewisser Wahrscheinlichkeit hauptsächlich Kinder und Jugendliche betroffen sind, sollte aber auch die Durchsuchung von Sachen durch eine geschlechtsgleiche Person erfolgen, um eine kindgerechte Behandlung des betroffenen Ausländers sicherzustellen.261 Bei Berücksichtigung dieser Kriterien bestehen keine Bedenken über die Verfassungskonformität einer Durchsuchungsbefugnis. Insofern würde sich eine Orientierung an § 48 Abs. 3 AufenthG beziehungsweise § 15 AsylG empfehlen.

259 VG Bayreuth, GB v. 02. 04. 2020 – B 7 K 18.1238, BeckRS 2020, 7243 Rn. 25; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 15 AsylG Rn. 13; Houben, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 15 AsylG Rn. 16; Koch, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 15 AsylVfG Rn. 35. 260 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 15 AsylG Rn. 13; Koch, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 15 AsylVfG Rn. 35. 261 So auch Houben, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 15 AsylG Rn. 16.

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C. Verfassungskonformität der Aufnahme einer Datenauswertungsgrundlage Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Auswertung von Datenträgern von Betroffenen der Altersfeststellung in § 42f SGB VIII aus verfassungsrechtlicher Sicht zulässig wäre. Dies würde zumindest bei der Aufnahme einer Durchsuchungsbefugnis bezüglich der Sachen von Ausländern in § 42f SGB VIII an Bedeutung gewinnen, da sich aus der Überlassungspflicht des Betroffenen auch eine Verpflichtung zur Herausgabe von relevanten Datenträgern ergeben kann.262 In Betracht käme dabei in erster Linie die Auswertung von Mobilfunkgeräten, aber auch von anderen Datenträgern wie Laptops, falls vorhanden. Ausgewertet werden könnten dabei Textnachrichten aus SMS, WhatsApp, E-Mails oder Kalendereinträge, Bilder und sonstige Daten, die Hinweise auf das Alter des Betroffenen geben könnten. Bislang ist eine solche Rechtsgrundlage in § 42f SGB VIII nicht enthalten, anders als im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Dort ist sowohl in § 15a AsylG als auch in § 48 Abs. 3 AufenthG eine Berechtigung der Ausländerbehörden geregelt, die Datenträger von Ausländern auszuwerten, soweit dies für die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit erforderlich ist. I. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Art. 10 Abs. 1 GG In Betracht kommt eine Verletzung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, beispielsweise durch die Auswertung von Kurznachrichten wie SMS oder WhatsApp-Gesprächsverläufe, die auf Mobilfunkgeräten gespeichert sind. Die könnte speziell das Fernmeldegeheimnis verletzen. Unter den Schutz des Fernmeldegeheimnis fällt die Vertraulichkeit individueller Mitteilungen, die fernmeldetechnisch übertragen werden.263 Unter fernmeldetechnischer Übertragung versteht man jede unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs.264 Auf die technischen Einzelheiten kommt es dabei nicht an,265 sodass auch Textnachrichten wie SMS oder WhatsApp-Chatverläufe grundsätzlich unter den sachlichen Schutzbereich des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses fallen.

262 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 15 AsylG Rn. 9; Houben, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 15 AsylG Rn. 11. 263 BVerfG, Beschl. v. 20. 06. 1984 – 1 BvR 1494/78, NJW 1985, 121, 122; Hermes, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 10 GG Rn. 36. 264 BVerfG, Urt. v. 02. 03. 2006 – 2 BvR 2099/04, NJW 2006, 976, 978; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 10 GG Rn. 5. 265 BVerfG, Beschl. v. 09. 10. 2002 – 1 BvR 1611/96, NJW 2002, 3619, 3620; Hermes, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 10 GG Rn. 37.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

Problematisch ist allerdings, ob der sachliche Schutzbereich bereits bei der bloßen Auswertung der Daten betroffen ist. Geschützt wird im Rahmen des Art. 10 Abs. 1 GG nämlich ausschließlich die fernmeldetechnische Übertragung. Daraus folgt, dass ab dem Abschluss eines Übermittlungsvorgangs, also bei Empfang der Nachricht, der Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses nicht mehr eröffnet ist.266 In Betracht kommt ab diesem Zeitpunkt nur noch ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.267 Vorliegend geht es gerade um die Auswertung von Nachrichten, die der Betroffene bereits verschickt oder erhalten hat, und die eine Aussage über sein Alter enthalten könnten. Dies bedeutet, dass der Übermittlungsvorgang regelmäßig bereits abgeschlossen sein dürfte, sodass der Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 GG nicht eröffnet wäre und damit auch kein Eingriff in diesen in Betracht kommt. II. Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) Denkbar wäre – wie zuvor herausgearbeitet – allerdings eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Dabei kommt nicht nur eine Verletzung durch die Auswertung von Textnachrichten in Betracht, sondern auch durch die Auswertung von anderen Daten, wie beispielsweise von Kalendereintragungen oder ähnlichem. 1. Eingriff in den Schutzbereich Zunächst müsste durch eine Auswertung der Datenträger ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorliegen. Durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird sowohl Deutschen als auch ausländischen Staatsangehörigen die Befugnis verliehen, selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu entscheiden.268 Wird eine Person gezwungen, bestimmte Daten durch staatliche Behörden auswerten zu lassen, ist diese Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt. Auch im öffentlichen Recht wird außerdem vor dem sogenannten „Zwang zur Selbstbelastung“ geschützt, also vor dem Zwang, sich durch eigene Aussagen selbst

266 BVerfG Urt. v. 2. 3. 2006 – 2 BvR 2099/04, NJW 2006, 976, 978; Weichert/Stoppa, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 48 AufenthG Rn. 24; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 10 GG Rn. 5. 267 BVerfG Urt. v. 2. 3. 2006 – 2 BvR 2099/04, NJW 2006, 976, 978; Weichert/Stoppa, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 48 AufenthG Rn. 25. 268 BVerfG, Beschl. v. 07. 12. 2011 – 2 BvR 2500/09, NJW 2012, 907, 912; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 2 GG (Stand: 81. EL 2020) Rn. 105; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 42.

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen

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zu belasten.269 Absoluter Schutz besteht hier zwar auf Basis des Rechtsstaatsprinzips lediglich im Strafverfahren, allerdings gilt, dass auch außerhalb des Strafverfahrens selbstbelastende Aussagen nur verlangt werden können, wenn andere Verfassungsgüter Vorrang haben.270 Würde dem Jugendamt das Recht eingeräumt, Mobilfunkgeräte, Computer und ähnliche Datenträger im Besitz von Ausländern auszuwerten, würde in deren Recht zur informationellen Selbstbestimmung eingegriffen werden, da diese nicht mehr über die Preisgabe ihrer persönlichen Daten bestimmen könnten. Im Ergebnis läge in einer Befugnis des Jugendamts zur Auswertung von Datenträgern von Ausländern im Rahmen von § 42f SGB VIII ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor. 2. Rechtfertigung Dieser Eingriff könnte allerdings gerechtfertigt sein. Dazu müsste die Rechtsgrundlage verhältnismäßig ausgestaltet werden. Fraglich ist, welche Anforderungen an eine solche Ausgestaltung zu stellen wären. Ziel der Auswertung von Datenträgern bei Ausländern, welche die Inobhutnahme beim Jugendamt nach den §§ 42 ff. SGB VIII begehren, wäre es, Angaben über das Alter des Betroffenen herauszufinden. Dieses Ziel wäre grundsätzlich als legitim anzusehen. a) Geeignetheit zur Altersfeststellung Zunächst müsste die Auswertung von Datenträgern tatsächlich geeignet271 sein, Hinweise auf das Alter des Betroffenen zu liefern. Hier stellt sich die Frage, inwiefern über die Datenauswertung von Mobilfunkgeräten und Ähnlichem von Ausländern tatsächlich eine zuverlässige Aussage über das Alter des Betroffenen getroffen werden kann. Nach einer Literaturstimme wird für die Frage der bloßen Identifikation eines Ausländers im Rahmen des § 48 Abs. 3a AufenthG bzw. § 15a AsylG vertreten, dass eine identifizierbare Sprache in Textnachrichten nur bedingt Auskunft über das genaue Herkunftsland oder die Nationalität des Betroffenen gebe, da sich der Freundes- und Bekanntenkreis aus verschiedenen Ländern zusammensetzen 269 BVerfG, Beschl. v. 13. 01. 1981 – 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431, 1432; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 188; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 68. 270 BVerwG, Urt. v. 09. 08. 1983 – 1 C 7/82, NVwZ 1984, 376, 378; Di Fabio, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 188; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 2 GG Rn. 68 f. 271 Epping, Grundrechte, 8. Aufl. 2019, Rn. 53.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

könne.272 Mit Blick auf die Altersfeststellung müssten sich allerdings eindeutige Aussagen über das tatsächliche Alter des Betroffenen beispielsweise aus Kalendereinträgen oder aus Textinhalten wie Geburtstagsgrüßen ergeben, sofern diese vorhanden sind. Hier stellt sich allerdings die Frage, wie verlässlich diese Daten sind. Insbesondere Kalendereinträge und Geburtstagsgrüße lassen sich leicht falsch eintragen. Wenn sich unter volljährigen Ausländern herumspricht, dass Handydaten zur Altersfeststellung ausgelesen werden, dürften viele auf die Idee kommen, ein falsches Geburtsdatum einzutragen. Es ist fraglich, ob offensichtlich beeinflussbaren Daten tatsächlich einen Mehrwert bei der Altersfeststellung haben können, wenn teilweise offizielle Ausweispapiere von Behörden aus den Heimatländern der Betroffenen als nicht verlässlich genug anerkannt werden (vgl. S. 57 ff.). Im Ergebnis dürfte die Maßnahme allerdings nicht vollkommen ungeeignet sein, da im Zweifelsfall zumindest eine Überprüfung der Aussagen des betroffenen Ausländers stattfinden kann und mögliche Widersprüche aufgedeckt werden könnten. Die Maßnahme würde dann allerdings überwiegend der Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Betroffenen dienen, als dessen Alter zuverlässig feststellen zu können. b) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Schließlich müsste die Auswertung von Datenträgern bei Ausländern im Rahmen von § 42f SGB VIII auch angemessen sein. Insbesondere dürfte der Eingriff nicht in einem Missverhältnis zum angestrebten Zweck stehen.273 Im Wesentlichen stehen sich vorliegend zwei Interessen gegenüber: Das Recht eines Ausländers, der von der Datenauswertung betroffen ist, auf informationelle Selbstbestimmung sowie der staatliche Anspruch auf eine möglichst zuverlässige Altersfeststellung bei Ausländern, die eine Inobhutnahme nach den §§ 42 ff. SGB VIII begehren. In Bezug auf die Datenauswertung zur Identifikation von Ausländern nach § 15a AsylG bzw. § 48 Abs. 3a AufenthG wird von einer Literaturstimme274 insbesondere das freie Ermessen der Ausländerbehörde kritisiert, da dort kein Richtervorbehalt existiert, sondern lediglich die Anforderung, dass die Auswertung durch eine Person mit Befähigung zum Richteramt durchgeführt wird. Dadurch, dass keine besonderen Verdachtsmomente vorliegen müssten, würde die Datenauswertung im Ergebnis zu einer Standardmaßnahme führen.

272

Bruckermann, SRa 2018, 133, 135 f. BVerfG, Beschl. v. 16. 03. 1971 – 1 BvR 52/66, NJW 1971, 1255, 1256; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Vorb. vor Art. 1 GG Rn. 46. 274 Bruckermann, SRa 2018, 133, 136. 273

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen

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Bei dieser Einschätzung wurde allerdings außer Acht gelassen, dass diese Maßnahme im Rahmen der Identifikation eines Ausländers nach §§ 15a AsylG, 48 AufenthG nur durchgeführt werden darf, wenn dieser zuvor keine verlässlichen Ausweispapiere vorlegen kann.275 Die Datenauswertung obliegt damit nicht gänzlich der Willkür einer Behörde, sondern ist lediglich möglich, wenn es dem Betroffenen nicht gelingt, seine Identität darzulegen. Damit hat der Betroffene selbst Anhaltspunkte zur Überprüfung seiner Identität mittels Datenauswertung gegeben. Ein Verdachtsmoment als Voraussetzung der Datenauswertung im Rahmen einer Identitätsfeststellung zu fordern, dürfte zu weit gehen. Zweck der Maßnahme ist es vielmehr, ganz objektiv feststellen zu können, welche Herkunft der Betroffene tatsächlich hat, da dies für das weitere Asylverfahren bzw. für den Aufenthaltsstatus des Betroffenen von hoher Bedeutung ist. Im Wesentlichen lassen sich diese Bedenken jedoch auch auf eine mögliche Datenauswertung im Rahmen des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII übertragen. Erforderlich wären daher insbesondere weitere Einschränkungen, wie sie auch in § 15a AsylG bzw. § 48 Abs. 3a AufenthG enthalten sind. Danach ist die Datenauswertung von Datenträgern grundsätzlich unzulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass durch die Auswertung allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt werden würden. Dies schränkt gleichzeitig den Anwendungsbereich der Maßnahme stark ein, denn nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zählen hierzu bereits alle inneren Vorgänge wie Gefühle und höchstpersönliche Ansichten, aber auch Ausdrucksformen der Sexualität, wobei dieser Schutz auch im Rahmen von elektronischen Aufzeichnungen gelten soll.276 Dadurch wird aber im Ergebnis gewährleistet, dass ein Eingriff in die unantastbare Intimsphäre des Betroffenen nicht vorgenommen wird. Dies wäre also auch im Bereich der Altersfeststellung verfassungsrechtlich geboten. Nach § 48 Abs. 3a AufenthG darf außerdem keine Verwertung von Erkenntnissen aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung, die durch die Auswertung von Datenträgern gewonnen worden sind, stattfinden. Diese Regelung ergänzt das oben genannte Auswertungsverbot, da dieses in der Praxis umsetzungstechnisch schwer einzuhalten ist. Ob Daten den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen, kann meistens erst nach einer Sichtung derselben festgestellt werden.277 Das Verwer-

275 Hörich, in: Kluth/Heusch; BeckOK Ausländerrecht, § 48 AufenthG Rn. 41; Winkelmann/Wunderle, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 48 AufenthG Rn. 4. 276 BVerfG, Urt, vom 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98, NJW 2004, 999, 1002; Hörich, in: Kluth/Heusch; BeckOK Ausländerrecht, 21. Aufl. 2017, § 48 AufenthG Rn. 44.1; Winkelmann/ Wunderle, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 48 AufenthG Rn. 4; Weichert/Stoppa, in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 48 AufenthG Rn. 21. 277 Hörich, in: Kluth/Heusch; BeckOK Ausländerrecht, 21. Aufl. 2017, § 48 AufenthG Rn. 45; vgl. dazu auch Weichert/Stoppa, in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 48 AufenthG Rn. 22.

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Kap. 3: Verfassungskonformität des Verfahrens der Altersfeststellung

tungsverbot ist danach ebenso verfassungsrechtliches Erfordernis, das auch bei einer Datenauswertung im Rahmen der Altersfeststellung zu berücksichtigen wäre. Es stellt sich die Frage, ob eine Datenauswertung im Bereich der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII trotz Beachtung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben angemessen wäre. Bereits festgestellt wurde, dass der Nutzen für die Altersfeststellung äußerst gering ausfällt. Während bei der Identifikation wenigstens über Textnachrichten und Bilder grobe Hinweise auf die Herkunft des Betroffenen ausfindig gemacht werden können, ist dies in Bezug auf das Geburtsdatum eher unwahrscheinlich. Selbst wenn in wenigen Einzelfällen ein Geburtsdatum im Kalender vermerkt ist oder sich ein solches aus den Textnachrichten ergibt, kann kaum überprüft werden, ob dieses richtig eingetragen worden ist oder sogar bewusst zur Täuschung falsch angegeben wurde. Letzteres dürfte gehäuft vorkommen, sobald unter jungen Ausländern bekannt werden würde, dass das Jungendamt zur Altersfeststellung eine Auswertung von Mobilfunkgeräten vornimmt. Die Datenauswertung dient dem staatlichen Anspruch auf Altersfeststellung damit nur rudimentär. Dem steht jedoch gleichzeitig ein stark beeinträchtigender Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber. Gerade die vollumfängliche Datenauswertung von Mobilfunkgeräten gegen den Willen oder ohne Wissen des Grundrechtsträgers ist besonders schwerwiegend, da hier regelmäßig auch sehr sensible Daten ausgewertet werden. Insbesondere in Bezug auf eine Altersfeststellung müssten zahlreiche Textnachrichten mit nahestehenden Personen ausgewertet werden. Dabei besteht stets die Gefahr, dass Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst wird, der ein gefährdetes Rechtsgut von besonders hohem Rang darstellt.278 Gleichzeitig wird bei der Sichtung von Textnachrichten auch in die Grundrechte Dritter eingegriffen.279 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass selbst im Strafprozessrecht hohe Hürden an die Auswertung von Datenträgern gestellt wird. Die §§ 100a ff. StPO setzen alle mindestens einen Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten voraus. Teilweise ist der Verdacht einer schwerwiegenden Katalogtat (§ 100a StPO) oder der Verdacht einer Straftat von erheblicher Bedeutung erforderlich, wie bei der Erhebung von Verkehrsdaten nach § 100 g StPO. Bei der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII kann allerdings kein pauschaler Anfangsverdacht des Sozialbetrugs gegenüber allen unbegleiteten, jungen Ausländern bestehen. Die Altersfeststellung stellt hier vielmehr eine präventive Maßnahme zur Prüfung der Leistungsberechtigung dar und keine repressive Ermittlungsmaßnahme von Strafverfolgungsbehörden. 278 So auch Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 48 AufenthG Rn. 55, nach dessen Ansicht die Befugnis zur Datenträgerauswertung in § 48 AufenthG verfassungswidrig ist; vgl. allgemein zum Kernbereich privater Lebensgestaltung BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98 u. 1 BvR 1084/99, NJW 2004, 999; Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 2 GG Rn. 39; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG (Stand: 92. EL 2020) Rn. 130. 279 Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 48 AufenthG Rn. 54.

