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German Pages [232] Year 1974
Wolfgang Steck Das homiletische Verfahren
Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Martin Fischer und Robert Frick
BAND 13
V A N D E N H O E C K & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Das homiletische Verfahren Zur modernen Predigttheorie
Von WOLFGANG
STECK
V A N D E N H O E C K & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
ISBN 3-525-57115-1 Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Evangelische Theologie der Universität Tübingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974. — Printed in Germany.— Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert&Co., Göttingen
Vorwort Die Homiletik befindet sich seit einigen Jahren im Aufbruch. Neue methodische Perspektiven eröffnen genauere Erkenntnisse über Wirkungen und Möglichkeiten der Sonntagspredigt, neue homiletische Hilfsmittel ermöglichen eine vielseitigere Gestaltung der praktischen Predigtarbeit. Das homiletische Verfahren theoretisch durchsichtig zu machen und damit dem Pfarrer zu einer bewußteren Gestaltung seiner Predigtpraxis zu verhelfen, gehört zu den wichtigsten und zugleich auch zu den reizvollsten Aufgaben der gegenwärtigen praktischen Theologie. Dazu einen Beitrag zu leiste», ist das Ziel der vorliegenden Abhandlung. Sie wurde im Frühjahr 1972 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Tübingen als Habilitationsschrift für das Fachgebiet der Praktischen Theologie angenommen. Die eingehende Beschäftigung mit den historischen und gegenwärtigen Ansätzen der Predigttheorie geht auf die zahlreichen homiletischen Seminare zurück, die ich in den vergangenen Jahren zu leiten hatte. Sie ist aber ebensowenig ohne die vielseitige Förderung durch meine praktisch-theologischen Lehrer zu denken. Herr Prof. Dr. Werner Jetter hat mein theologisches Denken seit den Studienjahren bestimmt, mich ständig auf die praktische Funktion aller theologischen Theorie hingewiesen und mir damit Schleiermachers Ideal eines Theologen, die Verbindung von religiösem Interesse und wissenschaftlichem Geist, vorgehalten. Herr Prof. Dr. Dr. Dietrich Rössler ist seit bald zehn Jahren zu einem fürsorgenden Begleiter meiner wissenschaftlichen Arbeit geworden. Beide haben die vorliegende Studie auch während des Habilitationsverfahrens betreut. Ihnen gilt an dieser Stelle mein aufrichtiger Dank. Zu danken habe ich auch den Herausgebern für die Aufnahme dieser Abhandlung in die „Arbeiten zur Pastoraltheologie" und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung einer Druckbeihilfe. Tübingen-Kilchberg, im März 1974
Wolfgang Steck
Inhalt
ERSTES KAPITEL Der Prozeß der Predigtarbeit als Problem der homiletischen I. II.
III.
Theorie
Die Predigt als Gegenstand der Theologie
9 9
Ansätze zu einer praktischen Predigttheorie 1. Der Weg vom Text zur Predigt 2. Der Hörer als homiletisches Problem 3. Das homiletische Verfahren
24 28 39 45
Das Problem der praktischen Predigttheorie 1. Neue homiletische Methoden a) Kybernetik als homiletische Methode b) Kirchensoziologie als homiletische Methode 2. Das Problem der Vermittlung von prinzipieller und praktischer Homiletik 3. Das Verfahren der Predigttheorie
48 48 50 56 59 67
ZWEITES KAPITEL Die Praxis der ,Modernen Predigt' I.
70
Die Situation der Predigt in der modernen Gesellschaft 1. Das homiletische Situationsbewußtsein — Elemente, Motive, Argumente 2. Die homiletische Situation — ein Berufsproblem des Pfarrers
70
Modernität als homiletisches Prinzip 1. Die homiletische Situation — der Ausgangspunkt der induktiven Predigttheorie 2. Der moderne Mensch — der Bezugspunkt der sozialen Predigtpraxis. . . .
83 83 89
III.
Die religiöse Situation der Neuzeit
93
IV.
Die Praxis der Predigt in der modernen Gesellschaft 1. Typen und Tendenzen einer komplexen homiletischen Praxis 2. Die moderne Predigt 3. Moderne Predigtideale
99 99 104 110
Das Programm der sozialen Predigt
115
II.
V.
DRITTES KAPITEL Die Theorie der ,Modemen I.
Predigt'
Die Theorie der homiletischen Theorie 1. Die kritische Funktion der kirchlichen Praxis 2. Die kritische Funktion der theologischen Theorie 3. Die wissenschaftliche Struktur der Praktischen Theologie
70 78
124 124 124 132 141
II.
Die Theorie der Religion 1. Die ethische Tendenz des Christentums 2. Der ethische Charakter der homiletischen Berufsaufgabe
145 145 152
III.
Die Theorie des Predigthörers 1. Die Struktur der Persönlichkeit 2. Motivationen der Kirchlichkeit
158 158 164
IV.
Die Theorie des Predigttextes
172
Die Theorie der Predigt 1. Die synthetische Struktur des homiletischen Denkens 2. Die konstruktive Funktion einer praktischen Dogmatik 3. Das homiletische System
181 181 187 194
V.
VIERTES KAPITEL Die ,Moderne Predigt' und die Homiletik der Gegenwart I. II.
198
Das Ende der ,Modernen Predigt'
198
Die wissenschaftliche Struktur der praktischen Predigttheorie 1. Der praktische Ansatz der ,modernen Homiletik' 2. Das homiletische System Friedrich Niebergalls und seine Probleme
207 207 210
Literaturverzeichnis
221
ERSTES KAPITEL
Der Prozeß der Predigtarbeit als Problem der homiletischen Theorie I. Die Predigt als Gegenstand der Theologie Die Predigt und ihre Theorie scheinen sich gegenwärtig in einer Krise zu befinden 1 . Kaum ein Gegenstand der praktischen Theologie ist einer so vehementen Kritik ausgesetzt wie die Sonntagspredigt. Und kaum eine praktisch-theologische Disziplin ist in sich so zerfallen wie die Homiletik. Strittig ist nicht nur die wissenschaftliche Gestaltung der Predigtlehre, sondern die Berechti1
Die Auffassung, daß sich Predigt und Prediger in einer Krise befinden, wird bei unterschiedlicher Begründung und Herleitung von einer Vielzahl sowohl evangelischer als auch katholischer Autoren vertreten: G. Ebeling beginnt seine Abhandlung über „Theologie und Verkündigung" (1962) mit dem Hinweis auf die Sorge des Theologen um die Verkündigung: „Unsere Sorge gilt der Verkündigung . . . Was unter diesem Namen und Anspruch mit immerhin beträchtlichem Aufwand geschieht, gibt Anlaß zur Sorge, ob es denn überhaupt Verkündigung sei." (aaO, S. 1) In seiner 1971 veröffentlichten „Einführung in die theologische Sprachlehre" konstatiert Ebeling nicht mehr lediglich eine Predigtkrise, sondern als umfassenderes Phänomen eine „Sprachkrise" (aaO, S. 69 u. ö.), einen „Überdruß an der Sprache" (aaO, S. 3—87) und einen „Überdruß am Wort" (aaO, S. 69). Ebeling stellt fest, daß die gesamte Theologie von einer Sprachkrise befallen ist (vgl. aaO, S. 227), daß das Christentum sich in einer Krise befindet (aaO, S. 259). W. Uhsadel hält es für eine unleugbare Tatsache, „daß seit vielen Jahrzehnten alle Kritik an der Kirche auf die Predigt hinausläuft und große Scharen evangelischer Christen dem Gottesdienst fernbleiben, weil sie von der Predigt enttäuscht sind" (W. Uhsadel: Die gottesdienstliche Predigt, 1963, S. 9). Das „Leiden an der Kirche", dem H. Thielicke 1965 ein Buch widmet, erweist sich bei näherem Zusehen als Leiden an der veränderten Situation von Predigt und Prediger. Einige Abschnitt-Uberschriften in Thielickes Buch mögen das verdeutlichen: „Der Jammer der Predigt" (aaO, S. 1 1 - 1 3 ) , „Der Prediger als hilfloser Solist" (aaO, S. 4 2 - 4 6 ) , „Die Verwesung der Predigtsprache" (aaO, S. 53—60). Man muß nicht nur um die Qualität der Predigt bangen, sondern um ihren Fortbestand: „Nicht nur der Ort der Predigt ist so bedenklich zur Peripherie hingerückt . . . Sondern die Predigt ist auch in sich selbst zersetzt und dem Stadium des Ersterbens nahe" (aaO, S. 12). Auch die Schrift von H.-J. Kraus „Predigt aus Vollmacht" (1966) „beschäftigt sich mit dem, was man die .Predigtnot' der evangelischen Kirche genannt hat" (aaO, S. 5). Vgl. außerdem E. Grässer: Wort Gottes in der Krise?, 1969; H. Zähmt, in: Kritik an der Kirche, 1958; W. Born: Kriterien der Predigtanalyse, 1971. Zum gegenwärtigen Stand der homiletischen Problematik vgl. auch W. Fürst: Die Unentbehrlichkeit dogmatischer Besinnung für die Predigt im Spiegel gegenwärtiger Homiletik, Vu F 1/1967, S. 7 - 2 6 und R. Bohren: Notizen zum Problem des Predigers, VuF
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gung dieser Disziplin überhaupt, nicht nur der Stellenwert der Predigt innerhalb der Berufspraxis des Pfarrers, sondern ihr prinzipielles Recht 2 . Diese kritische Situation der Homiletik ist neu. Noch vor wenigen J a h r e n stellte sich die Theorie der Predigt ganz anders dar 3 . Die Differenzen der verschiedenen exegetischen und dogmatischen Denkansätze schienen in 1 / 1 9 6 7 , S. 26—34. Vgl. schließlich noch L. Goppelt: Textpredigt und wissenschaftliche Exegese in der Krise. In: Die Predigt als Kommunikation, hrsg. von J . R o l o f f , 1 9 7 2 , S. 9 3 - 9 9 . Wie J . Ries: Krisis und Erneuerung der Predigt, 1 9 6 1 , gehen auch viele katholische Autoren davon aus, daß sich die Predigt „in einer kritischen Situation" (Ries, aaO, S. 13) und die christliche Verkündigung in einer „Umbruchsituation" (aaO, S. 10) befinden. J . Kopperschmidt redet in seinem Aufsatz „Kommunikationsprobleme der Predigt" von der gegenwärtigen Verkündigung und Predigt insgesamt als einem „Krisenphänomen" (In: G. Biemer, Hrsg.: Die Fremdsprache der Predigt, 1 9 7 0 , S. 3 0 - 5 7 ; S. 3 0 ) . Vgl. im übrigen auch V . Schurr: Wie heute predigen?, 1 9 4 9 und F. J a n t s c h : Man kann auch anders predigen, 1 9 7 0 . 2 Vgl. vor allem B. Päschke: Praktische Theologie als kritische Handlungswissenschaft. Thpr 6, 1 9 7 1 , S. 1 — 13. Päschke fordert im Hinblick auf die homiletische Ausbildung der Theologiestudenten: „ »Homiletische Übungen' sollten insofern mehr oder jedenfalls primär etwas anderes als die Technik .rechter Predigt' lehren. Sie können nicht zeigen, wie es gemacht werden soll, bzw. naiv davon ausgehen, daß überhaupt gepredigt werden soll, wenn nicht zuvor die gesellschaftlichen, ideologischen und psychologischen Bedingungen und Auswirkungen kirchlicher Predigt bzw. religiöser Rhetorik analysiert worden sind" (aaO. S. 5 ) .
Vgl. auch den Bericht „Zur Didaktik praktisch-theologischer Studien" von G. Otto (Thpr 6, 1 9 7 1 , S. 13—32), wo als Ziel der Homiletik-Vorlesungen angegeben wird, „das Phänomen Predigt systematisch schärfer in den Griff zu bekommen, und zwar in seiner Eigenart, in seinen Möglichkeiten, in seinen Grenzen und Gefahren, in seinen Wirkungen." (aaO, S. 18) Was Otto im Auge hat, wenn er von „Grenzen und Gefahren" der Predigt spricht, hat er konkretisiert in seinen „Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart" (In: P. Cornehl/H.-E. Bahr: Gottesdienst und Öffentlichkeit. Zur Theorie und Didaktik neuer Kommunikation, 1 9 7 0 , S. 34—43): Hervorgehoben werden insbesondere die Gefahren des „weltfernen, introvertierten Monologs", „undialogischer Indoktrination", der bloßen „Stabilisierung jeweils überlieferter Verhältnisse", des Konventikeltums und der Verabsolutierung der Predigt innerhalb der christlichen Verkündigung, als wäre sie „einziger Modus der Mitteilung dessen, was christlicher Glaube inhaltlich heute sei und welche Relevanz er für Leben und Welt h a b e " (aaO, S. 3 5 ) . Zur Geschichte der Predigt und zur gegenwärtigen Situation der Homiletik vgl. A. Niebergall: Die Geschichte der christlichen Predigt, Leiturgia II, 1 9 5 5 , S . 1 8 1 - 3 5 3 und ders.: Homiletik heute. T h R NF 3 4 , 1 9 6 9 , S. 4 9 - 7 6 und S. 8 9 - 1 2 0 . J . Konrad: Neuere Predigtliteratur. T h L Z 8 7 , 1 9 6 2 , Sp. 8 0 1 f f . F. Merkel: Homiletik und Predigt. WiuPr 5 7 , 1 9 6 8 , S . 1 9 5 - 2 1 0 ; ders.: Predigttheorie und Predigtpraxis. WiuPr 6 0 , 1 9 7 1 , S. 40—52. W. Fürst: Die Unentbehrlichkeit dogmatischer Besinnung für die Predigt im Spiegel gegenwärtiger Homiletik. V u F 1 / 1 9 6 7 , S. 7—26. R . Bohren: Notizen zum Problem des Predigers. V u F 1 / 1 9 6 7 , S. 2 6 - 3 4 . K . Fezer: Artkl. Homiletik. R G G , 2. Aufl., II, Sp. 2 0 0 4 - 2 0 0 6 . M. Doerne: Artkl. Homiletik. R G G , 3. Aufl., III, Sp. 4 3 8 - 4 4 0 . E. Stolz und K. Fezer: Artkl. Predigt. R G G , 2 . Aufl., IV, Sp. 1 4 1 1 - 1 4 3 5 . A. Niebergall; M. Doerne; J . Lell; H. Dürr: Artkl. Predigt. R G G , 3. Aufl., V , Sp. 5 1 6 - 5 3 9 . 3
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der H o m i l e t i k beigelegt. Ihre Sinnhaftigkeit war allgemein anerkannt, ihre Gestaltung kaum irgendwo kontrovers. Man m o c h t e in der h o m i l e t i s c h e n Literatur zwar unterschiedliche S t r ö m u n g e n u n d R i c h t u n g e n w a h r n e h m e n . Aber es kam in der Predigtlehre kaum zur w i s s e n s c h a f t l i c h e n Auseinandersetzung, zur t h e o l o g i s c h e n Abgrenzung u n d Schulenbildung 4 . D i e evangelische Predigtlehre hat in d e n vergangenen J a h r z e h n t e n eine t h e o l o g i s c h e Theorie e n t w i c k e l t , die zwar nicht in ihren Details, in d e n praktischen u n d technischen K o n s e q u e n z e n , aber d o c h in ihren Grundzügen relativ einheitlich u n d geschlossen erscheint u n d die auch eine b e i n a h e allgemeine A n e r k e n n u n g fand s . 4
Das unten skizzierte Grundmodell der Homiletik umgreift ganz verschiedene theologische Denkansätze: den der dialektischen Theologie; vgl. K. Barth: Not und Verheißung der christlichen Verkündigung. In: Ders.: Das Wort Gottes und die Theologie, 1924, S. 99—124; und ders.: KD I, 2, S. 831ff. „Gotteswort und Menschenwort in der christlichen Predigt". Neuerdings vgl. auch die Nachschriften von Barths homiletischen Seminaren in den Jahren 1932 und 1933. K. Barth: Homiletik, hrsg. von G. Seyfferth, 1966. Dazu: W. Fürst: Karl Barths Predigtlehre (in: Antwort. Fs für K. Barth, 1956, S. 137— 147) und ders.: Die homiletische Bedeutsamkeit Karl Barths (in: ThExh NF 104, 1963, S. 5 — 19). Im übrigen vgl. auch R. Bohren: Bemerkungen zu Karl Barths Predigtweise an Hand seiner Predigten aus den Jahren 1954-1959 (VuF 1958/59, 1962, S. 141 ff. - Jetzt in: ders.: Predigt und Gemeinde, 1963, S. 7 1 - 8 3 ) . Zur Homiletik der dialektischen Theologie gehören auch K. Fezer: Das Wort Gottes und die Predigt, 1925; W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 1. Aufl. 1935; H. Schreiner: Die Verkündigung des Wortes Gottes, 5. Aufl. 1949. Der Ansatz der dialektischen Theologie wird mit Modifikationen aufgenommen von L. Fendt: Homiletik, 1. Aufl. 1949 (vgl. dazu die von B. Klaus neu bearbeitete 2. Aufl. 1970), von W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, von E. Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit. In: Predigtstudien, hrsg. νοη,Ε. Lange u.a., Beiheft 1, 1968, S. 11—46, und schließlich auch von A. Niebergall: Der Prediger als Zeuge, 1960 und von R. Bohren: Predigtlehre, 1971. Aber auch so unterschiedliche homiletische Theorien wie G. Wingren: Die Predigt, 1. Aufl. 1955, 2. Aufl. 1959 und O. Handler: Die Predigt, 1. Aufl. 1941, 2. Aufl. 1948, 3. Aufl. 1960 und endlich H.-R. Müller-Schwefe: Homiletik, Bd. I, 1961 (Die Sprache und das Wort), Bd. II, 1965 (Die Lehre von der Verkündigung), Bd. III, 1973 (Die Praxis der Verkündigung), folgen mit Einschränkungen dem skizzierten homiletischen Grundmodell. Vgl. schließlich noch die homiletischen Lehrbücher von W. Uhsadel: Die gottesdienstliche Predigt, 1963 und von E. Hirsch: Predigerfibel, 1964. 5 D. Rössler schreibt in seinem Aufsatz „Das Problem der Homiletik" (Thpr 1, 1966, S. 14—28): „Blickt man indessen von der kaum überschaubaren Vielfalt dieser homiletischen Problemgeschichte auf die Gegenwart, so wird man sich dem Eindruck einer ebenso überraschenden wie glücklichen Einhelligkeit in der Behandlung der Grundsatzfragen nur schwer entziehen können." (aaO, S. 14) Die Frage nach dem Wesen der Predigt ist das einheitliche Kardinalthema der neueren Homiletik geworden. „Es fiele nicht schwer, aus dem immer breiter fließenden Strom der Äußerungen zu homiletischen Grundsatzfragen weitere Belege dafür zu sammeln, daß die Frage nach dem Wesen der Predigt allgemein und ausschließlich akzeptierter Ausgangspunkt der Erörterungen wurde und bis heute geblieben ist" (aaO, S. 15). 11
Dieser Sachverhalt überrascht u m s o mehr, als die H o m i l e t i k seit geraumer Zeit in der Sonntagspredigt m e h r als nur einen Gegenstand der praktischt h e o l o g i s c h e n Ausbildung sieht. Das N a c h d e n k e n über die Predigt gehört seit einigen J a h r z e h n t e n s c h o n zu d e n w e s e n t l i c h e n A u f g a b e n der ganzen Theologie. S e i t d e m steht die Predigt nicht nur im Zentrum verschiedener t h e o l o gischer Positionen. Mit der Ρ red igt theo rie befassen sich auch alle Disziplinen der T h e o l o g i e . Willi Marxsen e t w a versteht die historisch-kritische Exegese der biblischen T e x t e als „Predigtarbeit" 6 , als „Hilfe, die ganz k o n s e q u e n t auf die Verkündigung am S o n n t a g hinführt". Wo die E x e g e s e dieser h o m i l e t i s c h e n F u n k t i o n nicht gerecht zu w e r d e n vermag, ist sie „unnötiger Ballast" 7 . Ernst Fuchs faßt die h o m i l e t i s c h e I n t e n t i o n der E x e g e s e in die T h e s e : „Die historischkritische M e t h o d e der A u s l e g u n g neutestamentlicher T e x t e hat ihren Dienst dann getan, w e n n sich aus d e m T e x t die N ö t i g u n g zur Predigt ergibt." 8
6
W. Marxsen: Der Beitrag der wissenschaftlichen Exegese des Neuen Testaments für die Verkündigung (in: Exegese und Verkündigung, ThExh NF 59, 1957, S. 31—56), S. 31. — Vgl. dazu D. Rösslers Ausführungen zu dem in fast allen homiletischen Arbeiten geltenden Grundsatz „Predigt ist Auslegung eines biblischen Textes" (D. Rössler: „Das Problem der Homiletik", Thpr 1, 1966, S. 1 4 - 2 8 ; S. 18). Die exegetische Arbeit gewann vor allem im Gefolge der formgeschichtlichen Forschungsergebnisse unmittelbares homiletisches Gewicht. „ ,Bloß Historiker' zu sein wird konsequenterweise verdächtigt, am schärfsten im Kreise derer, deren Beruf es ist. So vermag der Spitzensatz sowohl die Aufgabe der Homiletik wie die der exegetischen Disziplinen zu beschreiben; denn .Predigt ist Auslegung' heißt nichts anderes als .Auslegung ist Predigt'." (aaO, S. 19) G. Otto schreibt dazu: „Das homiletische Modell der letzten Jahrzehnte war davon bestimmt, Predigt vor biblischem Text zu verantworten" (Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart. In: P. Cornehl/H.-E. Bahr, Hrsg., Gottesdienst und Öffentlichkeit, 1970, S. 3 4 - 4 3 ; S. 40). 7 W. Marxsen, aaO, S. 33. — Vgl. dazu: Ders.: Die Bedeutung der Einleitungswissenschaft für die Predigtarbeit. In: MPTh 49, 1960, S. 1 - 1 4 . Dort schreibt Marxsen: „Nun besteht ja wohl Einigkeit darüber, daß Predigtarbeit Exegese voraussetzt. Dann setzt sie damit aber auch den Dienst der Einleitungswissenschaft voraus." (aaO, S. 2) Freilich kann nicht jeder Text des Kanons „unbesehen Ausgangspunkt der Verkündigung" sein. Gerade zu dieser Einsicht vermag aber die biblische Einleitungswissenschaft den Prediger zu führen. Der kanonische Text „ist nicht Text im Sinne einer unfehlbaren Grundlage, sondern selbst schon Predigt" (aaO, S. 13). 8 E. Fuchs: Die der Theologie durch die historisch-kritische Methode auferlegte Besinnung (In: Ders.: Zur Frage nach dem historischen Jesus, 1960, S. 219—237), S. 226. — Vgl. auch E. Käsemann: Zum gegenwärtigen Streit um die Schriftauslegung (In: Exegetische Versuche und Besinnungen II, 1964, S. 268—290); dort schreibt Käsemann: „Die Frage der Schriftauslegung muß sich in der Praxis bewähren und ausweisen. Von ihr her muß der Gemeinde gesagt werden können, was sie zu sein und zu tun hat." (aaP, S. 283) Vgl. im übrigen die sachlich übereinstimmenden Aussagen zum Verhältnis von Exegese bzw. vom Ziel aller Exegese und der Predigt bei G. Friedrich: Fragen des Neuen Testaments an die Homiletik (In: WuD 6, 1959, S. 7 0 - 1 0 4 ) , bei H. Diem: Der Theologe zwischen Text und Predigt (EvTh 18, 1958, S. 2 8 9 - 3 0 2 ) , bei G. Harbsmeier: Der Dienst der historisch-kritischen Exegese an der Predigt (EvTh 23, 1963, S. 42—55)
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Auch die systematische Theologie steht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Homiletik. Sie ist wie die Exegese „für die Tätigkeit und Ausbildung des Predigers unumgänglich und unaufgebbar." 9 Heinrich Ott sieht deshalb in der Konzentration auf die homiletischen Probleme keine Einengung der systematisch-theologischen Arbeit, sondern eine „Beschränkung auf das Wesentliche". 10 Die homiletische Arbeit der systematischen Theologie bezieht sich nicht nur auf die prinzipiellen Fragen der Predigttheorie. Sie beteiligt sich vielmehr wie die Exegese an der praktischen Gestaltung der Predigt, deren Denkformen und Stilmittel sie prägt 11 . Die Predigt bildete aber nicht nur das Zentrum der einzelnen theologischen Disziplinen. Sie wurde auch zum enzyklopädischen Prinzip der theologischen Wissenschaft. Das gemeinsame Ziel, die Predigt, einte die verschiedenen theologischen Disziplinen und ließ die Konstruktion des traditionellen theologischen Studiums als sinnvoll erscheinen. Die Predigt bestimmte Anfang und Ende theologischer Denkprozesse. Und nachdem sie ein bevorzugter Gegenstand der ganzen Theologie und diese eine systematisch auf sie bezogene kirchliche Wissenschaft geworden war, wurde die Beschäftigung mit der Predigt schließlich zur Aufgabe jedes Theologen, welcher Fachrichtung oder Grundeinstellung er sich auch immer zuwandte. Diese Qualifizierung der Predigt im gesamten theologischen Denk- und Wissenschaftssystem konnte nicht ohne Folgen für die homiletische Arbeit bleiben. Sie sprengte die Grenzen der praktischen Theologie und stellte in allen theologischen Disziplinen eine direkte Verbindung von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis her. Indem sich die Predigt zu einem der wesentliund bei H. Ott: Existentiale Interpretation als Problem der christlichen Predigt (ThZ 11, 1955, S. 1 1 5 - 1 2 7 ) . - Vgl. dazu auch O. Weber: Vom Text zur Predigt (In: Der euch berufen hat. Predigten und Erwägungen zur Predigt von O. Weber, 1960, S. 29—52). 9 H. Ott: Die Bedeutung des Studiums der systematischen Theologie für die Ausbildung des Predigers (In: Wort und Gemeinde, Fs für E. Thurneysen, 1968, S. 159—170), S. 160. 10 H. Ott, aaO, S. 159. — Dieselbe Intention verfolgt die programmatische Formulierung E. Jüngels in der 6. und 7. These seiner Thesenreihe, die am Schluß seines Predigtbandes „Predigten", 1968, S. 140—143 abgedruckt ist: „6. Wenn der Text zum zuvorkommenden Wort Gottes wird, erscheint der Text als Predigttext. 7. Wenn der Text als Predigttext erscheint, hat die Hermeneutik im Räume der Theologie ihre Aufgabe getan" (aaO, S. 140). — In dem Aufsatz „Verkündigung als Problem der Exegese" (MPTh 52, 1963, S. 2 4 - 3 6 ) von J. Moltmann heißt es unter Hinweis auf den oben, Anm. 8 zitierten Satz von E. Fuchs: „Die Exegese kann sich nicht darin erschöpfen zu sagen, was gesagt, wie es gemeint und zu verstehen ist, sondern sie muß Antwort geben auf die Frage: warum das gepredigt werden muß" (Moltmann, aaO, S. 24). 11 H. Ott schreibt: „Indem die systematische Theologie das Denken anstrengt, muß ihr seriöses Studium sich letztlich bis in den Stil der Predigt auswirken (im Vermeiden der hohlen Phrase, der unbegründeten pauschalen Behauptungen, der Binsenwahrheiten und Banalitäten, der verfehlten Fragestellungen, Beispiele und Vergleiche)" (aaO, S. 170).
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chen T h e m e n der theologischen Reflexion entwickelte, wurde die ganze Theologie zur Homiletik. Und kaum ein Theologe widersprach der allgemeinen Prämisse, „daß Theologie als Wissenschaft der Kirche in ihren sämtlichen Disziplinen nichts anderes sein soll als Predigtvorbereitung" 1 2 . Die These, daß die Predigt die Praxis der theologischen Theorie und deshalb ihr Kriterium sei, ist zu einem der allgemeinsten Grundsätze des theologischen Denkens geworden, zu einem theologischen A x i o m , das zwar in der verschiedensten Weise entfaltet, kaum aber in Frage gestellt wurde 1 3 . Es braucht kaum angeführt zu werden, welcher unschätzbare Gewinn sich für die Theorie und auch für die Praxis der Predigt aus dieser Intensivierung des homiletischen Denkens und aus der vielfältigen Beschäftigung mit ihr ergab. Die Erkenntnis, daß die Predigt im Zentrum der kirchlichen Praxis und der theologischen Theorie zu stehen hat, ist von allen Disziplinen der gegenwärtigen Theologie unüberhörbar festgestellt und nach allen Seiten hin entfaltet worden. Die praktische Theologie der Gegenwart bleibt schon deshalb unwiderruflich an die homiletische Arbeit der ganzen Theologie gebunden. Angesichts der gemeinsamen, interdisziplinären homiletischen Arbeit braucht es nicht als Verlust gebucht zu werden, wenn die Bedeutung einer selbständigen praktischen Theologie in der Konsequenz dieser Entwicklung 12 K. Barth, Homiletik, Hrsg. von G. Seyfferth, 1966, S. 7. - M. Fischer versteht das Predigen des Theologiestudenten als „Skopus seines gesamten Studiums" (M. Fischer: Das Selbstverständnis der Theologie und das Praktisch-theologische Studium, MPTh 55, 1966, S. 1 3 5 - 1 5 2 ; S. 141). R. Bohren beklagt „das vielzitierte Auseinanderklaffen von Exegese und Systematik" und befürchtet, daß in der gegenwärtigen praktischtheologischen Homiletik „Exegese und Systematik überspielt" werden könnten; daher macht Bohren Vorschläge für eine engere Verbindung von Exegese, Systematik und Praktischer Theologie im Theologiestudium (Bohren: Predigtlehre, 1971, S. 145). 13 Vgl. H. Schröer: Die Bedeutung der Dogmatik für die Predigtvorbereitung (MPTh 53, 1964, S. 427—442), insbesondere den kritisch akzentuierten II. Abschnitt „Zur theologischen Tradition des Problems (sc. des Verhältnisses von Dogmatik und Predigtvorbereitung)". (aaO, S. 430—434) — D. Rössler schreibt dazu: „Am Anfang der Epoche stand — und steht bis auf den heutigen Tag — die Hinwendung der Theologie überhaupt zur Predigt. Predigt ist das zentrale Thema nicht mehr allein der Homiletik, sondern der Theologie und der Kirche im ganzen " (Das Problem der Homiletik. Thpr 1, 1966, S. 1 4 - 2 8 ; S. 16). So lautet auch die Analyse von W. Knevels: Analysen typischer Predigttheorien (DtPfrBl 69, 1969, S. 244f.), der schreibt: „Die gesamte Theologie der Gegenwart, nicht nur die Bultmannsche, ist auf die Predigt ausgerichtet und ist daher ihrer Wurzel und ihrem Wesen nach nicht nur (wie man es früher ansah) in ihrer auf sie aufgesetzten Anwendung, eminent praktische Theologie." (aaO, S. 244; Hervorhebung von Knevels) — Mit Recht schreibt W. Fürst über K. Barth: „Indirekt ist sein ganzes theologisches Werk Predigtlehre." (W. Fürst: Karl Barths Predigtlehre. In: Antwort, Fs für K. Barth, 1956, S. 1,37—147; S. 147). Vgl. im übrigen auch E. Jüngel: Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander (In: E. Jüngel/K. Rahner/M. Seitz: Die Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Praxis, 1968, S. 11—45).
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immer m e h r sank. Ihre A u f g a b e b e s t a n d zunächst darin, die Prinzipien der H o m i l e t i k darzustellen, die im gesamten t h e o l o g i s c h e n D e n k p r o z e ß g e w o n n e n wurden. D i e E n t f a l t u n g dieser Prinzipien ergab dann w i e v o n selbst die praktische H o m i l e t i k , eine Z u s a m m e n s t e l l u n g v o n Regeln — meist K a u t e l e n —, die d e n E n t s t e h u n g s p r o z e ß einer Predigt beschreiben 1 4 . Der „Weg v o m T e x t zur Predigt" 1 5 bildete die Metapher nicht nur für die praktische Predigtvorbereitung, sondern auch für das Kernstück der Predigttheorie, für die materiale H o m i l e t i k 1 6 . Gerade die praktisch-theologische H o m i l e t i k verdeutlicht exemplarisch d e n prinzipiellen u n d m e t h o d i s c h e n Z u s a m m e n h a n g der t h e o l o g i s c h e n Disziplinen. D i e Predigt ist m e h r als nur ein Teil der kirchlichen Berufsausbildung. Sie ist „ein Begriff v o n h ö c h s t e m t h e o l o g i s c h e m Interesse, ein K o n z e n t r a t der t h e o l o g i s c h e n Arbeit, zugleich ihr Gegenüber w i e ihr Ziel" 1 7 . 14
Dieser Zusammenhang von theoretischer und praktischer Predigtlehre, der den Ansatz und die Gliederung einer Predigtlehre bestimmt, kommt in der Homiletik K. Barths ebenso zum Ausdruck wie etwa bei Trillhaas und Schreiner, bei Fendt und Uhsadel. 15 L. Fendt/B. Klaus: Homiletik, 2. Aufl. 1970, S. 84. - Vgl. W. Schütz: Vom Text zur Predigt, 1968 und das im gleichen Jahr erschienene katholische Werk von F. Kamphaus: Von der Exegese zur Predigt, und ebenso die Predigt-Analysen von C. Möller: „Von der Predigt zum Text", 1970. Aus der Fülle der Literatur zum Thema ,Vom Text zur Predigt' seien genannt: H. Diem: Warum Textpredigt?, 1939, vor allem S. 197ff. G. Dehn: Unsere Predigt heute, 1946. G. Friedrich: Fragen des Neuen Testaments an die Homiletik (In: WuD 6, 1959, S. 70— 104). Friedrich urteilt: „Es ist das Verdienst der dialektischen Theologie gewesen, in einer Zeit, als die Psychologie auf die Homiletik einen entscheidenden Einfluß ausübte, als man Goethepredigten hielt und der Ansicht war, daß der Prediger ,mit seiner geschickten Hand auf der Klaviatur der Affekte spielt', auf die Bedeutung des Textes und auf die Objektivität der Verkündigung hingewiesen zu haben . . . Seitdem gilt es als feststehende Tatsache, daß eine rechte Predigt Textpredigt sein muß und daß die Person des Predigers zurückzutreten hat." (aaO, S. 70) E. Grässer: Von der Exegese zur Predigt (WiuPr 60, 1971, S. 27—39) schreibt: „Nie zuvor war die Zerreißprobe zwischen geschichtlicher Vergewisserung (durch Bibelexegese) und relevanter Vergegenwärtigung (durch hermeneutische Besinnung) größer als in unseren Tagen. Zeigen wir uns ihr nicht gewachsen, ist jede Möglichkeit zu einer verantwortlichen und redlichen Predigt dahin und damit auch das Proprium der christlichen Kirche." (aaO, S. 31) Vgl. auch B. Dreher: Biblisch predigen, 1968, ein katholisches „homiletisches Werkbuch", das die Predigtlehre als Entfaltung des Programms ,Vom Text zur Predigt' versteht. G. Klein urteilt über seine 1971 unter dem Titel „Bibelkritik als Predigthilfe" vorgelegten Predigtmeditationen: Keine der Meditationen „kam ohne die Erfahrung zustande, daß Empfänglichkeit für die jeweilige zeitgenössische Bewußtseinslage und Respekt vor dem dagegen zunächst scheinbar so spröden exegetischen Detail nicht erst mühsam miteinander vermittelt werden müssen, sondern in Wahrheit zwei Seiten ein und desselben Erkenntnisprozesses sind " (aaO, S. 7). 16 W. Trillhaas behandelt die materiale Homiletik unter der Uberschrift „Predigt und Text" (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 57ff.). 17 W. Jetter: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer (WiuPr 56, 1967, S. 2 1 2 - 2 2 8 ) , S. 212. — Ähnlich schreibt E. Thurneysen: „Die christliche Predigt ist das Kernproblem der Theologie. An der Tatsache der Predigt, dem christlichen Reden von Gott,
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Die konstitutive Bedeutung der Predigt für die ganze Theologie führt in der Homiletik freilich auch zu kritischen Konsequenzen. Die Krise, in der sich die Homiletik gegenwärtig offenbar befindet, wird dadurch verschärft, daß die Predigtlehre nicht von den anderen theologischen Arbeitsgebieten isoliert werden kann. Sie teilt mit den übrigen theologischen Disziplinen nicht nur ihre Methoden und Erkenntnisse, sondern sie partizipiert auch an deren Problemen. Willi Marxsen beschreibt die kritische Situation der Predigt und ihrer Theorie daher zutreffend in ihrem theologischen Zusammenhang. „Wenn wir heute von Predigtnot sprechen, dann hat das wohl mancherlei Gründe. Vielleicht kennt der Pastor seine Gemeinde zu wenig. Vielleicht spricht er zu begrifflich-abstrakt, kann sich nicht von seiner Fachsprache lösen, vielleicht gelingt ihm auch (rein technisch) der Brückenschlag nicht. Entscheidend aber ist nach meiner Erfahrung: Die Predigtnot ist zutiefst eine exegetische Not" 1 8 . Rudolf Bohren stellt heraus, „daß die Krisis unserer Predigt nur die Krisis der Exegese offenbart" 1 9 . Und Leonhard Goppelt schließlich zeigt, wie ,,in den letzten Jahren die Textpredigt wie die neutestamentliche Wissenschaft in eine Grundlagenkrise" geraten sind 20 . Die Grundlagenkrise der Homiletik kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß die Sinnhaftigkeit der Predigt nicht mehr unbestritten Anerkennung findet. Die Frage nach der Legitimität der kirchlichen Predigt gehört zu den Grundproblemen einer homiletischen Position, die der Predigtpraxis und der Predigttheorie in gleicher Weise kritisch gegenübersteht. Sie fügt sich nicht mehr in den sachlichen und methodischen Zusammenhang der theologischen Disziplinen ein, indem sie exegetische und dogmatische nimmt sie ihren Ausgang. Daran daß dieses christliche Reden . . . auf die sie begründende Predigt der Apostel (bezogen ist), entsteht die historische Theologie im weitesten Sinne; daran daß diese Predigt in sich selber einen originalen Sinnzusammenhang verrät, entsteht die systematische, und daran daß diese Predigt weitergehen will und soll, die sogenannte praktische Theologie mit ihrem Kern, der Homiletik " (Das Wort Gottes und die Predigt. TheolBl 5, 1926, S. 1 9 7 - 2 0 3 ; S. 197). 18 W. Marxsen: Der Beitrag der wissenschaftlichen Exegese des Neuen Testaments für die Verkündigung (In: Ders.: Exegese und Verkündigung. Zwei Vorträge. ThExh NF 59, 1957, S. 3 1 - 5 6 ) , S. 37. 19 R. Bohren: Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese (In: Ders.: Predigt und Gemeinde, 1963, S. 8 5 - 1 1 7 ) , S. 116. - In seiner Predigtlehre hebt Bohren die Bedeutung der Exegese für die Predigt hervor: „Nachdem die Exegese in eine tiefgreifende Krise geraten ist und sich in der Homiletik Tendenzen bemerkbar machen, den Primat der Exegese zu brechen, wird es nötig sein, den Nutzen der Exegese für die Predigt zu unterstreichen" (Predigtlehre, 1971, S. 149). 20 L. Goppelt: Textpredigt und wissenschaftliche Exegese in der Krise (In: Die Predigt als Kommunikation, hrsg. von J. Roloff, 1972, S. 9 3 - 9 9 ) , S. 93. - Goppelt fährt dort fort: „Die theologisch-wissenschaftliche Relevanz der neutestamentlichen Exegese ist ebenso in Frage gestellt wie die religiös-sittliche Bedeutung der Textpredigt. Beide müssen ihre Sinnhaftigkeit in der Gegenwart neu erweisen." (ebd.)
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Erkenntnisse auf die Predigtarbeit anwendet. Diese Homiletik kann nicht mehr „naiv davon ausgehen, daß überhaupt gepredigt werden soll" 21 . Zu den wesentlichen Aufgaben einer Homiletik als „kritische(r) Handlungswissenschaft", deren Programm Bernd Päschke entworfen hat, gehört vielmehr „die systematische Aufarbeitung der durch theologische und außertheologische Faktoren bedingten Fragwürdigkeit des konkreten geschichtlichen Verkündigungsprozesses" 22 . Die kritische Predigtlehre, die Gert Otto skizziert, soll „Recht und Grenze, Möglichkeit und Unmöglichkeit der Predigt heute erfragen" 23 und dabei vor allem auch den „Gefahren der Predigt" 24 nachgehen. Kaum ein homiletischer Entwurf der Gegenwart steht der herkömmlichen homiletischen Arbeit der Theologie und zugleich der traditionellen Predigtpraxis so skeptisch gegenüber wie das von B. Päschke vorgelegte Programm. Aber die Kritik an der exegetisch und dogmatisch geprägten Homiletik, an deren materialen Prinzipien und an ihren methodischen Beziehungen reicht weiter als die Grenzen dieses praktisch-theologischen Programms. Diese Kritik kennzeichnet eine ganze Reihe von homiletischen Überlegungen, die alle von der Predigtpraxis ausgehen und im Interesse einer neuen Gestaltung der Predigtarbeit die dogmatischen Prinzipien der Predigttheorie kritisieren. So fragt Werner Jetter im Blick auf die traditionelle Definition der Predigt: „Liegt ihr eigener Anspruch nicht wie ein beinahe unheimlicher Schatten auf ihr und belastet sie mit einem dogmatischen Schwer- und Übergewicht, unter dem ebenso viele Illusionen wie Depressionen gedeihen?" 2 5 Die Predigtnot stellt sich unter diesem theoriekritischen Aspekt 21
B. Päschke: Praktische Theologie als kritische Handlungswissenschaft (Thpr 6, 1971, S. 1—13), S. 5. — H.-D. Bastian meint, man dürfe „gerade die Predigt nicht länger als etwas Selbstverständliches, als natürliche und einzige Redeform der Kirche . . . akzeptieren." (H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung. ThExh NF 127, 1965) 22 B. Päschke, aaO, S. 5. 23 G. Otto: Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart (In: P. Cornehl/ H.-E. Bahr: Gottesdienst und Öffentlichkeit, 1970, S. 3 4 - 4 3 ) , S. 34. 24 G. Otto, aaO, S. 35. — Otto setzt sich in diesem Zusammenhang auch für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Text und Predigt ein: „Anstelle des genannten Gesetzes ist neu nach der Funktion der biblischen Überlieferung für christliches Reden heute zu fragen. Thema und Inhalt der Predigt/Rede bestimmen, ob und ggf. in welcher Weise biblische Texte für die Predigt/Rede eine Rolle spielen." (aaO, S. 40). E. Grässer fragt allerdings in Bezug auf solche Überlegungen: „Ist es nicht tatsächlich so, daß diese .vernünftige Theologie' wieder einmal an die Stelle des Evangeliums das Gesetz und die Moral treten läßt?" (Von der Exegese zur Predigt? WiuPr 60, 1971, S. 2 7 - 3 9 ; S. 31). 25 W. Jetter: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer (WiuPr 56, 1967, S. 2 1 2 - 2 2 8 ) , S. 213. — V o n solchen „Depressionen" berichtet H. Gollwitzer: Die neuere Theologie und die heutige Gemeinde (In: Unter der Herrschaft Christi, 1961, S. 92—115): „Von den Leitern der Predigerseminare, von den Pfarrern, die Lehrvikare haben, kommen seit einigen Jahren erschreckende Klagen über die Müdigkeit, Ratlosigkeit, innere Un-
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als eine Diskrepanz von homiletischer Theorie und Praxis dar. „Theologen wie Nichttheologen bedrängt auf dem Hintergrund solch hoher Ansprüche der Predigt das beklemmende Untergewicht ihrer sonntäglichen Wirklichkeit." 26 Die gegenwärtige praktisch-theologische Homiletik kann sich nicht mit der Entfaltung der exegetischen und dogmatischen Prinzipien begnügen. Sie steht zwischen homiletischer Theorie und Praxis und muß daher immer „dicht bei der heutigen Wirklichkeit bleiben". 27 Zu den Grundproblemen einer praktisch orientierten Homiletik gehört daher vor allem die „Frage nach den Wirkungsmöglichkeiten des Instituts Sonntagspredigt". 28 Diese praktische Tendenz kennzeichnet auch die homiletischen Überlegungen von Wolfgang Trillhaas und Ernst Lange. Beide beziehen die herkömmliche Theorie und die gegenwärtige Praxis der Predigt aufeinander und entwickeln aus dieser Gegenüberstellung kritische Ansätze zu einer neuen Theo rie und Praxis des Predigens. Wolfgang Trillhaas nennt als Ausgangspunkt der homiletischen Theoriekritik das „Bedürfnis nach größerer Nüchternheit und nach psychologischer Wahrheit"29 und stellt zugleich das Ausmaß der Diskrepanz fest, die zwischen dogmatischen Predigtbegriffen und der homiletischen Praxis entstehen kann. Er verweist auf Gustaf Wingren, der die Predigt als „die Funktionsweise des Schöpferwortes" 30 in der Zeit zwischen Auferstehung und Parusie versteht. Danach ist die Predigt „ein Teil der Geburtssicherheit, mit der ein großer Teil unserer Theologiestudenten in die Praxis geht, mit zerschnittenen Flügeln, mit der Angst vor der Aufgabe, verkündigen zu sollen, was sie selbst nicht glauben können." (aaO, S. 102). 26 W. Jetter, aaO, S. 214. 27 W. Jetter, aaO, S. 215. — Auch G. Otto sieht für die Predigt die Gefahr des „weltfernen, introvertierten Monologs" (Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart, aaO, S. 35). 28 W. Jetter, aaO, S. 215f. - W. Trillhaas („Die wirkliche Predigt". In: Wahrheit und Glaube, Fs für E. Hirsch, hrsg. von H. Gerdes, 1963, S. 193-205) kritisiert den „steilen Anspruch der Predigt, der in und seit der Reformation für sie erhoben worden ist" (aaO, S. 194), und hält die Analyse der gegenwärtigen Normalsituation der Predigtpraxis dagegen: „Die öffentlichen Predigten in evangelischen Kirchen sind in weiter Uberzahl homiletische Belanglosigkeiten." (aaO, S. 195) H.-D. Bastian (Verfremdung und Verkündigung. ThExh NF 127, 1965) fordert, „die stereotype Predigt auf ihre Leistung und ihren Wirkungsbetrag zu überprüfen" und ihre „kommunikative Kraft zu analysieren" (aaO, S. 58). Bei dieser Überprüfung ergibt sich seiner Meinung nach, „daß die Predigt in der Technik der Information den gleichen Platz innehat wie vergleichsweise die Petroleumlampe in der Beleuchtungstechnik." (ebd.) Bastian wendet sich deswegen gegen allzu anspruchsvolle theologische Predigtdefinitionen, für deren Verwirklichung „der Kommunikationskanal Predigt, Kanzelrede, von vornherein zu eng ist" (Predigtstudien, Beih. 1, 1968, S. 74). - Vgl. dazu auch W. Jetter: Die Predigt als Institution und Instrument (In: Herausforderung durch die Zeit. Dem Verleger E. Breitsohl als Festgabe zu seinem 65. Geburtstag, 1970, S. 3 8 - 6 2 ) . 29 W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 5. 30 G. Wingren: Die Predigt, S. 102.
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wehen, durch welche die Menschheit erlöst und zum Leben geboren wird, ja, um der Predigt willen, also — letztlich — um der Erlösung der Menschheit willen, fand die Auferstehung Christi statt." 3 1 Trillhaas bezieht seinen kritischen Standpunkt nun nicht innerhalb dieser dogmatischen „Theologie der Predigt" 32 , sondern außerhalb der Dogmatik, im Gebiet der praktischen Theologie und wertet die — nicht nur von Wingren so oder ähnlich beschriebene — Predigtdefinition als „einen Predigtbegriff, der an heilsgeschichtlichem Schwergewicht und in seinem supranaturalistischen Anspruch nicht mehr überboten werden kann." Indem Trillhaas überkommene Theorie und gegenwärtige Praxis zusammenbringt, entsteht sein Urteil: „Die reale Predigt vermag sich in diesem gesteigerten Predigtbegriff nicht mehr wiederzuerkennen." Trillhaas fordert deshalb als Voraussetzung einer Homiletik, die das Predigen ermöglichen soll, eine „Ermäßigung des Predigtbegriffes". 33 Kritik am Anspruch der dogmatischen Predigtlehre hat auch Ernst Lange in ähnlicher Weise angemeldet. Er zeigt, wie der dogmatische Anspruch seine Geltung über die Predigt hinaus auf alle Redeformen der Kirche ausweitet. Das ganze Handeln des Pfarrers, ja der Kirche wird an einem und demselben dogmatischen Predigtbegriff gemessen und dadurch sowohl nivelliert als auch „überlastet". 34 Lange faßt den Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Predigtkrise und der traditionellen dogmatischen Predigttheorie in die Frage: „Ist die Behauptung vom Bedeutungsschwund der Sonntagspredigt nicht viel mehr an diesem Predigtanspruch als an der kirchlichen Wirklichkeit orientiert?" 35 Das homiletische Interesse an der Predigtpraxis, an der „wirkliche(n) Predigt" 36 führt zunächst zu einer Pluralisiérung der homiletischen Ansätze. Das Feld der homiletischen Theorie ist unübersichtlich geworden. Eine 31
G. Wingren, aaO, S. 77. G. Wingren, aaO, S. 89. 33 W. Trillhaas, aaO, S. 5f. — Ähnliche Forderungen erheben D. Rössler, der in diesem Zusammenhang eine „schwärmerische Übersteigerung des Predigtbegriffes" konstatiert (Das Problem der Homiletik. Thpr 1, 1966, S. 1 4 - 2 8 ; S. 21), und auch H.-D. Bastian, der die Ansicht vertritt, es müsse „der Begriff Predigt getötet werden in seinem mythologischen Anspruch" (Predigtstudien, Beiheft 1, S. 68). — Vgl. auch W. Jetter: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer, aaO, S. 213. 34 E. Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit (In: Predigtstudien, Beiheft 1, S. 11—46), S. 14. — D. Rössler schreibt dazu: „Der Pfarrer, der sich bemüht, seine Predigtarbeit auf der Grundlage dieser Homiletik zu tun, gerät in eine kaum erträgliche Lage. In jeder Predigt, Sonntag für Sonntag, soll der Prediger das Höchste und Letzte, die Offenbarung, das Heilsgeschehen präsentieren" (Rössler, aaO, S. 21). 35 E. Lange, aaO, S. 14. 36 So lautet der Titel des oben genannten Aufsatzes von W. Trillhaas (vgl. oben, Anm. 32
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Reihe von neuen Denkansätzen und eine Fülle praktisch-theologischer Literatur haben das Spektrum der Homiletik so weit aufgefächert, daß ein einheitliches und allgemein anerkanntes Modell homiletischer Theorie nicht mehr zu erkennen ist. Die bisher gültige Predigtlehre, deren Sinnhaftigkeit zugleich in ihrer Geschlossenheit und in der allgemeinen Anerkennung durch alle theologischen Disziplinen lag — diese dogmatisch geprägte Predigtlehre erscheint nun als eine homiletische Position unter anderen, als eine Richtung innerhalb der homiletischen Theoriebildung, die freilich nach wie vor durch die Konsequenz ihres Ansatzes und die Logik ihrer Gestaltung beeindruckt. Überblickt man die Neuansätze in der gegenwärtigen Homiletik, so fällt es schwer, eine ebenso geschlossene und fertige Predigttheorie zu entdekken. Die Homiletik befindet sich gegenwärtig offenbar im Stadium eines Entwicklungsprozesses, der erst die Konturen neuer homiletischer Entwürfe erkennen läßt. Und es scheint fraglich, ob sich die Predigtlehre bald wieder so einheitlich darstellen wird wie in den vergangenen Jahrzehnten. Denn das homiletische Interesse scheint sich gegenwärtig mehr der kritischen Bearbeitung der verschiedensten Aspekte der Predigtarbeit als der Konzeption neuer theologischer Entwürfe zuzuwenden. Die Komplexität der gegenwärtigen Homiletik kommt aber nicht nur in den verschiedenartigen theoretischen Ansätzen der Predigtlehre zum Ausdruck. Sie kennzeichnet vor allem auch die Methode der praktischen Neuansätze auf dem Gebiet der Predigttheorie. War die Homiletik bisher vorwiegend von exegetischen Methoden und dogmatischen Fragestellungen geprägt, so bringt die praktische Theologie nun eine Reihe von Perspektiven und Aspekten der Predigt zur Geltung, die eine Pluralisierung der homiletischen Theorie intendieren. Soziologie und Psychologie, Rhetorik und Kybernetik, Kommunikations- und Rezipientenforschung machen die Predigtpraxis zum Objekt einer komplexen wissenschaftlichen Arbeit 37 . Zur Anwendung soziologischer Methoden in der Praktischen Theologie vgl. R. Köster: Die Kirchentreuen. Erfahrungen und Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen Kirchengemeinde, 1 9 5 9 ; . J . M. Lohse: Kirche ohne Kontakte?, 1967; I. Peter-Habermann: Kirchgänger-Image und Kirchgangsfrequenz, 1967. — Zur Kritik des kirchensoziologischen Forschungs-Ansatzes vgl. J . Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, 1964; und ders.: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II, 1969. 37
Den Versuch, Fragestellungen und Erkenntnisse der Kybernetik für die Praktische Theologie fruchtbar zu machen, unternimmt vor allem H.-D. Bastian. Außerdem seien genannt das Themaheft „Kybernetik und Theologie", WiuPr 56, 1967, Heft 4 und EvTh 28, 1968, Heft 7. Mit dem Problem „Homiletik und Rhetorik" beschäftigt sich M. Josuttis (WiuPr 57, 1968, S. 51 Iff.). Schließlich behandelt H. Breit: „Die Predigt im Blickfeld der Rezipientenforschung" (In: J . Roloff, Hrsg.: Die Predigt als Kommunikation, 1972, S. 2 8 - 4 3 ) .
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Die praktische Theologie ist innerhalb des Systems der Theologie selbständiger geworden. Sie hat in der Predigt einen ihr eigenen Gegenstand erkannt und die sonntägliche Kanzelrede geradezu zum Objekt einer vielfältigen homiletischen Forschungsarbeit erhoben. Im traditionellen Modell der Predigtlehre war der praktischen Theologie nur eine bescheidene Rolle zugefallen. Sie sollte die Ergebnisse des theologischen Denkprozesses einsammeln und in praktische Regeln kleiden. Am Prozeß des schöpferischen Denkens war sie weniger beteiligt als die anderen theologischen Disziplinen. Sie wurde — wie die praktisch-theologische Literatur ihre Stellung im theologischen Wissenschaftssystem heute mit abfälligem Akzent gelegentlich bezeichnet — zur Anwendungswissenschaft 38 . Das emanzipatorische Interesse der praktischen Theologie gilt nun aber nicht in erster Linie ihrer eigenen Aufwertung im Zusammenspiel der theologischen Disziplinen. In der praktischen Theologie, wo theologische Theorie und Berufspraxis des Pfarrers unmittelbar zusammentreffen, wurde vielmehr die Funktion der kirchlichen Praxis für die theologische Theorie neu bestimmt. Die kirchliche Praxis bekam ein eigenes Gewicht. Und die praktische Theologie wurde in der Methodendiskussion der theologischen Disziplinen zum Anwalt der Praxis gegenüber der Theorie. Die kirchliche Praxis sollte nicht länger lediglich „Anwendung des Gelernten" 39 sein, sondern der Theologie als eine eigenständige geschichtliche Größe kritisch gegenübergestellt werden. Unter dem Titel einer „empirisch-kritischen" Theologie 40 verdichtete sich das praktische Interesse der Theologen geleDie Berücksichtigung der komplexen Bedingungen der homiletischen Praxis in der Predigttheorie fordert auch J. Konrad, wenn er über die Predigt schreibt: „Gewinnen ihre Aussagen aller Verflüchtigung ins Allgemeine, Unverbindliche gegenüber das Maß von zugreifender Konkretheit, in dem gerade diese Gemeinde und ihre Glieder in ihrer psychologischen und soziologischen Struktur sich betroffen und als Gemeinde Jesu Christi bestimmt sehen kann? Auf die situationsgerechte Verklammerung kommt es an, in der die empirische Gemeinde unter dem ihr begegnenden Wort sich selbst im .Credo ecclesiam' und den damit gesetzten Aussagen des III. Artikels verstehen und zu Christus bekennen kann." Q. Konrad: Die evangelische Predigt, 1963, S. 496). 38 W. Herrmann: Mündigkeit, Vernunft und die Theologie (In: Reform der theologischen Ausbildung II, 1968, S. 5 2 - 7 5 ) , S. 60. - Vgl. auch B. Päschke, aaO, S. 3ff. G. Otto schreibt in seiner programmatischen Einführung im ersten Heft der Thpr, 1966, S. 1: es zeige sich gegenwärtig, „daß viele herkömmliche Denkmodelle der Überprüfung bedürfen, vor allem auch das Verhältnis von Theorie und Praxis. Wissenschaftliche Praktische Theologie wird sich daran bewähren müssen, daß sie den notorischen Widerspruch von Theorie und Praxis aufhebt, eine bloße .Anwendung' exegetischer Erkenntnisse in Predigt, Unterricht und Seelsorge überholt und das Ineinander von Reflexion und Handeln deutlich macht." 39 W. Herrmann, aaO, S. 60. 40 W. Herrmann, aaO, S. 56ff. — Vgl. dazu W. Herrmann/G. Lautner: Theologiestudium, 1965, vor allem S. 86ff.: „Die Praktische Theologie ist empirisch-systematische
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gentlich auch zu einem theologischen Entwurf, der nicht von der „Einheit von Theorie und praktisch-kritischem H a n d e l n " ausgeht 4 1 , sondern diese Einheit durch kritische Vermittlung zwischen Theorie und Praxis erst herstellen m ö c h t e . In dem Bewußtsein, auf diesem Wege ein „realistis c h e ^ ) " Modell theologischer Theorie entwickeln zu können, geht das praktisch-theologische Interesse „von der Praxis, von Erfahrung und Wirklichkeit aus und kritisiert diese tatsächliche Praxis zugunsten einer besser e n " . 4 2 In diesem methodischen E n t w u r f spiegelt sich der Wandel des praktisch-theologischen Interesses wider, der auf verschiedenen Gebieten der praktischen Theologie — so auch in der Religionspädagogik — zu einer „empirischen W e n d u n g " führte. 4 3 Die gegenwärtigen Neuansätze in der Homiletik sind durch eine größere Selbständigkeit der praktischen Theologie im Zusammenhang des homiletischen Denkens gekennzeichnet. Sie wenden ihr Interesse vorwiegend den praktischen Fragen der Predigtarbeit 4 4 zu, untersuchen die Predigtpraxis mit den verschiedensten Methoden und messen die theoretischen Predigtbegriffe und -definitionen an der Wirklichkeit der sonntäglichen Predigt. So k o m p l e x diese neuen Ansätze des homiletischen Denkens und Arbeitens sich gestalten, sie entfalten sich d o c h auf dem Hintergrund eines homiletischen Situationsbewußtseins, das beinahe allgemeingültig genannt werden kann. Die kirchliche Predigt scheint sich in einer Krise zu befinden 4 5 . Ihr „ F u n k t i o n s v e r l u s t " 4 6 und „ B e d e u t u n g s s c h w u n d " 4 7
Wissenschaft ζ. B. als Kirchensoziologie, Kirchenpsychologie, Kirchenpädagogik, wobei sie die zugrundeliegenden kirchenfreien Wissenschaften methodisch verdoppelt, aber vom Gegenstand her spezialisiert." (aaO, S. 91) Freilich ist hier ein grundsätzliches, ein systematisch-theologisches Problem gestellt, nämlich das Verhältnis von Theologie und empirischer Wissenschaft, das G. Ebeling etwa, bezogen auf das Thema Predigt, eindeutig so entscheidet: „Es soll vor allem nicht übersehen sein, daß sich das Eigentliche am Predigtgeschehen der Kontrolle und Statistik entzieht." (ders.: Das Wesen des christlichen Glaubens, 1959, S. 9). 4 1 W. Herrmann: Mündigkeit, Vernunft und die Theologie, aaO, S. 61. 4 2 W. Herrmann, aaO, S. 60. 4 3 Diese methodische Umorientierung im Gebiet der Religionspädagogik beschreibt zutreffend K. Wegenast: Die empirische Wendung in der Religionspädagogik, EvErz 20, 1968, S. 1 1 1 - 1 2 5 (Jetzt in: ders.: Glaube - Schule - Wirklichkeit, 1970, S. 4 1 - 5 8 ) . 4 4 E. Lange beginnt den zweiten Abschnitt „Funktion und Struktur des homiletischen Aktes" (Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, aaO, S. 19—32) seines homiletischen Programms mit der Abgrenzung: „Zu fragen ist in diesem Zusammenhang nicht nach der Predigt als praedicatio verbi divini, als Ursprung der Kirche, nach ihrem Wesen und ihrer Verheißung, sondern nach dem konkreten homiletischen Akt, nach der wöchentlichen Predigtaufgabe und ihrer Lösung." (aaO, S. 19). 4 5 Vgl. außer den oben, in Anm. 1 zur Predigtkrise genannten Äußerungen auch das Urteil von J . Konrad: „Die vielzitierte .Predigtnot' ist nicht geringer, sondern größer geworden." (Predigten unserer Zeit. ThLZ 84, 1959, S. 3 2 1 - 3 3 0 ; S. 321) - Der Eindruck einer homiletischen Krise entsteht offenbar auch innerhalb der kirchlichen 22
scheint m i t einer „Sprachlähmung" 4 8 der Kirche z u s a m m e n z u h ä n g e n , die in ein „privilegierte(s) G e t t o " 4 9 geraten u n d in der die Predigt eine „institutionell gesicherte Belanglosigkeit" 5 0 g e w o r d e n ist. D i e s e Eindrücke bedürfen kaum einer genaueren Darstellung oder Begründung. Sie ließen sich aus d e m Umkreis neuerer homiletischer Literatur zu einer u m f a s s e n d e n A n a l y s e der Situation der Kirche in der Welt vervollständigen. Eine solche A n a l y s e k ö n n t e gerade am Beispiel der Predigt die „Krise" verdeutlichen, in der sich die Kirche gegenwärtig zu b e f i n d e n m e i n t . T r o t z aller t h e o l o g i s c h e n D i f f e r e n z i e r u n g e n ist es an Praxis. So schreibt E. Wilm etwa: „Ich bin davon überzeugt, daß die Predigt oder Verkündigung des Wortes Gottes und die Darreichung der Sakramente die Mitte unseres Dienstes, ja die Mitte der Kirche überhaupt ist. Aber ich bin mir ebenso darüber klar, daß wir uns mit unserer Verkündigung in einer entscheidenden Krise befinden." (Ders.: Das göttliche Wort, das wir zu predigen haben. Wegweisung und Zuspruch an die Amtsbrüder. In: Zeitwende 40, 1969, S. 9 4 - 9 8 ; S. 94) M. Josuttis beginnt sein Resümee der Analyse von über 900 Predigten, Andachten und Bibelarbeiten mit dem Satz: „Diese Schrift ist entstanden aus dem Ärger und der Enttäuschung des Predigthörers wie aus der Not und der Verlegenheit des Predigers." (Ders.: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 1966, S. 9) — H. Diem erinnert allerdings mit Recht daran, daß die homiletische Krise nicht nur eine praktische Predigtnot darstellt, sondern vor allem auch ein theologisches Problem: „Man redet heute soviel von der ,Not der Predigt'. All diese Reden halte ich für unernsthaft und indiskutabel, solange man diese Not nicht sieht, die daraus entsteht, daß der Pfarrer sich über die Vollmacht seines Redens nicht im klaren ist." (Ders.: Der Theologe zwischen Text und Predigt; in: G. Hummel: Aufgabe der Predigt, 1971, S. 285). 46
W. Jetter: Was wird aus der Kirche?, 1968, S. 177. - Vgl. auch W. Jetter: Die Predigt als Institution und Instrument (In: Herausforderung durch die Zeit, Fs für E. Breitsohl, 1970, S. 3 8 - 6 2 ) , wo Jetter im Hinblick auf „Soll und Haben" der Predigt zeigt, „wie groß ihr tatsächlicher Funktionsverlust geworden ist" (aaO, S. 51). Und aaO, S. 39 schreibt Jetter: „Ihre regelmäßige institutionelle Einordnung bestimmte und begrenzte in zunehmendem Maß sowohl ihre Gestaltungs- wie auch ihre Wirkungsmöglichkeiten. In aller Regel ist sie zu einer Rubrik in der gottesdienstlichen Versammlung geworden." 47 E. Lange, aaO, S. 14. — Ähnlich urteilt H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, aaO, S. 62 über die Situation der Predigt: „Der schleichende und auch galoppierende Schwund ihrer Wirkung ist nicht erst seit gestern aktuell." 48 W. Jetter: Wem predigen wir?, 1964, S. 80. - In Ubereinstimmung mit W. Jetter fragt M. Mezger (Verkündigung heute, 1966, S. 24), ob die Kirche überhaupt noch verständlich sei. „Es wird häufig in Abrede gestellt, durch Klagen und Vorwürfe: was die Kirche zu sagen habe, sei unverständlich, sei langweilig, am Ende sogar nichtssagend. Das wird nicht nur von denen vorgebracht, die zur Verkündigung der Kirche kein Verhältnis haben; es wird in gleicher Weise von denen gesagt, die zur Kirche gehören und ihre Verkündigung hören wollen." 49 W. Jetter: Was wird aus der Kirche?, S. 6. 50 G. Ebeling: Das Wesen des christlichen Glaubens, 1959, S. 9. — Ebelings Sorge teilt auch W. Trillhaas (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 181): „Wie wenig greift die Predigt die Menschen an, wie wenig gestaltet sie die Gemeinden um!" und R. Bohren in dem Kapitel „Verlegenheiten" seiner Predigtlehre (§ 2, S. 28ff.). 23
diesem Punkt in der gegenwärtigen Homiletik offenbar zu einer Übereinstimmung gekommen, die Dietrich Rössler als ,,so etwas wie einen negativen Konsensus' " 5 1 bezeichnet. Die kritische Beurteilung der homiletischen Situation und der entschiedene Wille, ihr zu begegnen, kennzeichnet die verschiedenen homiletischen Entwürfe der Gegenwart. War die traditionelle Predigtlehre durch die allgemeine Gültigkeit exegetischer und dogmatischer Erkenntnisse geeint, so bildet nun die Krise der Predigt den gemeinsamen Nenner der gegenwärtigen Homiletik. Die Verbindung dieser negativen Situationsanalyse mit der praktischen Tendenz ergibt nicht nur die charakteristische Bedingungskonstellation gegenwärtiger homiletischer Theoriebildung. Sie bildet auch ihr eigentümliches Problem. Die „Resignation vieler Pfarrer und Prediger hinsichtlich ihrer zentralen Aufgabe" 5 2 zu überwinden, muß das Ziel jeder homiletischen Arbeit sein. Diesem gemeinsamen Interesse gelten sowohl die praktischen als auch die theoretischen Neuansätze in der gegenwärtigen Homiletik.
II. Ansätze zu einer praktischen Predigttheorie Das Interesse an der Praxis der Predigt ist das gemeinsame Motiv der differenzierten Homiletik der Gegenwart. Die Predigttheorie definiert nicht mehr vorwiegend dogmatisch 53 , sondern sie macht vor allem auch die era pirischen Gegebenheiten der Sonntagspredigt zu einem zentralen GegenD. Rössler in der Einleitung zum Beiheft 1 der Predigtstudien, S. 9. D. Rössler, ebd. 5 3 Als Beispiele für die enge Verbindung von Dogmatik und Homiletik seien außer Barths homiletischen Arbeiten (vgl. oben, Anm. 4) genannt: G. Wingren: Die Predigt, 2. Aufl. 1959 (vgl. das Urteil von W. Trillhaas über dieses Werk: in: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 5f.) und H. Schreiner: Die Verkündigung des Wortes Gottes, 5. Aufl. 1949 sowie L. Fendt: Homiletik, 1949; Schreiner und Fendt leiten beide die Homiletik konsequent aus einer systematisch-theologischen Theorie der Verkündigung ab. Bezeichnend für dieses homiletische Theorieverständnis ist Barths Prämisse: „Der Begriff der Predigt kann nicht auf Grund irgendwelcher Erfahrungen festgelegt werden, sondern er ist ein theologischer Begriff, der im Glauben geschieht, der nur hinweisen kann auf die göttliche Wirklichkeit." (K. Barth: Homiletik, S. 32) Die genannten Predigtlehren folgen nicht nur dieser Prämisse, sie nehmen die homiletische Denkstruktur im ganzen auf, wie sie in den Protokollen aus Barths homiletischen Seminaren der Jahre 1932 und 1933 (K. Barth: Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt. Hrsg. von G. Seyfferth, 1966) deutlich wird: Barth entfaltet seine 51 52
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stand des homiletischen Denkens. Die homiletische Theorie untersucht das Kommunikationsfeld der Predigt54, die soziale Struktur der Hörer 55 , die Funktion der kirchlichen Rede S6 , sie beschreibt die Predigt aus ihren vielschichtigen Beziehungen, und sie entdeckt dabei die komplexe Gestalt der Predigtlehre im Rahmen der Dreigliederung von prinzipieller, materialer und formaler Homiletik. Er bestimmt zunächst „das Wesen der Predigt" und definiert sie dogmatisch (Barth, aaO, S. 30). Er stellt sodann neun „Kriterien der Predigt" auf (aaO, S. 3 2 69: „Offenbarungsmäßigkeit" — „Kirchlichkeit" — „Bekenntnismäßigkeit" — „Amtsmäßigkeit" — „Vorläufigkeit" — „Biblizität" — „Originalität" — „Gemeindemäßigkeit" — „Geistlichkeit"); und schließlich beschreibt er „die eigentliche Vorbereitung der Predigt" (aaO, S. 73ff.). In allen drei Teilen der Homiletik wird die dogmatische Predigtdefinitio η nach den verschiedenen Seiten der Predigtarbeit hin entfaltet. Es wird konsequent deduziert. Der enge Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Homiletik und Barths Ansatz kommt am deutlichsten in der Predigttheorie von W. Trillhaas zum Ausdruck, der auch in der 5. Aufl. seiner „Evangelische(n) Predigtlehre" (1964) formal und material Barth folgt. Z.T. nimmt Trillhaas Barths homiletische Kriterien wörtlich auf. (Vgl. dazu unten den Abschnitt „Das Problem der Vermittlung von prinzipieller und praktischer Homiletik"). 54 An neueren Veröffentlichungen zum homiletischen Kommunikationsproblem seien genannt: H.-E. Bahr: Verkündigung als Information. Zur öffentlichen Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft, 1968; P. Cornehl/H.-E. Bahr: Gottesdienst und Öffentlichkeit. Zur Theorie und Didaktik neuer Kommunikation, 1970; J . Roloff (Hrsg.): Die Predigt als Kommunikation, 1972; dem Ansatz H.-D. Bastians (Verfremdung und Verkündigung, 1965 und ders.: Problemanzeigen einer kybernetischen Theologie, EvTh 28, 1968, S. 3 3 4 - 3 4 4 ) folgt der Aufsatz des kath. Theologen J . Kopperschmidt: Kommunikationsprobleme der Predigt (In: G. Biemer, Hrsg.: Die Fremdsprache der Predigt. Kommunikationsbarrieren der religiösen Mitteilung, 1970, S. 30— 57). 55 Mit dem Hörer der Predigt beschäftigen sich in ihren homiletischen Arbeiten ausführlich: W. Jetter: Wem predigen wir? Notwendige Fragen an Prediger und Hörer, 1964; ders.: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer, WiuPr 56, 1967, S. 2 1 2 - 2 2 8 . Jetter stellt „die beinahe vergessene Frage nach dem Hörer, dem wir predigen." (Wem predigen wir?, S. 5) R. Bohren widmet dem Hörer den fünften Teil seiner Predigtlehre (S. 443—553). Ihm gelingt es, den Hörer als Faktor innerhalb einer theologischen Homiletik zur Geltung zu bringen. Bohren beruft sich auf E. Thurneysen (Bohren, Predigtlehre, S. 444ff.) und setzt sich kritisch mit E. Lange auseinander, dem Bohren vorhält: „Der Hörer wird zum Gesetz der Predigt, indem er ihr Thema wird" (aaO, S. 451). Bohren weist deshalb soziologischen und psychologischen Fragestellungen im Zusammenhang von Predigt und Hörer eine theologisch eindeutig begrenzte Rolle zu: „Alles soziologische und psychologische Bedenken der Hörersituation führt in die Irre, wenn nicht die Gnadenwahl zum Orientierungspunkt wird." (aaO, S. 467. Eine ähnliche Position nimmt M. Josuttis in seinem Literaturbericht: Die Bedeutung der Kirchensoziologie für die Theologie (VuF 1/1967, S. 5 8 - 9 4 ) ein. Vgl. schließlich noch Η. A. Oelker: Der Hörer der Predigt (MPTh 53, 1964, S. 4 6 5 - 4 7 4 ) . 56
E. Lange beschäftigt sich im Beiheft 1 der Predigtstudien vor allem mit „Funktion und Struktur des homiletischen Aktes" (S. 19ff.). Er sieht die Funktion des homiletischen Aktes in der „Verständigung mit dem Hörer über die gegenwärtige Relevanz der christlichen Überlieferung" (S. 20). — G. Otto geht es in seinen Vorschlägen zur Reform des praktisch-theologischen Studiums (Thpr 6, 1971, S. 13ff.) in dem traditionellen Gebiet der Homiletik darum, daß auch die Wirkungen des Phänomens Predigt
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homiletischen Praxis. Die dogmatische Predigtlehre war durch Einheitlichkeit und Konsequenz ausgezeichnet. Aber sie war gerade wegen ihrer allgemeinen Gültigkeit nicht differenziert genug, um dem ganzen Gebiet der Predigtpraxis gerecht zu werden. „Die eine Predigt, von der die dogmatische Lehre weiß, hat sich ihren einen Hörer geschaffen, und beide verblassen miteinander im Konturlosen." 57 Der praktisch-theologischen Homiletik geht es nun weniger um eine strenge Normierung des Begriffs der Predigt, als vielmehr um eine genaue Erkenntnis der vielfältigen Konturen ihres Erscheinungsbildes. Diese komplexe theoretische Beschäftigung mit der Predigt kommt zunächst in der Sammlung und Typisierung von Predigten der Gegenwart zum Ausdruck. Predigtanthologien werden nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt theologischer Konsistenz, sondern auch unter bestimmten praktischen Kriterien zusammengestellt. So entstehen Querschnitte von situationsbedingten Predigtformen, die den Facettenreichtum der Gegenwartspredigt belegen 58 . Die praktische Predigttheorie erarbeitet sodann Kriterien und Schemata zur Analyse von Predigten. Denn die empirische Predigtpraxis läßt sich nur dann theoretisch beschreiben und bewerten, wenn zu ihrer Beurteilung nicht nur dogmatische, sondern auch praktisch-theologische Kriterien herangezogen werden. Das Verhältnis von dogmatisch-prinzipiellen und prakgeklärt werden. Darum ist eine wichtige Fragestellung für die Materialanalysen „Predigtgeschichte als Wirkungsgeschichte der Predigt" (aaO, S. 18). — Sozialpsychologische Überlegungen über die Wirkung der Predigt stellt H.-D. Schneider an („Unter welchen Voraussetzungen kann Verkündigung Einstellungen ändern?" In: WiuPr 58, 1969, S. 2 4 6 - 2 5 7 ) . 51 W. Jetter: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer, aaO, S. 220. - In „Die Predigt als Institution und Instrument" betont W. Jetter, daß die dogmatische Bearbeitung der Homiletik allein zur Erfassung der komplexen Bedingungen der Predigt nicht ausreicht: „Die Frage, wie es mit den persönlichen Fähigkeiten und den konkreten Tätigkeiten des Amtsträgers im einzelnen bestellt sei, blieb demgegenüber wenn nicht unbeachtet, so doch sekundär. Sie wurde ebenso wie die kaum zugelassene Frage nach den objektiven Möglichkeiten und gesellschaftlichen Wandlungen der öffentlichen Predigtinstitution von der frommen Erwartung vollmächtiger Rede und der Frage nach deren theologischen Bedingungen eher überspielt als erledigt" (Fs für E. Breitsohl, 1970, S. 40f.) — Ähnliche Kritik an bestimmten dogmatischen Definitionen des Predigthörers äußert H. Thielicke in dem Abschnitt „Der Mensch, den es gar nicht gibt" (Ders.: Leiden an der Kirche, 1965, S. 103-113). 58 Charakteristisch für diese Betrachtungsweise der homiletischen Praxis sind die von H. Nitschke herausgegebenen Sammelbände „Worte zur Konfirmation — heute gesagt", 1972; „Worte zur Lage — heute gesagt", 1972; ,Jesus — heute gesagt", 1972; „Auferstehung — heute gesagt", 2. Aufl. 1971; „Worte am Grabe — heute gesagt", 1971; „Worte zur Trauung — heute gesagt", 1971; „Weihnachten — heute gesagt", 1970; „Worte zur Taufe — heute gesagt", 1973.
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tisch-empirischen Gesichtspunkten der Predigtanalyse bildet das Problem eines analytischen Kriteriensystems der Predigt 5 9 . Die praktische Intention der Homiletik führt schließlich zu der Konzeption homiletischer Modelle, zur wissenschaftlichen Konstruktion des Entstehungsprozesses der Predigt 6 0 . Gerade dieses letztgenannte Arbeitsgebiet gegenwärtiger Homiletik kennzeichnet den Wandel der homiletischen Perspektive deutlich. Die Predigt ist nicht mehr vorwiegend ein Gegenstand systematisch-theologischer Reflexion, sondern sie wird zunehmend als Arbeit, als ein Prozeß, als M o m e n t religiöser und kirchlicher Praxis begriffen. Die Homiletik befindet sich „auf der Suche nach einem neuen homiletischen V e r f a h r e n " 6 1 . Die Erarbeitung praktischer Predigtverfahren und -prozesse entfaltet sich vor allem in drei Problemkreisen. Sie wendet sich einmal dem Zusammenhang von T e x t und Predigt zu. Sie stellt sodann das Verhältnis zwischen Hörer und Predigt dar. Und sie konzipiert schließlich aus diesen beiden Mit der Predigtanalyse beschäftigen sich J . Konrad: Die evangelische Predigt, 1963, R. Kliem: Die katholische Predigt. Texte und Analysen, 1967 und W. Uhsadel: Homiletische Kriterien, DtPfrBl 68, 1968, S. 87. Ähnlich wie W. Uhsadel fordert W. Jetter eine „instrumentale Selbstkontrolle" der Predigt: „Kraft der theologischen Einschätzung der Predigt hat man lange Zeit hindurch ihre dogmatische Kontrolle für ausreichend gehalten und ihre instrumentale Selbstkontrolle unterlassen. Bemühungen in dieser Hinsicht unterliegen heute noch nicht selten intransigenten Verdächtigungen; gleichwohl sind sie dringlich. Nur homiletische Überheblichkeit kann denken, die Predigt, durch Intention und Inhalt eine Redegattung eigener Art, sei damit auch unabhängig von den allgemeinen rhetorischen Strukturgesetzen und von der Situationsanfälligkeit und gesellschaftlichen Bedingtheit öffentlichen Redens." (Jetter, Die Predigt als Institution und Instrument, aaO, S. 48f.) Vgl. außerdem W. Born: Kriterien der Predigtanalyse, 1971. 59
6 0 Methodisierungen der Predigtarbeit finden sich bei: E. Lange: Brief an einen Prediger (Predigtstudien III/1, 1968, S. 7—17), wo Lange das Programm der Predigtstudien vorlegt. Charakteristisch für die Auffassung der Predigtvorbereitung, die sich in diesem Programm widerspiegelt, ist die Wahl des Titels Predigtstudien statt der üblichen Begriffe Predigtmeditationen oder PredigtftiV/en; M. Seitz: Zum Problem der sogenannten Predigtmeditationen (In: H. Breit u.a.: Die Predigt zwischen Text und Empirie, 1969, S. 9—21); H. Schröer: Sechs Schritte systematischer Meditation (so die Überschrift des IV. Abschnitts in Schröers Aufsatz: Die Bedeutung der Dogmatik für die Predigtvorbereitung. MPTh 53, 1964, S. 436ff.); ders.: Perspektiven heutiger Predigtmeditation (In: Predigtstudien, Beiheft 1, 1968, S. 5 3 - 6 1 ) ; J . Wolff: Anleitung zur Predigtmeditation, 1955; E. Hirsch: Predigerfibel, 1964, vor allem S. 104ff.; A. Funke: Die Predigtmeditation (GPM 20, 1965/66, S. 332ff.); M. Josuttis: Über den Predigteinfall (EvTh 30, 1970, S. 627ff.); M. Jenny: Rezeption und Produktion in der homiletischen Arbeit (MPTh 55, 1966, S. 175ff.); G. Bauer: Geburt unter Schmerzen. Uber die .menschlichen Faktoren' bei der Predigtarbeit (MPTh 50, 1961, S. Iff.). 6 1 E. Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, aaO, S. 32. — Im Anschluß an Lange formuliert B. Klaus die „homiletische Besinnung" in der Neuauflage der Homiletik von L. Fendt (1970, S. 84ff.).
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homiletischen Grundbeziehungen synthetisch die Predigt als Arbeitsprozeß des Predigers. Die gegenwärtige Predigttheorie bewegt sich damit in dem theoretischen Horizont der Homiletik, den Schleiermacher entwikkelte und den die liberale Homiletik 6 2 wieder zur Geltung brachte. Sie versteht die Predigt als einen komplexen Prozeß, als Synthese der drei homiletischen Grundfaktoren Text, Hörer und Prediger. 1. Der Weg vom Text zur
Predigt
Das Verhältnis von Text und Predigt bildet das Grundproblem der materialen Homiletik der Gegenwart. Zwar wird die konstitutive Bedeutung der exegetischen Arbeit für die Predigtpraxis nirgends bestritten. Die Exegese nimmt in den praktisch-homiletischen Predigthilfen, Predigtmeditationen und Predigtstudien 63 noch immer den breitesten Raum ein. Aber es meldet sich gelegentlich doch ein Unbehagen an der Breite der Exegese im Entstehungsprozeß der Predigt 64 . 62
Schleiermacher stellt die synthetische S t r u k t u r des homiletischen Prozesses in seiner „Theorie der religiösen R e d e " (Die praktische Theologie, WW I 13, 1850, S. 2 0 I f f . ) dar. Der homiletische Akt bildet eine Synthese aus den drei Faktoren Text, Gemeinde und Prediger (aaO, S. 240ff.). Die Predigttheorie der liberalen Theologie knüpft an diesen Ansatz an (vgl. P. Drews: Die Predigt im 19. J a h r h u n d e r t , 1903, S. 59 u n d F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. 69 u n d S. 240f.; zur Kritik der SchleiermacherRezeption in der Homiletik des 19. J a h r h u n d e r t s vgl. auch F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 2, 1906, S. lf.). — Im Rückblick auf das homiletische Werk F. Niebergalls schreibt W. Trillhaas: „Es war ein Bündel von Anliegen, die dann freilich im A u f k o m m e n der dialektischen Theologie plötzlich als unwesentlich und unsachgemäß beiseitegesetzt wurden. Sie sind darum nicht erledigt. Sie drängen sich heute in einer radikalen Zuspitzung wieder in den Vordergrund." (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 26) 63
V o n den verbreiteten praktisch-homiletischen Periodika und Meditations-Sammlungen seien genannt: Die Göttinger Predigtmeditationen, die Predigtstudien, die Calwer Predigthilfen, die Predigthilfen von W. Stählin und das Sammelwerk von G. Eichholz: Herr, tue meine Lippen auf. Eine Besprechung dieser Meditationswerke findet sich bei F. Merkel: Homiletik u n d Predigt (WiuPr 57, 1968, S. 1 9 5 - 2 1 0 ; S. 201ff.). 64 Unbehagen an dem Übergewicht der exegetischen Predigtvorbereitung innerhalb der Göttinger Predigtmeditationen machte sich in einer Umfrage geltend, deren Ergebnisse K. G. Steck im Beiheft 1 der GPM „Der Dienst der Meditation und die Aufgabe der Predigt", 1954, wiedergibt. Kritik an einer zu einseitigen u n d ausschließlichen Textbeziehung der Predigtmeditationen macht M. Mezger geltend: „Wir stehen angesichts der Hilfsmittel zur Predigt weithin in einem eigentümlichen Niemandsland. Exegesen und Meditationen sind zwar, wenn sie solide sind, noch nahe bei dem auszulegenden Text. Sie zeigen aber nicht oder zu wenig konkret, wie sie Predigt werden u n d wie diese Predigt aussieht." (Die Anleitung zur Predigt, ZThK 56, 1959, S. 3 7 7 - 3 9 7 ; S. 378) Ähnlich fordert E. Grässer eine „stärker praxis-bezogene Exegese". Er schreibt: „Ein wichtiges Problem ist — wenn ich recht sehe — die Tatsache, daß der Weg von der Exegese zur Predigt zu selbstverständlich als Einbahnstraße befahren wird. Also so, daß die durch kritische Exegese gewonnenen Textinhalte zu direkt als von unmittelbarer theologischer Bedeutung für die Gegenwart reklamiert werden." (ders.: Von der Exegese zur Predigt. WiuPr 60, 1971, S. 2 7 - 3 9 ; S. 36).
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Willi Marxsen apostrophiert die gegenwärtige praktische Predigtnot in seinem Aufsatz über den „Beitrag der wissenschaftlichen Exegese des Neuen Testaments für die Verkündigung" mit Recht als „exegetische Not" 65 . „Die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Exegese und ihre Not" sind die beiden Seiten des exegetischen Predigtproblems 66 . Dieses Problem wird daran deutlich, daß im Prozeß der Predigtvorbereitung und im Duktus der Predigt selbst oft „zwischen Exegese und Predigtausführung eine unüberbrückte Lücke" klafft 67 . Die praktische Predigttheorie muß den notwendigen, theologisch sachgemäßen „Brückenschlag"68 vom Text zur Predigt leisten. Sie muß zeigen, „daß und wie der Weg vom Text zur Predigt ohne diesen Bruch möglich ist." 69 Auch Heinrich Otts Überlegungen über „die Bedeutung des Studiums der systematischen Theologie für die Ausbildung des Predigers"70 setzen bei der Kluft ein, die die gegenwärtige Predigtpraxis kennzeichnet. Ott stellt die konstitutive Bedeutung der Exegese für die Predigtarbeit heraus und hält es für „theoretisch durchaus möglich und sinnvoll, das Studium der Theologie, die Ausbildung der Prediger, auf die Exegese, auf die Beschäftigung mit der Bibel zu reduzieren." Allerdings „müßte die Exegese dann die Aufgabe der systematischen Theologie mitübernehmen." Denn die Arbeit des Systematikers ist ebenso wie die der historisch-kritischen 65
W. Marxsen: Der Beitrag der wissenschaftlichen Exegese des Neuen Testaments für die Verkündigung, aaO, S. 37. — Zur exegetischen Predigtnot äußern sich auch H. Diem: Warum Textpredigt?, 1939; W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, vor allem S. 17ff. und W. Bernet: Probleme der Predigt (Schweizerische theologische Umschau 29, 1959, S. 36ff. 66 W. Marxsen, aaO, S. 31. 67 W. Marxsen, aaO, S. 33. — Unter Berücksichtigung dieses strukturellen Problems der Predigtvorbereitung konzipiert M. Mezger seine „Anleitung zur Predigt" (ZThK 56, 1959, S. 3 7 7 - 3 9 7 ) . H. Schröer (Die Bedeutung der Dogmatik für die Predigtvorbereitung. MPTh 53, 1964, S. 427—442) spricht von einem .garstigen Graben' „zwischen wissenschaftlichem Studienideal und praktischer Durchführung" (aaO, S. 428), zwischen dem exegetisch Gelernten und der gottesdienstlichen Predigt. 68 W. Marxsen, aaO, S. 53. — Nach J . Konrad (Was darf man von einer Predigthilfe erwarten?, Pastoralbl. 96, 1956, S. 3 8 8 - 3 9 2 ; S. 388) sollen Predigtmeditationen „die Brücke vom Text zur Predigt schlagen, vom exegetischen Befund bis hin zur Predigtgestaltung." — In ähnlichem Sinne überschreibt B. Klaus in der Neuauflage der Homiletik von L. Fendt (1970, S. 89) das Kapitel über die Meditation „Brückenschlag von der einstigen zur jetzigen Situation des Hörers". 69 W. Marxsen, aaO, S. 56. 70 H. Ott: Die Bedeutung des Studiums der systematischen Theologie für die Ausbildung des Predigers (In: Wort und Gemeinde, Fs für E. Thumeysen, 1968, S. 159-170). Ähnlich wie Ott bestimmen das Verhältnis von systematisch-theologischem Denken und homiletischer Arbeit: H. Schröer, aaO und W. Fürst (Die Unentbehrlichkeit dogmatischer Besinnung für die Predigt im Spiegel gegenwärtiger Homiletik. VuF 1/1967, S. 7 - 2 6 ) und auch M. Josuttis (Homiletik und Rhetorik. WiuPr 57, 1968, S. 5 1 1 527; vgl. vor allem S. 520f.).