§ 3 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit weiterer Maßnahmen

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Erschwerend kommt im Fall der Altersfeststellung hinzu, dass regelmäßig minderjährige Ausländer von der Maßnahme betroffen wären, die aus Kindeswohlgesichtspunkt aber besonders schutzbedürftig sind. Der äußerst geringe Nutzen, der sich in der Regel darin erschöpfen dürfte, mögliche Widersprüche in den Angaben eines Ausländers zu seinem Alter aufzudecken, kann einen solchen gravierenden Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht rechtfertigen. III. Stellungnahme Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Schaffung einer Rechtsgrundlage zur Datenauswertung, wie sie in § 15a AsylG und in § 48 Abs. 3 AufenthG enthalten ist, im Rahmen des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII verfassungsrechtlich nicht zulässig wäre. Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG kann in diesem Fall nicht durch ein staatliches Interesse an der Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Mittel gerechtfertigt werden.

Kapitel 4

Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung gemäß § 42 f SGB VIII mit Europäischem Recht und Völkerrecht In den letzten Jahrzehnten ist das nationale Recht verstärkt durch europäische Rechtsinstrumente geprägt worden. Neben Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Union sind auch zahlreiche multilaterale Verträge geschlossen worden, die der nationale Gesetzgeber bei dem Entwurf neuer Gesetze zu beachten hat. Im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise ist verstärkt die Frage nach einer einheitlichen Gestaltung des Aufenthalts- und Asylrechts innerhalb Europas behandelt worden. Neben der Dublin-III-Verordnung, der Rückführungsrichtlinie und zahlreichen weiteren Vorschriften existieren auch Konventionen und Richtlinien zum besonderen Schutz von Minderjährigen. Darüber sollen innerhalb Europas einheitliche Vorgaben zu Kindeswohl-Standards durchgesetzt werden. Zu prüfen ist daher, ob das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII mit diesen supranationalen Vorgaben im Einklang steht und welche Folgen ein Verstoß gegen europäisches Recht sowohl für die Anwendbarkeit der Norm als auch für den Betroffenen selbst haben würde.

§ 1 Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII mit der Richtlinie 2013/32/EU Eine der wesentlichen europarechtlichen Vorschriften, die der Vereinheitlichung des Asyl- und Aufenthaltsrechts in Europa dient, ist die Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes („Asylverfahrensrichtlinie“)1. Die Asylverfahrensrichtlinie ist Teil des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Die Anfänge des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gehen auf die 1975 gegründete TREVI-Arbeitsgruppe („Terrorisme, Radicalisme, 1 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26. 6. 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, Abl. EU L 180/60 v. 29. 6. 2013.

§ 1 Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2013/32/EU

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Extremisme, Violance International“) zurück. Dabei handelte es sich um ein informell gegründetes Gremium von Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, das sich unter anderem mit Fragen einer europäischen Migrations- und Grenzpolitik beschäftigte.2 Der erste multilaterale Vertrag auf europäischer Ebene mit Bezugspunkten zum Migrationsrecht war das im Jahr 1985 abgeschlossene Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen („Schengen I“).3 Als erster Meilenstein einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik wurde schließlich am 15. Juni 1990 das Dubliner Übereinkommen – damals noch als völkerrechtlicher Vertrag zwischen Mitgliedsstaaten der EG – abgeschlossen, um eine einheitliche Regelung für die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags innerhalb der Mitgliedsstaaten zu schaffen.4 Das Dubliner Übereinkommen wurde im Jahr 2003 zunächst durch die Dublin-II-Verordnung5 und zuletzt im Jahr 2014 durch die Dublin-III-Verordnung6 ersetzt. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem wurde in den vergangenen 20 Jahren über verschiedene Richtlinien zur Schaffung gemeinsamer Mindeststandards erweitert.7 Aktuell besteht es im Wesentlichen aus der Anerkennungs- bzw. Qualifikationsrichtlinie8, der Asylverfahrensrichtlinie9, der Aufnahmerichtlinie10 sowie der

2 Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt, Europäische Integration – Europäisches Regieren, S. 134. 3 BGBl. II 1993, S. 1010; Winkelmann, ZAR 2010, 213, 215. 4 Günther, ZAR 2017, 7, 8. 5 Verordnung (EG) 343/2003 des Rates vom 18. 02. 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. Nr. L 50, S. 1. 6 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 06. 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. Nr. L 180, S. 31. 7 Klepp, Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz: eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer, S. 53. 8 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. L 337 vom 20. 12. 2011, S. 9. 9 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180 vom 29. 6. 2013, S. 60. 10 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. L 180 vom 29. 6. 2013, S. 96.

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Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

Dublin-III-Verordnung.11 Seine heutige Geltung im deutschen Rechtssystem erhält das Gemeinsame Europäische Asylsystem über Art. 78 Abs. 2 AEUV.12

A. Inhalt der Asylverfahrensrichtlinie Die Asylverfahrensrichtlinie13 legt Mindeststandards und -garantien für Asylverfahren in der Europäischen Union fest (vgl. Erwägungsgrund Nr. 1 der Richtlinie). Geregelt wird insbesondere das Verwaltungsverfahren vor den Verwaltungsbehörden und zum Teil auch vor Gerichten. Als Richtlinie stellt die Asylverfahrensrichtlinie kein unmittelbar geltendes Recht in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union dar, sondern Sekundärrecht, das in eigenen einzelstaatlichen Vorschriften umgesetzt werden muss.14 Damit bleibt den Mitgliedsstaaten ein gewisser Gestaltungsspielraum. Aufgrund des Gebots effektiver Umsetzung muss die Geltung des Richtlinieninhalts regelmäßig über Außenrechtssätze wie Gesetze oder Rechtsverordnungen erfolgen. Es muss beispielsweise gesichert sein, dass sich Begünstigte einer Richtlinie vor nationalen Behörden und Gerichten erfolgreich auf ihre daraus resultierenden Rechte berufen können.15 Die im Jahr 2013 neu überarbeitete Asylverfahrensrichtlinie soll insbesondere für gerechtere, schnellere und bessere Asylentscheidungen sorgen. Kernpunkte sind dabei die Unterstützung von Asylsuchenden bei der Stellung ihres Antrages und der besondere Schutz von unbegleiteten Minderjährigen und Folteropfern.16 Im Einzelnen soll sichergestellt werden, dass Ausländer schnell und wirksam Asyl beantragen können (vgl. Erwägungsgrund Nr. 4 der Richtlinie). Nach Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie soll das Asylverfahren beispielsweise nach sechs Monate ab förmlicher Antragstellung abgeschlossen werden. Ein für die Altersfeststellung relevanter Kernpunkt der Richtlinie ist die angemessene Unterstützung für Personen mit besonderen Bedürfnissen. Unbegleiteten Minderjährigen soll beispielsweise ein qualifizierter Vertreter von den nationalen Behörden zur Seite gestellt werden (vgl. Art. 25 Abs. 6 lit. d der Richtlinie). 11

S. 5.

Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand, WD 3 – 3000 – 275/16 v. 13. 01. 2017,

12 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 4. Aufl. 2017, Rn. 102; vgl. Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand, WD 3 – 3000 – 275/16 v. 13. 01. 2017, S. 5. 13 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 4. Aufl. 2017, Rn. 117. 14 Herdegen, Europarecht, 20. Aufl. 2018, S. 195. 15 EuGH, Urt. v. 11. 08. 1995 – C-433/93, NVwZ 1996, 367, 368; Herdegen, Europarecht, 20. Aufl. 2018, S. 197 f. 16 Europäische Union, Das Gemeinsame Europäische Asylsystem, 2014, S. 3, https://ec.eu ropa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/e-library/docs/ceas-fact-sheets/ceas_factsheet_de. pdf, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021.

§ 1 Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2013/32/EU

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B. Vereinbarkeit des § 42f SGB VIII mit Art. 25 RL 2013/32/EU Die Asylverfahrensrichtlinie enthält weiterhin auch Vorgaben für den Umgang mit unbegleiteten, minderjährigen Ausländern. In Art. 25 der Richtlinie sind in diesem Zusammenhang umfassende Garantien für diese besondere Personengruppe aufgeführt, die auch das Verfahren zur Altersfeststellung betreffen. I. Anwendbarkeit der Richtlinie Diese Vorgaben aus der Asylverfahrensrichtlinie könnten auch für das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII von Bedeutung sein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese auch in den nationalen Regelungen zur Jugendhilfe im Achten Buch Sozialgesetzbuch zu berücksichtigen sind, da die Asylverfahrensrichtlinie zunächst nur das Asylverfahren als solches betrifft. Nach Art. 3 Abs. 1 RL 2013/32/EU gilt die Asylverfahrensrichtlinie für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung des internationalen Schutzes. Unzweifelhaft beziehen sich damit die Vorschriften zur Altersfeststellung in Art. 25 der Richtlinie auf die Asylantragsstellung, sind also beispielsweise bei der Altersfeststellung nach § 49 AufenthG zu beachten. Bei der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII handelt es sich jedoch nicht unmittelbar um die Altersfeststellung im Zusammenhang mit der Stellung eines Asylantrags oder eines sonstigen Antrags auf internationalen Schutz im Sinne der Asylverfahrensrichtlinie, sondern um eine Altersfeststellung, um die Voraussetzungen für die Inobhutnahme durch das Jugendamt zu überprüfen. Denn Art. 2 lit. b RL 2013/32/EU definiert den Antrag auf internationalen Schutz lediglich als das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedsstaat, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt und der nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs der RL 2011/95/EU ersucht. Auch dem Wortlaut nach bezieht sich § 42f SGB VIII nicht auf das Asylverfahren, sondern zunächst allgemein auf unbegleitete minderjährige Ausländer, unabhängig von dem Grund des Aufenthalts in Deutschland. Zusätzlich ist die Norm in den Sozialgesetzbüchern geregelt. Im Kinder- und Jugendhilferecht hat die Europäische Union allerdings keine eigenständige Rechtssetzungskompetenz, da sie nach Art. 6 lit. e AEUV im Bereich der Jugend nur unterstützend oder ergänzend tätig werden kann. Das bedeutet, dass ihre Maßnahmen keine Sperrwirkung gegenüber den Mitgliedsstaaten bewirken.17 17 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 2 AEUV Rn. 22; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 2 AEUV Rn. 12; Nettesheim, in: Grabitz/

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Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

Ein Zusammenhang zum Asylverfahren ergibt sich unmittelbar erst aus § 42 Abs. 2 S. 5 SGB VIII, nach dem das Jugendamt verpflichtet ist, unverzüglich einen Asylantrag für den Minderjährigen zu stellen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dieser internationalen Schutz nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG benötigt. Diese Verpflichtung gilt allerdings erst während der regulären Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, also nach Feststellung der Minderjährigkeit gemäß § 42f SGB VIII, demnach also auch nicht bereits während der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII.18 Zwischen der Altersfeststellung und der Stellung des Asylantrags durch das Jugendamt liegt damit auch das Verteilungsverfahren nach § 42b SGB VIII, worin ein wesentlicher Zwischenschritt zu sehen ist. Außerdem geht der Gesetzgeber davon aus, dass das Ergebnis des behördlichen Verfahrens der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII keine Bindungswirkung für andere Ausländerbehörden hat,19 sodass hier ohnehin in Zweifelsfällen eine weitere Identitätsfeststellung mit Altersbestimmung im Asylverfahren zu erfolgen hätte. Allerdings wird der Anwendungsbereich der Asylverfahrensrichtlinie in Art. 3 Abs. 3 RL 2013/32/EU erweitert. Danach können die Mitgliedsstaaten beschließen, dass die Asylverfahrensrichtlinie auch in Verfahren anzuwenden ist, in denen außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2011/95/EU über Anträge auf Schutz jedweder Form entschieden wird. Die Inobhutnahme durch das Jugendamt stellt eine Maßnahme zum Schutz von Kindern und Jugendlichen dar.20 Damit handelt es sich bei der Beantragung der Inobhutnahme durch das Jugendamt nach §§ 42 ff. SGB VIII ebenfalls um Schutzanträge im Sinne der Asylverfahrensrichtlinie. Erforderlich wäre allerdings ein Beschluss der Bundesregierung, nach dem die Asylverfahrensrichtlinie auch für das Verfahren der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII anwendbar sein soll. Ein solcher ist allerdings nicht vorhanden. Auch die Gesetzesmaterialien des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, im Rahmen dessen das Verfahren zur behördlichen Altersfeststellung eingeführt worden ist, enthalten keinen Hinweis auf die Asylverfahrensrichtlinie.21 Man könnte daher vertreten, dass eine Anwendung der Asylverfahrensrichtlinie auf § 42f SGB VIII nicht über Art. 3 Abs. 3 RL 2013/32/EU begründet werden kann.

Nettesheim/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 2 AEUV (Stand: 71. EL 2020) Rn. 34; vgl. konkret zu § 42 f SGB VIII Kepert, ZfSH/SGB 2018, 135, 137. 18 Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 42 SGB VIII Rn. 33; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 SGB VIII Rn. 37; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 177. 19 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. 20 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 9. 21 Vgl. BR-Drs. 349/15 v. 14. 08. 2015, S. 21; BT-Drs. 8/5921 v. 07. 09. 2015, S. 24; BTDrs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20 f.

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In der Rechtsprechung und Literatur22 wird dennoch überwiegend von einer Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie auf das Verfahren der Altersfeststellung im Zusammenhang mit der Inobhutnahme ausgegangen. Der Bayerisches Verwaltungsgerichtshof23 hat insofern vertreten, dass eine zu formale Argumentation eine Spaltung des elementaren Status eines jungen unbegleiteten Ausländers zur Folge hätte. Dogmatisch wurde das Ergebnis allerdings nicht näher begründet. Eine Literaturstimme24 ist der Ansicht, dass sich jedenfalls die europarechtliche Vorgabe „im Zweifel pro Minderjährigkeit“ im nationalen Recht entsprechend aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ergebe. Das Oberverwaltungsgericht Bremen25 ließ die Frage in einem Beschluss zwar offen, erkannte jedoch an, dass § 42f SGB VIII der Asylverfahrensrichtlinie erkennbar nachgebildet und insofern vergleichbar sei. Zu dem überzeugenden Ergebnis des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs könnte man über eine weite Auslegung des Art. 3 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie gelangen. Auch wenn es sich bei der Inobhutnahme nicht um einen Antrag auf internationalen Schutz handelt, so steht dieser doch im engen Zusammenhang mit der Inobhutnahme durch das Jugendamt. Zum einen sind die §§ 42a ff. SGB VIII gerade mit Blick auf die sogenannte Flüchtlingskrise geschaffen worden. Auch § 42f SGB VIII steht damit in einem europarechtlichen Kontext. Zum anderen ist die Inobhutnahme der Asylantragsstellung nach § 42 Abs. 2 S. 5 SGB VIII unmittelbar vorgeschaltet. Zusätzlich würde eine Nichtanwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie auf § 42f SGB VIII bedeuten, dass hier unionsrechtlich ein geringeres Schutzniveau als bei der Altersfeststellung nach § 49 Abs. 3 AufenthG bestünde, obwohl von § 42f SGB VIII maßgeblich minderjährige Ausländer betroffen sind.26 Folgt man außerdem der hier vertretenen Auffassung, dass der Entscheidung des Jugendamts über das Alter des Ausländers eine Bindungswirkung für alle Behörden zukommt (vgl. S. 123 f.), würde es eine Umgehung von Art. 25 der Asylverfahrensrichtlinie darstellen, wenn die dort aufgestellten Verfahrensgrundsätze im Rahmen des Verfahrens nach § 42f SGB VIII unbeachtlich wären. Im Übrigen dürfte es der Intention des unionsrechtlichen Gesetzgebers entsprechen, dass Art. 25 der Asylverfahrensrichtlinie auch im Rahmen der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII Geltung erlangt. 22 BayVGH, Beschl. v. 05. 07. 2016 – 12 CE 16.1186, EuG 2016, 513, 518; zumindest entsprechend anwendbar: BayVGH, Beschl. v. 18. 08. 2016 – 12 CE 16.1570, ZKJ 2016, 425, 428; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 43; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42a SGB VIII Rn. 3; Tillmanns, in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 42 f SGB VIII Rn. 3; Haubner/Kalin, Einführung in das Asylrecht, S. 162 Rn. 12. 23 BayVGH, Beschl. v. 05. 07. 2016 – 12 CE 16.1186, EuG 2016, 513, 518. 24 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 43. 25 OVG Bremen, Beschl. v. 04. 06. 2018 – 1 B 53/18, ZFSH/SGB 2018, 670, 673. 26 Vgl. Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 43.