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Exegeten eine homiletische Aufgabe. Sie ist „für die Tätigkeit und Ausbildung des Predigers unumgänglich und unaufgebbar." 7 1 Wie der exegetischen, so ist es auch der systematischen Theologie nicht nur um die theologische Begründung der Predigt, sondern auch um deren praktische Gestaltung zu tun. Das systematisch-theologische Denken muß sich „letztlich bis in den Stil der Predigt auswirken" 7 2 . Die Diskrepanz von exegetischer und homiletischer Arbeit ist also ein systematisch-theologisches Problem. Es ergibt sich aus der theologischen Bestimmung der Rolle des Predigers. Geht man mit der gesamten neueren Homiletik davon aus, „daß der Prediger ein Zeuge ist, Zeuge für Jesus Christus, Zeuge für das Evangelium", dann genügt die historisch-kritische Exegese der biblischen Texte allein für die Predigtarbeit nicht. Vielmehr bedarf dann „die exegetische Ausbildung einer entsprechenden Transformation". Denn „Zeuge sein, Zeugnis ablegen heißt: für eine Wahrheit einstehen. Und zwar einstehen mit der eigenen Person. Der Zeuge muß sich gleichsam mit seiner Wahrheit identifizieren." 7 3 Um dem Prediger die „Flucht in einen schlechten Objektivismus (zu verstellen, W.S.), der dann sowohl für die Gemeinde wie für den Prediger selbst leicht unverbindlich wirken und werden kann", bedarf es zum Predigen einer systematischtheologischen Denkleistung. Es ist gerade „dieser notwendige Durchgang des Zeugnisses der Wahrheit durch die Existenz des Zeugen, welcher die systematische Besinnung' unvermeidlich macht und damit das Studium der systematischen Theologie zum unabdingbaren Bestandteil der Ausbildung des Predigers werden läßt." 7 4
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H. Ott: Die Bedeutung des Studiums der systematischen Theologie für die Ausbildung des Predigers, aaO, S. 160. 72 H. Ott, aaO, S. 170. — Entsprechend äußert M. Josuttis die Uberzeugung: „Schon der Autbau einer Predigt verrät deren Theologie." (ders.: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, S. 31) Vgl. außerdem G. Ebeling (Wort Gottes und Hermeneutik. In: Wort und Glaube, 1960, S. 3 1 9 - 3 4 8 ) und W. Trillhaas (Was bedeutet homiletische Forschung?, ZZ 10, 1932, S. 5 3 2 - 5 4 0 ) . 73 H. Ott, aaO, S. 160f. — Der Begriff des Zeugen gehört zu den Grundkategorien der Theorie des Predigers. Nach A. Niebergall (Der Prediger als Zeuge, I960, S. 39ff.) ist nicht nur der Prediger, sondern jeder Christ zum Dienst des Zeugen gerufen. Aber die Predigt ist in besonderer Weise Zeugnis, weil durch die Predigt das extra me des Handelns Gottes gewahrt wird. (Vgl. aaO den ganzen II. Abschnitt: „Das evangelische Verständnis von Zeugnis und Zeuge", S. 24ff.) Vgl. auch K. Barth: Der Christ als Zeuge (ThExh 12, 1934) und G. Harbsmeier: Ihr werdet meine Zeugen sein (ThExh NF 8, 1947). Vgl. im übrigen das Kapitel „Predigen und Predigt nach ihrem Verhältnis zum persönlichen Denken und Leben des Predigers" in E. Hirschs Predigerfibel, 1964, S. 39ff. - W. Trillhaas (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 34) schreibt: „Der Prediger ist beteiligt. Wir pflegen das dadurch auszudrücken, daß wir vom Prediger fordern, er solle als Zeuge predigen." 74 H. Ott, aaO, S. 162. — Auch M. Josuttis ist bezüglich der Vorarbeit zur Predigt der Auffassung: „Eine Predigtvorbereitung ohne dogmatische Reflexion ist prinzipiell und
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Die systematische Theologie lehrt den Prediger, „die Wahrheit, die er bezeugt, selber verantworten". Der „Prediger des Evangeliums (kann W. S.), als Zeuge zweiter Hand, die Verantwortung für die Wahrheit nicht auf den Zeugen erster Hand abschieben." 75 Er steht deshalb mit seiner theologischen Predigtarbeit zwischen Text und Hörer. „Ein Prediger des Evangeliums muß von allem Anfang an dazu erzogen werden, daß er sich stets mit der Frage seiner Zeitgenossen, seiner Hörer konfrontiert weiß: ,Was du da sagst, mag wohl in der Bibel stehen. Du kennst das Buch besser als wir. Wie kannst du es aber als unser Zeitgenosse verantworten, uns zu sagen, dies sei wahr?'" 76 In der praktischen Theologie führt das von der exegetischen und systematischen Theologie geschaffene homiletische Problembewußtsein zu einer verstärkten Reflexion über die Predigtmeditation 77 . Die praktisch-theologische Homiletik konstatiert „eine weit verbreitete Unklarheit über das Wesen der sog. Predigtmeditation" 78 und fordert eine Konzentration auf „Wesen und Aufgabe der Predigtmeditation" 79 . Die Präzisierung des homiletischen Aktes der Predigtmeditation scheint nun aber offenbar „einer Quadratur des Zirkels zu gleichen" 80 . Denn einerseits kann auch die Predigtmeditation nichts anderes als intensive Arbeit am biblischen Text darstellen 81 . „Alles Bemühen der Meditation kreist im Grunde um die eine Frage nach der Vergegenwärtigung des Textes." 82 Die Grenze zwischen Exegese faktisch nicht möglich" (Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, S. 27). Nach W. Trillhaas muß die Predigt „theologisch verantwortet werden" (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 33). 75 H. Ott, aaO, S. 163. 76 H. Ott, aaO, S. 165. 77 Vgl. außer der in Anm. 63 und 64 bereits genannten Literatur: E. Fuchs: Was sollst du predigen? Ein Brief (In: Ders.: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, 1965, S. 3 4 5 - 3 4 8 ) und ders.: Zum Predigtentwurf (aaO, S. 3 4 9 - 3 5 1 ) . 78 K. G. Steck: Der Dienst der Meditation und die Aufgabe der Predigt. GPM, Beiheft 1, S. 11. — A. Niebergall unterscheidet zwei Typen von Predigtmeditationen: eine mehr exegetisch orientierte und eine mehr auf den homiletischen Akt bezogene Meditation (Der Prediger als Zeuge, S. 76). O. Haendler (Die Predigt, S. 156) verwendet dieselbe Unterscheidung. Ähnlich auch R. Bohren (Predigtlehre, S. 347ff.) und M. Seitz (Zum Problem der sogenannten Predigtmeditationen. In: H. Breit u.a.: Die Predigt zwischen Text und Empirie, S. 10). 79 K. G. Steck, aaO, S. 18ff. 80 G. Eichholz: Meditatio Scripturae Sacrae (VuF 1941, S. 2 3 3 - 2 4 8 ; S. 240). - So urteilt auch K. G. Steck, aaO, S. 23: „Der Übergang von der Exegese zur Meditation und von dieser zur Predigt ist nicht wirklich fixierbar." 81 H. Diem: Warum Textpredigt?, S. 220. 82 K. G. Steck, aaO, S. 25. - So schon L. Fendt: Homiletik, 1. Aufl. 1949, S. 46. E. Fuchs (Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, 2. Aufl. 1965, S. 351) unterscheidet zwischen einer Meditation I, deren Ziel die Gewinnung des Skopus des Textes darstellt, und einer Meditation II mit der Leitfrage: wie wird der Skopus des Textes gepredigt? Fuchs formuliert das Predigtziel, das in den Meditationsschritten
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und Meditation ist deshalb nicht eindeutig zu fixieren. Andererseits kann sich die systematisch-theologische Textarbeit der Predigtmeditation aber nicht im bloß Technischen erschöpfen. Sie muß „praktische Verarbeitung des exegetisch Erhobenen" 84 sein. Die Predigtarbeit der Meditation hat es mit mehr als nur der „Gestalt der Gliederung", dem „Predigtaufbau" und mit der „Frage nach den Darstellungsmitteln" zu tun 85 . Soll die Kluft zwischen exegetischer und praktischer Predigtarbeit überbrückt werden, dann kann dies nur in einem Denkprozeß geschehen, der Exegese und Verkündigung, Vergangenheit und Gegenwart zusammenschließt. Die Predigtmeditation ist darum ein dezidiert systematisch-theologischer Akt. Sie nimmt eine „Mittelstellung zwischen Exegese und Predigt" ein, und in ihr „entscheidet es sich, ob die Predigt zur Predigt wird" 86 oder ob sie eine homiletische Variante der historisch-kritischen Exegese bleibt. In der Meditation, im Kernstück der Predigtarbeit, konzentriert sich das hermeneutische Problem der Beziehung von Text und Predigt. Die „predigende Kirche" darf sich — wie es Ernst Lange pointiert ausdrückt — nicht damit begnügen, „Texte zünftig auszulegen" 87 . Im Prozeß der Predigtmeditation kommt vielmehr die Person des Predigers und die des Hörers ins Spiel. „In der Meditation, die als Ganze einen Akt systematischer Reflexion darstellt, gibt er sich Rechenschaft darüber, was an Hand des aus der Vergangenheit stammenden Textes der Gegenwart als Wort Gottes weiterzugeben ist. Er wird dabei vielleicht noch einmal die erreicht werden soll, folgendermaßen: „Das Predigtziel wird also sein, daß Sie entscheiden, welche Weggemeinschaft Sie mit Ihren Zuhörern erreichen können, wenn Sie zusammen mit ihnen auf den Text blicken." (aaO, S. 351) Wie Fuchs unterscheidet auch J . Wolff (Anleitung zur Predigtmeditation, 1955) zwischen einer Meditation vom Text her (aaO, S. 3ff.) und einer Meditation auf die Predigt hin (aaO, S. 57ff.). — Nach W. Trillhaas (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 75) ist die Predigt „auf das Wort der Schrift gegründet und muß doch ein eigenes und gegenwärtiges Wort des Predigers sein." W. Fürst faßt Barths Bedenken gegen eine extensive Predigtarbeit zutreffend zusammen: „Er hat allerdings bestritten, daß theologische Arbeit jene Vergegenwärtigung herstellen, daß sie also mehr tun als ihr dienen könne. Jenes Problem hat seine Ehre darin, daß es nur ein dienendes, methodologisches sei, und müsse sie verlieren, wollte man es zu einem eigentlich theologischen mit geistlicher Relevanz erheben." (W. Fürst: Die homiletische Bedeutsamkeit Karl Barths. In: ThExh 104, 1963, S. 4 - 1 9 ; S. 8f.) 84 L. Fendt: Homiletik, S. 46. — Die Notwendigkeit einer spezifisch homiletischen Textarbeit betont auch W. Trillhaas (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 75): „Predigen heißt ja in aller Welt mehr als nur den Text wiederholen. Ich muß ihn auslegen, muß ihn zum Hörer hin überschreiten und muß ihn — um es ganz hart auszudrücken — verlassen." 85 H. Schreiner: Die Verkündigung des Wortes Gottes, 1936, S. 343. 86 M. Seitz: Zum Problem der sogenannten Predigtmeditationen (In: H. Breit u.a.: Die Predigt zwischen Text und Empirie, 1969, S. 9 - 2 1 ; S. 9f.). 87 E. Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit (Predigtstudien, Beiheft 1, S. 23).
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B e d e u t u n g einzelner exegetischer Einsichten für die Predigt durchdenken, er wird Erwägungen über systematische Probleme anstellen, er wird auch die i h m m e h r oder weniger b e k a n n t e G e m e i n d e in seine Überlegungen zur Predigtvorbereitung einbeziehen. U n d er wird schließlich nicht nur darüber n a c h z u d e n k e n haben, w i e die Sprache der Vergangenheit in die Sprache der Gegenwart übersetzt w e r d e n m u ß , sondern auch darüber, w i e die Sprache der Lehre in die Sprache der Verkündigung zu transponieren ist. D i e s e A u f g a b e ist d e s w e g e n so kompliziert, weil es nicht einfach darum geht, für einen vorgegebenen Inhalt eine angemessene F o r m zu finden. Was in diesem Arbeitsgang der M e d i t a t i o n zu g e s c h e h e n hat, kann m a n so formulieren: es geht darum, an der Sprache des T e x t e s in der Sprache der Lehre die Sprache der Verkündigung zu v e r a n t w o r t e n . " 8 8 D i e gegenwärtige H o m i l e t i k entfaltet d e n Prozeß der Predigtmeditation, den „Weg v o m T e x t zur Predigt" 8 9 in d e m t h e o r e t i s c h e n R a h m e n , d e n die H e r m e n e u t i k entfaltet hat 9 0 . D i e s y n t h e t i s c h e Struktur der Predigtarbeit k o m m t in d e n F o r m e l n v o n Wort u n d S i t u a t i o n 9 1 o d e r Verkündi88 M. Josuttis: Homiletik und Rhetorik (MPTh 57, 1968, S. 520). - Ahnlich bestimmen die Beziehung der Systematik zur Predigtarbeit: H. Schröer (Die Bedeutung der Dogmatik für die Predigtvorbereitung. In: MPTh 53, 1964, S. 427ff.) und W. Fürst (Die Unentbehrlichkeit dogmatischer Besinnung für die Predigt im Spiegel gegenwärtiger Homiletik, In: VuF 12, 1967, S. 7ff.). 89 L. Fendt/B. Klaus: Homiletik, 1970, S. 84. - W. Schütz hat diese Metapher zum Titel seines homiletischen Arbeitsbuches gemacht: „Vom Text zur Predigt. Analysen und Modelle", 1968. W. Trillhaas schreibt im § 8 seiner Predigtlehre („Vom Text zur Predigt" aaO, S. 75ff.): „Die Frage nach dem Weg vom Text zur Predigt ist die Mitte der materialen Homiletik. In ihr verschmelzen (sie!) immer die Sachfrage mit der Methodik, hier ist eins unlöslich an das andere gebunden. Die Schriftgemäßheit muß am Text gewonnen werden, sie muß auch . . . im Blick auf den Text nachgeprüft werden." (aaO, S. 75). 90 Zur hermeneutischen Diskussion in der Theologie vgl. G. Ebeling: Artkl. Hermeneutik, RGG, 3. Aufl. III, Sp. 242—262; zur philosophischen Grundlegung der Hermeneutik: H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965.
Zur existentialen Interpretation der biblischen Texte vgl. insbesondere den Aufsatzband von E. Fuchs: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, 2. Aufl. 1965, und darin besonders die beiden homiletischen Arbeiten „Was sollst du predigen?" (aaO, S. 345ff.) und „Zum Predigtentwurf" (aaO, S. 349ff.). Die homiletische Relevanz der hermeneutischen Problematik stellt G. Ebeling in seinem Aufsatz „Wort Gottes und Hermeneutik" (In: ders.: Wort und Glaube, 3. Aufl. 1967, S. 319—348) dar. Dort entfaltet Ebeling die homiletische Beziehung von Text und Predigt systematisch-theologisch (vgl. vor allem aaO, S. 347f.). Diesen Ansatz nimmt E. Jüngel auf: „Was hat die Predigt mit dem Text zu t u n ? " (In: ders.: Predigten, 1968, S. 126—143). In seiner 1. These definiert Jüngel die theologische Hermeneutik homiletisch: „Hermeneutik ist im Räume der Theologie diejenige theologische Funktion, die die Texte des Neuen und deshalb auch des Alten Testaments zur Predigt werden läßt." (aaO, S. 140). 91 W. Jetter (Die Predigt als Institution und Instrument. Fs für E. Breitsohl, S. 44f.) beschreibt entsprechend den homiletischen Akt als „Vermittlung von Tradition und Situation". 33
gung und S i t u a t i o n 9 2 z u m Ausdruck. Termini w i e „Horizontverschmelz u n g " 9 3 u n d „Situationsverwandlung" 9 4 sind s c h o n zu h o m i l e t i s c h e n Grundbegriffen g e w o r d e n . Ernst Lange hat die „ h o m i l e t i s c h e S i t u a t i o n " 9 5 z u m Schlüsselbegriff seiner h o m i l e t i s c h e n K o n z e p t i o n gemacht. U n d Wolfgang Trillhaas entfaltet d e n Prozeß der Predigtmeditation ausdrücklich im A n s c h l u ß an Hans-Georg Gadamers H e r m e n e u t i k 9 6 . In der Evangelischen Predigtlehre v o n Trillhaas gehört die Predigtmeditation zur materialen H o m i l e t i k . Sie b e h a n d e l t zunächst die „ N o t w e n digkeit des T e x t e s " 9 7 , d a n n die „Auslegung des T e x t e s " 9 8 , und sie be92
E. Lange definiert: „Unter homiletischer Situation soll diejenige spezifische Situation des Hörers, bzw. der Hörergruppe verstanden werden, durch die sich die Kirche, eingedenk ihres Auftrags, zur Predigt, das heißt zu einem konkreten, dieser Situation entsprechenden Predigtakt herausgefordert sieht. Und die Aufgabe des homiletischen Aktes ist, von daher gesehen und formal ausgedrückt, die Klärung dieser homiletischen Situation." (Predigtstudien, Beiheft 1, S. 21). — Auch in G. Wingrens systematischtheologisch orientiertem Werk: Die Predigt, 1955, kommt dem Begriff der Situation eine konstitutive Funktion zu. Wingren beginnt sein Buch mit einem Abschnitt über „Die Situation der Predigt"(S. 17ff.); er schreibt: „Zu dem einheitlichen Sinn, den die Bibel auf diese Weise hat, gehört auch ein bestimmter Aspekt auf uns selbst. Dies ist eine einfache Konsequenz des Botschaftscharakters der Bibel." (aaO, S. 90) Wingren erläutert diese homiletische Prämisse: „Eine Untersuchung braucht nichts über die existentielle Situation des Lesers oder Zuhörers vorauszusetzen, aber im Wesen der Botschaft liegt es, daß immer etwas vorausgesetzt werden muß über den, an welchen sich die Anrede richtet." (ebd., Anm. 140) — E. Jüngel überschreibt die drei Abschnitte in dem Anhang zu seinen Predigten (Was hat die Predigt mit dem Text zu tun?, aaO, S. 126-143): „1. Die Situation der Verkündigung" (aaO, S. 127-130) - „2. Die Situation des Textes" (aaO, S. 130—136) — „3. Die Verkündigung der Situation" (aaO, S. 136—139). Vgl. auch J . Konrad: Zum Thema Verkündigung und Situation (In: Fs für G. Dehn, 1957, S. 2 0 5 - 2 2 5 ) . 93 W. Trillhaas nimmt den Terminus von H. G. Gadamer (Vgl. Wahrheit und Methode, 1960, S. 290 und den ganzen Abschnitt S. 2 8 4 - 2 9 0 und auch S. 356f.) in seiner Predigtlehre (5. Aufl. 1964, S. 78ff.) auf. Vgl. auch W. Schütz: Vom Text zur Predigt, 1968, S. 5 I f f . 94 W. Schütz: Vom Text zur Predigt, S. 52. — In dem Abschnitt „Situationsverwandlung" (aaO, S. 52—54) schreibt Schütz: „Wenn schon innerhalb der traditionsgeschichtlichen Forschung eine immer neue Aktualisierung des Kerygmas durch die Herausforderung in einer neuen konkreten Situation sich gezeigt hat, dann steht am Ende dieser Traditionsgeschichte die Aktualisierung, die durch die veränderte Situation von heute gefordert ist. Interpretieren ist nicht einfach wiederholen, sondern etwas neu in einer verwandelten Lage zur Sprache bringen." (aaO, S. 53) E. Hirsch (Predigerfibel, 1964, S. 122) nennt den Prozeß der Meditation „Situationsumwandlung" oder „Situationsübertragung". 95 E. Lange, aaO, S. 2Iff. 96 W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 78ff. - Trillhaas betont selbst: „Was ich hier über das Innewerden des fremden Texthorizontes und über Horizontverschmelzung gesagt habe, steht in engstem Einverständnis mit der großen Hermeneutik von H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode" (aaO, S. 113). 97 W. Trillhaas, aaO, S. 57ff. 98 W. Trillhaas, aaO, S. 66ff. 34
schreibt schließlich den Weg „vom Text zur Predigt" 9 9 . Hier faßt Trillhaas die homiletische Textarbeit in die Paradoxie: „Die Schriftgemäßheit der Predigt muß am Text gewonnen werden. Die Predigt muß diesen Text auch bis zuletzt festhalten und muß ihn doch gleichzeitig ganz überschreiten." Daß die Predigt insofern schriftgemäß ist, als sie unbedingt am Text festhält, „das ist, wie jeder Prediger unmittelbar verspürt, nur die eine Seite der Sache. Das bedrängende Problem beginnt erst im Anschluß an diese Richtigkeiten. Predigen heißt ja in aller Welt mehr als nur den Text wiederholen. Ich muß ihn auslegen, muß ihn zum Hörer hin überschreiten und muß ihn — um es ganz hart auszudrücken — verlassen" 100 . Deshalb muß der Text nicht nur „in seinen spezifischen historischen Voraussetzungen, in seinem .damaligen' Horizont erfaßt werden." Es muß zum „Überschritt über die bloß historische Erklärung des Textes" kommen: „Die Predigt nimmt den Text in unseren Horizont herein." Sie führt — mit einem Wort von Gadamer — zu einer „Horizontverschmelzung" 1 0 1 . Die Verbindung von exegetischer, systematischer und praktischer Theologie kommt nirgends so deutlich zur Geltung wie in der gegenwärtigen homiletischen Reflexion über die Predigtmeditation. Sie kommt auch in dem Programm zum Ausdruck, das Johannes Wolff in seiner „Anleitung zur Predigtmeditation" 1 0 2 entwickelt. Er geht davon aus, daß die biblischen Texte selbst schon Verkündigung, daß sie selbst Predigten sind, die wieder auf Predigt hindrängen. Die Meditation setzt sich daher aus zwei theologischen Arbeitsschritten zusammen. Die meditative Predigtarbeit ist einmal ,.Meditation von der Predigt her" 1 0 3 . „Sie hat die vorliegende Predigt der Heiligen Schrift zu meditieren, d. h. sie hat die Einsicht in die Fülle der 99
W. Trillhaas, aaO, S. 75 ff. W. Trillhaas, aaO, S. 75. — Aus dem homiletischen Grundprinzip der Beziehung von Text und Predigt ergibt sich für W. Jetter (Die Predigt als Institution und Instrument, aaO, S. 44) „die Nützlichkeit und relative Notwendigkeit des Textes für die Predigt wie auch die Unmöglichkeit einer Predigt, die ihren Text nur repetiert, statt ihn zu transformieren." Das Problem des Verhältnisses von Schriftgemäßheit und Zeitbezogenheit behandelt schon die „moderne" Predigtbewegung zu Beginn unseres Jahrhunderts (vgl. vor allem O. Baumgarten: Predigt-Probleme, 1904. Er stellt die Frage: „Wie weit muß sich die Predigt von der Schriftgemäßheit emanzipieren, damit Zeitgemäßheit entstehe?" — aaO, S. 3. Vgl. dazu auch die Überlegungen, die Th. Häring zum Verhältnis von Zeitgemäßem und Ewigkeitsgemäßem angestellt hat: Zeitgemäße Predigt, 1902). Das genannte Problem wird ausführlich behandelt in unserem 2. Kapitel „Die Praxis der .modernen Predigt' " und im 3. Kapitel „Die Theorie der modernen Predigt". 100
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W. Trillhaas, aaO, S. 78. - Vgl. dazu H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 1960, S. 290 und S. 356f. 102 J. Wolff: Anleitung zur Predigtmeditation, 1955. 103 J. Wolff, aaO, S. 3ff. - Auch E. Fuchs unterscheidet Meditation I und II (vgl. ders.: Zum Predigtentwurf. In: ders.: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, S. 3 4 9 - 3 5 1 ) .
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vorliegenden Predigt zu erarbeiten." 1 0 4 Mit diesem analytischen homiletischen Akt verbindet sich dann die mehr konstruktive Meditation 1 0 5 . „Sie hat auf die neu zu erarbeitende Predigt hin zu meditieren, d. h. die von der alten Predigt her gewonnene Fülle fur die neue Predigt zu durchdenken." 1 0 6 Ähnlich trennt Bernhard Klaus in der Neuauflage der Homiletik von Leonhard Fendt 1 0 7 Meditation und Homiletische Besinnung. „In der Meditation sucht der Prediger den aktuellen Bezug des Textes zu sich selber auf", er wendet den Text auf sich an. Und „die so verstandene Anwendung macht den Text, bzw. den Hauptskopus der Perikope .gleichzeitig mit uns' " 1 0 8 . Aber weder die Exegese noch die Meditation ist selbst schon Predigt. „Die wissenschaftliche Exegese des Textes trägt den Prediger nicht aus sich allein zur Predigt hinüber; auch die mittels der Meditation gewonnene .Anwendung' ergibt noch keine Predigt. Der Prediger braucht ein praktikables homiletisches Verfahren rationaler Art, eine Methode, mit deren Hilfe er den Weg vom Text zur Predigt finden kann." 1 0 9 Klaus stellt dieses Verfahren der Predigtarbeit in der Homiletischen Besinnung dar. Im Anschluß an das Schema der Predigtstudien 1 1 0 formuliert Klaus vier homiletische Arbeitsschritte: Erwägungen zum Text und der von ihm vorausgesetzten homiletischen Lage, Erwägungen zur homiletischen Lage heute, Brückenschlag von der einstigen zur jetzigen Situation der Hörer und Erwägungen zur Gestalt der Predigt 111 . Die synthetische Struktur der Predigtarbeit kommt auch in der Homiletik von Otto Haendler zur Geltung. Haendler thematisiert im Anschluß an die tiefenpsychologischen Kategorien von C. G. Jung das Subjekt des Predigers im Zusammenhang der Interpretation von Wirklichkeit und definiert die
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J. Wolff, aaO, S. 7. J. Wolff, aaO, S. 57ff. 106 J. Wolff, aaO, S. 7. — Wolff folgt mit seinem .homiletischen' Verständnis der biblischen Texte den Ergebnissen der Formgeschichte (Vgl. vor allem M. Dibelius: Die Formgeschichte des Evangeliums, 2. Aufl. 1933; dort besonders den Abschnitt „Die Predigt", S. 8 - 3 4 ) . 107 L. Fendt/B. Klaus: Homiletik, 2. Aufl. 1970, neu bearb. von B. Klaus. 108 Fendt/Klaus, aaO, S. 81. 109 Fendt/Klaus, aaO, S. 84. — Diese Forderung wird in neueren praktisch-homiletischen Arbeiten häufig erhoben, so etwa von E. Lange (Predigtstudien, Beiheft 1, S. 32). Dieses Interesse liegt auch dem „Plan für einen Predigtentwurf" von W. Steck zu Grunde (Thpr 5, 1970, S. 2 4 6 - 2 5 8 ) . 110 Vgl. die Darstellung der zwei Arbeitsgänge mit je vier Arbeitsschritten, die den Predigtstudien zu Grunde liegen (Die Erläuterung dieses Schemas findet sich in Predigtstudien III/l, 1968, S. 9 - 1 7 ) . 111 Fendt/Klaus, aaO, S. 85ff. — B. Klaus überschreibt diesen Abschnitt „Die homiletische Besinnung". 105
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Predigt als „Verkündigung der Wirklichkeit Gottes" 1 1 2 . Meditation ist innerhalb seiner Predigttheorie „Verstehen als Begegnung der Ganzheiten Evangelium und Subjekt" 1 1 3 . Die meditative Arbeit „führt den Menschen aus den äußeren Bereichen in die Mitte des Seins und der Wirklichkeit hinein" 1 1 4 . Die Erfahrung von Wirklichkeit ist das Wesen des homiletischen Aktes. „Wenn Predigt nur Wiedergabe objektiver Tatsachen wäre und es für diese Wiedergabe also gleichgültig wäre, wer sie vollzieht, so hätte alle Meditation für die Arbeit an der Predigt keine Bedeutung. Da aber Verkündigung nur durch die innere Verschmelzung der Wahrheit mit dem persönlichen Sein ihres Verkündigers möglich ist, so ist Meditation der inhaltvollste und fruchtbarste Weg zur Predigt." 1 1 5 Gerade indem die Meditation über die Exegese hinausschreitet, bringt sie das Evangelium zum Verstehen. Denn „entscheidend für die Christlichkeit der Predigt ist nicht, daß sie textgemäß ist, sondern daß sie evangeliumsgemäß ist" 1 1 6 . Wie Haendler so behandelt auch Rudolf Bohren 1 1 7 die synthetische Predigtarbeit der Meditation im Kapitel über den Prediger 118 . „Die Meditation ist der Ort, wo die Sprachlosigkeit überwunden und das Wort genommen wird. In der Gegenwart des Geistes kommt das Sprachgeschehen in Gang. — Die Wörter des Textes, in denen das Wort sich gibt, aufnehmend und reflektierend, findet der Meditierende das Wort in seiner Sprache. Das Wort bemächtigt sich des Predigers, der Prediger wird des Wortes mächtig: Das Wort, der Prediger und der Hörer kommen miteinander ins Spiel." 1 1 9 Die Auseinandersetzung zwischen Prediger und Text kann aber nicht auf die Predigtarbeit selbst beschränkt werden. Bohren betont, „daß das Problem der Predigtmeditation nicht erst bei der Predigtarbeit
1 1 2 O. Haendler: Die Predigt, 3. Aufl. I 9 6 0 , S. 3 2 1 . - Vgl. auch den Artkl. „C. G. J u n g " in RGG, 3. Aufl., III, Sp. 1 0 6 4 , von O. Haendler, der mit dem Satz schließt: .Jungs Analyse der psychischen Komponenten der Religion und des religiösen Geschehens und Verhaltens ist hochbedeutsam und steht zur Zeit im Brennpunkt des Interesses." Vgl. auch Haendlers Literatur-Zusammenstellung zu C. G. Jung, (Ebd.). Vgl. außerdem D. Rössler: Die Tiefenpsychologie als theologisches Problem (EvTh 2 1 , 1 9 6 1 , S. 162ff.). 113 O. Haendler: Die Predigt, S. 149. — Haendler unterscheidet von dem speziellen Akt der Predigtvorbereitung die Meditation als einen „anderen, umfassenderen und tiefergreifenden Vorgang." (aaO, S. 156). 1 1 4 O. Haendler, aaO., S. 155. — Literatur zur Meditation findet sich bei Haendler, aaO, S. 156, Anm. 6. 1 1 5 O. Haendler, aaO, S. 185. 1 1 6 O. Haendler, aaO, S. 2 1 3 . 1 1 7 R. Bohren, Predigtlehre, 1 9 7 1 . 1 1 8 R. Bohren, aaO, § 21 „Meditation" (S. 3 4 7 - 3 8 7 ) . 1 1 9 R. Bohren, aaO, S. 3 4 7 . — Die zitierten Sätze sind dem § 21 als Leitsätze vorangestellt.
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anfängt, sondern bereits vorher, bei der persönlichen Meditation des Predigers" 120 . Gerade diese Zuspitzung des Problems der Meditation weist darauf hin, daß der homiletische Prozeß nicht auf seine praktisch-theologischen Konsequenzen eingeengt werden kann. Zwar gehört die Beziehung von Text und Predigt zu den wesentlichen Problemen gegenwärtiger praktischtheologischer Homiletik. Aber die praktische Predigtlehre kann diesen Hauptteil der Predigttheorie nur in ständigem Zusammenhang mit der exegetischen und mit der systematischen Theologie entwickeln. Die gegenwärtige Homiletik entfaltet — wie Hans-Rudolf Müller-Schwefe in seiner Homiletik exemplarisch zeigt 121 — die Konsequenzen der hermeneutischen Diskussion in der Theologie, die für das Problem von Text und Predigt in den klassischen Sätzen von Gerhard Ebeling niedergelegt sind: „Die Predigt als solche ist in der Tat nicht Auslegung des Textes; wobei nun mit Auslegung die Konzentration auf die historische Verstehensaufgabe gemeint ist. Denn diesen Text als Text verstehen heißt, ihn in seiner historischen Gegebenheit als geschehene Verkündigung verstehen. Die Predigt setzt nun allerdings intensive Bemühung um dieses Verstehen des Textes selbst voraus. Wie könnte sie sich sonst auf ihn berufen? Und sie enthält auch je nachdem in größerem oder geringerem Maße explizite Textinterpretation. Aber die Predigt als Predigt ist nicht Auslegung des Textes als geschehener Verkündigung, sondern ist selbst geschehende Verkündigung, und das heißt nun: Die Predigt ist Ausführung des Textes. Sie bringt zur Ausführung, was der Text will. Sie ist Verkündigung dessen, was der Text verkündigt hat. Und damit kehrt sich gewissermaßen der hermeneutische Richtungssinn um. Der in der Auslegung zum Verstehen gekommene Text hilft nun, das zum Verstehen zu bringen, was durch die Predigt zum Verstehen kommen soll — wir können jetzt kurz sagen —: die gegenwärtige Wirklichkeit coram Deo, und das heißt: in ihrer radikalen Zukünftigkeit. So wird der Text durch die Predigt zur hermeneutischen Hilfe im Verstehen gegenwärtiger Erfahrung. Wo das radikal geschieht, geschieht wahres Wort, und das heißt eben: Wort Gottes." 1 2 2 120 R. Bohren, aaO, S. 374. — Bohren unterscheidet also wie O. Haendler (s.o.) zwischen einer allgemeinen Meditation, die als Element der Lebensführung beschreibbar ist, und der speziellen Predigtmeditation als der eigentlichen Vorbereitung des homiletischen Aktes. 121 H.-R. Müller-Schwefe, Bd. II, Die Lehre von der Verkündigung, 1965. Vgl. vor allem S. 121 ff. und 218ff. — Vgl. zu Müller-Schwefes Kritik an der existentialen Interpretation der Bultmann-Schule, die von Äußerungen D. Bonhoeffers her entfaltet wird: aaO, S. 230ff. 122 G. Ebeling: Wort Gottes u n d Hermeneutik (In: ders.: Wort und Glaube, S. 347).
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2. Der Hörer als homiletisches
Problem
Zu den wichtigsten Charakteristika der praktischen Wendung in der neueren Homiletik gehört die Thematisierung des Hörers als eines grundlegenden Faktors im homiletischen Prozeß. Die Homiletik der Gegenwart geht durchweg davon aus, daß der homiletische Grundzusammenhang von Text und Predigt erst dann zutreffend erfaßt wird, wenn die Beziehung von Predigt und Hörer mitreflektiert ist. Rudolf Bohren hat dem Predigthörer in seiner Homiletik einen eigenen Hauptteil gewidmet. Die Beziehung auf den Hörer ist bei Bohren konstitutiv für die Predigt. „Predigen heißt, einen Hörer haben, mehr noch, wer predigt, predigt an." Und „es hat den Anschein, in der homiletischen Diskussion werde die Fragestellung ,vom Text zur Predigt' allmählich abgelöst durch die Fragestellung ,vom Prediger zum Hörer', genauer ,vom Mund des Predigers zum Ohr des Hörers'." 123 Bohren arbeitet in Anknüpfung an Thurneysen 124 und in Auseinandersetzung mit Lange 125 den dialektischen Zusammenhang der prinzipiellen Freiheit der Predigt vom Hörer und ihrer ebenso grundsätzlichen Beziehung auf den Hörer heraus. „Man kann auch sagen: Predigt, die ihrer Situation gerecht wird, hat sich die Frage zu stellen, ob sie Gott recht sei. Die Rücksichtnahme auf den Hörer muß in neuem Respekt vor Gott gefunden werden, wie ja der Respekt vor Gott die Rücksichtnahme auf den Hörer in Freiheit mit einschließt. Ich versuche, dieses Prozeßgeschehen auf die Formel vom ersten Hörer und vom zweiten Text zu bringen: Die Predigt richtet sich nach ihrem ersten Hörer als dem Mittler zwischen dem Sprecher und den Hörenden. Durch die Mittlerschaft dieses ersten Hörers werden die Hörer zum zweiten Text der Predigt. So erhalten sie Mitbestimmung beim Zustandekommen der Predigt." 126 Die Frage nach dem Hörer war in der Homiletik freilich nie verstummt. „Die Rücksichtnahme auf den Hörer und seine Eigenart muß uns die Frage 123
R. Bohren, aaO, 443. AaO, S. 4 4 3 f f . - Bohren schreibt: „Thurneysen spricht 1921 die Sprache des Expressionismus. Dies ist nicht mehr unsere Sprache. Es wird darum nötig sein, den Rang und die Gültigkeit der damaligen Position hervorzuheben" (aaO, S. 446). 125 R. Bohren versteht E. Langes Predigttheorie als „Gegenposition" zu Thurneysen (Bohren, aaO, S. 449 und S. 449ff.), sieht aber die Möglichkeit und „die Notwendigkeit eines Friedensschlusses" zwischen diesen beiden Predigtkonzeptionen (aaO, S. 453). Dieses Interesse Bohrens an der Vermittlung „einer Homiletik ,νοη oben'" mit einer „Homiletik ,νοη unten' " wird auch deutlich in den Parallel-Fragen Bohrens: „Wird da, wo vom Worte Gottes her gedacht wird, durchgehalten, daß dieses Wort in der Verborgenheit menschlicher Wörter geschieht? Wird da, wo vom Menschen her gedacht wird, durchgehalten, daß es Gottes Wort und nicht menschliche Wörter zu verkündigen gilt?" (Notizen zum Problem des Predigers. In: VuF 12, 1967, S. 2 6 - 3 4 ; S. 28). 124
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R. Bohren, Predigtlehre, S. 454.
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nach dem Wie der Verkündigung groß und wichtig erscheinen lassen" 1 2 7 — so hat Karl Barth die Bedeutung des Hörers für die Predigt beschrieben. Und Wolfgang Trillhaas hält die Homiletik für grundsätzlich „unvollständig", „wenn nicht von Anfang an und im weiteren Verlauf immer wieder die Hörerfrage erwogen wird". Die Frage nach dem Hörer der Predigt gehört in die prinzipielle Homiletik. Denn „die Predigt ist Anrede an Hörer und kein Monolog" 1 2 8 In der neuesten Predigtlehre zählt die Frage nach dem Menschen, dem die Predigt gilt, zu den konstitutiven Elementen der homiletischen Prinzipienlehre. Die prinzipielle Homiletik beginnt sich auf den Hörer zu konzentrieren. Die „homiletische Situation", die das Konzept von Ernst Lange charakterisiert, ist die „spezifische Situation des Hörers" 129 . Der Hörer „soll durch die Predigt davon Zeuge werden, wie Jesus Christus gegenwärtig ,Herr der Situation' ist, d. h., wie der Glaube an Christus des Hörers Situation erhellt, klärt, verändert und mit Verheißung erfüllt. Wo es gelingt, die biblische Überlieferung mit der gegenwärtigen Situation des Hörers zu versprechen', ist dem Predigtauftrag Genüge getan" 1 3 0 . Zur Predigtvorbereitung des Pfarrers gehört deshalb „das Gespräch mit dem Hörer . . . , denn nur durch den Hörer gibt sich ihm die Situation zu erkennen, die seine Predigt herausfordert" 131 . 127 K. Barth: Homiletik, S. 9 2 . - Vgl. auch den § 6 in: K. Barth: Christliche Dogmatik, 1927 „Das Wort Gottes und der Mensch als H ö r e r " u n d Barths Vortrag aus dem J a h r 1935 „Die Gemeindemäßigkeit der Predigt" (EvTh 16, 1956, S. 1 9 4 - 2 0 5 , auf Grund einer stenographischen Nachschrift veröffentlicht). In der dialektischen Theologie wurde die Frage nach dem Hörer der Verkündigung fast ausschließlich im Horizont des Problems der natürlichen Theologie, als Frage nach der Anknüpfung des Wortes Gottes, gestellt. Vgl. zu dieser Frage vor allem die Auseinandersetzung zwischen K. Barth u n d E. Brunner: E. Brunner: Natur und Gnade, 1934; — K. Barth: Nein! Antwort an E. Brunner (ThExh 14, 1934). E Brunner h a t t e das Problem der Anknüpfung bereits in „ G o t t und Mensch", 1930 und in dem 1932 veröffentlichten Aufsatz „Die Frage nach dem Anknüpfungspunkt als Problem der Theologie" (ZZ 1932, S. 505ff.) thematisiert. — Vgl. dazu Ch. Gestrich: Die unbewältigte natürliche Theologie (ZThK 68, 1971, S. 8 2 - 1 2 0 ) . - Vgl. auch W. Trillha¡s (Evangleische Predigtlehre,
5. Aufl. 1964, S. 35): „Mit der Hörerfrage ist aufs engste verknüpft die Frage nach dem A n k n ü p f u n g s p u n k t . " Allerdings ist Trillhaas der Ansicht: „Es ist h e u t e eine vergangene Fragestellung. Der Streit ist überholt, sobald man erkennt, daß die Predigtfrage überhaupt kein erkenntnistheoretisches Problem ist" (aaO, S. 36). 128 W. Trillhaas, aaO, S. 34. — So schreibt auch J . Konrad: ,,Man wird . . . fragen müssen: w o k o m m e n wir, w o die Gemeinde, wo unsere heutige Welt in dem von der Predigt ausgelegten Text zu s t e h e n ? " (Die evangelische Predigt, S. 494). 129 E. Lange, Predigtstudien, Beiheft 1, S. 21. 130 E. Lange, aaO, S. 44. - Vgl. dazu auch E. Hirsch, der in der Predigerfibel (S. 103) schreibt: „Das Wechselverhältnis zwischen Predigt u n d Hörer bleibt in einer unerreichbaren Verborgenheit, die des Predigers Leid und zugleich auch größte Vollmacht und Ehre ist." 131 E. Lange, aaO, S. 41.
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Ihren klassischen Ausdruck hat die Frage nach dem Hörer in der homiletischen Arbeit von Werner Jetter gefunden. „Wem predigen wir? Die Frage mag überraschen. Wir sind es gewohnt, vorab danach zu fragen, was wir predigen sollen, und uns dann Mühe zu geben, wie wir es recht und besser machen können." Die „beinahe vergessene Frage nach dem Hörer, dem wir predigen", nimmt aber weder der „Sachfrage" noch der Methodenfrage der Predigt ihr Gewicht. Sie entsteht gerade aus der Vermittlung dieser beiden homiletischen Aspekte und ist damit sachlich notwendig. Die Frage nach dem Hörer ist eine Grundfrage der Homiletik. „Wir stellen sie um der Sache willen und sind überzeugt, daß sie der Sache wie der Form der Predigt nicht schadet, sondern aufhilft und vielleicht sogar ein wenig den leeren Bänken abhelfen könnte. Dabei geht es uns allerdings um etwas ganz anderes als um einen psychologisch geschickten Umgang des Predigers mit seinen Hörern. Es ist sicher gut, wenn man auch in dieser Hinsicht keine Torheiten begeht. Aber was uns so beunruhigend zu unserer Frage treibt, das ist jenes Wörtlein ,alle', mit dem das Neue Testament sie ganz einhellig beantwortet hat . . . Im Neuen Testament heißt unsere Predigt an klassischer Stelle ,akoe' — zu deutsch: Hör-Ereignis. Bei einem Hörereignis gehört der Hörer mit zur Sache. Gott will, daß das Wort zur Welt kommt. Tun wir alles uns Mögliche, daß das Wort die Menschen findet und heimholt? Wer soll die Predigt hören? Wer hört sie? Wem predigen wir?" 1 3 2 In dem nicht nur methodischen, sondern prinzipiellen Interesse am Hörer wird die Synthese von Evangelium, Prediger und Hörer, die seit Schleiermacher den Horizont der Predigttheorie bestimmt und die in der liberalen Predigttheorie nachdrücklich zur Geltung gebracht wurde 132a , wieder zum Strukturprinzip der Homiletik. Jetter zeigt, wie gerade die homiletische Reflexion über die Beziehung von Text und Predigt den Hörer miteinbeziehen muß. Denn „die Predigt hat dialogischen Charakter" 133 . Und dieser prinzipielle Gesprächscharakter der Predigt kennzeichnet alle Formen homiletischer Praxis. „Das Dialogische an der Predigt meint also eine Denkweise, die ihre verschiedenen gemeindlichen und missionarischen Situationen überwölbt." 134 Die „akoe-Struktur der Predigt" 135 bestimmt deshalb nicht nur das Verhältnis von Predigt und Hörer, sondern auch die Funktion des Predigers im Zusammenhang der homiletischen Faktoren. Er wird „zum Gesprächsmittler, zum Zwischenträger zwischen Text und Hörer" 136 . Der Prediger, der sich in der homiletischen Sprachbemühung um „Partnerschaft" 137 mit dem Hörer bemüht, muß den Hörer ebenso achten wie den 132 132a 133 134 135 137
W. Jetter: Wem predigen wir?, S. 5 f. Vgl. o., Anm. 62. W. Jetter: Die Predigt und ihr Text (MPTh 54, 1965, S. 4 0 6 - 4 5 3 ; S. 430). W. Jetter: Die Predigt und ihr Text, aaO, S. 432. 136 W. Jetter, aaO, S. 446. AaO, S. 433. W. Jetter: Wem predigen wir?, S. 52.
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Text. „Die rechte Sprache der Predigt kann sich in jedem Prediger nur heranbilden aus der Ehrfurcht vor dem überlieferten Bibelwort, unter dem Achthaben aufs Zeitgeschick und in der Achtung vor dem Hörer als Zeitgenossen. Die Achtung vor der Sache und vor dem Hörer wird an der Arbeit ablesbar, von der die Sprache der Predigt zeugt." 1 3 8 Darum gehört zur homiletischen Reflexion, „zum Nachdenken der Theologie die Tuchfühlung mit dem Wahrheitsbemühen, aber auch mit den Illusionen und Existenzlügen aller Menschen mit hinzu" 1 3 9 In der Betonung des dialogischen Charakters der Predigt kommt die Struktur des synthetischen Denkens der Homiletik zur Geltung. „Predigen heißt nicht, auf dem Wort stehen, sondern es in die Zeit kommen lassen, und wenn die Situation nicht mit aufleuchtet, dann predigt man auch im Fortissimo gehäufter christologischer Aussagesätze von blauen Enten." 1 4 0 J e t t e r faßt deshalb die „Predigtaufgabe" in die markante Formel: „Die Predigt soll die Kirche zur Welt bringen." 1 4 1 Man kann den Hörer nicht von seiner Welt getrennt ansprechen. „Der Prediger muß seinen Hörer als einen erwachsenen Weltmenschen behandeln und seine eigenen Worte mit dessen Ohren hören lernen." 1 4 2 Nicht zufällig kehren in einer so strukturierten Homiletik nicht nur die Probleme, sondern auch die Begriffe der liberalen Predigtlehre wieder. Die „ , m o d e r n e ' Bibelwissenschaft" und die ,,,moderne' Welt" sind „jene zwei Mühlsteine sozusagen, die den Prediger heute gelegentlich zu zermahlen drohen" 1 4 3 . Das Problem der Predigt ist mit einer „dogmatischen Vollständigkeit" 1 4 4 nicht zu lösen. Die Predigtaufgabe muß „viel elementarer, voraussetzungsloser wahrgenommen" werden, „wenn christliche Lehre nicht mit einer kirchlichen Ideologie verwechselt werden und nicht nur als alte Botschaft in einer neuen Welt und als Aufenthalt bei bloßen Erinnerungen, sondern als Antrieb zu gegenwärtigen Erneuerungen wirken soll. Denn das Evangelium wird nicht damit verkündigt, daß man eine .religiöse Frage' stellt und sie dogmatisch zu beantworten sucht. Man muß sich mit ihm mitten in die Spannungen des Lebens, auch der gesellschaftlichen Entwicklungen, hineinwagen und es darin jeweils konkret zu artikulieren versuchen." 1 4 5
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W. Jetter, aaO, S. 53 (vgl. S. 86). AaO, S. 21. 140 AaO, S. 35. 141 AaO, S. 30. 142 AaO, S. 46. 143 AaO, S. 28. — In der Predigttheorie der liberalen Theologie wird die Modernität zum homiletischen Prinzip. Vgl. dazu unten, das 2. und 3. Kapitel und vor allem den Abschnitt „Modernität als homiletische Prinzip". 144 W. Jetter: Was wird aus der Kirche?, 1968, S. 118. 145 W. Jetter, aaO, S. 119. — Ähnlich urteilt O. Baumgarten in seinen Predigt-Probleme(n), 1904. 139
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Es gehört zu den Mängeln der gegenwärtigen Predigtpraxis, daß „sehr oft zu viel unverdaute, nicht ausreichend ins Menschliche und Weltliche verwandelte Theologie auf die Kanzel" kommt 1 4 6 . Um die Predigt aus dem Bereich einer „zeit-, räum- und gewichtslos gewordene(n) Verkündigung" 1 4 7 herauszuführen, braucht es „eine bewußte Verweltlichung der Predigt" 1 4 8 . Die „säkulare Thematik" der Predigt darf „freilich nicht bloß als homiletischer Trick gebraucht werden, durch den die Predigt interessanter gemacht werden soll. So kommt selten mehr als eine Pseudoaktualität zustande. Vielmehr muß die Zulassung der säkularen Thematik aus zentralen Gründen erfolgen; dazu nämlich, daß überhaupt mit dem Evangelium aus der Gedanklichkeit und Vergangenheit in die gegenwärtige Wirklichkeit vorgestoßen wird." 1 4 9 Jetter hat die Notwendigkeit und die Sachgemäßheit einer „Predigt für die Menschen" 1 5 0 in der „Begegnung mit dem Vermächtnis des Arbeiterpriesters Henri Perrin" eindrücklich dargestellt 151 . „Das brennendste Problem der Predigt ist der Mensch, der sie nicht hört. Dieser Satz klingt wie ein Gemeinplatz. In Wirklichkeit hätte die Christenheit heute ihren Rubikon überschritten, wenn der Mensch, der die Predigt nicht hört, ihre brennendste Wunde und das Problem Nummer eins ihrer Prediger wäre." 1 5 2 Denn die Predigt kann sich nicht außerhalb der modernen Wirklichkeit definieren, sondern sie muß sich in ihrer Zeit und in ihrer Welt engagieren. „Mancher Prediger scheint noch in Kanaan, und mancher Theologe schon im Himmel zu Hause (zu W. S.) sein: ihre Sprache ist nicht von dieser Welt. Der Glaube will sich als heilsame Wahrheit Gottes in unsrer Existenz zur Geltung bringen, als Gottes Recht für Gottes Geschöpfe. Wie anders soll er den Menschen für Gottes Wahrheit engagieren, als indem er mit dem Menschen des Unglaubens spricht, der den Glauben wie seinen Schatten begleitet und seine Wirklichkeitsinterpretation bestreit e t ? " 1 5 3 Elementare Predigt ist mehr als nur eine kirchliche Institution. Sie ist „Projekt" und Aktion. „Der Weg, den die französischen Arbeiterpriester gingen, hat der Christenheit unsrer Tage das erregendste Exempel elementarer Predigt vor Augen gestellt." 1 5 4 Am Beispiel von Henri Perrin zeigt Jetter, wie sich die Verkündigung in der modernen Welt in Koexistenz 155 , Proexistenz 156 und Kontraexistenz 1 5 7 vollzieht. „Elementare PreW. Jetter, aaO, ebd. AaO, S. 118. 148 AaO, S. 121. 1 4 9 AaO, S. 119. l s 0 AaO, S. 117. 1 5 1 W. Jetter: Elementare Predigt. Begegnung mit dem Vermächtnis des Arbeiterpriesters Henri Perrin (ZThK 59, 1962, S. 3 4 6 - 3 8 8 ) . 1 5 2 W. J e t t e r , aaO, S. 346. 1 5 3 AaO, S. 350. 1 5 4 AaO, S. 3 5 0. 1 5 5 AaO, S. 367. 1 5 6 AaO, S. 3 7 2. 1 5 7 AaO, S. 376. 146
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digt ist Predigt fur Jedermann. Sie kommt aus dem Glauben, der sich vom Wort Christi getragen weiß, dort der Menschwerdung Gottes in der Welt inne wird und ihr an den Menschen dienen möchte. Sie ist das bescheidene und doch leidenschaftliche Bemühen von Menschen, ihrer Zeit frei und brüderlich mit dem Wort zu begegnen und mit dem Unglauben um das Heil der Welt zu wetteifern." 1 5 8 In der Reflexion über eine neue Weise der „Predigt, die den Prediger so enorm engagiert und die den Hörer, sogar den Nichthörer zum vordringlichsten Predigtproblem machen will" 1 5 9 , wird der Mensch der Gegenwart zu einem Prinzip der Homiletik. Die Welt des Hörers und des Predigers, die moderne Wirklichkeit hat mehr als nur methodische Relevanz. Das Evangelium und der moderne Mensch werden zu Grundfaktoren einer Homiletik, die der dialogischen Struktur der Verkündigung nachgeht, einer Predigttheorie, in der die Reflexion der modernen Situation nicht zum Motiv homiletischer Resignation, sondern zum Ausgangspunkt einer engagierten Erneuerung der Predigt wird. In der Beschreibung der dialogischen Struktur der Predigt fließen theoretische und praktische Homiletik zusammen. J e t t e r s These von der „Predigt als Gespräch mit dem H ö r e r " 1 6 0 geht deshalb von einer doppelten Leitfrage aus. Einmal scheint mit dieser Strukturbeschreibung des homiletischen Aktes die Predigt ,,in ihrem Wesen alteriert" zu werden. Zum anderen scheint es sich bei der dialogischen Predigt offenbar um eine „ n e u e Predigtweise" zu handeln, „die der Predigt als ihr Wesen ansinnt, was ihre jahrhundertealte Gestalt aus massiven dogmatischen Gründen gerade ausschließt" 1 6 1 . Die These von der dialogischen Predigt hat zugleich theoretische und praktische Relevanz. Sie muß „in der Predigttheorie und in der Predigtpraxis vertreten" werden 1 6 2 . Die eigentümliche Zwischenstellung zwischen Prinzip und Wirklichkeit der Predigt verleiht nun der dialogischen Predigt ihre besondere Relevanz im homiletischen Prozeß. Der „dialogische Predigtvollzug" kann weder eine AaO, S. 382. AaO, S. 387. 1 6 0 W. Jetter: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer (WiuPr 5 6 , 1967, S. 2 1 2 - 2 2 8 ) . W. Jetter nimmt in seinen homiletischen Arbeiten den Ansatz Schleiermachers wieder auf. Für Schleiermacher entsteht die Predigt aus dem „religiöse(n) Zusammenleben des Geistlichen mit seiner Gemeine" und aus dem „Schriftverkehr desselben" (Schleiermacher, Prakt. Theol., WW I, 13, 1850, S. 243). Schleiermacher schreibt: „Das Verfahren ist seiner Natur nach ein dialogisches; es ist ein Dialog mit seiner Schriftstelle, die er (sc. der Prediger) fragt und die ihm antwortet, und mit seiner Gemeine." (Schleiermacher, aaO, S. 248). — Vgl. dazu auch W. Jetters Aufsatz über den theoretischen Ansatz der Praktischen Theologie: Die Praktische Theologie (ZThK 64, 1967, S. 4 5 1 473). 1 6 1 W. Jetter: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer, aaO, S. 213. 1 6 2 W. Jetter, aaO, S. 222. 158
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rein theoretische Entfaltung von homiletischen Prinzipien noch ein „Problem der Regie und der Veranstaltungen sein." Er ist „ein Problem der Denk- und Redeweise" 163 . 3. Das homiletische
Verfahren
Hatte schon Johannes Wolff in seiner „Anleitung zur Predigtmeditation" ein strukturales Modell der Predigtarbeit entworfen 164 , so eröffnet die Synthese von Textarbeit und Höreranalyse nun die Möglichkeit zur Konzeption eines komplexen homiletischen Verfahrens, das Prinzip und Wirklichkeit der Predigt in gleicher Weise gerecht wird. Dieser homiletische Arbeitsprozeß muß sich einerseits „zwischen dem Prediger und seinem Text in der Exegese" und andererseits „zwischen dem Prediger und seinen Hörern in der Meditation" abspielen 165 . Manfred Seitz 166 methodisiert diese beiden homiletischen Bewegungen. Er stellt die Meditation als „Betrachtung" vor die Exegese und fügt an ihrer Stelle zwischen Exegese und Predigtausarbeitung die Homiletische Reflexion ein. Der Prozeß der Predigtarbeit verläuft dann in vier „Arbeitskreise(n)": „1. Persönliche Betrachtung; 2. Exegetische Arbeit; 3. Homiletische Besinnung; 4. Verkündigende Darlegung." 167 Die exegetische Predigtarbeit verläuft in den Gedankenschritten Intention, Kerygma und Idion 168 . „Dabei ist die Intention für das Predigtziel, das Kerygma für den theologischen Stoff der Predigt und das Idion für die Predigteigenart von Bedeutung." 169 Lag der Nachdruck in der Persönlichen Betrachtung auf dem Prediger und in der Exegese auf dem Text, so wendet sich der dritte Arbeitsschritt, die Homiletische Besinnung, nun dem Hörer zu. „Die Homiletische Besinnung faßt also die Gemeinde von heute ins Auge und bedenkt die Vergegenwärtigung der biblischen Botschaft innerhalb der Fragen, Gedanken und Worte der vorfindlichen Welt." 170 Die Beziehung zwischen Predigt 163
W. Jetter, aaO, S. 226. J · Wolff: Anleitung zur Predigtmeditation, 1955. 165 W. Jetter: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer, aaO, S. 227. - Im Grundsätzlichen stimmt damit die Zielformulierung für die exegetische Vorbereitung der Predigt bei W. Trillhaas überein (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 66): „Das Ziel der Auslegung für die Predigt ist es, den Text als Evangelium zu vernehmen und dazu zu dienen, daß er sich selbst in das Leben der gegenwärtigen Menschen hinein auslegt." 166 M. Seitz: Zum Problem der sogenannten Predigtmeditation (In: H. Breit u.a.: Die Predigt zwischen Text und Empirie, 1969, S. 9—21). Alle hier zusammengefaßten Referate stellen theologische Reflexionen dar, „die auf die Entstehung, den Vollzug und die Ankunft der Predigt eingehen." (H. Breit im Vorwort, aaO, S. 7). 167 M. Seitz, aaO, S. 12. 168 AaO, S. 15. 169 ITO AaO, S. 16. AaO, S. 16f. 164
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und Hörer wird in drei Gedankenschritten entwickelt. In der Analyse der Gemeindesituation wird das Textverständnis der Gemeinde und deren Situation geklärt, in der systematisch-theologischen Reflexion wird die dialogische Bewegung der Predigt einmal vom Hörer zum Text und dann vom Text zum Hörer vollzogen, und in der Predigtinvention wird schließlich Predigtziel, Predigtstoff und Predigteigenart gefunden 1 7 1 . In der Verwirklichung dieses homiletischen Modells wird die „Predigt zum Geschehen für den Hörer" 1 7 2 . Das theoretisch und praktisch schlüssigste Modell eines homiletischen Verfahrens hat Ernst Lange in Zusammenarbeit mit Peter Krusche und Dietrich Rössler entwickelt 1 7 3 . Es wurde nicht zu Unrecht als eine „revolutionäre Umwälzung der Predigttheorie und -praxis" bezeichnet 1 7 4 . Lange geht von den beiden homiletischen Prämissen, von der Textbindung und von der Beziehung auf den Hörer aus. Die Rolle des Predigers bestimmt er als die eines „Interpret(en) und Zeuge(n)". Die Aufgabe der Predigt, die „Klärung der homiletischen Situation" ist daher nichts anderes als „bezeugende Interpretation der biblischen Überlieferung". Predigt als Zeugnis meint „die verantwortliche Aussage über das, was er (der Prediger W.S.) bei seiner Bemühung um das Ver-Sprechen von Verheißungstradition und Situation, bei seiner Predigtarbeit, wahrgenommen hat: die Relevanz der Überlieferung in der und für die homiletische Situation" 1 7 5 . Deshalb verbindet sich in der Predigtarbeit exegetisches und systematisches Denken. Die Homiletik muß davon ausgehen, „daß es die eigentliche Aufgabe der predigenden Kirche ist, nicht Texte zünftig auszulegen, sondern diese Situation zu klären dadurch, daß sie die Relevanz der christlichen Überlieferung für diese Situation und in ihr verständlich macht und bezeugt." 1 7 6 Aber es gilt ebenso als homiletisches Grundprinzip, „daß der Prediger sein Zeugnis nicht anders als in der Interpretation der biblischen Überlieferung gewinnen kann. Denn gerade dies steht ja in Frage: die Relevanz des in dieser Überlieferung ursprünglich und normativ bezeugten Christusglaubens für die homiletische Situation. Und diese Frage hat die Dringlichkeit der Anfechtung, sie zwingt, aufs Wort zu merken." 1 7 7
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AaO, S. 17ff. AaO, S. 21. 173 Predigtstudien, hrsg. von E. Lange in Verbindung mit P. Krusche und D. Rössler 1968ff. - Vgl. Predigtstudien, Beiheft 1 (1968): Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit. Bericht von einer homiletischen Arbeitstagung September 1967 — Esslingen. 174 W. Knevels: Analysen typischer Predigttheorien (DtPfrBl 69, 1969, S. 2 4 4 - 2 4 5 ; S. 244). 175 E. Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit (Predigtstudien, Beih. 1, S. 1 1 - 4 6 ; S. 26). 176 E. Lange, aaO, S. 23. 177 AaO, S. 27. 172
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Diese beiden homiletischen Prämissen bilden auch die Grundlage für Langes praktisches Predigtverfahren. „Predigtarbeit wird von daher erkennbar als ein Prozeßgeschehen zwischen Tradition und Situation, Predigtvorbereitung die Vorbereitung dieses Prozesses, bei dem der Prediger — das unterscheidet die Sonntagspredigt charakteristisch von anderen Kommunikationsbemühungen — beides wird sein müssen: Anwalt der Hörergemeinde in ihrer jeweiligen Lage und Anwalt der Überlieferung in der besonderen Gestalt des T e x t e s . " 1 7 8 Die Analyse der Situation gehört deshalb ebenso zur Predigtvorbereitung wie die Interpretation des Textes. „Text und Situation bilden einen Verstehenszirkel, der im Verlauf der Predigtvorbereitung mehrfach abgeschritten wird." Die historische Textkritik wird durch eine „homiletische Textkritik" ergänzt, „in der Textgestalt wird Relevantes und Irrelevantes, Historisch-Abständiges und Aktuelles, Aktualisierbares unterscheidbar."179 Im Konzept der „Predigtstudien" 1 8 0 , die sich an Langes Predigttheorie orientieren, werden die Predigtüberlegungen von zwei Verfassern bearbeitet, von denen einer die Gedankenschritte ausführt, die sich mehr um die Textinterpretation gruppieren, der andere die Teile des Vorbereitungsprozesses, die mehr der Analyse der durch den Text spezialisierten Hörersituation dienen. Zum ersten Teil der Predigtvorbereitung gehören ein Übersetzungsvergleich, eine Einführung in die Auslegungsgeschichte, Exegetische Erwägungen und als Abschluß dieses Gedankenkreises Notizen zur Predigt. Der Situationsanalyse gelten eine Untersuchung der Hauptbegriffe des Textes in der Alltagssprache, die Systematische Kontrolle der Grundgedanken des Textes und der Predigt und Erwägungen zur homiletischen Situation. Der Predigtentwurf schließt das Verfahren endlich ab 1 8 1 . Der Weg vom Text zur Predigt ist damit als Dialog, als kritische Vermittlung von Text und Situation entfaltet. Zugleich sind in diesem homiletischen Verfahren Theorie und Praxis der Predigtarbeit miteinander struktural verbunden. Gerade die vermittelnde Stellung des homiletischen Verfahrens zwischen homiletischer Theorie und Praxis erhellt die praktische Intention der verschiedenen Formen eines Predigtmodells. „Es muß in der Realität gemeindlichen Lebens hantierbar sein." Und vor allem: „Es muß die Freude am Predigen fördern." 1 8 2 AaO, S. 2 8 . AaO, S. 3 0 . 1 8 0 E. Lange: Brief an einen Prediger (Predigtstudien I I I / l , 1 9 6 8 , S. 7 - 1 7 ) . 1 8 1 E. Lange, aaO, S. 7ff. — Vgl. auch das homiletische Verfahren, das im „Plan für einen Predigtentwurf" von W. Steck vorgelegt wurde (Thpr 5 , 1 9 7 0 , S. 2 4 6 — 2 5 8 ) . 1 8 2 E. Lange, Predigtstudien, Beiheft 1, S. 4 3 . — Vgl. dazu auch den Anfang der Predigtlehre von R . Bohren, wo dieser zunächst als persönlich gemeintes Wort zum Predigen äußert: „Predigen ist schön, es macht Freude." Bezogen auf die Predigtlehre 178
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III. Das Problem der praktischen Predigttheorie
1. Neue homiletische
Methoden
Der Wandel in der gegenwärtigen Homiletik vollzieht sich durchweg in dem Erkenntnishorizont, den alle theologischen Disziplinen gemeinsam erarbeitet haben. Die Intensivierung des praktisch-theologischen Interesses an der Predigt löst die Homiletik keineswegs aus dem exegetischen u n d systematischen Denken. Die praktisch-theologische Homiletik siedelt sich nicht jenseits von Exegese u n d Systematik an, sondern zwischen beiden Disziplinen. Denn das Problem der praktisch-theologischen Homiletik ist die Vermittlung von Exegese u n d systematischer Theologie im Prozeß der Predigtarbeit. Die Methodisierung der Predigtarbeit in homiletischen Verfahren erweist sich als ein Problem von Meditation und Homiletischer Reflexion und somit als eine Grundfrage der systematisch-theologischen Predigtüberlegungen. Es entspricht der praktischen Intention der gegenwärtigen Predigtlehre, daß die praktisch-theologischen Perspektiven der Homiletik zunächst auf die Verbesserung der Predigtpraxis drängen, vielfältige Gesichtspunkte der Predigtarbeit artikulieren, Methoden u n d Verfahren der Predigtvorbereitung konzipieren. Aber der Wandel der homiletischen Perspektive kann sich nicht allein in der Predigtpraxis vollziehen. Er tendiert auch auf Veränderungen in der Predigttheorie hin. Gerade das Interesse am Predigthörer äußert sich einmal in der Forderung nach einer neuen theologischen Gestaltung der Homiletik, die der synthetischen S t r u k t u r des homiletischen Prozesses gerecht wird. Und es verlangt zum andern nach einer methodischen Analyse des Predigthörers, die mit den exegetischen und systematisch-theologischen Methoden allein nicht zu leisten ist. Das praktisch-theologische Interesse an der Predigt führt notwendig auch zu einer Veränderung der Predigttheorie, zur Konzeption einer in methodischer Hinsicht neuen praktischen Homiletik. So allgemein diese Erkenntnis in der gegenwärtigen Homiletik ist, sie bildet doch zugleich ihr methodisches Grundproblem. Denn die praktischtheologischen Perspektiven der Predigt, das Interesse am Hörer und am heißt es dann: „Predigtlehre ist Lehre zur Freude; Anleitung zur Predigt, Anleitung zur Freude; das Predigen soll in die Freude führen!" (Predigtlehre, S. 17). Das Zusammengehören von Predigen und Freude betont Bohren in seiner Predigtlehre immer wieder; vgl. z.B. aaO, S. 240ff. oder 353ff. — Vgl. auch O. Haendler, der in Bezug auf das Predigtzeugnis des Apostels Paulus unter Verweis auf 2. Kor. 6,9f. und auf Apg. 4,13.31; 6,15 formuliert: „Die Freudigkeit des Zeugnisses ist getragen von der Freudigkeit des Lebens im Dienst des Amtes." (Die Predigt, S. 97).
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Predigtvorgang lassen sich zwar mit den theologischen Grundformen des homiletischen Denkens systematisch verbinden. Ebenso stößt eine mehr adaptive Aufnahme praktisch-theologischer Methoden wie Rhetorik 183 , Kybernetik 184 oder Soziologie 185 auf keine prinzipiellen theologischen Schwierigkeiten. Und schließlich kann die praktische Nützlichkeit weder der prinzipiellen theologischen Synthese der homiletischen Perspektiven noch der methodischen Differenzierung des Predigtprozesses in Frage stehen. Aber die methodische Wende in der Homiletik stellt nicht nur eine Bereicherung der exegetischen und systematischen Prinzipien der Predigtlehre dar, sondern sie steht der theologischen Homiletik, ihrem homiletischen Grundansatz und ihrem methodischen System auch kritisch gegenüber. Herbert Breit verdeutlicht diesen kritischen Aspekt der praktisch-theologischen Homiletik an der Methodisierung der Hörerfrage, an der „Rezipientenforschung". „Es gehörte bisher zum guten Ton einer ernstzunehmenden Homiletik, die Verstehbarkeit des verkündigten Wortes nachdrücklich zu betonen, auch einige Seitenblicke auf die Situation des Hörers bzw. der Gemeinde zu werfen, dann aber sehr bald ausführlich über die Verbindung von Gottes Wort, Text und Predigt-Rede zu reflektieren, nicht ohne den Leser mit der Mitteilung zu beruhigen, die Ankunft der Rede sei gewiß nicht so wichtig wie deren Herkunft." Breit fährt fort: „Hinter dieser fast 183 Das Problem der Rhetorik als theologisches Problem von Sprache und Wort entwickelt H.-R. Müller-Schwefe: Homiletik, Bd. I, Die Sprache und das Wort (1961); Bd. II, Die Lehre von der Verkündigung (1965); Bd. III, Die Praxis der Verkündigung (1973). Ebenfalls unter theologischem Aspekt gewinnt die Rhetorik bei M. Josuttis positive Bedeutung für die Homiletik (Homiletik und Rhetorik. WiuPr 57, 1968, S. 1 Iff.). — Vgl. auch den Beitrag von H.-E. Bahr: Erneuerung als Rhetorik? (In: Die sogenannte Politisierung der Kirche, 1968, S. 123ff.). Daß das praktische Interesse an der Sprachform der Predigt gestiegen ist, zeigt sich auch darin, daß als Beiheft 2 der Predigtstudien ein „Homiletisches Wörterbuch" veröffentlicht wurde (1970). 184 Hier ist vor allem auf die Arbeiten von H.-D. Bastian hinzuweisen: Verfremdung und Verkündigung. Gibt es eine theologische Informationstheorie? (ThExh NF 127, 1965); ders.: Anfangsprobleme im Gespräch zwischen Kybernetik und Theologie (Thpr 3, 1968, S. 33ff.); ders.: Vom Wort zu den Wörtern (EvTh 28, 1968, S. 25ff.) und ders.: Problemanzeigen einer kybernetischen Theologie (EvTh 28, 1968, S. 334ff.). - Vgl. außerdem W.-D. Marsch: Kybernetik und Ethos (WiuPr 56, 1967, S. 170ff.) und K. Meyer zu Uptrup: Bewußtseinsindustrie und Gottesdienst (WiuPr 56, 1967, S. 18 Iff.). Vgl. auch den kath. Beitrag zum Thema von J . Kopperschmidt: Kommunikationsprobleme der Predigt (In: G. Biemer, Hrsg., Die Fremdsprache der Predigt, 1970, S. 30ff.). 185 Eine Ubersicht über die neuere Kirchensoziologie gibt J . Matthes in: ders.: Kirche und Gesellschaft, 1969, vor allem in den Kapiteln „Ansätze und Hauptfragen der Kirchensoziologie" (aaO, S. 9—33) und „Religiosität und Kirchlichkeit" (aaO, S. 66— 91). — Vgl. dazu außerdem noch H.-D. Schneider: Unter welchen Voraussetzungen kann Verkündigung Einstellungen ändern? Sozialpsychologische Überlegungen über die Wirkung der Predigt (WiuPr 58, 1969, S. 246ff.).
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axiomatischen Feststellung verbirgt sich die weithin gängige Auffassung, es lasse sich der Inhalt der Predigt von ihrer verstehbaren Form so trennen, daß diese sich notwendig von selbst einstelle, w e n n nur das, was gesagt wird, seine textliche Bezogenheit oder eben evangelische Begründbarkeit nachzuweisen vermöge." Diese adaptive Integration des praktisch-theologischen Interesses am Hörer wird durch einen Blick auf die homiletische Theorie belegt. „Liest m a n die Geschichte der Homiletik einmal u n t e r dem Gesichtspunkt dessen durch, was über den Hörer der Predigt ausgesagt wird, so findet m a n zwar eine Menge von Hinweisen auf die Notwendigkeit der Situationsanalyse u n d eine Fülle von beachtenswerten Einsichten über die geistige S t r u k t u r der das Evangelium hörenden Menschen oder sogar über den Menschen überhaupt, aber es bleibt doch alles im Bereich abstrakter Allgemeinheiten. Die theologische Begründung, warum man den Hörer in die homiletischen Í Verlegungen einbeziehen müsse, dominiert dabei gegenüber der Einbeziehung selbst. Die Pfeiler der Brücke zwischen Text u n d Predigt sind auf der Seite des Textes tief in das Erdreich einer sorgfältig erarbeiteten Exegese eingerammt, die Predigt jedoch lebt auf schwankendem Boden, weil der andere Pfeiler im Sumpf der jeweiligen subjektiv gefärbten Situations- u n d Hörer-Verständnisse des Predigers s t e h t . " 1 8 6 Die praktisch-theologische Homiletik versucht deshalb, die Beziehung von Predigt u n d Hörer auch außerhalb der exegetischen und systematischen Theologie mit eigenen Methoden zu beschreiben. a) Kybernetik
als homiletische
Methode
Zu dem praktisch-theologischen Rahmen der prinzipiellen Homiletik gehören vor allem die „Fragen des sozialen Bezugsfelds der Predigt" 1 8 7 , zu ihren Methoden die Kybernetik u n d die Kirchensoziologie. Wer die Predigt im Zusammenhang allgemeiner gesellschaftlicher Informations- und Kommunikationsprozesse sieht, kann ihre Relevanz nicht allein in den Kategorien der dogmatischen Theologie beschreiben. Er m u ß den „Stellenwert der Predigt" 1 8 8 auch mit Methoden der praktischen Theologie bestimmen. Die Predigt, ihr Stellenwert und ihre F u n k t i o n , werden dann in 186 H. Breit: Die Predigt im Blickfeld der Rezipientenforschung (In: J. Roloff, Hrsg.: Die Predigt als Kommunikation, 1972, S. 28f.). - Mit Recht betont auch W. Jetter (Die Predigt als Institution und Instrument, aaO, S. 49) die „Sorgfaltspflicht bei der Uberprüfung der Wirkungskoeffizienten und -möglichkeiten heutiger Predigt." Zum Problem der Rezipientenforschung vgl. G. Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation, 1963; W. Schramm (Hrsg.): Grundfragen der Kommunikationsforschung, 2. Aufl. 1968; F. Dröge / R. Weissenborn/H. Haft: Wirkungen der Massenkommunikation, 1969 und Ε. M. Lorey: Mechanismen religiöser Information, 1970. 187 H.-D. Bastian: Homiletik und Informationstheorie (In: Predigtstudien, Beiheft 1, S. 4 7 - 5 3 ; S. 48). 188 H.-D. Bastian, aaO, S. 49.
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einem anderen theoretischen Horizont auch anders bewertet. Lautete die dogmatische Leitfrage zur Predigtdefinition etwa: „Wenn die Kirche durch das Zeugnis der Apostel, durch die Offenbarung konstituiert ist, was hat dann die Predigt zu tun?" 1 8 9 — so heißt die praktisch-theologische Leitfrage nun: „Welche Rolle spielt eigentlich, vom Hörer aus gesehen, die Kommunikationsform Predigt?" 190 Wenn Lange in seinem homiletischen Entwurf etwa den Begriff der Verkündigung durch den der Kommunikation ersetzt 191 , dann deutet dies nicht nur auf eine Neuinterpretation dogmatischer Sachverhalte, sondern zugleich auch auf eine Verschiebung der homiletischen Perspektive hin. Im Anschluß an die wissenschaftliche Informationstheorie versucht vor allem Hans-Dieter Bastian 192 die Predigt im Feld vielfältiger Informationsund Kommunikationsformen zu beschreiben. Sein Interesse gilt dabei weniger einer effektiveren Gestaltung der Kommunikationsform Predigt als vielmehr ihrer theoretischen Bestimmung. Bastian fragt, welche Bedeutung der „Kanzelpredigt für die Aufgabe der Verkündigung" zukommt 193 . Sein praktisch-theologischer Ansatz, die kybernetische Fragestellung bewegt sich damit im Rahmen des traditionellen homiletischen Theoriemodells. Er versucht, innerhalb des von Schreiner bis Lange 194 gültigen theoretischen Rahmens das Verhältnis von Verkündigung und Predigt neu zu bestimmen. Die gegenwärtige kybernetische Fragestellung gehört deshalb in die Prolegomena der Homiletik. Sie erledigt eine Aufgabe der prinzipiellen Predigttheorie. Die kritischen Überlegungen von Hans-Dieter Bastian gehen von der „Aufgabe der Verkündigung" aus, die die Kirche wahrzunehmen hat. Die Verkündigungsaufgabe ist „eine viel zu wichtige Sache, als daß man sie länger der permanenten Erosion in der Predigt untätig ausliefern darf" 195 . Von diesem dogmatischen Ansatz aus fordert Bastian „eine theologische Informationstheorie" 196 , eine „kybernetische Theologie" 197 . Er stellt ihr „die Aufgabe, die verschiedenen Kommunikationskanäle der Verkündigung zu suchen und ihre spezifischen Funktionen im System der missionarischen Kirche zu beschreiben" 198 . Damit fällt der praktischen Theologie eine traditionell dogmatische Problemstellung zu. „Die praktische Theologie der 189
K. Barth, Homiletik, S. 46f. H.-D. Bastian, Predigtstudien, Beiheft 1, S. 79. 191 E. Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit (aaO, S. l l f f . ) . 192 Vgl. oben, Anm. 184. 193 H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. 59. 194 Das traditionelle homiletische Theoriemodell kommt am klarsten in der Homiletik von H. Schreiner zum Ausdruck (Die Verkündigung des Wortes Gottes, 1949). 19S H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. 59. 196 H.-D. Bastian, aaO, S. 60. 197 H.-D. Bastian: Problemanzeigen einer kybernetischen Theologie (EvTh 28, 1968, S. 3 3 4 - 3 4 4 ) . 198 H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. 60. 190
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Gegenwart hätte allen Anlaß, die stereotype Predigt auf ihre Leistung und ihren Wirkungsbetrag zu überprüfen. Das dogmatische Theorem Verkündigung' müßte in konkreten, anwendbaren Redegestalten dechiffriert werden, deren kommunikative Kraft zu analysieren wäre." 1 9 9 Denn „Gottesdienst und Predigt tragen ihren Wert nicht unverlierbar in sich. Sie sind Funktionen der Evangelisation, Gattungen und Formen kirchlichen Redens und Handelns; sie müssen auf ihre Wirksamkeit präzis befragt werden." 2 0 0 Innerhalb der kybernetischen Perspektive erscheint die Predigt zwar durchaus als Form der Verkündigung. Aber der Verkündigungsprozeß wird aus dem Dogmatischen ins Praktische, aus der theologischen Theorie in die kirchliche Praxis transponiert. Predigt ist dann eine Form der kirchlichen Kommunikation. Und sie ist zugleich auch ein Teil der allgemeinen Redezivilisation. Kirchliche und profane Kommunikationsprozesse zu analysieren, aufeinander zu beziehen und zu kritisieren, ist Aufgabe einer kybernetisch orientierten Homiletik. „Zu den Versäumnissen gegenwärtiger Praktischer Theologie, die unerbittlich und ohne Rabatt einzuklagen sind, gehört vor allem das Desinteresse an der profanen Redezivilisation." 201 „Verkündigung als Information" wird dann zu einer Form der „öffentlichen Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft". 2 0 2 Die Einordnung der Predigt in den Zusammenhang öffentlicher, gesellschaftlicher Redeformen führt nun zu einer doppelten Kritik an der Sonntagspredigt. Macht sich die Homiletik daran, die Leistung der Predigt zu analysieren, dann wird sie zunächst darauf aufmerksam, wie gering der Stellenwert der Predigt im Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation ist. Hans-Dieter Bastian prägte das Bild, „daß die Predigt in der Technik der Information den gleichen Platz innehat wie vergleichsweise die Petroleumlampe in der Beleuchtungstechnik" 2 0 3 . Er wendet sich deshalb gegen aufwendige theologische Predigtdefinitionen, die in der sonntäglichen Predigt nicht eingelöst werden können 2 0 4 . 199 H.-D. Bastian, aaO, S. 58. — Nach anderen Prinzipien versucht J. Konrad die Predigt der Gegenwart zu analysieren. Er möchte „strukturanalytisch zu zeigen versuchen, was die evangelische Predigt ist, war und sein soll." (Die evangelische Predigt, S. 9). — Ähnlich verfährt F. Niebergall in seiner Analyse der zeitgenössischen Predigtpraxis (F. Niebergall: Die moderne Predigt. Kulturgeschichtliche und theologische Grundlage. Geschichte und Ertrag, 1929). 200 H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. 61 f. 201 H.-D. Bastian: Vom Wort zu den Wörtern (EvTh 28, 1968, S. 2 5 - 5 5 ; S. 52). 202 H.-E. Bahr: Verkündigung als Information. Zur öffentlichen Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft, 1968. Vgl. dazu auch den Sammelband, hrsg. von P. Cornehl und H.-E. Bahr: Gottesdienst und Öffentlichkeit. Zur Theorie und Didaktik neuer Kommunikation, 1970. 203 H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. 58. 204 H.-D. Bastian, Predigtstudien, Beiheft 1, S. 74. - Ebenso E. Lange, aaO, S. 14 und W. Jetter: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer (WiuPr 56, 1967, S. 213).
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Die kybernetische Methode in der Homiletik soll daher die Predigttheorie aus der „Diktatur der theologischen Vergangenheit" befreien 205 . Folgt man den Erkenntnissen der Kybernetik, dann „muß der Begriff Predigt getötet werden in seinem mythologischen Anspruch" 206 . Mit der „ .Demontage' der Dogmatik" — wie Henning Schröer diesen Vorgang kritisch beschreibt 207 — wird aber nicht nur die herkömmliche Theorie der Predigt, sondern schließlich sogar der Begriff der Predigt selbst kritisiert und gelegentlich durch den der „Kanzelrede" ersetzt. Denn es besteht die Gefahr, ,;daß mit dem Begriff so viele dogmatisch unkontrollierte Vorurteile eingeschleppt werden, daß Wichtiges schon verstellt ist, bevor man überhaupt zur Analyse kommt" 2 0 8 . Bastians Kritik gilt aber nicht nur der herrschenden Predigttheorie, sondern ebenso der bestehenden Predigtpraxis. Man darf „gerade die Predigt nicht länger als etwas Selbstverständliches, als natürliche und einzige Redeform der Kirche . . . akzeptieren." Kritische Predigttheorie muß vielmehr „geheiligte Traditionen deformieren" 209 . Deshalb bedingt die Auffächerung der kirchlichen Verkündigungsformen auch eine neue Zeichnung der Berufsrolle des Pfarrers. „Es ist eine Barbarei im 20. Jahrhundert, das Berufsbild des Pfarrers monoman festzulegen auf die Predigtaufgabe." 210 Schließlich wendet sich Bastian auch gegen die gegenwärtige praktische Erneuerung der Sonntagspredigt, wie sie etwa in Langes Programm zum Ausdruck kommt 211 . Dieses Predigtkonzept muß nach Bastian „daran scheitern, daß der Kommunikationskanal Predigt, Kanzelrede, von vornherein zu eng ist". Die homiletischen Bemühungen von Lange sind in den Augen Bastians „viel zu schade, um nur der Kanzelrede aufzuhelfen" 212 . Aufgabe der Homiletik ist es vielmehr, an Stelle der Predigt „wirksame
205 H.-D. Bastian, aaO, S. 50. — Vgl. dazu auch G. Krauses Vorwurf gegen die „Vorherrschaft der dogmatischen Frage nach dem Wesen und Was der Predigt" in der bisherigen Homiletik (Die Predigt braucht das Laienurteil, Zeitwende 40, 1969, S. 83— 93; S. 88) und D. Rössler: Das Problem der Homiletik (Thpr 1, 1966, S. 1 4 - 2 8 ;
S. 18). 206 H.-D. Bastian, aaO, S. 68. 207 H. Schröer: Perspektiven heutiger Predigtmeditation (In: Predigtstudien, Beiheft 1, S. 5 3 - 6 1 ; S. 53). 20 ® H.-D. Bastian: Homiletik und Informationstheorie, aaO, S. 49. 209 H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. t i l . 210 H.-D. Bastian: Homiletik und Informationstheorie, aaO, S. 52. 211 E. Lange schreibt (Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, aaO, S. 15): „Ich bin der Meinung, daß die Sonntagspredigt und die ihr verwandten Kommunikationsformen, also etwa die Predigten bei den Amtshandlungen, zumindest gegenwärtig noch unentbehrliche und keinesfalls zu vernachlässigende Phasen im Wirkungszusammenhang .Kommunikation des Evangeliums' sind." 212 H.-D. Bastian, Predigtstudien, Beiheft 1, S. 74.
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Redeformen und Kommunikationsweisen . . . neu zu etablieren, wo sich jeder Christ seines Mundes bedienen kann und muß" 2 1 3 . Damit ist schon die zweite kritische Tendenz der kybernetischen Homiletik angesprochen. Sie richtet sich gegen die gegenwärtige Theorie und Praxis des Predigens nicht nur wegen deren geringem Stellenwert, sondern ebenso auch wegen ihrer negativen Funktion. „Denn .predigen' ist eine einseitige, nicht ko-operative Art der Kommunikation. Sie gibt dem Angeredeten keine Chance der Rückäußerung. Er ist nur und ganz Hörer. Daß die Menschen auch alle einen Mund besitzen, übersieht eine Kirche, die ausschließlich predigt. Sie totalisiert die Gemeinde zum kritiklosen Wortempfang." Die Sonntagspredigt ist „totalitär" 2 1 4 . „Im Gottesdienst bleibt die Kanzelrede eine Form der autoritären Kommunikation. Da geht die Information nur von oben nach unten, ein .feedback' kommt nicht zustande." 2 1 5 Beide kritischen Momente der kybernetischen Betrachtung der Predigt werden aber nicht nur mit der gegenwärtigen Erfahrung motiviert. Die Kritik an der gegenwärtigen Predigtpraxis legitimiert sich darüber hinaus auch historisch. Der verminderte Stellenwert der Predigt wird im Vergleich mit der Entstehungszeit der evangelischen Predigt, mit der Reformationszeit plausibel gemacht. „Zu Luthers Zeit war die Kanzelpredigt, die Kanzelrede, die öffentlichste Redeform, die man kannte. Eine größere Kommunikationsweite, wieder quantitativ gesehen, war damals nicht möglich. Man kann sogar sagen, wenn man die Lehrbücher der Journalistik oder auch der Werbung nachliest, nicht einmal der Landesfürst erreichte zu Luthers Zeiten einen solchen Kommunikationskreis wie der Prediger." Durch den Wandel der Öffentlichkeitsstruktur hat sich aber auch „die Kommunikationsweise der Predigt grundlegend verändert. Sie steht nicht mehr im Zentrum, sie steht irgendwo in einem sektiererischen Winkel. Und aus diesem Winkel kommt sie . . . auch nicht heraus mit neuen Aktionen und neuem Engagement" 2 1 6 . In der gewandelten Öffentlichkeit ist die Funktion der Predigt rapide geschwunden, wenn nicht überhaupt ganz verlorengegangen. „Ihre missionarisch-werbende Kraft ist unerheblich." 2 1 7 Alle diese Impulse, so kritisch sie sich auch gegen die traditionelle Theorie und Praxis der Predigt wenden, bewegen sich durchweg in den Bahnen des 213
H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. 62. H.-D. Bastian, aaO, S. 58f. 215 H.-D. Bastian: Homiletik und Informationstheorie, aaO, S. 52f. — Weniger skeptisch gegenüber der monologischen Struktur der Sonntagspredigt ist G. Otto; in seinen Thesen (In: P. Cornehl / H.-E. Bahr: Gottesdienst und Öffentlichkeit, S. 3 4 - 4 3 ) schreibt er: „Die verbreitete These, Predigt als Monolog sei überholt, eben weil sie Monolog sei, kann sich mit Recht auf die oben genannten Grenzen und Gefahren berufen, verkennt aber soziale und anthropologische Gegebenheiten." (aaO, S. 36). 216 H.-D. Bastian: Homiletik und Informationstheorie, aaO, S. 51f. 217 H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. 62. 214
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herkömmlichen homiletischen Modells, im Rahmen der prinzipiellen Homiletik. Die Kritik an der Ineffektivität der gegenwärtigen Predigt, an ihrer autoritären Tendenz und am Anspruch ihrer theologischen Theorie gilt gemeinsam der Verwirklichung des kirchlichen Verkündigungsauftrags. Es braucht daher auch nicht zu verwundem, daß nicht nur diese kritischen Tendenzen, sondern auch ihre Motive und ihre Argumente älter sind als die theologische Informationstheorie. Sie finden sich alle auch bei Trillhaas. In einem Aufsatz über „Die wirkliche Predigt" 2 1 8 behandelt Trillhaas schon 1963 „ein Problem . . . , das theoretisch ebenso schwer zu bezeichnen ist, wie es sich von der Praxis des kirchlichen Lebens aus penetrant geltend macht. Es betrifft das rätselhafte Verhältnis zwischen der theologischen Beurteilung der Predigt und der wirklichen Predigt der Kirche"219. Trillhaas kritisiert den „steilen Anspruch der Predigt, der in und seit der Reformation für sie erhoben worden ist" 2 2 0 , und hält die Analyse der gegenwärtigen Predigtpraxis dagegen: „Die öffentlichen Predigten in evangelischen Kirchen sind in weiter Überzahl homiletische Belanglosigkeiten." 2 2 1 Trillhaas wendet sich wie Bastian gegen die „Überlastung des Predigtbegriffs" 2 2 2 durch seine theologische Interpretation. „Die sog. kerygmatische Theologie, in der eine der fruchtbarsten hermeneutischen Entdeckungen auf dem Felde der historisch-kritischen Arbeit an der Bibel zu einem allgemeinen theologischen Prinzip erweitert worden ist, hat bewirkt, daß der Begriff der .Verkündigung' zu einem der abgegriffensten und inhaltsleersten Begriffe sowohl der Theologie wie der Kirche geworden ist." 2 2 3 Trillhaas bedient sich auch des historischen Erklärungsschemas. „Tatsächlich ist die Predigt längst nicht mehr, wie in der Reformationszeit, ein schon im profanen Sinne einzigartiger Vorgang, sondern sie ist durch die forensische und die politische, durch die akademische wie die populär belehrende Rede, ζ. B. in Rundfunk und Fernsehen, längst aus der Mitte der heutigen Redekultur herausgeworfen." 2 2 4 Er erkennt endlich auch die quan2 1 8 W. Trillhaas: Die wirkliche Predigt (In: H. Gerdes, Hrsg.: Wahrheit und Glaube, Fs für E. Hirsch, 1 9 6 3 , S. 1 9 3 - 2 0 5 ) . 2 1 9 W. Trillhaas, aaO, S. 1 9 3 . 2 2 0 W. Trillhaas, aaO, S. 1 9 4 . 2 2 1 W. Trillhaas, aaO, S. 195. — Auch G. Ebeling hat das durchschnittliche Predigtgeschehen als „institutionell gesicherte Belanglosigkeit" bezeichnet (ders.: Das Wesen des christlichen Glaubens, 1 9 5 9 , S. 9). 2 2 3 W. Trillhaas, aaO, S. 194. W. Trillhaas, aaO, S. 2 0 2 . 224 w Trillhaas, aaO, S. 197. - So beurteilt die Stellung der Predigt in der Gegenwart auch W. J e t t e r (Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer. WiuPr 5 6 , 1 9 6 7 , S. 2 1 2 2 2 8 ; S. 2 1 5 f . ) : „Unstreitig ist die Predigt einmal die Mitte des öffentlichen Redens gewesen." Und er fährt fort: „Hinter der Frage nach den Wirkungsmöglichkeiten des Instituts Sonntagspredigt erhebt sich die umfassendere Frage nach der öffentlichen Kompetenz, die sich christliches Wort heute überhaupt zuzutrauen vermag." 222
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titative und qualitative Überlastung der Rolle des Pfarrers 2 2 S u n d e r h o f f t sich von einer homiletischen Ernüchterung eine Wiederbelebung der Mehrfunktionalität des Pfarrerberufs. „Die praktisch-theologische Entstellung der verschiedenen F u n k t i o n e n der christlichen Kirche, welche durch die supranaturalistische Monopolstellung der Predigt erzwungen wird, kann auf diese Weise geheilt werden." 2 2 6 So fügt sich auch die kybernetische Perspektive der gegenwärtigen Homiletik in die allgemein gültigen homiletischen G r u n d s t r u k t u r e n ein. Die homiletische Informationstheorie kritisiert zwar den dogmatischen Anspruch der traditionellen Predigttheorie, aber sie behält ihn für das Gebiet der Verkündigung doch bei. Sie b e t o n t zwar den reduzierten Stellenwert der Predigt, aber nicht um innerhalb der gegebenen Möglichkeiten die kritisierte Predigtpraxis zu verbessern, um „das, was möglich ist, sinnvoll möglich sein zu lassen" 2 2 7 . Insofern dient die Anwendung kybernetischer Met h o d e n auf das Gebiet der Homiletik mehr der Bestätigung der gegenwärtigen Krise der Predigt 2 2 8 u n d weniger ihrer Überwindung. Ihre F u n k t i o n ist nicht praktisch, sondern theoretisch. Sie ist ein Teil der allgemeinen Kritik an der dogmatischen Überhöhung der Predigt in der traditionellen Homiletik 2 2 9 . Die kybernetische Perspektive gehört daher nicht in die praktische, sondern in die prinzipielle Predigtlehre, in die Prolegomena der Homiletik.
b) Kirchensoziologie
als homiletische
Methode
Eine mehr soziologisch orientierte Betrachtung der Predigt, die Beschreibung ihres sozialen Umfelds, führt zu ähnlichen Ergebnissen wie die Analyse ihrer K o m m u n i k a t i o n s f u n k t i o n . Bastian sagt über die Entwicklung der Predigt: „Der schleichende und auch galoppierende Schwund ihrer Wirkung ist nicht erst seit gestern aktuell. Es läßt sich sagen: Predigt u n d Got225
W. Trillhaas, aaO, S. 1 9 5 - 1 9 7 . W. Trillhaas, aaO, S. 202. — Unter der Überschrift „Die notwendige Erweiterung: Von der Predigt zur .christlichen Rede' " fordert G. Otto in einer seiner Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart (In: P. Cornehl / H.-E. Bahr: Gottesdienst und Öffentlichkeit, S. 36): „Nur wenn die Kirche das Genus .Rede' im weitesten Sinne wiedergewinnt und zureichend zu problematisieren vermag, können einzelne Redegenera im Blick auf ihre Möglichkeiten erwogen werden. Die traditionelle homiletische Fixierung auf .Predigt im Gottesdienst' macht die Predigt-Problematik unlösbar." 227 D. Rössler, Predigtstudien, Beiheft 1, S. 75. 228 Vgl. dazu oben, Anm. 1 und 45. 229 Diese allgemeine Kritik ist vor allem von W. Trillhaas (Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 5f.), W. Jetter (Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer, aaO, S. 213f.), E. Lange (Predigtstudien, Beiheft 1, S. 14) und D. Rössler (Das Problem der Homiletik, aaO, S. 18) vorgebracht worden. 226
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tesdienst im traditionellen Sinn bewahren heute mit Mühe einen kleinen volkskirchlichen Bestand, dessen Grenzen immer enger werden." 2 3 0 Die kirchensoziologischen Untersuchungen der Predigthörer bestätigen diese These. Die Öffentlichkeit des Gottesdienstes ist offensichtlich schon dadurch stark eingeschränkt, daß sich nur ein kleiner Teil der Kirchenmitglieder zu einigermaßen regelmäßigen Predigthörern rechnen kann 2 3 1 . Das soziale Wirkungsfeld der Predigt erscheint, gemessen am Funktionsrahmen der Kasualien oder auch gemessen an der religiösen Bildungsarbeit, als außerordentlich klein. Aber nicht nur diese quantitative Analyse der Gottesdienstbesucher zwingt zu einer Reduktion des Öffentlichkeitsanspruchs der Predigt. Vielmehr findet die neuere Kirchensoziologie dazuhin, daß die Zusammensetzung der Predigthörer, der „Kirchentreuen" 2 3 2 , keineswegs für die Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft repräsentativ ist. „Die höheren Altersstufen, die Frauen und Witwen überwiegen, ein verhältnismäßig großer Anteil ist in der beruflichen Stellung des Beamten tätig bzw. tätig gewesen, nicht nur von den kirchentreuen Männern, sondern auch von den Ehemännern der kirchentreuen Frauen. Nur wenige Arbeiter sind unter den Kirchentreuen." 2 3 3 Geht man den Gründen für diese einseitige soziale Zusammensetzung der Predigthörer nach, so verstärkt sich der Eindruck ihrer gesellschaftlichen Isolation. „Diese Besonderheiten sind Ausdruck bestimmter sozialer Bedürfnisse, die bei der Entstehung und Motivation des kirchentreuen Verhaltens eine Rolle spielen dürften." Zu dieser Motivationsdisposition des Predigthörers gehört einmal „das tatsächliche oder vermeintliche Fehlen von Chancen der Selbstwertbestätigung nach den Maßstäben der gegenwärtigen Gesellschaft, zum anderen die Besinnung auf vergangenes Ansehen" 2 3 4 . Nach der Auskunft kirchensoziologischer Analysen hat sich um die Sonntagspredigt eine „gesamtgesellschaftlich abseitige Gruppe" 2 3 5 gebildet, eine 230
H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung, S. 62. W. Jetter bezeichnet „die Beschränkung ihres Auditoriums auf eine bestimmte Gruppe" als „strukturelle und darum schwer zu überwindende Schranke" der Predigt (ders.: Die Predigt als Institution und Instrument, aaO, S. 54f.). Zur gegenwärtigen Kirchgangs-Frequenz vgl. die soziologischen Untersuchungen von R. Köster: Die Kirchentreuen, 1959 (vor allem die Zusammenfassung, S. 107f.), von J. M. Lohse: Kirche ohne Kontakte?, 1967 (vor allem S. 28ff.), von W. Harenberg (Hrsg.): Was glauben die Deutschen?, 1968 (vor allem S. 58ff.) und von F. X. Kaufmann: Zur Bestimmung und Messung von Kirchlichkeit in der BRD (IJfR 4, 1968) und von 231
I. Peter-Habermann: Kirchgänger-Image und Kirchgangsfrequenz, 1967. Zur Brauchbarkeit des Kriteriums .Gottesdienstbesuch' für die Erfassung des Phänomens .Kirchentreue' vgl. J. Matthes: Kirche und Gesellschaft, 1969, S. 24ff. 232 R. Köster: Die Kirchentreuen, 1959. 233 234 R. Köster, aaO, S. 107. R. Köster, aaO, S. 107f. 235 F. H. Tenbruck: Die Kirchengemeinde in der entkirchlichten Gesellschaft (In: Goldschmidt, Hrsg., Soziologie der Kirchengemeinde, 1960, S. 1 2 2 - 1 3 2 ; S. 130).
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„religiöse Gesinnungsgemeinschaft" 2 3 6 . Sie ist nicht an der Öffentlichkeit der Predigt, sondern an ihrer Exklusivität interessiert. Die soziologische Analyse zeigt, „daß das Festhalten an den traditionellen Formen kirchlichen Lebens nicht einfach durch das Schwergewicht des Herkömmlichen bedingt ist, sondern daß es sich um eine bewußte Reaktion handelt." Das Interesse an der Disfunktionalität von Gottesdienst und Predigt führt zum „Versuch der Reindarstellung des Kirchlichen ohne Rücksicht auf die Chancen der Durchsetzung", also zu einer Stabilisierung des überhöhten Anspruchs und Begriffs der Predigt. Eben damit verfestigt sich aber wieder die Kluft zwischen Predigthörern und Gesamtgesellschaft. „Die Folge ist eine erhöhte Entfremdung gegenüber der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation." 2 3 7 Auch die kirchensoziologische Analyse der Predigt und ihrer Hörer ist in die prinzipielle Homiletik einzuordnen. Sie führt nicht über die Einsicht der geringen Öffentlichkeit der Predigt hinaus, sondern sie entfaltet und belegt diese allgemeine Erkenntnis lediglich. Ihr Interesse gilt nicht so sehr der genaueren Beziehung der Predigt auf ihre Zuhörer als vielmehr der Kritik der gesellschaftlichen Ineffektivität der Predigt überhaupt. Wie in der kybernetischen Analyse des homiletischen Kommunikationsfelds, so erscheint auch in der soziologischen Untersuchung des sozialen Umfelds der Predigt die Predigttheorie, wie sie aus dogmatischen Überlegungen entsteht, als „Anspruch". Und — so stellt Ernst Lange fest — „die Kritik dieses Anspruches, sowohl im Hinblick auf seine theologische Problematik als auch auf die kirchliche Wirklichkeit, ist in der Tat notwendig und überfällig" 238 . 236
R. Köster, aaO, S. 5. R. Köster, aaO, S. 6. — Mit der Sicht von R. Köster stimmt die Analyse von F. H. Tenbruck überein: „Religion zieht sich auf Familie, private Kreise, Sondergruppen und Sonntagskirche zurück und wird entsprechend ideologisch durch Verengung auf den Glauben privatisiert und isoliert." (Tenbruck, aaO, S. 130f.) Auf dem Hintergrund eben einer solchen Entfremdung sind die Forderungen nach mehr Öffentlichkeit der Kirche, der Predigt und des Religionsunterrichts zu verstehen, wie sie etwa von S. M. Daecke erhoben werden: „Öffentlichkeit von Theologie, Predigt und Religionsunterricht. Notizen zum Thema einer didaktisch reflektierten theologia publica" (In: P. Cornehl / H.-E. Bahr: Gottesdienst und Öffentlichkeit, S. 2 1 7 - 2 6 3 ) . Vgl. dazu die entsprechende Kirchendefinition, die G. Otto (Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart. In: Cornehl / Bahr, aaO, S. 34—43) gibt: „Kirche ist das institutionelle Forum, auf dem im Dialog diverser Beteiligter die religiöse Thematik des Lebens erwogen und die Relevanz christlicher Überlieferung für gegenwärtiges Leben erfragt wird." (aaO, S. 34). 238 E. Lange, Predigtstudien, Beiheft 1, S. 14. 237
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2. Das Problem der Vermittlung von prinzipieller und praktischer Homiletik Die praktisch-theologische Homiletik der Gegenwart hat in doppelter Hinsicht zu einer Wende in der Predigtlehre geführt. Sie hat einmal — und das scheint der entscheidende Fortschritt in der praktischen Homiletik zu sein — mit der Entwicklung von homiletischen Verfahren begonnen, mit methodisierten Predigtprozessen, die die Synthese von Text, Hörer und Prediger in der Predigtpraxis vollziehen helfen. Und sie hat andererseits Methoden in die prinzipielle Homiletik eingeführt, die eine schärfere Erfassung der komplexen Faktoren der homiletischen Wirklichkeit erlauben als die traditionellen exegetischen und systematisch-theologischen Methoden. Betrachtet man nun aber den Zusammenhang beider Aspekte praktisch-theologischer Homiletik, dann befindet sich die Predigttheorie gegenwärtig in einem eigenartigen Dilemma. Es ist der praktischen Theologie zwar gelungen, den Prozeß der Predigtarbeit in methodische Modelle zu fassen. Die Entwicklung einer synthetischen Theorie der Predigt, die theoretische Reflexion ihres Begriffs, ihrer komplexen Bedingungen und Konsequenzen steht aber noch aus. Die Rezeption kybernetischer und kirchensoziologischer Denkansätze in der Homiletik führte zwar zu einer vehementen Kritik an den traditionellen homiletischen Begriffen. Diese Methoden zeigten sich jedoch bisher als wenig geeignet für die konstruktive Entwicklung einer Predigttheorie, die sowohl dem exegetischen und systematischen homiletischen Denken als auch den vielfältigen Aspekten der praktischen Predigtlehre gerecht zu werden vermag. Ernst Lange beschreibt diese theoretische Beschränkung der praktischen Homiletik. Er fragt im Zusammenhang der Entwicklung seines homiletischen Verfahrens „nicht nach der Predigt als praedicatio verbi divini, als Ursprung der Kirche, nach ihrem Wesen und ihrer Verheißung, sondern nach dem konkreten homiletischen Akt, nach der wöchentlichen Predigtaufgabe und ihrer Lösung." Lange überläßt die prinzipielle Predigttheorie der systematischen Theologie. Er merkt freilich gleich an: „Der Predigtbegriff, der dabei zustandekommt, ist als solcher für die Praktische Theologie, für die Homiletik untauglich." 239 Lange trennt deshalb systematischtheologische und praktisch-theologische Predigttheorie voneinander und sieht in ihrer Vermengung einen Eingriff in die Selbständigkeit der praktischen Homiletik. „Der systematisch-theologische Predigtbegriff, die Frage also, was Predigt theologisch sei, gehört in die Prolegomena der Praktischen Theologie. Und diese Frage darf die andere, die eigentlich homiletische Frage, wie man eine Predigt mache, besser, was man tue, wenn man predige, und wie man es verantwortlich tun könne, nicht relativieren und als Kinderspiel', als bloß technisches Problem abqualifizieren, sondern sie muß sie 239
E. Lange, aaO, S. 19.
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als selbständige Frage ermöglichen und begründen und dann freilich auch begrenzen." 240 Das Fehlen einer theoretischen Vermittlung von prinzipieller und praktischer Homiletik kommt ebenso in der Evangelischen Predigtlehre von Wolfgang Trillhaas zum Ausdruck 241 . Im Rückblick auf die dreißigjährige Geschichte seines Buches beschreibt Trillhaas selbst dessen theologische Grundtendenz im Jahre 1935 als eine „entschlossene Verbindung konservativer Positionen mit den Grundüberzeugungen der dialektischen Theologie" 242 . Als das Buch nach dem Krieg in der dritten Auflage wieder erschien, hatte es „gewisse Auflockerungen in seinem pastoralen Teil" erfahren. Damals „kam das Bedürfnis nach größerer Nüchternheit und nach psychologischer Wahrheit zu seinem Recht, ohne daß doch die Grundlagen verändert worden wären" 243 . In der fünften Auflage von 1964 schließlich wurde die Evangelische Predigtlehre „so tiefgreifend verändert, daß es fast ein neues Buch geworden ist" 244 . Trotz der in der Tat grundlegend neuen Perspektiven 245 bleibt die theoretische Struktur der Homiletik von Trillhaas aber auch in der neuesten Bearbeitung doch ganz innerhalb des klassischen Modells deduktiver Predigttheorie. In der prinzipiellen Homiletik wird die „Predigt als Dienst am Worte Gottes" bestimmt 246 . Dieser erste Hauptteil der Homiletik setzt mit 240
E. Lange, aaO, S. 20. 241 Yg¡ (jie „eigene Geschichte" der evangelischen Predigtlehre von W. Trillhaas, von der Trillhaas in seinem Vorwort zur 5. Aufl. 1964 spricht. (Evangelische Predigtlehre, S. 5). — Die fehlende Vermittlung von prinzipieller und praktischer Homiletik wird am Vergleich des IV. Hauptteils der 1. Aufl., 1935 und der 5. Aufl., 1964 besonders deutlich. Wurde der IV. Teil in der 1. Aufl. noch deduzierend im R a h m e n der prinzipiellen Homiletik entwickelt („Die Predigt als Dienst des Pfarrers", 1. Aufl., S. 133ff.), so steht nun in der 5. Aufl. der letzte Hauptteil „Predigt u n d Gemeinde" auffallend isoliert neben den übrigen Teilen des Buches (S. 150ff.). Trotz der erheblichen Veränderungen dieses Buches bleibt freilich auch die 5. Aufl. der Evangelische(n) Predigtlehre „der Vermittlung alter homiletischer und pastoraltheologischer Tradition verpflichtet" (S. 6). 242
W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 5. W. Trülhaas, aaO, S. 5. 244 W. Trülhaas, aaO, S. 6. 24s Vgl. die Struktur der homiletischen Theorie von H. Schreiner, der die „Predigtlehre" (Die Verkündigung des Wortes Gottes, 5. Aufl., 1949, S. 124ff.) aus der „Lehre von der Verkündigung" (aaO, S. 85ff.) u n d diese wiederum aus der Lehre vom Wort Gottes ableitet und dabei jeweils die anfangs gegebene Definition der Verkündigung a u f n i m m t u n d variiert. — Ähnlich bestimmt K. Barth den homiletischen Grundansatz in seinen homiletischen Seminaren der J a h r e 1932/33 (K. Barth: Homiletik, hrsg. von G. Seyfferth, 1966; vgl. dort die Predigt-Definition, S. 30 u n d den theoriekritischen homiletischen Satz: „Der Begriff der Predigt kann nicht auf Grund irgendwelcher Erfahrungen festgelegt werden, sondern er ist ein theologischer Begriff, der im Glauben geschieht, der nur hinweisen kann auf die göttliche Wirklichkeit." — ebd.). 246 W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 18. 243
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einem Abschnitt über „Gottes Wort als Grund und Inhalt der Predigt" ein. Damit ist die prinzipielle Norm der evangelischen Predigt definiert. Der zweite Abschnitt über die Rolle des Predigers fugt sich organisch an und wird unter dem Thema „Die Autorität der Predigt" abgehandelt. Der Prediger ist „mittelbarer Verkündiger des Wortes Gottes" 247 . Er ist „zur relativen Sicherung der Reinheit seiner Verkündigung an die Bibel, an sein kirchliches Bekenntnis sowie an seine Amtspflicht gebunden und mit theologischer Bildung ausgerüstet" 248 . „Persönliche Legitimität" und „inhaltliche Rechtmäßigkeit" der Predigt kennzeichnen die Rolle des Predigers: „die Predigt muß biblisch sein", „die Predigt muß bekenntnismäßig sein", „die Predigt muß amtsmäßig sein", und „die Predigt muß theologisch verantwortet werden" 249 . Aus dem homiletischen Grundprinzip der Predigt als Dienst am Wort Gottes ergibt sich aber nicht nur die Rolle des Predigers, sondern auch — als drittes Kapitel der prinzipiellen Homiletik — der „Hörerkreis der christlichen Predigt": „Die Predigt wendet sich an Menschen, mit denen Gott schon eine geheime oder auch offenkundige Geschichte gehabt hat." 2 5 0 „Der Hörer ist getauft und gehört durch die Taufe Christus an. So ist die Taufe Rechtsgrund der Predigt, Rechtsgrund für die Anrede des Menschen durch Gottes Wort." Der Hörer wird deshalb „von der rechten christlichen Predigt nicht dort angesprochen, wo er frei ist, und als einer, der frei ist, sondern als einer, über den entschieden ist, und dessen Einwände dadurch zu einer ganz untergeordneten Bedeutung herabgedrückt sind" 251 . Nachdem die Beziehung von Evangelium, Prediger und Gemeinde in der prinzipiellen Homiletik dogmatisch geklärt ist, wendet sich die materiale Homiletik den Problemen von „Predigt und Text" zu 252 . Auch hier wird konsequent aus den homiletischen Prinzipien deduziert: „Der biblische Text ist der Richtpunkt und das Kriterium für die Schriftgemäßheit der Predigt, und er kann es nur sein, wenn er die Predigt auch ganz und gar regiert, wenn er die ,Quelle' der Predigt ist." 253 Auch der dritte Hauptteil der Evangelischen Predigtlehre, die formale Homiletik, die die „Predigt als Rede" thematisiert, ergibt sich aus der homiletischen Prinzipienlehre 254 . „Gott hat sich vernehmbar gemacht. Die theologische und homiletische Aufgabe besteht darin, dieser Vernehmbarkeit nachzugehen, ihr zu trauen und ihr zu dienen." 255 247
W. Trillhaas, aaO, S. 28. AaO, S. 28. 249 AaO, S. 3 1 - 3 3 . 250 AaO, S. 34. 251 AaO, S. 37. 252 AaO, S. 57ff. 2 « AaO, S. 59. 2S4 AaO, S. 108ff. 248
2SS
AaO, S. 109.
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Der vierte Hquptteil der Predigtlehre von Trillhaas scheint dagegen schon mit seiner Bezeichnung außerhalb der geschlossenen Logik seines homiletischen Systems zu liegen. In der Tat herrscht in der „Pastorale(n) Homiletik" eine andere Tendenz vor. Hatte Trillhaas bisher die Predigt ills „Dienst am Worte Gottes" bestimmt, so tritt dieser Predigtdefinition nun ein neuer Aspekt zur Seite: „Die Predigt ist Dienst an der Welt". Sie muß daher „im Dienste der Seelsorge stehen" 2 S 6 . Die dogmatische Seite der Predigttheorie wird durch den ethischen Aspekt der Predigtarbeit ergänzt. . J e d e s Gebiet der praktischen Theologie hat eine pastoraltheologische Seite, insofern es den Dienst an und in der Kirche regelt, theologisch ordnet und ethisch erfüllt." Wenn nun von der Gemeinde als der „Ursache" der Predigt geredet wird, so ist es nicht mehr deren dogmatischer Begriff, sondern ihre empirische Gestalt, die Gemeinde „dieses Ortes, Landstriches und Klimas" 2 5 7 . In der ethischen Perspektive der Homiletik werden etwa die „Profanisierung und Säkularisierung heutiger Menschen" 2 5 8 , der „moderne Mensch", der als einzelner zur Predigt kommt 2 5 9 , und „die .Bildung* des Hörers" 2 5 0 als Probleme gegenwärtiger Predigtarbeit thematisiert und in den ethischen „Zusammenhang von Predigt und Leben" eingeordnet. „Ohne Zusammenhang mit dem Leben des Alltags, etwa als bloß in sich ruhender Dogmatismus, der noch nicht einmal orthodox zu sein braucht, oder als Spekulation, etwa über .Wahrheit und Wirklichkeit', ist die Predigt tot. Die Predigt muß mit dem Leben des Alltags rechnen, aus christlichem Leben fließen, von lebendigem Evangelium zeugen, zu frommem Leben führen." 2 6 1 Ein „kritisches Kapitel" beschäftigt sich schließlich mit den „Schwächen und Kräfte(n) der Predigt", mit ihrem reduzierten Stellenwert, mit der einseitigen Zusammensetzung der Zuhörer, mit dem gesunkenen Bildungsstand der Pfarrer, dem „Verhältnis der Kirche zur Humanität", mit dem „Kanzelpathos" und der „Inflation der Worte" 2 6 2 . In seiner ethischen Beschreibung der Predigtpraxis vermittelt Trillhaas nicht nur eine Fülle praktischer Erfahrungen des Predigers. Die ethische Theorie der Predigt hat auch einen allgemeinen, einen theoretischen Aspekt. Sie führt zu einem kritischen Urteil über die gegenwärtige Predigt. „Die Pfarrhäuser haben ihre eigene Sprache, ihre eigene kleinbürgerliche Problematik, ihre Kirchensorgen. Aber der säkularisierte Mensch erkennt, wenn er zur Kirche kommt, in dieser Welt die seine nicht wieder. Er versteht 256 257 258 259 260 261 262
62
AaO, AaO, AaO, AaO, AaO, AaO, AaO,
S. S. S. S. S. S. S.
150. 151. 157. 159. 160. 179. 18 I f f .
diese Sprache nicht. Er teilt die Sorgen des Mannes auf der Kanzel nicht, er hat andere. Er fühlt dessen Angst oder Ängstlichkeit nicht mit. Jene milde und harmlose Christlichkeit, in der sich unsere Gemeindeblätter über 50 Jahre zum Verwechseln ähnlich geblieben sind, hat mit dem Mann auf der Straße nahezu nichts mehr zu schaffen. Schwach ist die Predigt, in der die ,Kirche' immerfort sich selbst zum Thema hat, sei es aus Phantasielosigkeit oder weil ihr die kirchenlose ,Welt draußen' zu unheimlich ist, oder weil sie in ihr eigenes Bild vergafft ist." 263 Die Entwicklung der Evangelischen Predigtlehre von Trillhaas zwischen 1935 und 1964 spiegelt den Wandel in der neueren Homiletik deutlich wider. Die Predigttheorie ist praktischer geworden. Und sie ist realistischer geworden. Nicht nur die Entfaltung der Prinzipien der Homiletik, sondern auch die empirische Beschreibung der gegenwärtigen Predigtpraxis gehört nun zu den wesentlichen Aufgaben der Predigtlehre. Die Analyse der wirklichen Predigtarbeit führt aber notwendig zu einer praktisch-ethischen Ergänzung und zu einer Relativierung der prinzipiellen Homiletik. Mit einem resignativen Akzent schreibt Trillhaas gegen Ende seiner Predigtlehre: „Wie wenig wird doch durch alle Homiletik die Predigt der Kirche wirklich geändert und gebessert!" 264 Das praktische Interesse an der Predigtarbeit und ihre theoretische Einordnung sind nun aber bei Trillhaas nicht miteinander verschmolzen. Die ethisch-praktische und die dogmatisch-prinzipielle Perspektive der Homiletik stehen sich teils ergänzend, teils kritisch gegenüber. Sie finden jedoch keine theoretische Verknüpfung. Ähnlich stehen auch in Ernst Langes homiletischen Überlegungen systematisch-theologische Predigtprinzipien und praktisch-theologisches Predigtverfahren nebeneinander 265 . Aber obwohl Lange theoretisch an der prinzipiellen Trennung beider Formen homiletischer Arbeit festhält, vollzieht er in der Begründung seines homiletischen Modells doch eine Ver263
AaO, S. 189. — Vgl. D. Rösslers persönlich formulierte Kritik am Hörerbezug vieler Predigten: „Ich bin, wie ich glaube, ein nicht ungeübter Predigthörer und -leser. Und oft genug mache ich die Erfahrung, daß mit wem immer, jedenfalls nicht ,mit mir' geredet wird. Wenn schon, was häufig ist, auf der Kanzel eine Sprache gesprochen wird, die ich nicht verstehe, und wenn dabei Gegenstände verhandelt werden, die mir nichts sagen, weil sie in meinem Leben nicht vorkommen, dann kann ich mir zwar von Berufs wegen zurechtlegen, warum wohl hier so und von solchen Dingen gesprochen wird, aber ,mit mir' redet ein solcher Prediger nicht." (D. Rösslers Predigtbesprechung, in: E. Lange: Die verbesserliche Welt. Möglichkeiten christlicher Rede erprobt an der Geschichte vom Propheten Jona, 1968, S. 71—77; S. 71). 264
W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 181. Die prinzipielle Predigttheorie liegt außerhalb des praktisch-homiletischen Interesses von E. Lange. Er grenzt die Grundlegung seines homiletischen Verfahrens ausdrücklich von einer systematisch-theologischen Predigtlehre ab (vgl. E. Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, aaO, S. 19f.). 265
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mittlung zwischen Begriff und Wirklichkeit der Predigt. Lange gewinnt die Möglichkeit dazu, indem er eine theologische Definition nicht für das spezielle Gebiet der Sonntagspredigt, sondern für den übergeordneten Zusammenhang des gesamten kirchlichen Handelns formuliert, aus dem die Sonntagspredigt dann mit Hilfe praktisch-theologischer Methoden ausgegrenzt werden kann. Als Verstehensmuster des gegenwärtigen kirchlichen Handelns wirkt das dogmatische Prinzip aber auf die Beschreibung der Predigt in gleicher Weise normierend wie in der traditionellen dogmatischen Predigttheorie. Bildet das kirchliche Handeln den „Wirkungszusammenhang .Kommunikation des Evangeliums' ", so erscheint die Predigt als Spezies dieser Gattung, als ,,eine unter vielen Verständigungsbemühungen der Kirche" 266 . Das von Lange angewandte Vermittlungsschema ist nicht neu. Es hat schon eine homiletische Tradition. Ganz analog zu Langes homiletischem Denken ist eine der klassischen Predigtlehren der dialektischen Theologie aufgebaut. Helmuth Schreiners Homiletik „Die Verkündigung des Wortes Gottes" 267 beginnt mit einer dogmatischen Einleitung über „Das Wort Gottes". Dann folgt — im Sinne Langes wohl Prolegomena der Homiletik zu nennen — die „Lehre von der Verkündigung". Und daran schließt sich endlich der Hauptteil des Buches, die „Predigtlehre" an. Der Begriff der Predigt wird wie bei Lange aus dem übergeordneten Verkündigungsprozeß abgeleitet. „Verkündigung ist jedes von einem berufenen Gliede der Kirche in öffentlicher Rede an Menschen der Gegenwart gerichtete Zeugnis vom Wort Gottes, welches der göttlichen Verheißung glaubt, daß es vom Heiligen Geist zum Gestaltungsmittel des gegenwärtigen Sprechens Gottes mit den Menschen begnadet wird, damit christliche Gemeinde gebaut werde." 268 Ergibt sich der Begriff der Verkündigung „mit Notwendigkeit aus dem bisher über das Wort Gottes und den Beruf der Kirche Gesagten", so wiederum der Begriff der Predigt aus dem der Verkündigung. „Verkündigung und Predigt werden nicht als ein und dasselbe angesprochen. Die Predigt wird als eine besondere Gestalt der Verkündigung angesehen." Denn es „ist unbestreitbar, daß es christliches Zeugnis in der Arbeit der Kirche gibt — im Dienst der Volksmission wie der Weltmission —, das Verkündigung im strengen Sinn genannt werden muß und doch nicht den spezifischen Charakter der Predigt trägt." Schreiner sieht die „Eigenart der Predigt" in ihrer „liturgischen Bindung durch den Gottesdienst der Gemeinde" 269 . 266 E. Lange, aaO, S. 14 (Hervorhebung von Lange) u. ö. — Auch W. Jetter verwendet in seinen homiletischen Arbeiten die Begriffe „Kommunikation des Evangeliums" (Die Predigt als Institution und Instrument, aaO, S. 50) und „Kommunikationsbemühungen" (aaO, S. 52). 267 H. Schreiner: Die Verkündigung des Wortes Gottes, 5. Aufl. 1949, I. Teil: Das Wort Gottes (S. 1 1 - 8 4 ) , II. Teil: Die Lehre von der Verkündigung (S. 8 5 - 1 2 3 ) , III. Teil: Predigtlehre (S. 1 2 4 - 2 7 5 ) . 26B 269 H. Schreiner, aaO, S. 98 . AaO, S. 98f.
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Auch nach Lange besteht die Aufgabe und die Schwierigkeit einer Definition der Predigt darin, „den homiletischen Akt . . . von anderen Kommunikationsbemühungen und Kommunikationsformen der Kirche zu unterscheiden." „Um die Relevanz der christlichen Überlieferung geht es ja schließlich auch in den Arbeitsformen des Katechumenats, des Gemeindewie des Jugendkatechumenats, in der Seelsorge, letztlich auch in der Diakonie und im Religionsunterricht an der Schule." Die verschiedenen Kommunikationsformen des Evangeliums werden „von der Situation her" bestimmt. Die Situation der Predigt und daher auch der theoretische Rahmen zur Definition des Predigtbegriffs ist „die Situation der sonntäglich versammelten Gemeinde in der Parochie" 270 . Aber nicht nur die methodischen Formen verbinden Schreiner und Lange. Vielmehr lassen sich auch hinsichtlich der theologischen Grundvorstellungen Querverbindungen herstellen. Im Zentrum der Predigtdefinition Schreiners steht das „an Menschen der Gegenwart gerichtete Zeugnis vom Wort Gottes, welches der göttlichen Verheißung glaubt, daß es vom Heiligen Geist zum Gestaltungsmittel des gegenwärtigen Redens Gottes mit den Menschen begnadet wird" 271 . Die Verheißung der Wirksamkeit des Wortes Gottes in der Gegenwart prägt auch Langes Predigtdefinition. „Der homiletische Akt ist eine Verständigungsbemühung. Gegenstand dieser Bemühung ist die christliche Überlieferung in ihrer Relevanz für die gegenwärtige Situation des Hörers und der Hörergemeinde. Die Verheißung dieser Verständigungsbemühung ist das Einverständnis und die Einwilligung des Glaubens in das Bekenntnis der christlichen Kirche, daß Jesus Christus der Herr sei, und zwar in der zugespitzten Form, daß er sei mein Herr in je meiner Situation." 272 Schreiner hatte in der „Lehre von der Verkündigung", der „allgemeine(n) Homiletik", Verkündigung und Predigt aus dem „Beruf der Kirche in der Welt" 273 , aus ihrem „Auftrag" 274 abgeleitet. Lange sieht geradezu die Eigenart des praktisch-theologischen Predigtbegriffs darin, daß er im Gegensatz zum systematisch-theologischen weniger von der Verheißung als vielmehr vom „Predigtauftrag der Kirche" ausgeht. „Die Praktische Theologie aber, als das Nachdenken über die Vollzüge der gegenwärtigen Kirche und ihre verantwortliche Wahrnehmung, fragt nach dem Auftrag, der diese Verheißung hat, und nach seiner verantwortlichen Erfüllung." 275 Die theologische Voraussetzung und das Ziel der Predigt schließlich sind bei Lange so wenig strittig wie bei Schreiner. Geht Schreiner von der „Ver270 271 272 273 274 275
E. H. E. H. H. E.
Lange: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, aaO, S. 20. Schreiner, aaO, S. 124. Lange, aaO, S. 20. Schreiner, aaO, S. 85. Schreiner, aaO, S. 89. Lange, aaO, S. 19.
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kiindigung des Wortes Gottes" aus, so Lange von der „Relevanz der christlichen Uberlieferung" 276 . Und war das Ziel der Predigt bei Schreiner, daß „christliche Gemeinde gebaut werde" 277 , so lautet es bei Lange: Klärung der Hörersituation 278 . Und „die Klärung der homiletischen Situation geschieht durch bezeugende Interpretation der biblischen Uberlieferung" 279 . Die Gültigkeit der formalen und materialen Grundformen homiletischen Denkens reicht freilich über die Grenzen der dialektischen Theologie und der gegenwärtigen praktisch-theologischen Homiletik hinaus. So findet sich das Theoriemodell von Schreiner und Lange beispielsweise auch bei Gustaf Wingren280. Seine Predigttheorie geht ebenfalls — wenn auch nicht so ausdrücklich — von dem Schema der Vermittlung von Begriff und Erscheinung der Predigt aus. Nur leistet Wingren diese Vermittlung nicht, weil er lediglich den der Sonntagspredigt übergeordneten Begriff des kirchlichen Handelns thematisiert, an allen im engeren Sinne homiletischen Problemen aber nicht interessiert ist. Daß er für diesen allgemeinen kirchlichen Handlungsrahmen nicht den Begriff der Verkündigung sondern den der Predigt wählt 281 , trägt allerdings nicht zur Verdeutlichung dieser Vermittlung bei. Diese Begriffsübertragung bildet auch den Angriffspunkt für die Kritik, die Trillhaas an einer solchen, an praktischen Problemen ganz desinteressierten homiletischen Theorie geltend gemacht hat 282 . Bei Wingren findet sich endlich auch der Grundbegriff, den Lange zum Schlüsselwort seiner Konzeption gemacht hat, der Begriff der Situation. Untersucht man, was Lange und Wingren mit dem Begriff meinen, so wird man nicht allzuviel Gemeinsames entdecken können. Trotzdem besteht eine deutliche formale Parallelität zwischen beiden Theoriemodellen. Wingren schreibt nach der thematischen Behandlung der Bibel als Text der Predigt ein Kapitel über die „Faktische Lage des hörenden Menschen, über die menschliche Situation, in die hinein die Predigt wirkt und die sie voraussetzen muß, wenn sie überhaupt echte Predigt sein will" 283 . Bei Lange ist die „Klärung der Situation" geradezu zum Ziel der Predigt geworden. Denn Klärung der Situation ist „in der Tat, streng im Rahmen zwischenmenschlicher Kommunikationsmöglichkeiten, Veränderung der Situation" 284 .
276 277 278 279 280 281 282 283 284
66
E. Lange, aaO, S. 20. H. Schreiner, aaO, S. 124. E. Lange, aaO, S. 23. E. Lange, aaO, S. 26. G. Wingren: Die Predigt, 2. Aufl. 1959. G. Wingren, aaO, S. 19. W. Trülhaas, Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl., 1964, S. 5. G. Wingren, aaO, S. 90. E. Lange, aaO, S. 26.
3. Das Verfahren der
Predigttheorie
Die Analyse der gegenwärtigen Homiletik deckt den Wandel der homiletischen Perspektiven und Methoden auf, der sich vor allem im Gebiet der praktischen Theologie vollzieht. Aber sie weist ebenso auch auf die Kontinuität der praktisch-theologischen Predigttheorie mit der traditionellen theologischen Homiletik hin. Die gegenwärtigen Neuansätze einer praktischtheologischen Homiletik — sowohl die Rezeption neuer Methoden in der prinzipiellen Predigtlehre als auch die Grundlegung praktischer Predigtmodelle — brechen keineswegs mit den traditionellen homiletischen Denkformen. Sie markieren vielmehr Stadien in einem Entwicklungsprozeß, der das theologische Denken im Ganzen erfaßt hat. Die Integration der Homiletik in die theologische Arbeit, das Charakteristikum der vergangenen Jahrzehnte homiletischer Entwicklung, ist nicht nur der Anlaß für das neue praktisch-theologische Denken, sondern ebenso auch dessen Grundvoraussetzung. Nur auf dem Hintergrund der interdisziplinären homiletischen Arbeit der ganzen Theologie läßt sich das gegenwärtige homiletische Interesse der praktischen Theologie und ihre kritische Einstellung gegenüber manchen einseitigen Entwicklungen der Predigtlehre begreifen und bewerten. Die Probleme der homiletischen Theoriebildung, die sich der praktischtheologischen Homiletik gegenwärtig stellen, betreffen deshalb die ganze Theologie. Es ist gegenwärtig offenbar weniger denn j e möglich, einzelne Aspekte der Predigtarbeit und ihrer Theorie isoliert zu bearbeiten. Die Erkenntnis, daß es sich bei der Predigt um einen komplexen Prozeß handelt, der nur dann richtig beschrieben werden kann, wenn der Zusammenhang seiner Elemente hinreichend deutlich gemacht wird, verlangt nach einer homiletischen Theorie, in der die theoretischen und die praktischen Momente des homiletischen Denkens und Arbeitens nicht unvermittelt nebeneinanderstehen, sondern systematisch miteinander verarbeitet sind. Dietrich Rössler bezeichnet „eine Predigtlehre, in der sich Prinzip und Erfahrung kritisch vermitteln", als „das homiletische Problem der Gegenwart" 2 8 5 . Und es scheint, daß die praktische Wendung der Homiletik in der Tat gegenwärtig vor allem ein theoretisches Problem der Theologie darstellt. Die praktische Theologie scheint zu einer Lösung ihrer eigenen Theorieprobleme kaum in der Lage zu sein. Denn die praktischen Predigtmodelle entfalten sich nicht selten neben der strengen theologischen Reflexion. Und die Anwendung kybernetischer und soziologischer Erkenntnisse auf die Predigt führt eher zu einer immer schärferen Kritik nicht nur an der Homiletik, sondern auch schon an der Predigt. Zur Überwindung der vielD. Rössler: Das Problem der Homiletik (Thpr 1, 1 9 6 6 , S. 2 8 ) .
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beschworenen Predigtkrise scheinen die methodischen Neuansätze der Homiletik dagegen wenig beizutragen. Die Homiletik muß sich in dieser Lage ihrer geschichtlichen Bedingungen bewußt werden. Denn ihre Probleme sind so einzigartig nicht, wie es das epochale Selbstbewußtsein mancher homiletischer Programme gelegentlich erscheinen läßt 2 8 6 . Wolfgang Trillhaas erinnert an eine Epoche der Predigttheorie, die dem gegenwärtigen homiletischen Denken zugleich fremd und verwandt zu sein scheint. Nach seinem Urteil ist es jener Zeit gelungen, die „Predigtpraxis von dem steilen Anspruch der Predigt" 2 8 7 zu lösen und damit in die Homiletik „eine neue und folgenschwere Note" 2 8 8 einzubringen. Den Bedingungen des gegenwärtigen homiletischen Denkens in der „liberalen" Homiletik nachzugehen, dürfte daher in der Tat „ein Forschungsdesiderium der Praktischen Theologie" sein 289 . In der „Modernen Predigt", einer homiletischen Bewegung zu Beginn unseres Jahrhunderts, liegt ein Modell homiletischer Theorie und Praxis vor, das der Komplexität der Predigt in der Neuzeit methodisch nachgeht, sie wissenschaftlich reflektiert und schließlich in einem theoretischen System verdichtet, das jenseits seiner historischen und vor allem theologischen Beschränkung exemplarische Gültigkeit auch für die gegenwärtige Situation der Homiletik gewinnen könnte. Im folgenden sollen die wesentlichen Momente der ,.Modernen Predigt" und ihrer Theorie dargestellt werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der Hauptvertreter dieser homiletischen Bewegung, Friedrich Niebergall 290 . Doch kommen daneben auch Otto Baumgarten, Paul Drews, Theodor Häring, Alfred Uckeley und schließlich Heinrich Bassermann u. a. zu 286
Das epochale Selbstbewußtsein gegenwärtiger Neuansätze spitzt sich in B. Päschkes programmatischen Ausführungen zu, wenn er die gesamte „traditionelle und zeitgenössische ekklesiologische Begründung der praktischen Theologie" (Praktische Theologie als kritische Handlungswissenschaft. Thpr 6, 1971, S. 4) von Schleiermacher, über C. I. Nitzsch, A. Schweizer, O. Haendler, R. Bohren, W. Jetter, H.-D. Bastian und H.-E. Bahr pauschal zu destruieren versucht. Wie der ganzen Predigt-Theorie steht Päschke auch der gesamten homiletischen Praxis distanziert gegenüber (vgl. aaO, S. 5). 287 W. Trillhaas: Die wirkliche Predigt, aaO, S. 194. 288 W. Trillhaas: aaO, S. 193. 289 F. Wintzen Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der .dialektischen Theologie', 1969, S. 171, Anm. 290 Friedrich Niebergall wurde am 20. 3. 1866 in Kirn an der Nahe geboren. Er war dort seit 1892 Pfarrer. 1903 wurde Niebergall Privatdozent, 1908 a. o. Professor für Praktische Theologie in Heidelberg, 1922 o. Professor für Praktische Theologie in Marburg. Niebergall starb im Jahr 1932. — Niebergalls homiletisches Werk ist auf eine Vielzahl von Aufsätzen verteilt, findet sich aber in systematischer Darstellung konzentriert in seinem homiletischen Hauptwerk „Wie predigen wir dem modernen Menschen?". Dieses Werk ist in drei Teile gegliedert: 1. Teil: „Eine Untersuchung über Motive und Quietive", 1902, 2. Aufl. 1905. — 2. Teil: „Eine Untersuchung über den Weg zum Willen", 1906. - 3. Teil: „Predigten, Andachten, Reden, Vorträge", 1921. (Im folgenden wird der 1. Band stets in der 3. Aufl. von 1909, der zweite Band in der 1.
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Wort 2 9 1 . Das leitende Interesse der Darstellung ist freilich nirgends ein rein historisches. V i e l m e h r sollen diejenigen M o m e n t e der „ m o d e r n e n Predigt" herausgearbeitet w e r d e n , die zu kritischen I m p u l s e n für die gegenwärtige H o m i l e t i k w e r d e n k ö n n t e n . Wolfgang Trillhaas sieht in Friedrich Niebergalls Programm der m o d e r n e n Predigt „ein Bündel v o n Anliegen, die d a n n freilich im A u f k o m m e n der dialektischen T h e o l o g i e p l ö t z l i c h als u n w e s e n t lich u n d u n s a c h g e m ä ß beiseitegesetzt w u r d e n . " Aber „sie sind darum nicht erledigt. Sie drängen sich h e u t e in einer radikalen Zuspitzung w i e d e r in d e n Vordergrund." 2 9 2 D i e Beschäftigung m i t der „ M o d e r n e n Predigt" k ö n n t e einerseits historische V o r a u s s e t z u n g e n des gegenwärtigen h o m i l e t i s c h e n D e n k e n s a u f d e c k e n u n d andererseits ein Modell für die h o m i l e t i s c h e T h e o r i e der Gegenwart abgeben. Sie k ö n n t e damit zur Erhellung der gegenwärtigen Situation der H o m i l e t i k u n d endlich zur Ü b e r w i n d u n g der „Krise der Predigt" beitragen. und 2. Aufl. von 1906 zitiert.) - In der Praktischen Theologie (Bd. I, 1918 und Bd. II, 1919), der „Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage" (Untertitel), bildet die Predigtlehre einen Hauptteil des II. Bandes. Dort werden die Voraussetzungen der Predigtarbeit (S. 67ff.), die Aufgabe der Predigtarbeit (S. 98ff.), der Stoff der Predigt (S. 131ff.) und die Form der Predigt (183ff.) behandelt. Die Homiletik F. Niebergalls und überhaupt die moderne Predigtbewegung ist bisher nirgends so umfassend untersucht und dargestellt worden. Die ausführlichste Darstellung des Programms der .modernen Predigt' findet sich bei F. Wintzen Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der .dialektischen Theologie' in Grundzügen, 1969. Dort werden sowohl die „Neuansätze in der Homiletik zwischen 1890 und 1920" im Zusammenhang (S. 119ff.) als auch „Friedrich Niebergalls Programm der modernen Predigt" (S. 171ff.) als eigener homiletischer Entwurf behandelt. Eine ins einzelne gehende Untersuchung der homiletischen Konzeption von Niebergall liegt freilich nicht im Interesse der Arbeit von Wintzer. — Eine Untersuchung der pädagogischen Tendenzen von F. Niebergalls Praktischer Theologie legte J . V . Sandberger vor: Pädagogische Theologie. Friedrich Niebergalls Praktische Theologie als Erziehungslehre (1972). — Eine Würdigung F. Niebergalls zu seinem 100. Geburtstag schrieb F. Frey unter dem Titel „Motive und Quietive" (DtPfrBl 66, 1966, S. 156-158). Im Zusammenhang der Theoriegeschichte der Praktischen Theologie behandelt schließlich W. Birnbaum Niebergalls theologischen Ansatz in der Verbindung mit P. Drews und H. Bassermann (Birnbaum: Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis K. Barth, 1963, vor allem S. 182ff.). — Eine Auseinandersetzung mit den genannten Werken findet sich an den entsprechenden Stellen der folgenden Darstellung der ,Modernen Predigt'. Im übrigen muß sich die Untersuchung der homiletischen Arbeit von F. Niebergall wegen der fehlenden literarischen Bearbeitungen im wesentlichen auf Niebergalls eigene Werke und auf die Veröffentlichungen seiner Freunde beschränken. 291
O. Baumgarten: Predigt-Probleme, 1904. — P. Drews: Die Predigt im 19. Jahrhundert, 1903; ders.: Das Problem der Praktischen Theologie, 1910. — Th. Häring: Zeitgemäße Predigt, 1902. — A. Uckeley: Moderne Predigtideale, 1910. — M. Schian: Die Predigt, 1906. — Zu Bassermann vgl. vor allem seine „Beiträge zur Praktischen Theologie", 1909. 292 W. Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1964, S. 26. 69
ZWEITES KAPITEL
Die Praxis der ,Modernen Predigt' I. Die Situation der Predigt in der modernen Gesellschaft
1. Das homiletische
Situationsbewußtsein
— Elemente,
Motive,
Argumente
Wer von der Predigtnot, von einer Misere oder Krise der Predigt, von ihrem Funktionsverlust oder ihrem Bedeutungsschwund redet 1 , der tut dies in dem Bewußtsein, damit ein Symptom unserer gegenwärtigen kirchlichen Situation zu bezeichnen. Offenbar sind es die Zeitumstände, die dem Pfarrer das Predigen erschweren. Die kritische Situation der Predigt in der Gegenwart wird zum Ausgangspunkt für praktische Reformen wie für theoretische Analysen, zum Argument für die Skepsis mancher Predigttheoretiker und zum Motiv einer homiletischen Erneuerung. Das homiletische Krisenbewußtsein ist zum Symbol der eben beginnenden homiletischen Epoche geworden. Der „negative Konsensus" 2 in der gegenwärtigen Predigtlehre reicht freilich weit über deren Grenzen hinaus. Gerade die homiletische Bewegung, die um die Jahrhundertwende die praktische Theologie kennzeichnete, begründete ihren Elan mit der Krise, in die die Predigt in der Neuzeit geraten ist. Nicht umsonst gab sich diese Bewegung selbst den Namen „Moderne Predigt" 3 . Und dieses Emblem eines epochemachenden Selbstbewußtseins 1 Vgl. zu diesen Begriffen und ihrem Zusammenhang in der homiletischen Situationsanalyse der Gegenwart die oben, in Anm. 1, 4 6 , 47, 48, 49 u n d 50 des ersten Kapitels genannte Literatur. 2 D. Rössler charakterisiert den „negativen Konsensus" in der gegenwärtigen Homiletik in: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit (Predigtstudien, Beiheft 1, 1968, S. 9f.). 3 Die .Moderne Predigt' ist nicht das homiletische Konzept eines einzelnen Theologen, sondern ein homiletischer Ansatz, der ebenso die homiletischen Arbeiten von Friedrich Niebergall (vgl. vor allem: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, 1902ff. u n d ders.: Die m o d e r n e Predigt, 1929) wie von O t t o Baumgarten (Predigt-Probleme, 1904), von Alfred Uckeley (Moderne Predigtideale, 1910) wie von Martin Schian (Die Predigt, 1906) bestimmt. Von einer homiletischen „Bewegung" zu sprechen, scheint auch deshalb berechtigt, weil die .moderne Predigt' weder bloß eine praktische Predigtreform noch lediglich ein theologisches System bezeichnet. Die Eigenart der .modernen Predigt' besteht gerade in der ständigen Thematisierung des Zusammenhangs von homiletischer Theorie u n d Praxis. Die .moderne Predigt' meint ebenso eine bestimmte kirchliche Praxis wie die dazugehörende theologische Theorie. Auch F. Niebergall selbst versteht die .moderne Predigt' als eine homiletische Bewegung, wenn er in seinem Buch „Die
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prägt auch die Titel der h o m i l e t i s c h e n V e r ö f f e n t l i c h u n g e n . „Wie predigen wir d e m m o d e r n e n M e n s c h e n ? " 4 , „ D i e m o d e r n e Predigt" 5 , „ Z e i t g e m ä ß e Predigt" 6 , „Wie g e w i n n e n wir das Vertrauen der M o d e m e n ? " 7 , „Moderne Predigtideale" 8 , „ N e u z e i t l i c h e Predigtideale" 9 — das sind die T h e m e n einer H o m i l e t i k , die sich der Eigenart ihrer Perspektiven, ihrer Fragen u n d L ö s u n g e n b e w u ß t war, die sich selbst aus d e m Gegensatz zu ihrer unmittelbaren Vergangenheit d e f i n i e r t e 1 0 u n d der Friedrich Niebergall drei Jahrz e h n t e später d e n Nachruf schrieb, der selbst in der verbitterten Resignation n o c h etwas v o n d e m S e l b s t b e w u ß t s e i n verrät, v o n d e m die „ m o d e r n e Predigt" lebte 1 1 . moderne Predigt" (1929) schreibt: „Es wird also die homiletische Bewegung unser erster Gegenstand sein, die um die Jahrhundertwende begann und nun langsam aufgehört hat" (aaO, S. 57). Zum Programm der .modernen Predigt' vgl. besonders auch F. Niebergall: Die moderne Predigt (ZThK 15, 1905, S. 2 0 3 - 2 7 2 ) . Die ausführlichste zusammenfassende Darstellung der modernen Predigtbewegung findet sich in: F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929. 4 F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen? l.Bd.: Eine Untersuchung über Motive und Quietive, 1902. 2. Bd.: Eine Untersuchung über den Weg zum Willen, 1906. 3. Bd.: Predigten, Andachten, Reden, Vorträge, 1921. 5 F. Niebergall: Die moderne Predigt (ZThK 15, 1905, S. 2 0 3 - 2 7 2 ) und ders.: Die moderne Predigt, 1929. 6 Th. Häring: Zeitgemäße Predigt, 1902. 7 F. Niebergall: Wie gewinnen wir das Vertrauen der Modernen? (MPTh 25, 1929, S. 135-141). 8 A. Uckeley: Moderne Predigtideale, 1910. 9 M. Schian: Neuzeitliche Predigtideale (MPTH 1, 1905, S. 8 8 - 1 0 9 ) . 10 Das Epochenbewußtsein der .modernen Predigt' kommt sowohl in der Einschätzung der .modernen' Predigtpraxis als auch in der Einordnung ihrer Theorie zum Ausdruck. So unterscheidet Niebergall etwa die moderne Predigt von der vormodernen, unmodernen und nachmodernen Predigt (Die moderne Predigt, 1929, S. 79ff.) und die .moderne' Homiletik von der rationalistischen, der orthodoxen und der liberalen Predigttheorie (aaO, S. 57ff.). In seinem Sprachgebrauch heißt auch die theologische Position, die der modernen Predigt und ihrer theoretischen Entfaltung zugrundeliegt, „moderne Theologie" (vgl. aaO, S. 54ff. und überhaupt den Abschnitt S. 49—56). Niebergall begründet moderne Predigt, moderne Homiletik und moderne Theologie gemeinsam aus dem „Geist der Zeit" (Die moderne Predigt. ZThK 15, 1905, S. 2 0 3 - 2 7 2 ; S. 206ff.). Schließlich prägt das Epochenbewußtsein der .modernen Predigt' auch Niebergalls Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie. Er versteht beide theologischen Positionen als einander gegenüberstehende theologische .Generationen'. Niebergall geht davon aus, „daß die Theologie, die bis jetzt die verbreiteteste war, die sog. moderne in ihren verschiedenen Ausprägungen, das geschichtliche Alter von 20—30 Jahren erreicht habe und darum in den Ruhestand gehen müsse" (Die neueste Theologie und die Praxis. MPTh 25, 1929, S. 1 3 - 1 8 ; S. 13). Zur Auseinandersetzung mit der beginnenden dialektischen Theologie vgl. außerdem: F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929 und ders.: Moderne und modernste Theologie (Die Wartburg 30, 1931, S. 1 0 7 - 1 1 0 ; 141-144; 175-179; 2 8 7 - 2 9 0 ) . 11 Niebergalls resümierender Rückblick auf die moderne Predigtbewegung findet sich vor allem in „Die moderne Predigt" (1929). Vgl. auch die Auseinandersetzung zwischen F. Niebergall und L. Schiaich (F. Niebergall: Die neueste Theologie und die 71
D i e P r e d i g t w a r z u m P r o b l e m g e w o r d e n , für d e n P r e d i g e r w i e für d e n H ö r e r , für d e n T h e o l o g e n w i e für d e n L a i e n . D i e P r e d i g t w a r n i c h t n u r , w i e E d u a r d T h u r n e y s e n 1 9 2 6 schreibt, das „ K e r n p r o b l e m der T h e o l o g i e " 1 2 , sondern sie w a r z u g l e i c h a u c h das G r u n d p r o b l e m d e r K i r c h e . K a r l B a r t h h a t t e k u r z v o r h e r i m B l i c k a u f d i e L a g e d e r P r e d i g t „ d i e s e k r i t i s c h e S i t u a t i o n " als d i e „ E r l ä u t e r u n g des W e s e n s aller T h e o l o g i e " b e z e i c h n e t u n d g e f r a g t : „ W a s k a n n T h e o l o g i e a n d e r e s sein, als d e r A u s d r u c k d i e s e r a u s w e g s l o s e n L a g e und F r a g e des Pfarrers, die m ö g l i c h s t w a h r h a f t i g e B e s c h r e i b u n g des Ged r ä n g e s , in das d e r M e n s c h k o m m t , w e n n e r a n diese A u f g a b e sich h e r a n w a g t , ein R u f also aus g r o ß e r N o t u n d g r o ß e r H o f f n u n g a u f E r r e t t u n g ? " 1 3 Friedrich Niebergall, der A n t i p o d e der B a r t h s c h e n H o m i l e t i k 1 4 , e m p f i n d e t ä h n l i c h . E r s c h r e i b t 1 9 2 5 : „ D i e P r e d i g t ist das S c h m e r z e n s k i n d d e r evangel i s c h e n K i r c h e . M a n m a g sie n i c h t , u n d m a n k a n n sie d o c h n i c h t lassen. D a s gilt v o n b e i d e n S e i t e n , die m i t ihr zu t u n h a b e n . D a s W o r t v o n d e n p r e d i g t m ü d e n G e m e i n d e n sagt E t w a s , d a s w e i t h i n gilt. M a n k ö n n t e es n o c h s c h ä r fer a u s d r ü c k e n : d i e P r e d i g t ist für V i e l e v e r ä c h t l i c h o d e r g a r k o m i s c h gew o r d e n . S i e h a t i h r e n K r e d i t v e r l o r e n . M a n n i m m t sie in w e i t e n K r e i s e n Praxis. MPTh 2 5 , 1 9 2 9 , S. 1 3 - 1 8 ; - L. Schiaich: Die neueste Theologie und die Praxis. Eine Antwort an Prof. D. Fr. Niebergall. MPTh 2 5 , 1 9 2 9 , S. 7 2 - 7 6 ) , in der Schiaich die Kritik der Homiletik Niebergalls mit der Frage einleitet: „Warum diese müde Resignation?" (aaO, S. 72). 1 2 E. Thurneysen: Das Wort Gottes und die Predigt. Im Anschluß an Karl Fezers gleichnamiges Buch (ThBl 5 , 1 9 2 6 , S. 1 9 7 - 2 0 3 ) . Thurneysen schreibt: „Die christliche Predigt ist das Kernproblem der Theologie. An der Tatsache der Predigt, dem christlichen Reden von Gott, nimmt sie ihren Ausgang. Daran daß dieses christliche Reden von Gott zurückweist auf die Predigt der Kirche hinter uns, diese auf die sie begründende Predigt der Apostel, entsteht die historische Theologie im weitesten Sinne; daran daß diese Predigt in sich selber einen originalen Sinnzusammenhang verrät, entsteht die systematische, und daran daß diese Predigt weitergehen will und soll, die sogenannte praktische Theologie mit ihrem Kern, der Homiletik" (aaO, S. 1 9 7 ) . 1 3 K. Barth: Not und Verheißung der christlichen Verkündigung (In: Das Wort Gottes und die Theologie, 1 9 2 4 , S. 9 9 - 1 2 4 ; S. l O l f . ) . 1 4 Niebergall führ.t die theoretische Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie nicht in detaillierten Diskussionen etwa mit den theologischen Schriften von Barth. Er versteht die dialektische Theologie auch weniger als Entwurf von Barth und von Barths Freunden denn als eine allgemeine Umwälzung des ganzen theologischen Denkens durch eine zeitbedingte kirchliche und theologische Bewegung. „Hier ist keine Macht einer Gruppe von Neuerern und keine Schule im üblichen Sinn. Hier kam etwas aus der Tiefe der Dinge hervor, hier geschah der Durchbruch einer neuen Einsicht in das Christentum; also wenn man will: hier geschah eine Art von Offenbarung, es begann eine neue Periode des evangelischen Verständnisses unserer christlichen Religion" (Wartburg 3 0 , 1 9 3 1 , S. 1 0 7 ) . Ähnlich pauschal stellt Niebergall auch die Predigtpraxis der dialektischen Theologie als „nachmoderne" Predigt dar (Die moderne Predigt, 1 9 2 9 ,
S. 1 3 0 ; vgl. dort auch den Abschnitt über die dialektische Theologie, S. 5 5 f f . ) . Zur Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie vgl. außer den genannten Werken auch: F. Niebergall: V o m Predigen (ChW 4 2 , 1 9 2 8 , Sp. 3 4 - 3 7 ; Sp. 5 8 - 6 0 ) und ders.: Die gegenwärtigen kultischen Strömungen (ChW 3 8 , 1 9 2 4 , Sp. 7 8 6 - 7 9 5 ) . 72
nicht mehr ernst; der Mann da droben predigt, aber lieber tät er es nicht. Er spricht, aber er hat j a Nichts zu sagen; es sind Redensarten, Inflationsgeld, das durch keine dahinterstehenden reellen Werte gedeckt wird. Und wenn J e m a n d Anders einmal Etwas sehr pathetisch dahinspricht, dann heißt es: Er predigt. Wie würde sich aber erst dieses Urteil verschärfen, wenn man wüßte, wie es in dem Manne da droben aussieht! Im J a h r e 50— lOOmal von seelischen Dingen, von göttlichen Dingen zu reden, und zwar auf die bestimmte Stunde, in jeder Verfassung des Leibes, der Seele und des Hauses! Und vor denselben Leuten immer etwas Anderes zu sagen, damit sie sich nicht langweilen und wiederkommen! Und das alles als ein Mensch mit seiner unüberwindlichen Beschränktheit, was seine geistige Ausrüstung und was sein eigenes inneres Leben a n g e h t ! " 1 5 Aber wie bei Barth, so klingt auch in Niebergalls kritischer Bilanz die Hoffnung auf einen „neuen homiletischen Frühling" mit 1 6 . Die Predigt, „das Schmerzenskind ist auch die unglückliche Liebe der evangelischen Kirche". Und die Misere der Predigt wäre behoben, „wenn wir Etwas zu sagen hätten und Etwas sagten, was nicht nur wert wäre, gehört zu werden, sondern was auch den Hörern in ihrer innern N o t wirklich Hilfe b r ä c h t e " 1 7 . Die Krise der Predigt kann nicht dadurch gelöst werden, daß die Predigt aufgegeben, sondern nur dadurch, daß sie „besser und erfolgreicher getrieben" wird 1 8 . „Immer wird die Predigt ihren Platz behalten. Wir tun es nicht ohne sie und wir wollen es auch nicht." 1 9 Die Theorie der .modernen Predigt' will nichts anderes, als „jedem in seiner alltäglichen Predigtnot helfen" 2 0 . Eben dazu ist es aber notwendig, die Krise, in die die Predigt und ihre Theorie geraten ist, nicht zu verdrängen, sondern zu verstehen. Die „Predigtnot" wird „immer mehr gespürt". Und „es ist ein gutes Zeichen, daß es geschieht" 2 1 . Zu den stereotypen Elementen des homiletischen Situationsbewußtseins um die Jahrhundertwende gehört zunächst die Erkenntnis des reduzierten Stellenwerts von Gottesdienst und Predigt. Der Eindruck der „leere(n) K i r c h e n " 2 2 bestimmt das Bewußtsein des Pfarrers. „ E s ist ein bitteres Gefühl, wenn man sehen muß, wie sich bald dieser, bald jener nicht mehr auf seinem Platz in der Kirche zeigt, dessen Anwesenheit einem Freude gel s F. Niebergall: Predigttypen und Predigtaufgaben der Gegenwart (ChW 39, 1925, Sp. 5 7 8 - 5 8 8 ; 7 3 5 - 7 4 3 ; Sp. 578f.). 1 6 F. Niebergall nimmt dieses Bild von P. Drews (Die Predigt im 19. Jahrhundert, 1903, S. 59) öfter auf, z.B. in: Die moderne Predigt, 1929, S. 69. 1 7 F. Niebergall: Predigttypen, aaO, Sp. 579. l s F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 1, S. 1. 1 9 F. Niebergall: Echte Predigt (EvFrht 20, 1920, S. 3 5 4 - 3 6 3 ; S. 361). 2 0 F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. III. 2 1 F. Niebergall: Echte Predigt, aaO, ebd. 2 2 So lautet der Titel einer Meditation für Pfarrer. Niebergall sammelte eine Reihe von solchen Reflexionen der Situation des Pfarrers in: Mut und Trost fürs geistliche Amt, 1907. Vgl. dort, S. 80ff.
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macht hat." 23 Wer der Situation der Predigt in der modernen Gesellschaft nachgehen will, darf sich nicht damit begnügen, dieses Gefühl „durch abschätziges Urteil über die Ausbleiber zu betäuben". Er muß vielmehr in der Predigttheorie die Gründe für den geringen Kirchenbesuch erheben. Und er wird sich in seiner Predigtpraxis „durch den Anblick der leeren Plätze nur dazu treiben lassen, immer sein Bestes zu geben" 24 . In seinem Resümee der modernen Predigtbewegung versucht Friedrich Niebergall einen Überblick über die Gottesdienstbeteiligung in verschieden strukturierten Gemeinden zu gewinnen. Niebergall kann freilich keine wissenschaftlich gesicherten Ergebnisse vorlegen, sondern nur „Äußerungen von Predigern über ihre Gemeinde und ihre Predigttätigkeit" zusammenstellen, um damit einen Eindruck von der homiletischen Situation zu bekommen 25 . Aber auch der recht zufällige Querschnitt, der auf diese Weise zustandekommt, läßt das Ausmaß der Schwierigkeiten ahnen, in denen sich die Predigt offenbar befindet. Der Kirchenbesuch ist auf dem Lande nicht besser als in den Großstädten. Die Arbeiter kommen ebensowenig zur Predigt wie die Studenten. Auch die regionalen Differenzen scheinen unbedeutend. Überall sind es zwischen ein und drei Prozent der Kirchenmitglieder, die sonntags die Predigt hören 26 . 23
F. Niebergall, aaO, S. 80. F. Niebergall, aaO, ebd. — Der Zusammenhang von realistischer Situationsbeurteilung u n d optimistischem Reformbemühen ist bezeichnend für den homiletischen Elan, der die .moderne Predigt' durchweg charakterisiert. 25 F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, Anhang zum II. Teil, S. 1 3 0 - 1 4 2 . - Niebergalls subjektiver Eindruck wird freilich durch die exakteren Angaben über den Kirchenbesuch der Zeit belegt. Vgl. dazu die seit 1902 erschienenen Bände der von P. Drews herausgegebenen „Evangelische(n) Kirchenkunde", in denen das kirchliche Leben der deutschen evangelischen Landeskirchen ausführlich untersucht u n d dargestellt wird. Parallele statistische Angaben für die Zeit der J a h r h u n d e r t w e n d e finden sich außerdem in: P. Pieper: Kirchliche Statistik Deutschlands, 1899; vgl. dort besonders die Zusammenstellung auf S. 234ff. 24
26 In Breslau etwa, w o „noch ein Stamm alter Kirchlichkeit" vorhanden ist, gehen von 1 2 0 0 0 Gemeindegliedern höchstens 300 zur Kirche (F. Niebergall, aaO, S. 130) u n d im „vornehmen Westen" Berlins von 28 000 „an gewöhnlichen Sonntagen vormittags gegen 8 0 0 " (aaO, S. 132f.). Γη den Vorstädten, wo die Gemeinden „fast ausschließlich aus zu allermeist sozialdemokratisch eingestellten Arbeiterfamilien" bestehen, ist der Gottesdienstbesuch naturgemäß „äußerst gering": „recht o f t waren k a u m ein Dutzend Menschen in der Kirche". Resigniert schreibt ein Pfarrer: „Die Arbeiter, die ich mir vor allem als Hörer wünschte, sind wohl nie in größerer Zahl g e k o m m e n " (aaO, S. 136). — Nicht besser steht es in ländlichen Gemeinden. Ein Dorfpfarrer führt den relativ guten Gottesdienstbesuch (40 bis 50 von 1 600) auf die „günstige Kriegskonj u n k t u r " zurück (aaO, S. 140). In einer anderen ländlichen Gemeinde k o m m e n von 5 000 Gemeindegliedern nur 50 bis 60 zum Gottesdienst (aaO, S. 141). — Auch in den Universitätsstädten ist der Gottesdienstbesuch schlecht. So schreibt etwa Stange aus Göttingen: „Die Beteiligung der Studenten ist im Verhältnis zur Gesamtzahl der Studierenden sehr gering. Es werden vielleicht 1 bis 3 Prozent unserer Studenten zum Universitätsgottesdienst k o m m e n . Selbst von den Theologen ist nur ein Teil ge-
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Niebergall ergänzt die quantitative Beschreibung der Gottesdienstbeteiligung durch eine — freilich ebensowenig objektive — Analyse der sozialen Schichtung der Gottesdienstbesucher. Überall setzen sich die Predigthörer vorwiegend aus „dem kirchlichen .Kreise" der Gemeinde 27 , aus „kirchlich erzogenen Gliedern des höheren und schlichten Mittelstandes" zusammen 28 . Und wenn es auch schwierig ist, „über die Kirchlichkeit der Gemeinde zu urteilen" — so schreibt Karl Hesselbacher —, man kann doch „ungefähr sagen, daß es ähnlich ist wie anderswo: die gebildete Welt ist nicht eigentlich als kirchlich anzusehen. Aber es findet sich in ihr ein Stamm kirchentreuer Leute, die regelmäßig zu ihrem Gottesdienst kommen. Andere erscheinen zu den hohen Festtagen und viele gar nicht. So ist der Prediger im großen und ganzen auf das kirchentreue Bürgertum angewiesen" 29 . Die Reduktion der sozialen Funktion der Predigt kommt nicht nur in der Beschränkung des Hörerkreises auf den bürgerlichen Mittelstand, sondern sie kommt vor allem auch in seiner Einschränkung auf die „Kirchen treu e n " zum Ausdruck. Nicht die dogmatischen Formeln der Predigttheorie, sondern die sozialen Bedingungen der Predigtpraxis bezeichnen offenbar die Möglichkeiten und Grenzen der Predigt. Die Predigt ist material und formal durch den Erwartungshorizont der Zuhörer definiert. Otto Baumgarten umreißt die formale Konvention der Predigt so: „Auf einen kürzeren Eingang folgt eine kraftvolle Ankündigung eines abzuhandelnden Themas und seiner Teile, dann eine Ausführung desselben von Punkt zu Punkt auf Grund biblischen Beweises, endlich ein paränetischer Schluß. Im ganzen deutschen Lande verläuft die Predigt nach diesem Schema." 3 0 wohnt, in die Universitätskirche zu gehen." Viele Theologiestudenten haben „kein Gefühl der Verpflichtung, regelmäßig zur Kirche zu gehen." Und selbst unter Baumgartens Kanzel in Kiel finden sich „Universitätslehrer außer den Theologen immer nur in beschränkter Zahl und auch von den Theologen nur ein Teil. Die Zahl der Studenten hat sich sehr vermindert." (aaO, S. 139). — Lediglich von Jathos Gottesdiensten in Köln wird berichtet, „daß sich Sonntags schon lange vor Öffnung der Kirchen die Menschen draußen drängten, um einen Sitzplatz zu bekommen." Seine Hörer waren freilich „die der Kirche Entfremdeten", „liberale Katholiken, Juden, Dissidenten" (aaO, S. 137). F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1 9 2 9 , S. 1 3 1 . F. Niebergall, aaO, S. 133. 2 9 F. Niebergall, aaO, S. 134. — Eine ausführliche Untersuchung der sozialen Bedingungen der Kirchlichkeit in der Gegenwart legt R. Köster vor (ders.: Die Kirchentreuen. Erfahrungen und Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen evangelischen Kirchengemeinde, 1 9 5 9 ) . Freilich sind auch in dieser Untersuchung die verwendeten Schlüsselbegriffe keineswegs eindeutig. Vgl. vor allem den Begriff des „Beamten" (aaO, S. 97ff. u.ö.). 27 28
3 0 O. Baumgarten: Predigt-Probleme. Hauptfragen der heutigen Evangeliumsverkündigung, 1 9 0 4 , S. 7. — Zur Begrenzung des homiletischen Aktes durch den Erfahrungsund Verstehenshorizont der Hörer vgl. auch die neuesten Ergebnisse der homiletischen Rezipientenforschung: H. Breit: Die Predigt im Blickfeld der Rezipientenforschung (In: J . Roloff, Hrsg.: Die Predigt als Kommunikation, 1 9 7 2 , S. 2 8 - 4 3 ) . Dort findet sich auch weitere Literatur zum Thema.
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Wie die F o r m , so ist auch der Bereich der möglichen Predigtgegenstände durch die Erwartung der Hörer eng umgrenzt: „Nichts Ordinäres darf hinein, nichts vom Treiben des Marktes, nichts aus der Zeitung, in der Sprache des Parlaments; wo an diese K ä m p f e des breiten öffentlichen Lebens erinnert wird, da werden die T ö n e und Farben gedämpft, da wird der Angriff urban gemacht, im ganzen auch das Pathos gemildert. Man kann sagen: es herrscht der mittlere Stil der Überzeugungsrede etwa nach dem M o t t o : Wir wissen, was wir wissen, und ich erinnere euch nur an das, was ihr alle b e s i t z t . " 3 1 Versucht der Prediger aber, die engen Grenzen des Möglichen zu sprengen, dann reduziert er die öffentliche Funktion der Predigt vollends. Kritik an der herrschenden Frömmigkeitsform, vor allem aber Gegensätze in der politischen Grundeinstellung führen zu einer Entfremdung zwischen Prediger und Hörern und erschweren die homiletische Kommunikation in hohem Maße 3 2 . A u f diesem Hintergrund beschreibt Baumgarten die Funktion der Predigt: „Selbstverständlichkeit ist das Herrschende. Selbstverständigung über das Selbstverständliche zwischen den beati possidentes, den Gläubigen, über ihren Besitz, wozu die richtigen Hörer von Stelle zu Stelle innerlich nicken: J a w o h l , so ist's! . . . Der normale Zuhörer geht von solcher Predigt weg, wie er gekommen i s t . " Die soziale Irrelevanz der Predigt wird durch die Erwartungen der Hörer geradezu stabilisiert: „Uber die Fluten des täglichen Lebens das ö l des Friedens ausgießen, das verlangen die typischen Kirchgänger von ihrem Prediger." 3 3 Die Hörererwartungen vertiefen schließlich die Kluft zwischen Gottesdienst und öffentlichem Leben immer mehr: „Der Horizont wird eng: Man schließt sich ab vom Bildungsleben, man verengt das Gewissen, so daß es nur auf Ein31
O. B a u m g a r t e n , aaO, S. 7.
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Der Breslauer Pfarrer Moering e t w a schreibt: Der Kirchenbesuch „ließ mit einem
Schlage ohne j e d e Vorbereitung plötzlich im J a h r e 1 9 2 1 nach. Die Kirche w a r nur zur Hälfte, an schlechten Sonntagen n o c h nicht einmal zur Hälfte besetzt. Ich führe, da mich der starke Kirchenbesuch von Menschen, die zum Teil dreiviertelstündige Wege zurückzulegen h a t t e n , zu i m m e r intensiverer Predigtarbeit veranlaßt hat, den Abfall auf zwei Gründe zurück: einmal auf meine politische Betätigung (und dies der Hauptgrund), sodann auf meine Abkehr von der Mystik und mein neues Verständnis Martin Luthers, das namentlich durch Gogarten gefördert wurde. Mit dieser meiner neuen Entwicklung waren alle diejenigen nicht einverstanden, die im wesentlichen eine Stimmungsreligion s u c h t e n " (In: F . Niebergall: Die m o d e r n e Predigt, 1 9 2 9 , S. 1 3 1 ) . — Politische Differenzen führten auch in Baumgartens Predigttätigkeit zu einer Abwanderung der Zuhörer. „Die Zahl der S t u d e n t e n hat sich sehr vermindert, und die Marine hat aufgehört, Baumgartens Gottesdienste zu besuchen, als er im Kriege und namentlich nachher auch in seinen Predigten oft eine der in Kiel, zum mindesten in diesen Kreisen, herrschenden entgegengesetzte politische Auffassung aussprach, wie schon vorher sein soziales T e m perament m a n c h e Kreise der vornehmen Gesellschaft ärgerte" ( F . Niebergall, aaO, S. 13 9 f. ). 33
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O. Baumgarten, aaO, S. 8 f .
drücke der verborgenen Welt reagiert. So schwächt man das soziale Ehrgefühl." 34 Die ,moderne Predigt' stellt sich die Aufgabe, die soziale Irrelevanz der Predigt zu überwinden 35 . Sie widersetzt sich der traditionellen Beschränkung der Predigt auf die kirchlichen Grenzen und sucht nach einer Predigtweise, „wie sie die Gegenwart braucht" 3 6 . An ihrem kritischen, der Aufklärung folgenden Temperament gemessen gleicht die herrschende Predigtpraxis der Predigt der Orthodoxie. ,,Aus der engen und abgegrenzten Welt der Kirche und Theologie schallt etwas eine Stunde lang in den Kirchenraum hinein, getragen von dem Bewußtsein, daß das die Hauptsachen sind, nämlich der Glaube und die Offenbarung und der Weg zur Seligkeit, auch wenn sich die in der Welt befangenen Leute nicht darum kümmern." 37 Der neue theologische und soziale Elan verschärft aber nun die kritische Situation der Predigt. Die Vermittlung von kirchlicher Verkündigung und gesellschaftlichem Bewußtsein wird nicht nur durch die Erwartungen der Hörer erschwert, ihr stehen auch theologische Vorbehalte der Prediger entgegen. Zwischen homiletischer Konvention und theologischer Tradition bleibt für eine soziale Predigtpraxis offenbar kein Raum. Dieses kirchliche und theologische Dilemma belastet die homiletische Erneuerung, die Friedrich Niebergall mit seinen Freunden erstrebt. „Ein tiefer Riß geht durch uns moderne Theologen, die wir das Beste vom alten Christentum mit dem Besten der heutigen Kultur verbinden wollen: die unter unsern Zeitgenossen, mit denen wir religiös verbunden sind, wollen nichts von unsrer kulturellen, und die, zu denen wir als Glieder einer Kultur gehören, wollen nichts von unsrer religiösen Stellung wissen. Beide Teile glauben, daß man nimmer das eine wert halten und doch das andere pflegen kann. Das ist die tiefe Tragik in unsrer ganzen Stellung, die manchen zu dem Versuch bringt, die unausstehliche Spannung und den unmöglichen Kampf durch die Unterdrückung eines der beiden Bestandteile zu 3 4 O. Baumgarten, aaO, S. 16. — Ähnlich beurteilt neuerdings R. Köster (Die Kirchentreuen, 1 9 5 9 ) den Zusammenhang zwischen Gottesdienstbesuch und gesellschaftlicher Einstellung der Kirchlichen, wenn er als Folge des Gottesdienstbesuchs „eine erhöhte Entfremdung gegenüber der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation" feststellt (aaO, S. 6). 3 5 Die soziale Tendenz der .modernen Predigt' findet sich vor allem im homiletischen Werk Otto Baumgartens. Er geht in seinen „Predigt-Probleme(n)" ( 1 9 0 4 ) den einzelnen Themen der zeitgenössischen Sozialethik nach und wendet sie auf die moderne Predigtweise und deren Inhalte an (vgl. besonders aaO, S. 46ff.). 3 6 A. Uckeley: Moderne Predigtideale, 1 9 1 0 , S. 77. 3 7 F. Niebergall: Die evangelische Kirche und ihre Reformen, 1 9 0 8 , S. 9 3 . — Ausführlich beschäftigt sich mit der Homiletik der Orthodoxie und des Pietismus: M. Schian: Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt, 1 9 1 2 . In Schians Darstellung und Bewertung der historischen Ergebnisse ist deutlich die Parallelität der homiletischen Situationen zu spüren.
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beenden. Man kann dieser Versuchung nur widerstehen, wenn man klar und gebildet genug ist, zu erkennen, daß nicht alles Christentum und nicht alles Kultur ist, was sich als solches gibt. Diesem Streben gehört unser Herz: dem Geist Jesu Christi eine Sprache zu geben, daß man ihn heute versteht, und unserer Zeit zum Verständnis dafür zu helfen, was ihr Jesus heute noch zu sagen hat." 3 8 In der Enge zwischen der herrschenden homiletischen Praxis und der traditionellen homiletischen Theorie entwickelt sich jene skeptische Beurteilung der homiletischen Situation, die noch heute gelegentlich den Interpretationsrahmen homiletischer Fragestellungen kennzeichnet 39 .
2. Die homiletische
Situation
— ein Berufsproblem
des
Pfarrers
Die Analyse des sozialen Beziehungsfeldes der Predigt führt bei Baumgarten, Niebergall und Uckeley zu einer ähnlichen Beurteilung der Predigtpraxis wie in der gegenwärtigen Kirchensoziologie. Der Hörerkreis ist klein und auf den Mittelstand und die Kirchlichen eingeschränkt. Die Predigt übt keinen tiefgreifenden Einfluß auf das soziale Leben der Gesellschaft aus. Vielmehr bestätigt die konventionelle Predigt die Hörer in ihrer unsozialen Haltung 40 . Aber nicht nur die Grundthesen, die Urteile und Argumente der kirchensoziologischen homiletischen Forschung der Gegenwart, auch die Betrachtungsweisen und Erkenntnisse der kybernetischen homiletischen Perspektive sind älter als ihre gegenwärtigen Ausprägungen 41 . Martin Schian beschreibt den reduzierten Stellenwert der Predigt innerhalb der allgemeinen Redezivilisation schon 1906 in dem historischen Schema, das heute wieder für die Beurteilung der öffentlichen Funktion der Predigt bestimmend wurde 42 . 38
F. Niebergall: Mut und Trost fürs geistliche Amt, 1907, S. 70. Diese Skepsis findet ihren Ausdruck vor allem bei B. Päschke: Praktische Theologie als kritische Handlungswissenschaft (Thpr 6, 1971, S. 1—13). Vgl. dort den Abschnitt zur Homiletik der Gegenwart und das Programm Päschkes (aaO, S. 5ff.). 40 Zu diesem Ergebnis kommt auch die heutige Kirchensoziologie. Vgl. außer dem genannten Buch von R. Köster vor allem auch F. H. Tenbruck: Die Kirchengemeinde in der entkirchlichten Gesellschaft (in: Goldschmidt, Hrsg.: Soziologie der Kirchengemeinde, 1960, S. 1 2 2 - 1 3 2 ) . 41 Zur gegenwärtigen kybernetischen Fragestellung in der Homiletik vgl. vor allem H.-D. Bastian: Verfremdung und Verkündigung. Gibt es eine theologische Informationstheorie?, 1965. 42 Diese historische Beurteilung der gegenwärtigen religiösen und kirchlichen Situation findet ihren Ausdruck in der Rezeption der Säkularisierungsthese. Vgl. zur Darstellung und Kritik dieses Theorems: J. Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, 1964; und ders.: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II, 1969. 39
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„Ohne Frage ist die Aufgabe, welche uns diese Predigten stellen, sehr wichtig. Allerdings anscheinend nicht mehr so wichtig wie früher. Als die Predigt die einzige geistige Nahrung fürs Volk war, mögen die Leute doch anders gelauscht haben als jetzt. Als das Volk noch zwangsweise in die Kirche genötigt wurde, war wenigstens jeder von der Predigt zu erreichen. Heutzutage kann ein Prediger, der nur ein ganz kleines Häuflein zu seinen Füßen sieht, sich wohl ernstlich die Frage vorlegen, ob es sich lohne, diesen Wenigen eine Rede zu halten. Aber selbst wo dichte Scharen die Kirche füllen: was wirkt denn heute noch das Wort? Die aufstachelnde Agitationsrede mag noch Wirkung haben. Aber die ruhige Rede, die mahnende Rede, die religiöse Rede? Ganz mit Recht versuchen wir heute noch auf vielen anderen Wegen an die Menschen heranzukommen; denn über die Wirkung der Predigt müssen wir sehr bescheiden denken." 4 3 Offenbar ist die Disfunktionalität kirchlicher Rede nicht auf eine Veränderung der Predigtweise, sondern auf einen Wandel der Öffentlichkeit zurückzuführen. Die Prediger waren — nach dem Urteil von Otto Baumgarten — „nie interessanter als die heutigen". „Das Steigen der Langeweile liegt daran, daß unsere Zuhörer heute sich sehr viel schneller langweilen. Das liegt an der veränderten Bildungslage, dem gehobenen geistigen Niveau, der gesteigerten geistigen Anspruchsfülle unserer Zeit." 44 Aber wie Niebergall, so sieht auch Baumgarten die Veränderungen im sozialen Beziehungsfeld der Predigt nicht deterministisch. In der kritischen Situation der Predigt liegt eine Herausforderung für Pfarrer und Theologen. Die Predigt befindet sich in der modernen Gesellschaft in einer Konkurrenzsituation. Die allgemeine Bildung „ist eine Konkurrenz, die die durchschnittliche lendenlahme Predigt, die sich um wenige Worte umherbewegt, nicht aushalten kann" 45 . Gelingt es der Predigt nicht, „Staat, Gesellschaft, Gruppe, Wirtschaftsordnung, Bildung, Natur- und Geschichtswissenschaft in die Idealbildung hineinzuziehen, moderne Ideale zu entfalten", also selbst wieder verlorene Funktionen zurückzugewinnen, dann wird sich der Kreis ihrer Hörer immer mehr verkleinern. „Die Gemeinden gehen einfach nicht mit; sie haben ein vortreffliches Mittel: den passiven Widerstand des Nichtkommens oder nur leiblichen Dabeiseins." 46 Die .moderne Predigt' lastet die soziale Disfunktionalität der Predigt nun aber nicht denjenigen an, die sie nicht mehr hören. Die Zeitumstände 43
M. Schian: Die Predigt, 1906, S. 2. O. Baumgarten, aaO, S. 36. 45 O. Baumgarten, aaO, S. 38. — Die Situation der Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und die daraus folgenden Konsequenzen für die kirchlichen Strukturen umreißt neuerdings W. Jetter: Der Pluralismus in der Kirche — Reaktion oder Konzeption? (Thpr 1, 1966, S. 29—55). Dort finden sich auch ausführliche Literaturangaben zu diesem Thema. 46 O. Baumgarten, aaO, S. 3f. 44
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haben die Krise der Predigt zwar mitverursacht, aber sie haben sie nicht verschuldet. Ironisch wendet sich Baumgarten gegen kulturpessimistische Tendenzen in der Predigtlehre, die unter den Bedingungen der neuzeitlichen Kultur und Gesellschaft keine Möglichkeit zur Predigt sehen: „Wer das ganze Elend aus der geschichtlichen Bildung unserer Tage herleitet, müßte den Reclam in die Grube wünschen." Nicht die Gebildeten müssen sich ändern, sondern die Predigt bedarf einer Reform. „Warum erscheinen unsere Gebildeten so selten in der Kirche? Zum großen Teil, weil ihre Interessen zu vielseitig und ihr Gaumen zu anspruchsvoll geworden ist für unsere altfränkische Verkündigung." 4 7 Damit konzentrieren sich die Probleme der Predigt erneut auf den Pfarrer. Gerade er erscheint aber schon mit der herkömmlichen Predigtarbeit überlastet. Das Problem der Predigt ist — mit einem Wort von Paul Wurster — „die Predigtnot des Pfarrers" 4 8 . „Wenn etwas die Predigt verderbt — ich rede nicht von Ausnahmepredigern, sondern vom Durchschnitt, vom guten Durchschnitt —, so ist es das Übermaß. Dieses hat zur Predigtnot geführt." 4 9 Wurster zeichnet mit Besorgnis das Bild der Pfarrer, „die mit jugendlicher Freudigkeit ins Predigtamt eingetreten sind und die bald erklären mußten, gerade weil sie es sehr gewissenhaft mit ihrer Predigtauf gab e genommen haben: es geht fast über die Kraft und manchmal, je nachdem sich die Predigtgottesdienste häufen, übersteigt es sie, so daß Prediger und Gemeinde darunter leiden" 5 0 . Auch Friedrich Niebergall fordert, es müsse „alles geschehen, um den Pfarrer der Stellung eines Predigtautomaten zu entkleiden" 5 1 . Martin Schian endlich stellt fest, „daß die Klagen über zu häufige Predigtpflicht sich mehren" 5 2 . Niebergall zieht das Fazit: „Unsere Prediger, zumal die allein irgendwo stehn, müssen entlastet werden. Sei es durch Kanzeltausch, sei es durch Vorlesung und liturgische Feier — etwas aber muß geschehen." 5 3 Die Überlastung des Predigers durch die Predigtarbeit ist aber nicht nur ein praktisches Problem kirchlicher Organisation, sondern vor allem auch ein grundsätzliches Problem der Homiletik. Niebergall thematisiert es in seinem Buch über „Theologie und Praxis" 5 4 . Es ist das Problem, das das „wichtigste der Praktischen Theologie jeder Zeit und darum auch der 47
O. Baumgarten, aaO, S. 37. P. Wurster: Die Predigtnot des Pfarrers (MPTh 12, 1916, S. 2 0 5 - 2 1 2 ) . 49 P. Wurster, aaO, 212. 50 P. Wurster, aaO, S. 205f. — Die Tatsache, daß auch Wurster die Situation der Homiletik ähnlich sieht wie die Vertreter der ,modernen Predigt', zeigt, wie allgemein die Beurteilung der homiletischen Lage der Zeit war. Vgl. auch den Abschnitt „Die Predigt als Problem (Die Diagnose)" in: K. Fezer: Das Wort Gottes und die Predigt, 1925, S. 9ff. 51 F. Niebergall: Echte Predigt, aaO, S. 361. 52 53 M. Schian, aaO, S. 3. F. Niebergall, aaO, S. 361. 54 F. Niebergall: Theologie und Praxis. Hemmungen und Förderungen der Predigt und des Religions-Unterrichts durch die moderne Theologie, 1916. 48
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unsern zu sein scheint, nämlich: das Verhältnis zwischen Theologie und Praxis in Ordnung zu bringen" 5 5 . Das Verhältnis von Theologie und Predigtpraxis bezeichnet zunächst einen Teil der praktischen Predigtarbeit, die Frage der Verständigung zwischen Prediger und Hörer. , J e d e r Theologe muß sich gegenwärtig halten, daß seine Gemeinde nicht Theologie studiert hat. Das ganze theologische Verfahren der Begriffsbildung und -Umprägung ist ihr fremd." 5 6 Gerade der moderne Prediger steht hier vor einer besonders schwierigen Aufgabe. „Braucht er die alten Worte, so ist er ein Falschmünzer; braucht er neue, so ist er ein pietätloser Umstürzler." 57 Das Verhältnis von Theologie und Predigtpraxis bildet aber auch ein allgemeines theologisches Berufsproblem des Pfarrers. Karl Fezer verdeutlicht es am Übergang vom Theologiestudium ins Pfarramt. „Immer wieder war es eine ganze Anzahl von Kandidaten, die den Ubergang von der wissenschaftlichen zur praktischen Theologie, namentlich den zur Predigt, als einen Bruch empfanden, so daß die Frage stets neu für sie wach wurde, ob nicht ein frommer, lebenserfahrener Laienchrist für die Predigtaufgabe tauglicher sei als ein wissenschaftlich gebildeter Theologe. Das machte mir ein immer neues Überdenken des Verhältnisses von evangelischer "Predigt und Hl. Schrift zur Pflicht. So stellte sich mir das Predigtproblem von seiner doppelten Seite: von der Gemeinde her und von der Schrift her." 5 8 Die Beziehung von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis scheint aber gerade für den modernen, den kritischen Theologen und Pfarrer besonders problematisch. „Der Prediger soll sich zum Theologen ausbilden. Muß es nicht heißen: zum positiven Theologen?" so fragt Martin Schian und fährt fort: „Kann denn der moderne Theologe mit gutem Gewissen und gutem Erfolg Prediger sein?" 5 9 Für den Pfarrer verschränken sich die Predigtprobleme zu einer kritischen Situation und lassen gelegentlich auch die Frage anklingen, ob „Predigen überhaupt noch einen Sinn hat" 6 0 . Denn gerade eine Predigt, die ihr Ziel 55
F. Niebergall, aaO, im Vorwort. M. Schian, aaO, S. 4. — Vgl. zu dieser Beurteilung des Problems auch die Forderung nach Trennung von Religion und Theologie, die eines der Prinzipien der ,modernen Predigt' darstellt. So z.B. bei O. Baumgarten, aaO, S. 147. 57 M. Schian, aaO, S. 5. 58 K. Fezer: Das Wort Gottes und die Predigt, 1925, S. V. 59 M. Schian, aaO, S. 44. 60 F. Niebergall: Interessantere Predigten (ChW 45, 1931, Sp. 2 7 8 - 2 8 4 ; Sp. 278). Ähnlich resignative Momente finden sich in Päschkes Programm (Praktische Theologie als kritische Handlungswissenschaft. Thpr 6, 1971, S. 1 — 13) wieder. Er meint, die praktisch-theologische Predigtarbeit könne nicht „naiv davon ausgehen, daß überhaupt gepredigt werden soll, wenn nicht zuvor die gesellschaftlichen, ideologischen und psychologischen Bedingungen und Auswirkungen kirchlicher Predigt bzw. religiöser Rhetorik analysiert worden sind" (aaO, S. 5). 56
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in der sozialen Wirksamkeit sieht, muß die homiletischen Probleme in einem weiten Horizont beschreiben. Die Predigt der Gegenwart ist ein Problem des Pfarrers, aber auch eines der Kirche und darüber hinaus ein Problem einer Gesellschaft, die nach Niebergalls Beurteilung „aus der Selbstverständlichkeit der christlichen Haltung herausgerückt" ist 6 1 . „Pflicht und Gewöhnung am kirchlichen Leben teilzunehmen, sind fast überall dahin. Wir sind ganz auf die freiwillige und bewußte Teilnahme angewiesen. Das kirchliche Leben regelt sich auch nach dem Stand von Angebot und Nachfrage." 6 2 In der veränderten religiösen und kirchlichen Situation kommt auch der Predigt eine andere Stellung zu. „Sicher ist der Zustand der Volkskirche im Sinn der Deckung von Kirche und Volk vorbei und der Traum von seiner Wiederherstellung ausgeträumt. Wir können von Volkskirche nur reden in dem Sinn, daß wir uns nicht auf abgeschlossene Gemeinschaften zurückziehen und die Masse dem Verderben überlassen wollen, sondern daß wir uns als Missionskirche unserm Volk verpflichtet fühlen." 6 3 Nicht nur für Niebergall, auch nach Baumgartens Urteil befindet sich die Kirche in der modernen Gesellschaft in einer Missionssituation. Sie ist gekennzeichnet durch den „Abfall der Massen unten und oben von einem selbstverständlichen Christentum" und durch ein „Nachlassen der Buchreligion, der Autorität und Bekanntheit der Bibel als Haus- und Familienb u c h " 6 4 . Gerade diese moderne Situation der Kirche fordert aber eine neue, eine moderne Predigtweise. „Wenn Predigen überhaupt noch einen Sinn hat, dann bedarf es stets erneuter Besinnung auf seine Aufgabe, um nach Inhalt und Form den wechselnden Bedürfnissen der Zeit gerecht zu werden." 6 5 Unter den Bedingungen der säkularisierten Gesellschaft darf die Evangelisationspredigt nicht mehr „hochmütig" verurteilt werden. Die Prediger müssen erkeñnen, „daß unsere durchschnittliche Verkündigung unzulänglich ist und nach anderer Verkündigungsweise ruft" 6 6 . Wer die Herausforderung der Predigt angesichts der kritischen Situation der Kirche begreift, kann sich der homiletischen Tradition nicht unkritisch anschließen. , J e mehr wir alle die Gewohnheit unsere Amme nennen, um so rücksichtsloser müssen wir uns wieder und wieder innerlich von der Tradition loszulösen und ihr kritisch gegenüberzutreten suchen." 6 7 Wie Schian fordert auch Baumgarten einen homiletischen Aufbruch. „Die meisten Predigten sind saturiert und orientiert an den im kirchlichen Besitz stehenden Leuten; wir wollen uns wenden an die Hungernden und 61 62 63 64 65 66 67
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F. F. F. O. F. O. M.