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Die dort aufgestellten Verfahrensgrundsätze müssten daher entsprechend vom nationalen Gesetzgeber umgesetzt worden sein. II. Ärztliche Untersuchung nach Art. 25 Abs. 5 RL 2013/32/EU Art. 25 Abs. 5 der Asylverfahrensrichtlinie enthält Verfahrensgrundsätze und -garantien, die bei der nationalen Gestaltung von Verfahren zur Altersbestimmung bei unbegleiteten Minderjährigen beachtet werden müssen. Dies betrifft – zumindest bei der hier befürworteten Annahme der Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie auf das behördliche Verfahren der Altersfeststellung für die Frage der Inobhutnahme durch das Jugendamt – folglich auch § 42f Abs. 2 SGB VIII. 1. Voraussetzungen der Durchführung einer ärztlichen Untersuchung Nach Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 RL 2013/32/EU können Mitgliedstaaten im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ärztliche Untersuchungen zur Bestimmung des Alters unbegleiteter Minderjähriger durchführen lassen, wenn aufgrund allgemeiner Aussagen oder anderer einschlägiger Hinweise Zweifel bezüglich des Alters des Antragsstellers bestehen. Anknüpfungspunkt für die Durchführung einer ärztlichen Untersuchung sind nach Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 RL 2013/32/EU Zweifel am Alter des vorgeblich minderjährigen Ausländers. Dies deckt sich mit § 42f Abs. 2 SGB VIII, wonach eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung ebenfalls nur in Zweifelsfällen erfolgen darf. Beide Vorschriften lassen offen, wie ein Zweifelsfall zu definieren ist. In Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 RL 2013/32/EU findet sich allerdings die zusätzliche Anforderung, dass die Zweifel aufgrund allgemeiner Aussagen oder anderer einschlägiger Hinweise bestehen müssen. Damit wird ein Bezug der Zweifelsfallregelung auf den konkreten Sachverhalt hergestellt. Es ist nicht ausreichend, dass die Behörde ganz abstrakt Zweifel am Alter des Betroffenen hat. Denn diese bestehen schon immer dann, wenn der betroffene Ausländer keine zuverlässigen Ausweispapiere vorzeigen kann. Jedenfalls findet sich eine solche Einschränkung in § 42f Abs. 2 SGB VIII nicht wieder. Allerdings sind der ärztlichen Untersuchung im Rahmen des Verfahrens nach § 42f SGB VIII die Einsichtnahme in Ausweispapiere und die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII nach hier vertretener Auffassung zwingend vorgeschaltet (vgl. S. 75). Hat der betroffene Ausländer keine (zuverlässigen) Ausweispapiere und kommt das Jugendamt nach Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme zum Ergebnis, dass das Alter des Betroffenen nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, könnte dies so verstanden werden, dass dann allgemeine Aussagen bzw. einschlägige Hinweise vorliegen, die Zweifel im Sinne des Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 RL 2013/32/EU darstellen. Die vorherige Durchführung

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der Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 SGB VIII wäre damit die unionsrechtskonforme Ausgestaltung der Zweifelsregelung der Asylverfahrensrichtlinie. Dies wäre grundsätzlich unionsrechtlich unproblematisch, da es gerade Zweck von Richtlinien ist, den einzelnen Mitgliedsstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum zu gewähren.27 Im Umkehrschluss ergibt sich daraus gleichzeitig, dass die vorhergehende Durchführung der Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 SGB VIII aus unionsrechtlicher Sicht zwingend ist. Die Zweifelsregelung in § 42f Abs. 2 SGB VIII verstößt damit nicht grundsätzlich gegen Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 RL 2013/32/EU, bedarf allerdings einer richtlinienkonformen Auslegung dahingehend, dass Mindestvoraussetzung für das Vorliegen eines Zweifelsfalls ist, dass die Zweifel mindestens auf allgemeinen Aussagen oder anderen einschlägigen Hinweisen beruhen. Davon kann immer dann ausgegangen werden, wenn nach der Einsichtnahme in Ausweispapiere (falls überhaupt möglich) und der qualifizierten Inaugenscheinnahme durch Fachkräfte des Jugendamts noch Zweifel über das Alter des betroffenen Ausländers bestehen. Dies entspricht weitgehend der aktuellen Ausgestaltung. 2. Rechtsfolge von verbleibenden Zweifeln nach der Altersfeststellung Im Zusammenhang mit dem behördlichen Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII ist höchst umstritten, wie zu verfahren ist, wenn auch nach Durchführung der ärztlichen Untersuchung Zweifel über das Alter des Betroffenen verbleiben. Dies ist äußerst praxisrelevant, da es sich bei der ärztlichen Untersuchung nach aktuellem Forschungsstand um eine bloße Altersschätzung handelt, die je nach untersuchtem Knochen eine Standardabweichung von bis zu drei Jahren aufweist (vgl. auch S. 99 ff.).28 Zweifel im Sinne von fehlender absoluter Gewissheit verbleiben nur in solchen Fällen nicht, wenn der Betroffene selbst unter Berücksichtigung einer solchen Fehlerspanne eindeutig minderjährig oder eindeutig volljährig ist. Dies dürfte allerdings nur selten der Fall sein, da gerade Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 21 Jahren Problemfälle im Rahmen der Altersfeststellung darstellen. Ausländer, die entweder jünger oder älter als die Personengruppe sind, dürften regelmäßig bereits im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme als minderjährig oder volljährig eingestuft werden können. Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2 RL 2013/32/EU legt fest, dass bei fortbestehenden Zweifeln bezüglich des Alters die Mitgliedsstaaten von der Minderjährigkeit des Antragsstellers auszugehen haben. Nach dieser Regelung gilt damit der Grundsatz „in dubio pro minore“.29 § 42f SGB VIII enthält keine ausdrückliche Regelung, wie zu verfahren ist, falls auch nach der ärztlichen Untersuchung noch Zweifel über das 27 28 29

Herdegen, Europarecht, 20. Aufl. 2018, S. 196. vgl. Thorson/Hogg, Swedish Dental Journal 1991, 15, 22. Vgl. ZEKO, DÄ 2016, A1726.

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Alter des Betroffenen bestehen. Auch die Gesetzesbegründung trifft hierüber keine Aussage. Es bleibt damit dabei, dass die endgültige Entscheidung des Jugendamts über das Ergebnis des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung auch bei verbleibenden Zweifeln eine Ermessensentscheidung ist. Hier dürfte eine ordnungsgemäße Ermessensausübung allein aus Kindeswohlgesichtspunkten nur in solchen Fällen vorliegen können, in denen dann von Minderjährigkeit des Betroffenen ausgegangen wird. Dies würde sich auch mit einer richtlinienkonformen Auslegung von § 42f SGB VIII mit Blick auf Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 RL 2013/32/EU decken. Auch in der nationalen Rechtsprechung wird bislang davon ausgegangen, dass bei verbleibenden Zweifeln nach Durchführung einer ärztlichen Untersuchung inklusive radiologischer Untersuchung zwingend von der Minderjährigkeit des Betroffenen auszugehen ist. Das Oberverwaltungsgericht Bremen vertritt jedenfalls die Ansicht, dass bei Anwendung des Mindestalterskonzepts – körperliche Untersuchung, Röntgenaufnahme des Gebisses und der linken Hand sowie ggf. CT-Untersuchung der Schlüsselbeine – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sei, dass ein tatsächlich Minderjähriger versehentlich als volljährig eingestuft werde.30 Gleichwohl wird teilweise in der Literatur die Auffassung vertreten, dass der Antragssteller, also der unbegleitete, möglicherweise minderjährige, Ausländer die Darlegungs- und Beweislast bezüglich seines Alters trägt. Dies soll auch hinsichtlich von Zweifeln an seinem Alter gelten.31 Das würde bedeuten, dass verbleibende Zweifel nach einem Altersgutachten gem. § 42f Abs. 2 SGB VIII zulasten des Betroffenen gehen würden und die Inobhutnahme abgelehnt werden müsste, da er seine Minderjährigkeit als Voraussetzung der Inobhutnahme nicht nachweisen konnte. Diese Ansicht verstößt damit – unabhängig von einer verfassungsrechtlichen Bewertung auf nationaler Ebene – gegen geltendes Unionsrecht, da sie die Zweifelsregelung in Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2 der Asylverfahrensrichtlinie unbeachtet lässt. Hieraus folgt im Umkehrschluss vielmehr eine Darlegungs- und Beweislast der Behörde. Wenn es dieser nicht gelingt, die Volljährigkeit des Antragsstellers zu beweisen, muss sie diesen als minderjährig einstufen. Im Ergebnis wäre es jedoch zur Klarstellung sinnvoll, eine vergleichbare Regelung in § 42f SGB VIII aufzunehmen. Damit könnte auch die bislang bestehende Gefahr von Ermessensfehlentscheidungen verringert werden.

30 OVG Bremen, Beschl. v. 06. 04. 2018 – 1 B 53/18, ZFSH/SGB 2018, 670, 673; OVG Bremen. Beschl. v. 06. 04. 2018 – 1 B 82/18, NVwZ 2018, 1899, 1902. 31 Kepert, ZfSH/SGB 2018, 135, 137.

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3. Methoden der Altersfeststellung Über die zulässigen Methoden der Altersfeststellung trifft die Asylverfahrensrichtlinie keine genaueren Angaben. In Art. 25 Abs. 5 UAbs. 2 RL 2013/32/EU heißt es lediglich, dass die ärztliche Untersuchung unter uneingeschränkter Achtung der Würde der Person und mit den schonendsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften, die so weit wie möglich ein zuverlässiges Ergebnis gewährleisten, durchgeführt werden soll. Dies deckt sich weitgehend mit der Gesetzesbegründung32 von § 42f Abs. 2 SGB VIII. Hier heißt es, dass die ärztliche Untersuchung mit den „schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden“ von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen sei. Es werden damit auf unionsrechtlicher Ebene keine konkreten Vorgaben zu den Methoden der Altersfeststellung gemacht. Offen bleibt damit insbesondere, wie die Altersfeststellung mittels radiologischer Untersuchung zu beurteilen ist. Bislang gibt es zu diesem Thema noch keine Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs. Eine fehlende Richtlinienkonformität von § 42f Abs. 2 SGB VIII käme mit Blick auf Art. 25 Abs. 5 der Asylverfahrensrichtlinie in diesem Zusammenhang allerdings nur in Betracht, wenn radiologische Untersuchungen die Würde des betroffenen Antragsstellers verletzten würde oder nicht zu den schonendsten Methoden gehören würden. Unklar ist dabei insbesondere, ob die Röntgendiagnostik auch nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs zu den schonendsten Methoden zählt. Dies ist im Ergebnis allerdings weniger eine rechtliche als vielmehr eine tatsächliche, naturwissenschaftliche Frage (vgl. S. 99 f.). Selbst wenn der Europäische Gerichtshof dies im Fall einer entsprechenden Vorlagefrage bejahen würde, würde daraus noch kein Verstoß von § 42f Abs. 2 SGB VIII gegen die Asylverfahrensrichtlinie folgen. Denn auch hier sind die Methoden zur Altersfeststellung nicht explizit genannt, die Gesetzesbegründung orientiert sich sogar an dem Wortlaut von Art. 25 Abs. 5 UAbs. 2 RL 2013/32/EU.33 Insofern ist nach aktuellem Stand der unionsrechtlichen Gesetzgebung und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs davon auszugehen, dass die Durchführung von radiologischen Untersuchungen nicht gegen Sekundärrecht der Europäischen Union verstößt. 4. Verweigerung der Einwilligung in die ärztliche Untersuchung Nach Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. b RL 2013/32/EU haben die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass der unbegleitete Minderjährige oder sein Vertreter in die Durchführung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersbestimmung einwilligen. 32 33

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

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Dieses Erfordernis wurde in Bezug auf das behördliche Verfahren zur Altersbestimmung zur Inobhutnahme durch das Jugendamt in § 42f Abs. 2 S. 3 SGB VIII umgesetzt. Umstritten ist allerdings nach wie vor, welche rechtliche Bedeutung einer Verweigerung der ärztlichen Untersuchung zukomme soll. Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. c RL 2013/32/EU enthält hierzu die Bestimmung, dass eine darauffolgende „Entscheidung, den Antrag auf internationalen Schutz eines unbegleiteten Minderjährigen abzulehnen, der eine ärztliche Untersuchung verweigert hat, nicht ausschließlich in dieser Weigerung begründet“ sein darf. Die Gesetzesbegründung zu § 42f Abs. 2 SGB VIII enthält diesbezüglich lediglich den Hinweis, dass die Weigerung „nicht reflexhaft“ zur Annahme der Volljährigkeit und dem Verlust aller korrespondierenden Schutzrechte Minderjähriger führen dürfe.34 In Rechtsprechung und Literatur werden unterschiedliche Positionen vertreten, wie im Fall der Weigerung einer Inobhutnahme zu verfahren ist. Eine Literaturstimme35 ist der Ansicht, dass sich aus § 42f Abs. 2 S. 4 SGB VIII iVm. § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I die Berechtigung des Jugendamts ergebe, die Inobhutnahme eines Betroffenen abzulehnen, wenn dieser die Einwilligung in die ärztliche Untersuchung verweigert hat. Dies wird unter anderem damit begründet, dass der unbegleitete minderjährige Ausländer darlegungs- und beweisbelastet sei.36 Dem wird zurecht entgegengehalten37, dass Behörden auch bei der Entscheidung über eine Leistungsversagung wegen fehlender Mitwirkung des Antragsstellers ordnungsgemäß Ermessen auszuüben haben. Im Bereich der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII bedeutet dies die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls. Bereits hieraus ergibt sich, dass die Verweigerung Einwilligung in die ärztliche Untersuchung nicht per se zur Annahme der Volljährigkeit führen kann, wenn hierfür keine sonstigen glaubhaften Anhaltspunkte vorliegen. Die überwiegende, überzeugendere Auffassung38 geht daher davon aus, dass in der Verweigerung der ärztlichen Untersuchung zwar möglicherweise eine Verletzung der Mitwirkungspflichten zu sehen ist, dies allerdings die reflexhafte Annahme der Volljährigkeit und die damit einhergehende Ablehnung der Inobhutnahme durch das Jugendamt nicht rechtfertigen kann, wie dies auch die Gesetzesbegründung vorsieht. Diese Meinung steht damit im Wesentlichen im Einklang mit den Vorgaben aus Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. c RL 2013/32/EU. Dabei ist allerdings zu berück34 35

Rn. 6.

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII

36 Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 6; vgl. auch: Kepert, ZfSH/SGB 2018, 135, 137. 37 So Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 56. 38 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42 f SGB VIII Rn. 56; Neundorf, ZAR 2018, 238, 246; Tillmanns, in: MüKoBGB, 7. Aufl. 2017, § 42 f SGB VIII Rn. 3.