Niebergall: Die neuen Wege kirchlicher Arbeit, 1 9 2 8 , S. 8. Niebergall, aaO, S. 11. Niebergall, aaO, S. 10. Baumgarten, Predigt-Probleme, S. 2 . Niebergall: Interessantere Predigten, aaO, S. 2 7 8 . Baumgarten, aaO, S. 14. Schian: Die Predigt, S. 1.
Dürstenden nach der Gerechtigkeit und nach der Gemeinschaft im inneren Leben." 68 Das Bewußtsein der homiletischen Bewegung, die um die Jahrhundertwende entstand, ist eigenartig zwiespältig. Es schwankt zwischen Resignation und Hoffnung. Die ,moderne Predigt' geht von der Entkirchlichung der Gesellschaft und von der sozialen Disfunktionalität der Predigt aus. Und sie erhebt doch den Anspruch, die Krise der Predigt durch die Konzentration auf die homiletische Aufgabe der Kirche zu überwinden. „So fehlt es bei aller Resignation nicht an Hoffnungen und an Möglichkeiten. Man mag sagen, was man will, die Zukunft unserer Kirche hängt nicht an Verfassungen, Liturgien mit Kerzen, Fahnen und Prozessionen. Sie hängt allein an der Predigt. Diese muß besser werden, diese kann auch besser werden." 69
II. Modernität als homiletisches Prinzip 1. Die homiletische Situation — der Ausgangspunkt der induktiven Predigttheorie Es kennzeichnet die moderne Predigtbewegung zu Beginn unseres Jahrhunderts, daß sich in ihr zum erstenmal das Ensemble der Motive, Elemente und Argumente findet, das seitdem in verschiedenen Modifikationen und Variationen das homiletische Bewußtsein bestimmt. Die ,moderne Predigt' setzt mit einem theoretischen und praktischen Interesse an der wirklichen Predigtpraxis ein. Sie löst sich von der traditionellen homiletischen Theorie und Praxis und versucht, aus der Distanz eine Bilanz der kirchlichen Situation zu ziehen. Es gelingt ihr nicht mehr, sich mit der bestehenden Predigtweise zu identifizieren. Ihr erscheint die sonntägliche Durchschnittspredigt „altmodisch", so, „als wäre sie vor dreißig Jahren gehalten worden" 70 . Sie bewegt sich in der „Sphäre des deutschen Aufsatzes, des Leitartikels, der Dekorationspflanze", in einem Milieu und Jargon, der sich merkwürdig unwirklich ausnimmt. Die Predigten müßten 68
O. Baumgarten, aaO, S. 18. - Vgl. auch G. Hilbert: Wider die Herrschaft der Kultpredigt, 1924, und ders.: Die Volkstümlichkeit der Predigt, 1927. 69 F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. 234. — Niebergall gewinnt dieses Urteil vor allem in der Auseinandersetzung mit der liturgischen Reformbewegung, die nach seiner Beurteilung zum Teil das Erbe der .modernen Predigt' antritt. Vgl. vor allem auch F. Niebergall: Die gegenwärtigen kultischen Strömungen (ChW 38, 1924, Sp. 786-795). 70 F. Niebergall: Die moderne Predigt (ZThK 15, 1905, S. 2 0 3 - 2 7 2 ; S. 203. - Vgl. auch Niebergalls Darstellung der „unmodernen Predigt" (In: ders.: Die moderne Predigt, 1929, S. 81ff.).
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erst einmal „aus der ganzen geschraubten, gespreizten, scheinenden und klingenden Manier herausgeholt und auf den festen Boden der Wirklichkeit und damit der Wirkung gestellt werden" 7 1 . Die gegenwärtigen Predigten kümmern sich weder um die Fragen des Hörers noch um die Probleme der Zeit. In den Kirchen „reden häufig kluge und treue Menschen auf Kirchenbesucher ein, die in Wahrheit einmal in der Vergangenheit zu finden waren, gegenwärtig aber nur in der konstruierenden Phantasie der Herrn Pfarrer vorhanden sind. Sie antworten auf Fragen, die niemand stellt, und auf die Fragen, die jeder stellt, antworten sie nicht" 7 2 . Aber nicht nur die Predigtpraxis leidet an ihrer Erstarrung. Auch die etablierte Homiletik erscheint der ,modernen Predigt' als Ausdruck unwirklicher theoretischer Voraussetzungen. Die herrschende Predigttheorie beruft sich nicht auf die Bedingungen und Möglichkeiten der Predigt in der modernen Gesellschaftssituation, sondern auf den Vater der Homiletik, auf Schleiermacher. Und sie übernimmt mit seinen homiletischen Grundsätzen auch deren längst historisch gewordene Voraussetzungen. Sie geht davon aus, daß „wir es in den Kirchen im ganzen mit einer Gemeinde der Gläubigen zu tun hätten, denen man nur die Folgerungen aus ihrem an sich vorhandenen Glaubensleben klar zu machen habe; und vielleicht sei es der beste Weg, um einen Menschen zum Christen zu machen, ihn so zu behandeln, als ob er ein Christ sei" 73 . Die Homiletik des neunzehnten Jahrhunderts hat im Urteil der ,modernen Predigt' Schleiermachers Predigtprogramm nicht entfaltet, nicht weiterentwickelt, sondern lediglich archivarisch bewahrt 7 4 . Sie ist dabei zu einer theologischen Disziplin geworden, „die ihre Anhänger mehr unter den Theoretikern als unter den Praktikern besitzt" 7 5 . Die moderne Predigt leidet unter der Erstarrung der Predigt und ihrer Theorie. Sie macht „sich über die Wirkungslosigkeit unserer Predigt schwere Gedanken" 7 6 . Sie h o f f t auf einen „homiletischen Frühling" 7 7 71
F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 1, S. 2. F. Niebergall: Die moderne Predigt (ZThK. 15, 1905, S. 203). 73 F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 2, S. l f . 74 Die .moderne Predigt' nimmt Schleiermachers homiletischen Ansatz — vor allem das Prinzip der Vermittlung von Evangelium, Prediger und Hörer — wieder auf, bringt es aber gegen eine homiletische Tradition zur Geltung, die diesen Ansatz nicht verwirklichen konnte, weil sie statt Schleiermachers homiletische Konzeption weiterzuentwickeln deren historische Bedingungen konservierte. Zu diesem Urteil Niebergalls über die Homiletik des 19. Jahrhunderts vgl.: ders.: Wie predigen wir dem modernen Menschen, Bd. 2, S. lf.; zur positiven Wertung von Schleiermachers homiletischen Grundprinzipien vgl. P. Drews: Die Predigt im 19. Jahrhundert, 1903, S. 59 und F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. 69 und S. 240f. und ders.: Praktische Theologie, Bd. 2, 1919, S. 67. 72
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F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen, Bd. 2, S. 1. F. Niebergall, aaO, S. 2. P. Drews: Die Predigt im 19. Jahrhundert, 1903, S. 59.
und beginnt ihre eigenen wissenschaftlichen und praktischen Anstrengungen damit, die obsolet gewordene homiletische Tradition zu kritisieren. „Diese Verfestigung und Mechanisierung zu hindern, die Anpassung an die sich immer neu gestaltenden wirklichen Lebensverhältnisse glatt und willig vollziehen zu helfen, dazu soll auf unserem Gebiet die Beschäftigung mit der Frage nach der Aufgabe der modernen Predigt beitragen." 78 Die kritische Situation der Predigt in der modernen Gesellschaft darf von der Homiletik nicht ignoriert werden. Vielmehr muß eine kritische Homiletik gerade bei dem sozialen Beziehungsfeld der Predigt einsetzen. Niebergall thematisiert in seiner Theprie der modernen Predigt das Funktionsgefüge der Predigt. Er versteht die Predigt als ein Zusammenwirken von drei „Faktoren", „die für die Predigt von begründender Bedeutung sind". „Neben dem Nominativ, dem Prediger, muß berücksichtigt werden der Akkusativ, nämlich das Evangelium, das er zu verkündigen hat, und der Dativ, die Gemeinde in ihrer örtlichen und zeitlichen Bestimmtheit, der er es verkündigen soll." 79 Das vornehmliche Interesse der modernen Predigt gilt nun dem modernen Menschen. Er ist freilich nicht der „dem Christentum und der Kirche entfremdete, bildungsstolze oder schon kulturmüde Zeitgenosse" 80 , der „Bildungsphilister", der — „natürlich über Pfaffen, Religion und Kirche weit erhaben" — „am Stammtisch mit kecker Stimme alle Rätsel" löst 81 . Die moderne Predigttheorie möchte auch keineswegs „ganz neue wunderbare Rezepte zur Gewinnung des .modernen Menschen' " erfinden oder 78
F. Niebergall: Die moderne Predigt (ZThK 15, 1905, S. 204). Hier nimmt Niebergall den homiletischen Ansatz von Schleiermacher auf. Schleiermacher behandelt die Homiletik als „Theorie der religiösen Reçle" in seinen praktischtheologischen Vorlesungen (WW I 13, 1850, S. 201ff.). Für Schleiermacher entsteht die Predigt aus dem ,.religiöse(n) Zusammenleben des Geistlichen mit seiner Gemeine" und aus dem „Schriftverkehr desselben" (aaO, S. 243). „Das Verfahren ist seiner Natur nach ein dialogisches; es ist ein Dialog mit seiner Schriftstelle, die er fragt und die ihm a n t w o r t e t , und mit seiner Gemeine." Diesen Ansatz nimmt in der Gegenwart vor allem W. J e t t e r wieder auf (der.: Wem predigen wir?, 1964 u n d ders.: Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer. WiuPr 56, 1967, S. 2 1 2 - 2 2 8 ; vgl. auch: ders.: Die praktische Theologie. ZThK 64, 1967, S. 4 5 1 - 4 7 3 ) . 79
80
F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen, Bd. 2, S. 2. F. Niebergall: Die moderne Predigt (ZThK 1905, S. 215). - Zutreffend schreibt F. Frey (Motive u n d Quietive. Friedrich Niebergall zum 100. Geburtstag. DtPfrBl 66, 1966, S. 156—158; S. 156): „Der Ausgangspunkt der Praktischen Theologie Niebergalls ist der vom Christentum geprägte religiöse Mensch. Es scheiden von vornherein diejenigen aus, die ihre schroffe Abneigung gegen das Christentum in offener Feindschaft bekunden oder die Kirche mit gleichgültiger Nichtachtung übergehen. Aber dem für die Kirche im weitesten Sinn noch Aufgeschlossenen gilt seine Sorge, weil hier zwischen dem Leben des modernen Menschen im Alltag u n d der Predigt der Kirche ein Gegensatz klafft und zu befürchten ist, daß das Denken und Leben vieler Zeitgenossen mehr und mehr an der Kirche vorbeiläuft." 81
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„erprobte Methoden" angeben, „wie man ihn für die Kirche angein könnte" 8 2 . Der moderne Mensch, das ist vielmehr der Hörer der Predigt und — der Prediger. Der moderne Mensch ist nicht Missionsobjekt, sondern eine der wesentlichen Determinanten der modernen Predigt. Die Predigt ergibt sich aus zwei Faktoren: „aus unserm Verständnis des Evangeliums und aus unserm Verständnis unsrer Zeit. Das sollen die zwei Pfeiler sein, auf denen unsre ganze Untersuchung ruht. Wir sagen: Wer der modernen Zeit aus dem modern verstandenen Evangelium Ziel und Umblick, Trost und Kraft bietet, der predigt modern." 8 3 So entwickelt Niebergall seine Predigtdefinition aus dem sozialen Funktionsfeld der Predigt. „Predigen ist die in bestimmten Formen vor sich gehende Tätigkeit einer dazu berufenen religiösen Persönlichkeit, die aus ihrem Verständnis des Evangeliums heraus einer gottesdienstlich versammelten Gemeinde dazu verhilft, auf ihre Fragen und Nöte Antwort und Hilfe zu finden." 8 4 So dogmatisch die Sprachform dieser Predigtdefinition ausfällt, Niebergall wählt mit dieser These einen neuen Ansatz der Predigttheorie. Die Regeln für die Predigt ergeben sich nicht deduktiv aus dem Predigtbegriff. Vielmehr bildet die Predigtdefinition den Rahmen für eine analytische Aufgabe. Die Predigt soll aus ihren Bedingungen begriffen und gestaltet werden. Ihre Determinanten sind aber selbst nicht spekulative, nicht dogmatische, sondern historische Größen. Sowohl der Mensch als auch das Evangelium und sein Verständnis sind historisch bedingt und bedürfen daher einer ständigen Analyse. „Und zwar müssen wir alles kennen, wie es wirklich ist, nicht wie wir es uns denken, weil es etwa so zu irgend einer Theorie oder hergebrachten Praxis stimmt. Und wenn wir unsere ganze Theorie und Praxis umändern müßten, die Wirklichkeit hat eben Recht gegen alle Theorie. Darum muß sich die Theorie immer wieder nach der Wirklichkeit richten. Wir brauchen eine gute Portion ganz realistischen Geistes, der die Dinge faßt, wie sie wirklich sind, nicht wie man sie sich wünscht und überkommen hat." 8 5 Niebergall verwirklicht seinen gegen Theorie und Praxis der Predigt gewendeten kritischen Anspruch in der Anwendung neuer Methoden innerhalb der Homiletik. „Unsere Aufgabe ist eine doppelte: einmal müssen 82 F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen, Bd. 2, S. 2. — In ähnlicher Weise stellt W. Jetter heute wieder „die beinahe vergessene Frage nach dem Hörer, dem wir predigen". Es geht Jetter dabei „um etwas ganz anderes als um einen psychologisch geschickten Umgang des Predigers mit seinen Hörern." Vielmehr muß die Frage nach dem Predigthörer „um der Sache willen" gestellt werden (W. Jetter: Wem predigen wir?, 1964, S. 5). 83 F. Niebergall: Die moderne Predigt (ZThK 15, 1905, S. 205f.). 84 F. Niebergall, aaO, S. 205. 85 F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 1, S. 70.
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wir den Menschen, und dann müssen wir die Menschen kennen zu lernen suchen. Den Menschen, nämlich die psychologische Grundorganisation, soweit sie für uns Interesse hat, das ganze Getriebe der Seele, sofern es sich um das Fühlen und Wollen herumbewegt. Und dann müssen wir ein paar Streifzüge in die Welt der Leute machen, soweit sie uns interessieren. Das eine ist eine psychologische, das andere ist eine volkskundliche Aufgabe. Es scheint mir, als wenn beide noch zu wenig im Dienste der Anweisung zur rechten Evangeliumsdarbietung angefaßt worden seien." 86 Auch zur Erforschung des Evangeliums entwirft Nieb ergall eine eigene kritische Methode, die „praktische" Interpretation der biblischen Texte 87 . Die homiletische Aufgabe fordert „eine Behandlung des Neuen Testamentes, die von der gewöhnlichen Betrachtung abweicht, der es vor allem unter dem dogmatischen oder geschichtlichen Gesichtspunkt auf das Welt- und Geschichtsbild ankommt, das den Redner oder Schriftsteller beherrscht" 88 . Die Anwendung neuer Methoden in der Homiletik dient einmal unmittelbar der Predigtpraxis. Sie hilft die Predigt zeitgerechter und damit wirksamer gestalten. Darüber hinaus erhebt Niebergall aber den Anspruch, mit diesen Methoden eine nicht nur kritische, sondern zugleich auch wissenschaftliche Homiletik zu entwerfen und sie damit von der bisherigen dogmatischen Predigtlehre zu unterscheiden. Gerade bei der „praktischen Betrachtung des Neuen Testamentes" sieht sich Niebergall „weit entfernt von der üblichen Verwertung seiner Gedanken zu praktischen Zwecken in der Predigt und im Unterricht. Es ist und bleibt doch unsre Aufgabe streng wissenschaftlich. Wir wollen nämlich in systematischer Art mög8 6 Ebd. — Ganz parallel finden soziologische und psychologische Perspektiven neuerdings wieder Eingang in die Homiletik. Vgl. dazu die oben in den Anmerkungen 5 4 , 55 und 5 6 des ersten Kapitels genannte Literatur. 8 7 F. Niebergalls praktische Exegese wird unten in einem eigenen Kapitel ausführlich dargestellt und kritisiert. Sie findet sich neben der programmatischen Fassung in: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 1, S. Iff. („Die Motive und Quietive des Neuen Testaments") vor allem in Niebergalls eigenen Versuchen einer homiletischen Schriftinterpretation: F. Niebergall: Praktische Auslegung des Alten Testaments. Methodische Anleitung zu seinem Gebrauch in Kirche und Schule, 1912ff. und: Praktische Auslegung des Neuen Testaments für Prediger und Religionslehrer, 3. Aufl. 1 9 2 3 . —
W. Trillhaas betont neuerdings wieder die Notwendigkeit einer „ .praktischen' Auslegung". Er geht wie F. Niebergall (Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 1, S. 2) davon aus, daß die homiletische Schriftinterpretation nicht in Konkurrenz zur wissenschaftlichen Auslegung der Texte treten kann, sondern eng mit ihr verbunden ist. „ .Praktische' Auslegung — denn um sie handelt es sich bei der Vorbereitung der Predigt in jedem Falle — ist also nicht eine zweite Methode neben der wissenschaftlichen Exegese. Sie muß in allen Fällen historisch und kritisch begründete Auslegung sein, und sie kann sich nicht darauf beschränken, eine dieser nachfolgenden Technik darzustellen" (Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl. 1 9 6 4 , S. 6 8 ) . 88
F. Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 1, S. 3. 87
liehst umfassend herausheben, was die neutestamentlichen Männer an wirksamen Momenten für ihre Leute beigebracht haben. So wollen wir streng historisch verfahren. Ohne jede bewußte Tendenz und ohne Vorliebe und Abneigung für irgend einen Gedankengang, ohne eine Mittellinie, auf die wir die divergierenden Gedankenzüge hinlenken möchten, soll aufgesucht und zusammengestellt werden, was da ist." Niebergall fühlt sich „vollständig frei von jeder bewußten Neigung zu der Betrachtung der Schrift, als müßten wir ein dogmatisches oder ethisches Prokrustesbett haben, in das nun einmal alle Schriftgedanken durchaus hineingepaßt werden müßten. Wir müssen die Lokalmethode mit Stumpf und Stiel ausrotten" 8 9 . Der Anspruch Niebergalls, seine Predigttheorie nicht deduktiv aus homiletischen Axiomen, sondern kritisch aus der Situation der Predigt in der Gegenwart und damit historisch abzuleiten, stellt nun aber die prinzipielle Homiletik vor erhebliche Probleme. Da die moderne Predigttheorie eine homiletische Bewegung sein will, die Theorie und Praxis des Predigens umfaßt, darf sie nicht nur Analysen der einzelnen homiletischen Determinanten liefern, sondern sie muß die Bedingungen der theoretischen und praktischen Predigtarbeit auch in einem geschlossenen theoretischen Rahmen begreifen lassen, innerhalb dessen das Verständnis des Hörers und das des Textes in einer notwendigen Beziehung zueinander stehen. Dieser gemeinsame Bezugsrahmen der Homiletik ist die „Zeit" 9 0 . Die ,moderne' Predigtpraxis gewinnt wie die ,moderne' Predigttheorie Erkenntnisse und Methoden aus ihrer Zeit. Und sie ist eben darum modern. Der Modernitätsanspruch ist das verbindende Element in Niebergalls homiletischem Konzept. Der moderne Mensch ist deshalb für Niebergall nicht nur der Bezugspunkt der Predigt, sondern auch der Ausgangspunkt der prinzipiellen Predigtlehre. Zum modernen Menschen „steht die moderne Predigt in einem zwiefachen Verhältnis. Sie wird durch seine Art bestimmt, soweit die Theologie, zu der sie gehört, eben durch seine Art bestimmt ist; dann aber tritt noch ein unmittelbares Verhältnis ein. Als Predigt hat sie, auch ohne solche Vermittlung, der Zeit gerecht zu werden, der sie dienen will. J e d e Predigtweise hat dies getan; sie hat auf die Bedürfnisse, die Anliegen, die Denk- und Sprechweise Rücksicht genommen, die ihre Zeit beherrschten. Sie nahm auf sie Rücksicht und wuchs auch, soweit sie eine geistige Leistung war, nach Form und Stil aus ihnen heraus. Darum werden wir 89
F. Niebergall, aaO, S. 4. Dieser Ansatz einer induktiven Homiletik kommt vor allem in dem Aufsatz „Die moderne Predigt" von 1905 zum Ausdruck (ZThK. 15, 1905, S. 2 0 3 - 2 7 2 ) . Besonders bezeichnend für Niebergalls homiletische Methode ist dort der Abschnitt „Der Geist der Zeit" (aaO, S. 206ff.). 90
88
der Behandlung der modernen Predigt eine Darstellung der Grundzüge der m o d e r n e n Theologie, dieser selbst eine Skizze des m o d e r n e n Menschen vorausgehen lassen. So tief m ö c h t e n wir die Wurzeln unseres Gegenstandes in das Erdreich der Entwicklung hineinverfolgen" 9 1 .
2. Der moderne
Mensch — der Bezugspunkt
der sozialen
Predigtpraxis
Der Begriff „ m o d e r n " hat für Niebergall eine doppelte Bedeutung. Es ist „der rein zeitlich u n d der inhaltlich b e s t i m m t e Begriff". Die zweite, normative F u n k t i o n des Wortes „ m o d e r n " ist konstitutiv für Niebergalls homiletische Theorie. Dieser Sinn des Wortes „meint eine b e s t i m m t e Beschaffenheit, die vor allem einmal daher k o m m t , daß sich eine Anschauung, eine Richtung, in Gegensatz zu bisher geltenden anderen stellt. Man empfindet d a n n bei dem Wort einen Hauch von Keckheit, die geheiligten Maßstäben t r o t z t ; mindestens das Wagnis, selber etwas zu sein und neue eigenartige Wege zu gehen, wie sie der vermeintlichen neuen Zeitrichtung entsprechen, wird mit diesem Worte zum Ausdruck gebracht. J e nach der Stellung zu diesen Größen klingt es stolz oder verächtlich" 9 2 . Niebergall unterscheidet — wie etwa auch Schian 9 3 — den Begriff „mod e r n " einerseits vom bloß Modischen. Und er faßt den Begriff andererseits nicht nur historisch, sondern er bezeichnet damit eine b e s t i m m t e Grundeinstellung, die sich neben anderen in seiner Zeit findet. Er sieht die Modernen als eine b e s t i m m t e „ S c h i c h t " in der Gesellschaft an. Sie steht „im Unterschied oder im Gegensatz zu zwei anderen Schichten", zu „den Konservativen und den Liberalen. Wir haben in diesen drei Schichten das Ergebnis der kulturgeschichtlichen Entwicklung der letzten J a h r z e h n t e vor uns" 9 4 . Die Methode, mit der Niebergall der m o d e r n e n Grundeinstellung in der Gesellschaft seiner Zeit nachgeht, ist keine streng wissenschaftliche. „Wir wollen uns nicht mit Zahlen u n d Zeiten abgeben, sondern rein typologisch vorgehen. Wenn wir den bestimmten Artikel gebrauchen, wenn wir also von dem konservativen, dem liberalen u n d dem modernen Menschen 91
F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. 2f. F. Niebergall, aaO, S. 2. 93 M. Schian schreibt im Vorwort seines Buches „Die Predigt" (1906): „Das Wort .modern' in Verbindung mit Theologe und Theologie liebe ich für meine Person aus mehreren guten Gründen nicht. Aber es hat sich nun einmal in ganz bestimmtem Sinn eingebürgert; und es hat den Vorzug der Kürze. Somit habe ich es trotz aller Bedenken in diesem Buche öfter gebraucht. Daß wir uns nicht nach der Mode richten, sondern nach der Erkenntnis, die Gott uns finden ließ, werden alle Freunde uns trotz dieses Wortes glauben." 92
94 F. Niebergall: Wie gewinnen wir das Vertrauen der Modernen? (MPTh 25, 1929, S. 1 3 5 - 1 4 1 ; S. 135).
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sprechen, so meinen Typen. Wir sprechen unsrer Zeit hindurch überall ist etwas von
wir nicht tatsächlich vorhandene Mensehen, sondern von verschiedenen Geistern, die durch die Menschen herrschen. Nirgends sind sie rein so zu finden, aber ihnen mit dabei." 9 5
Im Unterschied zur begrifflichen Deduktion soll Niebergalls typologische Methode „nicht das Gemeinsame der Einzelerscheinungen" erfassen, sondern „das Wesentliche". „Der Typ sucht sich zu bewahren vor einer Verallgemeinerung, die die bunte Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in einem Worte begräbt, und strebt danach, die konkrete Fülle des Inhaltes, wie ihn die Wirklichkeit bietet, mit der maßgebenden Bedeutung für einen weiten Umfang von Einzelerscheinungen zu verbinden. Das erreicht die Typenbildung, indem sie in einer gedachten Einzelerscheinung alle anschaulichen Züge unterbringt, die an der bestimmten Klasse von konkreten Einzelpersonen wesentlich sind." 9 6 Niebergall kennzeichnet die Typisierung gesellschaftlicher Einstellungen, die er — vor allem in der „Mo· derne(n) Predigt" von 1929 — anwendet, selbst zutreffend als „die Sache eines durch und durch subjektiven Verfahrens", als „künstlerische und poetische Arbeit". Er beansprucht auch „nicht die Geltung des wissenschaftlich Erkannten, aber die Überzeugungskraft des künstlerisch Geschauten" 9 7 . Niebergall versteht die Einstellung des modernen Menschen als eine Synthese des Gegensatzes von konservativem und liberalem Menschen. Die Gegenwart stellt den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung dar, die sowohl das Mittelalter als auch die Aufklärung überwunden und sich nun in der Mitte zwischen den Extremen eingependelt hat. Ist der konservative Mensch durch seine „unbedingte Bindung" an die sozialen Gemeinschaften gekennzeichnet, so der liberale durch die „Lösung von allen alten Bindungen, Emanzipation in wirtschaftlicher, sozialer, politischer und vor allem auch religiöser Hinsicht" 9 8 . Der moderne Mensch ist dagegen der Einstellungstyp einer „synthetischen Zeit". Er hat gelernt, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zu unterscheiden und tritt nun wieder in selbstgewählte Bindungen ein. Er ist Ausdruck „für den Geist der Zeit, der Lösung durch Bindung überwinden will" 99 . Das Gesetz der Synthese von Extremen kennzeichnet alle Lebensbereiche des modernen Menschen. Hat der Glaube im Mittelalter „mit dem einzel95
F. Niebergall, aaO, S. 136. F. Niebergall: Praktische Theologie, Bd. 1, 1918, S. 34. 97 Ebd. — Niebergalls typologische Erfassung des modernen Menschen erinnert an die Typisierung der sozialen Gemeindesituationen (Die moderne Predigt, 1929, S. 130ff.). Es erscheint als ein erheblicher Mangel, daß Niebergall schon bei dem Grundansatz seiner homiletischen Situationsanalyse in verschiedener Weise nicht wissenschaftlich exakt arbeitet. 98 F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. 5f. 99 F. Niebergall, aaO, S. 6. 96
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nen weniger zu tun, als wir es gewöhnt sind", bezeichnet er vielmehr „die allgemeine Grundhaltung der Welt gegenüber, die als ganz selbstverständlich allem Denken und Streben zugrundeliegt", so fallt die Aufklärung ins andere Extrem. „Wie vorher der Glaube selbstverständlich gewesen war, so wurde es nun die Leugnung" 100 . Die moderne Zeit schließlich erkennt, daß „die gepriesene Wissenschaft, die den Glauben abtat, selbst ganz von Glauben lebte". Es bilden sich „Ersatz- oder Surrogatreligionen", primitiver Aberglaube und Atavismus leben auf. „Mitten in der Unsicherheit der Welt, zumal in der durch die Technik ebenso erträglicher wie aber auch gefährlicher gewordenen Welt, will man sich schützen und bewahren." 101 Nicht nur auf dem sozialen und religiösen, sondern auch auf dem ethischen Gebiet bildet die Einstellung des modernen Menschen eine Synthese aus historischen Gegensätzen. Aus dem Gegensatz von rigoristischer Moral und ethischem Naturalismus entstehe eine soziale Ethik, die sich auch in den ökonomischen Strukturen der Gesellschaft niederschlägt. „Der Begriff des Eigentums wird erweicht, wenn man nicht sagen will, daß er durch die Hervorkehrung der sozialen Verantwortlichkeit erhärtet wird." 102 Aus dem Zusammenspiel vielfältiger Synthesen entwickelt Niebergall das Bild einer Zeit, die zwar den Optimismus liberaler Kritik nicht mehr zu teilen vermag, die aber auch nicht hinter die Aufklärung zurückfallen kann. Sie ist von der Resignation des einzelnen an der Gesellschaft gekennzeichnet. ,,Mehr als die soziale Bindung versklaven die unpersönlichen Mächte die Seele des Menschen, die sich zur Freiheit und Eigenmächtigkeit geboren weiß." Der moderne Mensch empfindet „das einfache Geschehen um uns her, die Politik oder die Wirtschaft als Schicksal, das sogenannte Milieu in seiner Tyrannei, dazu die Macht der öffentlichen Meinung, die wir im kleinen ,die Leute' nennen und die im großen mit der Presse und ihrer täglichen suggestiven Kraft auf uns eindringt." „Die Mode macht uns zu ihren Sklaven, ob wir wollen oder nicht. Am schlimmsten aber wirkt die Mechanisierung und Technisierung des Lebens. Vor allem ist es der sogenannte Beruf, der den meisten bei der heutigen Überanstrengung als Tretmühle und Gefängnis erscheint, denen sie nur für kurze Zeit in die Gefilde sogenannter Erholung entrinnen können. Dann aber ist es die Technik, die aus einer Dienerin zu einer Herrin geworden ist." „Alle diese Abhängigkeiten werden von vielen gar nicht mehr empfunden, es sei denn in einem allgemeinen Ungenügen und in einer gedrückten Stimmung, die anzeigt, daß etwas nicht in Ordnung ist." 103 100
F. Niebergall, aaO, S. 100. F. Niebergall, aaO, S. 8f. — Zur Charakterisierung der religiösen Situation der Zeit vgl. auch F. Niebergall: Welches ist die beste Religion?, 1906 und ders.: Idealismus, Theosophie und Christentum, 1919. 102 F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. lOff. 103 F. Niebergall, aaO, S. 23f. 101
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Der moderne Mensch ist aber nicht nur durch seine Resignation, sondern zugleich auch durch seine soziale Gesinnung charakterisiert. „Die liberale Rechnung mit den sich selbst regulierenden Egoismen erwies sich als falsch. Das Elend der auf sich selbst angewiesenen Arbeiter wuchs riesengroß. Die völlige Freiheit der früheren Herren verführte zum schrankenlosen Gebrauch ihrer Macht. D a erwachte das soziale Gewissen. Teils weckte es kluge Berechnung, teils ohne Rücksicht auf die Folgen der humanitäre Geist und der Geist christlicher Nächstenliebe und Verantwortlichkeit für den Bruder. S o wurde der moderne Mensch sozial." 1 0 4 Niebergalls Bild des modernen Menschen in der Gegenwart entsteht aus den Stilmitteln des Situationsbewußtseins, das seine Beurteilung der Zeit leitet. Das Schwanken zwischen Resignation und sozialer Gestaltung bestimmt die Analyse der Situation der Predigt in der Neuzeit. Es prägt auch das Bild des modernen Menschen, des Predigers und des Hörers. In den Gegensätzen der modernen Lebenseinstellung, in der Krise des modernen Menschen findet die Predigt ihre Begründung, ihren Sinn und ihre Aufgabe. Den Menschen von der resignativen, der unbewußten Teilnahme am sozialen Leben zu kritischer Mitarbeit zu motivieren, aus Personen verantwortliche Persönlichkeiten 1 0 5 zu bilden, ist das Ziel der ,modernen Predigt' 1 0 6 . „ E s ist noch lange nicht genug sozialer Geist von sittlicher Höhe im Volke, zumal auch in der kirchlichen Gemeinde, verbreitet. Es bedarf noch langer Arbeit, um weite Kreise von ihrem diesseitig oder jenseitig gerichteten frommen Egoismus zur Verantwortlichkeit für den Nächsten zu erziehen." 1 0 7 Die .moderne' Predigt steht der modernen Situation nicht polemisch gegenüber, sondern sie teilt kritisch ihre Probleme. „ D i e Polemik des alten Glaubens dagegen ist ebenso überflüssig wie die schonende Besorgnis der Gleichgesinnten. Wir werden unbedingt nicht anders können, als das, was wir zu bringen haben, einzuzeichnen in die Umrisse dieser Gesamtanschauung. Wir müssen dem Relativismus, wir müssen der Gesetzlichkeit, wir müssen dem Empirismus diese Einräumung machen, daß wir unser Glauben, Streben und H o f f e n in diesen Rahmen hineinstellen oder daß wir jene Auffassungen unserm Glauben und H o f f e n einfügen; sonst können wir nimmer auf das Verständnis und das Gehör derer rechnen, denen F. Niebergall, aaO, S. 30f. Die Entwicklung der Person zur Persönlichkeit behandelt Niebergall ausführlich im Anschluß an die Wertpädagogik in: ders.: Person und Persönlichkeit, 1911. Für Niebergall ist „die Person die Grundlage der Persönlichkeit, die Persönlichkeit aber die Verklärung der Person." (aaO, S. 168). 1 0 6 Diese ethische Tendenz der ,modernen' Predigtpraxis kommt in Niebergalls Sozialethik „Evangelischer Sozialismus" (1920) und vor allem auch in O. Baumgartens Homiletik (Predigt-Probleme, 1904) zum Ausdruck. 1 0 7 F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. 31. 104
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jene Gesamtauffassung zum starren, alles geistige Leben mit seinen absoluten Werten ertötenden Mechanismus geworden ist. Brauchen wir uns doch alle miteinander nicht große Gewalt anzutun, wenn wir zur Anbahnung eines Verständnisses mit diesen unsern Geistesgenossen jene Auffassung annehmen wollen; sie steckt uns j a im Blut wie ihnen, mögen wir auch natürlich besser als sie in der Lage sein, zwischen Regelmäßigkeit und Zwang zu unterscheiden und den Folgerungen der Oberflächlichkeit und der Skepsis zu entgehen." 1 0 8
III. Die religiöse Situation der Neuzeit „Wer die geistige Lage der Zeit überblickt und prüft, der wird vor allem eine starke Verworrenheit und eine peinliche Unsicherheit über das Hauptziel des Strebens empfinden; überall ein Auseinandergehen der Menschheit in Parteien, oft auch ein Gespaltensein des Menschen bei sich selbst." So erfaßt Rudolf Eucken 1913 das Selbstverständnis des modernen Menschen, der sich der Komplexität der sozialen und geistigen Strukturen seiner Welt bewußt geworden ist 1 0 9 . Er empfindet die Divergenzen und Ambivalenzen der modernen Zeit als Verlust und Gewinn zugleich. „Das Mittelalter überlieferte ein Lebensganzes, das die grundverschiedene antike und altchristliche, künstlerische und religiöse, weltfreudige und weltfeindliche Denkweise weniger gegenseitig ausglich als geschickt zusammenfügte." Die Neuzeit erscheint demgegenüber komplex, uneinheitlich und gegensätzlich. „Nichts unterscheidet die moderne Kultur mehr von der einfacheren des Altertums als solches Durchtränktsein von Gegensätzen." 1 1 0 Der von Eucken beschriebene Strukturwandel des Weltverständnisses betrifft auch die Stellung des Christentums in der modernen Kultur. Die Situation des Christentums in der Neuzeit ist dadurch gekennzeichnet, „daß zwischen der überkommenen kirchlichen Form der Religion und einer universalen Bewegung zur Religion aus dem eignen Streben der Zeit eine schroffe Spannung besteht" 1 1 1 . Die „Verständigung zwischen Christentum und Neuzeit" bildet eines der wichtigsten Probleme der modernen Kultur. Diese Verständigung ist freilich „minder leicht, als sie manchen erscheint" 1 1 2 . 108 109 110 111 112
F. Niebergall: Die moderne Predigt (ZThK 15, 1905, S. 216). R. Eucken: Geistige Strömungen der Gegenwart, 4. Aufl. 1913, S. 1. Ebd. R. Eucken, aaO, S. 398f. R. Eucken, aaO, S. 402.
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Auch Friedrich Niebergall empfindet die Kultur der Neuzeit als eine Auseinandersetzung von „miteinander ringenden Weltanschauungen und religiösen Strömungen" 1 1 3 . Die moderne Predigt steht „im Kampf um den Geist" 1 1 4 . Zu den Aufgaben der Homiletik gehört deshalb auch eine Analyse der religiösen Situation. Sie stellt das Christentum zwischen die Vielzahl der Weltanschauungen auf der einen und der Ersatzreligionen auf der anderen Seite. Positivismus, Illusionismus, Funktionalismus, Skeptizismus, Pragmatismus, Materialismus, Naturalismus, Atheismus, Relativismus und idealistischer Monismus sind die geistigen Systeme der modernen Zeit 115 , Mystik, Okkultismus und Spiritismus die Surrogatreligionen 116 , mit denen sich das Christentum auseinanderzusetzen hat. Die Weltanschauungs- und Religionssysteme stehen freilich nicht isoliert nebeneinander. Sie durchdringen und verschränken sich vielfältig. Im Geflecht der Orientierungssysteme läßt sich auch das Christentum nicht mehr eindeutig bezeichnen. Die Ambivalenzen in der modernen Kultur und Gesellschaft bedingen eine Vielzahl von Modifikationen und Spezifikationen der christlichen Religion. Niebergall kann daher in seiner Analyse der religiösen Situation nicht mehr erreichen als eine andeutende Typisierung von Strömungen im neuzeitlichen Christentum. Zwischen den „freiere(n) Christen" und dem „rechte(n) Flügel" der Kirche finden sich „Angehörige eines mehr oder weniger bewußten Christentums". Die einen neigen „mehr einer freieren, die andern mehr einer strengeren Auffassung zu, wie sich das aus dem Temperament und den Einflüssen der Tradition und der Umgebung gerade ergibt" 1 1 7 . Nebem flem traditio113
F. Niebergall: Im Kampf um den Geist, 1927, S. 6. In seinem gleichnamigen Buch von 1927 versucht Niebergall einen Gang durch das „Museum der Weltanschauungen und Religionen" (aaO, S. 16). Er versteht die religiöse Welt durchaus pluralistisch und stellt sich die Aufgabe, einen geordneten Überblick über die verschiedenen religiösen Richtungen und Tendenzen zu gewinnen. — Vgl. auch: ders.: Idealismus, Theosophie und Christentum, 1919 und ders.: Christentum und Theosophie (ZThK 10, 1900, S. 189-244). 115 F. Niebergall: Im Kampf um den Geist, 1927, S. 19ff. 116 F. Niebergall, aaO, S. 169ff. 117 F. Niebergall: Die moderne Predigt, 1929, S. 38. — Die Komplexität der modernen religiösen Situation erschwert Niebergalls Analyse erheblich. Einerseits genügt eine pauschale Zeichnung der Lage in keinem Falle. Auf der anderen Seite bedarf es aber zum Verständnis der religiösen Wirklichkeit einer Strukturierung ihrer Erscheinungen und der entsprechenden religiösen Positionen. Niebergall erkennt dieses Problem. Er schreibt: „Der Gebrauch des bestimmten Artikels ist immer verkehrt. Deshalb genügen uns all die Schilderungen nicht, die von der Frömmigkeit des modernen Menschen sprechen, wie uns ja auch eine Darstellung des modernen Menschen an sich nicht befriedigen konnte. Man wird auch hier der Aufgabe nur gerecht, wenn man verschiedene Schritte macht, um die uneinheitliche Gestalt des Gegenstandes einigermaßen zur Anschauung zu bringen. Man ist verloren, wenn man von einigen Hauptpunkten alles ableitet und ein geschlossenes Bild herstellen will. Darum soll versucht werden, an der Hand von meh114
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nell reformatorischen Glaubensverständnis hat sich unter den Bedingungen der Neuzeit eine Form von Christentum entwickelt, die nach Niebergalls Urteil „nicht" nur christlich, sondern auch protestantisch" genannt werden muß. „Es ist die Zeit des technischen Menschen, die sich im Gegensatz zu den alten Formen einer kirchlichen Christlichkeit, die durch den Handwerker und den Landpfarrer des 16. Jahrhunderts bestimmt wurde, gestaltet hat. Vieles, was damals neu war in der Botschaft der Kirche, ist nun zu einer Selbstverständlichkeit geworden, und ganz andere Fragen und Aufgaben sind aufgetaucht." 118 Die Kirche darf dieses „weltliche Christentum" nicht ablehnen, sie „muß diese Art von christlicher Frömmigkeit anerkennen" 119 . Gerade die .moderne' Predigt kann den Frömmigkeitswandel in der modernen Zeit nicht ignorieren. Denn „es ist falsch, zu meinen, daß die gut kirchlichen Leute nicht von dem modernen Geist angesteckt seien. Es ist nur ein Ausfluß unsres Bedürfnisses nach Illusionen, wenn wir so tun, als glaubten wir, daß diese unsre Leute so glaubten wie früher." Die Predigt muß davon ausgehen, „daß Religion eine Sache des persönlichen Bedürfnisses geworden, daß ferner die naturwissenschaftliche Grundanschauung weithin durchgedrungen ist", und sie muß schließlich einer veränderten Frömmigkeitsrichtung auch durch eine Umkehrung der homiletischen Intention gerecht werden. Es kennzeichnet die moderne Frömmigkeit, „daß der Weg weniger vom Bibelwort zu der Erfahrung als umgekehrt von der Erfahrung und dem Erlebnis zu dem Bibelworte geht. Wo es noch anders ist, da herrscht ein Geist, der entweder sich trotzig gegen die erkannte neue Überzeugung abschließt, oder der doch in Bälde von den durch die Welt gehenden neuen Erkenntnissen über den Haufen geworfen werden wird" 120 . Die ,moderne' Predigt verschließt sich dem Wandel und der Differenzierung der christlichen Frömmigkeit nicht, sondern sie versucht, sie zu begreifen. Gerade die Analyse der modernen religiösen Situation führt die Homiletik wieder auf die „entscheidende Frage: Dürfen wir hoffen, daß die modernen Menschen ein Ohr haben für unsere Botschaft? Oder stehen sie für immer abseits von aller kirchlichen Verkündiguftg? " Niebergall ist davon überzeugt, daß der „fromme Landmann . . . allmählich in das Raritäten-Kabinett oder in den Sprachgebrauch unverbesserlicher Illusionisten" gehört. Aber „umgekehrt kann man von der Stadt sagen, daß es in ihr in der Regel allerlei Leute gibt, die zu den Allermodernsten gereren Darstellungen eine Ahnung davon zu geben, wie verwickelt die Stellung zu jenen Größen ist, wenn man jene beiden Begriffe vom modernen Menschen, den zeitlichen und den qualitativen, berücksichtigt." (aaO, S. 37). 118 Niebergall, aaO, 41. 119 Ebd. 120 Niebergall, aaO, 43f.
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hören, also Wartende, Menschen der Sehnsucht sind" 121 . Ihnen gilt die .moderne' Predigt. „Es ist die wichtigste Aufgabe, die uns in unserm ganzen Leben werden kann, dafür zu sorgen, daß dieser große Strom nicht an den geschlossenen Kirchentüren vorüberrauscht." Die ,moderne' Homiletik muß sich daher „auf ein Christentum besinnen, wie es unsrer Zeit ansteht, gleichwie alle früheren Zeiten ihr Christentum gesucht und gefunden haben, ein Christentum, das dem richtigen Denken keinen Anstoß, aber dem Herzen Halt und Frieden und der Willensschwäche Freudigkeit und Stärkung bietet. Das ist der größte Zusammenhang, in dem unsre Aufgabe, die moderne Predigt zu suchen, stehen kann" 122 . Nun lebt aber nicht nur der Hörer der Predigt und auch nicht nur der Prediger unter den Bedingungen der modernen Welt. Auch die christliche Theologie nimmt am Wandel des religiösen Bewußtseins teil. Sie wird gerade in der Neuzeit zu einer Funktion der Frömmigkeit. Man kann deshalb nach Niebergalls Überzeugung die religiöse Situation der Moderne nur begreifen, wenn man Religion und Theologie als Bedingung und Funktion erfaßt, sie einerseits voneinander trennt und sie andererseits aufeinander bezieht. Niebergall und seine Freunde weisen ständig und mit Leidenschaft auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Religion und Theologie, zwischen Frömmigkeit und Dogmatik hin 123 . Gerade 121
Niebergall, aaO, 49. Niebergall, Die m o d e r n e Predigt ZThK 1905, aaO; 219f. 123 So trennt Niebergall etwa im Blick auf die Theologie des Paulus Theologie u n d Religion als Theorie und Praxis: „Des Apostels Art kann sich nicht begnügen mit der Aufstellung dieser Gewißheit der Gnade Gottes in Christi Tod; er m u ß diese Oberzeugung unterbauen mit einer Theorie, die mit Hilfe zeitgenössischen Vorstellungsmaterials es begreiflich machen will, daß Gott auf einmal statt des Zornes Gnade ergehen läßt. Die theoretischen Versuche bilden eine sekundäre Reihe von Gedanken, die hinter der Aussprache der Erfahrung und der einfachen Mitteilung der Gnade an die Sünder stehen. Zwischen beiden Reihen läuft die Grenze, die die Religion von der Theologie scheidet, mag es auch die Theologie des Apostels Paulus sein" (Wie predigen wir Bd 1; 42). — Im Aufsatz „Die moderne Predigt" von 1905 bezeichnet Niebergall die Unterscheidung von Theologie u n d Religion als Erkenntnis der kritischen Theologie. „Die Trennung 122
ist unmöglich, denn auch die Befürworter dieser Trennung haben eine Theologie. Auch die Reinreligiösen sind Theologen. Aber sie wollen nicht eine bestimmte Theologie mit der Religion vereinerleien, um die Gaben und K r ä f t e der Religion bloß um den Preis abzugeben, daß man ihrer Erklärung, wie sie zustandegekommen und aufzufassen sind, zustimmt." — Niebergall fordert für die Predigtarbeit: „Wir dürfen zuerst b e w u ß t nichts von unsrer Theologie auf die Kanzel bringen, sondern müssen immer mehr daran arbeiten, unsere theologische Sprache in die homiletische, nämlich in die religiöse zurückzuübersetzen" (aaO, S. 244f.). — Uckeley b e t o n t , daß die Predigt nicht ins Gebiet der theologischen Theorie, sondern in das der religiösen Praxis einzuordnen ist. „Bei der Predigt handelt es sich nicht um derartige Begriffserfassungen. Sie gehören nicht auf die Kanzel, sie haben zurückliegend hinter der Predigtvorbereitung des Pfarrers ihren Platz. In der Predigt selbst handelt es sich um Frömmigkeitspflege, u m Erziehung u n d Erhaltung der Gemeinde in einer ganz bestimmt gestalteten Frömmigkeitsart. Wir müssen uns immer wieder klar machen, daß es dort nicht darauf a n k o m m t ,
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die kritische Einstellung gegenüber theologischen Systemen ist für die Vertreter der .modernen Predigt' schon ein Indiz für die Lebendigkeit der christlichen Frömmigkeit, während ihnen die Überschätzung von Dogmen und Bekenntnissen als Beweis für eine Erstarrung der Religiosität gilt. So urteilt etwa Otto Baumgarten: „Der größte Tiefstand inneren Lebens in der Christenheit war wohl zur Zeit, als man sich auf dem Markt über die zweite Person der Gottheit stritt. Halten wir Theologie und lebendigen Glauben auseinander!" 124 Baumgartens Predigten richten sich an eine Gemeinde, die „unverdorben ist durch theologische Agitation" 125 . Friedrich Niebergall sieht in dem Auseinanderfallen von theologischem System und christlicher Frömmigkeit das wesentliche Kennzeichen der theologischen Lage seiner Zeit. „Ebenso wie in dem großen Prozeß der Säkularisation die andern Lebensgebiete, das rechtliche, das politischbürgerliche, das künstlerische und wissenschaftliche aus der religiös-kirchlichen Vormundschaft entlassen wurden, so greift jetzt diese Scheidung auch das mit dem religiösen Leben von der Schrift und Tradition her verbundene Denken an." 126 Das kritische Moment in der gegenwärtigen theologischen Situation, die Destruktion der überkommenen dogmatischen Systeme befreit aber gerade die Frömmigkeit des Christen von der Herrschaft der Theologen. „Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir auch die Trennung beurteilen, die gegenwärtig die meisten Schmerzen zu machen scheint, nämlich die Trennung der Religion von der alten Theologie und ihre Unterscheidung von jeder Theologie. Man kann es gut nachfühlen, wie diese Arbeit der Kritik manche in Zorn oder in Verzweiflung bringt, weil sie ihnen entweder ihren Glauben selbst antastet oder die Religion im Glauben nackt wie ein hilfloses Kind in den rauhen Wind der Straße setzt. Auch die Resignation und die Entrüstung derer ist zu verstehen, denen es so vorkommen will, als ob die unermüdliche, rücksichtslose Aufhellung der geheimnisvollen Offenbarungszeiten durch die evolutionistische Methode Gottes Offenbarung und Walten bedrohte und kleine Theologen heranzuziehen, die dann mit dialektischer Schärfe und verblüffender Gewandtheit über diesen und jenen dogmatischen Begriff Rechenschaft geben können. Sondern das ist die Aufgabe der Predigt, die Seele mit Gott und Gott mit der Seele in Verbindung zu bringen" (A. Uckeley, Recht und Unrecht des modernen Elements in der Predigt, NKZ 24, 1913, 2 2 2 - 2 4 0 ; 227). - Entsprechend fordert Schian: „Der Prediger predige Religion, nicht Theologie" (Die Predigt, 1906; 45). Er betont, daß die positive Wirkung der Predigt nicht auf der positiven Theologie des Predigers beruhe, sondern auf dem religiösen Gehalt der Predigt. 124
O. Baumgarten, Predigt-Probleme 1904; 147. Baumgarten, aaO, S. 148. 126 Niebergall, Die moderne Predigt ZThK 1905, aaO; S. 208. - Zur Rezeption der Säkularisierungsthese in der gegenwärtigen Kirchensoziologie und in der Homiletik vgl. die oben in den Anmerkungen 54, 55 und 56 des ersten Kapitels genannte Literatur. 125
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durch genauer erkannte, feinere Kausalzusammenhänge ersetzen wollte. Nachdem die neuere Naturwissenschaft Gott in Wohnungsnot gebracht hat, läßt ihm die historisch-kritische, im Sinn des Entwicklungsgedankens betriebene Geschichtswissenschaft gar keinen Raum mehr, um in seiner nach christlicher Auffassung eigentlichsten Domäne, der Menschengeschichte, zu wirken. Die dem mechanisch-materialistischen Geiste der Zeit entstammende Forschungsmethode schlingt die Maschen auch zwischen den großen Offenbarungsträgern und ihrer Umwelt immer enger, so daß sich die Masse ihrer Gedanken und Bestrebungen ohne große Mühe aus immer klarer werdenden Quellen ableiten läßt." 127 Die Theoriekritik der .modernen' Predigttheorie gilt der Darstellung der Frömmigkeit als des ursprünglichen religiösen Lebensmomentes. Denn „die ganze Führung und Leitung des geistigen Lebens durch Gott hat durch die Vernichtung des geringeren Alten besseres Neues an den Tag gebracht. Wir sehen es als eine große Bereicherung an, wenn uns die Reaktion gegen die Einseitigkeit der Kritik und das Bedürfnis nach Wahrheit und Tiefe die christliche Religion wieder entdecken half. Diese Welt der religiösen Persönlichkeit hat unsre ganze Stellung und Auffassung umgestaltet; sie hat uns frei gemacht von der bald knechtisch bald zornig getragenen Herrschaft der alten Gedanken und Vorstellungen. Wir ereifern uns nicht mehr so wie früher für oder gegen die ,Dogmen', sondern wir verstehen sie von innen, fast möchte man sagen von unten heraus, als zeitlich notwendige Lebensäußerungen eben der christlichen Frömmigkeit. Entsprechend dem Schlagowrt ,die Kunst als Ausdruck' könnte man sagen die .Theologie als Ausdruck'. So kommen die Dogmen zu stehen als Reflexe der Art, wie man Gott erlebte, aber als solche intellektuellen Reflexe sind sie dann allerlei irreligiösen Mächten preisgegeben" 128 . Das Interesse der .modernen' Homiletik gilt den Bedingungen und Möglichkeiten der Predigt in der modernen Gesellschaft. Zu diesen Bedingungen gehört der Wandel der christlichen Frömmigkeit ebenso wie ihre Befreiung von der theologischen Systematik. Das Ziel der ,modernen' Predigt ist nicht die Tradition von theologischen Denkmustern, sondern die Vermittlung von Evangelium und Zeit. Der „moderne Mensch" und das „moderne Evangeliumsverständnis" 129 umreißen zusammen den Horizont, in dem sich die .moderne' Predigt bewegt. 127
Niebergali, aaO, S. 208f. AaO., S. 209. — Der Einfluß des Expressionismus auf die Theologie kennzeichnet nicht nur die theologische Einstellung, die sich in der .modernen Predigt' ihren theoretischen Ausdruck geschaffen hat. Er reicht weiter und setzt sich auch nach dem Krieg fort. So schreibt etwa R. Bohren über die homiletische Konzeption von E. Thurneysen: „Thurneysen spricht 1921 die Sprache des Expressionismus. Dies ist nicht mehr unsere Sprache. Es wird darum nötig sein, den Rang und die Gültigkeit der damaligen Position hervorzuheben" (Bohren, Predigtlehre, 1971, 446). 129 Nieb ergall, Die moderne Predigt ZThK 1905, aaO; S. 208. 128
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IV. Die Praxis der Predigt in der modernen Gesellschaft 1. Typen und Tendenzen einer komplexen homiletischen
Praxis
Trotz ihres kritischen Elans ist die moderne Predigtbewegung doch auch von konservativem Geist bestimmt. Sie kritisiert zwar die Disfunktionalität der herkömmlichen Predigtweise im Beziehungsfeld der modernen Gesellschaft. Und sie wendet sich ebenso gegen eine traditionsgebundene und erstarrte Predigttheorie, die den Zusammenhang mit der praktischen Predigtarbeit nicht mehr wahrzunehmen vermag. Aber die ,moderne' Predigt negiert deshalb keineswegs die vorhandene Predigtpraxis überhaupt, und sie ignoriert auch nicht die herrschende Predigttheorie insgesamt. Gerade weil sie die Predigt und ihre Theorie kritisch weiterentwickeln will, knüpft sie in jeder Beziehung an praktische und theoretische Impulse an, die sich in der gegenwärtigen Predigtarbeit aufzeigen lassen. Die .moderne' Predigt versteht sich nicht als die bessere Theorie, die die bisherige Predigtpraxis mit einem revolutionären Akt außer Kraft setzt. Und sie gestaltet auch ihre homiletische Theorie nicht als Deduktion aus neuen Prinzipien. Die .moderne' Predigt legitimiert sich vielmehr aus ihrer historischen Faktizität. Friedrich Niebergall geht in einer Vielzahl von homiletischen Aufsätzen der bestehenden Predigtpraxis nach und versucht, sie in Kategorien zu fassen, „Predigttypen" 130 , Richtungen und Tendenzen wahrzunehmen, sie zu beschreiben und kritisch zu analyiseren 131 . Im kritischen Vergleich verschiedener homiletischer Impulse bildet sich diejenige Predigtpraxis heraus, die der modernen Gesellschaft und ihrer Kultur gerecht zu werden vermag. „Durch die vergleichende Beschäftigung mit ganz entgegengesetzten Typen schärft sich nicht nur das kritische Vermögen, indem sich ein bewußter oder unbewußter Maßstab herausarbeitet, sondern durch Anziehung und Abstoßung bilden sich auch die eigenen Ideale heraus." 132 Die Analyse der zeitgenössischen Predigtpraxis wird nun aber zunächst durch die Komplexität des homiletischen Erscheinungsbildes erschwert. Man kann zwar versuchen, „ein Durchschnittsbild der Predigt (zu W.S.) zeichnen, wie es etwa vor dreißig Jahren geherrscht hat": „Die Perikope 130 F. Niebergall, Predigttypen und Predigtaufgaben der Gegenwart, ChW 39, 1925, 578-588; 735-743. 131 Ein ähnliches Interesse an einer Strukturierung der Predigtpraxis kennzeichnet auch die praktisch-theologische Homiletik der Gegenwart. Vgl. vor allem die beiden analytisch-homiletischen Werke: J. Konrad, Die evangelische Predigt, Grundsätze und Beispiele homiletischer Analysen, Vergleiche und Kritiken, 1963 und R. Kliem, Die katholische Predigt. Texte und Analysen, 1967. Vgl. auch W. Uhsadel, Homiletische Kriterien, DtPfrBl 68, 1968; 87. 132 F. Niebergall, Die moderne Predigt, ZThK 1905, aaO; 220.
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wurde als das Wort Gottes ausgelegt, um Glaube und Buße zu erwecken oder zu stärken. Ein Thema wurde aus dem Text gewonnen und dann in zwei oder drei Teilen, die mit ihm angekündigt wurde, nach der analytisch-synthetischen Methode abgehandelt; das heißt es sollten der Gliederung des Textes die sie einzeln möglichst erschöpfenden und räumlich gleichen Teile der Predigt entsprechen. Das Ganze trug einen lehrhafterbauenden Charakter. Das Ich war verpönt, das Evangelium, die Sache sollte Alles sein. Jenes Thema war entweder ein Kausal- oder ein Finalthema, also entweder eine Behauptung oder eine Mahnung, natürlich immer nur so, daß jene in eine Forderung auslief und diese sich auf eine Wahrheit stützte." 1 3 3 Es kennzeichnet aber gerade die gegenwärtige homiletische Situation, daß diese „homiletische Scholastik" 1 3 4 nicht mehr als verbindlich angesehen wird. „Es gibt kein Ideal ,der' Predigt, es gibt keine allgemeine Norm, sondern jeder hat an seinem Orte und nach seiner Anlage zur gegebenen Stunde das zu finden, was Ideal und Norm bedeutet." 1 3 5 Aber nicht nur die homiletische Situation der einzelnen Gemeinde wirkt differenzierend auf die Predigtpraxis. Vielmehr sind es gerade die vielfältigen Tendenzen und Momente im Bild der neuzeitlichen Frömmigkeit, die die Vorstellung eines einheitlichen Predigttyps nicht nur als unmöglich, sondern auch als unerträglich erscheinen lassen. Mit der modernen Zeit, ihrer Kultur und ihrer Frömmigkeit ist auch die Predigt komplex geworden. Man kann nicht mehr objektiv und vollständig sagen, „wie landauf, landab gepredigt wird". Man kann allenfalls ein „Bild" der Predigt zeichnen, „das nicht beanspruchen kann, mehr als ein, dazu noch ganz persönlich bedingter, Durchschnitt zu sein" 1 3 6 . Die Analyse der homiletischen Praxis trifft die Komplexität der modernen Situation nicht erst bei ihrem Objekt an, sondern sie stößt schon bei der Wahl ihrer methodischen Prinzipien auf sie. Es herrscht „über die Grundsätze der Kritik von Predigten wenig Einhelligkeit und auch wenig systematisches Nachdenken." „Der Eine fragt nach dem dogmatischen Standpunkt, der Andere nach der Form und Sprache; wieder Einer urteilt nur nach dem Eindruck, den sie auf ihn machen, selten fragt man nach der Wirkung auf die Leute, für die sie gehalten wurden." 1 3 7 Es entspricht Niebergalls Predigtverständnis, wenn er bei der Bewertung von Predigten vor 133
Niebergall, Predigttypen, aaO; 581. Ebd. 13s Niebergall, Die moderne Predigt, ZThK, 1905; 221. 136 Predigttypen, aaO, 579. — Niebergall verfährt auch hier ähnlich subjektiv und unwissenschaftlich wie bei der Analyse des modernen Menschen (Die moderne Predigt ZThK, 1905, aaO, 212ff. und Die moderne Predigt 1929; 3ff.) und bei der Typisierung von sozialen Gemeindesituationen (Die moderne Predigt 1929; 130ff.). 137 F. Niebergall, Predigten, ChW 21, 1907, 2 8 2 - 2 8 7 ; 282. 134
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allem auch von der Perspektive des Hörers ausgeht. „In unserm parlamentarischen und demokratischen Zeitalter hat im Gegensatz zur Obrigkeitskirche die Gemeinde ein Recht mitzusprechen, wenn über Gottesdienst und Predigt gehandelt wird." 138 Deshalb bekommt in der .modernen' Predigtkritik auch „ein Bauer oder kleiner Kaufmann, mit dem gesunden Menschenverstand und der Würde eines Kirchengemeinderats versehen, regelmäßiger Kirchengänger und mehr oder weniger innerlicher Christenmensch, das Wort" 139 . Solche mehr oder weniger zufälligen Beziehungen von Predigten auf ihre jeweiligen Zuhörer und deren soziale Gegebenheiten lassen freilich noch keine Systematisierung der Predigtpraxis in ihrem ganzen Umfang zu. Es bedarf dazu eines kategorialen Rahmens, der den komplexen Bedingungen der zeitgenössischen Predigtformen gerecht wird. Niebergall versteht die Modernität, den kritischen Maßstab seiner Predigtanalyse also, als eine typische Einstellung in der neuzeitlichen Gesellschaft 140 . Und er versucht daher, auch die Predigtpraxis auf den Nenner des modernen Menschen, seiner religiösen Grundposition und deren theologischen Konsequenzen, zu bringen. „Uns kommt es vor allem auf die moderne Predigt im eigentlichen Sinne an, also auf die, welche durch die moderne Theologie und die moderne Welt bestimmt ist." 141 Niebergall differenziert daher die Predigtpraxis nach „verschiedenen Lagern" 142 , nach Richtungen und Positionen. Solche homiletischen Einstellungstypen lassen sich sowohl in einem Längsschnitt historisch einander vor- und nachordnen, als auch im Querschnitt nebeneinander stellen. In einigen seiner Analysen wählt Niebergall die zweite Perspektive. Er nimmt exemplarisch „je einen von der Gruppe der Lutheraner, aus dem Kreise der Evangelisation, aus der Gruppe unserer Freunde, dazu noch einen, der etwas .weiter links', und einen, der ,ganz links' steht" 143 . Die verschiedenen Einstellungen in der Gesellschaft bestimmten sowohl die theologischen Positionen als auch die Predigtziele der einzelnen Prediger. „So unterscheiden sich die Richtungen durch ihre Ziele: die altgläubige ordnet die Rettung vor dem Gericht der Befreiung aus der Sündenmacht über; die evangelisatorische dagegen unter, um vor allem das Alltagsleben im Sinne des Uberwinders umzuwandeln. Unser nächster Gesinnungsge138
F. Niebergall, Die Predigt der Gegenwart, ChW 46, 1932, 6 6 1 - 6 6 4 , 7 3 9 - 7 4 5 ; 745. F. Niebergall, Rezension von dreizehn Predigtbänden in ChW 21, 1907, 1 2 0 2 1203; 1203. 140 Zum Verständnis der Modernität in der .modernen Predigt' vgl. das im Kapitel „Der moderne Mensch" oben Gesagte. 141 F. Niebergall, Die moderne Predigt 1929; 79. 142 Niebergall, Die moderne Predigt, ZThK 1905, aaO; 220. 143 ChW 21, 1907; 282. - Die Prediger, die Niebergall exemplarisch für ihre theologischen Einstellungen wählt, sind von rechts nach links: Wilh. Walther, Samuel Keller, Karl Hesselbacher, Carl Jatho und Herrn. Spörri. 139
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nosse legt den Nachdruck auf den Erwerb eines starken Haltes gegenüber den Hemmungen des Lebens. Die mehr nach links stehende Predigt will die Begeisterung für alles Große und Schöne in der Welt verbinden mit der Sympathie für J e s u s und energische Aufklärungsarbeit. Die äußerste Linke bringt diesen Zug aus dem Historischen und Besonderen in das Allgemeine zur Vollendung, indem sie die seelischen Tiefen im Sinne einer reichen Mystik zu erfüllen s u c h t . " 1 4 4 Aber nicht nur hinsichtlich der Ziele der Predigten, sondern auch in der Art der Ausführungen lassen sich Differenzen zwischen den verschiedenen Einstellungstypen und Entwicklungstendenzen wahrnehmen. „ D i e dualistische Enge der streng biblischen und kirchlichen Gedankenwelt weicht immer mehr einer Universalität, die die Weiten und Tiefen des Lebens nicht vergißt. Dazwischen steht der Vertreter unserer Gruppe, der die Bedeutung J e s u als des Führers zu G o t t und des Lebensspenders noch stark unterstreicht, ohne daß er einen Anlaß zur Behandlung der Frage nach seinem Verhältnis zu den anderen Religionen h ä t t e . " 1 4 5 In seinem Resümee der .modernen Predigt' von 1929 wählt Niebergall dagegen die geschichtliche Perspektive, um besser auf die historischen Entwicklungstendenzen in der Predigtpraxis hinweisen und damit auch Gesetzmäßigkeiten aufzeigen zu können, die sich vor allem in der „nachmoderne(n) Predigt", der Predigt der dialektischen Theologie, bemerkbar machen 1 4 6 . So werden die liberale, die unmoderne und die vormoderne Predigt als Vorläufer und Gegner der modernen Predigt skizziert, während die nachmoderne Predigt das historische Ende der modernen Predigtbewegung bezeichnet. Die liberale Predigtweise findet Niebergall in der Zeit des Kulturkampfes. Ihre charakteristischen Kennzeichen sind die Polemik gegen den „Dogmatismus" und gegen den „Zwang kirchlicher Ordnung", das Vertrauen auf die moderne Naturwissenschaft und die relativ geringe Betonung des Religiösen. „Religion ist nicht eine das L e b e n beherrschende Grundkraft, sondern ein Schmuck der modernen Weltanschauung, den man als ein liebes Erbe von den Vätern her nicht ablegt." 1 4 7 144 F. Niebergall, ChW 2 1 , 1907; 2 8 4 . 145 Niebergall, aaO, S. 2 8 5 . 14« Die Analyse der von Niebergall so genannten „nachmodernen Predigt" findet sich in: Die moderne Predigt 1 9 2 9 ; 130. Zur Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie vgl. außer diesem Buch auch den Aufsatz „ D i e neueste Theologie und die P r a x i s " , MPTh 2 5 , 1 9 2 9 , 13—18 und die ausführlichere Aufsatzserie „Moderne und modernste T h e o l o g i e " , Die Wartburg 3 0 , 1931, 1 0 7 - 1 1 0 , 1 4 1 - 1 4 4 , 1 7 5 - 1 7 9 , 2 8 7 - 2 9 0 . 147 Die moderne Predigt 1 9 2 9 ; 8 0 . — Zur liberalen Predigt rechnet Niebergall vor allem Heinr. Lang, Heinr. Holtzmann, Rud. Ehlers und Heinr. Bassermann. Vgl. auch Bassermanns homiletische Arbeiten, in: Beiträge zur Praktischen Theologie, 1909 und: ders., Handbuch der Geistlichen Beredsamkeit, 1885.
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Während die liberale Predigtweise die moderne Predigt vorbereitet, steht die unmoderne Predigt beiden Predigttypen kritisch gegenüber. Ihr Hauptvertreter ist Adolf Stöcker. Er entwickelt seine Predigten nicht aus dem Bewußtsein der Moderne, sondern er „beurteilt unsre Zeit als krank". „Es ist ein zweifelndes Geschlecht, ein beständiger Aufruhr in den Geistern. Das Irrlicht der Aufklärung verführt viele, daß sie dem Glauben untreu werden und dem Unglauben verfallen. Ohne Ruhe spekulieren sie, sie wollen von keiner Offenbarung etwas wissen." Während man der Vernunft huldigt, geht der Glaube verloren. „Der Unglaube rüttelt an den Fundamenten der Kirche, die Feinde des Reiches Gottes sind eifrig an der Arbeit, der Glaube ist bedroht." 1 4 8 Stöckers Predigten sind durch schlichte, scharfe Reduktionsformeln geprägt. Ihre Uberzeugungskraft liegt „in der unbeirrten Anwendung der großen Schemata: Glaube — Unglaube, Kirche — Welt". Stöcker vermag nach Niebergalls Urteil die Differenzierung der modernen Welt nicht zu erfassen. „Dem Suchen und Ringen der modernen Geister, ebenso allen Schattierungen und Übergängen, steht er bloß mit steifen Gegensatzpaaren gegenüber. Nirgends taucht der Gedanke auf, daß außer der orthodoxpietistischen Theologie noch eine andre Auffassung möglich und berechtigt ist. Für die Wirkung auf die Massen ist diese Einseitigkeit vorzüglich. Wir haben wohl in Stöcker den Typ der landläufigen .rechtgläubigen' oder ,positiven' Predigtweise zu erblicken." 1 4 9 In der vormodernen Predigt sind die Denkformen und Stilelemente der modernen Predigt vereinzelt schon anzutreffen. Samuel Keller etwa, der Vertreter der „typisch evangelisatorischen Predigt", ist „ein Feind jeder homiletischen Zwangsjacke". Er versteht es, ohne beschränkende Schablonen die moderne Welt impressionistisch zu erfassen und zu vermitteln. Deshalb machen seine Predigten „beim Durchblättern einen sehr modernen Eindruck; es wimmelt von Dingen, die den Charakter moderner Zeit bezeichnen: Schnellzüge, Hotels, Maschinen, Arbeitslosigkeit, Gas, Elektrizität, Riesenkapitalien". Diese Momente des modernen Lebens sind für Keller freilich nur Stilmittel. Denn „wenn man genauer zusieht, so ist der Inhalt kein anderer als der neupietistische, d. h. der durch einen starken Einschlag angelsächsischen Methodismus befeuerte Pietismus mit orthodoxer Grundfarbe" 1 5 0 . I 4 8 Niebergall, Die moderne Predigt ZThK 1905, aaO; 221f. - Die moderne Predigt 1929; 8 l f . — Außer Stöcker behandelt Niebergall unter der Überschrift „unmoderne Predigt" Samuel Oettli, Herrn. Hering (Vgl. auch dessen Homiletik „Die Lehre von der Predigt", 1905), Oskar Pank, Christian Rogge, Adolf Schlatter, Wilh. Walther, Ludw. Ihmels, Heinr. D. Hoffmann, E. D. Römheld, J o h . Rump, Α. Rumpland (der seine Predigten nach Niebergall, aaO, S. 87, selbst als .unmoderne' bezeichnet) und Franz Xaver Eberle (interessanterweise bezieht Niebergall auch katholische Predigten in seine Analyse mit ein), vgl. Die moderne Predigt 1929; 8 I f f . its Die moderne Predigt 1929; 82f. iso Niebergall, aaO., S. 89.
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Findet sich bei Keller die differenzierte Zeichnung des modernen Lebens, so bei Alfred Uckeley der ethische Grundzug des modernen Menschen. „Er bekennt sich selbst als Voluntarist, dem es darauf ankommt, auf den Willen zu wirken. So zieht sich durch alle Predigten ausgesprochen oder unausgesprochen der Versuch, die Wertungen seiner Hörer in die Reihe zu bringen: sie sollen dem wertlosen Sinnfälligen den Abschied geben und dem wahrhaft Wertvollen nachjagen." 1 5 1
2. Die moderne
Predigt
Niebergalls eigentliches Interesse gilt nun aber der Bilanz der modernen Predigtpraxis. Sie bezeichnet nicht eine beliebige Facette im Bild der gegenwärtigen homiletischen Praxis, sondern sie stellt eine Bewegung dar, deren Grenzen sich ebensowenig genau umreißen lassen wie sich gültige Kriterien für den Typ der modernen Predigt angeben lassen. Niebergall rechnet zu ihr eine Fülle von bekannten Predigern, unter ihnen etwa Julius Kaftan, Albert Bitzius, Wilhelm Bornemann, Johannes Bauer, Paul Drews, Julius Smend, Erich Foerster, Bernhard Dörries, Hermann Kutter, Leonhard Ragaz, Otto Frommel, Otto Baumgarten, Paul Kirms, Christian Geyer, Friedrich Rittelmeyer und Karl Hesselbacher 152 . Ihre Predigten sind nicht nur im Stil, sondern auch in der Denkweise und in der Zielsetzung von der modernen Welt geprägt. Und sie sind gerade deshalb uneinheitlich, komplex. Denn nicht das Fertige, sondern das Wandelbare, nicht das Geschlossene, sondern das Abwägende, das Suchen, Experimentieren und Eingehen auf die Wirklichkeit kennzeichnet die Einstellung des modernen Menschen, des modernen Predigers und Hörers. Mit den „realistischen Bestrebungen" der modernen Predigtform fällt „die Einheitspredigt" hin. In der modernen Predigt „ist der Glaube an die ,eine schlichte Evangeliumspredigt in Stadt und Land, für Hoch und Nieder' allgemein erschüttert. Denselben Gegenstand, aber in ganz verschiedener Weise predigen, das wird unser Ziel sein" 153 . So sind auch die Predigten, die Niebergall der modernen homiletischen Einstellung zuordnet, kaum auf einen Nenner zu bringen. Die sozialen isi AaO., S. 90. 152 Niebergall legt seiner Analyse der modernen Predigt folgende Predigtbände zugrunde: A. Bitzius, Ausgew. Predigten 1925; Julius Kaftan, Suchet, was droben ist, 1893; H. Schultz, Aus dem Universitätsgottesdienst, 1902; W. Bornemann, Gott mit uns, 1901; ders., Bete und arbeite, 1904; A. Köster, Neue Menschen, 1903; J. Bauer, Die Worte Jesu, 1903; R. Aeschbacher, Seid Täter des Wortes, 1904; P. Drews, Christus ist mein Leben, 1910; G. Benz, Vom Leben erfaßt, 1909; J. Smend, Evangelische Predigten, 1910; E. Foerster, Das Ziel des Wollens, 1902; B. Dörries, Die Welt Gottes, 1910; ders., Der Wille zum Leben, 1924; L. Ragaz, Dein Reich komme, 1917; O. Baumgarten, Predigten aus der Gegenwart, 1911 u.a. 153 Niebergall, Predigten, ChW 21, 1907, 2 8 2 - 2 8 7 ; 287.
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Situationen, die Persönlichkeiten der Prediger, ihre politischen und theologischen Positionen sind zu vielfältig, als daß sie sich unter wenigen Charakteristika zusammenfassen ließen. Die modernen Predigten sind „stark auf die gegebenen Verhältnisse gerichtet" 1 5 4 , sie folgen seelsorgerlichen und pädagogischen Zielsetzungen, sie geben nicht nur den Predigttext wieder, sondern es wird ,,an einem Textgedanken gearbeitet" 1 5 5 . Schließlich tritt der historische Jesus in den Mittelpunkt der Frömmigkeit 1 5 6 . Die Themen der modernen Predigten sind meist ethisch orientiert, sie stammen nicht selten aus dem Bereich der sozialen Probleme der modernen Welt. Die Predigt wird ,,ein Faktor in der Umgestaltung der Dinge" 1 5 7 . Sie übt oft „scharfe Kritik an den herrschenden Einrichtungen, wie z . B . am üblichen Kirchenwesen, an der gewöhnlichen Christenheit, an den kapitalistischen Systemen, an dem ganzen politischen Getriebe" 1 5 8 . Es sind die „praktischen Interessen", die den modernen Prediger „von den großen religiösen Grundfragen nach den einzelnen praktischen Gebieten des Lebens und der Welt" hinführen 159 . Und dieser neuen realistischen Tendenz der Predigt entspricht auch ihr lebendiger Stil. „Hier wird wirklich geredet, nicht gepredigt, hier ringt einer in Dialogen, Fragen, in kräftigen und schonungslosen Anrufen mit seinen Hörern." 1 6 0 Die moderne Predigt wagt die Vermittlung von Evangelium und moderner Welt. Der moderne Prediger stellt sich „als moderner Mensch auf die Seite der heutigen Natur- und Geschichtserkenntnis, aber sein Hauptbestreben ist doch, der modernen Zerrissenheit und Unruhe eine Welt der Kraft und der Ruhe stark und klar zu bezeugen" 1 6 1 . Modem predigen kann nur, wer „ganz und gar nicht nur die moderne Geistesart bei seinen Hörern voraussetzt, sondern auch persönlich teilt" 1 6 2 . In der modernen Predigt „neigt sich wohl am tiefsten das Interesse des Verkündigers und die Darstellung des Evangeliums herunter zu den wirklichen Interessen einer ganz und gar modern gerichteten Hörerschaft. Es wird nicht nur das Evangelium angewandt auf das Leben, um es zu durchdringen, sondern vom Leben aus wird Hilfe und Antwort im Evangelium gesucht" 1 6 3 . 154 Die moderne Predigt, 1 9 2 9 ; S. 9 2 . 155Niebergall, aaO., S. 9 7 . 156 Alle diese Elemente finden sich in Niebergalls Christentumsverständnis und in seiner Analyse der Grundgedanken der neutestamentlichen Schriften wieder (Vgl. wie predigen wir, Bd. 1, Iff.). 157 Die Moderne Predigt 1 9 2 9 , S. 1 0 0 . 158 AaO., S. 101. is? AaO., S. 104. ι«· AaO., S. 110. 161 Die moderne Predigt, ZThK 1 9 0 5 , aaO., S. 2 2 9 . 162 Niebergall, aaO., S. 2 3 5 . 163 AaO., S. 2 2 8 .
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Niebergalls Theorie der modernen Predigt schafft keine neue Predigtpraxis, sondern sie artikuliert und profiliert vorhandene homiletische Impulse. Sie steht der Predigtpraxis nicht ablehnend gegenüber, sondern sie bringt sie zu einem homiletischen und damit wissenschaftlichen Selbstbewußtsein 1 6 4 . Sie ermöglicht damit eine kritische Weiterentwicklung einer Predigtpraxis, die den Bedingungen der modernen Zeit gerecht zu werden vermag. So zufällig und beliebig Auswahl und Anordnung der einzelnen Predigten in seiner kritischen Bilanz der homiletischen Praxis auch erscheinen mag, Niebergall findet hier das methodische Prinzip seiner ganzen homiletischen Theorie. In seiner Homiletik schreibt Niebergall, „das Charakteristische unseres Verfahrens" sei nicht der Inhalt, sondern die Methode. „ U n d das ist die induktive Methode, die von verständlichen und unverständlichen, von interessanten und langweiligen, von wirksamen und wirkungslosen Predigten ausgeht, sich um allgemeine Beobachtungen und Regeln m ü h t " und damit von empirischen Erkenntnissen zu normativen Prinzipien gelangt 1 6 5 . Niebergall ist sich bewußt, damit ein unübliches Verfahren in die theologische Homiletik einzuführen. „Wir Theologen sind als temperamentvolle Leute sehr geneigt, aus A f f e k t e n heraus zu sprechen, deren grammatische Ausdrucksform der bestimmte Artikel ist. Aus unsren Wünschen formen wir im Handumdrehen Wirklichkeit, und dann ist alles wunderschön; aus unsrer Enttäuschung oder Entrüstung heraus sehen wir in die Welt hinein, und dann ist alles düster und hoffnungslos." Niebergall verfährt anders. „Wir gehen von dem, was da berichtet wird, aus und sagen: S o etwas gibt e s . " 1 6 6 Das deskriptive homiletische Verfahren trennt die Homiletik zwar vom Hauptstrang ihrer bisherigen Tradition. Aber es verbindet sie mit anderen ähnlich strukturierten Wissenschaften ihrer Zeit. Dies macht das eigentlich moderne Element in Niebergalls Predigtlehre aus. „ E s ist ein gegenwärtig auch auf andern Gebieten, ζ. B. der Nationalökonomie, der Staatswissenschaft und ähnlichen praktischen Disziplinen vielverhandeltes Problem, wie sich aus dem tatsächlichen Verlaufe praktischer Bestrebungen eine Vorstellung von dem Ideal gewinnen läßt. Ohne auf die schwierige Frage hier einzugehen, wollen wir folgendes als die Voraussetzung unsrer weiteren Arbeit aufstellen: 1. Die theoretischen Vorstellungen vom Ideal lassen sich nicht aus irgendwelchen allgemeinen Prinzipien, auch nicht aus der Geschichte der Disziplin, also hier der Homiletik, gewinnen, sondern sie erwachsen aus einer sorgsamen Beobachtung und Verarbeitung der 164 Niebergalls positive Einstellung gegenüber der vorhandenen Predigtpraxis wird vor allem im Vergleich mit gegenläufigen Tendenzen in der gegenwärtigen Homiletik deutlich. Vgl. etwa Päschkes Beurteilung des Verkündigungsprozesses: Praktische Theologie als kritische Handlungswissenschaft, Thpr 6, 1971, 1 — 13; 5.— Diese Einstellung scheint gegenwärtig weiter zu reichen als die literarischen Äußerungen vermuten lassen. 165 wie predigen wir dem modernen Menschen? Bd. 2, S. 5. 166 Die moderne Predigt, 1929, S. 153f.
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Praxis. Die praktischen Predigten haben nicht im allgemeinen die Aufgabe, Verwirklichungen der in der Studierstube aufgestellten, geschichtlich und prinzipiell begründeten Theorie zu sein, sondern die Theorie hat durch eine möglichst intensive Divination festzustellen, welchen Zug die Praxis zu nehmen im Begriffe ist, um daran ihre Theorie zu orientieren, die sie dann natürlich mit ihren geschichtlichen, prinzipiellen, besonders psychologischen und empiristischen Mitteln, des weiteren zu begründen und auszuführen hat. Aber die Praxis der führenden Geister bleibt, weil sie in unmittelbarer Verbindung mit der Wirklichkeit steht, unbedingt Ausgangsund Quellpunkt jeder Theorie. 2. Die führenden Geister und die gute Praxis herauszufinden und den Zug der Zeit aufzuspüren, ist natürlich eine ganz und gar subjektive Aufgabe. Aber die eingehende Berücksichtigung der objektiven Momente schützt den Theoretiker vor einseitiger subjektiver Liebhaberei, was besonders klar und offensichtlich ist, wenn sein persönlicher Geschmack ganz oder zum Teil von dem abweicht, was ihm sein sachlicher Sinn als Zug der Zeit aufgezeigt hat." 1 6 7 Die Tendenzen und Impulse, die Niebergall als das „Neue in der ganzen Ausführung der Predigt, zumal in den Interessen, die den Prediger leiten" 1 6 8 , beobachten kann, bestehen vor allem in der Vielfalt der Predigtpraxis, in der Lebendigkeit der Gegenwartspredigt. Vergleicht man die moderne mit der vormodernen und auch mit der liberalen Predigt, dann erweist sich die neue Predigt als eine spezielle und vor allem als eine praktische Predigtweise. Der Unterschied zur traditionellen Predigtform besteht zunächst darin, „daß jene Predigten alle mehr in der ,Schrift', in den religiösen und theologischen Erörterungen stehen bleiben, während diese alle mit einander mehr auf das Leben zugehen". Während in den älteren Predigten die „praktische Anwendung auf die Menschen, die Welt, die Sünde, das Leid und die Versuchung über eine gewisse schematische Gestalt" nicht hinauskam, während hier die Anwendung formelhaft blieb und überhaupt nur aufgenommen wurde, weil sie „zur Oekonomie der Predigt" gehörte, „während die älteren die Spezialisierung und konkrete Auslegung im Einzelnen ihren Hörem überlassen, bemühen sich die neueren, möglichst der Zuhörerschaft auf den Leib zu rücken, um ganz eindringend einzuschärfen: tua res agitur; ich kenne dich und deine Not, erkenne auch mich und meine Hilfe." Die Predigt erhält damit „einen andern Charakter; statt der herkömmlichen Behandlung einer Stelle aus Gottes Wort, die nicht selten den Eindruck einer auf festen technischen Regeln beruhenden schriftgelehrten Leistung macht, welche eben um ihrer selbst willen vollzogen werden muß, bekommt die Predigt eine größere Stoßkraft: sie wird tatkräftiger, aggressiver, wirft die alte g e währte' Methode über den Haufen; sie will nicht Schrift auslegen, son167 Die moderne Predigt, ZThK 1905, aaO., S. 237f. "¡8 AaO., S. 239.
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dern sie will Leben gestalten. Eben d ä m m will sie, um interessanter zu werden, die Menschen an ihren wirklichen Interessen packen, sie versucht, in die wirkliche äußere und innere Lage der Leute hineinzureden. So verlegt sich der Schwerpunkt von der Schrift auf das Leben. Das Neue liegt darum nicht in einer andern Auffassung des Evangeliums oder der Schrift, sondern in der Erfassung des modernen Menschen. Mit einem Worte, der Realismus, der psychologische und der soziale Realismus bilden das charakteristische Kennzeichen der modernen Predigt; oder genauer gesagt: hier ist die neu sich emporringende Kraft zu sehen, in der der Zug der Entwicklung sich gegenwärtig offenbart" 1 6 9 . Die theoretische Reflexion über die neuen Impulse in der Predigtarbeit kann sich freilich nicht mit der reinen Deskription begnügen. Um das Alte vom Neuen, das Moderne vom Unmodernen abheben zu können, muß sie auch werten und beurteilen. Niebergall stimmt den neuen, den modernen Tendenzen in der gegenwärtigen Predigtpraxis zu. Aber er kritisiert zugleich auch eine einseitige Entwicklung der Predigt, die den komplexen homiletischen Bedingungen wieder nicht gerecht wird. ,,Es liegt unabänderlich in unserer Geistesrichtung begründet, daß von den drei Gliedern, aus deren Synthese nach Schleiermacher die Predigt bestehen soll, gegenwärtig der Nachdruck von dem Texte auf die Persönlichkeit des Predigers und besonders auf den Zustand der Gemeinde fällt. Nur vor einigen Gefahren muß man sich doch dabei hüten. Einmal darf keine Schablone aus dieser Art gemacht, es muß Raum für jede andere Art gelassen werden. Wenn der Realismus zur Vergewaltigung führt, ist er genau so unrealistisch wie jede andre wirklichkeitsferne Schablone auch. Die Theorie der Predigt, also die Homiletik, sollte sich begnügen, im allgemeinen zu entwickeln, was die Predigt soll; aber dann möge sie aus ihrer eigenen Geschichte eine Fülle von Wegen aufzeigen und den Blick dafür schärfen, welcher Weg in jeder Gemeinde, ja in jedem einzelnen Fall zu begehen ist. Was uns am meisten die Predigtwirksamkeit verdirbt, das ist die Schablonenhaftigkeit, von der die Theorie ernste, aber die Praxis oft sehr komische Proben gibt. Hat dann auch die Stunde für die Alleinherrschaft der analytisch-synthetischen Predigtweise geschlagen, so wird sie unter den möglichen Wegen immer noch eine wichtige Rolle spielen dürfen. Denn, und das ist das zweite, wir dürfen doch den Text nicht ebenso vernachlässigen, wie die frühere Periode das Leben vernachlässigt hat. Ist auch der Gesichtspunkt der Schriftauslegung ganz und gar hinter dem der Einwirkung zurückgetreten, so ist die Einwirkung gerade o f t dann am schlagendsten, wenn sie sich auf ein passendes, in einen analogen Fall hineingesagtes Wort stützt." 1 7 0 Mit der Beschreibung und Bewertung der Predigtpraxis hat Niebergall die Prinzipien seiner modernen Predigttheorie gefunden. Die Synthese von 169 AaO., S. 239f. 108
i*> AaO., S. 240f.