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sichtigen, dass der unbestimmte Rechtsbegriff „nicht reflexhaft“ dahingehend ausgelegt werden muss, dass die Ablehnung nach einer Verweigerung nur zulässig ist, wenn im Sinne der Asylverfahrensrichtlinie weitere Gründe für die Annahme der Volljährigkeit hinzutreten. Dagegen könnte allerdings ins Feld geführt werden, dass trotz grundsätzlicher Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie auf § 42f SGB VIII die Ablehnung der Inobhutnahme durch das Jugendamt bei der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII allein mit der Weigerung der ärztlichen Untersuchung begründet werden dürfte, da die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. c RL 2013/32/ EU nicht vorliegen. Denn Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. c RL 2013/32/EU bezieht sich explizit auf die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz. Aus der grundsätzlichen Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie folgt nicht zwingend die Anwendbarkeit der einzelnen Normen der Richtlinie. Insofern ließe sich vertreten, dass die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutzes nach Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. c RL 2013/32/EU deutlich weitreichender als lediglich die Ablehnung der Inobhutnahme durch das Jugendamt nach §§ 42 ff. SGB VIII ist. Letztgenannte hat insbesondere keinen Einfluss auf die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz. Vertritt man allerdings mit dem überwiegenden Teil der Rechtsprechung die Ansicht, dass die Asylverfahrensrichtlinie zumindest entsprechend auf § 42f SGB VIII anzuwenden ist,39 wäre es konsequenter, auch die Bestimmung von Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. c RL 2013/32/EU auf § 42f SGB VIII anzuwenden. Dies wäre auch trotz des Umstands, dass bei der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII nicht die endgültige Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz in Frage steht, gerechtfertigt, da dies zumindest für das Kindeswohl relevant ist. Das bedeutet im Ergebnis, dass die Rechtsfolge einer Verweigerung der Einwilligung in die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII unionsrechtskonform ausgelegt werden kann und damit in dieser Hinsicht nicht gegen die Asylverfahrensrichtlinie verstößt. Mit Blick auf die Praxis ist allerdings unglücklich, dass sich diese Bestimmung für den Fall der Verweigerung der Einwilligung in die ärztliche Untersuchung ausschließlich in der Gesetzesbegründung findet, im Wortlaut aus § 42f Abs. 2 SGB VIII aber nicht angelegt ist. Insofern wurde bereits festgestellt, dass dies nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot genügt (vgl. S. 181 f.). Es wäre daher sinnvoll, eine ausdrückliche Regelung in § 42f SGB VIII aufzunehmen, um sicherzustellen, dass Jugendämter § 42f Abs. 2 SGB VIII unionsrechtskonform anwenden.

39 BayVGH, Beschl. v. 05. 07. 2016 – 12 CE 16.1186, EuG 2016, 513, 518; zumindest entsprechend anwendbar: BayVGH, Beschl. v. 18. 08. 2016 – 12 CE 16.1570, ZKJ 2016, 425, 428.

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5. Sprachmittler Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 RL 2013/32/EU gibt außerdem vor, dass unbegleitete Minderjährige in einer Sprache, die sie verstehen oder von der vernünftigerweise angenommen werden kann, dass sie sie verstehen, über die Möglichkeit der Altersbestimmung im Wege einer ärztlichen Untersuchung informiert werden müssen. Diese Information soll dabei eine Aufklärung über die Untersuchungsmethode, über mögliche Folgen des Untersuchungsergebnisses für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz sowie über die Folgen der Weigerung des unbegleiteten Minderjährigen, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, umfassen. Die Asylverfahrensrichtlinie enthält mithin spezifische Vorgaben zur Bereitstellung eines Sprachmittlers. § 42f Abs. 2 SGB VIII weist lediglich darauf hin, dass die betroffene Person durch das Jugendamt umfassend über die Untersuchungsmethode und über die möglichen Folgen der Altersbestimmung aufzuklären ist. Auf die Bereitstellung eines Sprachmittlers wird dabei nicht verwiesen. Auch die Gesetzesbegründung bleibt hier vage. In Bezug auf die Aufklärung über die Untersuchungsmethode im Rahmen der ärztlichen Untersuchung heißt es dort lediglich, dass die betroffene Person umfassend über die Untersuchungsmethode und mögliche Folgen des Ergebnisses sowie über die Folgen der Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung aufzuklären ist.40 Durch wen diese Aufklärung zu erfolgen hat, bleibt dabei unklar. Die Gesetzesbegründung zu § 42f Abs. 1 SGB VIII enthält zumindest den Hinweis, dass die ausländische Person vom Jugendamt über die Vornahme der Altersfeststellung, die Methode der Altersfeststellung sowie über die möglichen Folgen der Altersfeststellung und die Folgen einer Verweigerung der Mitwirkung bei der Sachverhaltsermittlung umfassend zu informieren ist, wobei sicherzustellen ist, dass diese Informationen der ausländischen Person in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden.41 Da hier explizit auch eine Aufklärung über Methoden der Altersfeststellung erwähnt ist, kann davon ausgegangen werden, dass sich diese Sprachmittler-Regelung nach dem Willen des Gesetzgebers auch auf das Verfahren nach Absatz 2 bezieht. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass zumindest die Gesetzesbegründung den Erfordernissen in Art. 25 Abs. 5 UAbs. 3 lit. a der Asylverfahrensrichtlinie entspricht. Auch hier wäre es sinnvoll, diese Bestimmungen unmittelbar in den Wortlaut von § 42f SGB VIII aufzunehmen.

40 41

BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

§ 2 Vereinbarkeit mit der EU-Grundrechtecharta

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C. Stellungnahme zur Richtlinienkonformität des § 42f SGB VIII Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass § 42f SGB VIII den Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie insgesamt gerecht wird. Dadurch, dass die Vorschrift allerdings unbestimmt formuliert wird und insbesondere auf der Ebene der Rechtsfolgen verschiedenen Interpretationen zugänglich ist, bedarf es an mehreren Stellen der richtlinienkonformen Auslegung. Die Gesetzesbegründung enthält zwar einige Konkretisierungen, die teilweise dem Wortlaut aus Art. 25 der Asylverfahrensrichtlinie entnommen sind, allerdings wäre es in einem solchen verfassungs- und unionsrechtlich sensiblen Bereich im Sinne der Rechtssicherheit und -klarheit sinnvoll, einzelne Vorgaben aus der Asylverfahrensrichtlinie unmittelbar in den Wortlaut von § 42f SGB VIII aufzunehmen oder jedenfalls zu konkretisieren.

§ 2 Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII mit der EU-Grundrechtecharta Neben europäischen Verordnungen und Richtlinien hat der nationale Gesetzgeber auch die Europäische Charta der Grundrechte zu beachten, sofern ein Bezug zum europäischen Unionsrecht besteht. Die Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII dürfte in diesem Fall nicht gegen die dort geregelten Grundrechte verstoßen. Der Geltungsrang der Grundrechte-Charta („GrC“) steht den Verträgen der Europäischen Union gleich und ist mit einer Verfassung vergleichbar.42 Grundrechtsverpflichtet ist in erster Linie die Europäische Union selbst. Allerdings sind auch die Mitgliedsstaaten an die Grundrechte auf europäischer Ebene gebunden, wenn es um die Durchführung von Unionsrecht geht.43

A. Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf § 42f SGB VIII Es stellt sich zunächst die Frage, ob der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte mit Blick auf das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII eröffnet ist. Die deutsche Rechtsprechung hat zu der Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte im Bereich der Altersfeststellung noch keine Stellung genommen. 42 Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV, AEUV, 6. Aufl. 2017, Einf. GrC Anh. 1 Rn. 5; Terhechte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrechts, 7. Aufl. 2015, Art. 53 Rn. 1. 43 Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV, AEUV, 6. Aufl. 2017, Einf. GrC Anh. 1 Rn. 10 f.; Jarass, in: Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Rn. 2.

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Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

Lediglich in Bezug auf die Asylverfahrensrichtlinie und die UN-Kinderrechtskonvention wurde bislang eine Anwendbarkeit bejaht.44 Dies deutet zumindest darauf hin, dass die nationalen Instanzgerichte in der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII eine europarechtlich relevante Regelungsmaterie sehen. Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrC gilt die Charta für Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union sowie für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Damit die Unionsgrundrechte auf § 42f SGB VIII anwendbar wären, müsste bei der Altersfeststellung für die Inobhutnahme durch das Jugendamt Unionsrecht durchgeführt werden. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts45 ist der Begriff „Durchführung von Unionsrecht“ restriktiv auszulegen. Ein bloßer sachlicher Bezug zu Unionsrecht soll danach für die Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta nicht ausreichen. Maßgeblich sei vielmehr, inwiefern das Unionsrecht den Mitgliedsstaaten zwingende Vorschriften mache oder Spielräume lasse. Bei der Umsetzung von Richtlinien bedeutet dies etwa, dass zu differenzieren ist, ob mit einer konkreten staatlichen Maßnahme zwingendes Recht umgesetzt wird oder der nationale Gesetzgeber in eigener Verantwortung handelt.46 Der Europäisches Gerichtshof47 vertritt dagegen ein weites Verständnis des Begriffs der Durchführung von Unionsrecht. Die Unionsgrundrechte sollen danach sogar bei nationaler Gesetzgebung, die nicht der Erfüllung einer Richtlinien-Umsetzungspflicht dient, zur Anwendung kommen können, sofern beispielsweise finanzielle Interessen der Europäischen Union berührt werden. Der Europäische Gerichtshof hat zu diesem Begriffsverständnis in einem Urteil48 aus dem Jahr 2014 nochmals Stellung bezogen. Er hat ausgeführt, dass der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte zumindest dann eröffnet sein müsse, wenn ein hinreichender Zusammenhang von einem gewissen Grad zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme vorliege, der darüber hinausgehe, dass die fragli44 BayVGH, Beschl. v. 05. 07. 2016 – 12 CE 16.1186, EuG 2016, 513, 518; zumindest entsprechend anwendbar: BayVGH, Beschl. v. 18. 08. 2016 – 12 CE 16.1570, ZKJ 2016, 425, 428; Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, Praxiskommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2018, § 42f SGB VIII Rn. 43; Haubner/Kalin, Einführung in das Asylrecht, S. 162 Rn. 12. 45 Vgl. BVerfG, Urt. v. 24. 04. 2013 – 1 BvR 1215/07, NJW 2013, 1499, 1500 Rn. 88; vgl. auch Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 51 GrC Rn. 37. 46 BVerfG, Beschl. v. 11. 03. 2008 – 1 BvR 256/08, NVwZ 2008, 543, 544; Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 51 GrC Rn. 45; Thym, NVwZ 2913, 889, 892. 47 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013 – C-617/10 „Åkerberg Fransson“, NJW 2013, 1415, 1416; Terhechte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 51 GrC Rn. 8; Ohler, NVwZ 2013, 1433, 1434; Jarass, NVwZ 2012, 457, 458. 48 EuGH, Urt. v. 06. 03. 2014 – C-206/13 „Siragusa“, NVwZ 2014, 575, 576; Terhechte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 51 GrC Rn. 10.

§ 2 Vereinbarkeit mit der EU-Grundrechtecharta

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chen Sachbereiche benachbart seien oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen habe. In jedem Fall bejaht der Europäische Gerichtshof49 die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte bei der nationalen Umsetzung von Richtlinien. Sowohl nach der dargestellten Auffassung des Europäischen Gerichtshofs als auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen die Unionsgrundrechte jedenfalls dann Anwendung finden, wenn die Umsetzung von Primär- oder Sekundärrecht der Europäischen Union in Frage steht und diesbezüglich kein Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers besteht. Da nach der hier vertretenen Auffassung die Asylverfahrensrichtlinie auf § 42f SGB VIII anwendbar ist (vgl. S. 245 ff.), kommen die Unionsgrundrechte vorliegend jedenfalls insoweit zur Geltung, als die Umsetzung der Mindestgarantien für Minderjährige aus Art. 25 der Asylverfahrensrichtlinie in Frage stehen. Denn dabei handelt es sich um zwingende Regelungsinhalte, von denen der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung nicht abweichen darf. Nach der zuvor dargestellten Auffassung des Europäischen Gerichtshofs wären die Unionsgrundrechte darüber hinaus insgesamt auf § 42f SGB VIII anwendbar, also unabhängig von der Frage, ob die Asylverfahrensrichtlinie konkrete Vorgaben zu den einzelnen Regelungen der Norm enthält. Da Art. 25 Abs. 5 dieser Richtlinie allerdings detaillierte Vorgaben zur ärztlichen Untersuchung enthält, die ohnehin den grundrechtssensiblen Inhalt von § 42f SGB VIII betreffen (Wahrung des Kindeswohls, Anwendung der schonendsten und zuverlässigsten Methoden, Einwilligung in die ärztliche Untersuchung, Folgen der Verweigerung), dürfte sich dies im Ergebnis kaum auswirken. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die Unionsgrundrechte auf das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII anwendbar sind, da die hier in Frage stehenden Regelungen zwingenden Vorgaben aus der Asylverfahrensrichtlinie unterliegen.50

B. Vereinbarkeit mit einzelnen Unionsgrundrechten Gelangt man mit der hier vertretenen Auffassung zur Anwendbarkeit der europäischen Grundrechte-Charta bezüglich des Verfahrens der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII, kommen verschiedene Grundrechte in Betracht, die durch dieses Verfahren berührt und gegebenenfalls auch verletzt sein könnten. Um dem europarechtlichen Rechtsrahmen neue Erkenntnis zu entnehmen und um Wiederholungen zu vermeiden, soll der Schwerpunkt der Untersuchung hier insbesondere auf Wertungsunterschieden zum deutschen Grundgesetz liegen. 49

EuGH, Urt. v. 17. 04. 2018 – C-414/16 „Egenberger“, EuZW 2018, 381, 383; EuGH, Urt. v. 20. 12. 2017 – C-664/15, EuZW 2018, 158, 160 f.; EuGH, Urt. v. 08. 11. 2016 – C-243/15, EuZW 2017, 275, 277 f. 50 So auch ohne nähere Begründung Klein, KJ 2015, 405, 413, 414.

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Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

I. Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 3 GrC) Zum einen könnte insbesondere die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 3 GrC verstoßen. Art. 3 Abs. 1 GrC schützt alle Körperfunktionen sowie die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne51 und entspricht inhaltlich in etwa Art. 2 Abs. 2 GG. In Art. 3 Abs. 2 GrC wird zusätzlich die biomedizinische und genetische Unversehrtheit als Unterfall der körperlichen Unversehrtheit besonders hervorgehoben.52 Da sich Röntgenstrahlungen nachteilig auf die Gesundheit auswirken, stellen staatlich veranlasste radiologische Untersuchungen im Rahmen der Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII im Grundsatz einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Wie auch bei Art. 2 Abs. 2 GG fehlt es aber an einem Eingriff, wenn der Grundrechtsberechtigte in die Gesundheitsverletzung wirksam eingewilligt hat.53 Art. 3 Abs. 2 lit. a GrC stellt ausdrücklich klar, dass im Bereich der Medizin und Biologie die freie Einwilligung der betroffenen Person nach vorheriger Aufklärung entsprechend den gesetzlich festgelegten Modalitäten zu erfolgen hat. Die Anforderungen an das Vorliegen einer freien Einwilligung und an eine ordnungsgemäße Aufklärung werden dabei nicht weiter konkretisiert, sondern richten sich nach einzelstaatlichen Bestimmungen.54 Damit gelten im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GrC die gleichen Grundsätze, die bereits im Rahmen von Art. 2 Abs. 2 GG herausgearbeitet worden sind: Eine Einwilligung kann nur wirksam sein, wenn sie freiwillig erteilt worden ist. Im Rahmen der Altersfeststellung fehlt es allerdings regelmäßig an diesem Erfordernis, da die Verweigerung eine Verletzung von Mitwirkungspflichten darstellen kann und dadurch die Versagung der Inobhutnahme droht. Das lässt zumindest vermuten, dass sie nicht immer freiwillig erfolgt ist, sodass es an einer wirksamen (freiwilligen) Einwilligung fehlt (vgl. S. 120 f.). Auch im Rahmen der europäischen Grundrechte kann der Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts gerechtfertigt werden. Wesentlicher Unterschied 51 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 3 GrC Rn. 5; Borowsky, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 3 GrC Rn. 37; Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 3 GrC Rn. 4. 52 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 3 GrC Rn. 5; Borowsky, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 3 GrC Rn. 41. 53 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 3 GrC Rn. 9; Borowsky, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 3 GrC Rn. 44. 54 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 3 GrC Rn. 13; Kern, MedR 1998, 485, 487; Borowsky, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 3 GrC Rn. 44; Albers, EuR 2002, 801, 811.

§ 2 Vereinbarkeit mit der EU-Grundrechtecharta

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zu den deutschen Grundrechten ist hier, dass die Schranken einheitlich in Art. 52 GrC geregelt sind. Zusätzlich hat eine Verhältnismäßigkeitsprüfung stattzufinden. Da diese auf europäischer Ebene die gleichen Kriterien wie im Rahmen der deutschen Grundrechtsprüfung aufweist, fällt diese jedoch inhaltsgleich zur Verhältnismäßigkeitsprüfung des Eingriffs in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG aus. Im Ergebnis stellt das Verfahren zur behördlichen Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII in Bezug auf die Ausgestaltung der ärztlichen Untersuchung eine Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit dar. II. Rechte des Kindes (Art. 24 GrC) Im Gegensatz zur deutschen Verfassung erkennt die europäische GrundrechteCharta in Art. 24 GrC eigene Grundrechte für Kinder an. Es handelt sich dabei nicht um bloße Grundsätze, sondern um eigenständige, eng zusammenhängende Grundrechte, auf die sich Kinder als Grundrechtsträger berufen können.55 Kinder sind dabei alle Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Es wird also nicht zwischen Kindern und Jugendlichen unterschieden.56 Die Staatsangehörigkeit des Kindes ist unerheblich, sodass auch Ausländer vom Schutzbereich erfasst sind.57 Grundrechtsverpflichtet sind neben Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union im Anwendungsbereich des Unionsrechts auch die Mitgliedsstaaten selbst.58 1. Recht auf Schutz und Fürsorge (Art. 24 Abs. 1 GrC) Nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 GrC haben Kinder insbesondere einen Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind.

55 EuGH, Urt. v. 23. 12. 2009 – C-403/09, FamRZ 2010, 525, 526; EuGH, Urt. v. 01. 07. 2010 – C-211/10, FamRZ 2010, 1229, 1232; Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 24 GrC Rn. 2; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GrC Rn. 17. 56 Lemke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 24 GrC Rn. 10; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GrC Rn. 18. 57 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 24 GrC Rn. 9; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 24 GrC Rn. 1. 58 Lemke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 24 GrC Rn. 9; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GrC Rn. 18.

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Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

Unter den Begriff des Wohlergehens fallen insbesondere das gesundheitliche, materielle und soziale Wohlergehen.59 Auch das körperliche und psychische Wohlergehen von Kindern ist damit vom Schutzbereich des Art. 24 Abs. 1 GrC erfasst. Eine Beeinträchtigung des Anspruchs auf Wohlergehen nach Art. 24 Abs. 1 GrC liegt immer dann vor, wenn die Grundrechtsverpflichteten Minderjährigen nicht ausreichend Schutz und Fürsorge gewähren. Die Union und die Mitgliedsstaaten müssen Kinder daher auch vor Beeinträchtigungen von Dritten schützen, sind also auch zu aktivem Handeln verpflichtet, wenn das Kindeswohl bereits bedroht oder verletzt wird.60 Das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 SGB VIII als solches beeinträchtigt den Anspruch auf Schutz und Fürsorge nicht per se. Sowohl bei der körperlichen Untersuchung – bei der Genitaluntersuchungen zumindest nach der Gesetzesbegründung ausgeschlossen sind – als auch bei dem Gespräch zur Bewertung des Entwicklungsstandes handelt es sich um Maßnahmen, die das Wohlergehen von Minderjährigen nur unwesentlich beeinträchtigen. Problematisch dürfte dagegen die radiologische Untersuchung zur medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII sein. Denn hierbei handelt es sich um eine Maßnahme, welche zumindest ein Risiko für die Gesundheit des Betroffenen darstellt (vgl. S. 172 ff.). Damit droht eine Beeinträchtigung des gesundheitlichen Wohlergehens des Kindes, sodass der Anspruch auf Schutz und Fürsorge beeinträchtigt ist. Eingriffe in das Recht auf Schutz und Fürsorge nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 GrC bedürfen grundsätzlich der Rechtfertigung nach Art. 52 Abs. 1 GrC.61 Danach muss jede Einschränkung der Grundrechte aus der Charta gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Freiheiten und Rechte beachten. § 42f SGB VIII stellt hierzu die erforderliche gesetzliche Regelung dar. Der Wesensgehalt des Rechts auf Schutz und Fürsorge wird auch durch die ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII nicht verletzt. Kern der Rechtfertigung ist vergleichbar zum nationalen Verfassungsrecht eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung. Einschränkungen dürfen in diesem Sinne nach Art. 52 Abs. 1 S. 2 GrC nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten 59 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 24 GrC Rn. 10; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GrC Rn. 18. 60 Lemke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 24 GrC Rn. 11; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GrC Rn. 20. 61 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 3 GrC Rn. 22; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GrC Rn. 40.

§ 2 Vereinbarkeit mit der EU-Grundrechtecharta

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anderer tatsächlich entsprechen. Maßstab der Prüfung sind damit legitimes Ziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme.62 Insofern kann erneut auf die Ausführungen zur Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG durch die Ausgestaltung der ärztlichen Untersuchung in § 42f Abs. 2 SGB VIII verwiesen werden (vgl. S. 182 ff.). Die Überprüfung der Minderjährigkeit des Betroffenen als Voraussetzung einer Inobhutnahme durch das Jugendamt stellt ein legitimes Ziel dar, wobei insbesondere die ärztliche Untersuchung – aber auch die anderen Maßnahmen im Rahmen von § 42f SGB VIII – dazu grundsätzlich geeignet und erforderlich sind. Aufgrund der unbestimmten und unverhältnismäßigen Ausgestaltung der ärztlichen Untersuchung, insbesondere in Bezug auf die radiologischen Untersuchungen, verstößt § 42f SGB VIII gegen das Recht auf eine kindeswohlgerechte Behandlung nach Art. 24 Abs. 1 GrC. 2. Kindeswohl als vorrangiges Interesse (Art. 24 Abs. 2 GrC) Ergänzt wird der Anspruch auf Schutz und Fürsorge durch Art. 24 Abs. 2 GrC. Danach hat das Kindeswohl bei allen Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen, die Kinder betreffen, eine vorrangige Erwägung zu sein. Erfasst werden davon neben Gerichten und Gesetzgebungsorganen auch Verwaltungsbehörden.63 Eine Beeinträchtigung dieses Grundrechts liegt immer dann vor, wenn ein Grundrechtsverpflichteter bei der Interessenabwägung im Rahmen einer Maßnahme das Kindeswohl nicht vorrangig berücksichtigt.64 Aus dem Wortlaut geht allerdings hervor, dass dem Kindeswohl kein absoluter Vorrang eingeräumt werden muss, das Kindeswohl also in Einzelfällen dennoch hinter anderen Interessen zurücktreten kann.65 Als Anhaltspunkt, ob und inwiefern der Gesetzgeber das Kindeswohl im Rahmen einer Interessenabwägung vorrangig berücksichtigt hat, kann die Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII herangezogen werden. Hier wird zu § 42f Abs. 1 SGB VIII ausgeführt, dass Maßstab zur Festsetzung des Alters das Kindeswohl bzw. das Wohl der ausländischen Person sei, die Festsetzung also unter Achtung ihrer Menschen62 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 24 GrC Rn. 24; Lemke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 24 GrC Rn. 16. 63 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 24 GrC Rn. 15; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GrC Rn. 29. 64 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 24 GrC Rn. 16; Lemke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 24 GrC Rn. 13. 65 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 24 GrC Rn. 9; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GrC Rn. 31.

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Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

würde und ihrer körperlichen Integrität erfolgen soll.66 In Bezug auf die ärztliche Untersuchung wird erläutert, dass diese mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen ist. Genitaluntersuchungen sollen nach der Gesetzesbegründung ausgeschlossen sein.67 Daraus ergibt sich, dass das Kindeswohl durchaus ein vorrangig gewertetes Interesse des Gesetzgebers war und ein Verstoß gegen Art. 24 Abs. 2 GrC ausscheidet. Art. 24 Abs. 2 GrC knüpft gerade nicht an die tatsächlichen Folgen einer staatlichen Maßnahme an, sondern soll lediglich eine angemessene Interessenabwägung sicherstellen. III. Menschenwürde (Art. 1 GrC) In Betracht käme außerdem eine Verletzung der Menschenwürde gemäß Art. 1 GrC. Das Grundrecht ist inhaltsgleich zu Art. 1 Abs. 1 GG aufgebaut, sodass auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückgegriffen werden kann.68 Die Menschenwürde lässt sich damit auch auf europäischer Ebene als sozialer Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen wegen seines Menschseins zusteht, definieren.69 Insofern ergeben sich hinsichtlich dieses Grundrechts aus dem europäischen Kontext keine Besonderheiten im Vergleich zu den Ausführungen zu Art. 1 Abs.1 GG (vgl. S. 207 ff.). Die aktuelle Ausgestaltung des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII verstößt auch auf europäischer Ebene nicht gegen die Menschenwürde gemäß Art. 1 GrC.

C. Zusammenfassung Abschließend kann in Bezug auf die europäischen Grundrechte festgehalten werden, dass der Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta in Bezug auf § 42f SGB VIII eröffnet ist. Im Bereich des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung kommt der unionsrechtlichen Grundrechte-Charta allerdings kaum eigene Bedeutung zu, da die relevanten Grundrechte sich nahezu inhaltsgleich in der deutschen

66

Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 20. Vgl. BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21. 68 Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 1 GrC Rn. 4; Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 1 GrC Rn. 27. 69 Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechte-Charta, 4. Aufl. 2021, Art. 1 GrC Rn. 6; Borowsky, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 1 GrC Rn. 39. 67

§ 3 Vereinbarkeit mit der UN-Kinderrechtskonvention

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Verfassung wiederfinden. Einzige Ausnahme hierzu bildet das Kindeswohlprinzip in Art. 24 GrC. Die größte Bedeutung der obigen Ausführungen kommt damit der Feststellung selbst zu, dass die Grundrechte-Charta auf das Verfahren der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII Anwendung findet. Daraus folgt, dass der Europäische Gerichtshof grundsätzlich die Kompetenz hat, die Zulässigkeit der Norm anhand der Grundrechte zu überprüfen und zu verwerfen, sollte er entscheiden müssen, ob die Ausgestaltung des § 42f SGB VIII gegen Unionsrecht verstößt.

§ 3 Vereinbarkeit des Verfahrens der Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII mit der UN-Kinderrechtskonvention Die aktuelle Ausgestaltung des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII müsste außerdem mit der UN-Kinderrechtskonvention und dem dort nach Art. 3 KRK geltendem Kindeswohlprinzip vereinbar sein.

A. Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention Die Kinderrechtskonvention geht auf die Kinderrechtserklärung der UN-Generalversammlung vom 20. November 1959 zurück. Dabei handelte es sich um eine rechtlich nicht bindende Erklärung zur Verwirklichung von Kinderrechten.70 Die Kinderrechtserklärung enthielt allerdings erstmals originäre Kinderrechte wie das Recht auf gesunde und normale Entwicklung oder das Recht auf soziale Sicherheit, Ernährung, Unterbringung und ärztliche Betreuung.71 Die Kinderrechtskonvention selbst wurde erst am 10. November 1989 von der UN-Generalversammlung beschlossen und zählt mit aktuell 196 Vertragsparteien zu den weltweit am meisten ratifizierten völkerrechtlichen Übereinkommen. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Konvention nach ihrer Ratifizierung am 5. April 1992 in Kraft getreten.72 Erst 2010 wurde allerdings die sogenannte „Ausländerklausel“ von der Bundesregierung zurückgenommen, nach der Deutschland Verpflichtungen aus der Konvention gegenüber ausländischen Kindern nicht anwenden musste.73 Ziel der Kinderrechtskonvention ist es, einen umfassenden und lückenlosen Schutz von Kindern zu bewirken und die bestmöglichen Lebensbedingungen für 70 71 72 73

Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Einleitung Rn. 2. Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Einleitung Rn. 9. BGBl. II 1992, 990. Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Einleitung Rn. 23 f.

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Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

diese rechtlich sicherzustellen.74 Kind im Sinne der Konvention ist nach Art. 1 KRK jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Die Schutzrechte von Kindern sollen durch zahlreiche materiell-rechtlichen Bestimmungen gewährleistet werden. Ihre besondere Bedeutung erhält die Konvention durch ihre rechtliche Verbindlichkeit für die Vertragsstaaten. Die Kinderrechtskonvention wird außerdem von mittlerweile drei materiellrechtlichen Fakultativprotokollen ergänzt, die unter anderem die Beteiligung von Kindern in bewaffneten Konflikten und den Verkauf von Kindern, Kinderprostitution und Kinderpornographie betreffen. Das dritte Fakultativprotokoll hat verfahrensrechtliche Bedeutung und regelt beispielsweise ein Individualbeschwerdeverfahren und ein Untersuchungsverfahren.75 Ziel der Kinderrechtskonvention ist es insbesondere, einen gesellschaftspolitischen Diskurs über Kinderrechte in den Vertragsstaaten, die teilweise ein sehr unterschiedliches Schutzniveau von Menschenrechten aufweisen, anzustoßen. So wird auch in Deutschland regelmäßig die verfassungsrechtliche Verankerung von subjektiven Kinderrechten diskutiert.76

B. Verhältnis der Konvention zum nationalen Recht in Deutschland Bei der UN-Kinderrechtskonvention handelt es sich im Gegensatz zu den Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Union um einen völkerrechtlichen Vertrag.77 Das bedeutet, dass die Konvention nicht ipso jure in dem jeweiligen Vertragsstaat gilt, sondern zunächst einer Ratifizierung bedarf.78 Die Bundesrepublik Deutschland hat die Konvention am 6. März 1992 ratifiziert. Durch diese Zustimmung haben die Regelungen der Konvention innerstaatliche Geltung erhalten.79 Aus Art. 59 Abs. 2 GG ergibt sich, dass ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen auf nationaler Ebene der Rang von einfachen Gesetzen zukommt.80 Daraus folgt gleichzeitig, dass auch die Kinderrechtskonvention im Sinne eines einfachen Bun74

Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Einleitung Rn. 15, 28. Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Einleitung Rn. 4 f. 76 Vgl. Beschluss des Bundesrats zur Änderung des Grundgesetzes in BR-Drs. 386/11 v. 25. 11. 2011, S. 1, abgelehnt von der Bundesregierung in BT-Drs. 431/12 v. 19. 07. 2012, S. 1; Benassi, ZRP 2015, 24 mit Bewertung als „längst überfällige Aufnahme“; Lütkes/Sedlmayr, FPR 2012, 187; gegen die ausdrückliche Aufnahme eine eigenen Kindergrundrechts aufgrund der Regelungsstruktur des Grundgesetzes Kirchhof, NJW 2018, 2690, 2693. 77 Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, 2017, S. 2. 78 Becker, NVwZ 2005, 289. 79 Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2013, S. 151. 80 BVerfG, Urt. V. 30. 07. 1952 – 1 BvF 1/52, BVerfGE 1, 396; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 59 GG Rn. 41. 75

§ 3 Vereinbarkeit mit der UN-Kinderrechtskonvention

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desgesetzes unter dem Grundgesetz steht.81 Daraus könnte zu schließen sein, dass den Bestimmungen der Konvention gegenüber dem behördlichen Verfahren der Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern keine besondere Bedeutung zu kommen kann, da § 42f SGB VIII nach dem lex-posterior-Grundsatz82 die Vorgaben der Kinderrechtskonvention verdrängen könnte. Allerdings gilt bei internationalen Menschenrechtsverträgen der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, dem Verfassungsrang zukommt.83 Daraus folgt zwar nicht zwingend, dass der Verstoß gegen ein internationales Menschrechtsabkommen einem Verfassungsverstoß gleichkommt, innerstaatliches Recht ist allerdings bei unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten völkerrechtsfreundlich auszulegen. Zu unterscheiden ist in diesem Zusammenhang zusätzlich zwischen unmittelbar geltenden und mittelbar geltenden Bestimmungen eines Völkerrechtsvertrages. Bei unmittelbaren Bestimmungen handelt es sich um sogenannte „self-executing“ Bestimmungen, die keines weiteren Umsetzungsaktes bedürfen. Darunter fallen allerdings nur solche Bestimmungen, die von ihrem Wortlaut her so hinreichend bestimmt sind, dass sie ohne eine weitere Vollzugsregelung anwendbar sind. Dies betrifft insbesondere Regelungen, die Rechte oder Verpflichtungen von Individuen begründen.84 Der Gesetzgeber, Behörden und Gerichte müssen diese mithin unmittelbar anwenden. „Non-self-executing“ Bestimmungen dagegen verpflichten lediglich den Staat, gesetzliche oder sonstige Maßnahmen zu ergreifen. Es ergibt sich daraus lediglich eine objektive Verpflichtung der Vertragsstaaten, diese Bestimmungen zu berücksichtigen.85 Da viele der Vorschriften der UN-Kinderrechtskonvention subjektive Rechte des Kindes enthalten, sind die meisten Bestimmungen unmittelbar wirksam.86

C. Vereinbarkeit mit einzelnen Bestimmungen der Konvention Die UN-Kinderrechtskonvention enthält verschiedene Bestimmungen, die insbesondere im Zusammenhang mit der ärztlichen Untersuchung im Rahmen der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII zu berücksichtigen sein könnten. 81

S. 2. 82

Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, 2017,

Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 59 GG Rn. 43. BVerfG, Beschl. v. 23. 06. 1981 – 2 BvR 1107/77, NJW 1982, 507, 509; BVerfG, Beschl. v. 10. 11. 1981 – 2 BvR 1058/79, NJW 1982, 512, 513. 84 BVerfG, Beschl. v. 09. 12. 1970 – 1 BvL 7/66, BVerfGE 29, 348; Pieper, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 59 GG Rn. 42. 85 Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Einleitung Rn. 27. 86 Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Einleitung Rn. 26. 83