Evangelium, Prediger und Hörer kann nur auf dem Grund einer einheitlichen Tendenz in allen drei Größen gefunden werden. Ist der Prediger ein moderner Mensch, so versteht er auch das Evangelium modern, dann ist ihm auch der Hörer nicht fremd. Alle drei Pole, zwischen denen sich die Predigt bewegt, sind durch die Moderne bestimmt. Trotz dieser allgemeinen Charakterisierung der Predigtmomente bedarf es aber noch einer genaueren Funktionsbestimmung von Evangelium, Prediger und Hörer im Zusammenhang der modernen Predigt. Niebergall faßt die Beziehung von Evangelium und Hörer in die Formel: „Das moderne Evangelium bietet die Norm, das moderne Bewußtsein die Form, ja nicht umgekehrt." 171 Niebergall sieht die Gefahr einer „Verkürzung unsrer Botschaft" 172 durchaus, und er warnt aufs entschiedenste davor. „Alle Rücksicht auf die modernen Leute darf nie mein Verständnis des Evangeliums bestimmen, so wenig wie die Rücksicht auf die Gemeindeorthodoxie. Darüber bestimmt allein mein Glaube, mein Wissen und mein Gewissen. Auf das allerentschiedenste ist zumal der Anfänger davor zu warnen, daß er die geringsten Umwandlungen am Evangelium vornehme, um es ,dem' modernen Menschen schmackhaft zu machen. Nur unser Verständnis, nie der Wunsch und Geschmack der Leute, bestimme den Inhalt!" 173 Und: „Bewußt keine Unterschlagung, keine Abschwächung irgend einer Seite des Evangeliums, nämlich der frohen Botschaft von dem Vater und Herrn im Himmel und dem ewigen Reich und Leben, das uns armen, sündigen und schuldbefleckten Menschen Heil und Heimat geben soll. Darin nur ganz steifnackig bleiben! Wem diese Dinge nicht behagen, den locken wir auch nicht durch Abzüge herein . . . Nur nicht dem modernen Menschen nachschmachten und ihn mit Opfern an Wahrheit oder an Wahrhaftigkeit herein nötigen, während die eigenen Leute oft recht stiefmütterlich behandelt werden." Die „Hauptarbeit" auch der modernen Predigt bleibt immer die „Verkündigung des Evangeliums" 174 . Die Gefahr der Verkürzung des Evangeliums ist noch nach einer anderen Seite hin akut. Nicht nur die moderne Zeit, sondern auch die theologischen Systeme können das Evangelium verfälschen. Niebergall besteht deshalb leidenschaftlich auf der „Unterscheidung von Theologie und Religion". Man darf nicht „eine bestimmte Theologie mit der Religion vereinerleien, um die Gaben und Kräfte der Religion bloß um den Preis abzugeben, daß man ihrer Erklärung, wie sie zustandegekommen und aufzufassen sind, zustimmt." „Theologie und Dogma, auch sehr vieles 171 AaO., S. 270. ra AaO., S. 242. 173 AaO., S. 241f. 174 AaO., S. 242. 109
in der Schrift, ist Ausdruck, nicht Gegenstand des Glaubens." 175 Deshalb darf beim Predigen die Theologie nicht an die Stelle des Glaubens treten. „Darum habe jeder seine Theologie, als hätte er sie nicht. Darum haben wir heute auf der Kanzel uns vor einem doppelten zu hüten: Wir dürfen zuerst bewußt nichts von unsrer Theologie auf die Kanzel bringen, sondern müssen immer mehr daran arbeiten, unsere theologische Sprache in die homiletische, nämlich in die religiöse zurückzuübersetzen. Dazu hilft ein unermüdliches Studium der Schrift und der Geschichte, das uns gleiche oder ähnliche Religion in ganz verschiedenen Ausdrucksweisen erkennen lehrt und dadurch frei macht von schematischer Ausdrucksweise. Auch hier hilft die unermüdliche Arbeit des Ubersetzens zu einer immer freieren Verfügung über den Inhalt. Man trägt ja natürlich immer seine Theologie an sich, aber sie wird ein immer durchsichtigeres und entbehrlicheres Gewand für den Inhalt, die Gefühle und Strebungen, Überzeugungen und Gewißheiten des religiösen Lebens. Dann wird man sich auch vor der Polemik gegen fremde Theologie hüten. Nach dem Sturm der ersten Amtsjahre, wo man ohne Eifern gegen fremde Überzeugungen und Ansichten die eigenen nicht meint mit Liebe und Begeisterung betätigen zu können, lernt man immer mehr, Frieden und Kraft mit einfachen Worten vom Vater, dem Herrn und dem Reich zu pflanzen und zu pflegen. Man vergöttert immer weniger die Mittel und verabsolutiert immer weniger die Voraussetzungen, sondern überläßt es dem Nachdenken der Einzelnen, sich die Ermöglichung und Fassung jener Gaben in ihrer Weise zurechtzulegen." 176 Das Interesse am Evangelium und die Sorge um den Menschen sind in der ,modernen' Predigt nicht voneinander zu trennen. Wenn „die modern gerichtete Theologie am liebsten dem modernen Menschen in seine Interessen hineinpredigt, so ist das klar zu begründen; denn sie hat Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein, und vor allem, sie sieht in ihm nicht einen böswilligen Abtrünnigen, sondern liebt ihn als die heutige Ausgabe des Gottesgedankens .Mensch'. Der Wetteifer, ihn zu gewinnen, begeistre die verschieden redenden Brüder im Glauben: Er ist es wert, denn auch er ist nach und zu Gottes Bild geschaffen" 177 . 3. Moderne
Predigtideale
Martin Schian und Alfred Uckeley ergänzen Niebergalls deskriptive homiletische Methodik durch eine Kategorienreihe, die sie „neuzeitliche" bzw. „moderne Predigtideale" nennen 178 . Schian geht wie Niebergall davon aus, "5 AaO., S. 244. "β AaO., S. 244f. AaO., S. 271. ι·» M. Schian, Neuzeitliche Predigtideale, MPTh 1, 1905, 8 8 - 1 0 9 . A. Uckeley, Moderne Predigtideale, 1910.
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daß es nicht Aufgabe der Homiletik sein kann, „Zwangsjacken für die Predigt zu schaffen" 1 7 9 . „Der Predigt darf nichts Menschliches fremd sein. Sie ist Predigt des Evangeliums; aber sie muß das Evangelium mit dem Leben der Gemeinde in die engste Fühlung bringen. Das Leben ist mannigfaltig; die Predigt muß es auch sein. So werden wir ihr von vornherein einen gewichtigen Vorteil sichern: Mannigfaltigkeit, Konkretheit, Lebendigkeit, Frische." 1 8 0 Schian sieht deshalb das Wesensmerkmal der modernen Predigt in ihrer Situationsbezogenheit. Die Predigt „soll einer bestimmten Gemeinde im bestimmten Augenblick das Evangelium predigen. Das heißt: sie soll das Evangelium auf eine ganz bestimmte Situation wirksam einwenden. Es gibt keine Musterpredigt schlechthin, so wenig es eine Musterreichstagsrede schlechthin gibt. Es gibt nur eine Predigt im gegebenen Moment, zu den gegebenen Hörern, unter den gegebenen Umständen, zum gegebenen Zweck, aus dem Mund des gegebenen Predigers. Darum muß die Predigt unendlich viele Nuancen haben" 1 8 1 . Schian wendet sich daher auch gegen die Einengung des Evangeliums durch bestimmte theologische Systeme. Schon die Frage: „Kann denn der moderne Theologe mit gutem Gewissen und gutem Erfolg Prediger sein?" 1 8 2 weist auf eine Verwechslung von Glaube und Theologie hin. Man kann auf diesen Einwand hin nur „so stark als möglich betonen: gerade auch der moderne Theologe eignet sich zum Prediger" 1 8 3 . Denn gerade die kritische Theologie ist sich der Relativität ihrer eigenen theologischen Aussagen bewußt. „Wir forderten: der Prediger predige Religion, nicht Theologie; auch der freigerichtete Theologe halte das scharf im Auge. Es ist geradezu wunderbar, wie dann seine Predigten für alle Gemeindemitglieder positiv wirken können, — außer etwa für theologisch ganz verbildete, die den Pulsschlag der Religion nicht mehr fühlen, weil sie mit allen Sinnen auf Formeln lauschen. Aber diese Leute verdienen keine Rücksicht mehr. Wer in dem Gottesdienst nur noch auf Schlagworte merkt, wer den Wert der Predigt darnach bemißt, wie oft der Name Christus erwähnt sei, wer Sonntag für Sonntag nichts Besseres weiß, als im Gedächtnis zu notieren, ob auch die Formel ,Gottessohn' gebraucht ist, der ist nicht bloß für den modernen Prediger verloren, nein, für jeden Prediger, der seine Aufgabe richtig anfaßt. Für diese Formeljäger müßten besondere Bekehrungspredigten gehalten werden." 1 8 4 Schians Predigtkategorien, seine Predigtideale trennen nun nicht wie Niebergalls Predigttypen verschiedene Grundeinstellungen der Prediger von1"» 180 lei 182 183 im
Schian, Die Predigt, S. 23. Schian, aaO., S. 29. AaO., S. 30. AaO., S. 44. Ebd. AaO., S. 45.
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einander, sondern sie typisieren Predigtformen innerhalb der modernen Predigt selbst. Die moderne Predigt ist in der Konkurrenzsituation der Neuzeit notwendig apologetische Predigt, auch wenn sie sich immer an den Hörer wendet und „kein Wort in der Predigt gesprochen werden (darf W. S.), welches sich an Gegner wendet, die nicht in der Kirche sind" 1 8 5 . Die moderne Predigt ist ebenso wegen ihrer Zeitbezogenheit immer soziale Predigt. Der moderne Prediger muß „die soziale Gesinnung pflegen". Er muß „heutzutage ganz besonders auch das geltend machen, was vom Evangelium aus zur sozialen Sache zu sagen ist. Er darf nicht abstrakt individualistisch verfahren, er darf die sozialen Sünden nicht ungerügt lassen, er muß das Evangelium als die Macht verkünden, welche zwar nicht die sozialen Fragen lösen, aber zur Lösung der sozialen Frage das rechte Herz geben kann" 1 8 6 . Zu den neuzeitlichen Predigtformen gehören schließlich auch die erweckliche Predigt 187 , die Katechismuspredigt 1 8 8 und die geschichtliche Predigt 189 . Alle diese Predigtformen sind aber nur Modifikationen eines homiletischen Grundtyps, Anwendungen des Prinzips der modernen Predigt. „Die Predigt soll nicht auf dem Isolierschemel sein. Sie soll nicht tun, als hörte die Welt bei den Mauern der Kirche auf. Sie soll nicht bloß ein religiöses Sondergebiet des menschlichen Herzens treffen, das durch hohe Wälle sorglich von allem übrigen Erleben, Wollen und Fühlen abgegrenzt ist und das nur beim Gottesdienst oder bei der Abendmahlsfeier einmal über die herabgelassene Zugbrücke neue Seelenspeise einführen läßt; sie soll vielmehr den ganzen Menschen mit allem seinem Denken und Wollen, Handeln und Nichthandeln aufs Korn nehmen. Dieser Mensch ist aber nicht zeitlos. Und darum darf die Predigt auch nicht zeitlos sein. Sie muß die Zeit mit Ewigkeitsgehalt zu durchdringen trachten." 1 9 0 Ähnlich bestimmt auch Alfred Uckeley die Aufgabe der Predigt. Sie soll nicht zeitlos, sondern modern sein. Und sie soll nicht Theologie, sondern Evangelium vermitteln. „Wir müssen uns immer wieder klar machen, daß es dort nicht darauf ankommt, kleine Theologen heranzuziehen, die dann mit dialektischer Schärfe und verblüffender Gewandtheit über diesen und jenen dogmatischen Begriff Rechenschaft geben können. Sondern das ist die Aufgabe der Predigt, die Seele mit Gott und Gott mit der Seele in Verbindung zu bringen, damit der Mensch über dem gepredigten Wort ein Angerührtwerden, Gegriffenwerden, Gepacktwerden von dem lebendigen Gott erlebe, das auf seine sittlich-religiöse Lebensgestaltung ergreifend, 185
Schian, Neuzeitliche Predigtideale, aaO., S. 89. 186 Schian, aaO., S. 91. 187 AaO., S. 9 I f f . — Vgl. auch M. Schian, Die moderne deutsche Erweckungspredigt, ZThK 17, 1907, S. 2 3 5 - 2 6 9 . 188 Schian, Neuzeitliche Predigtideale, aaO., S. 93ff. i*> AaO., S. 95. ι«» AaO., S. 101.
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umändernd wirke oder pflegend, aufrichtend, in gerader B a h n ihn halt e n d — erweckend u n d b e k e h r e n d , oder erziehend und stärkend." 1 9 1 U c k e l e y s B u c h „ M o d e r n e Predigtideale. Beiträge zur T h e o r i e der zeitg e m ä ß e n Predigtweise nach Inhalt u n d F o r m " soll „eine Orientierung sein über das, was die H o m i l e t i k der Gegenwart d e m Prediger zu berücksichtigen rät, w e n n seine sonntäglichen Darbietungen .modern' sein sollen" 1 9 2 . Wie Niebergall, so untersucht auch U c k e l e y die „Bestrebungen, die hier u n d dort in homiletischer T h e o r i e u n d Praxis a u f t a u c h e n " , u n d versucht, „ d i e Züge, auf die einzelne H o m i l e t e n der Gegenwart hinweisen, z u s a m m e n z u f ü g e n z u einem einheitlichen Bilde v o n einer Predigt, w i e sie die Gegenwart braucht" 1 9 3 . Zu d e n T y p e n , die die verschiedenen S t r ö m u n g e n in der zeitgenössischen Predigtpraxis b e z e i c h n e n , gehört die Erweckungspredigt 1 9 4 , die soziale b z w . u n m i t t e l b a r praktische Predigt 1 9 5 , die a p o l o g e t i s c h e Predigt 1 9 6 , die lehrhafte Predigt 1 9 7 u n d schließlich die „ethische Predigtweise", die „ m i t
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A. Uckeley, Recht und Unrecht des modernen Elementes in der Predigt, NKZ 24, 1913, S. 2 2 2 - 2 4 0 ; 227. 192 A. Uckeley, Moderne Predigtideale; Vorwort. — Ähnlich bestimmt Niebergall die Aufgabe einer vorwiegend deskriptiv arbeitenden Homiletik: „Immer weniger, je mehr sie realistisch und ganz praktisch wird, kann die Homiletik wie die ganze Praktische Theologie Gesetze geben; sie zeigt nur Möglichkeiten und Regelmäßigkeiten, um es dem Takt und dem Geschick jedes einzelnen zu überlassen, wie weit er sie in seinen Verhältnissen anwendet" (F. Niebergall, Zur homiletischen Diätetik, EvFr 9, 1909, 3 8 9 - 3 9 3 , 4 2 0 - 4 3 2 , 4 6 1 - 4 6 6 ; 465). Die .moderne Predigt' folgt mit dieser Funktionsbestimmung der Praktischen Theologie dem Theorieverständnis von Schleiermacher, der die „Vorschriften der praktischen Theologie" als „allgemeine Ausdrücke" versteht, „in denen die Art und Weise ihrer Anwendung auf einzelne Fälle nicht schon mit bestimmt ist." Praktisch-theologische Sätze sind für Schleiermacher „Kunstregeln im engeren Sinne des Wortes" (Kurze Darstellung des theologischen Studiums, ed. Scholz, 2. Aufl. § 265; S. 102). i " Uckeley, aaO., S. 77. iw AaO., S. 5ff. - Nach Uckeley (vgl. auch Niebergall, Wie predigen wir, Bd. II; 2f.) geht die Erweckungspredigt davon aus, daß sich die Predigt in der modernen Gesellschaft im Gegensatz zu Schleiermachers homiletischen Voraussetzungen nicht mehr auf die Pflege der Religiosität beschränken kann, sondern daß sie missionarisch wirken muß. Die moderne Situation erfordert eine Predigtweise, „die den Glauben nicht voraussetzt, sondern ihn erst zu wecken sucht" (Uckeley, aaO., S. 5). 195 Uckeley, aaO, S. 7ff. — Das Ziel dieser sozial pointierten Predigtweise ist es, „den Hörern für ihre tägliche Lebensführung Verwertbares darzureichen und Sätze ihnen zu Bewußtsein zu bringen, die auf die sauerteigartige Durchdringung des gesamten Volkslebens mit den christlichen Grundanschauungen abzielen." (aaO., S. 7). 196 Uckeley, aaO., S. 9ff. — Uckeley schreibt: „Gewiß hat auch die Predigt der Gegenwart die schwere Aufgabe, den Glauben vor dem Intellekt zu rechtfertigen. Eine Glaubensverkündigung, die sich ihrer Gründe nicht klar bewußt ist, resp. sie nicht den Hörern klar vor Augen zu stellen imstande ist, steht auf schwachen Füßen" (aaO., S. 9f.). if" AaO., S. 11 f. 113
Vorliebe in den Reihen der liberalen Theologen gepflegt wird" 198 . Alle diese Momente in der gegenwärtigen Predigtpraxis sind keine sich ausschließenden Predigtweisen, sondern homiletische Grundformen, die sich in jeder Predigt individuell miteinander verbinden. Uckeley wendet sich deshalb dagegen, „daß man irgendeine dieser Momente zum Allbeherrschenden der Predigtweise machen will", und hält es für richtiger, statt von verschiedenen Predigttypen „von dem erwecklichen, dem sozialen, dem apologetischen, dem lehrhaften, dem ethischen Momente zu reden, das eine jede Predigt, diese dieses mehr, jene jenes, an sich tragen muß" 199 . Neben diesen Grundformen des modernen Predigens, die sich den homiletischen Zielvorstellungen entsprechend voneinander trennen lassen, gibt Uckeley noch eine Reihe von Predigtidealen an, die sich aus der Forderung der Gemeindemäßigkeit der modernen Predigt ergeben. So haben sich in der modernen, der „differenzierten Predigtweise" 200 sozial bedingte Predigtformen herausgebildet, die sich als Groß- und Mittelstadtpredigt, als Kleinstadt- und Dorfpredigt und schließlich als Industriegemeindepredigt bezeichnen lassen 201 . Uckeley bedient sich zur Unterscheidung dieser Predigttypen zweier Wissenschaften, die auch für Niebergalls Homiletik 202 konstitutiv sind, der religiösen Volkskunde 203 und der Psychologie 204 . 198 AaO., S. 12ff. — Die ethische Predigt geht davon aus, „daß die Predigt sich ganz gewiß nicht den Geschehnissen und Verhältnissen des staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens gegenüber in übertriebener Geistlichkeit Grenzzäune setzen lassen soll, sondern daß sie, recht verstanden, sagen darf: nihil humani alienum me puto. Eine übertriebene Geistlichkeit, die die brennenden Fragen des Volkslebens nicht in die christliche Beurteilung von der Kanzel her bringen will, eignet sich wahrlich schlecht für einen Prediger unserer Volkskirche" (aaO., S. 13; Vgl. zur sozialen Predigt auch Baumgarten, Predigt-Probleme und Niebergall, Evangelischer Sozialismus), ι»« Uckeley, aaO., S. 14. 200 A a O . , S. 27. 201 Ebd. — Wie weit die situationsbedingte Spezialisierung der Predigt reicht, zeigt der Aufsatz von A. Uckeley, Wie soll der Pfarrer eines Kurortes predigen? MPTh 4, 1908, S. 2 9 8 - 3 0 6 . Der Haupttyp einer gemeinde-, situations- und frömmigkeitsbezogenen Predigtweise ist die Dorfpredigt. Ihr widmen sich zahlreiche Predigttheoretiker. Karl Hesselbacher stellt in seinem programmatischen Aufsatz „Neue Bahnen für die Dorfpredigt" MkiPr 4, 1904, 20—33 die Prinzipien der Dorfpredigt dar. Die Theorie und Praxis der Dorfpredigt wird in jeweils etwas verschiedener Akzentuierung bei A. Uckeley, Die moderne Dorfpredigt, 2. Aufl. 1914, und bei J . Boehmer, Dorfpfarrer und Dorfpredigt, 1909, beschrieben. Vgl. auch A. Eckert, Probleme und Aufgaben des ländlichen Pfarramtes, 1910, und zur dörflichen Frömmigkeit und Kultur die Zeitschrift „Die Dorfkirche", 1907ff. 202 Vgl. dazu Niebergalls Hörer-Analyse im zweiten Teil des ersten Bandes der Homiletik, wo er zunächst psychologisch und dann soziologisch den modernen Menschen untersucht (Wie predigen wir Bd. 1; 71ff. und 91ff.). 203 Uckeley, Predigtideale, 30ff. — Zur religiösen Volkskunde vgl. P. Drews, .Religiöse Volkskunde', eine Aufgabe der Praktischen Theologie, MkiPr 1, 1901, 1—8; ders., Das Problem der Praktischen Theologie, 1910. 204 Uckeley, aaO., 37ff. — Hier behandelt Uckeley die Beziehung von Predigt und Hö-
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In der Predigtpraxis verbinden sich vielfältige Predigtformen zum Ideal einer differenzierten Predigt. Daß das Predigen durch die Komplexität der modernen Zielvorstellungen und Redeweisen nicht leichter, sondern schwerer geworden ist, betont Uckeley. „Die Aufgabe dessen, dem diese Ideale es nun angetan haben, um ihm vorschwebend, ihn bei seiner weiteren Berufstätigkeit zu leiten, hat sich dadurch, wie wir offen zugeben wollen, beträchtlich erschwert." Deshalb wird „das Predigtamt in dem Maße, wie es wirksamer und erfolgreicher werden will, auch arbeitsreicher und mühevoller werden" 205 . Die .moderne' Predigttheorie will das Predigen nicht leichter, sondern besser machen. Und sie versucht damit, die homiletische Resignation zu überwinden, die auch Martin Schian nicht verbirgt. „Man kann heut sehr pessimistische Urteile über die Predigt hören: über ihre Wirkungslosigkeit, ihre mangelnde Volkstümlichkeit und Zugkraft. Manche mögen übertrieben sein; andere sind berechtigt. Jedenfalls müssen sie uns treiben, nachzusinnen, wie die evangelische Predigt wieder eine Großmacht im Leben unseres Volkes werden könnte. Nicht verzagen wollen wir an ihrer eingeborenen Kraft; denn das ist die Kraft des Evangeliums. Sondern arbeiten wollen wir, daß diese Kraft sich für unsere Zeit wirksam entfalte. Das wird, so glaube ich, geschehen, wenn wir mit Ernst und Eifer die Aufgabe in der geschilderten Richtung angreifen. Sie ist schwierig; denn es handelt sich um ein Ideal. Aber sie ist herrlich; denn, was uns vorschwebt, ist wirklich ein Ideal." 206
V. Das Programm der sozialen Predigt Die Vielfalt moderner Predigtideale und die Komplexität der modernen Predigtweise bezeichnen nicht das Ende der kirchlichen Predigt in der modernen Gesellschaft, sondern sie markieren den Beginn einer homiletischen Epoche, die von einem neuen Geist getragen ist. Denn so vielschichtig sich die moderne Predigtpraxis darstellt, sie variiert in ihrem Formenreichtum doch immer wieder dieselbe Tendenz: das Ideal einer zeitgerechten, einer situationsgerechten und daher einer wirksamen Predigt. Nicht theoretische Axiome, sondern praktische Anforderungen führen zu dem Ideal der differenzierten Predigt. Die .moderne' Predigt formuliert ihr Programm der funktionsgerechten Predigt durchaus mit historischem Pathos. Ihre Prinzipien sollen die Prerer nach psychologischen Gesichtspunkten. Ähnlich F. Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen? Bd. 1; S. 7 I f f . 205 Uckeley, aaO., 79f. 206 M. Schian, Neuzeitliche Predigtideale, aaO., S. 109.
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digt der Z u k u n f t leiten. Und sie sind ebenso selbst historisch begründet und legitimiert. So verfolgt etwa Paul Drews in seiner Abhandlung über „Die Predigt im 19. Jahrhundert" 2 0 7 die Entwicklung der evangelischen Predigt unter dem Gesichtspunkt des Predigtstoffs. Er setzt mit einer Charakterisierung der homiletischen Praxis der Aufklärung ein und wehrt sich dagegen, die ganze rationalistische Predigtweise nur nach den Themen von dem Nutzen der Stallfütterung und dem Nutzen des Frühaufstehens zu charakterisieren. Beispiele für völlige Verirrungen lassen sich aus jeder Zeit beibringen". Was die Aufklärungspredigt positiv kennzeichnet, ist „das Kasuelle, das Spezielle" 208 des Predigtgegenstandes. „Die Predigt-Gegenstände sind durchgängig bis auf verschwindende Ausnahmen nicht zentral und nicht allgemein, sondern speziell, d. h. sie beziehen sich auf einzelne, ganz bestimmte Situationen, Aufgaben, Probleme, Wahrheiten, Fragen des religiösen oder — und dies besonders o f t — des sittlichen Lebens . . . Nichts Menschliches ist dieser Predigtweise fremd. Alle Verhältnisse des Lebens werden behandelt. Freilich ist der religiöse Gehalt oft äußerst dünn und mager, aber die Predigt hält Fühlung mit dem konkreten Leben." 2 0 9 Nach Schleiermacher setzt eine homiletische Strömung ein, die nach der Mitte des Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Immer mehr werden allgemeine Predigtthemen zur homiletischen „Mode" der Zeit. „Immer fester klammert sich die Predigt auch mit ihrem Gegenstand an den Text an. Nicht einzelne Probleme und Fragen des christlichen Lebens, wie sie sich aus der Reibung mit dem Leben in der Welt ergeben, nicht Gegenstände, die außerhalb der biblischen Terminologie liegen, sondern die dogmatischen, biblischen Zentralgedanken schieben sich in die Themata hinein und behaupten hier fast die alleinige Herrschaft." 2 1 0 Drews erklärt diesen Wandel in der homiletischen Praxis aus theoretischen Motiven. An der Tendenz zu allgemeinen Predigtthemen hat vor allem „die repristinierte Anschauung von der Schriftinspiration mitgewirkt: die Schrift ist an sich Wort Gottes; also ist auch jeder Text Wort Gottes. Wort Gottes, nicht Menschenwort und Menschenweisheit soll ich predigen, folglich muß ich textgemäß, durchaus streng textgemäß predigen." Predigtarbeit ist dann Textarbeit. „Hatte man nach seiner Meinung einen textgemäßen Gegenstand gewonnen, so war das Gewissen ruhig: das Wort Gottes gilt für alle, paßt für alle. Die Rücksicht auf die Lage der Gemeinde, auf die seelischen Zustände des Einzelnen tritt zurück." 2 1 1 207 208 209 210 2Π
p. Drews, Die Predigt im 19. Jahrhundert, 1903. Drews, aaO., S. 9f. AaO., S. 13f. AaO., S. 30f. AaO., S. 39.
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Die enge Beziehung der Predigt auf ihren Text fand ihre Entsprechung in dem ,,bewußte(n) Gegensatz zum Rationalismus. Hatte dieser speziell, kasuell gepredigt, so predigte man jetzt absichtlich allgemein: nichts fürchtete man mehr, als in den Geruch des Rationalismus zu kommen. Bestimmte Gegenstände standen aber in dem Geruch, rationalistisch zu sein. So sagte man sich auch gänzlich von der Predigtweise des Rationalismus los, ohne zu fragen, ob sie doch nicht auch ihr Richtiges gehabt habe" 2 1 2 . Mit dieser Entwicklung der Predigtpraxis zu einem relativ einheitlichen und allgemein gültigen Predigttyp verliert aber gerade die einzelne Predigt an Geschlossenheit und Überzeugungskraft. „Das feste, bestimmte Ziel fehlt leicht diesen so angelegten Predigten. Die Frage: Was will ich gerade mit dieser Predigt? kommt einem Prediger, der auf jene Methode geeicht ist, nur schwer, nur ab und zu. Er will nichts anderes, als den Text auslegen. Das will er immer." 2 1 3 Die Folgen einer derart stereotypen Predigtweise treffen aber nicht nur den Hörer, sondern sie fallen auch auf den Prediger selbst zurück. „Das Sichauspredigen des Predigers und infolgedessen die stete Wiederholung ein und derselben Gedankengänge" 2 1 4 , beides Merkmale der damaligen Situation der Predigt, sind unmittelbare Konsequenzen der allgemeinen Predigt. Die .moderne' Predigt bricht mit dieser homiletischen Tradition. Paul Drews sieht in seiner Zeit eine Wende in der Praxis der Predigt. „Daß diese Wendung eintritt, kann uns nicht wundernehmen. J e n e elementare Wahrheit, daß das Christentum Leben ist, hat unter uns heute eine neue Kraft gewonnen. War sie auch vor ein, zwei Menschenaltern nicht vergessen, so war sie doch in den Hintergrund gedrängt worden durch die starke Betonung des Objektiven, der Heilstatsachen, der Lehre. Wir sind psychologischer geworden. Wir fühlen's deutlicher, aber auch lastender, daß das Christentum ein stetes Werden, ein großer seelischer Prozeß ist . . . Wir wissen, daß das Evangelium, an sich so einfach und so schlicht, ins Leben umgesetzt, in tausend Strahlen sich bricht, daß es jedem Menschen, jedem Geschlecht etwas Besonderes zu sagen hat, immer neu erfaßt und errungen sein will. Die Predigt, als persönliche Bezeugung des Evangeliums, soll Helferdienste tun — sie wird es nur können, wenn sie neben dem Allgemeinen, Zentralen auch das Einzelne und Spezielle zu seinem Rechte kommen läßt. Wir haben lebendiger erkannt, daß jede Gemeinde ihre Individualität hat und daß jeder gerade in ihrer Weise das Evangelium muß verkündigt werden. Wir glauben nicht mehr daran, daß Predigt Predigt ist, ob in Stadt oder Dorf, ob heute, ob morgen 212 AaO., S. 40. 213 AaO., S. 41. 2M AaO., S. 43. 117
gehalten. Wir bunden habe, ein J u d e , den lokale Farbe,
glauben's nicht, daß uns Gott heute von der Pflicht entdie einst der größte Apostel so tief empfand, den J u d e n Griechen ein Grieche zu werden. So wird die Predigt eine ein zeitgeschichtliches Gewand gewinnen." 2 1 5
Ganz parallel beurteilt Niebergall die historischen Bedingungen der „homiletischen Bewegung", die „um die Jahrhundertwende begann". „Es liegt nahe, dabei an den Rationalismus zu denken. Weist uns schon die gemeinsame liberale theologische Haltung dahin, so werden sich uns auch mehrere Merkmale zeigen, die das Bild zu größerer Gemeinsamkeit ergänzen. Dazu gehört nicht bloß die Wendung zum praktischen Leben, sondern auch die damit verbundene realistische Haltung, die, wie wir sehen werden, sogar bis zu der Berücksichtigung der Psychologie und der Volkskunde geführt hat, die wir als einen besonderen Vorzug unsrer Zeit buchen möchten." 2 1 6 Niebergall bestätigt der Aufklärung denselben „Eifer um die Reform der Predigt", der die praktische Theologie seiner Zeit kennzeichnet. Beobachtet man schließlich, wie auch die anderen Grundelemente der .modernen' Predigt, etwa die Betonung des „Praktische(n) in der Religion" oder die Trennung von Religion und Theologie schon in der Aufklärung zu finden sind, dann wird der epochale Anspruch der ,modernen' Predigt von ihr selbst historisch relativiert. „Es sind nur wenige Gedanken, freilich aber auch entscheidende, die wir selbständig gefunden haben; die meisten sind uns mit dem Rationalismus gemeinsam." Die Einsicht in ihre historischen Bedingungen führt die moderne Predigtbewegung allerdings auch zu der „wehmütigen Erkenntnis . . . , daß sich die Vernachlässigung der Geschichte damit straft, daß wir wie träge Schulknaben unsre Arbeit noch einmal machen mußten" 2 1 7 . Zu dieser Arbeit gehört auch die intensive Beziehung der Predigt auf ihre Hörer. „Man traut nicht mehr allein auf die Macht des Wortes, das nicht leer zurückkommen könne. Beidemal steht man im Gegensatz zu einer Ansicht vom Wort, die seine göttliche Wirkungsmacht fast ins Sakramentale hinein steigert, mindestens im echten Glauben dem Wort und dem Heiligen Geiste zutraut, daß sie menschlicher Künste nicht bedürfen. Demgegenüber bedeutet gewiß die grundsätzliche Berücksichtigung der Seele der Hörer einen gewissen Abfall in die Wertschätzung eignen Tuns, und 215 AaO., S. 57f. 216 F. Niebergall, Die moderne Predigt 1929; S. 57. — Niebergall weist freilich trotz des engen Zusammenhangs der modernen Predigt mit dem Rationalismus ständig auf die auch gegenüber der Aufklärung eigentümliche Prägung der modernen Predigt hin und sieht die moderne Einstellung der Wirklichkeit gegenüber gerade als Synthese, in der Mittelalter und Aufklärung, Orthodoxie und Rationalismus aufgehoben sind (zB. aaO., S. 3ff.). 217 Niebergall, aaO., S. 58f.
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besonders in die einer Methodik, die fast so tut, als gäbe es keinen Heiligen Geist." Obwohl Niebergall diese Gefahr der modernen homiletischen Tendenzen erkennt, sieht er doch keine Möglichkeit zur Fortsetzung der vorwiegend dogmatisch beherrschten Predigtlehre der Tradition. „Wir können nicht mehr mit einem Bild von den Hörern der Predigt rechnen, wie es als Postulat der Dogmatik und als Verallgemeinerung einzelner typischer Züge vorher die Predigt beherrschte." Die moderne Predigt hat erkannt, „daß es zur Predigt der Kenntnis der wirklichen Gemeinde bedürfe. So mühen wir uns, nachdem uns lange genug der konstruierte Mensch der Dogmatik als Zielscheibe der Predigt gedient, Typen herauszustellen, die unter den verschiedensten Gesichtspunkten entworfen sind, um uns ein Bild unserer Leute zu verschaffen; denn, übersättigt mit Schablonen und Konstruktionen, hungern wir nach Wirklichkeit" 218 . So bestimmt die moderne Wirklichkeit nun die homiletische Praxis. Und darum sind die Themen der Predigt praktischer und damit wirklicher geworden. Eine Befragung von Predigthörem nach ihren Interessen bestätigt die praktischen Bedürfnisse der modernen Predigt. Es sind vor allem ethische Themen, die die Hörer in der Predigt behandelt haben möchten, wie etwa Eheprobleme, Ehescheidung, Empfängnisverhütung, sexuelle Erziehung, Familienleben, Todesstrafe, Wohnungsfrage, Technik, Klassenkampf, Körperpflege, Erniedrigung des Menschen durch sich selbst, Freitod, selbständige Meinungsbildung des einzelnen der Presse gegenüber, Spiritismus und Okkultismus, Optimismus und Pessimismus, Grenzen der Friedfertigkeit, Mitarbeit der Laien, Austrittsbewegung, Volkskirche, Sekten, Einigkeit unter den Christen, Allianzbestrebungen 219 . Die moderne Predigtbewegung faßt die Predigt bewußt als einen sozialen Akt auf. „Predigen ist helfen wollen". 220 Diese Hilfe kann aber nur in einer kontinuierlichen Arbeit mit dem Hörer geschehen. Deshalb handelt es sich bei der modernen, der sozialen Predigt „um Predigtarbeit, nicht um eine Summe von Predigten" 221 . Was Niebergall über seine eigenen Predigten sagt, gilt für die ganze moderne Predigt: „Alle Arbeit des Predigers steht im Dienst der Bewältigung des Lebens und der Gestaltung der Welt, besonders auch in sozialer Hinsicht." 222 Das soziale Verständnis der Predigtarbeit kommt besonders treffend in dem Ideal der „ethischen Predigt" zum Ausdruck, das Uckeley und Schian 216 AaO., S. 60f. 219 Ygi z u (j e r v o n w . Borning unter den Lesern der Zeitschrift „Christentum und Leben" veranstalteten Umfrage: F. Niebergall, Die moderne Predigt 1929; S. 78. 220 F. Niebergall, Die Predigt der Gegenwart, aaO., S. 743. 221 F. Niebergall, Predigttypen, aaO., S. 742. - Entsprechend behandelt Niebergall in der Praktischen Theologie zuerst die Voraussetzungen und die Aufgabe der Predigtarbeit im ganzen und erst dann den Stoff und die Form der einzelnen Predigt (Praktische Theologie, Bd. 1, 1919, 67ff.). 222 F. Niebergall, Predigttypen, aaO., S. 587.
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beschreiben. Ethische Predigten sind nicht ein Zugeständnis an den Zeitgeist, sondern „eine sachliche Notwendigkeit", denn „das Christentum ist eine sittliche Religion". Entsprechend stellt Schian vier Grundsätze ethischer Predigten aus christlichem Geist auf: „1. Die evangelische Predigt hat nicht bloß das Rein-Religiöse zu behandeln, sondern auch das Sittliche. 2. Die ethische Predigt hat das Sittliche stets vom Zentrum des Glaubens aus zu beleuchten. 3. Die ethische Predigt darf sich nicht auf allgemeine Grundsätze beschränken; sie muß auch spezielle Themata erörtern. 4. Im Charakter der evangelischen Predigt liegt es, daß dabei jede Kasuistik und jede Gesetzlichkeit vermieden wird." 2 2 3 Am konsequentesten entfaltet .Otto Baumgarten das Programm der sozialen Predigt 224 . Baumgartens formuliert programmatisch: „Interessante Predigten sind heutigentags sozial." Denn das moderne Verständnis des Menschen sieht ihn in seiner sozialen Verflechtung. „Wir dürfen heute nicht mehr den einzelnen isolieren, als wäre er seines ^Glückes und Unglückes freier Schmied. Sein Leben und Werden ist verwoben in das Leben und Werden der modernen Gesellschaft", und „sein geistiger und sittlicher Besitzstand ist mit bedingt durch das Milieu, in dem er aufwächst" 2 2 5 . Gerade deshalb muß die Predigt bei der Gestaltung sozialer Verhältnisse, wie etwa der Wohnungsfrage, mitwirken. „Daß eine christliche Gemeinde in ihrem Bereich Zustände duldet, wie sie die Zweistubenwohnung mit Einliegern und die Unterbringung kinderreicher Familien in Obdächern zeitigen, ist völlig unverständlich. Die Predigt hat das Gefühl der Verantwortlichkeit des einzelnen Christen und der christlichen Gemeinde für Einrichtungen zu schärfen, welche den sittlichen Fall des Durchschnitts mit Notwendigkeit heraufführen." Dasselbe gilt für das Problem des Alkoholismus. „Derartige Themata, die freilich mit Umsicht und ohne Fanatismus zu behandeln sind, mit genauer Kenntnis der Lage und Bedürfnisse der betreffenden Gemeinde, sind im besten Sinne interessant: sie prickeln nicht die sensationelle Neugierde, sondern sie fesseln den Willen und sprechen das Gewissen an." 2 2 6 Die moderne Predigt sieht den Menschen nicht isoliert, sondern sie thematisiert den modernen Menschen in seiner sozialen Umgebung. Denn „inter223 M. Schian, Ethische Predigten, MPTh 3, 1907, 4 4 6 - 4 5 1 ; 451. - Die ethische Predigt, wie sie Schian versteht, soll freilich nicht einfach die Predigtweise der Aufklärung repristinieren. Schian betont demgegenüber vielmehr, daß er „ein absoluter Gegner jeder rationalistischen Moralpredigt und jeder irreligiösen Aufklärungsrederei" sei (aaO., S. 446). 224 O. Baumgarten, Predigt-Probleme, 1904. 225 Baumgarten, aaO., S. 46. 226 Baumgarten, aaO., S. 49. — Das Alkoholismusproblem behandelt Niebergall ausführlicher in seiner Schrift „Seelsorge und Alkohol" 1927. In der Sozialethik „Evangelischer Sozialismus" (1920) kehren die Probleme, die Baumgarten artikuliert, ebenfalls wieder.
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essant im guten Sinne ist nun gerade diese Spannung zwischen sozialer und persönlicher Betrachtung" 2 2 7 . Nur eine soziale Predigtweise vermag das christliche Verantwortungsbewußtsein zu wecken. „Die Predigt hat das Interesse für die Zustände und Leiden anderer einfach zuzumuten, hat das Eingehen in ganz andere Lebensgänge anzuregen und so den Gemeinsinn zu stärken, das Gefühl der Solidarität. Und wenn sich denn einer beschwert, daß ihm Interesse für Fremdes zugemutet werde, da muß man ihm deutlich machen, daß die Schuld nur an ihm liegt, weil er noch so ein greulicher Egoist ist." 2 2 8 Die soziale Predigt ist wie alle Predigt Textpredigt. Gerade sie bringt „die Paradoxie des Evangeliums zu starkem Ausdruck. Auf die Paradoxien möchte ich besonders den Finger legen: man rede nur ja nicht, wie wenn es sich für den anständigen Menschen sozusagen von selbst verstände, den Glauben und die Ethik des Evangeliums zu bewahren" 2 2 9 . Die Zuspitzung der Predigt ins Soziale führt konsequent zu einer genaueren Interpretation des einzelnen Predigttextes: „Interessant werden die Predigten, wenn man die Texte möglichst scharf auffaßt, möglichst pointiert, möglichst so, daß sie anstoßen und man nicht gleich alles ,cum grano salis' versteht." In der Auseinandersetzung zwischen biblischem Text und gegenwärtiger Wirklichkeit wird das soziale Urteilsvermögen des Hörers entwickelt. Und „Bildung des christlichen Urteils, Klärung desselben, Stärkung gewisser Erkenntnisse und Klärung biblischer Anschauungen ist Erfolg genug für eine Predigt." 2 3 0 Die Verbindung von Gegenwart und Text kann freilich nicht direkt geschehen. Sie bedarf einer Vermittlung. „Wir müssen brechen mit der Methode, mit einem großen Sprung aus der biblischen Theologie in die Theologie der Gegenwart hinüberzuspringen, als ob die Zwischenzeit, die Kirchen-, Dogmen- und Ideengeschichte im Grunde nur leeres Stroh gedroschen und das in der Schrift viel besser Gesagte nur in allerlei Anpassungen an den Zeitgeist variiert hätte." 2 3 1 Vielmehr entwickelt sich auch die Religion unter veränderten historischen und sozialen Bedingungen weiter. Denn die soziale Funktion der Religion besteht gerade in der Verbindung von einzelnem und Gesellschaft. „In die Religion gehört wesentlich hinein die Beziehung des Ich zu der Welt und die Beurteilung der Welt und des Ich im Verhältnis dazu." Baumgarten definiert das Christentum deshalb als „Selbst- und Weltbeurteilung unter der Idee des Gottes Jesu". Die gegenwärtige Wirklichkeit gehört notwendig in eine Funktionsbestimmung der christlichen Religion. „Dadurch tritt die Religion 227 228 229 230 231
Baumgarten, aaO., S. 50. AaO., S. 52. AaO., S. 54. AaO., S. 58. AaO., S. 82.
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in ein Funktionsverhältnis zum Weltleben, und da dies sich fortgehend entwickelt, so entwickelt sich fortgehend die Religion selbst. Wandelt sich das Weltbild, verändert sich die Reizung des persönlichen Lebens und damit die Art, die Welt zu erleben und wiederum sich selbst zu erfassen, wandelt sich so das psychologische Vermögen, so wandelt sich auch der Verkehr mit Gott, das ganze religiöse Verhalten." 2 3 2 Mit dem geschichtlichen Verständnis der christlichen Religion verbindet sich bei Baumgarten die historische Auffassung der christlichen Ethik. „Die Ethik darf nicht gebunden werden an die Worte J e s u und des Apostels, die ihre christliche Gesinnung zu den äußeren und inneren Situationen ihrer Zeit in Beziehung setzten; sie muß frei den geschichtlichen Bewegungen folgen." 2 3 3 Es widerspricht daher der sozialen Funktion der Predigt, „das biblische Christentum als Fremdkörper in das Leben der Gegenwart" einzubringen 234 . Vielmehr besteht die Predigtarbeit gerade in der kritischen Auseinandersetzung und Vermittlung von biblischem Text und moderner Situation. „Die Auslegung der Schrift wird die fruchtbarste sein, welche auf einer Meditation ruht, die am lebendigsten und klarsten die geschichtliche Situation der Schriftsteller und ihrer Leser und die gegenwärtige Situation der Gemeinde und ihrer Glieder auseinander- und zusammenhält." 2 3 5 Baumgartens Beschreibung der Predigtarbeit ist eine Funktion seines Christentumsverständnisses. „Das Zentrum unseres Lebens liegt fest in der Geschichte Jesu, die als solche eine Offenbarung ist; aber die Peripherie verändert sich ununterbrochen. Die wahre theologische Kunst besteht darin, aus diesem Zentrum der Ergriffenheit von Christus die Radien immer neu zu ziehen nach allen Seiten der Peripherie und die Antworten, die der christliche Geist auf die einzelnen Fragen jener Zeit gegeben hat, zu übersetzen in Antworten auf Fragen unserer Zeit." 2 3 6 Baumgarten versteht die moderne Predigt konsequent als soziale Predigt. Die theoretische und praktische Predigtarbeit ist deshalb ein Teil der
AaO., S. 83. AaO., S. 83f. — In Baumgartens Sicht läßt sich vor allem auch die Struktur der modernen Gesellschaft nicht unmittelbar aus den biblischen Texten ableiten. „Die Gesellschaft, die Klasse, der Stand, die Volksgruppe hat unter uns ein Sonderbewußtsein, ein besonderes Ehrgefühl gewonnen. Die Ehre ist eine soziale Größe . . . In der Schrift findet das keinen Rückhalt; die Gliederung des Volkes in Gruppen ist ein Gesetz der Geschichte, das je mehr und mehr Anerkennung von der Kulturmenschheit verlangen und, nachdem es sie endlich gefunden, auch von der Religion verlangen kann, als ein Idealgebiet gewertet und gebilligt zu werden" (aaO., S. 85f.). 2 3 4 AaO., S. 102. 2 3 5 AaO., S. 103. 2 3 6 AaO., S. 105. 232
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Ethik. M a n k a n n nach seiner A u f f a s s u n g w e d e r die T h e o r i e n o c h die Praxis der Predigt in der m o d e r n e n Welt b e g r e i f e n u n d beschreiben, w e n n m a n sie nicht in d e n Z u s a m m e n h a n g einer w i s s e n s c h a f t l i c h e n Sozialethik einordnet. Es liegt deshalb in der K o n s e q u e n z seines homiletischen Ansatzes, w e n n O t t o Baumgarten in seinen ,,Predigt-Probleme(n)" die e t h i s c h e n Z u s a m m e n h ä n g e bis in Details des m o d e r n e n L e b e n s u n d seiner Strukturen hineinverfolgt 2 3 7 . U n d auch Niebergalls Ethik „Evangelischer Sozialismus" gehört in den Z u s a m m e n h a n g der sozialen Predigtarbeit. Ihr gilt das Interesse der m o d e r n e n Predigtbewegung vor allem 2 3 8 .
237 Nicht nur die allgemeinen sozialen, sondern auch die ökonomischen Strukturen der modernen Gesellschaft entsprechen nach Baumgartens Urteil denen der Bibel keineswegs. „Auch die Wirtschaftsordnung muß religiös betrachtet werden, auch die Wertung der Arbeit muß hinauswachsen über die Bibel." Denn im Alten Testament findet Baumgarten „kein positives Arbeitsideal". Und Jesus setzt „in seinen Gleichnissen zwar eine gewisse Arbeits- und Verdienstordnung voraus, nämlich die patriarchalische, er hält es für ganz ausgemacht, daß der Herr seinem Knecht, der ein übriges tut, nicht weiter danke, und daß der Knecht nicht zu fragen hat, was sein Arbeitskollege verdient und erhält; er selbst lehrt nichts über die Arbeits- und Verdienstordnung. Uns aber ist Gerechtigkeit im Arbeits- und Lohnverhältnis, eine volle und ausgleichende Entlohnung ein sittliches Gut geworden. Die Gerechtigkeit, die Billigkeit der Entlohnung kann in scharfem Gegensatz zu Jesu Wort: ,Was siehst du scheel, daß ich so gütig bin?' nur vergleichsweise festgestellt werden. Es ist durchaus berechtigt, wenn die Arbeiterschaft dagegen auftritt, sobald Willkürlöhne gegeben werden. Auf dem ganzen Gebiete des Lohnwesens handelt es sich nicht mehr um einen Minimalgehalt zur Gewährung des Existenzminimums, um einen Groschen, worüber hinaus die freie Gnade beginnt; sondern es handelt sich um das Durchsetzen des Rechtes, das einzige Kapital, das der Arbeiter hat, seine Muskel- oder auch Kopfkraft so teuer zu verkaufen, wie nur möglich. Dagegen seufzen die Prediger ununterbrochen über die steigende Unzufriedenheit der Leute. Freilich bekommt der Pastorenstand seinerseits auch nie genug und ist mit Recht in einer ständigen Lohnbewegung begriffen . . . So bahnen sich hier moderne Ideale an, die wir noch nicht einmal voll erkannt und in die christliche Ethik eingeführt haben" (aaO., S. 86f.).
Schließlich steht auch das moderne Bildungsideal in einem Gegensatz zur biblischen Anschauung (aaO., S. 89). Der Veränderung des gesamten Wirklichkeitsverständnisses kann die Religion nicht distanziert gegenübertreten. Sie ist selbst ein Teil der modernen Welt. Und es gehört zu den Aufgaben der modernen Predigt, ein Bewußtsein für die moderne Form der christlichen Religion zu entwickeln. „Es ist die Pflicht der sittlichen Erziehung für die Gegenwart, über diesen frommen Traumsinn hinauszuführen und den frommen Wirklichkeitssinn auszubilden" (aaO., S. 91). 238 Niebergall nimmt in seiner Ethik eine sehr ausgewogene Stellung zum Problem der sozialen Predigt ein. Er meint, „daß ihre Aufgabe in sozialer Hinsicht durchaus nicht darin bestehen dürfe, immer sozial-ethische Gegenstände zu behandeln" (Evangelischer Sozialismus, 1920, S. 214). Die unmittelbaren sozialen Verhältnisse sollen nur dann zum Gegenstand der Predigt gemacht werden, „wenn wirklich das Gewissen der Gemeinde nach solcher Aussprache schreit und man des Tatbestandes ganz sicher ist" (aaO., S. 215). Niebergall befindet sich mit diesem Urteil im Einklang, mit dem Evangelisch-sozialen Kongreß, der das Problem der sozialen Predigt schon 1895 behandelte (vgl. Niebergall, aaO., S. 214). 123
DRITTES KAPITEL
Die Theorie der ,Modernen Predigt' I. Die Theorie der homiletischen Theorie 1. Die kritische Funktion
der kirchlichen
Praxis
Die ,Moderne Predigt' ist in erster Linie eine praktische Bewegung 1 . Sie empfindet die Situation der Kirche in der modernen Gesellschaft als eine Herausforderung an die Berufspraxis des Pfarrers. Eine Reform der Predigt kann nach der Überzeugung ihrer Vertreter nicht zuerst im Rahmen der theologischen Diskussion verwirklicht werden, sondern sie ist vorwiegend eine Aufgabe des kirchlichen Handelns. Das homiletische Programm Niebergalls und seiner Freunde geht deshalb von einer genauen Analyse der kirchlichen Predigtpraxis aus. Diese Analyse ist selbst schon ein wichtiger Teil der homiletischen Theorie. Denn die Theorie der .modernen Predigt' sieht in den verschiedenen Formen und Tendenzen der gegenwärtigen Predigt nicht nur das Objekt der homiletischen Forschung, sondern auch den Ausgangspunkt ihrer theoretischen Überlegungen, die sie aus der Analyse der homiletischen Situation gewinnt. Das verstärkte Interesse an der Praxis der Predigt hat also nicht nur unmittelbare Konsequenzen für die Reform der kirchlichen Predigt. Die praktische Wendung ist ebenso folgenreich für die methodische Struktur der homiletischen Theorie. Die kirchliche Praxis ist der Ausgangspunkt einer induktiven theologischen Predigtlehre. Niebergall sieht die gegenwärtige Predigt und ihre Theorie in einem engen Zusammenhang. Die „Herrschaft von modernen Fragestellungen" prägt nicht nur die Predigtformen der Gegenwart. Sie ist vielmehr in viel umfassenderer Weise das Kennzeichen einer „Gesamtstimmung", die „das Denken über Theologie und Praxis heute weithin durchdringt" 2 . Niebergall entwickelt die Theorie der modernen Predigt daher nicht nur in der Auseinandersetzung mit der traditionellen Homiletik, sondern ebenso in der kritischen Anknüpfung an Impulse der gegenwärtigen Predigtpraxis. 1 Vgl. dazu das vorangegangene Kapitel und besonders auch F. Niebergall, Die moderne Predigt 1929; 5 7 f f . , w o Niebergall selbst die moderne Predigt als eine zunächst kirchliche und erst in zweiter Linie theologische Bewegung versteht. 2 F. Niebergall, Theologie und Praxis, 1916; 3.
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Seine h o m i l e t i s c h e K o n z e p t i o n steht im Gegensatz zu s o l c h e n F o r m e n h o m i l e t i s c h e r Theorie, die der Praxis s c h o n w e g e n ihrer t h e o r e t i s c h e n Struktur nicht in ausreichendem Maße gerecht z u w e r d e n vermögen 3 . Das gesteigerte Interesse an der religiösen Praxis enthält selbst s c h o n ein theoretisches u n d theoriekritisches M o m e n t , das die E n t w i c k l u n g einer n e u e n , einer „ m o d e r n e n " H o m i l e t i k unumgänglich m a c h t 4 . D i e K o n t u r e n dieser „ m o d e r n e n H o m i l e t i k " w u r d e n s c h o n in Niebergalls A n a l y s e der „ m o d e r n e n " Predigtpraxis deutlich. Niebergalls H o m i letik ist zunächst durch eine R e d u k t i o n des normativen Anspruchs der Predigttheorie g e k e n n z e i c h n e t . D e r „empiristische praktische Gesichtsp u n k t " 5 der m o d e r n e n H o m i l e t i k verbietet die K o n s t r u k t i o n eines anspruchsvollen h o m i l e t i s c h e n N o r m e n s y s t e m s . „ I m m e r weniger, j e m e h r sie realistisch u n d ganz praktisch wird, kann die H o m i l e t i k w i e die ganze Praktische T h e o l o g i e G e s e t z e geben; sie zeigt nur M ö g l i c h k e i t e n u n d Regelmäßigkeiten, u m es d e m Takt u n d d e m Geschick j e d e s einzelnen zu überlassen, w i e w e i t er sie in seinen Verhältnissen a n w e n d e t . " 6 D i e Praktische T h e o l o g i e soll — w i e Niebergall im A n s c h l u ß an N i t z s c h formuliert — eine „Theorie der Praxis" sein 7 . Sie m u ß nach d e m Programm 3 Diesen Vorwurf erhebt Niebergall vor allem gegenüber der Homiletik von F. L. Steinmeyer (hrsg. v. M. Reyländer, 1901). Niebergall stellt die verschiedenen theoretischen und praktischen Impulse dar, die sich in Steinmeyers Homiletik verdichten und charakterisiert diese Predigtlehre dann als „den Typ der Homiletik, wie er zu der ganz traditionell gerichteten herrschenden Denkweise des vorigen Jahrhunderts gehört" (Die moderne Predigt, 1929; S. 62f.). 4 Niebergalls Darstellung der „Modernen Homiletik" findet sich in: Die moderne Predigt 1929; 57ff., bes. S. 64ff. s F. Niebergall, Zur homiletischen Diätetik, EvFr 9, 1909, 3 8 9 - 3 9 3 , 4 2 0 - 4 3 2 , 4 6 1 - 4 6 6 ; 390. 6 Niebergall, aaO., S. 465. 7 F. Niebergall, Die wissenschaftlichen Grundlagen der praktischen Theologie, MkiPr 3, 1903, 268—281; 271. — Nitzschs Verständnis der praktischen Theologie findet sich in seiner Praktischen Theologie vor allem Bd. 1, 12ff. und 117ff., die Anwendung dieses Theorieverständnisses auf die Homiletik, in: Praktische Theologie, Bd. 2, vor allem S. 37ff. Nitzsch schließt sich im übrigen mit der Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis an Schleiermacher an (vgl. außer der Einleitung zur Praktischen Theologie, Werke I 13, bes. 7ff. und 25ff., vor allem auch die Kurze Darstellung §§ 257ff.). Zur Praktischen Theologie und Homiletik von Nitzsch vgl. außerdem W. Birnbaum, Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis Karl Barth, 1963; 40ff. und F. Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der dialektischen Theologie' in Grundzügen, 1969; 3 I f f . und: ders., C. I. Nitzschs Konzeption der Praktischen Theologie in ihren geschichtlichen Zusammenhängen, EvTh 29, 1969, 93—109. Die Reflexion über die theoretische Struktur der Theologie und über das Verhältnis von Praxis und Theorie in der Theologie findet gegenwärtig wieder besonderes Interesse. Vgl. dazu vor allem: G. Sauter, Die Aufgabe der Theorie in der Theologie, EvTh 30, 1970, 488—510; ders., Vor einem neuen Methodenstreit in der Theologie? ThExh 164, 1970; und vor allem den von G. Sauter hrsg. Sammelband „Theologie als Wissenschaft", 1971, darin bes. die Einleitung von G. Sauter (9ff). Vgl. schließlich
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von Paul Drews „mehr descriptiv-induktiv als systematisch-deduktiv betrieben werden" 8 . Die methodische Wende in der Praktischen Theologie bringt eine Reihe von Problemen mit sich, die die Situation der homiletischen Praxis in der Predigttheorie widerspiegeln. Auf der einen Seite scheint der induktive Ansatz der Homiletik die Praktische Theologie von den übrigen theologischen Disziplinen abzutrennen und damit die theoretische Konsistenz der homiletischen Theorie gerade in Frage zu stellen. Auf der anderen Seite scheint diese Entwicklung der Predigtlehre aber vor allem den Zusammenhang von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis aufzulösen und damit ihren selbstgewählten Hauptzweck zu verfehlen. Indem sie die praktische Theologie aus dem enzyklopädischen System der Theologie löst, scheint sie die kritische Kraft zu verlieren, die die Theologie für die kirchliche Praxis immer darstellt 9 . Niebergall erkennt diese Orientierungsproblematik einer wissenschaftlichen Praktischen Theologie. Sie stößt auf das Mißtrauen einer theologischen Denkweise, die von der praktischen Theologie keine kritischen Ansätze innerhalb der theologischen Theoriebildung erwartet, sondern ihre Aufgabe als ,,eine Art von praktischer Verwendung" der theologischen Erkenntnisse versteht 10 . Die praktische Theologie hätte sich dann den theologischen Positionen gegenüber neutral zu verhalten. Sie wäre dann eine wissenschaftliche Disziplin, die „im wesentlichen als Technik gedacht, gleich gut und gleich schlecht zu einer jeden Art von Theologie paßt" 11 . Gerade in dieser technischen Abzweckung würde die praktische auch den von Metz und T. Rendtorff hrsg. Band „Die Theologie in der interdisziplinären Forschung", 1971, und darin den Aufsatz von G. Sauter: Möglichkeiten der Theoriebildung in der Theologie, 58ff. Endlich sei für das Problem der Theoriestruktur der Theologie noch verwiesen auf: D. Rössler, Positionelle und kritische Theologie, ZThK 67, 1970, 2 1 5 - 2 3 1 . 8 P. Drews, .Religiöse Volkskunde', eine Aufgabe der Praktischen Theologie, MkiPr 1, 1901, 1—8; 1. — Zum praktisch-theologischen Programm von Drews vgl. auch: ders., Das Problem der Praktischen Theologie, 1910. 9 Dieses Problem stellt sich der gegenwärtigen Homiletik in noch schärferer Weise. Gerade die intensive theologische Bearbeitung der Homiletik durch alle theologischen Disziplinen hat noch deutlicher als um die Jahrhundertwende die Notwendigkeit erkennen lassen, die prinzipielle und die praktische Homiletik in der Zusammenarbeit aller theologischen Methoden und auf Grund aller theologischen Erkenntnisse zu entwickeln. 10 F. Niebergall, Theologie und Praxis 2. — Zum Problem der Anwendung in der heutigen Praktischen Theologie vgl. W. Herrmann, Mündigkeit, Vernunft und die Theologie, in: Reform der theologischen Ausbildung II, 1968, 52—75; bes. 60. Vgl. auch Päschke, aaO., S. 3ff. und: G. Otto, Einführung zur ersten Nummer der Theologia practica, 1966, 1. Otto stellt der gegenwärtigen Praktischen Theologie die Aufgabe, daß sie „den notorischen Widerspruch von Theorie und Praxis aufhebt, eine bloße .Anwendung' exegetischer Erkenntnisse in Predigt, Unterricht und Seelsorge überholt und das Ineinander von Reflexion und Handeln deutlich macht." 11 F. Niebergall, Die wissenschaftlichen Grundlagen 274.
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Theologie aber auch die enge Verbindung jedes theologischen Systems mit der kirchlichen Praxis garantieren. Denn die theologischen Positionen stellten dann der praktischen Theologie die Aufgabe, „eine gewisse Begründung unserer Praxis in dieser Theologie zu gewinnen" 1 2 . Nimmt die praktische Theologie nun einseitig Stellung für die moderne, die kritische Theologie, dann wird sie ihren beiden Aufgaben anscheinend nicht mehr gerecht. Sie verhält sich dann kritisch gegenüber bestimmten theologischen Positionen, und sie negiert zugleich deren Funktion für die kirchliche Praxis 13 . Die moderne Praktische Theologie scheint sich damit in einem Dilemma zu befinden. Indem sie mehr sein will als nur instrumentale Technik des kirchlichen Handelns, indem sie beansprucht, Wissenschaft und damit Kritik zu sein, verliert sie den Zusammenhang mit der theologischen Position, die sich selbst für die kirchliche hält. Von ihr wird sie als unkirchlich tituliert 14 . Aber sie vermag sich mit denjenigen kritischen Positionen im wissenschaftlichen System ihrer Zeit ebensowenig zu identifizieren, die an die Stelle der Theologie eine Religionswissenschaft setzen, die nicht auf das kirchliche Handeln, sondern auf die allgemeine religiöse Praxis der Gesellschaft bezogen sein soll. Die praktische Theologie gerät zwischen die Positionen. „Es wird also gegen zwei Fronten gekämpft: einmal gegen die in der Kirche herrschende Partei, die sich gegen die neue geschichtlich orientierte Th. als gegen ihre schlimmste Feindin wehrt, und dann gegen eine Auffassung der Th. überhaupt, die durch ihre kirchliche Abzweckung ihren rein wissenschaftlichen Charakter gefährdet glaubt." 1 5 In dem Bemühen, die Funktionskrise der kirchlichen Predigt in der modernen Gesellschaft zu überwinden, gerät die Homiletik selbst in eine Orientierungskrise. Sie muß erklären, wie sie Theologie und Wissenschaft zugleich sein kann. Dieses Grundproblem jeder praktischen Theologie 16 beschäftigt Niebergall zeitlebens. Er artikuliert es zum erstenmal explizit in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung von 1903 über ,,Die wissenschaftlichen Grundlagen der praktischen Theologie" 1 7 . 1916 schreibt Niebergall ein Buch Theologie und Praxis 2. Zur Auseinandersetzung zwischen kritischer und positiver Theologie um die Bruchbarkeit bestimmter theologischer Positionen für die Berufsarbeit des Pfarrers vgl. vor allem: M. Schian, Die Predigt, 1906; 4 4 f f . 1 4 Vgl. außer Schian, Die Predigt 44 auch F. Niebergall, Theologie und Praxis 4ff. und 66ff. 1 5 Niebergall, Grundlagen 274. 1 6 Zur gegenwärtigen Behandlung dieses Problems vgl. außer der in Anm. 7 genannten Literatur auch W. Jetter, Die Praktische Theologie, ZThK 64, 1967, 4 5 1 - 4 7 3 und D. Rössler, Prolegomena zur Praktischen Theologie, ZThK 64, 1967, 3 5 7 - 3 7 1 . 1 1 So lautet der Titel von Niebergalls Heidelberger Antrittsvorlesung, MkiPr 3, 1903, S. 2 6 9 - 2 8 1 . 12
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über „ T h e o l o g i e u n d Praxis", in dem er d e n „ H e m m u n g e n u n d Förderungen der Predigt u n d des Religions-Unterrichts durch die m o d e r n e Theologie" nachgeht 1 8 . U n d 1 9 2 9 n i m m t er das T h e m a in der kritischen Auseinandersetzung m i t der dialektischen T h e o l o g i e n o c h einmal in einem A u f s a t z über „ D i e neueste T h e o l o g i e u n d die Praxis" 1 9 auf. D i e Prämisse für Niebergalls Theorieverständnis ist die enge Verbindung v o n Theorie u n d Praxis. D i e kirchliche Praxis ist nicht nur für die praktische T h e o l o g i e , sondern für die ganze T h e o l o g i e konstitutiv. „ D i e Probe einer j e d e n T h e o l o g i e ist die Praxis" 2 0 . Deshalb ist d i e praktische Theologie „eine T h e o r i e der Praxis" 2 1 . Darum kann sich die praktische Theologie nicht m i t einem „ A s c h e n b r ö d e l d a s e i n " 2 2 begnügen. Sie m u ß mit Carl I m m a n u e l Nitzsch, in d e m Niebergall den „Begründer der Pr.Th. als einer Wissenschaft" sieht, zur „Wissenschaft v o n der kirchlichen Ausübung des Christentums" w e r d e n 2 3 . Ein solches Modell v o n praktischer T h e o l o g i e dürfte sich nicht mit einer nachgängigen V e r k n ü p f u n g theolo18
Niebergall stellt hier zunächst die Hemmungen dar, die sich aus der kritischen Theologie für die kirchliche Praxis ergeben (5ff.), versucht sie sodann aufzuheben (30ff.) und endlich in Förderungen der Praxis zu verwandeln (66ff.). „Bestanden die Hemmungen in dem unsichern Boden, auf den die Erkenntnis der Relativität der geschichtlichen Gebilde uns versetzt hatte, in dem Widerstand großer Kreise gegen eine jede Änderung auf diesem Gebiet dçr Religion, in der eignen innem Unsicherheit, so werden sie ausgeglichen durch die Förderungen, die uns aus derselben theologischen Arbeit erwachsen: sie gibt eine tiefere Erkenntnis von dem, was Christentum ist, sie bringt in Einklang mit Zeitströmungen und schenkt uns ein besseres Gewissen. Dazu bietet sie uns eine Reihe von methodischen Winken für unsere Arbeit, die in Instinkte zu übersetzen unsre Hauptaufgabe sein muß" (aaO., S. 100). 19
F. Niebergall, Die neueste Theologie und die Praxis, MPTh 25, 1929, 1 3 - 1 8 . Niebergall, aaO., S. 18. 21 Grundlagen, S. 271. 22 Das Bild vom „Aschenbrödel" kennzeichnet das Bewußtsein der praktischen Theologen der Zeit. Es findet sich häufig, ζ. B. bei P. Drews, Das Problem der praktischen Theologie, 1910; 12, bei F. Niebergall, Die religiöse Phantasie und die Verkündigung an unsere Zeit, ZThK 16, 1906, 2 5 1 - 2 8 5 ; 284, ders., Die Aufgabe einer praktischen Dogmatik, in: Kaftan-Festschrift 1920, 2 4 3 - 2 5 1 ; 251. Ähnlich wird die Stellung der Praktischen Theologie im System der theologischen Wissenschaften auch heute wieder gekennzeichnet. So schreibt etwa M. Fischer: „Die Praktische Theologie blieb mit und ohne ihre Schuld — gleichzeitig zum Schaden der Theologie im Ganzen — in einer Aschenbrödelrolle" (Die notwendige Beziehung aller Theologie auf die Kirche in ihrer Bedeutung für dfe praktische Theologie bei Schleiermacher, ThL 75, 1950, 2 8 7 - 3 0 0 ; 296). Und J . Konrads Buch „Die evangelische Predigt", 1963, soll nach seiner Vorstellung „ein Studien- und Quellenbuch sein, das die Homiletik aus der Aschenbrödelrolle einer bloßen ,Regelkunst' befreit (aaO., S. 9). 23 Grundlagen 269. — Zum Ansatz der Praktischen Theologie von Nitzsch vgl. außer Birnbaum (Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis K. Barth, 1963; 40ff.) auch: E. Chr. Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie, 3. Aufl. 1911, Bd. 1; 16ff. 20
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gischer Positionen mit dem kirchlichen Handeln begnügen. Es müßte vielmehr die Praxis in die theologische Theorie integrieren und sich deshalb kritisch mit allen theologischen Disziplinen und mit dem enzyklopädischen System der theologischen Wissenschaften befassen. Niebergall sieht für eine solche Theorie der kirchlichen Praxis die Zeit gekommen. Er empfindet die kritische Situation der praktischen Theologie zwischen theologischer Tradition und kirchlicher Reform als Anreiz zur wissenschaftlichen Tätigkeit. „Die Pr.Th. befindet sich in einer Lage, die zu fröhlichem Mitschaffen reizt. Denn einmal drängen hundert Tätigkeiten der Kirche in unserer rastlos arbeitenden Zeit darauf hin, daß die Theorie sie aufnehme, kläre und verbinde. Dann aber hat sie im Wettlauf mit ihren theoretischen Schwestern als wissenschaftliche Disziplin immer noch eine Strecke einzuholen, daß sie erreiche, was ihr seit Schleiermacher als ihr Ziel und Preis leuchtet, die Krone des theologischen Studiums zu sein." 2 4 Gerade ihrer vermittelnden Stellung zwischen Theorie und Praxis verdankt die praktische Theologie ihre erhöhte Bedeutung nicht nur für die kirchliche Praxis, sondern auch für die ganze Theologie. Ihr Verhältnis „zu der Gesamttheologie ist viel enger als das der alten Art unserer Disziplin", als das der technischen Anwendung. Die praktische Theologie nimmt „an dem ganzen Geist der Behandlung der Th. teil; sie hat die Historisierung der Theologie mitgemacht, jetzt wird sie auch die beginnende und so notwendige Psychologisierung mitmachen. Sie wird eben vermöge dieser engen Beziehung zur ganzen Theologie ein ganz anderes Geschlecht von Pfarrern großziehen, als die alte getan hat" 2 5 . Die praktische Theologie — wie Niebergall sie zeichnet — steht den ,,so viel feineren Schwestern, die nicht durch das Hauskleid der Praxis in Verlegenheit gebracht werden", an wissenschaftlichem Charakter in nichts nach. Sie braucht deshalb auch nicht „durch allzueifrige Bemühung um einen Platz an der Sonne der Wissenschaft den Verdacht der eigenen Schwäche zu nähren" 2 6 . Das veränderte Verhältnis von Theorie und Praxis im kirchlichen Handeln fordert gerade eine praktische Theologie als Wissenschaft. „Heute ist das Verhältnis zwischen den theologischen Fächern und der Praxis nicht mehr dies, daß jene ihr durch unmittelbare Verarbeitung ihrer Stoffe für die Praxis dienten, sondern sie glauben ihre Arbeit um so besser zu tun, je mehr sie ganz allein auf ihre eigene Lektion sehen. Dann bedarf es aber offenbar einer besonderen Disziplin, die den geschichtlich begründeten Anschluß der Theologie an die Kirche herzustellen hat, daß sich die Arbeit der Kirche auf die Theologie gründet und die Arbeit der Theologie in die der Kirche mündet. Das ist die Aufgabe der Pr.Th. Der Kirche sei sie ein Memento, daß sie ihre Praxis möglichst tief historisch 24 25 26
Grundlagen 2 6 8 . AaO., S. 2 7 4 . Ebd.
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und prinzipiell fundamentiere, ihren Fakultätsschwestern eine Mahnung, daß sie ihre Ehre in der möglichst gründlichen Ausbildung der zukünftigen Kirchendiener suche. Die tiefste Rechtfertigung der Pr.Th. als einer Wissenschaft liegt darin: das ist die beste Praxis, die sich auf die Theorie stützt; das ist aber die beste Theorie, die der Praxis ihre Grundlagen liefert." 27 So wenig die Theologie die kirchliche Praxis lediglich beschreibt, so wenig kann die kirchliche Praxis umgekehrt lediglich ein Derivat der theologischen Theorie darstellen. Sie steht vielmehr der theologischen Arbeit kritisch gegenüber. Und die praktische Theologie macht sich zum Anwalt der kirchlichen Praxis gegenüber der theologischen Theorie. Die praktische Theologie geht daran, „auch die Gegenwart methodisch zum Gegenstand ihrer Arbeit zu machen. Bisher hat die ganze th. Arbeit dem Studium des näheren Objektes der Verkündigung, dem Ev. gegolten. Nun soll auch das entferntere Objekt, nämlich der Mensch und die Menschen, einer eingehenden Bearbeitung unterzogen werden. Nur so kann die Pr.Th. tiefer gegründet und die wirkliche Praxis gefördert werden." In der kritischen Vermittlung von Theologie und Praxis dient die praktische Theologie beiden. Sie führt zur Verwissenschaftlichung der Theologie, und „sie arbeitet am Studium der Menschen, denen zu dienen die zukünftigen Pfarrer doch sollen angeleitet werden, damit sie nicht so unbekannt und hilflos an den Strand des praktischen Amtes gesetzt werden" 28 . Indem der moderne Mensch zum Gegenstand der praktischen Theologie wird, werden Geschichte, religiöse Volkskunde und Psychologie zu den „drei wichtigsten wissenschaftlichen Grundlagen der Pr.Th" 29 . Das neue Selbstverständnis der praktischen Theologie führt also zu einer Revision des theologischen Wissenschaftssystems und zu einer integrativen Verbindung von Theorie und Praxis des kirchlichen Handelns. Es führt darüber hinaus aber vor allem zu einer methodischen Umorientierung der praktischen Theologie selbst. Sie beginnt mit einer vehementen Kritik an einer historisch überfremdeten praktischen Theologie, in der „die Historie aus ihrer dienenden Stellung" 30 heraustritt und zur beherrschenden praktisch-theologischen Betrachtungsweise wird. Niebergalls praktisch-theologisches Programm wendet sich ständig „gegen den Historizismus", gegen „die Verwendung der Historie als solcher" 31 . Wer die Gesetze seines 27
AaO., S. 275. AaO., S. 268. 29 AaO., S. 269. 30 AaO., S. 271. 31 F. Niebergall, Liturgik, Geschichte und Psychologie, MGkiK 16, 1911, 3 7 - 4 2 ; 37. — Das Eigenartige des Ansatzes von Niebergalls Praktischer Theologie wird im Vergleich mit dem umfassenden Werk von Achelis (Lehrbuch der Praktischen Theologie, 3. Aufl. 1911, 3 Bde.) deutlich, der zwar einen umgreifenden systematischen Rahmen zur Entfaltung der praktisch-theologischen Disziplinen wählt, die einzelnen Gebiete der Praktischen Theologie aber immer in engem Zusammenhang mit der Ge28
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Handelns aus der Anwendung historischer Erkenntnisse gewinnen zu können meint, der übersieht, „daß es sich in unserem Fall nicht um reine Erkenntnis eines feststehenden Objektes handelt, wie bei den theoretischen Wissenschaften. Sondern es handelt sich um Grundsätze der Beeinflussung eines in stetigem Fluß befindlichen Objektes, nämlich von Menschen, die einem praktischen Ziele sollen genähert werden." Das Alte Testament — so verdeutlicht Niebergall seinen Ansatz — bleibt immer dasselbe, nur die Methoden seiner Erforschung wandeln sich. Anders ist es bei einer Wissenschaft, die nicht geschichtliche Dokumente, sondern den modernen Menschen zum Gegenstand hat. In der praktischen Theologie „wachsen die Probleme unserer Arbeit nicht einfach aus ihrer Geschichte heraus; denn diese Geschichte und die Entwicklung der Menschen gehen im Ganzen getrennte Bahnen, weil die Menschen zum wenigsten von der kirchlichen Arbeit, zumeist von ganz anderen Faktoren bestimmt werden" 32 . Die praktische Theologie bedient sich zwar notwendig der geschichtlichen Forschung, aber sie sieht ihren Zweck nicht schon in der historischen Erkenntnis selbst, sondern in der Beziehung der Geschichte auf das Handeln in der Kirche. „Das ist auch der Sinn der ganzen geschichtlichen Arbeit der Theologie: Erkenntnis der Vergangenheit im Dienste der in der Zukunft liegenden Zwecke. Von da aus ist es nicht schwer, unsere Methode in der Pr.Th. zu rechtfertigen. Wir wollen vom historisch festgestellten Zweck und dem historisch verständlich gemachten Boden ausgehen, um an der Hand geschichtlich begründeter Regeln nach Grundsätzen zu suchen, die von der Wirklichkeit nach dem Ideal führen. Diese Aufgabe erheischt also keine kausale, sondern eine finale, teleologische Methode." Die Grundform einer wissenschaftlichen praktischen Theologie wäre „ein straff gespanntes Netz von Grundsätzen kirchlicher Arbeit, das sich zwischen Ziel und Wirklichkeit ausdehnte und in dem jeder Grundsatz seine notwendige Stelle einnähme" 33 . Niebergall überträgt dieses methodische Modell auf die Homiletik. Sie hat die Aufgabe, „tüchtige und erfolgreichere Prediger großzuziehen". „Ein geschichtlicher Teil müßte zuerst die Geschichte der Predigt bearbeiten. Dabei käme es darauf an, nachzuweisen, wie sich immer aus einer ganz besonderen Zeitlage mit ihren religiösen, kulturellen und sozialen Faktoschichte dieser praktisch-theologischen Arbeitszweige abhandelt. Niebergall schreibt: „Achelis ζ. B. bietet gewiß alles Wißbare aus dem ganzen Gebiete. Aber er bietet des Historischen zu viel; es tritt die Historie aus ihrer dienenden Stellung heraus, die uns ein Verständnis von Ziel und Wirklichkeit vermitteln soll, und lagert sich breit vor die oft knappe Darstellung der Grundsätze des Verfahrens, ohne daß diese aus der Geschichte, der Fundgrube der Ideale, Tendenzen und Gesetze gewonnen wären." (Grundlagen, aaO., S. 271). 32 Grundlagen 27lf. 33 AaO., S. 276.
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ren eine gewisse Art der Predigt ergeben hat. Daraus müssen sich Regeln ableiten lassen, wie die Aufgabe der Predigt unter den heutigen Verhältnissen zu fassen ist. Ferner wäre dabei darauf zu achten, wie die aufeinander folgenden Predigtarten und Predigtideale Momente enthalten haben, von denen die einen wieder versunken und die andern auf längere Zeit hin geblieben sind, und warum das so geschah. Wichtig wäre auch eine Prüfung des Erfolgs und Mißerfolgs bestimmter Predigtweisen, um Regeln und Gesetze für unser heutiges Verfahren zu gewinnen. Daneben muß in diesem Teile der geschichtliche Predigtstoff d. h. vor allem die Schrift eingehend untersucht werden, natürlich mit dem Auge des historisch geschulten Theologen. Dabei würde sich der ganz praktische Charakter der biblischen Schriften herausstellen; und fiele auch manche herkömmliche Anwendung der Kritik zum Opfer, aus dem eigentlich historischen Sinn würde sich manche ungleich treffendere Anwendung ergeben; denn die Tendenz der Einwirkung und die Art der Menschen sind heut noch ungefähr dieselben wie damals. Auf der andern Seite erkennt der historische Blick auch, welche Anwendung aus einer rein zeitgeschichtlich erklärbaren Gedankenreihe herauszuholen ist, etwa aus der Messianität Jesu oder den Genesiserzählungen; denn er erkennt den innersten die Erzählung konstituierenden Gedanken und den auf der Linie historischer Kontinuität liegenden Gegenwartswert jener Geschichten und Gedanken. Daran schlösse sich in einem zweiten Teile das Studium des entfernteren Objektes, der Menschen. Wie stehen sie der Predigt gegenüber? Warum suchen und warum meiden sie sie? Wie ist das historisch zu erklären? Welche rei. Interessen und Vorstellungen haben heute die Leute in den verschiedenen Kreisen, Gegenden und Schichten? In welcher seelischen Verfassung sind die Konfirmanden bei der Konfirmation, die Leidtragenden auf dem Kirchhof? Wie ist psychologisch angesehen der Mensch überhaupt zu beeinflussen? Wodurch läßt er sich erheben, bewegen und trösten? Wie verhalten sich untereinander Vorstellung, Gefühl und Wille? Was ist zu machen, wenn der Kopf atheistisch ist, aber das Herz ist voll Sehnsucht nach Gott? Auf diesen beiden Pfeilern, Ideal und empirische Wirklichkeit, müßte sich dann die Theorie der heutigen Predigt und lit. Rede erheben. Es muß dabei genau erwogen werden, welche Resultate sich aus dem geschichtlichen Idealbegriff und der Art der Leute von heute ergiebt; beide Rücksichten müssen Inhalt und Form der Predigt bestimmen, keine allein; sonst werden wir entweder der Vergangenheit oder der Gegenwart nicht gerecht." 3 4
2. Die kritische
Funktion
der theologischen
Theorie
Die Anwendung induktiver und deskriptiver Methoden in der praktischen Theologie ergibt sich für Niebergall und seine Freunde aber nun keines34
AaO., S. 276f.
132
wegs aus einer restaurativen Haltung gegenüber der kirchlichen Praxis. Niebergall begnügt sich durchaus nicht mit der Festschreibung der kirchlichen Verhältnisse. Vielmehr wendet sich das Interesse an der Gegenwart gerade gegen eine praktische Disziplin, die sich in das System einer historisch beherrschten Theologie einfügt und damit für die Entwicklung der kirchlichen Praxis beinahe bedeutungslos wird. Die von Niebergall konzipierte Praktische Theologie beschreibt nicht das Ergebnis historischer Entwicklungen in der religiösen Praxis, sondern sie zeigt Impulse, Tendenzen und Ziele auf, sie setzt Ideale in Praxis um und wird so in der Tat zu einer kritischen Theorie der Predigt. Niebergall ist sich bewußt, daß in den gegenwärtigen theologischen und kirchlichen Verhältnissen die Theorie durchaus nicht hinter der Praxis herhinkt. Das Grundproblem „der Praktischen Theologie jeder Zeit und darum auch der unsern" stellt sich vielmehr umgekehrt. Die praktische Theologie hat „das Verhältnis zwischen Theologie und Praxis in Ordnung zu bringen. Gar leicht verschiebt sich dieses, wenn, wie man es immer ausdrücken mag, die Theologie vorauseilt oder die Praxis zurückbleibt, wobei jede von beiden den ihr eingebornen Gesetzen Folge leistet. Den Schaden daVon haben aber stets die Pfarrer und Religionslehrer, die an beiden Gebieten Teil haben, ohne daß es ihnen immer gelingt, die Theologie in praktisch verwertbare Stoffe und gangbare Wege umzusetzen oder sich mit ihrer Praxis von der alten auf die neue Theologie umzubasieren" 35 . Das Problem, das mit dem Theorie-Praxis-Verhältnis angesprochen wird, besteht nicht in einem scharfen Dissens zwischen theologischer Theorie und kirchlichem Handeln. Gerade die moderne Predigtbewegung thematisiert ja ständig den Zusammenhang zwischen praktischen und theoretischen Tendenzen in der Kultur der modernen Welt. Auch bei der Beschreibung des aktuellen Theorie-Praxis-Problems geht Niebergall davon aus, daß einerseits in der religiösen Praxis der Gegenwart „ein weiter Zusammenklang in der Frömmigkeit herrscht" und daß sich andererseits auch die kritischen theologischen Arbeitsmethoden weithin durchgesetzt haben, „so daß ein Unterschied nur in dem Grad ihrer Anwendung und in den Ergebnissen, aber nicht in ihrer grundsätzlichen Anerkennung zu finden ist" 36 . Trotzdem müssen die parallelen Tendenzen in der Theorie und in der Praxis der Kirche noch bewußt aufeinander bezogen werden. Es gehört zu den Grundaufgaben der praktischen Theologie: „die Übereinstimmung zwischen Theologie und Praxis herzustellen, die wir haben müssen, um nicht nur ein gutes Gewissen, sondern auch eine ungebrochene Kraft für die großen Aufgaben zu gewinnen, die unser warten" 37 . 35
Theologie und Praxis I. Ebd. 37 Niebergall, aaO., II. — Ähnlich begründet schon Schleiermacher die Notwendigkeit einer praktisch-theologischen Theorie in seiner Praktischen Theologie (Werke I 13, 36
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Die bewußte Verknüpfung von Theorie und Praxis des kirchlichen Handelns ist sowohl eine praktische Aufgabe des Pfarrers als auch der theoretische Ansatzpunkt der praktischen Theologie. Soll die praktische Theologie nicht nur eine zufällige Sammlung von Erfahrungssätzen und Regeln für die Berufsausübung des Pfarrers sein, sondern beansprucht sie, Theorie zu sein, dann muß sie einen kategorialen Rahmen entwickeln, innerhalb dessen die einzelnen Zweige der kirchlichen Handlungstheorie entfaltet werden. Niebergall konzipiert als allgemeine praktisch-theologische Rahmentheorie eine „religionswissenschaftlich begründete Religionspädagogik" 38 . „Diese soll uns eine Theorie für alles kirchliche und unterrichtliche Handeln darbieten, bei dem es um die Erweckung und Pflege christlicher Religion zu tun ist." 3 9 Mit dem Begriff der Religionswissenschaft 40 thematisiert Niebergall die gegenwärtige aktuelle Beziehung von Theorie und Praxis der kirchlichen Berufe. Einerseits „ist der Einfluß der religionswissenschaftlich arbeitenden Theologie so groß, daß wir der Frage nicht ausweichen können, welche Folgerungen für die Praxis wir aus ihrer Herrschaft ziehen müssen." Andererseits hat aber „jede theologische Gesamtrichtung eine bestimmte Religionspädagogik . . . , die ihrem Wesen entspricht". Es besteht also eine der theoretischen Reflexion vorgängige Beziehung zwischen religiöser Theorie und Praxis. „Diese Abhängigkeit der Praxis von der Theorie beruht zum Teil einfach auf dem unbewußten Zusammenhang, der sich in einheitlich gerichteten Menschen zwischen beiden anbahnen muß; zum Teil freilich beruht er auch auf der grundsätzlichen Erkenntnis, daß man die Folgerungen 1 8 5 0 , bes. 5f.). Die moderne Predigtbewegung ist selbst ein Exempel für Niebergalls Verständnis des Zusammenhangs von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis. Der strukturale Zusammenhang von praktisch-kirchlichen und theologischen Tendenzen ist in Niebergalls Religionsverständnis begründet (Vgl. dazu unten den Abschnitt „Die Theorie der Religion" und auch Niebergalls Schrift „Evangelischer Sozialismus", 1 9 2 0 ) . Die verschiedenen Strömungen und Tendenzen der religiösen Praxis werden in der theologischen Theorie reflektiert. 3 8 In seinem Buch „Theologie und Praxis" ( 1 9 1 6 ) skizziert Niebergall diesen praktischtheologischen Grundansatz in einem abschließenden Kapitel über „Religionswissenschaftliche Religionspädagogik" (aaO., S. 9 I f f . ) , in dem er Homiletik und Katechetik zusammenfaßt. Niebergalls zweibändige Praktische Theologie ( 1 9 1 8 / 1 9 ) trägt den Untertitel „Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage". Auch hier stellt Niebergall im Rahmen eines pädagogischen Zusammenhangs das Ideal der Gemeinde ihren empirischen Erscheinungsformen gegenüber, um dann in diesem Rahmen im zweiten Band die verschiedenen Arbeitszweige der kirchlichen Praxis und der praktisch-theologischen Theorie zu behandeln.
Niebergall, Theologie und Praxis 1. Zu Niebergalls Darstellung der Religionswissenschaft als praktisch-theologische Rahmentheorie vgl. außer Praktische Theologie ( 1 9 1 8 / 1 9 ) und Die wissenschaftlichen Grundlagen der praktischen Theologie ( 1 9 0 3 ) auch: Aus der religionswissenschaftlichen Arbeit, MPTh 19, 1 9 2 3 , 1 9 0 - 1 9 8 . 39
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aus der einen für die andre zu ziehen hat, wenn man überzeugt ist, die richtige Erkenntnis zu haben. Meist freilich hinkt die Praxis der Theorie um einige Zeit nach, weil so schnell alte Gewohnheiten des Handelns neuen Anschauungen nicht Platz machen können. Darum ist gerade die bewußte grundsätzliche Besinnung darüber vonnöten, welche neuen Wege die neue theologische Lage eröffnet und welche alten sie verschließt, welche Vorteile und welche Gefahren sie mit sich bringt." 41 Die Beziehungen, die sich gegenwärtig zwischen der theologischen Theorie und dem praktischen Handeln des Pfarrers entwickeln, sind nach Niebergalls Urteil besonders intensiv. Deshalb wird die praktische Theologie „von jeder allzubescheidenen Haltung von vornherein abzusehen haben". Die praktische Theologie darf sich nicht mit einer rein technischen Anwendung von Erkenntnissen und Prinzipien der übrigen theologischen Disziplinen begnügen und auf ein eigenes Gewicht im Zusammenhang der theologischen Theoriebildung verzichten. „Vielmehr glauben wir, daß wir viel zuversichtlicher reden können: Eine den heutigen Verhältnissen angepaßte Praxis wird ihre beste Grundlage in einer religionswissenschaftlich gegründeten Theologie, und diese wird ihre ganz naturnotwendige Auswirkung in einer Praxis von jener Art zu finden haben. Als der wichtigste Punkt für diese Verbindung wird sich uns der Sinn für das praktische religiöse Subjekt herausstellen, der beiden gemeinsam und wesentlich ist." 42 Die Thematisierung des modernen Menschen ist für Niebergall mehr als nur der methodische Reflex eines neuen praktisch-theologischen Bewußtseins. Der moderne Mensch ist der Bezugspunkt der Berufspraxis des Pfarrers. Und er soll daher nach dem Willen Niebergalls auch ein wesentlicher Gegenstand der ganzen Theologie werden. In der Konzentration auf den Hörer der Predigt sieht Niebergall die aktuelle Modifikation des Problemzusammenhangs von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis. Zwischen beiden hat es nie an Spannungen gefehlt. „Die Praxis ist in der Regel konservativ und behutsam, die Theorie fortschrittlich und kühn; die Praxis hat es mit lebendigen Menschen zu tun, während die Theorie auf Erkenntnisse ausgeht; die Praxis rechnet mit Zwecken, die Theorie mit Ursachen; die Praxis bedarf dringend des absoluten Tones, während die Theorie leicht dem relativistischen Geiste verfällt." Gerade wegen dieses Spannungsverhältnisses sind Theorie und Praxis des kirchlichen Handelns aber aufeinander angewiesen. „Sie gehören zusammen in eine bestimmte Zeit hinein, der sie entspringen und auch zu dienen haben; die Theologie braucht auch, wenn auch noch so verborgen und unbewußt, einen Zweck und Sinn, dem sie dient, ebenso wie die Praxis im ganzen einer theoretischen Grundlage nicht ermangeln kann." Die kirchliche Praxis kann sich daher nicht unabhängig von der Theologie entwickeln. Sie folgt — wie Niebergall bemerkt — 41
42
Theologie und Praxis, l f .
AaO., S. 2. 135
„nur in einem gewissen Abstand der Theologie nach; zuerst sind es die unruhigen Geister, die neue Wege gehen müssen, endlich aber folgen ihnen auch die Gegner selber. Freilich bis dahin wird immer gegen die neue Form der Theologie die Behauptung ausgespielt, daß sie für die Praxis nichts tauge, weil man so ganz und gar in der alten Praxis steht und verharrt, daß man sich keine andre Art denken kann. Im Grunde fehlt es nur an dem Vertrauen, daß eine jede ausgesprochene Gestalt des Denkens über unser Christentum nicht von ungefähr, sondern von dem Lenker der ganzen geistigen Entwicklung der Menschheit herkommen muß; aus diesem Vertrauen muß dann die Überzeugung erwachsen, daß jene neue Gestalt der Theologie auch für die Arbeit an den Menschen etwas zu bieten haben muß, die derselben Zeit angehören wie sie selbst. Diesen Standpunkt nehmen wir von vornherein ein: es muß die neuere Theologie um Gottes willen, von dem sie kommt und dem sie dient, etwas für die Aufgabe zu bieten haben, die Menschen der neueren Zeit zu diesem Gott hinzuführen, der sie anders geschaffen hat als frühere Geschlechter. Was sagt uns Gott in dieser ganzen Bewegung und was will Gott von uns? — das ist die leitende Frage. So allein darf man die moderne Denkweise, die sich so oft ungläubig nennen lassen muß, vom Standpunkt des Glaubens aus werten und verwerten" 4 3 . Gerade vom Standpunkt des reformatorischen Glaubens aus stellt sich Niebergall die moderne Religiosität als die göttlichere und menschlichere zugleich dar, als eine Frömmigkeit, die Glaube und Freiheit miteinander verbindet 4 3 3 . Für den „alten Typus" der Frömmigkeit stellte sich das Theorie-Praxis-Problem deshalb nicht so vehement, weil diese Frömmigkeit nicht in erster Linie auf praktisches Handeln angelegt war. Ihr ging es weniger darum, „wie man diese Erde besser und glücklicher machen 43
AaO., S. 4f. Niebergall legitimiert die Komplexität der gegenwärtigen Frömmigkeitspraxis mit dem Hinweis auf den Reichtum der religiösen Tendenzen in den biblischen Schriften. In seiner „Praktische(n) Auslegung des Neuen Testaments für Prediger und Religionslehrer" (3. Aufl. 1923; 32) schreibt er: „Wir müssen unsre Leute daran gewöhnen, daß es in der wirklichen Schrift verschiedene Auffassungen gibt, die nebeneinander bestehen und bestehen müssen. Gegen die Leute, die biblischer sein wollen als die Bibel selbst, müssen wir diese Verschiedenheit geltend machen, weniger mit polemischer Rede als in der Tat selbst, indem wir sie in unsem Predigten berücksichtigen. Dadurch erreichen wir ein Zweifaches: wir drängen unsre Hörer auf diese Weise immer mehr von dem, was geringeren Wert hat, zurück auf das, was allein Wert hat, nämlich von den Ansichten auf den Inhalt an Leben und Kraft. Und wir erziehen sie dazu, auch heute noch den vielen Bäumen im Garten Gottes je ihre eigene Rinde zu gönnen. Beides hängt auf das Engste zusammen. Der hochmütig intolerante Standpunkt der ,Nur-Wir'-Leute muß gebrochen werden und durch ein Verständnis- und liebevolles Ertragen ganz anderer Arten von Glauben ersetzt werden. Sie müssen es leiden, daß sich auch noch heute die Sonne Jesu verschieden in den Geistern spiegelt, wie sie es in dem Neuen Testament selbst getan hat." 43a
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kann, sondern man muß ihr Leid in geduldiger Erwartung des besseren Jenseits ertragen. Wer als ein echter Christ auf der Erde leben will, hat sich nicht zu sehr auf ihre Güter, aber auch nicht auf ihre Aufgaben einzulassen; höher als der gewöhnliche irdische Beruf steht das übernatürliche Leben der Abgeschiedenheit und der ausgeprägten Heiligkeit. Die Kirche endlich ist ein besonderes Gebilde in dieser Welt mit allem, was zu ihr gehört" 4 4 . Diese von Niebergall beschriebene Glaubensform wurde freilich — wenn auch nicht in der Praxis, so doch in der Theorie — schon durch die Reformation überwunden. „Die Reformation bedeutet den Versuch, diese Kennzeichen der alten Religion abzustreifen. Darum ist sie ein wichtiges Glied in dem Vorgang der Säkularisation und der Vergeistigung der Religion sowie in der Umwandlung ihres autoritären Charakters." 45 In der religiösen Praxis allerdings „herrscht bis heute ein ähnlicher Geist in dem volkstümlichen Protestantismus wie in dem Katholizismus". Niebergall findet die Grundtendenzen der vorreformatorischen Frömmigkeit in der Neuzeit vor allem in ihrem Exklusivitätsbewußtsein, das Dogmatik und Ethik, Verkündigung und Handeln bestimmt. „Gerade dieser Geist der Ausschließlichkeit ist stark ausgeprägt; das ,Nur Wir' liegt tief im Wesen dieser geschilderten Frömmigkeit begründet: wer die Wahrheit zu haben glaubt, will sie auch ganz und will sie auch allein haben. Dazu tritt dann noch oft genug das Bedürfnis, nicht nur für die eigene Überzeugung einzutreten, sondern auch wider jede fremde Zeugnis abzulegen; es ist, als wenn man jener nicht froh würde ohne Verwahrungen gegen diese. Darin äußert sich die Gewißheit von der Absolutheit der eigenen Religion, die als einzige und unüberbietbare Form der Wahrheit aus einem tiefen seelischen Bedürfnis heraus behauptet wird." 46 Die von Niebergall charakterisierte Frömmigkeit prägt auch die kirchliche Verkündigung. „Die ethische Verkündigung kennt ein gültiges Soll, und zwar in einer klar bestimmten Art. Sie weiß, was sie an Idealen, Aufgaben und Pflichten zu sagen hat. Sie setzt einfache persönliche und soziale Verhältnisse voraus; meist ist es der Geist des alten patriarchalischen Systems, das ihr die Richtschnur gibt. Man bedenke nur, wie einfach sich mit einer kategorischen Anwendung des vierten, des sechsten und siebenten Gebotes die Verhältnisse des Lebens ordnen lassen. So hat man ein bestimmtes Kerygma, einen klar umrissenen Verkündigungsgegenstand. Man weiß, was man will, und man will energisch. Daher stammt der absolute Ton, den man anwendet, wenn es sich um die Regelung des Glaubens und des Lebens handelt. Zwar mag es an Zweifeln und Streitigkeiten, an Fragen und Problemen nicht gefehlt ha44 45 46
Theologie und Praxis, S. 6f. AaO., S. 8. AaO., S. 9.
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ben und fehlen, aber sie spielen sich im ganzen auf derselben objektiven, supra-natural-dualistischen und autoritären Grundlage ab." 4 7 Diese Verkündigungsweise bestimmt zunächst die Form der Predigt. Sie drückt sich „in der Wertschätzung des Textes aus, wenn dieser als Autorität an die Spitze gestellt wird. Auch das übliche Pathos scheint diesem Geiste zu entsprechen; denn es besteht doch in der Angewohnheit von den heiligen Dingen in einem andern Ton zu sprechen als von den Dingen des gewöhnlichen Lebens; ebenso ist es auch mit der Sprache Kanaans; beide Arten religiöser Ausdrucksform sind vielleicht die letzten Ausläufer des Dualismus, der zwischen dem Heiligen und dem Profanen eine Grenze zieht. Was den Inhalt angeht, so wird für ihn der Name .Evangelium' gebraucht. Aber wenn man darauf achtet, was darunter verstanden wird, so ist es in der Regel das paulinische System in seiner reformatorischen Gestalt, etwas Altes Testament und die Wunder des Neuen Testamentes. So ist es eine dogmatische Predigt mit stark weltfremdem Inhalt" 4 8 . Das Theorie-Praxis-Problem der gegenwärtigen Theologie entsteht nun aus der Ablösung dieser dogmatisch orientierten Frömmigkeit. Der Bewußtseinswandel in der Neuzeit hat dazu geführt, daß dieser Frömmigkeitstyp „zwar immer noch für viele Pfarrer, Lehrer und Gemeinden keine Hemmung, sondern eine Förderung ihrer ganzen Eigenart und Betätigung" darstellt. „Aber für andere bedeutet sie keine Förderung, sondern eine Hemmung. Sie können es nicht mehr so halten in ihrem Denken und in ihrem Wirken. Denn es hat in ihnen ein ganz anderes Fühlen und Denken Platz gegriffen." 4 9 In der alten Glaubensweise herrschte ein Bewußtsein der Diastase, des Dualismus. Jetzt „geht das Streben, man möchte beinahe sagen, gemäß dem herrschenden demokratischen Geist, darauf aus, die größten Unterschiede zu verwischen" 50 . Und „endlich ist uns heute der Ton der Autorität gerade auf dem religiösen Gebiete ganz unerträglich geworden; wir wollen, daß hier ein viel freierer Ton herrscht, der der Eigenart des Einzelnen weniger nahe tritt als jener. Damit hängt zusammen, daß wir ganz außerstande sind, so naiv absolut zu denken, wie das die alte Weise tat" 5 1 . Autoritäre Frömmigkeitspraxis und kritische Frömmigkeitstheorie stehen sich damit in Niebergalls Analyse der modernen religiösen Situation unvermittelt gegenüber. Dieser Gegensatz bildet das akute Theorie-PraxisProblem im gegenwärtigen Christentum. „Wo Autorität ist, da kritisiert man nicht, und wo kritisiert wird, ist es mit der Autorität aus." 5 2 Die „kritische Geschichtswissenschaft" ist „geradezu Gift für die Praxis, wenn 47 48 49 50 51
AaO., AaO., Ebd. AaO., AaO.,
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S. 9f. S. 11. S. 12. S. 12f.
52
AaO., S. 14.
sie die Bibel, in der bisher das G ö t t l i c h e g e f u n d e n und aus der der S t o f f für die Verkündigung e n t n o m m e n w u r d e , in solcher Weise behandelt. Ist die Kritik negativ gegenüber allem, w a s bisher g e g o l t e n hatte, so schädigt sie aufs schwerste die Praxis, die auf positives S c h a f f e n angelegt ist" 5 3 . In ähnlicher Weise belasten auch die religionsgeschichtliche Betrachtung des Christentums 5 4 u n d die religionspsychologische Erfassung des christlichen Glaubens 5 5 die kirchliche Verkündigung. Niebergall erkennt dieses Problem deutlich. A b e r er teilt den Pessimismus derjenigen nicht, die in der kritischen T h e o l o g i e nur eine Zerstörung der religiösen Praxis sehen. S c h o n die Tatsache, daß auch im G e b i e t der Relig i o n wissenschaftliche Kritik m ö g l i c h ist, gilt ihm als Rechtfertigung seines religiösen „Optimismus". D e n n m a n k a n n an religiösen F o r m e n nur dann Kritik üben, w e n n m a n sich selbst sicher ist, „ w i e ganz unausweichlich u n s schließlich eine bejahende Stellung zu d e n religiösen Fragen immer sein wird". Alle religiöse Praxis ist getragen „ v o n d e m Drang nach Sinn in der Welt". „Dieses Bedürfnis nach O f f e n b a r u n g u n d Wahrheit, nach Halt u n d G e w i ß h e i t ist so unendlich groß, daß es n o c h lange nicht alles verloren gibt, w e n n das Stück geschichtlicher Wirklichkeit, an das es sich bisher gehalten hat, w e n n auch n o c h so furchtbar v o n der Kritik u n d der Erkenntnis zugerichtet w o r d e n ist." 5 6 53
AaO., S. 20. Relativiert die historische Kritik den Bezugspunkt der Frömmigkeit, so scheint die religionswissenschaftliche Betrachtungsweise das religiöse Bewußtsein noch unmittelbarer zu treffen. Gegenüber einer Theorie, der „das Christentum als ein Bestandteil der großen religiösen Welt" gilt, kann sich die christliche Frömmigkeit, die sich ihrer Eigenart bewußt werden will, nur schwer behaupten. „Die Autorität, die jene eine beansprucht, wenn sich viele ganz naiv ebenso als autoritär geben, hat es nicht leicht, sich zu behaupten. Gar das übliche ,Nur-Wir' des ausgesprochenen Dualismus und Supranaturalismus, also die scharfe Unterscheidung zwischen ,Uns' und den andern, als zwischen der wahren und falschen Religion, muß sich sehr zurückhalten" (Theologie und Praxis 21). Aber nicht erst die Ergebnisse, schon die Methode der religionsgeschichtlichen Kritik zerstört die religiöse Praxis. „Ganz besonders schrecklich muß auf jedes innerhalb des Christentums mit seiner Überzeugung stehende Gemüt diese ganze Art des Ableitens, Vergleichens, Entwickeins und Relativierens wirken; wirkt es doch immer schrecklich auf jeden Menschen, wenn das, was seine stärksten Gefühle erweckt, weil er mit seinem eignen und ganzen Ich dabei ist, anderen nur interessant erscheint" (Theologie und Praxis 23). s4
5ä Auch die Religionspsychologie gehört in den Zusammenhang moderner Religionskritik. Sie zeigt, „wie Religion gemacht wird", und sie stellt dabei die Religion nicht selten als „eine arterhaltende Illusion" dar. „Ist jenes Herumschnüffeln in Gefühlen schon ruinös für jedes religiöse Empfinden, so bedeutet diese letzte und schlimmste Anfechtung das Ende. Die Dogmatik ist am Ende, und die Praxis nicht minder. Hier hört auch der leiseste Klang jenes absoluten Tones auf, ohne den nun einmal ein Predigen unmöglich ist; man kann nicht arterhaltende Illusionen zum Gegenstand der Predigt machen" (Theologie und Praxis 29). — Vgl. dazu auch F. Niebergall, Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule, ZThK 19, 1909, s6 411-474. Theologie und Praxis 31.
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Niebergall sieht die Lösung des Theorie-Praxis-Problems im modernen Christentum deshalb nicht in einer Unterdrückung der theologischen Kritik, sondern in ihrer konsequenten Anwendung auf die kirchliche Praxis. Die Kritik der Theorie zerstört nach seinem Verständnis die Praxis nicht, sondern sie befreit sie von theoretischen Elementen, die dem modernen Wirklichkeitsverständnis nicht mehr entsprechen. „Wir müssen die Deutung der Welt und des Lebens, wie sie ein wesentliches Stück des Glaubens ausmacht, unabhängig machen von der alten Auffassung der geschichtlichen Begebenheiten, mit denen der Glaube aufs engste verwachsen war; ebenso freilich wird es nötig sein, zu beherzigen, daß diese Deutung ebenso wenig mit der neueren Auffassung dieser geschichtlichen Begebenheiten steht, wie sie mit der alten fällt: es können immer Zeiten kommen, die uns mit unserer Auffassung ins Unrecht setzen." 5 7 Gerade wenn man aus der religionspsychologischen Betrachtungsweise lernt, „daß das Beste am Glauben eben jenes Deuten ist", dann verliert die Kritik ihre destruktive Funktion. Dann kann sie zu einem konstruktiven Impuls der theologischen Theorie und der religiösen Praxis werden. Aufgrund des „Glaubens-Α priori" kann der Mensch „Gott im Zusammenhang mit dem wertvollen geistig-persönlichen Leben finden . . . , das wir als das Ergebnis der Arbeit jener drei Methoden an der Geschichte herausstellen wollen" 5 8 . Gelingt es, den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Frömmigkeit aufzuheben und beide zu einen, dann entsteht aus der wissenschaftlichen Kritik eine Belebung der religiösen Praxis, eine „Wiedergewinnung und Vertiefung des Glaubens" 5 9 . s7
AaO., S. 33. AaO., S. 33f. 59 AaO., S. 37f. — Dies gilt in besonderem Maße für die religionsgeschichtliche Betrachtung des Christentums. „So schmerzlich dieses für alle sein mag, die mit ihrem pietätvollen Herzen an der ganzen auf sie gekommenen Uberlieferung hängen, so förderlich ist es für das ganze Christentum. Denn dieser Vergleich hilft dazu, daß Abzüge von diesem Gesamtbestand gemacht werden, so daß immer klarer herauskommt, was nun das Besondre an dem Christentum ist" (Theologie und Praxis 48). Und „dieser Zwang, sich auf das Wesentliche zu besinnen, tut uns darum so gut, weil dieses Wesentliche auf seelisches Verhalten hinzielt, also auf die Aneignung von Trost und Kraft; davon will man nicht immer etwas wissen, weil man fühlt, daß damit auch Verpflichtung einschneidender Art verbunden sind . . . Es ist leichter, an die Heilstatsachen und die Wunder zu glauben, als im Glauben an den Vater immer froh und in der Nachfolge Jesu immer bereit zu Verzichten zu sein" (aaO., S. 50). 58
Die kritische Religionspsychologie endlich löst den Glauben nicht auf, sondern sie bringt ihn zu einem höheren Bewußtsein seiner selbst. „Der Glaube ist ohne Zweifel eine bestimmte Art von Optimismus, also von freudiger Zuversicht; was ihn in klarsten Gegensatz einmal zu dem alten und neuen Intellektualismus, dann aber auch zu dem Pessimismus bringt. Dann aber ist der Glaube im neutestamentlichen Sinn ein ethischer Optimismus, also die Zuversicht, die er enthält, richtet sich auf ethische Werte und Ideale; er besagt, daß diesen Dauer und Sieg innewohnt und daß in dem Ethischen das Glück des Lebens liegt" (aaO., S. 55). — Vgl. dazu noch P. R. Dürselen, Homiletik und Psycho-
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Nach Niebergalls Vorstellung soll die praktische Theologie eine Theorie der religiösen Praxis der Gegenwart entwickeln und damit kritische Theologie und Frömmigkeitspraxis einen. Die kritischen Disziplinen der Theologie würden dann den Glauben nicht nur zu einem höheren Selbstbewußtsein bringen, sondern sie würden auch die Predigtpraxis lebendiger und realistischer gestalten helfen. Die wissenschaftliche Reflexion des Glaubens dient der Verkündigung. Niebergalls Konzeption der praktischen Theologie ist deshalb die praktische Seite der modernen kritischen Theologie. Im Rahmen der kirchlichen Verkündigungsarbeit sind Theorie und Praxis der Frömmigkeit miteinander verbunden. Hier „ruft gleichsam die religionswissenschaftliche Theologie nach einer Fortsetzung in der Praxis, wenn wir mit ihrer Hilfe als das Wesen der Religion das praktische Streben und als das der Religionsgemeinschaften jene religiöse Erziehung und Beeinflussung verstanden haben. Und dann bedarf diese Aufgabe auch der Unterbauung durch jene religionswissenschaftliche Erkenntnisse, die in das Wesen der Religion einzuführen imstande sind" 60 .
3. Die wissenschaftliche
Struktur
der Praktischen
Theologie
Niebergalls System einer praktischen Theorie der beruflichen Pflege von Frömmigkeit stellt nicht nur den Einklang von religiöser Theorie und Praxis her, sondern es ermöglicht zugleich auch die Konzeption einer wissenschaftlichen Praktischen Theologie. Niebergall begreift die „Arbeit der Kirchengemeinde" als „religiöse Erziehung durch die Gemeinde" und die praktische Theologie entsprechend als „Theorie von dieser kirchengemeindlichen Erziehungsarbeit". Für eine so verstandene praktische Theologie ist „die Anlehnung an die Pädagogik das einzig richtige Verfahren. Sie soll eine Reihe von Erkenntnissen und Kenntnissen über die Arbeit der Gemeindeerziehung entwickeln und darbieten, die allmählich in denen, die sie gedanklich und praktisch aufnehmen, zu unbewußten Instinkten und regelnden Grundgefühlen werden können" 61 . Es gelingt Niebergall in seinem pädagogischen Verständnis des kirchlichen Handelns, die vielfältigen Funktionen des Pfarrers als ein geschlossenes logie (1897); Α. Scheller, Die Beeinflussung der Seele in Predigt und Unterricht. Eine Untersuchung über Motive und Quietive (1903); und zum Ganzen: H. Bassermann, Theorie und Praxis mit besonderer Berücksichtigung der Predigt (1906), in: Beiträge zur Praktischen Theologie, 1909, 6 9 - 8 3 . 60 Theologie und Praxis 93. 61 AaO. 91. — Niebergall versteht die Pädagogik in einem sehr weiten Sinn. Sie umfaßt den gesamten Sozialisationsprozeß. Deshalb hebt Niebergall die Pädagogik auch deutlich von aller „Schulmeisterei" ab: „Dabei versteht es sich von selbst, daß man bei Erziehung nicht an Schulmeisterei oder ein übel aufgefaßtes Pädagogentum denken darf, das zumal alle gebildeten Leute sehr unangenehm abstoßen würde" (Theologie und Praxis 91).
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Berufsgebiet zu erfassen und darüber hinaus auch die verschiedenen Disziplinen der praktischen Theologie auf einen theoretischen Nenner zu bringen. Der „Anschluß an die Pädagogik und an die Religionswissenschaft" — so sagt Niebergall selbst — „wird der Praktischen Theologie eine ganz andre Grundlage geben als die Geschichte der kirchlichen Tätigkeiten, auf der sie jetzt ruht. Diese bilden doch zumeist nur die wissenschaftliche Fassade, die aber in der Regel nur Fassade und zwar angeklebte Fassade ist. Werden aber die Tätigkeiten der Kirche pädagogisch und religionswissenschaftlich durchgedacht, dann wird sich ein ganz andres Verständnis ihrer Aufgaben und Wege ergeben als aus der Aufreihung von geschichtlichen Daten, wie sie zumeist die Lehrbücher ungenießbar macht" 62 . Niebergall umreißt die Funktion von Pädagogik und Religionswissenschaft für die praktische Theologie folgendermaßen: „Eine dreifache Bedeutung kann für die Praktische Theologie diese Verbindung mit Pädagogik und Religionswissenschaft gewinnen. Zunächst eine kritische. Das bedeutet: anstatt nur etwa danach zu fragen, wie im dreizehnten Jahrhundert gepredigt worden ist oder woher einzelne Gebete der römischen Messe kommen oder wie der Katechismus Luthers entstanden ist, kann man untersuchen, wie sich die bisherige Praxis zu der bisherigen Auffassung der christlichen Religion verhält . . . Eine andre Religionsauffassung hat Platz gegriffen, die aus der Tiefe herauskommt und mehr in die Tiefe führen will als jene erste. So vor allem kann geschichtliche Erkenntnis, die mehr auf die Religion als auf literarische Urkunden aus der frühern Praxis sieht, der heutigen Praxis helfen, mit Verständnis ihre Arbeit anzufangen und zu begleiten. Aber nur das Verständnis der Dinge, das wir das religionswissenschaftliche nennen, dringt tief genug, um solche Erkenntnisse zu begründen, von denen wir nur die allereinfachste als Beispiel angeführt haben. Neben diesem kritischen Gebrauch kommt der regulative in Betracht. Es handelt sich dabei um regelnde Gesichtspunkte, die positiv das ganze Verfahren des Religionspädagogen leiten sollen. Dabei ist an die Schule nicht weniger gedacht als an die Kirche. Beidemal heißt die Frage: Wie hat auf Grund der neuen Erkenntnisse die Religionspädagogie anders als früher zu verfahren? All die Begriffe, die wir im Lauf unsrer Untersuchung gewonnen haben, kommen hierbei in Betracht: der praktische Zug aller Religion, der emotionale Zug der Seele, die Notwendigkeit der Selbstentfaltung des Einzelwesens auf Grund äußerer Reize, die individuellen Typen, die Art, wie persönliches Leben entsteht und sich überträgt; die Bedeutung des Erlebnisses usw. — Das sind alles Erkenntnisse, wie sie ins Studierzimmer gehören, um das Verfahren zu regeln. J e schneller sie zu unbewußt wirkenden Instinkten werden, desto besser ist es; denn kein Mensch hält es aus, immer sein eignes Verfahren auf einem so zarten Gebiet, wie es die 62
AaO., S. 93.
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Beeinflussung der Seelen ist, mit Grundsätzen und nach Regeln einzuleiten und durchzuführen. Natürlich wird an dritter Stelle auch ein konstitutiver Gebrauch unsrer Erkenntnisse religionswissenschaftlicher Art angebracht sein, also ein Gebrauch, der sie als Inhalt für jede Art von Darbietung verwenden heißt. Dabei kommt die Kritik und die Religionswissenschaft, sowohl die Geschichte als auch die Erforschung der religiösen Seele mannigfach zur Geltung." 63 Die wissenschaftliche Gestaltung der praktischen Theologie kommt auch der homiletischen Praxis zugute. Die historisch-kritische Arbeit der Theologie lehrt, in den neutestamentlichen Texten Typen der Frömmigkeit zu erkennen, die noch heute gültig sind. Sie hilft damit, die religiöse Situation der Gegenwart besser zu verstehen. „Wenn wir einmal soweit sind, daß wir innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft dieselbe Fülle von religiösen und theologischen Typen ertragen können, die der Geist der Kirche im Neuen Testament schier vorsehungsmäßig vereinigt hat, dann haben wir erst die rechte Folgerung aus der historischen Arbeit gezogen." 64 Die historische Kritik dient aber auch einer bewußteren Verwendung der biblischen Texte für die Predigt. „Die geschichtliche Arbeit macht die Zeitlage klar, in der eine Gestalt auftrat, ein Wort gesagt, ein Brief geschrieben wurde. Die Analogie der Lage erst macht die Verwendung eines Bibelwortes als Text frei von den üblichen Willkürlichkeiten und gibt ihm sein inneres Recht für heute und alle Tage. So sehen wir die Menschen in ihrer Not, die damals und heute an allem Menschendasein hängt, es sei innere, es sei äußere Not; wir sehen sie vor ihren Aufgaben und Schwierigkeiten, es seien kleine oder große; in diese Nöte und Aufgaben hinein hat nun der Geist der Bibel den einzelnen Menschen etwas zugesprochen, was sie befähigt hat, über jene hinauszukommen und diese zu lösen. Die Identität oder wenigstens die Ähnlichkeit dieser Lage in allem Menschenwesen macht uns das alles so wertvoll." 65 Auch die religionsgeschichtliche Arbeit der Theologie läßt den Pfarrer die religiöse Situation der Moderne besser verstehen, innerhalb deren sich sein Beruf abspielt. „Die Religionsgeschichte macht uns als religiöse Volkskunde 63
AaO., S. 93ff. (Hervorhebungen von Niebergall). AaO., S. 97. — In Niebergalls System einer Theorie der religiösen Praxis dient auch die historische Forschung der Reflexion der komplexen Verhältnisse in der Gegenwart, ihren Bedingungen und Konsequenzen. 65 AaO., S. 98 (vgl. Corrigenda am Ende des Inhaltsverzeichnisses). — Niebergall stellt hier zwischen der Situation der Gegenwart, also der Situation des Hörers eine ähnliche Beziehung her, wie sie auch in der durch die hermeneutische Reflexion bestimmten Homiletik der Gegenwart anzutreffen ist (vgl. oben den Abschnitt „Der Weg vom Text zur Predigt"). 64
143
diese Identität auf dem eigentlich religiösen Gebiete klar: es gibt sinnlich und geistiger gerichtet Religiöse, es gibt immer noch Kultusreligiöse und Anhänger eines praktischen Lebensglaubens; dazu gibt es kaum irgend welche Vorstellungen in der Vergangenheit, die nicht in irgend einer Umwandlung noch heute die Gedanken der Menschen beherrschten." Die Religionspsychologie schließlich „hilft uns einzelne Stände, Alter, Geschlechter und Stufen nach ihrer religiösen Beschaffenheit hin erfassen: das Kind, das Weib, den Bauern, den naiv Religiösen oder den Bekehrten" 6 6 . Eine Theorie des Pfarrers, die die kritischen Erkenntnisse der Theologie nicht negiert, sondern die Theorie in die Praxis umsetzt, ermöglicht „ein wirklich praktisches und erbauliches Handeln der Kirche, weil es durch die Einsicht in den Zweck und in die Mittel bestimmt ist. Wie o f t aber bleibt man bei den Mitteln stehen, um einen Kultus mit ihnen zu treiben! Denn was ist die übliche Dogmatik und die übliche Kirchlichkeit anders als ein Kultus der Mittel, jene einer der objektiv und geschichtlich gegebenen, diese einer der äußern und äußerlichen Voraussetzungen von heute, unter denen man ein Christ werden kann! Religionsgeschichte und Religionspsychologie warnen uns ausdrücklich davor, nicht von dem Weg zum Ziel auf den Nebenweg der Mittel abzubiegen. Kirchlichkeit und Heilsgeschichte bedeuten nur Möglichkeiten zum Christwerden. Dieses besteht nicht in der Anerkennung und Verherrlichung, sondern im Gebrauch jener Mittel und der Verwirklichung dieser Möglichkeiten" 6 7 . So besteht eine der wesentlichen Aufgaben der praktischen Theologie darin, Theorie und Praxis der Religion in Einklang zu bringen, „Hemmungen in Förderungen" der Frömmigkeit zu verwandeln. „Bestanden die Hemmungen in dem unsichern Boden, auf den die Erkenntnis der Relativität der geschichtlichen Gebilde uns versetzt hatte, in dem Widerstand großer Kreise gegen eine jede Änderung auf diesem Gebiet der Religion, in der eignen innern Unsicherheit, so werden sie ausgeglichen durch die Förderungen, 6 6 AaO., S. 98. — Insofern kann die Religionspsychologie an die soziologische Analyse der Gottesdienstbesucher anknüpfen, Schichten und Typen der Religiosität erfassen und begreifen lehren und damit zu einer genaueren Beziehung der Predigt auf den Hörer beitragen. Auch daran wird der enge Zusammenhang von Religionswissenschaft und Praktischer Theologie in Niebergalls Denken deutlich. 6 7 AaO., S. 99. — Da Niebergall mit Nitzsch (vgl. vor allem Praktische Theologie Bd. II, 52ff.; dazu Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie Bd. 1; 22ff.) den Zweck des kirchlichen Handelns in der Erbauung sieht, ihn also mit der Pädagogik und speziell mit der Religionspädagogik (vgl. dazu Kabisch-Tögel, Wie lehren wir Religion? 6. Aufl. 1923) formal bestimmt, wird das Materiale zum Mittel. Dieser Ansatz ermöglicht zwar eine konsequente Konstruktion einer praktischen Theorie des kirchlichen Handelns, er bringt aber die Gefahr mit sich, daß auch die biblischen Texte wie alle geschichtlichen Momente im Christentum nur hinsichtlich bestimmter formaler Tendenzen, nicht aber im Blick auf ihre Inhalte relevant werden. Diese Konsequenz der Formalisierung der theologischen Theorie wird in Niebergalls homiletischer Schriftinterpretation und in deren Prinzipien deutlich (vgl. vor allem Wie predigen wir, Bd. 1, Iff.).
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die uns aus derselben theologischen Arbeit erwachsen: sie gibt eine tiefere Erkenntnis von dem, was Christentum ist, sie bringt in Einklang mit Zeitströmungen und schenkt uns ein besseres Gewissen. Dazu bietet sie uns eine Reihe von methodischen Winken für unsre Arbeit, die in Instinkte zu übersetzen unsre Hauptaufgabe sein muß." 6 8
II. Die Theorie der Religion 1. Die ethische Tendenz des
Christentums
Die Theorie der .modernen Predigt' greift weit über das traditionelle Gebiet der Homiletik hinaus. Sie verzichtet zwar keineswegs auf die Zusammenstellung technischer Regeln, auf die Konzeption von homiletischen Verfahrensweisen und Modellen 69 . Aber sie begnügt sich auch nicht damit. Niebergalls Entwurf einer praktischen Theorie der Predigt setzt eine umfassende Reflexion der religiösen und kirchlichen Praxis der Gegenwart voraus. Sie kann daher nur in der Zusammenarbeit aller theologischen Disziplinen gewonnen werden. Die Einheit der Theologie hinsichtlich ihrer homiletischen Aufgabe kommt aber vor allem in der Geschlossenheit des methodischen Ansatzes zum Ausdruck, in der Anwendung der kritischen theologischen Methoden auch auf das Gebiet der praktischen Theologie. 68 AaO., S. 100. — Niebergall hält hier noch einmal die Momente fest, die sich für die praktische Berufstätigkeit des Pfarrers aus der engen strukturalen Verflechtung von Theorie und Praxis des kirchlichen Handelns ergeben. Die Grundlage für eine reflektierte Predigtarbeit ist dabei das Verständnis des Christentums, das dessen historische und gegenwärtige Momente zusammensieht und aus dem Vergleich von Ideal und gegenwärtiger Praxis Zielvorstellungen und schließlich Handlungsimpulse entwickelt. — In seinem Rückblick auf die moderne Predigt faßt Niebergall seine Homiletik in das von diesem theoretischen Zusammenhang und seinem pädagogischen Verständnis der Predigtarbeit geprägte Schema von Normen, Zuständen und Hilfsmitteln, innerhalb dessen er Struktur und Funktion des homiletischen Aktes entfaltet (Die moderne Predigt 1929; bes. 168ff.). Dieses Schema benützt Niebergall auch schon in seiner Homiletik (Wie predigen wir dem modernen Menschen Bd. 2, 169ff.). Vgl. dazu auch F. Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der .dialektischen Theologie' in Grundzügen 1969; 176ff. 69 Niebergall entfaltet den praktischen Teil seiner Homiletik ausführlich im zweiten Band von „Wie predigen wir dem modernen Menschen?" Er möchte mit der intensiven Behandlung der technischen Seite der Predigtarbeit die Homiletik aus ihrer vorwiegend oder ausschließlich prinzipiell-theoretischen Bearbeitung seit Schleiermacher befreien und sieht geradezu das Ziel jeder Homiletik in der konsequenten Ableitung technischer Regeln, die freilich einer individuellen und situationsgerechten Anwendung bedürfen. In diesem Teil der Predigttheorie von Niebergall finden sich zahlreiche Momente und Impulse, die die gegenwärtige praktische Homiletik bei der Konzeption homiletischer Verfahren wieder aufnimmt (vgl. dazu oben unseren Abschnitt „Das homiletische Verfahren").
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Die kritische Geschichtswissenschaft, die Religionsgeschichte und die Religionspsychologie sind für Niebergall nicht Hilfswissenschaften einer technisch verstandenen praktischen Theologie, sondern methodische Konsequenzen einer wissenschaftlichen Grundeinstellung, Ausdruck wissenschaftlicher Kritik. Niebergalls Gestaltung der Homiletik unterscheidet sich von anderen homiletischen Theorien durch den spezifischen Grundansatz dieser Predigtlehre. Sie bezeichnet eine bestimmte Position im Gebiet der Predigttheorie. Niebergall nennt sie der ,modernen Predigt' entsprechend „moderne Homiletik" 7 0 . Die Grundpositionen, die Niebergall in der Predigtpraxis analysiert und typisiert — vormoderner, moderner und unmoderner Umgang mit der Wirklichkeit 71 — kehren in der Predigttheorie wieder. Im Verhältnis der homiletischen Ansätze zueinander spiegeln sich die Auseinandersetzungen in der Predigtpraxis. Die unmoderne Predigt behauptet den Primat der kirchlichen Verkündigung und wirft der modernen Predigt die Auflösung von Frömmigkeit und Glauben vor 72 . Die positive Theologie verteidigt nun ganz parallel die Position des Glaubens gegen einen wissenschaftlichen Standpunkt, der die Theologie in Kritik aufzulösen scheint. Niebergall und seine Freunde halten der positiven Predigt aufs entschiedenste entgegen, daß gerade die Thematisierung des Predigthörers nicht nur dem modernen Menschen selbst, sondern vor allem und zuerst dem Evangelium dient und daß die Funktion der Erbauung kein Privileg der unmodernen Predigt ist, sondern daß gerade die moderne Predigt Gemeindeerziehung und damit Erbauung im Sinne des Neuen Testamentes treibt 7 3 . Besonders Niebergall arbeitet geradezu an einer Wiederbelebung des Begriffs der Erbauung, den er zu einem Grundbegriff der homiletischen Prolegomena erhebt 7 4 . 70 Niebergall stellt die „moderne Homiletik" im Anschluß an die Charakterisierung des modernen Menschen und der modernen Theologie dar, in: Die moderne Predigt 1929, 57ff. 71 Vgl. dazu außer Niebergalls zahlreichen Predigtrezensionen vor allem in der „Christlichen Welt" auch: Die moderne Predigt 1929, S. 79ff. 72 Die Entgegnung der Vertreter der modernen Predigt gegen diesen Vorwurf findet sich pointiert in: M. Schian, Die Predigt 1906, S. 44ff. 73 Insofern ist gerade für die moderne Predigt der Zusammenhang von Text und Predigt konstitutiv (Vgl. Wie predigen wir dem modernen Menschen? Bd. 1; Iff. und bes. 3ff.). 74 Der Gedanke, daß die Funktion der Predigt die der Erbauung sei, findet sich in Niebergalls Schriften ständig. Niebergall lehnt sich dabei eng an Nitzsch an, für den sich die „objectiven und subjectiven Bestimmungen der Predigt" in dem „allgemeinen Zweckbegriff: Erbauung der Gemeine Christi" konzentrieren. Nitzsch sieht wie später Niebergall in der Erbauung „die Einheit der kirchlichen Tätigkeiten" thematisiert (C. I. Nitzsch, Praktische Theologie II 2,1: Der Dienst am Wort, 2. Aufl. 1860; 52). Vgl. dazu auch Achelis, aaO I 16ff. und 22ff. Ausführlich behandelt Niebergall den praktisch-theologischen Begriff der Erbauung in seinem Artikel „Erbauung" in RGG2 Bd. 2, Sp. 2 1 1 - 2 1 4 .
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Aber Niebergall begnügt sich nicht mit der Verteidigung der eigenen Position, sondern er untersucht darüber hinaus die theoretischen und praktischen Voraussetzungen beider Grundeinstellungen und der durch sie bedingten theologischen Systeme. Wie sich die .moderne Predigt' durch den höheren Grad an sozialer, an praktischer Funktionalität gegenüber der liberalen, der vormodernen und der unmodernen Predigt legitimiert 7 S , so begründet die „moderne Homiletik" ihren Anspruch auf ein höheres theoretisches Bewußtsein mit ihrer nicht nur methodischen, sondern grundsätzlichen Integration in eine wissenschaftliche und das heißt kritische Theorie der religiösen Praxis, so weit sie die Predigt der Gegenwart betrifft. Der kritische Standpunkt beweist sein Recht über die Grenzen eines schlüssigen theologischen Systems hinaus aber vor allem durch die Möglichkeit, Theorie und Praxis der Religion wissenschaftlich miteinander zu vermitteln und damit das Auseinanderfallen von theologischer Theorie und kirchlicher Praxis zu verhindern 7 6 . Niebergall exemplifiziert sein Theorie-Verständnis außer an der Homiletik und an der kirchlichen Gemeindearbeit auch in einer weitreichenden literarischen Tätigkeit an einem anderen neuralgischen Punkt der kirchlichen Praxis seiner Zeit, am Religionsunterricht 7 7 . Die Streitfrage seiner Zeit, ob Religion lehrbar und wie das Verhältnis von Religion und Kritik im Unterricht zu bestimmen sei, ist die Grundproblematik jedes Religionsunterrichts 7 8 . Aber wie in der Homiletik, so kann auch hier die traditionelle 7 5 Vgl. dazu: Die Moderne Predigt 1929; S. 82ff. und den ersten Band von: Wie predigen wir dem modernen Menschen? 7 6 Zu Niebergalls Religionsverständnis vgl.: Welches ist die beste Religion? 1906; Idealismus, Theosophie und Christentum, 1919; Evangelischer Sozialismus, 1920. 7 7 Von Niebergalls zahlreichen Schriften zur Theorie und Praxis des Religions- und Konfirmandenunterrichts seien genannt: Der neue Religionsunterricht, o . J . ; Prüfung und Konfirmation, MkiPr 2, 1902, 89—94; Die paulinische Erlösungslehre im Konfirmandenunterricht, 1903; Konfirmation und Konfirmandenunterricht, 1903; Konfirmation und Konfirmandenunterricht, MkiPr 6, 1906, 1 3 - 2 0 , 6 2 - 6 9 , 2 3 8 - 2 4 7 , 4 9 5 500; Vom Konfirmandenunterricht, MevRU 1910, 28ff.; Fürsorge für die schulentlassene Jugend in der evangelischen Kirche, Zfjugendwohlf. 1910, 326—335; J e s u s
im Unterricht, ein Handbuch für die Behandlung der neutestamentlichen Geschichten, 1910; J e s u s im Unterricht auf gefuhlspsychologischer Grundlage, 1913; Zur Jugendpsychologie, EvFr 1913, 111 — 124; Unmittelbare und mittelbare religiöse Jugendpflege, EvFr 1913, 1 7 7 - 1 8 7 ; Das Schulgebet, MevRU 1913, 227ff.; Die neuen badischen Bestimmungen über den Religionsunterricht im Lehrerseminar, BlfLehrerbildg. 1915, 16—23; Stimmungskräfte im Religionsunterricht, MevRU 1917; 5—12; Religionswissenschaft und Pädagogik, MevRU 1918, 2—9; Die Bedeutung des Alten Testaments für die Volksbildung ThBl 32, 1922, 188ff.; Das Alte Testament im Unterricht 1923; Christliche Jugend- und Volkserziehung. Eine Religionspädagogik auf religionspsychologischer Grundlage, 1925; Das Heilige in Erziehung und Staat, 1926. 7 8 F. Niebergall, Die Lehrbarkeit der Religion und Die Kritik im Religionsunterricht, MevRU 1, 1908, 2 3 8 - 2 4 3 , 3 5 3 - 3 5 9 . Vgl. auch R. Kabisch-H. Tögel, Wie lehren wir Religion? 6. Aufl. 1923.
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Position nicht für sich beanspruchen, die einzig konstruktive katechetische Methode entwickelt zu haben. Der moderne, der kritische Religionsunterricht liegt vielmehr jenseits von destruktivem Wahrheitsfanatismus einerseits und dem Festhalten am Traditionellen andererseits. Denn „was die Kritik beseitigt, herabsetzt oder angezweifelt hat, ist, ganz im allgemeinen gesagt, nicht geeignet, Religion zu übertragen; zwar ist es lehrbar, vielleicht in ganz besonderem Maße lehrbar, aber was so schön lehrbar ist, ist darum noch nicht Religion. Diese ist um so einfachen Preis nicht zu haben" 7 9 . Das Verständnis für Religion kann vielmehr nur durch kritische Arbeit vermittelt werden, und deshalb steht die theologische „Kritik im Dienst eines höheren Begriffes von Religion und Religionsunterricht". Das höhere Bewußtsein von Religion ist „das Geschenk der kritisch-geschichtlichen Theologie an die Schule der Gegenwart" 8 0 . In gleicher Weise ist für Niebergall das moderne Verständnis der christlichen Religion die Grundlage der theoretischen und praktischen Predigtarbeit. Die Homiletik steht deshalb in einem engen Zusammenhang mit der Religionswissenschaft. Niebergall selbst hat sich in einer Reihe von Schriften mit dem „Wesen des Christentums" 8 1 beschäftigt. Er verfolgt dabei ein doppeltes Interesse. Einmal versucht er unter der Leitfrage „Welches ist die beste Religion?" 8 2 das Christentum aus seinen Grundzügen und seiner gegenwärtigen Gestalt geschichtlich zu begreifen und in der pluralistisch gedachten modernen Welt anderen Religionsformen gegenüberzustellen. Zum anderen versucht er, Struktur und Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft und in der modernen Kultur zu erfassen und dabei vor allem den Zusammenhang von Religion und Ethik zu klären. Innerhalb der ersten, der apologetischen Betrachtungsweise charakterisiert Niebergall die „Gesamtstimmung" des Christentums als „transzendente(n) ethische(n) Optimismus" 8 3 , einen „Optimismus, der der Grundlage unsrer Religion, der frohen Botschaft, entspricht. Ein Christ muß im Grund seines Herzens ein froher und glücklicher Mensch sein. Diese Grundstimmung darf aber nicht die Behaglichkeit des äußeren Lebens zur Voraussetzung haben, um mit ihrem Verschwinden einem öden Pessimismus Platz zu machen; sondern ihre Unterlage muß auf dem Sittlichen ruhen. Alles Christenglaubens Voraussetzung ist die ethische Wertung der Welt und des Lebens. w Niebergall, Lehrbarkeit 353. 80 AaO., S. 359. 81 F. Niebergall, Welches ist die beste Religion? 1906, S. 17. - Zur Reflexion über das Wesen des Christentums in der zeitgenössischen Theologie und überhaupt zum Thema vgl.: R. Schäfer, Welchen Sinn hat es, nach einem Wesen des Christentums zu suchen? ZThK 65, 1968, 3 2 9 - 3 4 7 (Vgl. dort auch das Literaturverzeichnis, aaO., S. 346f., Anm. 52). 82 So lautet der Titel der in Anm. 81 angeführten Schrift von Niebergall. 83 F. Niebergall, Die religiöse Phantasie und die Verkündigung an unsere Zeit, ZThK 16, 1906, S. 2 5 1 - 2 8 5 ; 273.
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Wir können also so sagen: Wenn die optimistische Grundstimmung ethisch geartet ist, wenn die Freude ethischen Mächten, Zielen und Förderungen gilt, dann erst kann man von Christentum zu (sie!) sprechen" 8 4 . Niebergall sieht die Religion in einem engen Zusammenhang mit der Ethik. Die Weltanschauung ist dagegen eine sekundäre Funktion des Religiösen 85 . Alle drei Momente der Wirklichkeit — religiöse Motivation, ethische Interessen und Weltkonstruktion — gehören aber untrennbar zusammen. Sie bilden den Horizont, innerhalb dessen sich der Mensch definiert 86 . Und nicht nur die einzelnen Elemente des Orientierungs- und Handlungssystems, sondern auch die Konstruktion dieses Systems und seiner integrativen Funktionen sind historisch bedingt und daher im Wandel begriffen. So versteht Niebergall das wachsende soziale Interesse in der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg im Zusammenhang mit einer Veränderung der Gewichte zwischen Religion und Moral. Und er begreift die historische Aufgabe der Kultur der Zwanziger Jahre als eine Aufarbeitung der Erschütterungen, die der verlorene Krieg für Religion, Moral und Kultur bedeutet. „Schwere Erschütterungen des äußern persönlichen oder öffentlichen Lebens setzen sich immer bis in das innerste Leben aller nachdenkenden ernsten Menschen hinein fort: sie bringen alten Glauben und festgegründete Lebens- und Weltanschauung ins Wanken und wühlen Fragen wieder auf, die längst für immer beantwortet schienen. Zwar versuchen immer träge oder selbstbewußte Menschen auch jene Ereignisse dogmatisch in den Rahmen ihres Glaubens oder Denkens hineinzuspannen; aber andre, für die es sich weniger um das Rechthaben als um die Wahrheit handelt, lassen sich von den Ereignissen belehren und weiterführen, wenn es sich herausgestellt hat, daß der Maßstab, mit dem sie sie maßen, ungeeignet geworden ist." 8 7 Die Darstellung der Maßstäbe, der Orientierungen und Motivationen für das persönliche und öffentliche Leben ist Aufgabe der Ethik. Niebergalls praktisch-theologische Überlegungen führen deshalb in der Zeit nach dem Krieg immer mehr ins Gebiet der Ethik 8 8 . Die Ethik kann aber gar nicht et Niebergall, aaO., S. 272. 8 5 „Eine solche Weltanschauung gehört natürlich auch zum Christentum, jedoch als ein Bestandteil zweiter Ordnung. Da es eine Religion ist, spielen in ihm die erste Rolle die Interessen. Wir haben also in erster Linie nach den im Christentum, dem normalen und dem idealen Christentum, herrschenden Interessen zu fragen, um dann zu der Art der Weltauffassung überzugehen und endlich die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Punkte zu dem historischen Grunde zu untersuchen, auf dem es erwachsen ist" (Welches ist die beste Religion?, S. 17). 8 6 Die Analyse des Wirklichkeitsverständnisses des modernen Menschen bildet die Grundlage für Niebergalls Praktische Theologie und besonders für seine Homiletik (vgl. Die moderne Predigt, ZThK 15, 1905, 2 0 3 - 2 7 1 ; Die moderne Predigt, 1929). 8 7 F. Niebergall, Idealismus, Theosophie und Christentum, 1919, S. 3. 8 8 Vgl. vor allem die Sozialethik „Evangelischer Sozialismus" von 1920.
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isoliert, sondern nur aus der engen Verflechtung mit der religiösen Motivierung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens verstanden werden. Der soziale Geist der Nachkriegszeit hängt nach Niebergalls Verständnis mit einem religiösen Umbruch zusammen, den er vor allem mit dem Werk Rudolf Ottos verbindet. Sein Buch „Das Heilige" wird nach Niebergalls Urteil „einmal wie einst in einer ähnlichen Lage die Reden von Schleiermacher zu den Signalen gerechnet werden, die ein neues Verständnis für Eigenart und Eigenrecht der Religion ankündigen" 8 9 . Diese religiöse Umwälzung weckt aber auch ein vertieftes Verständnis für den Zusammenhang von Religion und Moral im Wertesystem der Gegenwart. Das „Vertrauen auf den Erhalter der Werte in dem Wertwiderstreit der Welt darf nicht als eine irgendwoher gewonnene kahle Gewißheit den Geist beherrschen, sondern sie soll umhüllt sein von allen Gefühlen ehrfürchtiger Scheu vor der geheimnisvollen Macht des überweltlichen, heiligen Gottes; denn sonst ist es keine Religion, sondern höchstens eine praktische Moralphilosophie, die wir darbieten" 9 0 . Die verpflichtende Kraft der ethischen Orientierung beruht gerade auf der Unmittelbarkeit der religiösen Motivation. „Der seltsame innere Zwang, zu allen lebenswichtigen Erscheinungen Gott als Subjekt und zu allen lebenswichtigen Entscheidungen Gott als Richtpunkt zu setzen: das ist gleichsam ein religiöses Apriori, eine notwendige geistig-seelische Funktion von unbedingter Unmittelbarkeit und Naivität." 9 1 Während Frömmigkeit und Sittlichkeit „die Praxis des Lebens" bezeichnen, nennt Niebergall Religion und Moral „das Prinzip, nach dem dieses verläuft". „Die Moral ordnet im Sinn einer solchen absoluten Macht die Beziehungen des Menschen zu seiner leiblich-seelischen Natur, zu seinen Mitmenschen und zu seiner Umwelt: und zwar in dem Sinn, daß er dies soll und jenes nicht darf. Die Religion dagegen ordnet sein Verhältnis zu überweltlichen Willensmächten, also zur Gottheit; sie gibt eine Deutung von Leben und Welt unter dem Gesichtspunkt dieses Willens und läßt ihn die Welt nach dessen Ordnungen anfassen." 9 2 Die Religion ist in Niebergalls Denken die höchste Motivation der moralischen Orientierung. Moral ohne Religion, „Humanität", ist daher „verkleideter Egoismus, als welcher sich ja auch leider so viele sog. Religion herausstellt, wenn man auf ihre Motive sieht." Niebergall wehrt sich deshalb gegen eine Interpretation, die das Christentum nicht als Religion versteht, gegen „alle sich pädagogisch oder politisch an das Christentum hères F. Niebergall, Aus der religionswissenschaftlichen Arbeit MPTh 19, 1923, 1 9 0 - 1 9 8 ; 193. - Vgl. auch R. Otto, Das Heilige, 1917. 90 Niebergall, aaO., S. 198. 91 F. Niebergall, Religionswissenschaft und Praktische Theologie, in: Titius (Hg.) Deutsche Theologie, 1928; 2 1 4 - 2 1 7 ; 215. « F. Niebergall, Religion und Moral, MevRU 14, 1921, S. 2 4 1 - 2 5 1 ; 241.
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anmachenden Bestrebungen" 93 . „Das Christentum ist, um es immer wieder zu sagen, Religion: Gott spielt in ihm die erste Rolle . . . Es ist Religion, das heißt: es handelt sich um Gott und das Leben vor Gott und in Gott, um Leben und Seligkeit. Das Sittliche darf durchaus nicht als Zweck, sondern nur als Folge gefaßt werden. Jede wohlwollende oder berechnete Pflege der Religion, die mehr an die sittlichen Früchte als an den Stamm denkt, ist eine Verfehlung gegen den Gott, der immer nur als Gott, also als höchster und alleiniger Herr verehrt und geglaubt werden will." 94 Andererseits gibt es Religion freilich auch nicht ohne die Konsequenz des sozialen Handelns. Dies gilt in besonderem Maße für das Christentum. „Ohne sittliches Interesse ist überhaupt gar kein Sinn für Christentum denkbar. Ist es doch ganz und gar ethisch durchwachsen, so daß man sagen kann, beide Seiten an ihm seien durchaus eines, höchstens durch unsre nachträgliche Reflexion zu trennen, während den großen Urhebern unserer Religion gar nicht der Gedanke daran kommt, daß hier überhaupt nur etwas zu unterscheiden sei." 95 In der christlichen Religiosität gehören Vertrauen und Verantwortung, religiöser und ethischer Impuls unlösbar zusammen. Das Christentum „macht die Verantwortung für andre immer stärker empfinden und drückt uns die Aufgaben unter den Menschen immer schärfer in die Seele. Als Umgang mit dem lebendigen Gott erhebt es über die Gefahren der reinen Moral, die zu große Nachsicht und die zu große Gesetzlichkeit, und bahnt so das Werden von bis ins Letzte durchgebildeten Persönlichkeiten an" 96 . Niebergalls religionswissenschaftlich begründete Ethik wendet sich einmal den Wertorientierungen des einzelnen zu. , Jeder hat in sich ein mehr oder weniger geordnetes System von Werten." Niebergalls ethisches Interesse gilt aber ebenso den ethischen und religiösen Grundlagen der Gesellschaft. Die soziale Funktion der Religion ist so umfassend, „daß kein Geschäft ohne Weihe und ohne schützende Bräuche wider böse Geister vor sich geht." Ebenso hat die Religion auch auf der kulturellen Ebene eine integrierende Funktion. „In aller Kultur ist der religiöse Untergrund noch spürbar. Ihren Kultus nicht nur, sondern auch ihre Denkformen entnimmt die Religion der Kultur der Zeiten. Die Religion ist mit dem Recht, mit der Moral aufs engste verwachsen." Auch in der komplexen modernen Gesellschaft, in der sich die Lebensformen und die Institutionen immer weiter ausdifferenzieren, gehen die sozialen Beziehungen und Funktionen der Religion nicht verloren. „Stets bleiben noch mehr oder weniger bewußte Beziehungen, als religiöser Grund des Volkslebens, als metaphysiM Niebergall, aaO., S. 247. AaO., S. 246. »5 AaO., S. 245. »« AaO., S. 249. - Vgl. auch Niebergalls Buch „Person und Persönlichkeit", 1911. 151
sches F u n d a m e n t der Kultur, als nationales u n d kulturelles Gewand der Religion." 9 7
2. Der ethische
Charakter der homiletischen
Berufsaufgabe
Am ausführlichsten beschäftigt sich Niebergall in seinem Buch „Evangelischer Sozialismus" mit den ethischen Problemen der m o d e r n e n Gesellschaft. Diese Sozialethik steht in engem Zusammenhang mit seinen religionswissenschaftlichen und praktisch-theologischen Überlegungen. Sie setzt mit der Erkenntnis ein: „Die tiefsten Gründe für die sozialen und wirtschaftlichen Dinge liegen in sittlichen und eben darum auch in religiösen Überzeugungen." Niebergalls Theorie der religiösen Sozialisation nimmt deshalb an der allgemeinen gesellschaftlichen Aufgabe teil, „etwas zur Besserung der Verhältnisse beizutragen". Und sie teilt mit der m o d e r n e n Zeit das allgemeine soziale Bewußtsein. „Es ist doch dies das Merkmal für die gegenwärtige Lage auf dem sozialen Gebiet: die Christen und Idealisten überhaupt b e k o m m e n m e h r Verständnis für die Bedeutung, die die soziale und wirtschaftliche Umwelt für das sittliche und religiöse Leben hat; und die Sachverständigen dieses Gebietes e r ö f f n e n sich immer mehr der Erkenntnis, welchen Einfluß die geistigen K r ä f t e auf diesen scheinbar so starren Teil des Gesamtlebens ausüben." 9 8 Ist im Christentum Religion und Ethik am vollkommensten miteinander verbunden, d a n n k ö n n e n die Christen nicht abseits des sozialen Lebens der Gegenwart stehen. Denn es ist sicher, „daß es niemals ein wirtschaftliches Leben gegeben hat, das nicht in irgendeiner Verbindung mit sittlichen Maßstäben gestanden hätte; und nie eine Form des kirchlichen oder auch außerkirchlichen Christentums von größerem Gewicht ohne jede Beziehung zu dem wirtschaftlichen Leben" 9 9 . Das soziale Engagement ist ein notwendiges Lebenselement des Christentums. Es genügt nicht, „daß das Christentum bloß seine Morallehren und seine geistigen Hilfen anbietet; es m u ß auch dazu antreiben, nachzusehen, ob es überhaupt möglich ist, jene anzunehmen u n d von diesen Gebrauch zu machen. Es ist also eine mittelbare seelsorgerliche und volkserziehliche Pflicht, sich auch u m F. Niebergall, Volk, Kultur, Religion, MevRU 24, 1931, 1 - 7 ; 4. F. Niebergall, Evangelischer Sozialismus, 1920; III. — Niebergall untersucht in diesem Buch nach einer allgemeinen Einleitung über .Glaube und Arbeit' und .Christentum und soziales Leben' zunächst die geschichtliche Entwicklung der sozialen Verhältnisse und der ethischen Ideen (17ff.), um daraus dann die gegenwärtigen ethischen Aufgaben abzuleiten (165 ff.). — Vgl. auch die Beiträge in dem Sammelband von Wilke (Hrsg.), Religion und Sozialismus; P. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 1933; ähnlich auch G. Traub, Ethik und Kapitalismus, 2. Aufl., 1909. Zum Ganzen vgl. noch: W. Deresch, Predigt und Agitation der religiösen Sozialisten, 1971. 99 F. Niebergall, Evangelischer Sozialismus, S. 11. 98
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diese Dinge zu kümmern. Es ist herzlos, von sichern Verhältnissen aus, wo alles äußere Dasein sittlich und fromm zu leben erlaubt, den andern Mahnungen und Ratschläge zufließen zu lassen" 100 . Oder — in eine eingängige Devise gefaßt —: „ G o t t ruft die Christen und Gott ruft die Kirche zur Tat auf." 1 0 1 Die christliche Verkündigung ist vom sozialen Handeln gar nicht zu trennen. Es ist „eine unabweisbare Pflicht, die mit der Verkündigung des Glaubens an Gott verbunden ist, daß man die Weltverhältnisse so gestalten hilft, daß in ihnen kein Hindernis liegt, den gerechten und gütigen Gott zu verehren. Damit andre Gott vertrauen können, müssen wir im Dienst desselben Gottes Liebe üben und Übel samt Ungerechtigkeiten beseitigen." 102 Niebergalls Ethik entfaltet den sozialen Horizont des Pfarrerberufs bis ins einzelne. Sie geht der Wirtschaftsordnung und ihrer Geschichte nach, zeichnet den Kapitalismus als ökonomisches System 103 und als „Ausdruck einer bestimmten Gesinnung" 104 und klagt schließlich seine unsozialen Konsequenzen in der Akkumulation des Kapitals, in der Presse und im Wohnungsmarkt an105. Gerade der Pfarrer, der in der Predigt mehr will als nur Bestehendes sanktionieren, muß sich nach Niebergalls Erkenntnis eine genaue Anschauung der sozialen Verhältnisse in der modernen Gesellschaft verschaffen. Der Pfarrer hat wie der Arzt, der Lehrer, der Verwaltungsbeamte und der Richter einen Beruf, der den Menschen dient. Der gesellschaftliche Berufskreis des Pfarrers, die Religion, hängt „auf das engste mit der Weltanschauung, mit der wirtschaftlichen Lage und mit der ganzen politischen Verfassung einer Zeit zusammen" 106 . Niebergall wendet diese allgemeinen ethischen Erkenntnisse auf die spezielle historisch und sozial bedingte Form des traditionellen Christentums an. „Das Christentum, wie wir es überkommen haben, hat doch offenbar eine sehr innige Verbindung mit der alten Naturansicht und dem alten Weltbild, mit der ländlich-kleinbürgerlichen Gedanken- und Gefühlswelt und mit dem herrschenden Staate geschlossen" 107 . Unter den veränderten Bedingungen der modernen Gesellschaft jedoch wirkt eine Kirche, die „mit " » Niebergall, aaO., S. 13. 101 AaO., S. 4. 102 AaO., S. 16. 103 A a O . , S. 33ff. 104 A a O . , S. 47. los
>J e größere Vermögen sich in wenigen Händen vereinigen, desto mehr muß sich
die Gesellschaft proletarisieren, weil die Großen alle Kleinen erbarmungslos zwischen sich zerreiben" (aaO., S. 49). „ D i e Zeitungen sind ganz kapitalistische Unternehmungen geworden und haben nur zum Schein eine politische Gesinnung" (aaO., S. 50). „ D i e Wohnungspolitik in den großen Städten ist von jeher rein kapitalistisch gerichtet gewesen; das Kapital brachte das Gelände in seinen Besitz und verkaufte es zu hohen Preisen weiter, so daß die hohen Mietkasernen errichtet werden mußten, um die Zinsen aufzubringen" (aaO., S. 50f.). 106 Niebergall, aaO., S. 88.
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Ebd.
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dem Staat und den in ihm herrschenden Klassen und Ständen amtlich und durch Gewohnheit vielfach verquickt und vermengt i s t " 1 0 8 , nicht nur anachronistisch, sondern vor allem auch unsozial. Aus der gesellschaftlichen Position der Kirche erklärt Niebergall „die religionsfeindliche Stellung des größten Teiles der Arbeiterschaft" 1 0 9 . Nach seiner Meinung ist in der modernen Gesellschaft „gar nichts für das Christentum zu hoffen, solange es die Verbindung mit jenen kulturellen Verbindungen aufrecht erhält, die das Klassengefühl der Sozialdemokratie und auch der Arbeiterschaft überhaupt verletzen. Vielleicht stellt sich einmal für die amtlichen Träger der Religion der Augenblick ein, wo sie sich fragen, ob jene Bande nicht eine starke Lockerung vertragen k ö n n e n " 1 1 0 . Der Pfarrer nimmt wegen seines Berufs besonders intensiv an den umfassenden gesellschaftlichen Bewegungen teil, die gegenwärtig auf eine Neuordnung der sozialen Verhältnisse hindrängen. Das Christentum, das als ethische Religion mit der sozialen Gestaltung der Wirklichkeit aufs engste verbunden ist, braucht sich — so Niebergall — der Gesellschaft mit der Sozialdemokratie nicht zu schämen. „Wir machen dem materialistischen und idealistischen Klassensozialismus der Sozialdemokratie das Privateigentum an dem Worte streitig, indem wir behaupten, daß es auch einen christlichen Sozialismus g i b t . " 1 1 1 Er müßte nach dem Willen Niebergalls zum Programm einer Kirche werden, die sich innerhalb der sozialen Strukturen der modernen Welt neu orientiert und organisiert und dabei mithilft, die Krise im Verhältnis von religiöser Motivation und sozialer Gestaltung zu überwinden. Davon ist allerdings in der Gegenwart nicht viel zu bemerken. „Immer noch halten sich die Kirchen zurück und pflegen behutsam das Gegebene, indem sie das Ziel der christlichen Hoffnung in die andre Welt verlegen. Sie sind nicht mehr Kirche im alten Sinn der Einheitskultur und sind auch nicht anpassungsfähig genug. Sie sind aber auch nicht Sekte, so daß sie streng nach dem Wortlaut der Bibel eine radikale Sozialreform ohne Kompromiß mit der Kultur wagten. Zwar haben sie noch das Gefühl, die höchsten Werte zu vertreten, aber nicht die Kraft, ein durchgreifendes soziales Programm auf ihre Fahne zu schreiben." 1 1 2 Der Pfarrer, der seinen Beruf sozial versteht, soll nach Niebergalls Vorstellung freilich „durchaus nicht humanitärer Wohlfahrtsbeamter werden". Nicht die Wohlfahrtsorganisation ist die Aufgabe des Pfarrers, sondern io» AaO., S. 89. 1 0 9 AaO., S. 90. 1 1 0 AaO., S. 91. i " AaO., S. 127. 1 1 2 Niebergall, aaO., S. 133f. — Vgl. dazu auch E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Ges. Schriften 1, 1965, vor allem 9 8 3 f f . ; ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Ges. Schriften 4, 1966, vor allem S. 328ff.
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„sozialen Geist in kirchliche Gemeinschaften und Veranstaltungen hineinzutragen, gehört zu dem, was gegenwärtig jedem Pfarrer obliegt" 1 1 3 . Aber gerade weil „die Kirche ihrem Wesen nach in erster Linie Kultusanstalt" bleiben soll und ohne den Sonntagsgottesdienst „zu einem sozialen Verein oder einer Gemeinschaft der Weltanschauung" würde, muß sich „auch dieser Mittelpunkt ihres Lebens eine Kritik vom sozialen Gesichtspunkt aus gefallen lassen" 1 1 4 . Eine Gottesdienstreform unter sozialem Gesichtspunkt müßte zuerst „die Kanzleisprache des 16. und 17. Jahrhunderts" aus der Liturgie entfernen 115 . Vor allem aber müßte die Predigt zu einem Teil der sozialen Berufsaufgabe des Pfarrers werden. Hier gewinnt die integrierende Funktion der Religion soziale Relevanz. Niebergall fragt: „Welchen Beitrag können wir mit ihrer Hilfe dazu leisten, daß es auf dem sozialen Gebiete besser werde?" Und er antwortet: „Es soll darum gleichsam ein geistiges Klima geschaffen werden, in dem sich Einrichtungen leichter durchsetzen, die dem Ausgleich der großen Gegensätze dienen können; es soll dazu noch geschehen, was da kann, um auch im gesellschaftlichen und im privaten Leben dieKlassengegensätze zu mildem, die die ganze Nation zerreißen und vergiften. Dazu brauchen wir aber die Mittel einer sozialen Moral aus christlichem Geist. Unsre Aufgabe ist darum im wesentlichen ethischer Art." 1 1 6 Die Religion übt ihre verbindende Funktion aber nicht nur im Ethischen, sondern auch auf der Ebene der Weltanschauung aus. Die Elemente ihrer Wirklichkeitsinterpretation spiegeln ihre soziale Einstellung wider. Und die Deutung der Welt — die wesentliche Funktion der Religion also 1 1 7 — wirkt umgekehrt auch integrierend auf das System der Handlungsmotive. „Es gehört eine gewisse Gesamtanschauung dazu, um der sozialen Moral Halt und Nachdruck zu verschaffen. Darum kommen wir um eine Art von sozialer Dogmatik nicht herum, die die großen Gegensätze aus der christlichen Weise, Leben und Welt anzuschauen, zusammenstellt, die es darzubieten gilt, wenn jene Moral haften soll. Wir müssen, um soziales Gewissen zu bilden, soziale Überzeugungen anbahnen. Es handelt sich also um unser soziales Evangelium oder Kerygma." 1 1 8 113 Niebergall, aaO., S. 223. Vgl. F. Niebergall, Pfarrerspiegel, 1930. 114 Niebergall, Evangelischer Sozialismus, S. 214. 1 1 5 Ebd. — Dieser Sprachstil ist nach Niebergalls Urteil nicht nur durch „steife Überladenheit und übertriebene Altertümlichkeit" gekennzeichnet, sondern vor allem auch durch „eine unwürdige Devotion, wie sie in die Vorstellungswelt eines patriarchalisch regierten lutherisch-passiven Kirchenvolkes hineinpaßt". „Zumal in den Fürbitten soll zum Ausdruck kommen, daß die Kirche nicht die Schleppenträgerin, sondern das Gewissen des Staates ist, das ihm und allem Volk die Verantwortlichkeit auch für den Arbeiterstand mit seinen Nöten einzuschärfen hat." (aaO., S. 214). — Vgl. auch O. Baltzer, Die Sprache Kanaans, ChW 1895, S. 175ff. Ii« Niebergall, aaO., S. 165. i n Vgl. F. Niebergall, Theologie und Praxis, S. 33f. ne Niebergall, Evangelischer Sozialismus, S. 165.
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Hatten Uckeley und Schian, vor allem aber Baumgarten die Forderung der sozialen Predigt aufgestellt und deren Grundsätze entwickelt 1 1 9 , so zeichnet Niebergall den umfassenden ethischen Rahmen der kirchlichen Verkündigung. „Dies ganze sozialethische Gebiet ist unser eigentliches Feld. Auf die große Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse haben wir sehr geringen Einfluß. Aber hier können wir, wenn auch nur in sehr beschränktem Maße, etwas machen. Natürlich sind es wieder nur unsre eigenen Leute, bei denen wir dies wenige vielleicht fertig bringen. So lange wir auf die Arbeiterschaft keinen Einfluß haben, müssen wir uns auf unsern Anhang werfen. Und der hat es wahrhaftig nötig genug; denn unsre Leute stammen zum guten Teil aus den bourgeoisen Kreisen des Mittelstandes, die manchmal vor lauter mittelständischer Kirchlichkeit ganz unausstehlich werden, weil sie von keinem sozialen Hauch berührt worden sind. Immer wieder gilt dasselbe Losungswort: können wir die Sozialen nicht christlich machen, dann wollen wir die Christen sozial machen. Das ist unsre nächste Aufgabe, und diese anzufassen ist besser als große Worte über Unerreichbares in die Welt zu rufen. Wir träumen nicht davon, den Klassenkampf oder auch nur den Klassenhaß zu beseitigen; aber wir hoffen darauf, in den uns zugänglichen Kreisen die Anlässe zum Klassenhaß zu vermindern." 1 2 0 Der Pfarrer kann nach Niebergalls Verständnis beim Predigen nicht neutral bleiben. Wer einmal in der Predigt das soziale Gewissen etwa in der Eigentums- oder Steuerpolitik angesprochen hat, der „weiß, in welches Wespennest er sticht. Dazu wird dann gleich alles rufen, daß der Pfarrer sich nicht um solche weltlichen Dinge bekümmern, sondern Gottes Wort predigen soll, wie es den Pelz wäscht, ohne ihn naß zu machen; als wenn nicht auch in dem Neuen Testament von Steuern die Rede wäre." 1 2 1 Während die Kirche als Organisation nach dem Willen Niebergalls politisch nicht Stellung beziehen soll 122 , kann der einzelne Pfarrer ohne politische Einstellung seinem sozialen Beruf gar nicht gerecht werden. Niebergall verfolgt diesen Gedanken sehr konsequent: „Es lasse sich niemand aus Angst sein einfaches Staatsbürgerrecht beeinträchtigen, eine Meinung zu haben 119 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Das Programm der sozialen Predigt" und die entsprechende Literatur, vor allem: O. Baumgarten, Predigt-Probleme 1904; A. Uckeley, Moderne Predigtideale, 1910; M. Schian, Neuzeitliche Predigtideale, MPTh 1, 1905, S. 8 8 - 1 0 9 ; ders., Ethische Predigten, MPTh 3, 1907, S. 4 4 6 - 4 5 1 . 120 Niebergall, Evangelischer Sozialismus, S. 198f. 121 Niebergall, aaO., S. 201. 122 „So sollte die Kirche sich zwar ganz eingehend um all diese Dinge bekümmern und ihre sittlichen Grundsätze wirksam werden lassen. Aber als solche auch Partei zu nehmen ist ihr nicht angemessen. Sie wird sich nicht weniger hüten, einem sozialistischen Staat Schleppdienste zu leisten wie einem kapitalistischen. Aber eben diese Neutralität muß dahin führen, daß sich ein jeder Christ und Pfarrer auf unserm Boden einer jeden Richtung verschreiben kann, zu der es ihn hinzieht" (F. Niebergall, Evangelischer Sozialismus, 1920, S. 207).
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oder seine Stimme seiner Überzeugung gemäß abzugeben. Vor einem, der keine Überzeugung hat, hat man auch keine Achtung; und wenn einer seine Meinung nicht auf die Kanzel bringt, also etwa gegen oder für die Sozialdemokratie oder den Kommunismus Gottes Wort aufbietet, dann müssen die Kirchgänger es ertragen, daß jemand vor ihnen steht, der in diesem Punkt anders denkt als sie. Das ist aber sehr vielen nicht möglich, weil sie eben nicht bloß eng, sondern auch reichlich terroristisch gesinnt sind. Diese muß man dann eben laufen lassen und den Verlust mit der Überzeugung tragen, daß man seinem Gewissen folgt und ihm gemäß durch sein Eintreten gegen oder für eine wirtschaftliche Richtung um ihrer sittlich-religiösen Folgen willen auch etwas für den Einfluß Gottes auf Erden zu leisten habe." 1 2 3 Hier verbindet sich Niebergalls pädagogische Auffassung des Pfarramts mit seinem sozialethischen Prinzip. Faßt der Pfarrer seine ganze Berufsaufgabe und damit auch die Predigtarbeit als Teil der religiösen Sozialisation, als Gemeindeerziehung auf, dann wird er weder auf soziale Wirksamkeit verzichten noch von seiner Predigt die soziale Revolution erwarten wollen und erwarten können. Niebergalls ethische Theorie der Predigt versucht den dritten Weg zwischen homiletischem Enthusiasmus und homiletischer Resignation zu beschreiten, den Weg der sozialen Gestaltung auch der religiösen Welt. „Die hier dargebotenen Gedanken und Wege mögen sehr gering erscheinen; gering angesichts der Aufgabe, eine Welt aus den Angeln zu heben, gering auch den hohen Tönen unsrer heutigen sozialen Propheten gegenüber, die den Neuanbruch der großen Gotteswelt zu verkündigen wissen. Gewiß macht die Pädagogik gegenüber dem Enthusiasmus keine große Figur, wie auch der Jakobusbrief sich vor der Glut der Offenbarung Johannis verbergen zu müssen scheint. Aber vielleicht stehn sie doch beide einander näher, als man glaubt. Was vermag die Erziehung, wenn sie nicht von einer gläubigen Hoffnung getragen wird, wie sie den innersten Kern des Prophetentums bildet? Was aber auch die Begeisterung eines Berge versetzenden Glaubens, wenn sie sich nicht in Gesinnung und Tat auszuwirken willig wird? So sei denn unser erstes Wort auch das letzte: wir erkennen den Willen Gottes in dem Verlauf der Dinge, wenn wir sie mit unserm an der Bibel geklärten Gewissen ansehen. Aber der Wille Gottes mit uns ist zugleich der Wille Gottes an uns, weil er sich auch durch uns verwirklichen will. Daher ist das Höchste, was wir werden können, aber worunter wir auch nicht zurückbleiben dürfen: Mitarbeiter Gottes am Umbau der Welt." 1 2 4 1 2 3 Niebergall, Evangelischer Sozialismus, S. 208. — Vgl. dazu auch G. Traub, Der Pfarrer und die soziale Frage, 1907. IM Niebergall, aaO., S. 228f.
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III. Die Theorie des Predigthörers 1. Die Struktur
der
Persönlichkeit
Die ethische Theorie des Christentums, das sozialpädagogische Verständnis des Pfarrerberufs und die religionswissenschaftliche Grundlegung der praktischen Theologie ergeben zusammen den Rahmen, in dem Niebergall seine Homiletik entfaltet. Niebergall versteht die praktische Theologie als „Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage" und die Homiletik als einen ihrer „Arbeitszweige" 125 . Sie hat nicht nur den einzelnen homiletischen Akt zu analysieren, sondern „das Wesen der Predigtarbeit als eines Ganzen darzustellen" 126 . Der Prediger ist kein „Gelegenheitsredner". Vielmehr hat der Pfarrer als einziger in der modernen Gesellschaft „einen Beruf, der hauptsächlich im Redenhalten besteht". Die Predigtarbeit des Pfarrers soll deshalb „ein Ganzes bilden und eine Lebensarbeit ausmachen". Predigen ist eine „Arbeit, bildende, erziehende Arbeit". Und „weil es Erziehungsarbeit sein soll, ist es ein zusammenhängendes Werk, nicht eine große Anzahl von einzelnen Redeakten" 1 2 7 . Die Predigt ist noch in einem anderen Sinn Lebensarbeit. Sie betrifft nicht nur den Verstand. Sie vermittelt nicht nur Erkenntnisse. Sondern sie umfaßt das ganze Leben des Hörers und des Predigers. „Predigen nimmt den ganzen Menschen in Anspruch." Und es ist „die Aufgabe und Kunst des Erziehers und Bildners", die „Kluft zu überwinden, die zwischen Hören und T u n " besteht 128 . Deshalb ist Predigen eine soziale Arbeit. Sie gilt dem ganzen Menschen. Und sie betrifft ihn in seinen sozialen Beziehungen, seinen Orientierungen und Motivationen. Niebergall bezeichnet das Funktionsgefüge der Predigt, die Struktur der homiletischen Arbeit mit Schleiermacher als „Verknüpfung dieser drei Stücke: Pfarrer, Evangelium, Leute" 1 2 9 . Diese drei homiletischen Faktoren gehören zu den „Voraussetzungen der Predigtarbeit" und werden in der Praktischen Theologie Niebergalls in einzelnen Kapiteln behandelt 130 . In der Homiletik wendet sich Niebergall den beiden wichtigsten Bezugspunkten der Predigt, dem Evangelium und dem Hörer zu. Der erste Teil gilt der homiletischen Interpretation des Neuen Testaments, der zweite der Analyse des Hörers und der dritte schließlich der Verknüpfung beider 125 F. Niebergall, Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage. Bd. I: Grundlagen: Die ideale und die empirische Gemeinde, Aufgaben und Kräfte der Gemeinde, 1918. Bd. II: Die Arbeitszweige: Gottesdienst und Religionsunterricht. Seelsorge und Gemeindearbeit, 1919. 126 Praktische Theologie, Bd. II, S. 108. 127 Ebd. 128 AaO., S. 109. 129 AaO., S. 67. ι » AaO., S. 67ff.
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Pole, der „Verkündigung an unsere Zeit", der „Synthese aus den beiden vorgeführten Gliedern Evangelium und Mensch" 1 3 1 . Niebergall geht den beiden Grundfaktoren der Predigtarbeit, dem Evangelium und dem Hörer, mit den Methoden nach, die er unter dem Begriff der Religionswissenschaft zusammenfaßt 1 3 2 . In der ethischen Grundlegung zeichnete Niebergall das soziale Beziehungsfeld der religiösen Praxis und fand so den Rahmen für eine Theorie des Christentums und eine Theorie des Pfarrerberufs in der modernen Gesellschaft 133 . Die Entfaltung einer dieser sozialen Berufstätigkeiten des Pfarrers, der Predigtarbeit, erhebt nun den Anspruch der Wissenschaftlichkeit und bedarf deshalb nicht nur einer allgemeinen praktisch-ethischen Einordnung, sondern auch eines kategorialen Rahmens, der die Wissenschaftlichkeit der Homiletik in der Geschlossenheit der methodischen Konzeption widerspiegelt. Niebergall versucht, diese wissenschaftliche Aufgabe mit verschiedenen Modellen zu lösen. Von der Homiletik bis zum Resümee der ,modernen Predigt' von 1929 zieht sich durch Niebergalls homiletische Arbeiten ein einheitliches methodisches Schema hindurch, das er aus der ethischen Aufgabe der Predigt gewinnt. Niebergall findet die „ideale Struktur" der Predigtarbeit in drei verschiedenen homiletischen Elementen, in Normen, Zuständen und in Hilfsmitteln, mit denen „in diesen Zuständen jene Normen zu verwirklichen sind" 1 3 4 . In der Homiletik von 1909 entwickelt Niebergall daneben ein anderes originelles Begriffspaar, das Evangelium und Hörer kategorial miteinander verbindet. Er nennt den ersten Band der Homiletik „eine Untersuchung über Motive und Quietive". In den einzelnen Teilen des Werkes untersucht Niebergall einerseits „die Motive und Quietive des Neuen Testaments", andererseits die Motive und Quietive der Hörer und verbindet beide im dritten Teil über die zeitgemäße Verkündigung 135 . Die Einheitlichkeit dieses Kategorienpaares ermöglicht es Niebergall, die Verknüpfung von Evangelium und Hörer nicht erst nachträglich methodisch herstellen zu müssen, sondern ihre ursprüngliche Beziehung in einem analytischen Arbeitsgang aufweisen zu können. Die Predigtarbeit bewegt sich nicht nur hinsichtlich der Predigthörer im praktisch-ethischen Gebiet der religiösen Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen? Bd. I, S. 128f. 132 Vgl. Theologie und Praxis 1916; Die wissenschaftlichen Grundlagen der Praktischen Theologie, MkiPr 3, 1903, S. 2 6 8 - 2 8 1 ; Praktische Theologie, vor allem Bd. II, S. 65ff. 133 Vgl. Niebergall, Evangelischer Sozialismus, 1920, vor allem S. 165ff.; ders., Religion und Moral, MevRU 14, 1921, S. 2 4 1 - 2 5 1 . Vgl. auch oben den Abschnitt „Die Theorie der Religion". 134 Niebergall, Die moderne Predigt 1929, S. 168. 135 Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen? Bd. 1; 1. Teil: „Die Motive und Quietive des Neuen Testaments" (3ff.); 2. Teil: „Der Mensch" (S. 70ff.); 3. Teil: „Die Verkündigung an unsere Zeit" (S. 128ff.). 131
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Sozialisation. Vielmehr verfolgen auch schon die biblischen Texte dieselbe Tendenz und begründen damit selbst die ethische Predigt. Die Texte des Neuen Testaments „sollen daraufhin untersucht werden, wie sie zu bewegen und zu beruhigen suchen". Niebergall hält eine solche ethische Interpretation des Neuen Testaments „für dringend nötig; denn zum Bewegen und Beruhigen sind, denke ich, diese Schriften alle ursprünglich geschrieben, also zu praktischen Zwecken" 1 3 6 . Die Themafrage des Buches „Wie predigen wir dem modernen Menschen?" beansprucht daher mehr als nur technische Relevanz. Sie ist die Leitfrage einer Homiletik, die versucht, einen strukturalen Zusammenhang zwischen Text und Hörer herzustellen und die Predigt damit über die Beliebigkeit einer zufälligen Anwendung des Textes auf die Gegenwart zu erheben. Erst dadurch ist es möglich, die Predigtarbeit wissenschaftlich zu reflektieren und sie damit als einen sozialen Akt innerhalb der Berufspraxis des Pfarrers zu beschreiben. Im Gegensatz zur Sozialethik von 1920 sieht Niebergall in der Homiletik von 1909 das ethische Beziehungsfeld der Predigt mehr im Bereich des Individuellen. Die Erkenntnis, daß die Bindung des einzelnen an die Kirchengemeinde — zumal in der Großstadt — nachläßt, führt zu einer Individualisierung der Predigthörer 137 . Der moderne Mensch ist der einzelne, der sich seiner Persönlichkeit bewußt geworden ist. Und die Predigt, verstanden als „Versuch den Willen zu beeinflussen" 1 3 8 , bewegt sich daher im wesentlichen zwischen dem Evangelium und dem Willen des einzelnen Hörers. Niebergall führt mit dieser individuellen Funktionsbestimmung die homiletischen Grundgedanken von Paul Kleinert weiter, der ebenfalls das Begriffspaar Motive und Quietive gelegentlich verwendet 1 3 9 . Und er nimmt Gedanken aus der „Christlichen Ethik" von Hans Lassen Martensen auf, der die Motive und Quietive des christlichen Handelns als „eine Hauptfrage für die ethische Lebensanschauung" bezeichnet 1 4 0 .
136 AaO., Bd. 1; 2. 137 D a s Problem, ob die Beziehung zwischen Hörer und Predigt durch die Gemeindezugehörigkeit des Hörers bestimmt ist, wird in der ,modernen Predigt' öfter thematisiert, besonders deutlich in: M. Schian, Können Großstadtgemeinden Gemeinden sein? PB1 75, 1933, S. 1 9 6 - 2 0 0 . Vgl. auch: L. Heitmann, Großstadt und Religion. 1. Teil: Die religiöse Situation in der Großstadt, 1913. 2. Teil: Der Kampf um die Religion in der Großstadt. 2. Aufl. 1924. 3. Teil: Die religiöse Wahrheit für die Großstadt, 1920. In der neueren Kirchensoziologie betont vor allem J. M. Lohse, daß das Verhältnis zwischen Prediger und Hörer in der Gegenwart ein individuelles Verhältnis sei (Kirche ohne Kontakte? 1967, vor allem S. 34ff.). 138 Niebergall, Praktische Theologie, Bd. 2., S. 105. 139 P. Kleinert, Homiletik 1907; S. 24 und 105. - Vgl. auch A. Scheller, Die Beeinflussung der Seele in Predigt und Unterricht. Eine Untersuchung über Motive und Quietive, 1903. Scheller behandelt das Problem allerdings weniger grundsätzlich als praktisch-technisch. ι«» H. L. Martensen, Die christliche Ehtik, 1892/94. Bd. 1; 408, vgl. S. 414.
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Niebergall entwickelt seine Homiletik vorwiegend im Rahmen einer psychologischen Konzeption, die ethische und philosophische Erkenntnisse seiner Zeit miteinander verbindet. Er lehnt sich zunächst an Herbart und J o d l , dann an Wundt an, findet aber erst in der emotionalen Psychologie von Heinrich Maier den befriedigenden theoretischen Rahmen für die Interpretation der homiletischen Grundbeziehung zwischen Text und Hörer 1 4 1 . Heinrich Maiers „Psychologie des emotionalen Denkens" 1 4 2 untersucht eine bestimmte Form des Denkens, die von dem urteilenden und erkennenden Denken unterschieden ist. Gegenstand seiner Analyse ist das „Denken, das sich aus der emotional-praktischen Seite des Geistes, aus dem Gefühls- und Willensleben entwickelt, dasjenige also, das in den Vorstellungsgebilden der affektiven Phantasie wie in der Welt der Zwecke, Normen, Werte und Güter wirksam ist und uns am markantesten in der ästhetischen Kontemplation, im religiösen Glauben, in Sitte, Recht und Moral entgegentritt" 1 4 3 . Niebergall verdichtet nun die Analyse des emotionalen, des praktischen Denkens zu einem komplexen Begriffs-Apparat, mit dem er das personale System, den Menschen „als stets sich gleichbleibendes psychisches Gebilde" zu begreifen sucht 1 4 4 . Der „Mechanismus der Seele", die „psychologische Grundorganisation" 1 4 5 wird unter der homiletischen Leitfrage, wie „im Menschen Handeln erzeugt und Beruhigung angebahnt werden kann" 1 4 6 , in verschiedene Dimensionen und Funktionen strukturiert. Niebergall geht von den Grundelementen der psychischen Organisation und den entsprechenden Abläufen, von Bedürfnissen, Vorstellungen und Gefühlen aus, beschreibt dann den Zusammenhang von Werten und Interessen mit dem Handeln, analysiert Ideenassoziation, Sache, Begriff und Wort, stellt eine „Skala der Gefühle" auf und kommt schließlich zu der Handhabung des psychischen Apparats, zur Beeinflussung des Menschen 1 4 7 . Die Grunderkenntnis, die Niebergalls psychologische Analyse des Menschen leitet, verbindet das Handeln nicht mit dem Denken, sondern mit dem Wollen. „Die Triebe sind das Tiefste im Menschen, was ihn zum Handeln treiben k a n n . " 1 4 8 Sie drängen nach Befriedigung und richten sich deshalb auf die Gegenstände der ethischen Welt, auf Güter und Werte. Das gesellschaftliche System von Idealen, die Moral, wirkt durch Internalii « Vgl. Fr. Jodl, Lehrbuch der Psychologie, 1 8 9 6 ; J . F. Herbart, Werke (hrsg. v. Hartenstein 1840—52) und dazu die Äußerungen von Niebergall selbst: Die moderne Predigt 1 9 2 9 , S. 67 und Wintzer, aaO., S. 175. 1 4 1 H. Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, 1 9 0 8 . 143 Maier, aaO., S. III. 1 4 4 Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 1, S. 2. MS AaO., S. 70. i « AaO., S. 7 1 . M7 AaO., S. 8 5 . - Vgl. die §§ 1 6 - 2 1 M8 AaO., S. 7 2 .
(71ff.).