266

Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

I. Kindeswohlprinzip (Art. 3 Abs. 1 KRK) Art. 3 Abs. 1 KRK enthält das Kindeswohlprinzip als Kernelement der Kinderrechtskonvention. Durch dieses soll gewährleistet werden, dass bei allen Maßnahmen, sowohl von öffentlichen als auch privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen, das Wohl des Kindes als Gesichtspunkt vorrangig berücksichtigt wird.87 Es handelt sich dabei um eine Querschnittsklausel, nach der auch die übrigen Konventionsrechte auszulegen sind.88 Die Vorschrift enthält nach dem Kinderrechtsausschuss sowohl ein subjektives Recht als auch ein allgemeines Auslegungsprinzip sowie verfahrensrechtliche Verpflichtungen.89 Aus dem Auslegungsprinzip ergibt sich bereits, dass Art. 3 Abs. 1 KRK in Bezug auf die Altersfeststellung insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bei der Prüfung eines Verfassungsverstoß eine Rolle spielt. Dies gilt umso mehr, als sich aus Art. 3 Abs. 1 KRK weder ein konkretes Recht noch eine konkrete Pflicht ergibt.90 Gleichwohl enthält Art. 3 Abs. 1 KRK ein subjektives Recht des Kindes, das sich zumindest auf einen Anspruch auf konventionskonforme Abwägung erstreckt,91 sodass die Norm nicht lediglich bei der Abwägung auf verfassungsrechtlicher Ebene eine Bedeutung spielen muss. Es kann auch unabhängig von einer verfassungsrechtlichen Beurteilung einer staatlichen Maßnahme ein Verstoß gegen das Kindeswohlprinzip festgestellt werden. Dies folgt bereits zwingend aus der unmittelbaren Anwendbarkeit der Norm.92 Um das behördliche Verfahren der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII auf seine Vereinbarkeit mit dem Kindeswohlprinzips aus Art. 3 Abs. 1 KRK zu untersuchen, ist zunächst zu klären, welche Handlungsgrundsätze in diesem Gebot enthalten sind. Dies ist insofern problematisch, als es sich bei dem Begriff des Kindeswohls um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, dem eine allgemeine menschenrechtliche Zielbestimmung zu Grunde liegt.93 In der englischen Originalfassung wird von den „best interests of the child“ gesprochen. Das Kindeswohlprinzip kann damit als Pflicht, die Interessen eines Kindes zu wahren und zu schützen, verstanden werden.94 Aus dieser abstrakten Maxime ergibt sich allerdings noch nicht konkret, in welchen Fällen ein Verstoß gegen das Kindeswohlprinzip vorliegt. 87

Vgl. auch Benassi, ZRP 2015, 24. Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 3 KRK Rn. 1. 89 UN-Kinderrechtsausschuss, General Comment Nr. 14 (2013a), § 6. 90 Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 3 KRK Rn. 5. 91 Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, 2017, S. 9; Klein, KJ 2015, 405, 412. 92 Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, 2017, S. 8. 93 Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 3 KRK Rn. 3. 94 Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 3 KRK Rn. 2. 88

§ 3 Vereinbarkeit mit der UN-Kinderrechtskonvention

267

In Bezug auf § 42f SGB VIII kann jedenfalls gefolgert werden, dass die Vereinbarkeit des dort geregelten behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung mit dem Kindeswohlprinzip nur abstrakt überprüft werden kann. Verletzungen des Kindeswohls nach Art. 3 Abs. 1 KRK werden daher regelmäßig im Rahmen von Einzelfallentscheidungen überprüft.95 Im Zentrum einer abstrakten Untersuchung stehen in diesem Zusammenhang vor allem die radiologischen Untersuchungen zur Altersfeststellung. Denn die Röntgendiagnostik berührt aufgrund der Gefahr einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit auch bei abstrakter Betrachtung die Interessen eines betroffenen Kindes nachteilig. Eine konventionskonforme Auslegung des § 42f Abs. 2 SGB VIII könnte bei Annahme einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 KRK durch die Anwendung von Röntgendiagnostik zumindest zu dem Ergebnis führen, dass radiologische Untersuchungen zur Altersfeststellung bei (potenziell) Minderjährigen nicht zulässig sind. Dies würde weder dem Gesetzeswortlaut noch der Gesetzesbegründung widersprechen. Es dürfte dann lediglich auf nicht-invasive Methoden zurückgegriffen werden. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass sich aus Art. 3 Abs. 1 KRK kein absoluter Vorrang des Kindeswohlprinzips ergibt. Dies bedeutet, dass bei einer konkreten Interessenabwägung das Kindeswohl im Einzelfall gegenüber anderen Belangen zurücktreten kann.96 Die bloße Feststellung, dass eine bestimmte staatliche Maßnahme die Interessen eines Kindes in nachteiliger Weise berührt, kann damit noch nicht für einen Verstoß gegen das Kindeswohlprinzip ausreichen. Maßgeblich für einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 KRK muss damit eine umfassende Interessenabwägung sein. Wie bereits ausgeführt, stehen bei der Altersfeststellung von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern dem Kindeswohlinteresse in erster Linie migrationspolitische und finanzielle Erwägungen gegenüber, insbesondere die Einschränkung von Missbrauchsfällen. Nach Auffassung des UN-Kinderrechtsausschusses97, dem die Überwachung die Kinderrechtskonvention übertragen ist,98 aus dem Jahr 2005 dürfen zumindest rein migrationspolitische Erwägungen der effektiven Einwanderungskontrolle, die nicht rechtebasiert sind, keinen Vorrang vor dem Kindeswohl nach Art. 3 Abs. 1 KRK haben. Allerdings bezweckt die Altersbestimmung nach § 42f SGB VIII nicht unmittelbar eine effektive Einwanderungskontrolle, da die 95

S. 13. 96

Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, 2017,

Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 3 KRK Rn. 7. UN-Kinderrechtsausschuss, General Comment Nr. 6 (2005), Nr. 85 (zur Ausweisung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge): „Non-rights-based arguments such as those relating to general migration control, cannot override best interests considerations.“, https://www.ref world.org/docid/42dd174b4.html, zuletzt abgerufen am 11. 04. 2021; vgl. auch Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, 2017, S. 42. 98 Vgl. Bender, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Vorb. vor § 1 AufenthG Rn. 19. 97

268

Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

Vorschrift nur mittelbar mit dem Asylverfahren zusammenhängt, sondern vielmehr eine Kontrolle der Inobhutnahme von Ausländern durch das Jugendamt und der damit verbundenen Kosten für die Staatskasse. Zudem wird an der Aussage des UNKinderrechtsausschusses zu Recht kritisiert, dass offengelassen wurde, in welchem Rangverhältnis die einzelnen Abwägungsgesichtspunkte stehen sollen.99 Zumindest sollen aber an Maßnahmen, die insbesondere Gesundheit, Sicherheit und Familie des Minderjährigen betreffen, besonders hohe Anforderungen gestellt werden, wenn sie sich negativ auf das Kindeswohl auswirken können.100 Dies ließe sich insofern auf die radiologischen Untersuchungen im Rahmen von § 42f SGB VIII übertragen. Allerdings kann die bloße Gesundheitsbeeinträchtigung eines Minderjährigen durch eine staatliche Maßnahme nicht per se zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 KRK führen. Dies würde den Stellenwert der UN-Kinderrechtskonvention verkennen und würde auch nicht Sinn und Zweck des Kindeswohlprinzips entsprechen, das ein Optimierungsgebot zur bestmöglichen Realisierung der Interessen eines Kindes in bestimmten Situationen darstellt.101 Diesem Gebot kommt der Gesetzgeber nach, indem er nach der Gesetzesbegründung ausschließlich die zuverlässigsten und schonendsten Methoden zur Altersfeststellung zulässt.102 Bei der Prüfung der Verfassungskonformität des § 42f Abs. 2 SGB VIII wurde außerdem bereits deutlich, dass dem körperlichen Eingriff durch Röntgenbestrahlung stichhaltige Argumente gegenüber stehen, die auch bei der Frage nach der Verletzung des Kindeswohlprinzips berücksichtigt werden müssen (vgl. S. 202 ff.). Insbesondere dient die Altersfeststellung nicht nur migrationspolitischen staatlichen Interessen, sondern auch dem Wohl der Minderjährigen selbst. Denn wenn verhindert werden kann, dass erwachsene Ausländer ebenfalls durch das Jugendamt in Obhut genommen werden können, stehen den tatsächlich Minderjährigen mehr Mittel zu Verfügung. Nicht außer Acht gelassen werden darf in diesem Zusammenhang aber die Einwilligung des Betroffenen, die nach § 42f Abs. 2 SGB VIII vorliegen muss. Nur wenn der Minderjährige eine wirksame und ernsthafte Einwilligung in die ärztliche Untersuchung erteilt, insbesondere in die radiologische Untersuchung, kann eine Verletzung des Kindeswohlprinzips ausgeschlossen werden. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Anforderungen an eine solche Einwilligung nur gewahrt werden können, wenn der Betroffene nicht faktisch gezwungen wird, in die Untersuchungsmethode einzuwilligen, etwa weil er andernfalls Nachteile befürchten muss (vgl. S. 120 f.). 99

S. 42. 100

S. 42.

Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, 2017, Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, 2017,

101 Lorz, Der Vorrang des Kindeswohls nach Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention in der deutschen Rechtsordnung, 2003, S. 24. 102 BT-Drs. 18/6392 v. 14. 10. 2015, S. 21.

§ 3 Vereinbarkeit mit der UN-Kinderrechtskonvention

269

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei der Prüfung einer Verletzung des Kindeswohlprinzips nach Art. 3 Abs. 1 KRK aufgrund des völkerrechtlichen Kontexts ein anderer Maßstab angelegt wird als bei der Prüfung der Verfassungskonformität von § 42f SGB VIII. Dem Kindeswohlprinzip kommt im Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention kein absoluter Vorrang gegenüber anderen Abwägungsgesichtspunkten zu. Weiterhin sprechen valide Argumente für die Durchführung eines möglichst zuverlässigen Verfahrens der Altersfeststellung. Die Anwendung potenziell gesundheitsschädigender Röntgendiagnostik ohne wirksame Einwilligung verletzt aber das Kindeswohlprinzip, sodass der Gesetzgeber gehalten ist, hier eine entsprechende wirksame, insbesondere freiwillige Einwilligung des Betroffenen sicherzustellen. II. Besonderer Schutz von Flüchtlingskindern (Art. 22 KRK) Art. 22 Abs. 1 KRK verpflichtet die Vertragsstaaten, zum besonderen Schutz von Flüchtlingskindern geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach anderen völkerrechtlichen oder innerstaatlichen Regelungen als Flüchtling angesehen wird, angemessen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in der Kinderrechtskonvention oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen festgelegt sind. Dies soll unabhängig davon gelten, ob sich der Minderjährige in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht. Gegebenenfalls könnte das Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII zumindest mittelbar gegen diese Bestimmung verstoßen. Nach Auffassung des UN-Kinderrechtsausschusses bedürfen insbesondere unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder eines besonderen Schutzes.103 Die Vertragsstaaten haben in Bezug auf diese Personengruppe dementsprechend besondere Schutzpflichten. Ihnen muss nicht nur die Durchführung eines Asylverfahrens gewährt werden, sondern es müssen auch Maßnahmen zum besonderen Schutz von Kindern getroffen werden, beispielsweise bei der Kinderfürsorge.104 Der UN-Kinderrechtsausschuss105 erachtet ein Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern grundsätzlich als zulässige Identifikationsmaßnahme. Diese Altersfeststellung solle allerdings nicht allein auf dem äußeren Erscheinungsbild beruhen, sondern auch die geistige Reife berücksichtigen. Das Verfahren solle insgesamt auf wissenschaftliche, sichere, kind- und geschlechtergerechte Weise durchgeführt werden, wobei jedes Risiko einer Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes zu vermeiden sei. Außerdem sei die 103

UN-Kinderrechtsausschuss, General Comment Nr. 6 (2005), Nr. 3. UN-Kinderrechtsausschuss, General Comment Nr. 6 (2005), Nr. 64; vgl. auch Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 22 KRK Rn. 9 f. 105 UN-Kinderrechtsausschuss, General Comment Nr. 6 (2005), Nr. 31. 104

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Kap. 4: Vereinbarkeit mit Europäischem Recht und Völkerrecht

Menschenwürde gebührend zu respektieren und im Falle verbleibender Zweifel der Betroffene als minderjährig zu behandeln. Daraus ergibt sich, dass ein Verfahren zur Altersfeststellung nicht grundsätzlich gegen Art. 22 KRK verstößt. Allerdings widerspricht die Durchführung von radiologischen Untersuchungen zur Altersfeststellung dem Grundsatz, dass die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit von Minderjährigen vermieden werden soll. Denn es besteht jedenfalls ein Risiko, dass die Röntgenuntersuchung die Gesundheit des Betroffenen langfristig schädigt.106 Der Grundsatz, dass die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit vermieden werden soll, bedeutet allerdings nicht gleichzeitig, dass Methoden, die eine Beeinträchtigung der Gesundheit mit sich bringen, per se verboten sind. Der Wortlaut dürfte vielmehr bedeuten, dass insbesondere überflüssige Gesundheitsschädigungen unzulässig sein sollen. Eine radiologische Untersuchung wäre danach unzulässig, wenn dieser im Einzelfall kein Mehrwert zukommt. Dies wäre der Fall, wenn die Minderjährigkeit des Betroffenen bereits feststeht oder ausgeschlossen werden kann. Ebenfalls dürften wiederholte Röntgenuntersuchungen unzulässig sein. Daraus könnte im Rahmen einer kinderrechtskonventionskonformen Auslegung eine Bindungswirkung der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII für asyl- und aufenthaltsrechtliche Altersfeststellungen und umgekehrt folgen. Die erstmalige Anwendung von radiologischen Untersuchungen im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII verstößt als solche nach hier vertretener Auffassung aber nicht gegen Art. 22 KRK. III. Recht auf Gesundheitsschutz (Art. 24 Abs. 1 KRK) Der Einsatz von radiologischen Untersuchungen zur Altersbestimmungen im Rahmen von § 42f Abs. 2 SGB VIII müsste außerdem mit dem Recht auf Gesundheitsvorsorge nach Art. 24 KRK vereinbar sein. Hier könnten insoweit bedenklich sein, dass die durch § 42f Abs. 2 SGB VIII ermöglichten Röntgenuntersuchungen einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Minderjährigen darstellen. Nach Art. 24 Abs. 1 KRK erkennen die Vertragsstaaten der Konvention unter anderem das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an. Ordnet ein Vertragsstaat nun zwingende Maßnahmen an, welche die Gesundheit eines Kindes beeinträchtigen, könnte das dieses Recht verletzen. Art. 24 KRK enthält insoweit eine Schutzpflichtendimension.107 In diesem Zusammenhang könnten die radiologischen Untersuchungen zur Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern nach § 42f Abs. 2 SGB VIII diese Schutzpflichtendimension verletzen. Zu beachten sind dabei Zweck und Zielrichtung von Art. 24 KRK. Die Norm dient in erster Linie dazu, Kindern im Sinne der Konvention einen bestmöglichen Zugang zur Gesundheitsvorsorge zu 106 107

Wigge/Loose, MedR 2016, 318, 320. Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 24 KRK Rn. 3.

§ 3 Vereinbarkeit mit der UN-Kinderrechtskonvention

271

gewähren und einheitliche internationale Grundstandards zu schaffen. Art. 24 Abs. 1 KRK erwähnt in diesem Zusammenhang explizit das Recht des Kindes auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Nach Art. 24 Abs. 1 S. 2 KRK bemühen sich die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird. Auch die in Art. 24 Abs. 2 KRK normierten Regelbeispiele, die beispielsweise zu Maßnahmen zur Verringerung der Kinder- und Säuglingssterblichkeit oder zur Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten sowie Unter- oder Fehlernährung verpflichten, weisen auf Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge hin. Auch unmittelbare Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit von staatlicher Seite oder durch Dritte stellen danach eine Verletzung von Art. 24 Abs. 1 KRK dar.108 Vor dem Hintergrund des völkerrechtlichen, internationalen Charakters der Kinderrechtskonvention zielt das Recht auf Gesundheitsschutz in diesem Zusammenhang aber vorwiegend auf die Verhinderung von Kindesmisshandlungen und ähnlichen schwerwiegenden Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit ab.109 Wie bereits ausgeführt wurde, bewegt sich das Strahlenrisiko als Folge einer radiologischen Untersuchung zur Altersfeststellung grundsätzlich an der Grenze des sozialadäquaten Bereichs. Eine Verletzung des Rechts auf Gesundheitsschutz nach Art. 24 Abs. 1 KRK liegt dennoch vor, wenn der Minderjährig diesem Strahlenrisiko unnötig ausgesetzt wird und die Untersuchung keinen größeren Nutzen hat, etwa weil das Mindestalterskonzept nicht beachtet wird. Insofern kann auf die Ausführungen zu Art. 2 Abs. 2 GG verwiesen werden (vgl. S. 202 ff.). Im Ergebnis stellt die aktuelle Ausgestaltung von § 42f Abs. 2 SGB VIII eine Verletzung des Rechts auf Gesundheitsschutz nach Art. 24 Abs. 1 KRK dar.

D. Stellungnahme Abschließend ist festzuhalten, dass § 42f SGB VIII in der aktuellen Ausgestaltung gegen die Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention, insbesondere das Kindeswohlprinzip und das Recht auf Gesundheitsschutz, verstößt. Dies könnte jedoch durch eine Änderung dieser Rechtsgrundlage zur Altersfeststellung – wie zuvor vorgeschlagen – verhindert werden (vgl. S. 206 f.). Eine konventionskonforme Anpassung gebietet insbesondere, dass eine radiologische Untersuchung zur Altersbestimmung nur durchgeführt werden darf, wenn eine ernsthafte und freiwillige Einwilligung des Betroffenen vorliegt. Sieht sich der Betroffene zur Erteilung seiner Einwilligung gezwungen, etwa weil er mit Nachteilen bei einer Weigerung rechnen muss, liegt eine Verletzung des Kindeswohlprinzips nach Art. 3 Abs. 1 KRK vor.

108 109

Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 24 KRK Rn. 3. Schmahl, in: Schmahl, Kinderrechtskonvention, 2. Aufl. 2018, Art. 24 KRK Rn. 20.

Kapitel 5

Fazit und Vorschlag de lege ferenda Die vorliegende Untersuchung hat sich aus rechtstheoretischer Perspektive mit dem behördlichen Verfahren zur Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Ausländern gemäß § 42f SGB VIII befasst, der zum 1. November 2015 als Teil des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher als Reaktion auf die sogenannte Flüchtlingskrise in Kraft getreten ist. Zweck der Altersfeststellung ist grundsätzlich die Prüfung der Minderjährigkeit eines unbegleiteten Ausländers, die rechtliche Voraussetzung für eine Inobhutnahme durch das Jugendamt.

§ 1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildete eine einfachgesetzliche Darstellung der aktuellen Ausgestaltung des § 42f SGB VIII. Dabei wurde herausgearbeitet, dass eine Altersfeststellung über eine Einsichtnahme in die Ausweispapiere in der Praxis in zahlreichen Fällen nicht zum Erfolg führt, da die Betroffenen entweder keine Ausweispapiere bei sich führen oder behördliche Dokumente mit Angaben über das Alter von den Jugendämtern und Gerichten nicht als zuverlässig anerkannt werden. Da Schätzungen zufolge ca. 30 % der jungen Ausländer tatsächlich volljährig sind und die Inobhutnahme rechtsmissbräuchlich beantragen, wurde untersucht, ob das Jugendamt nach § 42f SGB VIII berechtigt ist, diese nach vorenthaltenen Ausweispapieren zu durchsuchen und vorgefundene Datenträger wie Mobilfunkgeräte auszuwerten, um Hinweise auf das Geburtsdatum zu erhalten. Als wesentliches Ergebnis lässt sich festhalten, dass hierfür eine Rechtsgrundlage des Jugendamts fehlt und eine analoge Anwendung entsprechender Normen aus dem Aufenthalts- und Asylrecht nicht in Betracht kommt. Im nächsten Schritt wurde die qualifizierte Inaugenscheinnahme des Ausländers zur Schätzung seines Alters durch das Jugendamt nach § 42f Abs. 1 SGB VIII dargestellt. Der Gesetzgeber sieht hier vor, dass besonders qualifizierte Mitarbeiter des Jugendamts den Betroffenen nach dem Vier-Augen-Prinzip körperlich begutachten und in einem Gespräch seine geistige Reife beurteilen. Hier ist festzustellen, dass es dem Jugendamt regelmäßig schwerfallen wird, in der relevanten Alters-

§ 1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

273

gruppe der 15- bis 21-jährigen Ausländer zweifelsfrei Minderjährigkeit oder Volljährigkeit festzustellen. Anschließend wurde die einfachgesetzliche Ausgestaltung der ärztlichen Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII erläutert. Hier ist festzustellen, dass einige Regelungslücken bestehen, die zu einer uneinheitlichen Praxis der Jugendämter in Bezug auf die medizinische Altersschätzung führen. Es fehlt bereits eine Klarstellung, wann ein Zweifelsfall vorliegt, der die Voraussetzung für die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung von Amts wegen darstellt. Es wird daher vorgeschlagen, eine entsprechende Definition in das Gesetz aufzunehmen, die sich an der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs orientiert. Danach liegt immer dann ein Zweifelsfall vor, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass durch ein ärztliches Fachgutachten Minderjährigkeit festgestellt wird. Den Jugendämtern soll damit eine gesetzliche Leitlinie vorgegeben werden, die eine bundeseinheitlichere Handhabung der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung bezweckt. Eine Regelungslücke in § 42f Abs. 2 SGB VIII wurde außerdem bezüglich der Rechtsfolgen einer Verweigerung der ärztlichen Untersuchung festgestellt. Die Gesetzesbegründung gibt insofern nur vor, dass die Weigerung nicht reflexhaft zur Annahme der Volljährigkeit führen darf, ohne dies näher zu erläutern. Solange der Ausländer aufgrund gefühlten Zwangs die erforderliche Einwilligung in die ärztliche Untersuchung erteilt, bestehen erhebliche Zweifel an ihrer Freiwilligkeit und somit an ihrer Wirksamkeit. Es wird hier vorgeschlagen, klarstellend in § 42 Abs. 2 SGB VIII aufzunehmen, dass nach einer Verweigerung der Einwilligung in die ärztliche Untersuchung nur Volljährigkeit festgestellt werden darf, wenn daneben noch weitere Hinweise und tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass der Betroffene über sein wahres Alter täuschen möchte. Weiter wurde festgestellt, dass § 42f Abs. 2 SGB VIII keine Angaben enthält, welche Methoden zur medizinischen Altersschätzung zulässig sind. Dies verwundert, nachdem auch bereits vor Inkrafttreten des § 42f SGB VIII die Zulässigkeit von Röntgendiagnostik zu diesem Zweck heftig umstritten war. Ausgangspunkt dieses Streits ist, dass sich über die sogenannten nichtinvasiven Methoden, insbesondere körperliche und psychosoziale Begutachtungen, das Alter von jungen Menschen kaum zuverlässig einschätzen lässt. Von einigen Medizinern und Rechtswissenschaftlern wird daher der Einsatz von Röntgendiagnostik befürwortet. Darüber kann das Knochenwachstum von Handgelenk, Gebiss, Schlüsselbein und Darmbeinkamm mit Referenzstudien abgeglichen werden und somit zumindest ein statistisch wahrscheinliches Alter berechnet werden. Da sich das biologische Knochenwachstum von Menschen allerdings unterscheidet, existieren Standardabweichungen von bis zu drei Jahren. Dadurch kann es auch hier zu Fehleinschätzungen kommen. Dem wird entgegengehalten, dass über die Anwendung eines sogenannten Mindestalterskonzepts, bei dem nach Feststellung des Knochenwachstumsfortschritts ausschließlich das Alter der jeweils jüngsten Person der Referenzstudie

274

Kap. 5: Fazit und Vorschlag de lege ferenda

herangezogen wird, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass ein Minderjähriger als volljährig eingestuft wird, was aus rechtlicher Sicht zu begrüßen ist. Ein solches Mindestalterskonzept ist in § 42f Abs. 2 SGB VIII allerdings nicht vorgesehen, sodass die Gefahr besteht, dass es in der Praxis zu anderen Handhabungen kommt. Es wird daher auch vorgeschlagen, im Gesetz festzulegen, dass bei der Anwendung von Röntgendiagnostik das Mindestalterskonzept zwingend zu berücksichtigen ist. Weiterhin wurde festgestellt, dass die Röntgendiagnostik zur Altersfeststellung nicht medizinisch indiziert ist und damit nach § 83 Abs. 1 StrlSchG nur zulässig ist, wenn sie gesetzlich zugelassen oder vorgesehen ist. Aufgrund des besonderen Charakters der unionsrechtlichen und nationalen Strahlenschutzregulierungen, kann die Anwendung von Röntgendiagnostik im Gesetz nach hier vertretener Auffassung aber nur zugelassen oder vorgesehen sein, wenn sich der Gesetzgeber dazu im Zeitpunkt des Inkrafttretens der jeweiligen Norm ausdrücklich positioniert hat. Auch ein beredtes Schweigen kann nicht ausreichen. Der Gesetzgeber hat sich allerdings weder in § 42f SGB VIII noch in der Gesetzesbegründung zu der Zulässigkeit von Röntgenuntersuchungen konkret geäußert. Da § 83 Abs. 1 StrlSchG aber als dispositiv anzusehen ist, können radiologische Untersuchungen dennoch mit wirksamer Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden. Um die Einwilligung möglichst rechtssicher auszugestalten, wird hier als Gesetzesänderung weiter vorgeschlagen, eine sogenannte „doppelte Einwilligungslösung“ in § 42f Abs. 2 SGB VIII aufzunehmen. Der junge Ausländer soll danach die Wahl haben, ob bei der ärztlichen Untersuchung lediglich nichtinvasive Methoden oder auch Röntgendiagnostik angewandt werden soll. Dies reduziert die Gefahr, dass der Betroffene aus gefühltem Zwang unfreiwillig in die Röntgenuntersuchung einwilligt. In einem weiteren Schritt wurden die rechtlichen Folgefragen einer Altersfeststellung durch das Jugendamt untersucht. Dies ist insbesondere für ein Verständnis der Interessenlage von unbegleiteten, jungen Ausländern von Bedeutung. Die Einstufung als Minderjähriger und die anschließende Inobhutnahme durch das Jugendamt bieten jungen Ausländern den Vorteil, dass sie eine bessere Gesundheitsversorgung und höhere staatliche Unterhaltsleistungen erhalten, als Volljährigen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zusteht. Daneben profitiert ein Minderjähriger auch von erschwerten Abschiebebedingungen und einem erleichterten Familiennachzug. Dazu ist festzustellen, dass die Altersfeststellung durch das Jugendamt nach dem Willen des Gesetzgebers und auch nach der herrschenden Meinung keine Bindungswirkung für andere Behörden, wie beispielsweise die Ausländerbehörden, entfaltet. Nach hier vertretener Ansicht ist eine Bindungswirkung aber zwingend vorzusehen, um unterschiedliche Ergebnisse bei der Altersfeststellung desselben Ausländers durch verschiedene Behörden zu verhindern. Außerdem soll vermieden werden, den Betroffenen mehrfach einem Strahlenrisiko durch eine Röntgenuntersuchung auszusetzen. Andere Behörden sollen an die Feststellung des Jugendamts

§ 1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

275

lediglich dann nicht gebunden sein, wenn begründete Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit des Altersgutachtens bestehen, etwa wenn das Mindestalterskonzept nicht berücksichtigt wurde, oder wenn neue Tatsachen oder Erkenntnisse seit der Erstellung des Gutachtens aufgetreten sind. Es wird der Vorschlag gemacht, dies in § 42f SGB VIII ausdrücklich aufzunehmen. Weiter wurde herausgearbeitet, dass der Gesetzgeber im Jugendstrafrecht vorgesehen hat, dass auch junge Erwachsene bei der Verurteilung von Straftaten wie Jugendliche zu behandeln sein können, wenn sie zur Tatzeit nicht reif genug waren, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das chronologische Alter nicht zwingend mit dem biologischen Alter übereinstimmt. Dieser Gedanke lässt sich nach hier vertretener Auffassung auch auf die Inobhutnahme von unbegleiteten, jungen Ausländern übertragen. In Einzelfällen können auch volljährige Ausländer bis zum Erreichen des 21. Lebensjahres besonders schutzbedürftig sein, weil sie wie Jugendliche noch nicht eigenständig Verantwortung für ihr Leben übernehmen können und auf Hilfe angewiesen sind. Das dürfte insbesondere auf unbegleitete, junge Ausländer zutreffen, die aus einem Krisengebiet geflohen sind und sich ohne Bezugspersonen in Deutschland aufhalten. Daher wird als weitere Gesetzesänderung vorgeschlagen, den Jugendämtern die Inobhutnahme von volljährigen Ausländern bis zum Erreichen des 21. Lebensjahres zu gestatten, wenn dies nach deren sittlichen und geistigen Entwicklung erforderlich erscheint. Damit kann dem biologischen Alter des Betroffenen Rechnung getragen werden. In Kapitel 3 erfolgte dann eine umfassende verfassungsrechtliche Bewertung des Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII. Im Ergebnis bestehen sowohl bei der Einsichtnahme in Ausweispapiere als auch bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 2 SGB VIII keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Leistungsverwaltung ist grundsätzlich berechtigt, die Voraussetzungen für die Gewährung einer staatlichen Leistung zu überprüfen. Dabei greifen beide staatliche Maßnahmen in ihrer aktuellen gesetzlichen Ausgestaltung nicht verhältnismäßig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des jungen Ausländers ein. Anders verhält es sich bei der medizinischen Altersfeststellung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII, deren derzeitige Fassung nach hier vertretener Ansicht aufgrund fehlender Regelungen zur Röntgendiagnostik gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG verstößt. Herausgearbeitet wurde dazu, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits die Gefahr einer Gesundheitsgefährdung für einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG ausreichend sein kann. Dies betrifft auch die Röntgendiagnostik, da hier zumindest ein statistisches Strahlenrisiko besteht, als Langzeitfolge (früher) an Krebs oder Leukämie zu erkranken. Dieses Risiko kann nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft nicht ausgeschlossen werden, sodass der Eingriff einer Rechtfertigung bedarf. Hier ist zunächst festzustellen, dass § 42f Abs. 2 SGB VIII schon nicht den Anforderungen an das Be-

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Kap. 5: Fazit und Vorschlag de lege ferenda

stimmtheitsgebot genügt. Es fehlen insbesondere eine Klarstellung, welche Methoden nach dem Willen des Gesetzgebers zulässig sein sollen und was die Folgen einer Verweigerung der Einwilligung des Ausländers in die ärztliche Untersuchung sind. Den Jugendämtern müssen hier zwingend Vorgaben für eine bundeseinheitliche Handhabung gemacht werden. Die wenigen, ebenfalls unzureichenden Angaben in der Gesetzesbegründung sind dazu nicht geeignet, da der Gesetzesbegründung keine Bindungswirkung zukommt. Der Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist aber auch unabhängig hiervon unverhältnismäßig. Zwar sind die Röntgenuntersuchungen grundsätzlich zur Altersschätzung geeignet, da sie gegenüber einer körperlichen und psychosozialen Begutachtung zuverlässiger sind und einer Plausibilisierung dienen können. Sie sind auch als erforderlich anzusehen. Es bleibt in diesem Zusammenhang dem gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum überlassen, ob eine feste, mittels Altersschätzung zu bestimmende Altersgrenze vorgesehen wird oder ob auf Basis einer psychosozialen Analyse lediglich das biologische Alter zur Feststellung der Minderjährigkeit herangezogen wird, wie teilweise in der medizinischen Literatur gefordert wird. Die aktuelle Fassung des § 42f Abs. 2 SGB VIII ist allerdings nach dem Ergebnis einer umfassenden Interessenabwägung nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Auf der einen Seite stehen die Interessen der Allgemeinheit an einem funktionierenden Rechts- und Sozialstaat, der die Berichtigung zum Empfang von staatlichen Leistungen in allen Bereichen des Lebens gleichermaßen überprüft und Maßnahmen ergreift, um Fälle von Leistungsbetrug zu verhindern. Dies stellt im Fall unbegleiteten, jungen Ausländern auch ein sehr gewichtiges Interesse dar, da nach Schätzungen etwa 30 % der Antragsteller in Wahrheit volljährig sind und über ihr Alter täuschen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Inobhutnahme mit Tageskosten zwischen EUR 90,00 und EUR 205,00 pro Person die Staatskasse stark belastet. Zwar kann der Staatshaushalt nicht unmittelbar zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen herangezogen werden. Allerdings besteht auch hier ein Interesse der Allgemeinheit an einer verantwortungsbewussten Führung des Staatshaushalts, da bei einer zunehmenden Staatsverschuldung entweder Leistungen gekürzt oder die Steuern erhöht werden müssen. Der Staat hat damit zumindest ein grundsätzlich gerechtfertigtes Interesse an einem Verfahren zur Altersfeststellung. Diesem Interesse steht auf der anderen Seite allerdings in erster Linie das Kindeswohl entgegen, zu dessen Schutz der Staat nach dem staatlichen Wächteramt nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG verpflichtet ist. Dabei ist festzuhalten, dass die Betroffenen durch die Röntgendiagnostik einem Strahlenrisiko ausgesetzt werden. Dieses ist zwar vergleichsweise gering und bewegt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Gesundheitsgefährdungen an der Grenze des sozial adäquat Zumutbaren. Allerdings darf dieses Risiko nicht in Kauf genommen werden, wenn weiterhin die Gefahr besteht, dass Minderjährige als volljährig eingestuft werden und die Inobhutnahme abgelehnt wird. Das ist bei Röntgenuntersuchungen aber grundsätzlich der Fall, da hier lediglich eine statistische Wahrscheinlichkeits-