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sierung in Sitte und Gewohnheit, vor allem aber in den Interessen, die das individuelle Handeln intentional bestimmen, verpflichtend für den einzelnen Menschen. Als Organ der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft wirkt das Gefühl. „Die Gefühle sind einmal die Sprache der Triebe und dann der Reflex der Güter." 149 Die Gefühle treten in drei Grundverhältnissen auf: im Spannungsverhältnis von Lust und Unlust, von Erregung und Beruhigung und von Spannung und Lösung. Diese Grundverhältnisse bestimmen den Willen des einzelnen. Der Wert der Güter wird einerseits unmittelbar im Gefühl empfunden. Andererseits verlangt die Identität des gemeinsamen und persönlichen Lebens aber auch eine Systematisierung sozialer Güter in zusammenhängenden Vorstellungsprozessen, im Verstand. Und schließlich bildet sich die „Außenwelt der Güter" noch einmal auf der subjektiven Seite zunächst in der Assoziationskette der Erinnerung, sodann als abgekürztes Denken in Begriffen und endlich als eigene Weltkonstruktion in der Phantasie ab 150 . Niebergall legt die Grundstruktur der Persönlichkeit nicht so komprimiert und zum Teil auch etwas diffus dar 151 . Ihm liegt weniger an der Konstruktion der personalen Struktur als an den durch sie bedingten funktionalen Abläufen. Sein Interesse gilt im Zusammenhang der ethischen Theorie der Predigt vor allem dem Entstehen und dem Verlauf der personalen Handlungsprozesse. Sie sind viel weniger von der Rationalität vernünftiger Erwägungen als von den ursprünglichen Bedürfnissen des einzelnen bestimmt. Der „Weg zur Befriedigung des Bedürfnisses ist das Handeln" 152 . Und „es gibt kein menschliches Handeln, das nicht im letzten Grunde von der Vorstellung eines möglicherweise durch das Handeln zu erreichenden Wertes geleitet wird — nur in den Präparaten einiger Philosophen gibt es etwas Derartiges." Eine funktionale Analyse des personalen Systems erfaßt die ethische Wirklichkeit treffender. „Wenn man ehrlich und offen die wirklichen und tiefsten Beweggründe zum sittlichen Handeln prüft, dann findet man, daß auch da Werte und Zwecke regieren. Es ist gar nicht zu denken, was den Menschen dazu bringen könnte, sich vom Platz zu bewegen und einen Finger krumm zu machen, wenn es nicht Interessen und Werte sind. Wenn der Mensch von einem Handeln zum anderen, von einer Gewohnheit zur anderen übergeht, so sind es wichtigere Interessen, die ihn sein träges Fleisch überwinden lassen, nachdem ihm sein Intellekt die größere Wichtigkeit dieser Interessen klar gemacht hat. Das ist und bleibt die Grundform alles menschlichen Handelns, von der wir niemals loskommen. Und wenn man darüber schilt, dann hat man eben nur gemeine Bedürfnisse und Interessen oder man hat einen bloß begrifflich existierenden 1« iso isi 152
Ebd. AaO., S. 7S. Dies gilt besonders für § 16: Bedürfnisse, Vorstellungen, Gefühle (aaO., S. 7Iff.). AaO., S. 74.
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Menschen vor Augen, es sei denn, daß man sich gar selbst etwas vormacht." 1 5 3 Die Bedeutung des Intellekts im Zusammenhang von Bedürfnissen, Gefühl, Wille und Handeln schätzt Niebergall vergleichsweise gering ein. „Der Intellekt ist der Diener, der die Güter dem Bewußtsein kundgibt und, nachdem hier die Gefühle ausgelöst sind und als Bedürfnis erscheinen, die besten Wege auswählt, um Bedürfnis und Gut zusammenzubringen. Auf dem Wege der Anschauung, der Erinnerung und der Erkenntnis prüft er frühere Begebenheiten und vergangene Erlebnisse anderer Personen; so gewinnt er Kunde von Gütern und Werten und bildet sie für das Bewußtsein ab, das sich durch Vermittelung der Gefühle an diesem Bilde zum Bedürfnis entzündet. Drängt dann das Bedürfnis zum Handeln, dann weist wieder der Intellekt auf Grund seiner Kenntnis der Zusammenhänge und vermöge seiner Fähigkeit, neue und eigene Wege sich zurechtzulegen, die Bahn zu dem Ziele, in dem das Bedürfnis seine Ruhe finden kann" 154 . Die Grundbeziehung zwischen internalisierten ethischen Orientierungen und den bedürfnisgeleiteten Handlungsimpulsen kehrt auch in der Externalisierung der kulturellen Wertesysteme wieder. „Mit den Regeln, Gesetzen und Idealen verhält es sich nicht anders. Es sind das gewiß theoretische Gebilde intellektueller Art, aber praktischen Ursprungs, d. h. sie repräsentieren irgendwelche Güter der Gemeinschaft oder der Persönlichkeit, wie sie sich im geistiggeschichtlichen Leben zu bilden pflegen als die Bedingungen für dauerndes, gesegnetes menschliches Zusammensein. Sie gewinnen eine große Selbständigkeit und Würde, aber ihre Wurzeln haben sie doch immer in dem Boden des praktischen Gedeihens der Gemeinschaften. Es bilden sich im Verlauf dieses Prozesses der Ablösung und Verselbständigung der Gesetze und Ideale allerlei individuell persönliche Güter heraus, die den Reflex der Gemeinschaftsgüter im Einzelwesen darstellen: Güter der Ehre bei den anderen, der Selbstachtung, der charaktervollen Persönlichkeit, oder religiös gewandt des göttlichen Wohlgefallens, so sublim auch immer die höchsten Regeln und Ideale scheinen mögen, ihren Ursprung und ihren Halt haben sie doch immer an den ideellen Gütern der genannten Art" 1 5 5 . Damit hat Niebergall schon die Umrisse eines gesellschaftlichen Systems von Gütern und Werten angedeutet, das sich im personalen System als eine „Skala der Gefühle" widerspiegelt 156 . Uber der Ebene der natürlichen Güter, „ohne die eine Existenz zu fristen unmöglich ist", wie etwa Nahrung und Gesundheit, ein Wertesystem, das sich vor allem im Symbol des Geldes verdichtet, bilden sich soziale Güter der Gemeinschaft. Sie 153 AaO., S. 75. im AaO., S. 77. i " AaO., S. 78. 15« AaO., S. 85ff. 163
werden im System des Rechtes organisiert und raffen sich in der Wahrung der sozialen Identität des einzelnen, in der Ehre. Die höchste Werteebene schließlich ist die religiöse. In ihr wird „die Gemeinschaft mit der Gottheit selbst als das Gut der Güter betrachtet und begehrt" 157 . Weder die Konstruktion des personalen Systems noch die der kulturellen Wertesysteme finden ihren Zweck in sich selbst. „Die Kenntnis dieser Kräfte erleichtert das Verständnis des Menschenlebens und die Einwirkung auf dasselbe." 158 Denn „die Erziehung besteht darin, daß wir den Schwerpunkt des Gefühles, der Lust und Unlust, immer mehr von den sog. niederen sinnlichen Gütern auf die höheren zu verlegen trachten." Erziehung ist daher neue Motivation. „So kann man der Reihe nach die sinnliche, selbstsüchtige Lust mit der Rücksicht auf die Gesundheit und die Zukunft, so kann man die Habsucht, je nachdem sie sich äußert, mit der Wertschätzung der vom Gerichte zu beeinträchtigenden Freiheit oder der gesellschaftlichen Ehre, so kann man aber auch die gesellschaftliche Ehre durch die Rücksicht auf die Selbstachtung der Persönlichkeit außer Kraft setzen. Alle Güter endlich werden in dem wahrhaft Frommen überboten durch den Blick auf das Wohlgefallen und das Leben in der Gemeinschaft des ewigen Gottes, der die stärksten Motive auszulösen vermag. Immer ist es ein höheres Gut, das die Anziehungskraft des niederen schwächt oder außer Kraft setzt." 159
2. Motivationen
der
Kirchlichkeit
Der Struktur der Persönlichkeit entspricht die Struktur des homiletischen Aktes. Die Predigt will den Hörern „Motive darbieten, die ihre Beweggründe überbieten und überwinden", und sie will ihnen „Trostgründe, Quietive darbieten, die ihre Trauer und Niedergeschlagenheit beseitigen" 160 . Die Homiletik muß deshalb als Voraussetzung der religiösen Erziehungsarbeit einerseits die normativen Motive und Quietive des Evangeliums erheben. Es gehört zu ihren Aufgaben, „das Neue Testament nach den Gedanken abzusuchen, die zur Motivierung und zur Beruhigung gebraucht werden" 161 . Andererseits muß das religiöse Verhalten der Predigthörer untersucht werden. „Wir haben demnach zu fragen: wie verhalten sich die Leute angesichts der Motive zum Guten und der Quietive zum Tröste, die wir ihnen mit dem Evangelium nahebringen wollen?" 162 157 AaO., S. 85f. JS8 AaO., S. 87. "β AaO., S. 87. 160 AaO., S. 1. 161 AaO., S. 3. 162 AaO., S. 91. 164
Zur Lösung dieser beiden Aufgaben bedarf es wissenschaftlicher Methoden, die die bisherige psychologische Untersuchung des Menschen ergänzen. In einer Arbeit über „Religionswissenschaft und Praktische Theologie" bezeichnet es Niebergall als die Aufgabe der Religionspsychologie, „das religiöse Leben als psychische Erscheinung verstehen (zu W. S.) lernen". Er unterscheidet dann zwei methodische Ansätze der Religionspsychologie. „Die formale untersucht in der vorhin angegebenen Weise das Werden und Wachsen der religiösen Funktion selbst an sich; die materiale untersucht den religiösen Bestand in bestimmten Gruppen: Geschlecht, Alter, Temperament, Klima, Volksstamm, psychische Gesamtanlage, geschichtlich gegebene Gestaltungen, sozial-wirtschaftlich und kulturell bestimmte Volksgruppen. Das ist die religiöse Volkskunde, die in dem Verhältnis zu der Religionsgeschichte steht, daß sie, was diese in der Längsrichtung aufweist, gleichsam in der Breite der heutigen Lebenswirklichkeit zusammenstellt." 1 6 3 Die Methode der religiösen Volkskunde — Niebergall sagt gelegentlich auch „Soziologie" 1 6 4 — wurde vor allem von Paul Drews entwickelt und in das wissenschaftliche Repertoire der modernen praktischen Theologie aufgenommen 1 6 5 . Niebergall beteiligt sich einerseits selbst an der religionssoziologischen Forschung, so etwa in einem Aufsatz über „Das geistige und seelische Leben der Fabrikarbeiter" (1909), den er „eine ökonomisch-psychologische Studie" nennt 166 . Auf der anderen Seite betont Niebergall in seinen Schriften ständig die Notwendigkeit der religionssoziologischen Typenforschung und resümiert deren bisherige Ergebnisse. Die religiöse Volkskunde „sieht es darauf ab, die Religiosität bestimmter Gruppen in der Gestalt von Typen zu beschreiben" 1 6 7 . Sie ist ein Teil der praktisch-theologischen Kritik, die sich gegen die „Berufskrankheit" der Theologen wendet, „mit bestimmten Vorurteilen dogmatischer oder anderer A r t " ein Bild der Predigthörer zu zeichnen 168 . Die religionssoziologische Betrachtung der Predigtgemeinde stellt der praktischen Theologie eine dreifache Aufgabe. „Vor allem bedarf es dazu einer Darstellung ihres religiösen Lebens, die dieser Arbeit Ziele und Anknüpfung Religionswissenschaft und Praktische Theologie, aaO., S. 215f. 164 F. Niebergall, Zwei Stimmen zur Reform der Praktischen Theologie, EvFr 13, 1913, S. 3 0 5 - 3 1 2 ; 311. 165 p. Drews, .Religiöse Volkskunde', eine Aufgabe der Praktischen Theologie, MkiPr 1, 1901, S. 1 - 8 ; ders., Das Problem der Praktischen Theologie, 1910, S. 60ff.; ders. (Hrsg.), Evangelische Kirchenkunde, 1902ff. F. Niebergall, Das geistige und seelische Leben der Fabrikarbeiter, Nord und Süd 33, 1909, S. 463—501. Dieser Aufsatz findet sich später wieder im: Evangelischer Sozialismus, S. 53ff: „Das Proletariat". 167 F. Niebergall, Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule, ZThK 19, 1909, S. 4 1 1 - 4 7 4 ; 424. 1 « Niebergall, Praktische Theologie, Bd. 1; S. 31f. 163
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zeigt. Daneben aber auch ist ein Blick auf die sittliche Beschaffenheit der Gemeindeglieder, also eine Art von Menschenkunde, darum sehr begehrenswert, weil es sich doch auch um sittliche Erziehung der einem jeden Anfänger so rätselhaften Menschen handelt. Dazu tritt dann noch eine Darstellung der Kirchlichkeit, soweit sich darüber Allgemeines sagen läßt. Die Schwierigkeiten einer solchen diese drei wichtigen Seiten umfassenden Darstellung bedürfen keines Wortes; es kann sich nur um einen Versuch, höchstens um Gesichtspunkte handeln, die einem jeden die Erwerbung von eignen Eindrücken und Kenntnissen auf diesem Gebiete erleichtern; denn zumeist sehen wir da am besten, wo wir wissen, weil wir überhaupt mehr, als wir ahnen, nur das gewahr werden, was wir mehr oder weniger deutlich wissen und erkannt haben." 1 6 9 In seiner Homiletik konzentriert sich Niebergall auf die Darstellung des religionssoziologischen Beitrags zur Klärung des homiletischen Aktes und der Predigtarbeit. Die religiöse Volkskunde gibt Aufschluß über verschiedene Typen von christlicher Religiosität und deren Zusammenhang mit bestimmten Wertesystemen und deren Motivationen. Sie gehört deshalb zu den Voraussetzungen jeder „christlich-kirchlichen Erziehertätigkeit und auch der Predigt" 1 7 0 . Niebergall fragt zunächst, „wie die Durchschnittsleute sich zum Guten oder auch zum Besseren bestimmen lassen, und womit sie sich trösten, wenn es ihnen einmal wider ihren Willen im Leben gegangen ist". Er untersucht dann die Gruppe der „Kirchlichen", fragt, „warum sie kirchlich und fromm sind", und sucht so „den Boden kennen zu lernen, auf den wir Sonntags den Samen des Wortes werfen". Schließlich wendet er sein Interesse noch „einer bestimmten Art von Unkirchlichen" zu, „den Vielen, die, ob sie zwar Kirche und Christentum verschmähen, doch für eine höhere Art, die Welt zu erfassen, zu haben sind". Alle religionssoziologischen Untersuchungen „stehen im Dienste unserer Aufgabe, indem sie helfen sollen, die Predigt des Evangeliums mit all seinen antreibenden und beruhigenden Kräften der Beschaffenheit des heutigen Menschen entsprechend so zu gestalten, daß sie wirklich erreicht, was sie erreichen soll" 1 7 1 . Im Mittelpunkt von Niebergalls homiletischem Interesse steht eine Typisierung der „Kirchlichen". Daß sie nicht schematisch, sondern deskriptiv erstellt werden muß, hält Niebergall für ein Erfordernis der modernen Homiletik. Es ist „der Tribut der Theologie an den realistischen Zug der Zeit, daß man die Begriffsschlachten auch einmal vergessen kann, um sich der Erforschung der Menschen, wie sie sind, zu widmen." Die Prediger und die Predigttheoretiker haben zu lange schon „in dem Wahne gelebt, unter unseren Kanzeln einen bestimmten Menschentypus vor uns zu hai » AaO., S. 31. 11° Niebergall, Predigttypen und Predigtaufgaben, aaO., S. 580. π ι Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 1; S. 91.
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ben, der auf bestimmte Einwirkungen ziemlich gleichmäßig reagierte. Wir haben aber nie daran gedacht, daß dieser Typus weniger eine Abstraktion von wirklichen Menschen als ein Postulat der Dogmatik war, die, statt den Abstufungen Rechnung zu tragen, alles ins Schematische und Absolute hinaufhob. Es muß für einen modernen, an Wirklichkeitssinn gewöhnten Menschen unausstehlich sein, wenn ihm ein Menschenbild in der Predigt als sein Spiegelbild oder als Voraussetzung der Argumentationen entgegengehalten wird, das es so nicht gibt. Daher bei vielen der Abscheu vor den blassen, outrierten und geistreich pointierten oder gar oft direkt unwahren Ausführungen der Kanzelredner, die um eines ehrwürdigen oder interessanten Begriffs willen Ausführungen bringen, welche ein paar Meter über der Erdenwirklichkeit dahinschweben. Wir brauchen mehr Wirklichkeitssinn in der Darstellung und in der Bearbeitung der Menschenseelen, damit man uns auch das Evangelium als einen Bestandteil der Wirklichkeit abnimmt und es nicht für ein eben solches Luftgebilde nimmt wie unsere Auffassung des Menschen" 172 . Die durchschnittliche Predigtpraxis ist nicht weit von jenem „Kandidatendoktrinarismus" entfernt, der „irgend einen Auszug aus einer neutestamentlichen Theologie oder aus einem dogmatischen System den Leuten um die Köpfe schlug" und dabei „die ganze ,teure Gemeinde' als eine massa, sei es salutis, sei es perditionis behandelte" 173 . Niebergall untersucht zunächst die Ursachen der Kirchlichkeit. Dazu gehört einmal „die Dressur zur Kirchlichkeit. Eltern, die es selbst nicht anders gelernt haben, Eltern, die da meinen, in der Kirche höre man nichts Böses, oder Kirchengehen sei eine Bürgschaft gegen schlechte Einflüsse und Triebe, zwingen ihre Kinder zur Kirche. Herrschaften zwingen ihre Dienstboten, Pfarrer ihre Konfirmanden. Zu diesem Zwang gehört die Kontrolle und die Strafe. Nur in seltenen Fällen wirkt diese Dressur so, daß später selbständige Freude sich daran emporrankt" 174 . Zu den Ursachen der Kirchlichkeit ist auch die Sitte zu zählen. Sie wirkt zwar „weniger brutal und verderblich", kommt aber doch oft einem „praktische^) Katholizismus" gleich, der von den Pfarrern nicht zu einem selbständigeren Verhältnis gegenüber sozialen Zwängen entwickelt, sondern geradezu stabilisiert wurde. „Eine noch nicht lange verschwundene Generation von Pfarrern hat es auch für gut befunden, Frömmigkeit und Kirchlichkeit mit Emphase zu vereinerleien, so daß die Macht der Sitte noch weit und breit die Lage bestimmt." Dies gilt keineswegs nur für die ländliche Kirchlichkeit. „Interessant ist es, in kleineren Industriestädten, die ihren Rekrutierungsbezirk in ländlichen Gegenden haben, zu beobachten, wie zu Ostern dieser Katholicismus naturalis Hunderte zum Abendmahl ι?* AaO., S. 100. i " AaO., S. 101. iw AaO., S. 102. 167
zwingt, die das ganze Jahr hindurch weder durch Kirchenbesuch noch in ihrem ganzen Gehaben ein höheres Bedürfnis verraten." 175 Unter den Bedingungen der größeren sozialen und geographischen Mobilität werden die Mängel der unbewußten Sitte der Kirchlichkeit offensichtlich. „Durch den Wegzug in die wirren tumultuarischen Städte wird sie durchbrochen, oder sie wird bewußt unter dem Einfluß der Sozialdemokratie verneint. Die Folge davon ist eine große Gleichgültigkeit gegen Kirche und das damit für das Bewußtsein der Leute unzertrennlich verbundene Christentum." Mit der Notwendigkeit, sich „mittels des Kirchenbesuchs als kreditwürdiger Mensch auszuweisen", fällt auch die religiöse und ethische Orientierung des einzelnen im Christentum fort 176 . In der „Pietät" schließlich ist die Motivation durch Dressur und durch Sitte verinnerlicht. Am Totensonntag treibt einen „die Erinnerung an Vater und Mutter in die Kirche", wo man „pietätvolle Gefühle pflegen oder — eine halbe Stunde lang den Manen der Verstorbenen opfern kann. Manch wilder Amerikaner sucht, wenn er noch einmal ,herauskommt', die Kirche des Heimatdorfes auf. Und wer weiß, wie oft sich schon das Heimweh in die sonst gleichgültige Kirche geflüchtet hat" 177 . Anders verhält es sich mit den Trieben, die die Kirchlichkeit aus der Persönlichkeit selbst motivieren. Niebergall nennt als Typen „das Kirchentum der Sentimentalität", „das Kirchentum der Hinterbliebenen", den „ästhetische(n) Trieb", die „Kasualienfrömmigkeit, die dem Wunsch entstammt, die wichtigsten Lebensereignisse mit dem weihevollen Worte eines namhaften Kanzelredners umranken zu lassen", den „Wunsch nach Trost", die „sittliche Bedrängnis" und schließlich den „intellektuelle(n) Wunsch" 178 . Gerade die letztgenannte Motivation des Gottesdienstbesuchs ist in der modernen Zeit freilich brüchig geworden. „Vor etwa 70—80 Jahren noch, ehe die Zeitungen das besorgten, war die Predigt für viele die einzige Gelegenheit zu einer geistigen Bereicherung und Verbindung mit der großen Welt. Heutzutage ist das anders geworden. Doch geht mancher in eine Kirche, um sich klar zu werden über dies und das, über Einzelfragen und die Gesamtansicht von der Welt. Oft freilich ist dieser intellektuelle Wunsch eingeschränkt auf den der Kritik der Predigt nach seiten ihrer orthodoxen oder liberalen Rechtgläubigkeit oder geistigen Bedeutung hin. Aber das ist doch wenigstens schon ein Verhältnis zum Inhalt des in der Kirche Dargebotenen, während wir bisher so oft nur ein äußerliches
"S AaO., S. 103. "β AaO., S. 104. 177 Ebd. 178 AaO., S. 105ff. 168
Verhältnis zur Kirche und dem, was für das Bewußtsein der Leute daran hängt, festzustellen hatten. So wenig schmeichelhaft es für uns Pfarrer ist, daß von so vielen nicht unsere Gabe gesucht wird, sondern das, was sich auf dem Wege der Überlieferung an die Kirche gehängt hat, so gut ist es, daß manches dürre Predigtstämmlein der üppige Efeu all der alten durch die Überlieferung großgewordenen Gefühlsschwingungen überwuchert." 179 Neben äußeren Zwängen und inneren Trieben — beides relativ unbewußte und auch undeutliche Motivationen der Kirchlichkeit — ist der Kirchenbesuch der Predigthörer auch durch Zwecke begründet, „von bestimmten, sich gleichbleibenden Interessen und ihrem Verstände geleitet" 180 . Die interessengeleitete Kirchlichkeit ist häufig stabiler als die durch unbewußte Bedürfnisse bestimmte. Die Tatsache, daß Kirchlichkeit zum Mittel für einen Zweck werden kann, „daß sich fast alle Interessen des Menschen auch der Kirche zu bedienen wissen", ist „ein Beweis für die Zähigkeit der Tendenzen unserer religiösen Entwicklungsgeschichte, ein Beweis für die weitund tiefgreifende Macht einer die Beziehungen zur obersten Weltinstanz und zum Guten pflegenden Institution" 181 . Zu den niedersten Zwecken, denen die Kirchlichkeit dienen kann, gehört der „gemeinste Egoismus", der „ohne jede Spur auch nur eines Aberglaubens sich der Kirche" bedient. Dieser kirchliche Egoismus ist häufig am Wohlwollen des Pfarrers interessiert. Denn der Pfarrer ist „eine Respektsperson, deren Achtung einem nicht gleichgültig sein kann, und der Herr Pfarrer taxiert die Leute danach, wie sie die Kirche und wie oft sie seine Kirche zu besuchen pflegen." Es ist die Kirchlichkeit vor allem der Geschäftsleute, der „Freier, die allerlei vergessen lassen wollen", der „Leute, die etwas pecciert haben" und nun durch den Kirchenbesuch „ihre moralische Zuverlässigkeit beweisen wollen". Die „Zugehörigkeit zur Kirche gilt als eine gewisse moralische Garantie, als Beweis, daß man zu den anständigen Leuten gehören will und nicht zu denen, die ,keinen Gott und Gebot' mehr kennen" 182 . Die zweckbestimmte Kirchlichkeit fällt freilich mit ihrer Motivation dahin, wenn sich auch nur die individuellsten sozialen Bedingungen ändern, etwa wenn der Pfarrer beim Geschäftsmann nicht mehr kauft oder ein Stellenanwärter erfolglos bleibt. Vollends wo die Kirche „ihre soziale und sittliche Autoritätsstellung eingebüßt hat oder nicht einnehmen kann, da schert man sich nicht mehr um sie, da sie einem ja doch nichts helfen kann, sie ist quantité négligeable." Der Zusammenbruch der von äußeren Zwecken motivierten Kirchlichkeit ist das Symptom einer religiösen Situation, in 179 AaO., S. 108. wo Ebd.
181 AaO., S. 109. 182 AaO., S. 109f. 169
der sich „die Einerleiheit von Kirchlichkeit und Frömmigkeit aufgelöst hat und bloß die Möglichkeit übrig geblieben ist, daß die Kirchlichkeit zur Frömmigkeit führe" 183 . Neben dem Egoismus, der sich der sozialen Autoritätsstellung von Pfarrer und Kirche bedient, kann auch ein „religiös begründete(r) Egoismus" zum Motiv der Kirchlichkeit werden. In ihm „spielt also der liebe Gott die Rolle des Pfarrers". Katholisierende Frömmigkeitstendenzen und Aberglauben äußern sich in naiven Zweckverbindungen. „Manche Geschäftsfrau findet, daß ihre Kasse in der Woche voller wird, wenn sie Sonntags in der Kirche war. Manche gute christliche Frau meint, dies und das wäre ihr nicht passiert, wenn sie am Sonntag in der Kirche gewesen wäre oder ihr Gebet nicht an dem Morgen vergessen hätte." Die Kirche selbst leistet dieser Frömmigkeit und Kirchlichkeitsmotivation nach Niebergalls Meinung durch Nottaufe und Krankenabendmahl Vorschub 184 . Schließlich nennt Niebergall noch die „Reformationsfestchristen", die sich „zu ,unserer' Kirche aus Trotz gegen den Katholizismus" und seinen „Einfluß im öffentlichen Leben" halten; das „pädagogische Kirchen- und Christentum" von Eltern, „die nicht darauf verzichten mögen, die Erziehungskräfte der Religion mit vor den Wagen zu spannen, mag sich später der Zögling damit abfinden wie er will"; das „Kaisergeburtstagschristentum der Religion, Sitte und Ordnung, das unzweifelhaft noch tief unter dem Charfreitagschristentum steht, welchem man doch sicher einen leisen religiösen Zug nicht absprechen kann" 185 . Zu den religiös motivierten Formen zweckbestimmter Kirchlichkeit gehört auch die Frömmigkeit der „Christen, die in den Himmel kommen wollen". Noch immer prägt die christliche Eschatologie die religiöse Orientierung des einzelnen. Sie hat sich „mit tiefen Strichen dem Bewußtsein eingeprägt" und hat auch dann noch eine praktische Funktion, wenn sie theoretisch längst bestritten wird. „Der Himmel ist heute noch für die große Menge ein starkes Motiv und ein gutes Quietiv", denn die Kirchenbesucher müssen „unbedingt eine Anschauung haben . . . , an die sie die Werte heften. Der Himmel ist ihnen der Ort, wo alles zusammen ist, was Wert hat: Gott und Christus, die Engel, die Verstorbenen, Freude, Freiheit und Leid." Es kann daher nicht die Aufgabe der modernen Predigt sein, die christliche Anschauungswelt lediglich durch Entmythisierung zu zerstören. „Vor allem geht es nicht mit Aufklärung, sondern nur mit Erziehung." Denn für die moderne Predigt „besteht die hauptsächlichste Aufgabe darin, unseren Zuhörern die Werte zu ordnen". „Für den Glauben und den Unglauben hat sich Wort und Begriff Himmel so fest mit sinnlichen Gütern besse183 AaO., S. llOf. 184 AaO., S. 111. 185 AaO., S. 112f. 170
rer Art verbunden, daß es unendlich schwer hält, dem Wort andere Werte unterzuschieben, die dem weniger ethisch und ideal gerichteten Menschen gleichgültiger sind als Leidensfreiheit und Wiedersehen. Eine Anschauung vom Himmel müssen wir an Jesus zu gewinnen suchen. Die Gemeinschaft, in der er mit dem Vater stand, ist ein Vorstellungsbild für den Begriff. Wir werden dann freilich viele ärgern, und es werden manche hinter sich gehen. Dafür werden wir aber manche halten, denen es um eine ethisch ausgestattete ewige Welt zu tun ist." 186 Den „Gebildeten unter den Unkirchlichen" wendet sich Niebergall noch gesondert zu. Es sind die „Leute, die geistig nicht von der Hand in den Mund leben, sondern ihr Handeln in eine bestimmte Gesamtanschauung eingliedern wollen." Sie sind darauf bedacht, zu „wissen, warum und wozu sie leben, nicht nur zu leben und wohlzuleben." Für sie können die Sinnprobleme zum Motiv des Kirchenbesuchs werden. Und „man wird diese Leute nicht anders anregen und trösten können als so, daß man ihrer ganzen Art entsprechend auf eine große, Trost und Antrieb zusammenfassende Anschauung der Welt hinarbeitet. Das ist aber recht schwer, weil diese Leute nicht nur der Stimmung der Zeit zu folgen, sondern bewußt und mit Gründen in ihr zu leben und auf sie einzuwirken pflegen. Darum tritt hier die christliche Gesamtanschauung nicht nur in Streit mit der Ansicht des natürlichen Menschen, mit der naiven Philosophie des Egoismus, sondern mit geschichtlich gewordenen und philosophisch gegründeten Systemen, die nicht immer der Reflex einer ethisch anfechtbaren praktischen Haltung des inneren Menschen sind, aber doch oft genug auch einen guten Willen bedrücken und hemmen" 187 . Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft bezeichnet freilich gerade diese Zielsetzung der Predigt zugleich eines ihrer schwersten Probleme. Ihr steht die „moderne Stimmung" der Zeit entgegen, die Niebergall so charakterisiert: „Uberschäumendes Verlangen nach Kraftentfaltung, Originalität und Freiheit, Anspruch auf ein großes, reiches, ausfüllendes Glück, Ekel am Alltagsleben und der landläufigen Kultur, sentimentaler Jammer über die mechanische Bedingtheit des geistigen Lebens, sensitive Empfindlichkeit gegen jeden äußeren Druck, zersetzende Selbstbeobachtung, Verlorengehen der Gegenwart, phantastische Erwartung eines werdenden Neuen, passives Hin- und Hergeworfenwerden zwischen wechselnden Motiven, vor allem eine trotzige Angst, sich durch Anerkennung irgend einer Norm, Weltanschauung, sittlicher Maxime und Pflicht binden und beschränken zu lassen. Ferner ist es die Vorliebe für das Rätselhafte, Ursprüngliche, Individuelle. Man liebt es, sich in das Mystische zu versenken und statt mit den Kategorien des Denkens in dunklen Bildern und geheimnisvollen Symbolen zu denken und von Stimmung zu Stimmung direkt zu wirken. Mit einem WoriM AaO., S. 113f. 187 AaO., S. 117f. 171
te, es herrscht der Verzicht auf den Gewinn einer einheitlichen Stimmung und bindenden Weltanschauung." 1 8 8 Innerhalb dieses Zeitbildes diffusester Orientierungen geht der „Sinn für das Christentum" verloren, „die vom Christentum verlangte Konzentration". Und „in der Tat ist der christliche Gedanke überall aus seiner beherrschenden Stellung im öffentlichen Leben verdrängt. Der Mangel einer christlichen Atmosphäre, Weltanschauung und Lebenssitte ist ein schweres Bedenken gegen die Möglichkeit des Christentums in unseren Tagen" 1 8 9 .
IV. Die Theorie des Predigttextes Niebergall leugnet die problematische Situation des Christentums in der modernen Welt nicht. Gerade eine Predigtweise, die dem modernen Menschen gerecht werden will, darf sich zu ihrer Legitimation keiner illusionistischen Theoreme bedienen. Niebergall versucht daher konsequent, den modernen Menschen und seine Welt kritisch zu analysieren. Und er erhofft sich von der Analyse der Orientierungskrise Ansätze für eine Lösung der Sinnprobleme der Moderne. Niebergall sieht die Möglichkeit zur Überwindung der religiösen Krise in der Predigt. Gelingt es ihr, sich dem modernen Menschen nicht um den Preis einer Aufgabe der christlichen Motivation anzupassen, sondern modernes Wirklichkeitsverständnis und christliche Sinndeutung miteinander in ein kritisches Verhältnis zu setzen, dann ist die Frage, wie dem modernen Menschen gepredigt werden kann, in der Theorie gelöst. Die Analyse der modernen Motivationsstrukturen und -systeme bildet daher nur den einen Teil des homiletischen Problems. Das Programm der modernen Predigt als religiöser Motivation des modernen Menschen fordert neben der Beschreibung des modernen Menschen eine Analyse der religiösen Motive des Christentums. Niebergall ist sich bewußt, daß er damit auf mehr als nur methodische Schwierigkeiten stößt. Denn die Entwicklung einer homiletischen Methode zur Interpretation der biblischen Texte mit dem Ziel, deren Motive des Handelns und deren Quietive des individuellen Selbstbewußtseins zu analysieren, scheint in Konkurrenz zu der wissenschaft188 AaO., S. 119f. — Niebergall referiert hier E. Foerster, Die Möglichkeit des Christentums in der m o d e r n e n Welt, 1898. Foerster konstatiert, daß in der modernen Theologie, die vor allem in der „Christlichen Welt" zum Ausdruck k o m m e , vorausgesetzt werde, „daß es möglich ist, beides zu sein: Christ u n d moderner Mensch, daß beides sich nicht stört oder gar a u f h e b t . " Foerster meint dagegen: „Diese Möglichkeit erscheint mir, j e deutlicher mir geworden ist, was die Eigenart des modernen Menschen ausmacht, desto zweifelhafter" (aaO., S. III). 189 Niebergall, aaO., S. 120.
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lich-theologischen, der historisch-kritischen Textinterpretation zu treten. Sie nimmt zu den neutestamentlichen Schriften aber auch eine andere theologische Einstellung ein als dies in der traditionellen Dogmatik geschieht. Die .moderne Predigt' löst sich mit ihrem Schriftverständnis von der traditionellen theologischen Schriftlehre. Sie betrachtet die biblischen Schriften als Predigttexte. Und sie stellt deshalb den intentionalen Charakter der T e x t e heraus. Die intentionale Textinterpretation bildet den Prüfstein für Niebergalls Theorie der .modernen Predigt'. Eine Analyse der Kirchlichkeitsmotivationen und der Persönlichkeitsstruktur des modernen Menschen kann nur dann für die Homiletik fruchtbar werden, wenn es gelingt, sie methodischwissenschaftlich auf die Textanalyse zu beziehen. Die .moderne Predigt' nimmt für sich in Anspruch, die Predigt in die moderne Gesellschaft und die Predigttheorie in ihren prinzipiell-theoretischen und in ihren praktischtechnischen Aspekten in die moderne Religionswissenschaft zu integrieren. Insofern spiegelt sich in der Identität der homiletischen Methode die wissenschaftliche und praktische Integration der Predigt wider. Niebergall selbst erkennt seiner Motivationsanalyse der biblischen T e x t e die Schlüsselrolle in seiner Predigtlehre zu. Sie steht am Anfang seiner Homiletik 1 9 0 und stellt das Evangelium als „ N o r m " 1 9 1 jeder einzelnen Predigt und der ganzen Predigtarbeit dar. Im Streit um die Textbindung der Predigt steht die moderne Predigt uneingeschränkt auf der Seite der Textpredigt. Selbst Bassermann, Vertreter der liberalen Predigt, der Niebergall einen Verlust der religiösen Perspektive der modernen Wirklichkeit vorwirft 1 9 2 , tritt mit Leidenschaft einer Auflösung der Textbindung der Predigt entgegen, wie sie etwa ein Stadtvikar Wielandt in der Monatsschrift für die kirchliche Praxis 1903 propagiert. „ E s ist ein Grundschaden der evangelischen Predigt, wenn sie vom T e x t ausgeht, ihn zur Autorität nimmt, aus ihm ihre Gedanken entwickelt und nicht aus der eigenen Frömmigkeit und aus dem L e b e n " — so beschreibt Wielandt die Situation der Predigt und fordert: „Worüber ich reden soll, das erwächst mir in meinem Innern. Dazu treibt mich ein anderes Muß. Das muß prophetisch drin glühen!" 1 9 3 Bassermann hält diesen „ N o t s c h r e i " für einen homiletischen Irrtum. „Wenn etwas nicht schematisch ist, d. h. frei von aller äußerlichen, steifen Gebundenheit und Gleichförmigkeit, so ist es die Predigt, die wirklich aus einem Text erwächst. Denn die Texte sind alle, natürlich mehr oder minder, konkret, und alles Konkrete widerstrebt dem Schema. S o ist gerade der am ehesten vor dem Schema geschützt, der sich an dieses Konkrete, das ihm
is® AaO., S. 3ff. Die moderne Predigt ZThK. 1905, aaO., S. 270. i » Die moderne Predigt, 1929, S. 80. 193 Wielandt, Nicht „der T e x t " , sondern das Leben, MkiPr 5, 1905, S. 2 6 1 - 2 6 3 ; S . 2 6 1 f .
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die Texte in geradezu unerschöpflicher Fülle darbieten, fest hält und davon sich leiten läßt." 194 Auch den Vorwurf, die Textpredigt werde dem modernen Leben nicht gerecht, weist Bassermann aufs entschiedenste zurück: „Aber wir entfernen uns dadurch vom Leben? Als ob im Texte nicht ebenfalls Leben wäre! Oder ist uns der Text ein toter Buchstabe? Der müßte wirklich von allen guten homiletischen Geistern verlassen sein, der das zu behaupten wagte. Seien wir doch ja nicht stolz auf unser heutiges ,Leben', besonders nicht auf das religiöse!" 195 Niebergall weiß sich im Streit um die Textpredigt mit Bassermann einig. In einem Nachruf auf Heinrich Bassermann schreibt Niebergall: „Er war durch und durch Bibeltheolog." 196 Niebergall kommt alles darauf an, dem modernen Menschen nichts anderes als das biblische Evangelium zu predigen. Gerade deshalb ist „die Behandlung des Textes die Achillesferse dieser ganzen Predigtart" 197 , der Prüfstein der ,modernen Predigt'. Auch Baumgarten erhofft von der sozialen Predigt nicht nur eine engere Beziehung zwischen homiletischer Praxis und moderner Welt, sondern vor allem auch ein lebendigeres Bibelverständnis als es in der traditionellen Predigt gepflegt wurde. Er bezweifelt, ob „die Schriftgelehrsamkeit ein Gewinn ist für den schlichten Glauben; sogar, ob die Theologie einen Gewinn bedeutet für das fromme Leben" 198 . Das fromme Leben bedarf elftes lebendigeren Zusammenhangs mit der Bibel. „Es gilt, herauszukommen aus der knechtischen Abhängigkeit von den dicta probantia, aus den biblischen Belegstellen. Diese Abhängigkeit verknechtet uns der Schrift und verknechtet wiederum die Schrift unserem Eigensinn." Die Bibel soll in der Predigt nicht dogmatisch interpretiert werden, sondern „zur per19* H. Bassermann, Nicht nur „das Leben", sondern auch der Text, MkiPr 5, 1905, S. 4 4 4 - 4 4 8 ; 444f. 195 Bassermann, aaO., S. 445. l»6 F. Niebergall, Heinrich Bassermann, MevRU 2, 1909, S. 3 1 3 - 3 1 4 ; 314. - Zu Bassermanns praktisch-theologischer Arbeit vgl. H. Bassermann, Beiträge zur Praktischen Theologie, 1909. — Niebergalls Stellung im Streit um die Textpredigt wird in seiner Einleitung zur Praktischen Auslegung des Neuen Testaments deutlich: „Die Predigt will niemand von der Schrift trennen, mag man auch über Text und Leben denken, wie man will. Selbst wenn man den Text fallen ließe, dann bewegte man sich doch noch in der Schrift. Denn ebensowenig wie der Text notwendig die Brücke zur biblischen Welt ist, ebensowenig ist sein Mangel ohne weiteres das Abbrechen der Verbindung mit ihr. Wir werden auch im Religionsunterricht nicht von ihr loskommen. Uberhaupt will niemand in unsem Kreisen von der Bibel los. Dafür denken wir sämtlich zu geschichtlich" (aaO., S. 6). Für Niebergall „steht zuerst die Predigt ganz im Dienst der Erweckung und Pflege des Bibelgeistes" (aaO., S. 48). 197 F. Niebergall, Wie heute gepredigt wird, ChW 25, 1911, S. 1 1 6 2 - 1 1 6 7 , 1 1 9 7 - 1 2 0 0 ; S. 1200. 198 O. Baumgarten, Predigt-Probleme 25.
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sönlichen Aneignung". Und dazu braucht es eine neue homiletische Methode, einen „freieren und organischen Schriftgebrauch" 199 . Niebergalls Theorie des Predigttextes geht seinem ganzen Theorieverständnis 200 entsprechend von der Praxis, von der Beziehung der Predigthörer zum biblischen Text aus 201 . Um diese Praxis des untheologischen, allgemeinen Schriftgebrauchs innerhalb der Frömmigkeit und Kirchlichkeit erkennen und verstehen zu können, typisiert Niebergall sie wieder. „Die Gefühle, die man der Bibel gegenüber hat, stehen unter sich in starkem Gegensatz. Auch pflegen sie recht lebhaft zu sein. Sie schwanken zwischen abergläubischer Verehrung und bodenlosem Abscheu und Haß." 202 Ein erster Typ von Frömmigkeitsbeziehung zur Bibel ist die „Bibliolatrie", die „Bibelverehrung". „Für sie ist die Schrift ein Stück Heiligtum, das mit ehrfürchtiger Scheu betrachtet werden muß." Art und Intensität dieser religiösen Einstellung gegenüber den biblischen Texten erinnern Niebergall an „heidnische Neigungen". Er nennt diese Einschätzung der Bibel die „dogmatische". „Sie besteht nämlich in der Uberzeugung, die von vornherein an die Bibel herangebracht und darum durchgeführt wird, weil sie stimmen soll und muß: Die Bibel ist Gottes Wort; denn wir brauchen eine solche Autorität. Man urteilt also nicht aus der Sache heraus, sondern von bestimmten Voraussetzungen her, die in dem ganzen Denksystem oder in den Bedürfnissen begründet sind. Das ist dogmatisches Denken." Die fromme Verehrung der Bibel hat in der klassischen Inspirationslehre ihren höchsten theoretischen Ausdruck gefunden. Sie ist aber noch immer „der Grundund Eckstein aller Orthodoxie" 203 . Die gegenwärtige erbitterte Diskussion über die Frage, ob die Bibel Gottes Wort sei, ist für Niebergall nur auf dem Hintergrund eines dogmatischen Umgangs mit den biblischen Texten ι » Baumgarten, aaO., S. 26. 200 Niebergalls Verständnis der Praktischen Theologie findet sich vor allem in: Die wissenschaftlichen Grundlagen der praktischen Theologie, MkiPr 3, 1903, S. 2 6 8 - 2 8 1 ; ders., Theologie und Praxis, 1916. 201 Die Bedeutung der biblischen Texte für die Frömmigkeit untersucht P. Cornehl in seinem Aufsatz: „Die Funktion der Bibel für die Frömmigkeit als praktisch-theologisches Problem" (Thpr7, 1972, S. 124-142). Cornehl stellt fest, daß dieses Problem in der Praktischen Theologie der Gegenwart bisher kaum bearbeitet wurde. Ahnlich wie F. Niebergall bedient sich Cornehl der typologischen Methode und beschreibt „zwei Grundtypen von Frömmigkeit": „einen biblizistisch-pietistischen Typ" und „einen bürgerlich-liberalen, .protestantischen' Typ" (aaO., S. 125). Cornehl geht ausführlich der Funktion der Bibel für diese beiden Frömmigkeitsformen nach und bringt damit F. Niebergalls Ansatz einer praktisch-theologischen Theorie der biblischen Texte wieder zur Geltung. Zurecht betont Cornehl allerdings, daß es in unserer gegenwärtigen theologischen Situation nicht möglich ist, „die liegengebliebenen Fragen heute durch einen einfachen Rückgriff auf die liberale Theologie lösen zu wollen" (ebd.). 202 F. Niebergall, Was ist uns heute die Bibel, 1907, S. 2. 203 Niebergall, aaO., S. 4f.
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zu begreifen. Obwohl sich die Positionen konträr gegenüberstehen, gehen sie doch von einem gemeinsamen Grundverständnis aus. „Darum sagen die einen: Die Bibel ist Gottes Wort, die andern: Nein, sie ist es nicht. Beide streiten über ihre Prädikate, ohne durch Studium und Wissen um die Sache selbst bescheidener und gründlicher geworden zu sein. Dazu kommt auf Seiten ihrer Verteidiger oft noch unbewußt die so allgemeine Neigung, die großen religiösen und sittlichen Autoritäten und Heiligtümer auf alle Fälle zu verteidigen." 204 Für die historische Betrachtung der Schrift ist die Bibel „Menschenwort" 205 . Das Urteil, das diesen Einstellungstyp kennzeichnet, lautet, „daß wir an der Bibel eine Sammlung von religiöser Literatur besitzen, die unmittelbar mit uns gar nichts zu tun hat". Die Bibel ist „religiöse Literatur der israelitisch-urchristlichen Periode, geschrieben von und für Menschen einer ganz anderen Zeit und Kultur." Bildete die Bibel für die dogmatische Verehrung ein einheitliches Objekt, so zerfällt sie jetzt in eine Vielzahl von Schriften und religiösen Gedanken- und Darstellungskomplexen mit verschiedensten religiösen Deutungen und Stilen. Hinsichtlich der religiösen und ethischen Einstellungen der biblischen Schriftsteller läßt sich geradezu eine Skala aufstellen. „Die Reihe geht hinauf vom skeptizistischen Freigeist bis zum Zeugen, der ruhig seiner Sache gewiß ist, vom trockenen Moralisten bis zum glühenden Propheten, vom brünstigen Liebeslied bis zum weltentsagenden Asketen und Enthusiasten, von den niedrigsten religiösen Stufen an, wo Gott in einem Stein gegenwärtig geglaubt wird, bis zu den höchsten Worten über seine geistige Wesenheit. Eine große Zahl ethischer Schichten, die der Religion ihren Inhalt geben und von ihr ihre Grundlage empfangen: von der gewöhnlichen Sorge für Leib und Gut über die Sorge für den Staat hinweg zu der für die Seele und die Gemeinschaft von Seelen unter dem Haupt Jesus Christus — also eine Übersicht über die aufeinander folgenden ethischen Ideale, wie sie so leicht uns nicht oft zugänglich ist." 206 Unter der historisch-kritischen Betrachtungsweise löst sich aber die Bibel nicht nur in einzelne literarische Dokumente auf, sondern sie verliert auch ihren Gültigkeitsanspruch für den modernen Menschen. Niebergall versucht nun wie in der ganzen homiletischen Praxis, so auch hinsichtlich des Schriftverständnisses sowohl die orthodoxe als auch die liberale Position zu überwinden 207 . Der moderne Mensch kann einerseits a * AaO., S. 8f. 205 AaO., S. 9. 206 AaO., S. l l f . 207 Niebergall entwickelt die Synthese aus orthodoxer Schriftlehre und liberaler Schriftkritik ausführlich in der Einleitung zur Praktischen Auslegung des Neuen Testaments (aaO., S. 7ff.). Gegenüber beiden Auffassungen der biblischen Texte bringt Niebergall den Begriff des „Vertrauens" gegenüber den biblischen Schriften ins Spiel (aaO., S. 25).
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nicht mehr zu dem vorkritischen Verständnis der biblischen Literatur zurückkehren, das sie als einen heiligen Gegenstand verehrt. Er steht aber andererseits mit seiner religiösen Wirklichkeitsdeutung auch schon jenseits jener distanzierten rationalistischen Haltung, die sich gegen jeden Verbindlichkeitsanspruch der Bibel verwahrt. Gerade das erhöhte Bewußtsein von sich selbst, von seinen Bedingungen, Einstellungen und Möglichkeiten eröffnet dem modernen Menschen ein neues Verständnis der historischen Dokumente. Er sieht in den biblischen Texten Ausdrucksformen religiöser Sinndeutung und erkennt so hinter den literarischen Formen die religiösen Persönlichkeiten der biblischen Zeit. Vor allem die Evangelien sind Zeugnisse der Persönlichkeit Jesu, die nicht nur im Mittelpunkt der christlichen Frömmigkeit steht, sondern auch die normative Bedeutung der neutestamentlichen Texte ausmacht. In den biblischen Texten entdeckt der moderne Mensch den religiös geleiteten Willen der Schriftsteller. „Indem wir so auf den Kern, nämlich auf den Willen gehen, haben wir beide Betrachtungsweisen überwunden, von denen wir oben sprachen. Und zwar sind wir höher sowohl als die rationalistische als auch als die orthodox altkirchliche gekommen. Denn wir glauben eine Person viel tiefer zu erfassen, wenn wir ihre Grundrichtung in ihrer Wertschätzung aufsuchen, als wenn wir uns bei einigen ihrer Wahrheiten aufhalten." 2 0 8 Das Erfassen von religiösen Grundeinstellungen in den biblischen Texten kann aber nicht von einer distanzierten Gelehrsamkeit aus erfolgen, sondern es ist nur innerhalb einer praktischen Lebensbeziehung zu den Texten möglich. Die intentionale Schriftinterpretation läßt hinter dem Historisch-Variablen das Menschlich-Konstante, hinter historischen Bedingungen die Identität religiöser Sinndeutung erkennen. Niebergalls strukturale Interpretation der Bibel stellt deshalb jene Unmittelbarkeit zwischen biblischem Text und modernem Menschen her, die den Predigttexten die Relevanz des Ethischen und des Religiösen zuerkennt. „Um es von der Höhe aus noch einmal zusammenzufassen: darum hat uns Gott die Fülle der religiösen Niederschläge in dieser großen, für uns klassischen tausendjährigen Vergangenheit gegeben, weil in ihr Lösungen und Aufgaben für das Leben aller Zeiten aufgespeichert sind. Denn die menschlichen Verhältnisse sind trotz Eisenbahnen und Zeitungen doch im ganzen und großen immer noch dieselben. Überall macht sich das trotzige und verzagte Menschenherz geltend und will Kraft und Frieden haben. Schließlich ist das Tiefste, was in den Menschen vorgeht, viel einfacher und einheitlicher, ais es nach den so verwickelten und so verschiedenen äußeren Verhältnissen scheint. Darum bleiben wir an die Bibel gebunden. Nicht weil wir es sollen oder weil wir es so wünschen, sondern weil sie uns nicht losläßt . . . So biegt sich uns langsam unter einem großen praktischen Gesichtspunkt zusammen, was wir unter dem geschichtlich-theoretischen haben auseinanderziehen müssen: 208 Niebergall, Was ist uns heute die Bibel, S. 4 3 . 177
aus den Schriften wird wieder die Schrift." 209 Oder — wie Niebergall an anderer Stelle sagt —: „Hat einem die Kritik Gottes Wort zu Menschenwort gemacht, in dieser Sammlung tritt Einem wieder die Kraft einzelner Bibelworte in ihrer zeitlosen Bedeutung nahe." 210 Niebergall möchte mit seiner homiletischen Textinterpretation die historisch-kritische Methode freilich nicht auflösen, sondern er möchte sie gerade weiterführen und in gewissem Sinn auch auf die Spitze treiben. Er zieht die Konsequenzen aus der formgeschichtlichen Betrachtung der Bibel. Und er weiß sich in seiner Intention mit Paul Drews einig, der wie er eine „praktische Exegese" fordert und ihre Grundzüge so beschreibt: „Sie darf nicht in Gegensatz gegen die streng wissenschaftliche Exegese treten, also gewissermaßen wieder einreißen, was diese aufgebaut hat, sondern sie hat sie fortzusetzen, auf ihrem Grunde weiterzubauen, indem sie aus dem geschichtlich bedingten, in einstmalige Zeitvorstellungen eingekapselten Text die bleibenden religiösen und sittlichen Wahrheiten herausschält." 211 Niebergall hat seine „praktische Betrachtung" 212 des Alten und Neuen Testaments in einer homiletischen Schriftenreihe ausführlich angewandt und sie in Umrissen auch in seiner Homiletik dargelegt. „Es soll wirkungskräftiger gepredigt werden. Der Mensch von heute soll wirklich mit den Mitteln des Evangeliums gefaßt, angetrieben und getröstet werden. Dabei soll uns Wissenschaft helfen, d. h. planmäßige Untersuchung der in Betracht kommenden Faktoren. Das ist erstens das Evangelium, nämlich die Schriften des Neuen Testamentes. Sie sollen daraufhin untersucht werden, wie sie zu bewegen und zu beruhigen suchen. Ich halte diese Betrachtung des Neuen Testaments für dringend nötig; denn zum Bewegen und Beruhigen sind, denke ich, diese Schriften alle ursprünglich geschrieben, also zu praktischen Zwecken." 213 Im ersten Teil der Homiletik interpretiert Niebergall ausschließlich die neutestamentlichen Schriften nach seinen homiletischen Prinzipien. Im Rückblick auf die moderne Predigtbewegung und seinen eigenen Beitrag dazu in dem Buch „Wie predigen wir dem modernen Menschen?" zeigt Niebergall, wie sein ganzes homiletisches Denken von der Entdeckung der praktischen Exegese als Ermöglichung einer wirkungskräftigen modernen Predigt ausging. „Das Buch war ursprünglich rein als eine Arbeit gedacht, die in das Gebiet der sogenannten Neutestamentlichen Theologie gehörte, 209 Niebergall, aaO., S. 84. 210 Niebergall, Rezension von A. Westphal, Es stehet geschrieben, ChW 21, 1907, S. 1228. 211 P. Drews, Das Problem der Praktischen Theologie, S. 81. 212 Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 1, S. 4. — Vgl. auch Niebergalls Praktische Auslegung des Alten und Neuen Testaments (1912; 3. Aufl. 1923) und die Kurzen homiletischen Einführungen zu Predigttexten, 1928ff. und dazu: Sandbeiger, aaO., S. 137ff. 213 Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 1, S. 2. 178
weil dem Verfasser aufgegangen war, daß es den Männern, die im Neuen Testament reden, weniger auf ein stückweise darzubietendes dogmatisches oder ethisches System als auf Wirken ankommt. Im Dienst dieses Wirkens verwenden sie alles, was sie nur gebrauchen können, soweit es sich wenigstens mit den weit gezogenen Grenzen der neuen Botschaft verträgt. So wurden im Neuen Testament bestimmte Linien von Gedanken gefunden, die bestimmen und die beruhigen sollen; beide Arten weisen gewisse Unterschiede in der Höhenlage auf, je nach dem Zweck, der den Verkündigern vorschwebt. Nur in dieser Absicht, zu wirken, ist ein jeder mit sich und den andern einig, sonst gehen die Gedanken weit auseinander." 214 In seiner homiletischen Interpretation der neutestamentlichen Schriften stellt Niebergall jeweils die Motive und Quietive heraus, die die religiöse Deutung der Wirklichkeit .leiten. Dabei sind zwei Grundtendenzen der praktischen Exegese erkennbar. Einmal rekurriert Niebergall ständig auf die Beziehung der einzelnen Schriften zum historischen Jesus 215 . Bei der Paulus-Exegese schreibt er etwa: „Wir müssen aus unserer besseren Erkenntnis des wirklichen Christus heraus diese spekulativen Elemente zu ersetzen suchen durch das Bild des auf Erden wandelnden Jesus, das uns die letzten Jahrzehnte geschenkt haben, wir müssen das hellenistische Element bei Paulus ersetzen durch die im geschichtlichen Christus wirkende Kraft." 2 1 6 Entsprechend nimmt die Interpretation der synoptischen Evangelien den weitesten Raum ein. In der Verkündigung Jesu findet Niebergall rationale, eschatologische und ideal-religiöse Motive 217 , jene Skala der religiösen Motivation also, die er auch in seiner Kirchlichkeitsanalyse verwendet 218 . Die zweite ständig wiederkehrende Intention der homiletischen Textinterpretation ist der Rekurs auf die religiöse Grundtendenz aller neutestament214 Die moderne Predigt 1929, S. 66. — Niebergall möchte mit der intentionalen Schriftinterpretation einerseits die Grundmotive der Texte herausarbeiten, andererseits die Texte aber durchaus in ihrer komplexen Gestalt darstellen. Mit Recht schreibt F. Frey über Niebergalls praktische Exegese: „Niebergall setzt gegen die Absolutheit die Relation, gegen Objektivität Subjektivität, gegen Ganzheit die Sammlung von Schriften, und er scheut sich nicht, der Schrift gegenüber das Recht der Subjektivität des Lesers zu betonen. Wert hat der Text, der auf das Leben gerichtet ist" (F. Frey, Motive und Quietive, DtPfrbl. 66, 1966, S. 1 5 6 - 1 5 8 , S. 156). 215 Differenzen und Gemeinsamkeiten der neuen Frage nach dem historischen Jesus und der Frage der liberalen Theologie stellt E. Käsemann dar (Das Problem des historischen Jesus, ZThK 51, 1954, S. 125—153). — Zu Niebergalls Frage nach dem historischen Jesus vgl. auch den Abschnitt .Jesus Christus" in der Einleitung zur Praktischen Auslegung des Neuen Testaments (3. Auflage 1923; S. 52ff.). Niebergalls Jesusbild stellt auch F. Frey (aaO., S. 157) dar. 216 Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 1; 45. — Vgl. auch S. 51. 2 " Niebergall, aaO., S. 9ff. 218 Niebergalls soziologische Analyse der Kirchlichkeit findet sich in: Wie predigen wir dem modernen Menschen? Bd. 1; 9 Iff.
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lichen Schriften 2 1 9 . Die praktische Exegese hat vor allem im theologischen System des Paulus immer wieder dessen religiöse Motivation zu untersuchen. „Des Apostels Art kann sich nicht begnügen mit der Aufstellung dieser Gewißheit der Gnade Gottes in Christi Tod; er muß diese Überzeugung unterbauen mit einer Theorie, die mit Hilfe zeitgenössischen Vorstellungsmaterials es begreiflich machen will, daß Gott auf einmal statt des Zornes Gnade ergehen läßt. Die theoretischen Versuche bilden eine sekundäre Reihe von Gedanken, die hinter der Aussprache der Erfahrung und der einfachen Mitteilung der Gnade an die Sünder stehen. Zwischen beiden Reihen läuft die Grenze, die die Religion von der Theologie scheidet, mag es auch die Theologie des Apostels Paulus sein." 2 2 0 Dasselbe gilt auch für eine so ausgeprägt theologische Schrift wie den Hebräerbrief. „Der Brief an die Hebräer ist auch keine dogmatisierende Schrift über das Hohepriestertum Christi, den Glauben und andere nützliche Dinge mit angehängter Nutzanwendung, sondern wenn man ihn ganz genau liest, dann springen einem an allen Ecken die praktischen Tendenzen und zwar sehr starke in die Augen, und es erscheinen die theoretischen Ausführungen nur als ihre Begründungen." 221 Beide Intentionen Niebergalls, der Rekurs auf die Person Jesu und auf die religiösen Momente der theologischen Schriften, verfolgen das Ziel der praktischen Exegese. Die moderne Predigt, die selbst nicht Theologie, sondern Verkündigung, nicht Theorie, sondern Praxis ist, findet in den biblischen Texten ihre Entsprechung. Es sind nicht die theologischen Systeme, auf die sich der Prediger bei seiner Erziehungsarbeit beruft, sondern es ist der Verkündigungscharakter des Neuen Testaments, der in den drei Gruppen der Motivationen ständig wiederkehrt, in innerweltlichen, transzendenten und religiösen Motiven 2 2 2 . „Diese drei Linien ziehen sich hindurch von der Verkündigung des synoptischen Christus bis zum Johannesevangelium. Alle drei werden geschnitten von einer Vertikallinie, jenseits derer ein ganz Neues beginnt. Diese Vertikallinie ist die Bedeutung der Person Christi selbst. War er zuerst das Subjekt dieser Verkündigung, so wird er immer mehr Objekt; oder wenigstens wird er immer mehr in die Motive selbst hineingezogen . . . Sein Leidensvorbild tröstet, seine Vergebung stillt. Er überwindet den Tod und gibt das Leben. Er zieht in seine Gemeinschaft hinein, entfernt, was mit ihm nicht stimmt, und schafft, was zu ihm gehört. Darum verpflichtet er auch. Er verpflichtet durch die Zugehörigkeit zu Gott und dem ewigen Heilsgut . . . Die Gabe ist Aufgabe." 2 2 3 219 Die Trennung von Theologie und Religion — ein Grundmotiv der Theorie der modernen Predigt — findet sich innerhalb der praktischen Schriftauslegung Niebergalls vor allem in: Wie predigen wir dem modernen Menschen? Bd. 1; S. 42 und 52. 220 Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 1, S. 42. 221 Niebergall, aaO., S. 48. 222 AaO., S. 67 . 223 AaO., S. 68.
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Die Konzentration auf die religiöse Motivation, wie sie in der Person Jesu erscheint, ist das Kennzeichen der modernen Evangeliums-Verkündigung. „Der leitende Gedanken wird ohne Zweifel der des göttlichen himmlischen Gutes mit seiner Kraft sein, wie es besonders in Christus vergegenwärtigt werden kann. Denn das ist das spezifisch Neue im Neuen Testament gegenüber allem anderen." 2 2 4
V. Die Theorie der Predigt 1. Die synthetische
Struktur des homiletischen
Denkens
Die praktische Theorie des Predigttextes verdeutlicht noch einmal die Stellung der modernen Predigt gegenüber der Homiletik der Vergangenheit und auch gegenüber anderen homiletischen Systemen der Zeit 225 . Die moderne Predigt versteht sich selbst mit einem nicht selten epochal pointierten Anspruch als eine kritische Bewegung. Sie beurteilt den Erfolg der landläufigen Predigt sehr skeptisch. Und sie hält die praktische Wirkung der traditionellen systematischen Homiletik für nahezu bedeutungslos. Beide haben die Predigt der Gegenwart in eine Krise getrieben. Und aus dieser kritischen Situation der Predigt in der Neuzeit legitimiert sich die moderne Predigt als eine neue Bewegung, als eine homiletische Reformation. Es erklärt sich aus der kritischen Beurteilung der homiletischen Theorie und Praxis, daß Niebergall und seine Freunde auf die vorhandenen theologischen Ansätze nicht selten polemisch reagieren, daß ihr Urteil gelegentlich überspitzt und ungerecht erscheint und daß die Moderne Predigt deshalb auch auf Kosten ihrer Gegner argumentiert und von einem Modernitätsbewußtsein lebt, das manchmal sogar illusionistische Züge tragen mag. Aber diese polemische Zuspitzung ihrer Tendenzen ist nicht die Grundintention der Modernen Predigt. Sie versucht vielmehr, eine Theorie der Predigt zu konzipieren, die Kritik und Polemik grundsätzlich trennt, die den Streit der Theologen um dogmatische Positionen ablöst und damit einem kritischen Umgang mit der Wirklichkeit, mit der Praxis erst ermöglicht. Niebergall distanziert sich deshalb von einer Predigtpraxis, deren homiletische Grundstruktur die Diastase ist. Wer wie Adolf Stöcker die Zeit als „krank" und die Kirche als „schlafsüchtig" bezeichnet, der beweist damit kein Verständnis für die kritische Situation von Kirche und Religion in der Neuzeit, ihm ist nicht „die innere Not der Zeit an die Seele gegangen" 226 . AaO., S. 69. Die moderne Predigt 1929; S. 57ff. AaO., S. 82.
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Für ihn ist vielmehr die Predigtpraxis eine Folge seiner theologischen Einstellung, ihre gemeinsame Denkstruktur die schematische Diastase. Theorie und Praxis dieser Predigt sind „unmodern" 227 , auch wenn sie sich einer Terminologie und wenn sie sich Vorstellungsmitteln bedienen, die in höchstem Maße aktuell erscheinen. Denn die Denkstrukturen dieser Predigtweise entstammen dem Arsenal einer geschichtlichen Epoche, der die Gegenwart fremd gegenübersteht, der Orthodoxie. Die diastatische Predigt ist orthodox: supranaturalistisch, autoritär und „stark rückwärts gewandt". „Die Vergangenheit bildet den Richtpunkt für alles, was wertvoll ist. Hier ist die Quelle der Offenbarung, hier wohnt die Autorität, hier sind die wichtigsten Maßstäbe zu finden. Pietät, Achtung vor dem Herkommen, vor dem so bewährten Alten, diese Grundzüge des konservativen Menschen gehören zur Struktur der Orthodoxie; sie werden ergänzt durch die negativen Züge des Mißtrauens gegen alles Neue." 228 Eine Position, die wie Stöcker in der Predigtpraxis und wie Steinmeyer in der Predigttheorie durch das Mißtrauen gegenüber der geschichtlichen Weiterentwicklung der religiösen und kirchlichen Praxis gekennzeichnet ist, ist für Niebergall nicht biblisch, sondern konservativ zu nennen. Und sie ist dabei in unkritischer Weise von sich selbst eingenommen. Steinmeyer verschließt sich der Rhetorik gegenüber, weil er „die Kosten der Erkenntnis der Predigtaufgabe ganz aus eigenen Mitteln bestreiten will" 229 . Er verschließt sich damit einer methodischen Differenzierung, wie sie die Predigtpraxis nicht nur gebietet, sondern ohne strenge Rücksicht auf die Theorie auch immer verwirklicht. Eine Theorie, die vom Standpunkt der Orthodoxie aus auch ohne Reflexion der Praxis sich entwickeln kann, ist „doktrinär" 230 . Und es ist die Intention der modernen Predigt, diese praxislose, reine Theorie der Predigt in ihrem ganzen Umfang aufs schärfste zu kritisieren, um dann eine Theorie der Predigtpraxis deskriptiv und konstruktiv erstellen zu können. Die Predigtpraxis entwickelt sich zwar auch in Gegensätzen, denn sie partizipiert am Geist der jeweiligen historischen Epochen. Aber die Predigtpraxis entwickelt sich nicht nur viel ruhiger, viel kontinuierlicher als die Homiletik, deren Systeme von nur kurzer Dauer sind und sich ständig widersprechen, sondern sie ist auch in einer bestimmten Zeit viel geschlosse" 7 AaO., S. 81. 22« AaO., S. 50f. 229 AaO., S. 62. — Steinmeyer setzt seiner Homiletik das Ziel, „Anweisungen für andere zu erteilen, damit nicht die dem göttlichen Worte immanente Macht durch eine unangemessene menschliche Darstellung und Darbietung gebunden und geschwächt würde". Er fordert daher für die homiletische Theoriebildung: „Sie darf sich schlechterdings nicht aus sich selbst konstruieren, noch weniger von einem ihr ganz fremden Gebiete, etwa von der Rhetorik, den Ausgang nehmen" (F. L. Steinmeyer, Homiletik, hrsg. v. M. Reyländer, 1901, S. 2). 230 Niebergall, Die moderne Predigt 1929, S. 50.
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ner, viel einheitlicher als die gegensätzlichen homiletischen Theorien der Zeit vermuten lassen 231 . Die Praxis der Predigt folgt offenbar anderen Gesetzen als die Theologie. Und es gehört daher nicht zuletzt zu den Aufgaben einer kritischen Predigttheorie, deren Anspruch darin besteht, Theorie und Praxis des Predigens zusammenzufassen, daß sie ihre Theorie den Gesetzmäßigkeiten der homiletischen Praxis entsprechend gestaltet und damit in kritischer Distanz zu der verselbständigten doktrinären Homiletik gerät. Niebergall findet die Akzentuierung der Gesetze der kirchlichen Praxis und der entsprechenden theoretischen Strukturen in einem Kreis von Theologen, den man heute als liberal zu bezeichnen pflegt. In der Festgabe für Martin Rade, einem Rückblick auf die vierzigjährige Geschichte der Zeitschrift „Christliche Welt", schreibt Friedrich Niebergall 1927 über „Die .Christliche Welt' und die kirchliche Praxis" 232 . Die praktische Theologie, wie er sie zusammen mit seinen Freunden Paul Drews und Otto Baumgarten verstand, erscheint Niebergall im schon historischen Rückblick als „Umschwung zu einer ganz neuen Auffassung und Gestaltung der Disziplin" 233 . Sie beruhte auf der Reflexion des Theorie-Praxis-Verhältnisses, das die Theologie der Christlichen Welt konstituierte. Sie erscheint Niebergall daher auch gegenüber der inzwischen zu herrschen beginnenden dialektischen Theologie als eine praktische und daher kritische theologische Position. „Wenn es die Probe für eine theologische Richtung ist, in welchem Maße sie der kirchlichen Praxis dient, dann darf der Kreis, der sich um die .Christliche Welt' sammelt, getrost dem Urteil der Geschichte entgegensehen. Wie kein Blatt bekannt ist, das sich früher einmal vierzig Jahre auf dieser Höhe gehalten hat, das so geliebt — wenn auch gehaßt ward wie das unsrige, so wird es für spätere Zeiten einen Maßstab abgeben, an dem man jedes ähnliche messen wird. Wenn der Aeon .Zwischen den Zeiten' vorüber ist, dann wird die Richtung, die nach der unsrigen kommt, ihr Auge weit und ihren Arm stark machen müssen, um ihrer Zeit in derselben Weise kirchlich-praktisch zu dienen, wie es die ,Christliche Welt' in der unsrigen getan hat." 2 3 4 Das Problem der Beziehung von theologischen Denkstrukturen und kirchlicher Praxis beschäftigt Niebergall von Anfang an. Bevor er es 1916 zum 231 Niebergall arbeitet vor allem in seinen zahlreichen Predigtrezensionen die gemeinsamen Gesetze der homiletischen Praxis bei Autoren verschiedener theologischer Positionen heraus (vgl. beispielsweise ChW 21, 1907, 8 1 3 - 8 1 7 ; ChW 21, 1907, 1228; ChW 21, 1907, 2 8 2 - 2 8 7 ; ChW 25, 1911, 2 9 2 - 2 9 5 ; ChW 39, 1925, 5 7 0 - 5 8 8 , 7 3 5 - 7 4 3 ; ChW 42, 1928, 3 4 - 3 7 , 5 8 - 6 0 ; ChW 4 5 , 1931, 2 7 8 - 2 8 4 ; ChW 46, 1932, 6 6 1 - 6 6 4 , 739-745. 232 F. Niebergall, Die „Christliche Welt" und die kirchliche Praxis. In: Vierzig Jahre „Christliche Welt", 1927; 1 2 2 - 1 2 7 . 233 Niebergall, aaO., S. 126. 2 » AaO., S. 127.
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Thema seines Buches „Theologie und Praxis" 2 3 5 macht, versucht er im Resümee einer Tagung der Freunde der Christlichen Welt die gemeinsamen Strukturen in den verschiedenen Vorträgen von Theologen zu erfassen, die das theologische Wissenschaftssystem in allen Disziplinen repräsentieren. Niebergall nennt seine Analyse „Synthesen-Theologie" 2 3 6 , denn „alle ohne Ausnahme vollziehen in irgend einem Grad eine Synthese, und zwar eine Verbindung von Dingen, die sich im allgemeinen mehr oder weniger fremd gegenübergestanden haben" 2 3 7 . Harnack verbindet das doppelte Evangelium von Jesus und Paulus miteinander, Gunkel die verschiedenen Methoden der alttestamentlichen Exegese, Dorner Spekulation und historische Forschung, Titius Entwicklungsgedanke und sittliche Anschauung, Wobbermin amerikanische Religionspsychologie und erkenntniskritisch geleitetes Denken, Baumgarten Religionsunterricht und allgemeine „irrationale" Sitte, Weinel Kirche und Theologie, Bousset Geschichte und Religion, von Soden religiöses und historisch-kritisches Schriftverständnis, Foerster Staat und Kirche, Troeltsch Christentum und moderne Welt 238 . Auch Niebergalls kritische Analyse des Zusammenhangs von homiletischer Praxis und Theorie in der Gegenwart folgt den Denkgesetzen der Synthesen-Theologie. „Mein Vortrag über die heutige Predigtkunst und die homiletische Lehre will ebenfalls eine Verbindung zweier Methoden anbahnen: die religionspsychologische soll durch die historische ergänzt werden, wie das gezeigt wird an dem Vergleich, den ich zwischen der rationalistischen und der heutigen Predigt und Predigttheorie anstelle. Dessen Ergebnis ist, daß wir zwar in der Form der Predigt mit dem Rationalismus vieles gemeinsam haben, aber in Bezug auf ihre inhaltliche Norm unsre eigenen Wege gehen." 2 3 9 Niebergall bezeichnet diese Form theologischen Denkens als Synthesen-Theologie. Sie nimmt scheinbar gegensätzliche historische Positionen auf, um sie in der Gegenwart kritisch miteinander zu vermitteln. Es ist ihr Bestreben, „das, was früher einmal wichtig war, neben dem, was der Redner eigentlich für wichtig ansieht, nicht fallen zu lassen, sondern aufzunehmen und zu verwerten. So geht ein Zug von Besonnenheit und Gerechtigkeit durch das Ganze." Die Synthese ist sowohl im biographischen Lernprozeß des einzelnen als auch in der historischen Entwicklung die reifere, die gemessenere, die ausgewogenere Form des Denkens als die Antithese. Denn sie wird der geistigen Entfaltung der einzelnen Persönlichkeit ebenso gerecht wie der für Theorie und Praxis notwendigen Kontinuität der Geschichte 240 . 235 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Die Theorie der homiletischen Theorie". 236 F. Niebergall, Synthesen - Theologie, ChW 25, 1911, S. 2 9 2 - 2 9 5 . 237 Niebergall, aaO., S. 292. 238 AaO., S. 292ff. 239 A aO., S. 293. 240 AaO., S. 294. — „Das ist die jugendliche Theologie: das Neue ist das einzig Wahre, und Alles, was die Alten gesagt haben, ist Unsinn. So haben die meisten von uns ein-
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Niebergall sieht e i n e n der Vorzüge der Gegenwart darin, daß sich ein allgemeines B e w u ß t s e i n für die N o t w e n d i g k e i t der V e r m i t t l u n g v o n positionellen Gegensätzen, eine T e n d e n z z u m g e m e i n s a m e n B e m ü h e n u m Welterkenntnis u n d Wahrheit e n t w i c k e l t hat. Der Geist des Ausgleichs, die S u c h e nach d e m G e m e i n s a m e n , d e m V e r b i n d e n d e n k e n n z e i c h n e t auch das Gebiet der Religion. „Wir k o m m e n v o n einem Zeitalter des Streites her, w o J e d e r das Bedürfnis h a t t e sich gegen d e n A n d e r n abzugrenzen. Das Wort Bekenntnis war geeignet, w ä h r e n d es d o c h verbinden sollte, alle miteinander zu veruneinigen. Wir sind in ein ganz anderes Zeitalter eingetreten. Man k ö n n t e es das s y n t h e t i s c h e n e n n e n . " D a s Ziel des m o d e r n e n , des v e r m i t t e l n d e n D e n k e n s „ist anstatt der Einerleiheit u n d der Trennung die Verbindung v o n V e r s c h i e d e n e m . D a s m ö g e n die U n e n t w e g t e n bedauern, aber die A n d e r n sehen es als einen Fortschritt an. Dieser b e s t e h t darin, daß m a n i m m e r gelernt hat, in d e m , w a s trennt, die N e b e n s a c h e u n d die H a u p t s a c h e in d e m zu sehen, was auf Grund der g e m e i n s a m e n G e s c h i c h t e u n d Anlage gem e i n s a m ist. S o tritt an die Stelle des Gegensatzes in d e m E i n e n die Einheit in der Mannigfaltigkeit" 2 4 1 .
mal gesagt: die geschichtlich Gerichteten zu den Spekulativen, die Psychologen zu den Historikern, die Religionswissenschaftler zu den Kritischen, die Relativisten zu den Absolutisten, die synoptisch Gerichteten zu den Freunden des Paulus usw. Das war wirklich eine schöne Zeit, diese Zeit der kindlich frischen, manchmal sogar etwas frechen Antithesen-Theologie. Dann aber taten wir ab, was kindisch war, und versuchten zu verstehen und gerecht zu werden. Das ist die Stufe des Mannes, die Stufe der Besonnenheit. Es ist zugleich die des Fortschritts: bedeutet die Antithese die Reform oder die Umwälzung, so bedeutet die Synthese den ruhigen Fortschritt, den Weiterbau an einem Gesamtwerk. Wühlt die Antithese festgetretenen Boden mit scharfem Eisen auf, ist sie dabei ungerecht und unbarmherzig, so vertieft die Synthese und arbeitet gerecht und besonnen. Die Antithese reißt Wahres aus der Verbindung mit Halb- und Unwahrem heraus, die Synthese verbindet Neues und eignes Wahres mit altem und fremdem Wahrem. Die Antithese verengert, die Synthese erweitert. So ist es aber nicht nur mit der Theologie bestellt, die sich vor unseren Augen entwickelt; so ist es mit aller Theologie: alle Theologie ist Synthesen-, ist Vermittlungstheologie. Wir denken an Paulus als Theologen, an die Apologeten, an Origines, an Augustin; wir denken an Anselm, an Thomas von Aquino, wir denken an Luther als Theologen, an Schleiermacher — es ist immer Synthesen- und Vermittlungstheologie. Eine alte Synthese wird aufgelöst und eine neue geknüpft; diese herrscht, bis sich wieder gegen sie eine Antithese erhebt, die das Wahre in ihr aus dem Wust von Überlebtem, Verflachtem und Halbwahrem, in den jene allmählich aufgegangen war, herausholt, um es einer neuen Verbindung zuzuführen; und diese neue Verbindung greift mitunter auf den Typus einer alten zurück. So gleicht die Entwicklung der Theologie einem Mäander: ein beständiges Verbinden und Trennen. Dabei wird mancher Irrtum — man kann sagen für immer — beseitigt, ein andrer kommt häufig wieder. Manche wahre Erkenntnis wird doch allmählich in allem Widerspruch erhärtet und bleibt, eine andere hat noch eine Reihe von Metamorphosen zu durchwandern. So ist es mit aller Theologie; ist es mit anderm Suchen nach Wahrheit anders?" (aaO., S. 294f.) 241 F. Niebergall, Bekenntnis und Verkündigung, ChW 43, 1929, S. 6 7 7 - 6 8 1 ; 677. 185
In seiner Ethik hatte Niebergall die religiöse Deutung und Motivation der sozialen Beziehungen mit dem Begriff des Vertrauens zu erfassen versucht 242 . Den religiös-sittlichen Standpunkt — so beschreibt Niebergall die sozialen Relationen nun hier — nimmt der ein, der „sich davor hütet, gleich links vom eigenen Standpunkt die Unchristlichkeit anfangen zu lassen" 243 . Nicht zufällig entwickelt Niebergall diese Beschreibung der sozialen Beziehungen im Gebiet der Religion unter dem Thema „Bekenntnis und Verkündigung". Denn gerade derjenige, dem die christliche Verkündigung anvertraut ist, der Pfarrer also, kann seinen sozialen Beruf nur wahrnehmen, wenn er sich nicht durch seine diastatische Einstellung und durch sein antithetisches Denken selbst in die Isolation begibt. „Christliche Verkündigung und kirchliche Erziehung" sollen „ein Verhältnis zwischen Gott und Christus auf der einen Seite und den Menschen auf der andern anbahnen und aufrechterhalten" helfen. „Evangelium ist die Botschaft, daß der Anfang dazu von Gott gemacht wird, daß nicht wir den Anfang machen müssen". Der Standpunkt antithetischer Intoleranz zerstört aber diese religiöse Grundbeziehung. „Immer oder wenigstens in der Regel muß man sich der Vortrefflichkeit der eigenen Art versichern, indem man die der Andern herabsetzt. Und darüber fällt man gar zu leicht aus jenem Verhältnis selbst heraus." Ist es die Aufgabe des Pfarrers wie des Theologen, in den humanen Beziehungen der modernen Gesellschaft das religiöse Moment zu wahren und zu pflegen, dann muß gerade er zu integrativen Verhaltensformen und Urteilsweisen erziehen. Das Berufsgebiet des Pfarrers ist daher nicht die durch Abgrenzung, Antithese und Isolation zerklüftete theologische Theorie des richtigen Bekenntnisses, sondern die Praxis der Verkündigung, des religiösen Grundverhältnisses. „Es handelt sich nicht um eine noch so hohe Moral, auch nicht um eine noch so christliche Lehre über jenes erste Verhältnis zwischen Christus und Gott. Es handelt sich nur um das genannte Verhältnis zwischen Gott und Christus auf der einen Seite und uns auf der andern. Steht dies von ihnen aus ein für alle Mal fest, so bedürfen wir immer aufs neue seiner Vertiefung oder Wiederherstellung. Aller christliche Trost liegt darin, daß jenes Verhältnis immer noch besteht und durch Sünde und Schuld sowie durch alle Schicksalsschläge samt dem Tode nicht aufgehoben werden kann. Alle christliche Mahnung kommt darauf hinaus, jenes Verhältnis immer wieder aufs neue aufzunehmen. Kein anderer Trost, wie etwa allerlei Vernunft- oder Verstandesgründe oder gar Resignation und Narkose, ist christlich. Und keine Moral, und sei es auch die höchste, ist es, wenn sie auf sich besteht und nicht in jenem Verhältnis wurzelt." 244 242
Vgl. dazu vor allem die Abschnitte „Unsere soziale Botschaft" (165ff.) und „Evangelischer Geist in sozialen Veranstaltungen" (223ff), in: Evangelischer Sozialismus, 1920. Den Zusammenhang von Verantwortung und Vertrauen stellt Niebergall dar in: Religion und Moral, MevRU 14, 1921, S. 2 4 1 - 2 5 1 ; 247f. 243 Niebergall, Bekenntnis und Verkündigung, aaO., S. 678. Niebergall, aaO., S. 680.
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2. Die konstruktive
Funktion
einer praktischen
Dogmatik
Der dritte Teil der Homiletik Niebergalls heißt „Die Verkündigung an unsere Zeit" 245 . Niebergall entwickelt hier die Synthese aus den beiden vorausgegangenen Analysen des modernen Menschen und des Evangeliums. Waren beide Teile der Homiletik durch den gemeinsamen kategorialen Rahmen — das Schema der Motive und Quietive — schon miteinander verbunden, so werden sie nun explizit aufeinander bezogen. Die letzte und entscheidende Aufgabe der Predigtlehre ist im Gegensatz zu den beiden anderen eine „praktische". Sie besteht darin, „zu untersuchen, wie man das so beschaffene Evangelium mit seinen Motiven und Quietiven dem so beschaffenen Menschen unserer Tage darzubieten hat, damit die Motive und Quietive nicht nur als gut und christlich erkannt, sondern damit sie auch wirksam werden und tatsächlich in das Rad des Willens eingreifen" 246 . Die technische Seite der homiletischen Verkündigungsaufgabe behandelt Niebergall im zweiten Band der Homiletik in aller Ausführlichkeit. Er bezieht Form und Inhalt der Predigt auf das personale System des Hörers, das er in Anlehnung an Heinrich Maier entwickelt hatte 247 . Die moderne Predigt — so fordert Niebergall in den drei Teilen seiner praktischen Predigtlehre — muß verständlich, interessant und wirksam sein. Jedes dieser Kapitel wird wieder in drei Abschnitte unterteilt, eine „empirisch-psychologische Grundlage", einen materialen und einen formalen Teil. Niebergall bleibt auch hier der induktiven Methode treu 248 und verarbeitet eine Fülle von praktischen homiletischen Erfahrungen und Beobachtungen zu einer Theorie der Predigt in der Gegenwart. Gerade im praktisch-technischen Teil der Homiletik wird Niebergall seinem homiletischen Programm in besonderer Weise gerecht. Er erweist sich als ein „Theoretiker der Praxis" 249 . Die Synthese von Evangelium und Mensch bildet aber nicht nur eine technische Aufgabe der Homiletik. Gerade für Niebergall, dem daran gelegen ist, die homiletische Grundbeziehung nicht dem Belieben einer zufälligen praktischen Beziehung zu überlassen, sondern der in einer derartigen Beliebigkeit die Zerstörung dieser Beziehung erkennen müßte, gerade für ihn bildet die praktische Synthese von Evangelium und Mensch auch ein theoretisches Problem. Es wurde in der traditionellen Homiletik freilich selten angegangen. Man überließ die Anwendung der biblischen Gedanken meist dem Hörer. Und selbst wo die Predigt die Verknüpfung von Evangelium und Hörer herstellte, geschah dies ohne Theorie 250 . Niebergall 245 Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 1; S. 128ff. 246 AaO., S. 128. 247 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Die Struktur der Persönlichkeit" in der „Theorie des Hörers". 248 Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 2, S. 5 . 249 AaO., S. 199. 250 Niebergalls Analyse der traditionellen und der modernen Homiletik findet sich in: Die moderne Predigt 1929; S. 57ff. 187
muß deshalb auch für den dritten Teil seiner homiletischen Theorie eine eigene wissenschaftliche Methode entwickeln. Zur Analyse der Predigthörer hatte Niebergall als Rahmentheorie eine religionswissenschaftliche Religionspädagogik entworfen. Sie sollte einerseits unter psychologischen, andererseits unter soziologischen Aspekten den Hörer als Mensch in seiner Welt beschreiben und ihn so verstehen lehren 251 . Zur homiletischen Interpretation der biblischen Texte als Predigttexte bediente sich Niebergall einer praktischen Exegese, die weder die historisch-abständigen Bedingungen und Formen der Texte noch deren Relevanz für die dogmatischen Lehren von Kirche und Theologie erhob, sondern den motivierenden Impulsen und den tröstenden Momenten der neutestamentlichen Texte nachging252. Die synthetische Predigtlehre hat nun die Aufgabe, die Funktion der Predigt zwischen neutestamentlichen und modernen Motivationen zu klären. Sie fragt zunächst: „Wie wirkt überhaupt Predigen?" 253 , um die Predigt innerhalb ihres Funktionsfelds erfassen zu können. Entsprechend den verschiedenen Einstellungen gegenüber der Predigt lassen sich verschiedene Formen und Grade der Wirksamkeit einer Predigt auf der Seite der Hörer typisieren. „Man kann von augenblicklicher und von möglicher Nachwirkung sprechen. Sicher bedeutet die Predigt für Viele weiter nichts als ein gewohntes Stück in einer gewohnten sogenannten Feier, die man eben mitmacht oder erduldet, ohne sich viel dabei zu denken oder zu empfinden. Für Andere bedeutet sie eine geistig-ästhetische Leistung wie ein beliebiger Vortrag auch, den man genießt, den man kritisiert oder eben nur aushält. Tiefer geht schon die Wirkung, wenn der regelmäßige Besuch des Gottesdienstes eine allgemeine Grundstimmung und Haltung schafft, die gewissermaßen ins Unbewußte hinunterreicht und da einen entsprechenden Widerhall herstellt. Selten beschäftigt im Vergleich dazu eine Predigt die Hörer längere Zeit; dann muß sie schon irgendeinen Haken an sich getragen haben, der in den Geist eingriff. Daran fehlt es so häufig. Denn es fehlt zunächst einmal an dem konkret praktischen Zug. Es ist ein Irrtum, wenn man meint, es könne den Hörern überlassen werden, allgemeine Worte in ihre .konkrete Situation' zu übertragen. Solche hält man sich gern vom Leib, indem man sie verehrt, bestreitet, auf Andere anwendet, oder was der Mensch sonst noch für Künste in dieser Lage anzuwenden liebt." 254 Damit sie nicht solchen Abwehrmechanismen zum Opfer fällt und ethisch wirkungslos bleibt, darf die Predigt die Applikation nicht dem Zufall 251 Niebergall unterteilt die Analyse des Menschen in seiner Homiletik in den Teil „Psychologisches" (Wie predigen wir Bd. 1; 70ff.) und „Volkskundliches" (aaO., S.91ff.). 252 Die Motive und Quietive des Neuen Testaments (Wie predigen wir, Bd. 1, S. 3ff.). 253 F. Niebergall, Interessantere Predigten, ChW 45, 1931, S. 2 7 8 - 2 8 4 ; 283. 254 Niebergall, aaO.
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überlassen, sondern sie muß systematisch konzipiert werden. Es „muß ein Gedankengang geboten werden, kein impressionistisches Mosaik von Bemerkungen und Eindrücken. Die Konkurrenz der anderen Beredsamkeiten verlangt auch für das Evangelium rednerische Form. Wir sind zu langweilig! Und wir dürfen unsere Trägheit beim Gestalten der Form nicht hinter dem Vorwand von der Schlichtheit des Evangeliums verstecken. Die beste Verkündigung des reinsten Evangeliums ist nutzlos, wenn sie Niemand hört" 2 5 5 . Zu den Voraussetzungen der homiletischen Arbeit mit dem Hörer gehört vor allem eine Theorie der Sprach- und Vorstellungskomplexe religiöser Rede. Niebergall war ständig mit der Entwicklung einer solchen Theorie beschäftigt. Ansätze dazu finden sich in beinahe allen homiletischen Veröffentlichungen. Vor den Freunden der Christlichen Welt spricht Niebergall schon 1904 über „Die religiöse Phantasie und die Verkündigung an unsere Zeit" 256 . Und noch 1931 analysiert Niebergall „Das Gesangbuch als kirchliches Bekenntnis" 257 . Das Gesangbuch ist keine Dogmatik, sondern es enthält „die Frömmigkeit, wie sie gleichsam dicht an der gläubigen Seele erfaßt wird, wenn sie eben an das Tageslicht tritt", während die Dogmatik „die Glaubensgedanken nach einem bestimmten Schema als systematische Erkenntnis des gläubigen Subjektes" ordnet, einem Schema, „das eine allgemeine christliche Erkenntnis von Gott, Welt und Mensch darzubieten beansprucht" 258 . Niebergall versucht, die Frömmigkeit des Gesangbuchs historisch darzustellen. Er findet in der „Längslinie" eine „Geschichte der Frömmigkeit" und daneben in der strukturalen Betrachtung „eine Querlinie, die die mannigfaltigen Seiten des christlichen Lebens vor Augen führt" 259 . Niebergalls Untersuchung der Frömmigkeitsmomente in den Liedern des Gesangbuchs ist als materialer Beitrag zur Homiletik sicher gering einzuschätzen. Denn nur selten bedient sich der Prediger der Sprachformen des Gesangbuchs. Doch zeigt sich auch in der Behandlung eines homiletischen Randproblems Niebergalls methodisches Interesse. Ihm geht es — wie er im Vortrag von 1904 sagt — vor allem darum, „die Verbindung der Theorie unsrer Praxis mit den systematischen Fächern herzustellen, damit wir nicht auf der einen Seite all unsere dogmatische und religionswissenschaftliche Erkenntnis ungenutzt im Kopf hegen, sondern fruchtbar für die Einwirkung machen, und auf der andern Seite unsere Verkündigung möglichst tief auf unsere systematische Erkenntnis gründen können. Schließlich trei255 Ebd. 256 F. Niebergall, Die religiöse Phantasie und die Verkündigung an unsere Zeit, ZThK 16, 1906, 2 5 1 - 2 8 5 . 257 F. Niebergall, Das Gesangbuch als kirchliches Bekenntnis, 1931; ders., Religionspsychologisches zum Gesangbuch, ZRPsych 1927; 39—59. 258 Niebergall, Gesangbuch, S. 3 . 259 AaO., S. 37.