§ 1 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

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betrachtung vorgenommen wird, bei der eine erhebliche Standardabweichung gegeben ist. Es bestehen dann auch erhebliche Zweifel, ob die Mitwirkung von Ärzten an der Röntgendiagnostik ethisch vertretbar ist. Die Problematik der Fehleinschätzung aufgrund der Standardabweichung bei der Röntgendiagnostik kann grundsätzlich durch das Mindestalterskonzept behoben werden. Kinder und Jugendliche werden danach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als minderjährig eingestuft, sodass das Strahlenrisiko jedenfalls in diesem Fall vertretbar ist. § 42f SGB VIII enthält – wie bereits erläutert – keine Vorgaben zur Methode der medizinischen Altersfeststellung, sodass ein Mindestalterskonzept von den Jugendämtern nicht zwingend zu beachten ist. § 42f Abs. 2 SGB VIII ist neben dem Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot nach hier vertretener Auffassung auch deswegen nicht verfassungskonform. Auch eine verfassungskonforme Auslegung kann über die verfassungsrechtlichen Defizite der Norm nicht hinweghelfen, da dies die Grenzen der zulässigen Interpretation überschreiten würde. Eine positive Gesetzgebung durch Normvariationen ist der Rechtsprechung und den Behörden nicht erlaubt, da hier der Parlamentsvorbehalt umgangen werden würde. Für eine verfassungskonforme Ausgestaltung wird nach den bisherigen Ausführungen daher vorgeschlagen, die zulässigen Methoden zur Altersfeststellung in § 42f Abs. 2 SGB VIII zu bestimmen und im Falle der Anwendung von Röntgenuntersuchungen die Einhaltung des Mindestalterskonzepts verbindlich vorzusehen. Weiterhin sollte – ergänzend zur einfachgesetzlichen Betrachtung – auch aus Gründen des Verfassungsrechts eine Bindungswirkung der medizinischen Altersfeststellung für andere Behörden vorgesehen werden und die im Rahmen der Arbeit hergeleitete doppelte Einwilligungslösung im Gesetz verankert werden. Diese Gesichtspunkte würden den Jugendämtern eine rechtssichere Durchführung einer möglichst zuverlässigen Altersfeststellung ermöglichen, die gleichzeitig dem Kindeswohl ausreichend Rechnung trägt. Im Anschluss wurde weiter untersucht, ob aus verfassungsrechtlicher Sicht die Aufnahme von weiteren Maßnahmen des Jugendamts zur Altersfeststellung zulässig wäre. So wird in der Politik teilweise gefordert, Genitaluntersuchungen an jungen Ausländern durchzuführen. Diese verstoßen nach hier vertretener Auffassung allerdings sowohl gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG als auch gegen die Menschenwürde nach Art. 1 GG. Denn diese Untersuchungen haben einen starken Bezug zur Intimsphäre des Betroffenen, sodass Grundrechtseingriffe nur in engen Grenzen zulässig sein können. Hinzu kommt, dass sich die Genitaluntersuchungen für unbegleitete, minderjährige Ausländer, die folglich ohne Eltern oder vergleichbare Bezugspersonen nach Deutschland eingereist sind, besonders belastend darstellen können. Dem gegenüber steht nur ein äußerst geringer Nutzen, da die Geschlechtsreife in den meisten Fällen bereits vor Erreichen der Volljährigkeit abgeschlossen ist. Dies kann schon mit 14 Jahren der Fall sein. Dieser geringe Nutzen kann hier nicht gerechtfertigt werden.

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Kap. 5: Fazit und Vorschlag de lege ferenda

Würde der Gesetzgeber Genitaluntersuchungen dennoch durchführen, würde er minderjährige Ausländer in diesem Zusammenhang zum Objekt staatlichen Handelns machen. Die Aufnahme einer Durchsuchungsbefugnis des Jugendamts, wie sie aktuell beispielsweise in § 48 AufenthG für die Ausländerbehörden vorgesehen ist, wäre dagegen grundsätzlich zulässig, sofern diese nur beim Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten besteht, die ein Vorenthalten von Ausweispapieren und vergleichbaren Unterlagen, die Hinweise auf das Alter des Betroffenen geben könnten, befürchten lassen. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist dann gerechtfertigt. Verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen wäre dagegen eine Befugnis zur Auswertung von Datenträgern des Betroffenen, beispielsweise von Mobilfunkgeräten. Dies würde einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellen, da das Jugendamt dann Zugriff auf sämtliche dort gespeicherte persönliche Daten des jungen Ausländers hätte, die auch der Intimsphäre zuzuordnen sein können. Ein Blick in das Strafprozessrecht zeigt, dass dort solche Datenauswertungen nach den §§ 100a ff. StPO nur unter besonders engen Voraussetzungen möglich sind. In jedem Fall ist dort zumindest ein Anfangsverdacht erforderlich. Es wäre aber unverhältnismäßig, alle unbegleiteten, jungen Ausländer unter den Generalverdacht eines Leistungsbetrugs zu stellen. Das Verfahren zur Altersfeststellung stellt eine präventive Maßnahme zur Überprüfung der Leistungsberechtigung dar und dient nicht einer repressiven Strafverfolgung. Gleichzeitig ist der Nutzen von Datenauswertungen eher gering. Nicht alle jungen Ausländer werden ihr Geburtsjahr in ihr Handy eingespeichert haben. Gleichzeitig können sie dort bewusst fehlerhafte Angaben hinterlegen, um die Jugendämter zu täuschen, sobald eine Praxis zur Datenauswertung bekannt werden würde. Im Übrigen ist fraglich, ob die Betroffenen ihr Geburtsdatum überhaupt selbst kennen, nachdem deutsche Gerichte mehrfach festgestellt haben, dass Geburtsurkunden aus Ländern des Nahen Osten nicht hinreichend glaubhaft sind, da das Geburtsdatum dort nicht zuverlässig dokumentiert wird. In Kapitel 4 wurde der Frage nachgegangen, ob § 42f SGB VIII im Einklang mit unions- und völkerrechtlichen Bestimmungen steht. Herausgearbeitet wurde zunächst, dass die europäische Asylverfahrensrichtlinie, die Mindestgarantien von Minderjährigen für die Altersfeststellung vorsieht, auch im Rahmen von § 42f SGB VIII Anwendung findet. Weiter wurde festgestellt, dass aufgrund der Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie auch die Unionsgrundrechte bei der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII Anwendung finden. Als wesentliche Besonderheit ist zu beachten, dass die Grundrechte-Charta mit Art. 24 GrC ausdrücklich Grundrechte für Minderjährige enthält. Auch dieses Grundrecht wird aufgrund der aktuell unverhältnismäßigen Ausgestaltung des § 42f Abs. 2 SGB VIII verletzt.

§ 2 Vorschlag de lege ferenda

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Zuletzt wurde noch eine Vereinbarkeit der Altersfeststellung mit der UN-Kinderrechtskonvention überprüft. Dabei wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass diese als völkerrechtlicher Vertrag in Deutschland keinen Verfassungsrang besitzt. Herausgearbeitet wurde dabei, dass § 42f SGB VIII sowohl gegen das Kindeswohlprinzip nach Art. 3 Abs. 1 KRK als auch gegen das Recht auf Gesundheitsschutz nach Art. 24 Abs. 1 KRK verstößt, solange bei der Anwendung von Röntgenuntersuchungen nicht sichergestellt ist, dass die Einwilligung freiwillig erfolgt und das Mindestalterskonzept berücksichtigt wird. Abschließend kann resümiert werden, dass das Verfahren nach § 42f SGB VIII bereits eine gute Grundlage darstellt, um das Alter von unbegleiteten, jungen Ausländern zu überprüfen. Der Staat hat nicht nur ein finanzielles Interesse, sondern auch eine Pflicht gegenüber der Allgemeinheit zur Überprüfung, ob Empfänger von staatlichen Leistungen die jeweiligen rechtlichen Voraussetzungen erfüllen. Dabei sind auch Mitwirkungspflichten des Betroffenen Teil des allgemeinen sozialrechtlichen Grundverständnisses in Deutschland. Empfänger von Sozialhilfe müssen den Behörden beispielsweise eine detaillierte Einkommens- und Vermögensauskunft erteilen. Der Gesetzgeber muss aber auch anerkennen, dass das Zusammentreffen von Asylrecht und Kindeswohl im Fall von unbegleiteten, minderjährigen Ausländern eine besonders schonende Herangehensweise erfordert. Insbesondere ein grundrechtssensibles Verfahren zur medizinischen Altersfeststellung erfordert eine sorgfältig geregelte und ausgefeilte Rechtsgrundlage, die der Gesamtsituation gerecht wird. Dem wurde der Gesetzgeber im Fall von § 42f SGB VIII nicht gerecht, da er die genaue Ausgestaltung des Verfahrens zur Altersfeststellung der Verantwortung von Exekutive und Judikative überlassen hat.

§ 2 Vorschlag de lege ferenda Abschließend wird in Umsetzung der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit als de lege ferenda folgender Gesetzesentwurf vorgeschlagen: § 42f Behördliches Verfahren zur Altersbestimmung (1) 1Das Jugendamt hat im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Person gemäß § 42a deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme ein Mindestalter zu schätzen. 2 Kann die ausländische Person keine Ausweispapiere oder vergleichbare Unterlagen vorweisen und bestehen tatsächliche Anhaltspunkte, dass sie im Besitz solcher Unterlagen ist, können sie und von ihr mitgeführte Sachen durchsucht werden. 3§ 8 Absatz 1 und § 42 Absatz 2 Satz 2 sind entsprechend anzuwenden. (2) 1Auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen hat das Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Bestimmung eines Mindestalters zu veranlassen. 2Ein Zweifelsfall liegt vor, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass durch ein ärztliches Fachgutachten Minderjährigkeit festgestellt werden könnte. 3Die

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Kap. 5: Fazit und Vorschlag de lege ferenda

ärztliche Untersuchung ist mit den schonendsten und zuverlässigsten Methoden nach dem aktuellen Stand der Forschung durchzuführen; Genitaluntersuchungen sind ausgeschlossen. 4 Ist eine ärztliche Untersuchung durchzuführen, ist die betroffene Person durch das Jugendamt umfassend über die Untersuchungsmethode und über die möglichen Folgen der Altersbestimmung aufzuklären. 5Ist die ärztliche Untersuchung von Amts wegen durchzuführen, ist die betroffene Person zusätzlich über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufzuklären; die Untersuchung darf nur mit schriftlicher Einwilligung der betroffenen Person und ihres Vertreters durchgeführt werden. 6Die §§ 60, 62 und 65 bis 67 des Ersten Buches sind entsprechend anzuwenden. 7Die Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, soll nicht ohne Berücksichtigung weiterer Anhaltspunkte oder sonstiger Untersuchungsbefunde zur Annahme der Volljährigkeit führen. 8Die Gründe für die Annahme der Volljährigkeit sind aktenkundig zu machen. (3) 1Die Anwendung von Röntgendiagnostik zur Bestimmung eines Mindestalters im Rahmen der ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f Absatz 2 ist nur nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft und Technik zulässig und bedarf einer gesonderten schriftlichen Einwilligung der betroffenen Person. 2Die Entscheidung des Jugendamts, die Inobhutnahme des Betroffenen zu versagen, darf nicht mit der Verweigerung dieser gesonderten Einwilligung begründet werden. 3 Die betroffene Person ist darüber aufzuklären. 4Sie ist außerdem vor ihrer Einwilligung durch einen Arzt oder vergleichbar qualifiziertes Fachpersonal über die gesundheitlichen Risiken der Anwendung von Röntgenstrahlung aufzuklären. 5Liegt bereits die Entscheidung einer anderen Behörde über das Alter der betroffenen Person vor, der eine Röntgenuntersuchung zugrunde liegt, ist das Jugendamt an diese Altersbestimmung gebunden, wenn die Entscheidung nicht offensichtlich fehlerhaft ist. (4) 1Ist der Ausländer der deutschen Sprache nicht hinreichend kundig, so ist von Amts wegen ein Dolmetscher, Übersetzer oder sonstiger Sprachmittler hinzuzuziehen, der in die Muttersprache des Ausländers oder in eine andere Sprache zu übersetzen hat, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann und in der er sich verständigen kann. 2Der Ausländer ist berechtigt, auf seine Kosten auch einen geeigneten Sprachmittler seiner Wahl hinzuzuziehen. (5) 1Ergibt die Altersfeststellung nach § 42f Absätze 1 bis 3 ein Mindestalter zwischen 18 und 21 Jahren, kann das Jugendamt die betroffene Person in begründeten Ausnahmsfällen nach § 42 Absatz 1 Nummer 3 in Obhut nehmen, wenn die betroffene Person nach einer Gesamtwürdigung der Umstände und des psychischen Zustands einem Jugendlichen gleichsteht. 2Die Begründung eines solchen Ausnahmefalls ist aktenkundig zu machen. (6) 1Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a oder die Inobhutnahme nach § 42 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 abzulehnen oder zu beenden, haben keine aufschiebende Wirkung. 2Landesrecht kann bestimmen, dass gegen diese Entscheidung Klage ohne Nachprüfung in einem Vorverfahren nach § 68 der Verwaltungsgerichtsordnung erhoben werden kann. 3§ 1909 Abs. 3 BGB findet entsprechende Anwendung.

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Sachwortverzeichnis Allgemeiner Gleichheitssatz 213 ff. Allgemeines Persönlichkeitsrecht 162, 212, 221, 230 Altersgrenze 27, 148, 183 ff. Altersgutachten 16, 89, 95 f., 104, 125, 151 Altersschätzung 19, 89, 113, 148 Ärztliche Untersuchung 73, 88, 248 Asylbewerber 25 Asylverfahrensrichtlinie 242 ff. Aufenthaltsstatus 24, 128 Ausweispapiere 57, 156 ff. Bestimmtheitsgrundsatz 177, 204 Bindungswirkung 123, 151 Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis 235 Darmbeinkammuntersuchung 103 Datenauswertungsgrundlage 235 Datenschutz 70, 237 Datenträger 70, 237 DNA-Analyse 109 Doppelte Einwilligungslösung 122, 207, 274 Durchsuchungsbefugnis 63, 229 Ergänzungspfleger 40, 85 Erstattungspflicht 144 Erstscreening 31, 41, 54 EU-Grundrechtecharta 255 Familiennachzug 130 Flüchtling 26, 269 Freiwilligkeit 79, 120, 176 Gebissentwicklung 93, 171 Genitaluntersuchung 91, 220 Geschlechtsreife 92, 221 Gesundheitsschädigung 172, 195 Handradiogramm 98 Heranwachsende 150, 152

Identitätsfeststellung 41, 68 Inobhutnahme – reguläre 49 – vorläufige 29, 41 Interessenskonflikt 35, 85 Intimsphäre 90, 163, 220 Jugendamt 24, 29, 34, 44, 55, 143, 208. 246 Jugendstrafrecht 147 Kindeswohlprinzip 153, 265 Körperuntersuchung 62 Krankenhilfe 133 Leistungsberechtigung 143, 202 Magnetresonanztomographie 108 Menschenwürde 207, 226, 262 Methoden zur Altersschätzung 88 Minderjährigkeit 27 Mindestalterskonzept 103, 111, 188, 194 Mindestgarantien 257 Missbrauch 16, 68, 187 Mitwirkungspflicht 65, 71 Mobilfunkgeräte 237 Musterung 211, 225 Niedrigdosisbereich 97, 113, 173, 196 Orthopantogramm 99 PRIMSA-Handscanner 107 Prozessfähigkeit 34, 36 Psychosoziale Begutachtung 94 Qualifizierte Inaugenscheinnahme 59, 160 Recht auf informationelle Selbstbestimmung 157, 236 Recht auf körperliche Unversehrtheit 161, 170, 258

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Sachwortverzeichnis

Rechtsstaatsprinzip 121, 155, 191 Röntgendiagnostik 96, 113, 173 Schlüsselbeinuntersuchung 101 Sozialbetrug 187 Sozialleistungen 36, 121 Sozialstaat 276 Staatliches Wächteramt 50, 175, 193 Staatsangehörigkeit 24, 216 Staatshaushalt 188, 276 Standardabweichung 104, 194 Strafbarkeit 144 Strahlenschutzgesetz 113 Strahlenschutzverordnung 113 Strahlenwirkung 173 Subsidiär Schutzberechtigte 26 Tauglichkeitsuntersuchung 225 Täuschung 78, 143, 187

Ultraschalluntersuchung 105 Unbegleitet 28 Ungleichbehandlung 181, 214 Unionsgrundrechte 255 UN-Kinderrechtskonvention 263 Unterhaltsleistungen 135 Verfassungskonforme Auslegung 204 Verhältnismäßigkeit 182, 232, 238 Verteilungsverfahren 29, 44 Verweigerung 122, 177, 252 Volljährigkeit 102, 137 Wirtschaftlichkeitsprinzip 189 Zuverlässigkeit 95, 112, 184 Zuweisungsentscheidung 45 Zwang 119, 121, 158 Zweifel 75, 112, 248