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ben wir mittelbar doch nur zu dem Zweck Theologie und Religionswissenschaft, um die Einwirkung zu verbessern; und die Einwirkung wird dann am gründlichsten und erfolgreichsten sein, wenn wir uns über ihre Gesetze und Bedingungen möglichst genau besonnen haben. So bekommen wir die Einheit zwischen unsrer theoretischen und unsrer praktischen Geisteshälfte zustande, deren Mangel an mancher Unzufriedenheit schuld sein möchte" 260 . Die Entwicklung einer Theorie der religiösen Sprache, die Niebergall hier in Ansätzen andeutet, ist zunächst eine historische Aufgabe. Sie geht vor allem der Funktion von Bild und Phantasie für das religiöse Bewußtsein und für die homiletische Kommunikation nach. Sie untersucht das „Auftauchen und Verschwinden der Bilder infolge der religiösen und kulturgeschichtlichen Entwicklung" und befähigt so den Prediger, „von der Last der überlieferten Bildersprache frei und zu selbständiger Auswahl nach unsern Interessen" in der Lage zu sein261. In dieser Beziehung ist die Theorie der religiösen Sprache eine Aufgabe der historischen Theologie bzw. deren Anwendung auf die praktische Theologie. Niebergalls Problem, „die Frage nach dem Bilde und seiner Bedeutung im einzelnen für die Praxis der Einwirkung 262 hat aber auch einen kritischen Aspekt, der in den Zusammenhang von systematischer und praktischer Theologie gehört. Sie verlangt eine „kritische Sichtung der überkommenen Bilder" unter dem Gesichtspunkt, „ob sie dem Geist des Evangeliums entsprechen und seine unserer gegenwärtigen kulturellen Lage angepaßten Ausdrucksmittel sind" 263 . Insofern kann gerade eine praktisch-theologische Theorie der religiösen Sprache exemplarisch auf den integrativen Zusammenhang der theologischen Disziplinen hinweisen. Sie kann zeigen, „wie es wenig Erkenntnisse der geschichtlichen und systematischen Theologie gibt, die nicht von der größten Wichtigkeit für unsere Praxis werden können; wie auch auf der andern Seite die größten Schwierigkeiten der Praxis sich am sichersten durch eine gründliche Vertiefung in die theoretischen Probleme lösen lassen. So bekommen wir Ordnung und Zusammenhang in unsre Wissenschaft und die Praktische Theologie" 264 . Der Zusammenhang zwischen systematischer und praktischer Theologie geht freilich viel tiefer. Er markiert den Übergang von der theoretischen zur praktischen Homiletik. Und darum übernimmt die systematische Theologie in Niebergalls praktisch-theologischem System die Verantwortung für die methodische, die wissenschaftliche Verknüpfung der Motive im Neuen Testament und im Lebenszusammenhang des modernen Menschen. Um sich der religiösen Sprache, ihrer Vorstellungs- und Redeelemente be260 261 262 263 264
Niebergall, Phantasie und Verkündigung, aaO., S. 253. Niebergall, aaO., S. 271. AaO., S. 252. AaO., S. 285. AaO., S. 284.
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wüßt bedienen zu können, muß der Prediger seiner Predigt eine Theorie der religiösen Vorstellungswelt des Hörers zugrundelegen. Denn die einzelnen Handlungsmotive stehen so wenig wie die Quietive unverbunden nebeneinander. Sie sind vielmehr in das kulturelle System von Werten und Normen eingebettet, das Niebergall in seiner Sozialethik umreißt 265 . Auch die Predigt spielt sich im Rahmen eines solchen Motivationssystems ab. Niebergall möchte deshalb — wie er in der Homiletik sagt — „ein System von Motiven und Quietiven erstreben, die ebenso dem Wesen des Evangeliums, wie dem des Menschen unserer Tage entsprechen." 266 Im Rahmen einer Theorie des Christentums ein solches kulturelles System der Motivationen zu konstruieren, beschreibt Niebergall 1920 als „die Aufgabe einer praktischen Dogmatik" 267 . Er geht auch hier von der Grundfrage jeder Erziehungs- und Bildungsarbeit aus, wie Beeinflussung mpglich ist 268 . Im Unterschied zu Herbarts26® Meinung beruht die ethische Beeinflussung des Menschen nach Niebergall nicht nur auf rationaler Argumentation. Sie geschieht vielmehr vor allem „durch Dinge irrationaler Art". Niebergall möchte damit aber den Zusammenhang der religiösen Sozialisation keineswegs in für die Wissenschaft unerreichbare Bezirke verbannen. Vielmehr bilden gerade die irrationalen Momente menschlicher Handlungs- und Entscheidungsprozesse einen gesetzmäßigen, einen systematischen Zusammenhang, der sich in einer Lebens- und Weltanschauung manifestiert. Es ist deshalb „verkehrt, darüber zu vergessen, welche Kraft schließlich doch bestimmte Grundanschauungen und Deutungen von Welt und Leben haben, die in größerer oder geringerer Klarheit dem geistigen Leben innewohnen. Lassen sich nicht zuletzt alle jene Sitten und Gewohnheiten, auch alle normal gerichteten Weisen des Verhaltens, die uns beeinflussen, auf bestimmte Grundsätze praktischen Lebens nicht nur, sondern auch auf Überzeugungen zurückführen oder wenigstens mit ihnen in Verbindung bringen, die anscheinend rein gedanklicher Natur sind? Zwar leben wir alle, auch die dogmatisch und ethisch gerichteten Geister, nicht unmittelbar aus Gedankenkreisen und Systemen heraus, sondern aus Bruchstücken und Niederschlägen von solchen, oft ohne daß wir darüber näher Bescheid wissen, was auch nur die Kraft und Unmittelbarkeit des Lebens gefährden könnte. Aber es müssen sich doch diese Uberzeugungen, in denen immer 265 Vgl. Evangelischer Sozialismus, 1920; vor allem S. 165ff. und Niebergalls Analyse des personalen Systems in: Wie predigen wir, Bd. 1; S. 71 ff. 266 Wie predigen wir, Bd. 1, S. 129. 267
F. Niebergall, Die Aufgabe einer praktischen Dogmatik. In: Festgabe für J. Kaftan, 1920; 2 4 3 - 2 5 1 . 268 Vgl. dazu das religionspädagogische Standardwerk der Zeit: R. Kabisch—H. Tögel, Wie lehren wir Religion, 6. Aufl. 1923. 269 Herbarts Werke liegen in der Gesamtausgabe von 1850—52 (hrsg. v. G. Hartenstein) vor.
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Werturteile stecken, zu einem Ganzen ordnen lassen, das als solches dem Ganzen normalen Lebens zugrunde liegt, einerlei, in welchem Grad des Umfangs und der Klarheit. Von da aus ergibt sich die Notwendigkeit einer Gesamtanschauung von Leben und Welt und zugleich die Aufgabe, sie lehrmäßig, also in Predigt und Unterricht, jedem neu heranwachsenden Geschlecht nahe zu bringen, in der Hoffnung, daß sie nicht nur in sein Inneres in der eben bezeichneten Weise eindringe, sondern auch, und dies vor allem gleichsam die geistige Luft von Volk und Zeit mit dem Anspruch zu erfüllen suche, auch ein Stück Einfluß auf das geistige Leben der Gesamtheit der einzelnen darzustellen" 2 7 0 . Ein solches System zu entwickeln, ist die Aufgabe einer praktischen Dogmatik, einer theologischen Wissenschaft also, die das Gebiet der systematischen Theologie bearbeitet, sich ihres Bezugs zur kirchlichen Praxis, zur Verkündigung aber ständig bewußt bleibt. Es scheint freilich, daß, wie hinsichtlich der Exegese und der traditionellen praktischen Theologie, so auch im Blick auf die systematische Universitätstheologie, Theorie und Praxis auseinanderklaffen. „Fragt man sich, wie die meisten unsrer zukünftigen Pfarrer, wenn sie Universität und Seminar verlassen, auf diese Aufgabe gerüstet sind, so ist die Antwort nichts weniger als befriedigend. Den Hauptanteil an ihrem Studium hat nach wie vor die Geschichte. Gewiß bleibt es unumgängliche Pflicht, die zukünftigen Diener einer Kirche, die mehr dem Künstler als dem Handwerker gleichen sollen, durch Einführung in die geschichtliche kritische Erkenntnis der grundlegenden Zeiten und Urkunden unsrer Frömmigkeit und unsrer Kirche zu schulen und zu bilden. Aber es ist ein Unfug, wenn vergessen wird, daß es sich nicht um die Ausbildung von Lizentiaten und Dozenten, sondern um die von tüchtigen Pfarrern handelt. Es ist ein Glück, daß unter den Fächern der Theologie noch, wenn auch als Aschenbrödel, die praktische zu finden ist; es könnten sonst die gelehrten Schwestern ganz vergessen, daß die Theologie doch nun einmal für die Kirche und nicht für die Universität zu bilden hat." Denn „bleibt der Unterricht in dem immer noch so häufigen philologischen und historischen Unwesen stecken, dann bildet man Leute heran, die wohl wissen, was andre einmal gesagt und getan haben, denen es aber am Rückgrat und am Mute fehlt, selber einmal etwas kräftig zu behaupten und anzufassen" 2 7 1 . Die Erkenntnis, daß die Probleme der gegenwärtigen Predigt auch durch die Theorieform der gegenwärtigen Theologie mitverursacht sind, führt Niebergall zu einem deprimierenden Urteil: Sieht man „auf das, was Land auf, Land ab unsre Prediger verkünden, dann hat man oft den Eindruck, daß es ihnen an einem Kerygma fehlt" 2 7 2 . Wer dem Anspruch gerecht wer2 7 0 Niebergall, Die Aufgabe einer praktischen Dogmatik, aaO., S. 243f. — Zur praktischen Dogmatik vgl. auch O. Baltzer, Praktische Eschatologie, 1908. 2 7 1 Niebergall, aaO., S. 244. 2 7 2 AaO.
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den will, den die moderne Homiletik an den Prediger stellt, der darf „nicht nur Erlebnisse, Eindrücke und Stimmungen, sondern er muß eine Gesamtanschauung, kurz herausgesagt, eine Dogmatik haben" 2 7 3 , ein „Gefüge von Motiven und Quietiven" 2 7 4 . Die Entfaltung und Anwendung des Motivationssystems in Theologie und homiletischer Praxis macht die Zusammenarbeit von dogmatischer und praktischer Theologie nötig. Die Homiletik bedarf der Grundlegung durch die systematische Theologie. Aber sie hat auch hinsichtlich des dogmatischen Systems der religiösen Motivationen eine eigenständige Aufgabe. „Aus dem Gefüge dogmatischer, also theo-logischer Art, das Wirklichkeit abbildet, soll dann ein teleologisch-pädagogisches werden, das Wirksamkeit unterstützt." In der praktisch-theologischen Reflexion der systematisch-theologischen Arbeit „wird also aus einer praktisch gearteten Dogmatik zwar keine pragmatische, aber eine praktische, also ein Anbau mit dem Anspruch, Teil einer besondern neuen Weise theologischer Arbeit, also eines neuen Faches, zu sein" 2 7 5 . So kritisch Niebergall der herkömmlichen Exegese und der herkömmlichen Dogmatik gegenübersteht, er möchte die praktische Theologie keinesfalls auf Kosten der übrigen theologischen Disziplinen aufwerten. Vielmehr zielt auch die Kritik der systematischen Theologie auf eine Integration der Theologie unter dem Gesichtspunkt ihrer organischen Verbindung mit der kirchlichen Praxis ab. „Praktische Exegese und praktische Dogmatik greifen dabei in den innersten Kern, jene in den der biblischen, diese in den der dogmatischen Aussagen und ziehen von da aus eine Verbindung nach der Praxis, die ganz gewiß viel sachgemäßer ist, weil es ja doch im Grund immer darauf ankommt, Leben zu gestalten, als die schönsten und richtigsten Reflexionen und Untersuchungen theoretischer Art." 2 7 6 Niebergalls Bemühungen um eine praktische Dogmatik gelten dem Ziel der modernen Homiletik, „den Anschluß zwischen Theologie und Praxis planmäßig und grundsätzlich herzustellen. Das hat, so viel ich sehe, noch nie eine Praktische Theologie unternommen, weil noch niemand den Zwiespalt zwischen beiden, unter dem unsre zukünftigen und gegenwärtigen Kirchendiener leiden, zum Ausgangspunkt grundsätzlicher Besinnung und umfassender Hilfe gemacht hat. So entwickeln sich beide in der bekannten Weise auseinander: die Praxis lebt von .Erlebnissen' und von so oder so beschaffener Amtsgewohnheit, und die Theologie bleibt als totes Kapital im Geiste liegen, bis sie langsam dem Gedächtnis entschwindet. Nicht nur hat die Theologie immer, wie Drews klagte, unbarmherzig ihre Leute an den Strand der Praxis geworfen ohne Kenntnis der Menschen, denen 273 274 275 276
AaO., S. 245. AaO., S. 248. Ebd. AaO., S. 248f.
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sie, und ohne eine solche der Art, wie sie ihnen zu dienen hat; auch dafür hat sie selten etwas getan, um den Reichtum an theologischem Erbe fruchtbar machen zu helfen für die Praxis." 2 7 7 So erhebt Niebergall im Namen der praktischen Theologie den Anspruch, die Theologie zur Sache zu rufen. Es ist die Aufgabe einer praktischen Theorie der Verkündigung, „jene fatale Kluft zu überbrücken, die das theologische Studium als einen sehr überflüssigen und unnützen Umweg zu dem Amt erscheinen läßt, in dem man sich mit etwas Routine schon helfen zu können h o f f t . Es mag kühn erscheinen, wenn das Aschenbrödel die Kinder des Hauses so zurechtweisen will; aber ohne die Kirche wäre überhaupt keine Theologie da, keine historische und keine systematische; und es hat die Praktische Theologie einmal jemand, vor dem alle Kinder des Hauses Achtung hegen, zur Krone der Theologie bestimmt. Diese Stellung wird sie sich erringen, wenn sie, anstatt um des wissenschaftlichen Namens willen, alle theologischen Moden mitzumachen, ihre eigne Sonderaufgabe fest ins Auge faßt und es gar nicht bestreitet, daß sie eine Höhe und Würde erstrebt, die die andern Garben veranlaßt, sich vor ihr zu neigen" 2 7 8 .
3. Das homiletische
System
Der zentrale Abschnitt in Niebergalls Homiletik über „Die Verkündigung an unsere Zeit" zerfällt in einen systematischen und einen praktischen Teil. In den systematischen Kapiteln geht Niebergall die Aufgabe an, die er später als praktische Dogmatik beschrieben hat. Der Theorie der Verkündigung darf nicht „ein ungeordneter Haufe von Motiven" zugrundeliegen, sondern sie muß auf einem „System von Motiven und Quietiven" basieren. Dieses System wiederum muß einerseits in sich geschlossen sein, und es muß andererseits der Norm der christlichen Verkündigung entsprechen, es muß „schriftgemäß" sein. Niebergall möchte daher „einen Zentralgedanken suchen, der nun wirklich im Mittelpunkt der Schrift steht, einen großen Zentralgedanken praktischer Art, in dem das Neue und Eigentümliche des Neuen Testaments, in dem die Offenbarung und die Kraft steckt, die die Gemüter erheben und trösten kann. Und dann ist jeder andere Gedanke in dem Maße schriftgemäß, als er in Beziehung zu diesem Zentralgedanken steht" 2 7 9 . Diese praktische Aufgabe der Konzeption eines biblischen Systems von zentralen Motiven und Quietiven ist zugleich eine dogmatische und eine historische Aufgabe. Nur wenn beide theologischen Methoden miteinander verbunden werden, kann die Theorie der Verkündigung zugleich wissen" 7 AaO., S. 25 Of. 278 279
AaO., S. 251. Wie predigen wir, Bd. 1; S. 131.
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schaftlich-historisch und praktisch-kritisch gestaltet werden. „Wir wollen uns weder unsern historischen Sinn von den Dogmatikern, noch unseren dogmatischen Sinn und Zweck von den Historikern verpfuschen lassen. Aus dem, was war, etwas Brauchbares zu machen für unsere Zeit, das ist das Recht und die Aufgabe der systematischen Fächer." 280 Niebergall resümiert noch einmal die Ergebnisse seiner historischen Motivationsanalyse des Neuen Testaments, um sie dann zu systematisieren. Das Zentrum, das Neue am Neuen Testament sind nicht die verschiedenen Gedanken und Gedankenkomplexe, sondern es ist die Person Jesu, mit der das Christentum unlösbar verbunden ist. Die verschiedenen Formen und Typen von religiösen Motivationen stehen „immer in engem, wenn auch nicht immer sichtbaren Zusammenhang mit dem Mann aus Nazareth, der die Worte von der Seele und dem vollkommenen Vater nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt hat. Das ist die Offenbarung Christi, eine für alle Zeiten befreiende und erhebende Gewalt, zeitlos, verständlich, so lange es noch Menschen gibt, die mit Sünde, Not und Tod zu ringen haben, verständlich ohne die Kommentare der Theologen, allein durch den Kommentar eines Menschen, in dem so etwas wirklich wird" 281 . In der Beziehung auf die Person Jesu findet Niebergall den Maßstab zur Interpretation der einzelnen neutestamentlichen Schriften und den Bezugspunkt .für die beiden nichtreligiösen Motivationskomplexe, für das „eschatologische und das rationale Motiv". „Diese drei Motivarten stehen im Neuen Testamente naiv neben einander; und sie mögen auch in der Predigt naiv neben einander treten, ohne daß eine Verminderung der Kraft eintritt. Aber der Verkündiger des Evangeliums muß doch wissen, wie sie innerlich zusammenstehen, um nicht dadurch, daß er auf verschiedenen Höhenlagen sittlicher Empfindungen herumvoltigiert, aufmerksame Hörer irre zu machen und die Kraft seiner Einwirkung zu brechen." Es kommt deshalb „auf das systematische Verhältnis der beiden Gedankenreihen zu dem eben entwickelten Gedanken an, der immer das starke Rückgrat einer evangelischen Predigt bilden sollte." 282 Ähnlich verhält es sich mit dem neutestamentlichen System der Quietive. „Gottes Liebe und Gnade zieht durch Leid und Not in sein Reich, und Gottes Treue und Barmherzigkeit stillt die Selbstanklagen des Gewissens, — das sind die beiden Hauptquietive. Aber Farbe und Kraft gewinnen diese Gedanken erst an Christus." 283 Die Person Jesu steht deshalb im Mittelpunkt der „Generalsynthese" 284 , die sich aus den neutestamentlichen Motiv- und Quietiv-Systemen ergibt. „In Christus liegt, wie die Kraft zur Erneuerung, 280
AaO., S. 133. AaO., S. 135. — Niebergalls Sätze erinnern an den theologischen Ansatz, den W. Herrmann in „Der Verkehr des Christen mit Gott" darstellt (4. Aufl. 1903). 282 Niebergall, aaO., S. 137. 283 AaO., S. 143 . 284 A a 0 ; s _ 1 4 4 , 281
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so auch der Grund des Trostes." Jesus ist „der Grund des Glaubens" 2 8 5 und der Bezugspunkt jeder christlichen Verkündigung. Der praktische Teil der Theorie christlicher Verkündigung ergibt sich organisch aus deren systematischer Prinzipienlehre. Die praktische Predigttheorie hat die Aufgabe, „für die Praxis unserer Tage nachzuweisen, wie das Evangelium mit diesen Motiven und diesen Quietiven an den so beschaffenen Menschen unserer Zeit herangebracht werden muß, damit er es wirklich und nicht nur in der Phantasie als eine sein Leben bestimmende Macht erfaßt und erfährt" 2 8 6 . Diese praktische Zielsetzung der Verkündigung gibt dem Pfarrerberuf seine Bestimmung und seine Legitimation. „Mögen wir auch noch so viel rein theoretische Irrtümer zu beseitigen und Aufklärungen zu geben haben, in irgend einer Weise müssen diese Bemühungen als konzentrische Kreise sich um den einen Hauptzweck legen lassen, Eindruck zu machen auf das innerste Ich des Menschen zu seiner Erhebung und Tröstung. Wir sind nur zu dem Zweck Historiker, Kritiker, Philosophen, Schulmeister, Dogmatiker und Ethiker. J e unmittelbarer eine Dogmatik, Ethik oder Philosophie in das Zentrum hineinführt, desto besser ist sie; je direkter einer seiner Kritik, seiner historischen Weisheit, seinem Wissen um Welt und Mensch eine Spitze auf den trost- und erhebungsbedürftigen Menschen geben kann, desto mehr ist er Meister." 2 8 7 Niebergall stellt deshalb vor die Behandlung der mehr technischen Probleme der Predigt — die Verteilung, Anordnung und Darbietung der Motive 288 — ein Kapitel über „Die Persönlichkeit des Predigers". Denn man kann auf das praktische Ziel der Verkündigung, auf die Motivation der Persönlichkeit, „nur dann bei anderen hinarbeiten, wenn man selbst eine solche Persönlichkeit ist, oder wenigstens mit aller Energie eine solche werden möchte. Das liegt nun einmal in der Art einer auf die Persönlichkeit hinzielenden Arbeit und Einwirkung, daß der ganze Mensch mit seiner Überzeugung und seiner Willensanspannung dahinterstehen muß" 2 8 9 . Den Abschluß der theoretischen Homiletik bildet schließlich eine Übersicht über die Predigt der Gegenwart, an der Niebergall seine Prinzipien empirisch erprobt 2 9 0 . Denn gerade eine Predigtweise, die wie die moderne Predigt dem Menschen der Gegenwart entsprechen möchte, kann weder auf die empirische Wirklichkeit noch auf die normativen Prinzipien christlicher Verkündigung verzichten. Niebergalls Modell der motivativen Predigt legitimiert sich nicht aus einer prinzipienlosen Anpassung an die homiletischen Wünsche der Hörer. Zumal eine Homiletik, die von der Frage aus28
s AaO., S. 145. AaO., S. 149. 287 AaO., S. 149f. 288 AaO., S. 153ff. 289 AaO., S. 150. - Vgl. auch F. Niebergall, Person und Persönlichkeit, 1911. 290 Wie predigen wir Bd. 1; S. 164ff. 286
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geht „Wie predigen wir dem modernen Menschen?" muß über den Verdacht erhaben sein, sie opfere das Christentum der Neuzeit. Es ist Niebergalls unerschütterliche Überzeugung, daß das Evangelium auch und gerade dem modernen Menschen gilt, daß es ihn zu christlichem, zu sozialem Handeln motivieren und daß es sein Gewissen zu stärken vermag. Es kann freilich eben darum nicht die Aufgabe der modernen Predigt sein, um den Preis des Verlusts an christlicher Motivation die Kirchen zu füllen. „Wir wollen lieber einen kleinen Kreis von Christen, der vom Evangelium lebt, als daß wir die Praxis der römischen Kirche nachmachen, die den Aberglauben pflegt, weil das die Leute so wünschen. Die Herren Leute haben über den Inhalt der Predigt und Verkündigung überhaupt gar nichts zu sagen; darüber bestimmt das Evangelium, und auch die Volkskunde darf nicht Offenbarung und Norm geben, sondern nur den Boden aufzeigen und Wege weisen." 291 Die Norm der Predigt liegt in ihrer Christlichkeit. Und „die Christlichkeit einer Predigt wird darin beruhen, daß sie die tiefsten Seelenbedürfnisse nach Frieden in der Vergebung der Sünden, nach einer neuen Lebenskraft im heiligen Geiste, nach einem ewigen Leben in Gott zu befriedigen sucht, und das alles mit dem Zeugnis von Christus, in dem wir den Zugang zu Gott, in dem wir den heiligen Geist und in dem wir das ewige Leben haben. Die Christlichkeit fehlt, wo entweder niedere Güter, Leben, Wohlsein, und zwar diese hie zeitlich, dort ewiglich, angeboten oder jene Güter ohne Christus etwa als durch des Menschen eigene Vernunft und Kraft erreichbar dargestellt werden. Die Christlichkeit der Predigt beruht ferner in ihrem Gehalt an christlicher Weltanschauung, die im Unterschied von jedem, wenn auch biblischen Juden- und Heidentum die Erkenntnis Gottes als des heiligen Vaters und seiner Gemeinschaft als des Himmels zum höchsten Antrieb des Strebens und zur stärksten Bürgschaft seines Gelingens macht" 292 . 291 AaO., S. 164. — Ähnlich urteilt Niebergall in seinem Programm der modernen Predigt von 1905 (Die moderne Predigt, ZThK 15, 1905, 2 0 3 - 2 7 1 ; 261): „Es ist ganz verkehrt, nun ohne weiteres die Aufgabe der Predigt in der Gegenwart nach einem Verständnis des modernen Menschen zu richten." Vgl. auch die Einleitung zur Praktischen Auslegung des Neuen Testaments, 3. Aufl. 1923, S. 3ff. 292 Wie predigen wir, Bd. 1; S. 167.
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VIERTES KAPITEL
Die ,Moderne Predigt' und die Homiletik der Gegenwart I. Das Ende der ,Modernen Predigt' Kaum zwei Jahrzehnte, nachdem Niebergalls Homiletik zum erstenmal erschienen war, hatte die ,moderne' Predigtbewegung schon ihr Ende gefunden. Und wenn Nieb ergall auch die theologischen Ursachen 1 des Scheiterns seiner Homiletik nicht zu erkennen vermochte, er hat sich über das Ende der Bewegung, der er mit seinen Freunden Namen und Programm verlieh, keinen Illusionen hingegeben. Die .Moderne Predigt' war am Ende, noch bevor ihre praktischen Wirkungen allgemein sichtbar wurden, an denen sie ihrem eigenen Anspruch gemäß gemessen werden wollte. So muß Niebergall es hinnehmen, daß Ludwig Schiaich nun den Grundsatz der liberalen Predigttheorie gegen sie selbst kehrt. Ihr Kriterium, daß die Praxis die Probe jeder Theorie sei, ist „für die liberale Theologie vernichtend: es darf doch nicht vergessen werden, daß auch sie die Abkehr der Gebildeten, der Arbeiter und weiter Kreise des Pietismus von der Kirche nicht aufzuhalten vermocht hat" 2 . Auch Niebergall selbst blickt skeptisch auf den praktischen Erfolg der Predigtarbeit zurück: „Was kommt dabei heraus? Werden Menschen wirklich besser und ruhiger durch diese ungeheure Predigtarbeit? Wollen sie es überhaupt, und wollen es die Prediger? Oder ist die Predigt vor allem eine geistige Leistung, die kritisiert wird wie andere Vorträge auch? Hat sie für Viele nur die Aufgabe, sie eine halbe Stunde in eine schöne ideale Welt einzuführen, in der man den ,ganzen Kram' vergißt? Oder ist sie nur ein Stück des Kultus, der von braven Menschen pflichtmäßig mitgemacht werden m u ß ? " 3 1 Vgl. dazu unten den Abschnitt „Das homiletische System Friedrich Niebergalls und seine Probleme". 2 L. Schiaich, Die neueste Theologie und die Praxis, MPTh 25, 1929, S. 7 2 - 7 6 ; 75. E. Jüngel zitiert im Anhang zu seinen Predigten einleitend einen liberalen Theologen, der in einem Gespräch mit Pfarrern der „Bekennenden Kirche" konstatiert: „Ihr habt zwar heute die reine Lehre; aber wir hatten die vollen Kirchen" (E. Jüngel, Was hat die Predigt mit dem Text zu tun? In: Predigten, 1968, S. 1 2 6 - 1 4 3 ; 126). Dieser Aussage steht nicht nur das Urteil von L. Schiaich entgegen. Auch die statistischen Angaben über den Kirchenbesuch in P. Pieper, Kirchliche Statistik Deutschlands, 1899 (Vgl. dort vor allem die Zusammenstellungen, S. 233ff.) und überdies Niebergalls eigene Eindrücke in seiner Analyse der Kirchlichkeit (Die moderne Predigt 1929, S. 130ff.) widerlegen die Annahme, daß der Kirchenbesuch zur Zeit der .modernen Predigt' wesentlich anders gewesen sei als zu früheren oder späteren Zeiten. 3 F. Niebergall, Vom Predigen, ChW 42, 1928, S. 3 4 - 3 7 , 5 8 - 6 0 ; 58.
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Es war schließlich nicht zuletzt die Erfolglosigkeit der ,modernen' Predigttheorie, die die Kritik einer neuen Theologie herausforderte. Niebergall erkennt die Parallelität der Situationen. „Wir haben, als wir jung waren, unsere Altvordern nicht geschont, sondern im Bewußtsein, selbst etwas zu sagen zu haben, fest angepackt, um sie aus dem Sattel zu haben." Und Niebergall schätzt auch den Elan richtig ein, mit dem seine Position nun kritisch destruiert wird. Die neue, die dialektische Theologie „ist in alle Länder mit evangelischen Kirchen eingedrungen. Sie bestimmt schon weithin die praktische Arbeit in Kirche und Religionsunterricht. So liegt ein Siegeszug hinter ihr, der sich nur mit dem der ihr vorangegangenen Theologie, der historisch-kritischen, die später die moderne Theologie hieß, vergleichen läßt" 4 . Die dialektische Theologie ist mehr als nur eine theologische Position unter anderen, mehr als eine kirchliche Richtung. „Hier ist keine Macht einer Gruppe von Neuerern und keine Schule im üblichen Sinn. Hier kam etwas aus der Tiefe der Dinge hervor, hier geschah der Durchbruch einer neuen Einsicht in das Christentum; also wenn man will: hier geschah eine Art von Offenbarung, es begann eine neue Periode des evangelischen Verständnisses unserer christlichen Religion." 5 Aber nicht nur das Entstehen der neuen theologischen Bewegung weist auf das historische Ende der .modernen Predigt' hin. Niebergall muß erkennen, wie die Verflechtung von Religion und Kultur, von Verkündigung und politischem Handeln, wie der Grundansatz seiner liberalen Predigttheorie in der politischen Theorie und Praxis selbst depraviert wird. Jene Grunderkenntnis liberalen Weltverständnisses erscheint nun in der Frage, „wie sich das Völkische und das Christliche zu einander zu stellen haben" 6 . Der Ansatz der liberalen Theologie wird ins Irrationale transponiert und führt zu emotionalen Pauschalurteilen, zu „affektive(r), genauer durch Liebe und Haß primär bestimmte(r) Erkenntnis" 7 . Die religiöse Praxis wird mit der Verdunkelung ihres theoretischen Bewußtseins zugleich zerstört. Und Niebergall kann sich nur noch in den deklamatorischen Protest flüchten: „Wir müssen aber gegen alles, was im Stahlhelm, in dem Nationalsozialismus und wo sonst immer verkündigt wird, protestieren, worin nur irgend das Verhältnis zwischen Christentum und Nation so gefaßt wird, daß jenes als Mittel für die Zwecke dieser mißbraucht wird. Das ist eine heutige Ketzerei, die nicht geduldet werden kann." „Höchstes christliches Wertgut und Zweck aller Zwecke ist und bleibt das überirdische und über4
F. Niebergall, Die neueste Theologie, aaO., S. 13.
F. Niebergall, Moderne und modernste Theologie, Wartburg 30, 1931, S. 1 0 7 - 1 1 0 , 1 4 1 - 1 4 4 , 1 7 5 - 1 7 9 , 2 8 7 - 2 9 0 ; 107. - In diesem Aufsatz findet sich die ausführlichste Auseinandersetzung Niebergalls mit der dialektischen Theologie; vgl. außerdem Die moderne Predigt 1929 und Die neueste Theologie und die Praxis, aaO. 6 F. Niebergall, Dr. Dinters Geistchristentum. Ein Beitrag zur Frage Völkische Bewegung und Religion, ChW 46, 1932, 2 6 - 3 1 ; 26. ι Niebergall, aaO., S. 30. s
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nationale Gottesreich, das bleiben wird, wenn alle Reiche dieser Welt, auch das deutsche, vergangen sein werden." 8 Schon in seiner Arbeit über „Religion und Moral" hatte Niebergall vor einer „Humanität" gewarnt, die die sozialen Einstellungen und Beziehungen ohne deren religiöse Motivierungen und Bindungen verwirklichen will 9 . Nun muß er noch kurz vor seinem Tode (1932) erkennen, wie sich eine gesellschaftliche Praxis entwickelt, die schon in ihren Prinzipien den Gesetzen der Unmenschlichkeit folgt. Niebergall beurteilt auch die Homiletik der dialektischen Theologie nach den Prinzipien der .modernen Predigt'. Sie hatte den modernen Menschen zum Zielpunkt einer Theorie der zeitgemäßen Verkündigung gemacht und deren Grundsätze aus der Struktur des Menschseins in der modernen Welt abgeleitet. „Menschen mit dem Evangelium helfen", das war für Niebergall „die Antwort auf die Frage nach der Aufgabe der Predigt" 1 0 . Nun sieht sich Niebergall einer dezidiert theologischen Homiletik gegenübergestellt, die die anthropologische Grundbeziehung der Verkündigung aufs entschiedenste kritisiert. Niebergall steht dieser neuen Predigtlehre, wie sie etwa Karl Fezer gestaltet, verständnislos gegenüber. „Es ist eine unmenschliche' und darum ganz und gar ungöttliche und unchristliche Predigttheorie, die hier verkündigt wird. Hatte ich mir induktiv aus vielen Predigten meine Theorie gebildet, die Normen, Zustände und vor allem Hilfsgedanken umfaßte, so wird hier deduktiv aus jenen starren Sätzen der neuen Theologie gefolgert. Hatte ich dazu helfen wollen, daß man Menschen helfen könne, so wird hier angeblich aus Ehrfurcht vor Gott jede Beziehung auf Menschennot aufgegeben." 1 1 In einer dritten kirchlichen Bewegung schließlich drückt sich für Niebergall die beginnende homiletische Resignation am unmittelbarsten aus. Die kultische Erneuerungsbewegung zieht die Bedeutung der evangelischen Predigt überhaupt in Zweifel und erhofft eine Überwindung der kirchlichen Krise nicht wie Niebergall und seine Freunde von einer neuen Gestaltung der Predigt, sondern von einer liturgischen Reform. Niebergall untersucht die religiösen, ästhetischen und sozialen Motive der kultischen Reformbewegung, und er anerkennt die Entfaltung des sozialen Lebens in der Gemeinde und dessen Symbolisierung im Kultus 1 2 . Aber er widersetzt sich 8 AaO., S. 31. 9 Niebergalls Charakterisierung einer „Humanität", die die ethische Einstellung ohne deren religiöse Motivierungen verwirklichen will, findet sich in: F. Niebergall, Religion und Moral, MevRU 14, 1921, S. 241—251. — Zu Niebergalls Religionsverständnis vgl. außerdem: Welches ist die beste Religion? 1906; Idealismus, Theosophie und Christentum, 1919; Im Kampf um den Geist, 1927; Evangelischer Sozialismus, 1920. 10 F. Niebergall, Vom Predigen, aaO., S. 59. 11 Niebergall, aaO., S. 60. 12 F. Niebergall, Die gegenwärtigen kultischen Strömungen, ChW 38, 1924, S. 7 8 6 795; bes. S. 794f. — Zu Niebergalls Auseinandersetzung mit der kultischen Reformbewegung vgl. auch: Die gegenwärtigen kultischen Reformen gemessen am Evangelium,
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der Verabsolutierung der liturgischen Momente im Gottesdienst. Er kritisiert die „Liturgitis", die die Predigt zunehmend vernachlässigt 13 . So sieht sich die »Moderne Predigt' nach dem Krieg einer veränderten kirchlichen und theologischen Situation gegenüber 131 . Zwar beherrscht nun wieder eine kirchliche und theologische Bewegung die Epoche und nimmt damit die Stelle der liberalen „Theologie der Vorkriegszeit" 1 4 ein. Aber es sind daneben andere kirchliche und religiöse Richtungen entstanden, die sich alle kritisch gegenüberstehen und sich aus der Differenz zu den konkurrierenden Reformgruppen definieren und legitimieren. In Niebergalls Ansatz war das Erscheinungsbild des religiösen, kirchlichen und theologischen Lebens zwar schon vor dem Krieg von den verschiedensten Aspekten und Tendenzen gezeichnet 15 . Aber nun werden die verschiedenen Impulse noch deutlicher programmatisch fixiert. Sie treten sich polemisch gegenüber. Und es scheint der beherrschende Impuls zur Integration zu fehlen, der der modernen Predigtbewegung eigen war. Die liturgische Reform, die ,moderne Predigt' und die dialektische Theologie stehen sich kritisch gegenüber. Und für jede dieser drei Bewegungen scheinen die anderen beiden von einem gemeinsamen Geist getragen, einem gemeinsamen Irrtum verfallen. Für Karl Fezer rücken die moderne, die pädagogische Predigt und die wiederbelebte kultische Predigt nahe zusammen. Sie „sind nicht durch einen breiten grundsätzlichen Graben zu trennen, sind vielmehr zwei zusammengehörige, aber insofern ungenügende Versuche, das Predigtproblem zu lösen." Nach Fezers Urteil „ist ein Weiterkommen hier nur möglich, indem man den mit Evangelium (Wort Gottes) bezeichneten Tatbestand möglichst genau aufzufassen versucht und von der gewonnenen
Kultus und Kunst 1 9 2 5 , S. 11—23; ders., Die neuen Wege kirchlicher Arbeit. Eine kleine Pastoraltheologie, 1 9 2 8 ; und die Schlußsätze in: Die moderne Predigt 1 9 2 9 : „Man kann sagen, was man will, die Zukunft unserer Kirche hängt nicht an Verfassungen, Liturgien mit Kerzen, Fahnen und Prozessionen. Sie hängt allein an der Predigt" (aaO., S. 2 3 4 ) . 13 F. Niebergall, Vom Predigen, aaO., S. 3 4 . 13a ρ Frey kennzeichnet Niebergalls Stellung nach dem Krieg zutreffend: „Es war sein Marburger Schicksal, daß dort die dialektische Theologie in der Lehrweise Bultmanns aufblühte und daß ebenso dort die liturgischen Versuche begannen, Heilers Una-Sancta-Bestrebungen, Ottos vom Numinosen umstrahlte liturgische Experimente und die sich bis heute behauptende, von Berneuchen ausgehende liturgische Erneuerung. So eilte die Zeit über ihn hinweg, seine Hörsäle waren nicht gefüllt, aber die ihn hörten, wußten, was sie wollten im Blick auf das auf sie einmal zukommende Pfarramt" (F. Frey, Motive und Quietive, Friedrich Niebergall zum 100. Geburtstag, DtPfrBl 6 6 , 1 9 6 6 , S. 1 5 6 - 1 5 8 ; 157).
L. Schiaich, Die neueste Theologie und die Praxis, aaO., S. 73. Die Komplexität des religiösen und kirchlichen Lebens zeigt sich bei der Analyse, die Niebergall seiner induktiv verfahrenden homiletischen Theorie zugrundelegt, so beispielsweise in seinem Programm: Die moderne Predigt, ZThK 15, 1 9 0 5 , S. 203— 271 und im Rückblick auf die .moderne Predigt': Die moderne Predigt, 1 9 2 9 . 14
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Erkenntnis dann streng sich leiten läßt bei der Verknüpfung der drei das Wesen der Predigt ausmachenden Stücke zu ihrem Begriff" 1 6 . Von Niebergalls „Standpunkt einer nüchternen evangelischen Frömmigkeit" 1 7 aus erscheinen die kultische Bewegung und die dialektische Theologie zwar als Ausdrucksformen ganz verschiedener Frömmigkeitstypen. Sie rücken aber doch durch ihre gemeinsame irrationale Grundeinstellung der liberalen Predigttheorie gegenüber zusammen. Ist es in der liturgischen Reformbewegung „wesentlich die Mystik, die hier spricht, so wird es nicht lange dauern, bis die ihr so entgegengesetzte Frömmigkeit, die sich an den Namen von Barth und von Gogarten knüpft, auch für ihre ganz anders gerichtete Reaktion gegen Rationalismus und Moralismus Formen findet, die ihrer modern gewordenen altmodischen Frömmigkeit entsprechen." 1 8 Daß das Altmodische wieder modern wurde, in dieser Formel verbirgt sich Niebergalls ganze Bewertung der Zeit. Es sind große, undifferenzierte Muster, in denen er den Wandel der kirchlichen und theologischen Szene zeichnet, zu großflächig und pauschal, um der differenzierten Wirklichkeit gerecht zu werden. Niebergall versucht, die Komplexität der religiösen und theologischen Welt mit dem Schema einer Geschichtsbetrachtung zu begreifen, das nur den Wechsel der Epochen, die Auseinandersetzung zweier geschichtlicher Prinzipien kennt. „Wir können auf unserm Boden von einem Wechsel zwischen typischem Orthodoxismus und Rationalismus sprechen. Es sei von diesem Wechsel nur einmal die eine Seite hervorgehoben; bald verharrt das theologische und kirchliche Denken beim Mittelpunkt des christlichen und kirchlichen Lebens, bald dehnt es sich wieder aus; immer, wenn ein äußerstes Ende erreicht ist, schlägt die Entwicklung wieder um ins Gegenteil. Was wir über die gegenwärtige theologische und kirchliche Lage zu sagen haben, kommt darauf hinaus, daß wieder ein Umschlag aus einer typisch rationalistischen in eine typisch orthodoxe Zeit im Gange ist. Die Enkel greifen wieder auf die Großväter zurück." 1 9 Schon bei der Strukturierung der zeitgenössischen Predigtpraxis hatte Niebergall die verschiedensten theologischen Positionen an einem einzigen Maßstab, am Grad ihrer homiletischen Modernität gemessen und Unver16 K. Fezer, Das Wort Gottes und die Predigt, 1 9 2 5 , S. 6 6 . Vgl. dort übh. 12ff. Die Auseinandersetzung der „modernen Predigt" mit diesem Buch von Fezer findet sich u . a . in: F. Niebergall, Vom Predigen, ChW 4 2 , 1 9 2 8 , S. 3 4 - 3 7 , 5 8 - 6 0 (Vgl. dort vor allem den Abschnitt „Eine unmenschliche' Theorie", aaO., S. 59f.) und in: M. Schian, Das Wort Gottes und die Predigt. Eine Auseinandersetzung mit Karl Fezer, MPTh 2 4 , 1 9 2 8 , S. 2 3 0 - 2 4 0 . Unter dem gleichen Titel bespricht E. Thurneysen Fezers Buch, in: ThBl 5, 1 9 2 6 , S. 1 9 7 - 2 0 3 . 17 18 19
F. Niebergall, Die gegenwärtigen kultischen Strömungen, aaO., S. 7 9 0 . Niebergall, aaO., S. 7 8 9 ; Vgl. auch Die moderne Predigt 1 9 2 9 ; S. 55ff. F. Niebergall, Die neueste Theologie, aaO., S. 13f.
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gleichbares zusammengestellt 20 . Nun gerät ihm die verständnislose Beurteilung des theologischen Gegners vollends ins grotesk Pauschale. Er kann gelegentlich sogar das Ausmaß der theologischen Bewegung nach dem Krieg geradezu mit dem der nationalsozialistischen Bewegung vergleichen 21 und 1931 „die beiden wichtigsten geistigen Strömungen der Gegenwart, den Nationalsozialismus und die Dialektische Theologie als . . . parallele Nachkriegserscheinungen" bezeichnen 22 . Es bleibt schließlich auch Niebergall selbst nicht verborgen, daß er nicht imstande ist, mehr als ein „Zerrbild" der theologischen Situation zu zeichnen 23 . Man kann Niebergalls Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie den Vorwurf geschichtlicher Verständnislosigkeit nicht ersparen. Sie kann gewiß nicht als historisches Zeugnis der theologischen Situation der Zwanziger Jahre gewertet werden. Sie wirft vielmehr vom Ende her noch einmal ein Licht auf die Grundeinstellung der ,modernen Predigt'. Und sie läßt damit auch deutlich ihre Grenzen und die Ursachen ihres raschen Endes erkennen. Für Niebergall steht fest, daß es sich bei den kirchlichen und theologischen Gegensätzen „nicht um Erkenntnisse mit angehängten Folgerungen, sondern daß es sich um Grundhaltungen handelt, die sich, aus der verschiedenartigen Seele aufeinander folgender Zeiten entsprungen, ihr intellektuelles Gewand geschaffen haben. Ausdehnung und Kraft der neuen Haltung sagen uns, daß hier notwendige Rückschläge und Auswirkungen der Nachkriegszeit vorliegen. Das ist ihr Recht, ihr relatives Recht. Aber hier ist auch die Grenze." 2 4 Freilich, nicht der Krieg, sondern ein schon vorher sichtbarer Wandel des gesellschaftlichen Bewußtseins hat nach Niebergalls Urteil die .moderne Predigt' überholt. „Der Krieg hat kaum etwas zerstört, was nicht auch ohne ihn dem Untergang geweiht gewesen wäre, und kaum etwas geschaffen, was nicht auch ohne ihn gekommen wäre." 2 5 Niebergall bewertet diesen gesellschaftlichen Bewußtseinswandel negativ, als Verlust an Rationalität und an Liberalität. ,.Moderne Theologie, moderne Predigt — diese Losungen, die vor einem Menschenalter ein junges Geschlecht von eifrigen Theologen begeisterten, sind nun unmodern geworden. Andere Ideale werden gepriesen. Einmal glaubt man sich von der rationalen Predigt in einer 2 0 Dies trifft ebenso für die Analyse der homiletischen Praxis zu, die Niebergall in seinem programmatischen Aufsatz von 1905 (Die moderne Predigt, ZThK 15, 1905, S. 203—271) vorlegt (aaO., S. 220ff.), wie vor allem für die entsprechenden Abschnitte in: Die moderne Predigt, 1929 (Liberale Predigt, S. 80, Unmoderne Predigt, S. 81ff., Vormoderne Predigt, S. 88ff., Moderne Predigt, S. 92ff., Hochmoderne Predigt, S. 112ff. und Nachmoderne Predigt, S. 130). 2 1 F. Niebergall, Moderne und modernste Theologie, aaO., S. 107. 2 2 Niebergall, aaO., S. 179. 2 3 Niebergall, Die neueste Theologie, aaO., S. 17. 2 4 Niebergall, aaO., S. 18. 2 5 Niebergall, Die moderne Predigt, 1929, S. 55.
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für alles Irrationale schwärmenden Zeit nicht mehr soviel versprechen zu dürfen; man begeistert sich für Chorgebete, mehrere Liturgien am Altar, möglichst seltsame Veranstaltungen der feiernden Gemeinde. Oder wo man für die Verkündigung des Wortes Gottes eintritt, da schlägt man seltsam fremdartige Töne an und fragt nicht danach, ob eine Gemeinde da ist, die sie versteht. Darüber ist die sog. moderne Predigt in Vergessenheit geraten." 2 6 Niebergall beschreibt das geistige Klima, in dem die Rationalität nicht nur des theologischen Denkens und Arbeitens verloren ging, als „eine gedrückte Stimmung". „Man freut sich seines Pessimismus und rühmt sich seiner Ruhmlosigkeit. Es ist kein Evangelium, also Frohe Botschaft; es ist Dysangelium, Üble Botschaft" 2 7 . Und es sind nicht die rationalen Argumente aufgeklärten Denkens, die die wissenschaftliche Theologie nun bestimmen, sondern „starke Ausdrücke" 2 8 , „Phraseologie" und „vorgeschriebene(s) Weltschmerzgetön" 2 9 . Aus der „Stimmung der Krisis, in die alle herrschenden Wertmaßstäbe und Überzeugungen geraten waren" 3 0 , entsteht eine irrationale und pessimistische Verkündigung. „Was unsrer Predigt Schwung gegeben, das Evangelium — wir übersetzten das Wort mit Froher Botschaft —, ist einer düsteren Verkündigung gewichen: Fragwürdigkeit, Gericht und das Modewort Anspruch mit seinen Ableitungen regieren, als wenn das Christentum weiter nichts als ein neues Gesetz sei. Ganz jenem Umschlag entsprechend beschränkt man sich auf das alte Begriffspaar Sünde und Gnade, nur daß man diese vor jener stark zurücktreten läßt." 3 1 In engem Zusammenhang mit dem Verlust an Rationalität steht für Niebergall das Schwinden des liberalen Verständnisses der religiösen und sozialen Verhältnisse. In der .modernen Predigt' stand der Mensch im Mittelpunkt des theologischen Interesses. Sie wollte „die alten Fragen und Schemata zum Gerümpelhaufen der Dogmengeschichte werfen und alles gruppieren lernen um die Frage und die Antwort nach dem Sinn, dem Sinn der Wirklichkeit, und den ohne Drum und Dran möglichst einfach und ohne das Kauderwelsch der dialektischen Theologie zum Ausdruck bringen" 3 2 . In dem neuen homiletischen Denken steht nicht mehr der Mensch mit seinen Sinnproblemen im Mittelpunkt, es wird „nicht der einzelne und die Gesellschaft, sondern die Kirche mit allem Nachdruck betont" 3 3 . Die Kirche wird für Prediger und Hörer Institution, Autorität. „Eine GeschichNiebergall, aaO., S. 1. Niebergall, Moderne und modernste Theologie, aaO., S. 109. 2 8 M. Schian, Das Wort Gottes und die Predigt. Eine Auseinandersetzung mit K. Fezer, MPTh 24, 1928, S. 2 3 0 - 2 4 0 ; 240. 29 Niebergall, Moderne und modernste Theologie, aaO., S. 110. 30 Niebergall, aaO., S. 142. 31 Niebergall, Die neueste Theologie, aaO., S. 16. 32 Niebergall, Moderne und modernste Theologie, aaO., S. 290. 33 Niebergall, aaO., S. 143. 26
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te kirchlich-pastoraler Illusionen würde für die Nachkriegszeit das schnelle Aufkommen des Gedankens der Kirche vermerken müssen. Besinnen wir uns auf die oben gezeichneten Grundrichtungen der Gegenwart, so ist der Wunsch nach Kirche gut zu verstehen. Aus dem Individualismus heraus führt das Verlangen nach einer großen Schicksalsgemeinschaft, aus dem Subjektivismus heraus das nach einer hohen objektiven Größe, die vor dem einzelnen mit seinen Meinungen und Wünschen da ist. Diese Größe soll vor allem eine Autorität darstellen; von ihr her gewinnt der Verkünder seine Legitimation und auch den Inhalt seiner Verkündigung, um ja nicht bloß auf sich selbst zu stehen." Innerhalb der kirchlichen Autorität erfährt die Predigt eine eigenartige Aufwertung. „Diese Kirche — wohlgemerkt die Organisation, das soziologische Gebilde, nicht die Kirche des Glaubens — diese Kirche hat bloß zu verkündigen, Wort Gottes zu verkündigen; und das ist vor allem das Wort vom Jenseits, das vom Gericht, unter dem alles Menschenwerk, auch sie selber, steht, und was sonst noch der Geist Gottes aus der Offenbarung heraus den Verkündigern als zeitgemäß gebietet. Damit ist alle andere Arbeit neben der Verkündigung gerichtet, alle soziale Arbeit, alle Erziehungsarbeit an dem Volk — es ist Menschenwerk und steht unter dem Gericht. Die Kirche hat bloß das Wort Gottes zu verkündigen; so steht sie in erhabener Einsamkeit mitten in der Welt der Fragwürdigkeit." 34 Im Wandel der religiösen Grundauffassung verlieren sich auch die Grundprinzipien der Homiletik Niebergalls. Ging die moderne Predigttheorie „von Paulus zu dem sog. historischen Jesus zurück" 3S , so rückt nun der „übergeschichtliche Christus" 36 wieder ins Zentrum der Verkündigung. Schließlich „gewinnen die alten Dogmen, auch die von der Trinität und der Menschwerdung, wieder neue Geltung. Es wird wieder die Autorität der Bibel betont und Glaubensgehorsam gefordert" 37 . Die Predigt kehrt „mannigfach zu der Weise der alten Orthodoxie mit ihren sogenannten großen und allgemeinen Themata zurück" 38 . Niebergall sieht die Folgen der neuen theologischen Grundhaltung weniger in der unmittelbaren Predigtpraxis. „Es ist schwer zu sagen, ob im allgemeinen die Predigt besser geworden ist, ob all die theoretischen Bemühungen um ihr Wesen und ihre Aufgaben im Bund mit einer ernster gewordenen Theologie etwas gefruchtet haben. Wie oft hat man leider, um es immer wieder zu beklagen, das Gefühl: da sitzt ein braver Mann an seinem Schreibtisch, arbeitet eine theologisch-ethische Abhandlung aus, die mit Evange34 F. Niebergall, Die neuen Wege kirchlicher Arbeit. Eine kleine Pastoraltheologie, 1928, S. 70f. 35 Niebergall, Moderne und modernste Theologie, aaO., S. 176. 36 Niebergall, Die moderne Predigt, 1929, S. 130. 37 Niebergall, aaO., S. 56. 38 AaO., S. 130.
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lium und mit wirklichen Menschen nichts zu tun hat, schreibt dann .Liebe Gemeinde!' drüber und ,Amen' drunter; und also ward aus Abend und Morgen eine Sonntagspredigt. Und dies Geistesprodukt ist dann noch geschrieben in einer Sprache, die durch das theologische und philosophische Studium alles Lebensblut verloren hat, so daß sie überaus fremd und hart in die Gemeinde hinunter fällt." 39 Das eigentliche Problem der neuen Homiletik liegt in ihrer Funktion für den Prediger, in der „Wirkung auf die Verkündiger". Niebergall verdeutlicht es an zwei „typischen Beispielen". „Im homiletischen Seminar wehrte sich ein begeisterter Jünger der Modetheologie gegen jede Berücksichtigung aller volkskundlichen und psychologischen Erkenntnisse. Als er gefragt wurde, was er denn täte, wenn eine Dorfgemeinde auf eine solche lebensferne Predigtweise die Kirche miede, antwortete er ohne zu zucken, dann warte er, bis der h. Geist seiner Gemeinde das Verständnis für das Wort Gottes, sc. die neue Theologie, aufgeschlossen habe. Ein anderer junger Mann kehrte erschrocken der kirchlichen Arbeit den Rücken, weil er daran verzweifelte, Gott einer Gemeinde vergegenwärtigen zu können. Das sind äußerste Fälle, aber sie sind bezeichnend." 40 Trotz seiner verständnislosen Ablehnung der dialektischen Theologie findet Niebergall in dem neuen homiletischen Denken und Arbeiten aber auch positive Ansätze. „Es wird nicht lange dauern, bis diese Theologie der Nachkriegshypnose mit ihrer Glossolalie an der Praxis scheitern wird — freilich nicht ohne daß sie zuvor der Verkündigung als ihren Beitrag Zweierlei Übermacht hat, was oft übersehen wurde: den Ernst des Gerichtsgedankens und das Wort von dem Glauben als dem Ausdruck für das, was Gott tut." 4 1 39 F. Niebergall, Die Predigt der Gegenwart. Bericht, Aufgabe, Umfrage, ChW 46, 1932, S. 6 6 1 - 6 6 4 , 7 3 9 - 7 4 5 ; 662. 40 Niebergall, Die neuen Wege kirchlicher Arbeit, S. 33. — Vgl. auch Niebergalls undifferenziertes Urteil, in: Predigttypen und Predigtaufgaben der Gegenwart, ChW 39, 1925, S. 5 8 7 - 5 8 8 , 7 3 5 - 7 4 3 ; 739f.: „Man hat den Eindruck, als wenn der Wunsch, den Weg der Kultur und den der Einschmeichelung zu vermeiden, bis zu dem Verfahren führte, das dem ,Ganz-andern' entspräche, sich möglichst unverständlich auszudrücken und zumal jedes Eingehen auf andere Bedürfnisse als das eine zentrale zu vermeiden. So kann man eine Evangelisationsrede gestalten, aber so kann man nicht jahraus, jahrein eine Gemeinde nähren. Das gäbe seelischen Skorbut. Wir bangen davor, wenn unsere jungen Kandidaten und Pfarrer diese Modetheologie zur einzigen Richtschnur nehmen; dann werden prächtige, liebe Menschen sich ein ernstes Gesicht anlegen und dumpf murmeln: Fragwürdigkeit, Gericht —, und dann werden sie Stimme und Antlitz ein wenig aufhellen und sagen: Vergebung. Sie werden es verschmähen, etwas Anderes als diesen Seligkeitsegoismus nach dem Muster des Erfurter Luther zu verkündigen, etwa elende Moral oder gar auf die Bedürfnisse des menschlichen Organs zur Aufnahme von Geistigem zu achten. Sie werden mit Fanatismus erklären, wenn man sie vor diesen monologischen Expektorationen warnt als vor dem tauglichsten Mittel, die Kirchen zu leeren, daß sie dann allein auf der Kanzel warten wollten, bis der Geist dem Wort Gottes die Bahn bricht." 41 F. Niebergall, Predigttypen, aaO., S. 740.
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II. Die wissenschaftliche Struktur der praktischen Predigttheorie 1. Der praktische Ansatz der ,modernen
Homiletik'
Überblickt man die Theorie und Praxis der ,modernen Predigt', wie sie Friedrich Niebergall darstellt, so beeindruckt vor allem die Geschlossenheit dieser homiletischen Konzeption. Die verschiedensten praktischen und theoretischen Impulse der Homiletik verdichten sich zu einem Modell, in dem die Diskrepanz von homiletischer Theorie und praktischer Predigtarbeit überwunden scheint. Im Auseinanderfallen von Theologie und kirchlicher Praxis sieht Niebergall das Grundproblem jeder praktischen Theologie und besonders der Homiletik seiner Zeit 42 . Er versucht, dieses Problem durch eine entschlossene Konzentration auf die homiletische Praxis zu lösen. Niebergall setzt daher an den Anfang seiner Predigttheorie eine Analyse der Predigtpraxis. Er untersucht die Bedingungen der Predigt in der modernen Gesellschaft und entwickelt daraus den praktischen Rahmen, der die Predigt zugleich ermöglicht und begrenzt 43 . Der Hörerkreis der Sonntagspredigt ist nach Niebergalls Erkenntnis klein. Die Hörer gehören fast ausschließlich zum Mittelstand. Und sie sind hinsichtlich ihrer kirchlichen Einstellung relativ homogen. Es sind die „Kirchlichen", mit denen es der Pfarrer in der Predigtarbeit zu tun hat 4 4 . Niebergalls Untersuchung des sozialen Umfelds der Predigt gestaltet sich freilich nicht selten unwissenschaftlich, zufällig und subjektiv 45 . Aber Niebergall wendet in der Analyse der homiletischen Wirklichkeit auch wissenschaftliche Methoden 42 Im Vorwort seines Buches „Theologie und Praxis" (1916) schreibt Niebergall: „Die vorliegende Schrift soll ein Beitrag zur Lösung deqenigen Aufgabe sein, die die wichtigste der Praktischen Theologie jeder Zeit und darum auch der unsern zu sein scheint; nämlich: das Verhältnis zwischen Theologie und Praxis in Ordnung zu bringen." 43 Bezeichnend für diese homiletische Denkstruktur Niebergalls ist der Aufbau seiner Homiletik. Die theoretische Homiletik setzt mit einer homiletischen Analyse der neutestamentlichen Texte ein (Wie predigen wir, Bd. 1, S. 3ff.) und untersucht im zweiten Teil den Menschen zunächst psychologisch (aaO., S. 7Iff.) und dann soziologisch (aaO., S. 9Iff.). Im dritten Teil schließlich (aaO., S. 128ff.) wird die Synthese aus beiden Analysen vollzogen und damit der homiletische Akt theoretisch beschrieben. Ähnlich strukturiert ist der homiletische Teil in Niebergalls Praktischer Theologie (Bd. II, 1919, S. 65ff.). Niebergall konstruiert dort zuerst den umfassenden Zusammenhang der Predigtarbeit des Pfarrers (aaO., S. 67ff. und 98ff.), um dann in einem zweiten Denkschritt erst den einzelnen homiletischen Akt zu beschreiben (131 ff. und 183ff.). 44 Diese Analysen finden sich z.B. in: Die moderne Predigt 1929, S. 130ff. und vor allem im § 25 („Die Kirchlichen") von Wie predigen wir dem modernen Menschen (Bd. 1, S. lOOff.). 45 Dieser unwissenschaftliche Umgang mit den Bedingungen der homiletischen Realität ist in Niebergalls Arbeiten häufig zu finden (vor allem Die moderne Predigt, 1929, S. 130ff.).
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an. Er entwirft ein komplexes System des homiletischen Wirkungsfelds 46 . Und seine soziologische Typisierung von Kirchlichkeitsmotivationen, Predigterwartungen und Predigtwirkungen wirkt fundiert und differenziert 4 7 . Die methodische Untersuchung des homiletischen Funktionsfelds gleicht in vielem den praktisch-theologischen Ansätzen in der gegenwärtigen Homiletik. In der realistischen Einschätzung der Sonntagspredigt, der nüchternen Beurteilung ihrer sozialen Funktion, der quantitativen und qualitativen Analyse des Hörerkreises der Predigt — in all dem scheint die gegenwärtige praktisch-theologische Predigttheorie der ,modernen Homiletik' verwandt zu sein 48 . Man könnte beinahe versucht sein, Niebergalls Erkenntnis von dem unaufmerksamen Schüler, der die Einsichten vergangener historischer Epochen noch einmal selbst erarbeiten muß 4 9 , auch auf die gegenwärtige Homiletik anzuwenden. Und doch unterscheiden sich die ,moderne Predigt' und die Homiletik der Gegenwart gerade in der Beschreibung und Bewertung der homiletischen Realität grundsätzlich. Niebergalls Analyse der sozialen und historischen Bedingungen der Predigt stand ganz im Zeichen einer praktisch interessierten kirchlichen Bewegung. Ihm kam es nach seinem eigenen Urteil „nicht darauf an, daß ein homiletisches System vorhanden sei, in dem alles schon steht, sondern darauf, daß besser gepredigt werde" 5 0 . Und besser, das heißt für Niebergall realistischer, situationsgerechter, individueller. So allgemein für Niebergall auch die Erkenntnis des geringen Stellenwerts der Predigt in der Gesellschaft, ja selbst im Zusammenhang des kirchlichen Handelns ist 51 , er bleibt bei dieser Einsicht nicht stehen. Sie bildet lediglich den Ausgangspunkt für eine genauere Untersuchung situationsbezogener Predigtformen und für die Entwicklung differenzierter Predigtmodelle. Niebergalls Kritik an den dogmatischen Predigtdefinitionen richtet sich deshalb auch weniger gegen deren zu hohen Anspruch als vielmehr gegen ihre Allgemeinheit. Sie nivellieren nach seinem Urteil die komplexen Beziehungen zwischen Text, Hörer und Prediger, zeichnen ein illusionistisches Bild des Hörers, sehen den Text vorwiegend in seiner Bedeutung für die Entwicklung der dogmatischen Lehre und erweisen sich damit als wenig hilfreich für den Prediger, der in seiner praktischen Predigtarbeit anderen Gesetzen 46 Vgl. dazu: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, Bd. 1, S. 71—90. 47 Die Motivationen der Kirchlichkeit, Strukturen und Tendenzen, stellt Niebergall in: Wie predigen wir, Bd. 1, S. 91—127 zusammen. 48 Vgl. dazu unser erstes Kapitel: „Der Prozeß der'Predigtarbeit als Problem der homiletischen Theorie". 49 Niebergall bezieht diese Bemerkung auf die Anknüpfung der .modernen Predigt' an bestimmte Tendenzen der theologischen und kirchlichen Aufklärung (Die moderne Predigt, 1929, S. 58). so F. Niebergall, Echte Predigt, EvFr 20, 1920, 3 5 4 - 3 6 3 ; 354. si Zur Bedeutung, die Niebergall beispielsweise den Kasualien zumißt, vgl. sein Buch „Die Kasualrede", 1905.
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folgen muß als sie die dogmatische Predigttheorie beschreibt 52 . Der dogmatische Ansatz der Homiletik muß nach Niebergalls Erkenntnis ergänzt und differenziert, die Predigttheorie muß der Komplexität der modernen Predigtpraxis gerecht werden. In der Homiletik der Gegenwart hat die praktische Analyse der Predigt und ihres Funktionsrahmens einen etwas anderen theoretischen Stellenwert. Die kirchensoziologischen, kybernetischen und psychologischen Untersuchungen entfalten sich zwar auch wie bei Niebergall im Bereich der homiletischen Prinzipien. Sie bestimmen die Grenzen und Möglichkeiten der Predigt. Aber während Niebergall das Gebiet der prinzipiellen Homiletik ständig überschreitet, bleiben die gegenwärtigen Analysen der Predigtfunktion zumeist in der Auseinandersetzung mit traditionellen homiletischen Funktionsbestimmungen 53 . Die kybernetischen und soziologischen Methoden dienen der gegenwärtigen Homiletik mehr zur Beschreibung der Grenzen der Predigt als zur Entfaltung ihrer Möglichkeiten. Nur selten durchbrechen diese methodischen Impulse die Grenze zur praktischen Homiletik und gehen in die Entwicklung von homiletischen Modellen und Verfahren ein 54 . Der homiletische Elan, der ständig zur Predigtarbeit hindrängt, der in den erkannten Grenzen der Predigt ihre Möglichkeiten bis in die letzten Konsequenzen hinein wahrnehmen möchte, scheint gegenwärtig nicht mehr so ungebrochen wie in Niebergalls Homiletik, die in allen prinzipiellen Ansätzen und methodischen Ausführungen unter der Leitfrage stand: „Wie predigen wir dem modernen Menschen?" Während Niebergall die prinzipielle Homiletik im Zusammenhang der praktischen Homiletik entwickelt, scheinen sich gegenwärtig die praktischen Impulse und Methoden der Homiletik vorwiegend im Rahmen der homiletischen Prinzipienlehre zu entfalten 55 . Die kritischen Tendenzen der gegenwärtigen praktischen Homiletik entzünden sich daher auch weniger an der Allgemeinheit 56 als hauptsächlich am „Anspruch" 57 der dogmatisch orientierten Homiletik. 52 So schreibt Niebergall etwa am Ende einer Rezension des homiletijchen Ansatzes von K. Fezer (Das Wort Gottes und die Predigt, 1925): „Es ist mit diesem Versuch der neuen Theologie homiletisch genug getan; praktisch macht man es doch anders. Fezer selbst hilft und hilft gut. Derselbe, der es bezweifelt, daß man eine Gemeinde kennen lernen könne, nimmt immer Bezug auf Stuttgart und Tübingen" (Niebergall, Vom Predigen, ChW 42, 1928, S. 3 4 - 3 7 , 5 8 - 6 0 ; 60). 53 Vgl. dazu oben den Abschnitt im ersten Kapitel: „Das Problem der praktischen Predigttheorie". 54 Vgl. dazu oben im ersten Kapitel den Abschnitt „Das homiletische Verfahren" und die dort besprochene und angegebene Literatur. 55 Vgl. dazu oben im ersten Kapitel die Abschnitte „Neue homiletische Methoden", „Das Problem der Vermittlung von prinzipieller und praktischer Homiletik" und „Das Verfahren der Predigttheorie". 56 Jetters Kritik an bestimmten Formen kirchlicher Praxis und homiletischer Einstellung stimmt freilich in der Intention mit der Kritik Niebergalls an der dogmatisch
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2, Das homiletische
System Friedrich
Niebergalls und seine
Probleme
Die gegenwärtige Homiletik könnte sich freilich nun gerade diese Differenz, wie sie im Zusammenhang von prinzipieller und praktischer Homiletik in der modernen Predigtbewegung und in der derzeitigen Predigtlehre zutage tritt, zunutze machen. Die Vermittlung von theoretischer und praktischer Homiletik ist eines der wesentlichen Probleme der gegenwärtigen Predigttheorie 5 8 . Und diese Vermittlung scheint Niebergall in einem hohen Maße gelungen zu sein. Denn Niebergalls Werk ist mit der konstitutiven Beziehung auf die Predigtpraxis n o c h nicht hinreichend gekennzeichnet. A u c h Baumgarten und Drews, Schian und Uckeley — sie alle betonen den praktischen Charakter der Predigtarbeit und ihrer Theorie. A b e r keiner von ihnen entwickelt aus diesem kritischen Prinzip der modernen Predigtbewegung eine homiletische Theorie von solcher formaler Logik und innerer Geschlossenheit wie Niebergall s 9 . Seine verschiedenen methodischen Ansätze finden sich teils gleichzeitig, teils auch schon vor seiner Homiletik bei seinen Freunden, die religiöse Volkskunde und die praktische Exegese bei Drews, die soziale Zuspitzung der Predigt bei Baumgarten, die Vielfalt der modernen Predigtformen bei Schian und Uckeley 6 0 . A b e r in der theoretischen Konstruktion ist Niebergall originell. Nach seinem Verständnis muß auch und gerade eine „Theorie der P r a x i s " 6 1 den Bedingun-
orientierten Predigttheorie überein: „Hat sich die Predigt nicht angewöhnt, sich an einen mittelgebildeten, mittelständischen homo homileticus in der Mitte des Mittelschiffs zu wenden und mit der freiwilligen Vorgabe seiner Kirchlichkeit zu rechnen? Die eine Predigt, von der die dogmatische Lehre weiß, hat sich ihren einen Hörer geschaffen, und beide verblassen miteinander im Konturlosen" (W. Jetter, Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer, MPTh 56, 1967, S. 2 1 2 - 2 2 8 ; 220). 57 So W. Trillhaas, Evangelische Predigtlehre, 5. Aufl., 1964, S. 5. E. Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, Predigtstudien Beiheft 1; S. 14. W. Jetter, Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer, aaO., S. 213. D. Rössler, Das Problem der Homiletik, Thpr 1, 1966, S. 1 4 - 2 8 ; 18. 58 D. Rössler schreibt am Ende seines Aufsatzes über „Das Problem der Homiletik" (aaO., S. 28): „Eine Predigtlehre, in der sich Prinzip und Erfahrung kritisch vermitteln, mag in jeder Epoche eine neue Aufgabe sein. Ganz gewiß ist sie das homiletische Problem der Gegenwart." 59 Richtig urteilt F. Frey (aaO., S. 157): „Niebergalls Praktische Theologie zeigt ein in sich geschlossenes System". 6 0 P. Drews, Das Problem der Praktischen Theologie, 1910, S. 81. Ders.: .Religiöse Volkskunde', eine Aufgabe der Praktischen Theologie, MkiPr 1, 1901, S. 1—8. — O. Baumgarten, Predigt-Probleme, 1904. — A. Uckeley, Moderne Predigtideale. Beiträge zur Theorie der zeitgemäßen Predigtweise nach Inhalt und Form, 1910. M. Schian, Neuzeitliche Predigtideale, MPTh 1, 1905, S. 8 8 - 1 0 9 . 61 F. Niebergall, Die wissenschaftlichen Grundlagen der Praktischen Theologie, MkiPr 3, 1903, S. 2 6 8 - 2 8 1 ; 271. Vgl. dazu oben im dritten Kapitel den Abschnitt „Die Theorie der homiletischen Theorie". 210
gen wissenschaftlicher Reflexion entsprechen, muß auch die moderne Homiletik „streng wissenschaftlich" 6 2 betrieben werden. Niebergalls homiletisches Denken ist deshalb nicht nur an der engen Beziehung auf die kirchliche Predigt, sondern vor allem auch an der wissenschaftlichen Konsistenz seines homiletischen Systems zu messen. Die konstruktive Gestaltung der Homiletik scheint nun Niebergall in einem Maße gelungen zu sein, das es erlaubt, ihn in die Geschichte der wissenschaftlichen Homiletik einzureihen. Seine Homiletik, in über fünfzig Veröffentlichungen verstreut und in seinen homiletischen Hauptschriften doch komprimiert dargestellt, bedient sich konsequent der Methoden und Denkformen der modernen wissenschaftlichen Wirklichkeitsbetrachtung. Sie trägt bis in ihre Einzelzüge hinein die Mode ihrer Zeit. Und Niebergall scheut diesen Begriff im Zusammenhang wissenschaftlicher Reflexion keineswegs. Er prägt selbst im Rückblick auf sein wissenschaftliches Werk den Satz: , J e d e Zeit hat ihre besondere Mode-Idee oder Mode-Reform." 6 3 Für Niebergall ist die Zeitgebundenheit seines homiletischen Entwurfs nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit, allenfalls noch seine größte Auszeichnung. Denn es ist ja die Aufgabe eines „Theoretiker(s) der Praxis" 64 , seine Theorie „den Bedürfnissen einer jeden modernen Zeit nach Inhalt und Form anzupassen" 6 5 . Als die ,moderne Predigt' noch zu seinen Lebzeiten anachronistisch und zu einem Teil der homiletischen Theoriegeschichte wird, k ä m p f t Niebergall denn auch nicht für seine Position, sondern er nimmt mit einem Anflug von Resignation Abschied von seinem homiletischen System und schreibt ihm nicht nur den Nachruf, sondern auch die Geschichte. Er stellt geradezu historiographisch fest, „daß die Theologie, die bis jetzt die verbreiteteste war, die sog. moderne in ihren verschiedenen Ausprägungen, das geschichtliche Alter von 20—30 Jahren erreicht habe und darum in den Ruhestand gehen müsse." Und Niebergall nimmt das Ende seiner Arbeit gelassen zur Kenntnis: „Indem wir uns als geschichtlich gebildete Männer in dieses Geschick ohne jeden Groll fügen, wollen wir hören, was die Nachfolgerin der Praxis zu bieten hat" 6 6 . Die Geschlossenheit der homiletischen Theorie Niebergalls ist freilich nicht nur durch die enge Beziehung auf die historischen und sozialen Bedingungen seiner Zeit begründet. Sie liegt vielmehr vor allem in der logischen, der wissenschaftlichen Konstruktion seines Systems. Niebergall erkennt das Problem, wie unter den Bedingungen einer komplexen Praxis Wissenschaft möglich ist. Und er bearbeitet es mit unnachgiebiger Konsequenz, 62
F. Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen, Bd. 1, S. 4. F. Niebergall, Die neuen Wege kirchlicher Arbeit. Eine kleine Pastoraltheologie, 192S, S. 15. 64 F. Niebergall, Wie predigen wir, Bd. 2, S. 199. 65 Niebergall, Neue Wege, S. 27. 66 F. Niebergall, Die neueste Theologie und die Praxis, aaO., S. 13. 63
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indem er aus der Induktion, aus der Deskription der Wirklichkeit durch strukturale Typisierung und durch wissenschaftliche Kritik zu einem System homiletischer Methoden gelangt, die nicht nur jede für sich mit der kirchlichen Praxis verbunden sind, sondern die auch in ihrer systematischen Verflechtung zu Prinzipien einer homiletischen Konstruktion werden, die hinsichtlich ihres wissenschaftlichen und ihres praktischen Charakters den Rang eines historischen Modells einnimmt 6 7 . Niebergall knüpft in der Grundlegung seiner praktisch-theologischen Konzeption an Carl Immanuel Nitzsch an 68 . Niebergall versteht die praktische Theologie als eine Theorie der kirchlichen Praxis und die Predigt als Teil der religiösen Erziehung des einzelnen durch die Gemeinde 6 9 . Die religiöse und kirchliche Praxis ist für Niebergall nicht ein Element im Gefüge seiner Theorie, sondern sie ist zugleich Gegenstand, Ausgangs- und Zielpunkt seines ganzen homiletischen Denkens. Die Praxis wird ihm zum theoretischen Prinzip. In seinem Verständnis der praktischen Theologie sind Berufspraxis des Pfarrers 70 , Frömmigkeitspraxis der Gemeinde 7 1 und religiöse Praxis der Gesellschaft 72 konstitutiv miteinander verflochten. Mit seinem homiletischen System setzt Niebergall vor allem bei Friedrich Schleiermacher an 73 . Niebergall untersucht zunächst die einzelnen Faktoren des homiletischen Prozesses. Er geht dem Predigthörer ausführlich nach 7 4 und interpretiert die biblischen Texte in ihrem Zusammenhang mit der Predigt 75 . Und er faßt diese Grundbeziehungen des homiletischen Aktes schließlich in der Theorie der Verkündigung zusammen 7 6 . Im Rückgriff auf Nitzsch und Schleiermacher gelingt es Niebergall, die Homiletik aus den komplexen Beziehungen der Predigtarbeit zu entwickeln. Seine Predigtlehre wird daher den differenzierten Voraussetzungen und Konse67
Zu Niebergalls homiletischen Methoden und zu seinem homiletischen System vgl. oben das dritte Kapitel: „Die Theorie der .modernen Predigt'." 68 Vgl. dazu vor allem Niebergalls Antrittsvorlesung „Die wissenschaftlichen Grundlagen der Praktischen Theologie" (aaO.) und: Ders., Praktische Theologie, Bd. 1 (1918), S. 3ff. 69 Vgl. dazu den Aufbau der Praktischen Theologie (1918/19) und den Aufbau des homiletischen Teils im zweiten Band der Praktischen Theologie (65ff.). 70 Vgl. dazu Praktische Theologie, Bd. 1, S. 393ff. 71 Vgl. dazu die Charakterisierung der religiösen Situation der Neuzeit oben im Abschnitt „Die religiöse Situation der Neuzeit". 71 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Die Theorie der Religion". 73 In „Die moderne Predigt" 1929 (69) schließt sich Niebergall dem homiletischen Ansatz von P. Drews an und erhofft mit ihm „einen homiletischen Frühling, wo Schleiermachers Losung für die Predigt: Synthese von Prediger, Text und Gemeinde wieder neue Kraft gewinnt". 74 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Der moderne Mensch — der Bezugspunkt der sozialen Predigtpraxis" und den Abschnitt „Die Theorie des Predigthörers". 75 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Die Theorie des Predigttextes". 76 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Die Theorie der Predigt".
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quenzen der Predigt in weit höherem Maße gerecht als eine Predigtlehre, die sich auf nur einen der homiletischen Faktoren stützt und die anderen Grundbedingungen der Predigt aus ihm zu deduzieren versucht 77 . So bestechend freilich Niebergalls Ansatz einer komplexen Homiletik als Modell erscheinen mag, seine Ausführung gibt doch zu erheblichen Bedenken Anlaß. Zunächst weist gerade der induktive Ansatz der Homiletik, der charakteristische Ausgangspunkt seiner Theorie, entscheidende Mängel auf. Niebergalls Untersuchungen des Gottesdienstbesuches und der sozialen und religionstypischen Momente der Predigthörer sind nicht repräsentativ für die wirkliche Predigtpraxis in ihrem ganzen Umfang. Die Auswahl der Gemeinden ist zufällig, die Zusammenstellung der Angaben beliebig, die Wiedergabe der Ergebnisse impressionistisch. Methodische Exaktheit und wissenschaftliche Reflexion fehlen in hohem Maße. Man kann daher Niebergall den Vorwurf nicht ersparen, daß seine Analyse der homiletischen Wirklichkeit schon im Ansatz dem wissenschaftlichen Anspruch in keiner Weise gerecht wird, den er mit seiner homiletischen Theorie verbindet 78 . Noch größere Probleme stellt aber Niebergalls homiletisches System selbst. Niebergall versucht, die Faktoren des homiletischen Prozesses in einem komplexen wissenschaftlichen Verfahren theoretisch aufeinander zu beziehen. Sowohl die exegetische als auch die dogmatische Theologie erhalten in seinem System bestimmte homiletische Funktionen, die diese theologischen Disziplinen im Interesse der homiletischen Praxis zugleich beschreiben und begrenzen. Die Dogmatik ist für Niebergall nicht homiletische Prinzipienlehre, sondern sie ist ein spezifisches theoretisches Moment im Interpretationszusammenhang des homiletischen Grundverhältnisses von Text und Hörer. Die Dogmatik hat die Aufgabe, kritisch und konstruktiv das System der Motive und Quietive aufzustellen, das der Predigtarbeit zugrundeliegt, ein religiöses System von Motivierungen, das Prediger und Hörer miteinander verbindet und das zugleich auch die normativen Elemente des biblischen Textes zur Geltung bringt 79 . Niebergall hält die Entwicklung einer solchen christlichen Weltanschauung und Weltkonstruktion vor allem im Blick auf eine bestimmte Gruppe potentieller Predigthörer 77
Diesen Vorwurf erhebt Niebergall gegenüber der Homiletik von F. L. Steinmeyer (hrsg. v. Reyländer 1901): Die moderne Predigt 1929; 62f. 68. 78 Niebergall wird sich gelegentlich selbst der Problematik einer induktiv gestalteten Theorie durchaus bewußt. In „Die moderne Predigt" 1929 (163) schreibt er: „Es ist gar kein Geheimnis, daß jede derartige induktive Arbeitsweise, auf den Kern gesehen, doch deduktiv ist; man hat sich ein Schema gebildet, das in die Dinge hineingeschaut wird, von denen man es abzuziehen scheint." Gerade dieses metatheoretische „Schema" der induktiven Theorie wird aber beim Ansatz seiner Analyse der modernen Wirklichkeit nicht ausreichend reflektiert. 79 Vgl. dazu Niebergall, Die Aufgabe einer praktischen Dogmatik, in: Festgabe für J. Kaftan 1920, 243—251; ders., Wie predigen wir dem modernen Menschen, Bd. 1; S. 130ff.
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für notwendig, für die Gebildeten unter den Unkirchlichen, denen sein besonderes Interesse gilt 80 . Niebergalls Umgang mit der systematischen Theologie wird nun aber weder dem Charakter des dogmatischen Denkens noch auch nur den Bedingungen seines eigenen wissenschaftlichen Systems gerecht. Das Problem der Vermittlung von praktischer und prinzipieller Homiletik ist nicht zu lösen, indem man die systematische Theologie zur Hilfswissenschaft der praktischen Theologie macht. Und gerade Niebergalls Entwurf eines komplexen wissenschaftlichen Verfahrens der Homiletik setzt eine umfassende wissenschaftliche Reflexion der theoretischen Bedingungen und Konsequenzen, eine Kritik und Darstellung der homiletischen Prinzipien voraus, die die praktische Homiletik nicht leisten kann. Diese Aufgabe kann nur von einer systematischen Theologie wahrgenommen werden, die nicht von der praktischen Homiletik vereinnahmt ist, sondern ihr kritisch gegenübersteht und sie — mit einem Wort von Ernst Lange — zugleich begründet und begrenzt 8 1 . Diese theologischen Bedenken gegen Niebergalls Homiletik verschärfen sich noch, wenn man sich seiner Theorie des Predigttextes zuwendet. Mit Recht sieht Niebergall in ihr die „Achillesferse" 82 seines ganzen Entwurfs. Nicht nur, daß Niebergall die historisch-kritische Methode in seiner praktischen Exegese keineswegs bloß fortsetzt — wie er selber meint 8 3 —, sondern sie geradezu desavouiert, viel entscheidender als dieser methodische Einwand scheint doch ein grundsätzlicher zu sein. Niebergall hält daran fest, daß die „ N o r m " der Verkündigung in keinem Falle aus der Analyse der modernen Wirklichkeit genommen werden darf. Und er wehrt sich mit Leidenschaft gegen den Vorwurf, die .moderne Predigt' gebe den normativen Charakter der biblischen Texte preis 84 . In Wirklichkeit trifft aber genau dieser Einwand zu. Denn Niebergalls apodiktische Behauptung, die biblischen Texte seien zu keinem anderen Zweck geschrieben, als um die praktischen Motive für die moderne Predigtweise zu liefern 8 5 , verkennt die normative Funktion der biblischen Schriften schon im Grunde. Sie integriert die Texte in ein vorgefaßtes praktisch-homiletisches System, in dem sie le80
Ähnlich schreibt Werner Jetter: „Das brennendste Problem der Predigt ist der Mensch, der sie nicht hört. Dieser Satz klingt wie ein Gemeinplatz. In Wirklichkeit hätte die Christenheit heute ihren Rubikon überschritten, wenn der Mensch, der die Predigt nicht hört, ihre brennendste Wunde und das Problem Nummer eins ihrer Prediger wäre" (Elementare Predigt, ZThK 59, 1962, 3 4 6 - 3 8 8 ; 346). 81 Predigtstudien Beiheft 1, S. 20. 82 F. Niebergall, Wie heute gepredigt wird, ChW 25, 1911, S. 1 1 6 2 - 1 1 6 7 , 1197— 1200; 1200. 83 Zum Verhältnis von historisch-kritischer und homiletischer Schriftinterpretation bei Niebergall vgl. vor allem: Wie predigen wir Bd. 1, S. 3f. 84 Vgl. vor allem Niebergalls Ausführungen über die Norm der Predigt, in: Wie predigen wir Bd. 1, S. 164. 85 Wie predigen wir, Bd. 1, S. Iff.
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diglich eine Hilfsfunktion wahrnehmen. Sie sind, wie Niebergall selbst konsequenterweise sagen muß, nicht Zweck, sondern Mittel 86 . Die theologischen Einwände gegen Niebergalls Homiletik verdichten sich vollends in der Frage nach den Prinzipien seiner Predigtlehre. Nicht zufällig kommt die homiletische Prinzipienlehre in Niebergalls Predigttheorie gar nicht vor. Der homiletische Elan, mit dem Niebergall die zeitgenössische Predigtpraxis untersucht, Formen, Tendenzen und Typen der Predigt darstellt, weist ebenso wie die Charakterisierung der theologischen Einstellungen auf das Pragmatische seines Standpunktes hin. Die .moderne Predigt' und die .moderne Homiletik' berufen sich auf die .moderne Theologie' und erklären alle diejenigen Momente der homiletischen Praxis und der theologischen Theorie für illegitim, die den Ansprüchen einer wie immer gearteten Modernität nicht entsprechen. Die Modernität wird für Niebergall zum ausschließlichen Prinzip seiner Homiletik, zu einem Prinzip freilich, das nur vage definiert und nur mit höchst subjektiven Verfahrensweisen charakterisiert werden kann 87 . Der christliche Glaube schließlich wird in Niebergalls Denken zum ethischen Optimismus 88 , zu einer Funktion seines eigenen Weltverständnisses. Die Frage nach dem Eigentümlichen der christlichen Verkündigung und damit nach der Legitimität seiner ganzen homiletischen Arbeit überläßt Niebergall der Religionsgeschichte, ohne selbst einen systematisch-theologischen Ansatz zu artikulieren. Das Defizit an dogmatischem Denken kann durch den praktischen Elan der Homiletik nicht wettgemacht werden. Bei Niebergall wird das Praktische zum Praktikablen 89 . Und gerade damit stellt Niebergall den Sinn seiner praktischen Homiletik selbst in Frage 90 . Die moderne Predigtbewegung hatte ihre Zeit. Sie kann weder kopiert noch repetiert werden 91 . Ihre innere Problematik ist zu offensichtlich, als 86 Vgl. dazu vor allem die Analyse moderner Predigten und dort die Abschnitte über die „Hilfsmittel" in: Die moderne Predigt 1929, S. 182ff. 87 Vgl. dazu oben den Abschnitt „Modernität als homiletisches Prinzip". 88 Zu Niebergalls Christentums- und Religionsverständnis vgl. oben den Abschnitt „Die Theorie der Religion". 89 Dieses Grundproblem der Praktischen Theologie thematisiert M. Mezger in seinem Aufsatz „Das Praktische und das Praktikable" (DtPfrBl 65, 1965, S. 321ff.). 90 F. Wintzer faßt die theologischen Bedenken gegen Niebergalls Predigttheorie folgendermaßen zusammen: „Niebergalls Homiletik zielte auf eine lebens- und weltbezogene Predigt. Immer wieder rief er zum Realismus und zur Nüchternheit. Unter der leidenschaftlichen Bemühung, dem sogenannten modernen Menschen verständlich und wirkungsvoll zu predigen, werden die theologischen Fragen jedoch vereinfacht" (Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der .dialektischen Theologie' in Grundzügen, 1969, S. 179). Wintzer hält Niebergall freilich zugute: „Niebergalls eigene Predigten sind allerdings z. T. theologisch gefüllter als es seine Predigtdoktrin vermuten läßt", aaO., Anm. 35). V Zutreffend schreibt F. Frey: „Es wird keinen .Niebergall redivivus' geben, es sollte aber auch keinen in Vergessenheit geratenen Niebergall geben. Man kann ihn nicht
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daß man von der Übertragung ihrer theoretischen und praktischen Strukturen auf die gegenwärtige Homiletik eine Lösung der Fragen erwarten könnte, die sich der praktischen Predigtlehre derzeit stellen. Die Ablösung der ,modernen Predigt' nach dem Ersten Weltkrieg war nicht nur — wie Niebergall meinte — durch einen Umschlag des allgemeinen Gesellschaftsbewußtseins bedingt. Es waren vor allem theologische Momente, die auf eine neue Gestaltung der Homiletik hindrängten 9 2 . Die Homiletik der Gegenwart kann nicht hinter die dialektische Theologie und die ihr folgende homiletische Reflexion zurück. Die Radikalität der homiletischen Probleme ist heute deutlicher als zu Beginn unseres Jahrhunderts. Und es war Niebergall selbst, der den Ertrag der dialektischen Homiletik schon in ihren Anfängen umriß und der den Wandel der homiletischen Einstellung nach dem Ersten Weltkrieg anerkannte: „Der Ernst und die sachliche Wucht der Botschaft werden mitgenommen werden." 9 3 Und doch scheinen sich die .moderne Predigt' und die praktische Homiletik der Gegenwart nicht nur fremd, sondern in vielen Zügen auch verwandt zu sein. Es sind nicht nur die methodischen Ansätze, nicht nur viele praktische und manche grundsätzliche Einsichten 94 , es ist vor allem die praktische Tendenz, die homiletische „Grundhaltung" 9 5 , die das homiletische Denken und Arbeiten der Gegenwart über die Kritik der dialektischen Theologie hinweg mit Niebergall verbindet. Insofern scheint in Niebergalls Beurteilung der homiletischen Theoriegeschichte auch etwas Wahres zu sein. Er hatte im Blick auf die Ablösung der ,modernen Predigt' durch die Homiletik der dialektischen Theologie geschrieben: „Die Probe einer jeden Theologie ist die Praxis. Die Theologie der Krisis wird an der Praxis ihre Krisis finden. Sie wird daran scheitern oder sie wird sich wandeln. Wie wir bestes Erbe aus unserm Vaterhaus mitgenommen haben, so wird sich auch das Erbe aus unserm Hause wieder durchsetzen: das Evangelium, die Persönlichkeit, die Rücksicht auf Menschen und Gemeinde, die sittliche Erziehungsarbeit und die soziale Wirksamkeit." 9 6 Das gegenwärtig neu belebte Interesse am Prozeß der Predigtarbeit, an der Verknüpfung von Wort kopieren. Aber das Problem muß immer locken, zu untersuchen, wie ein Mann der Praxis, ein Pfarrer, Religionslehrer und Gelehrter, damals gewirkt hat. Die seinen Studenten oft mitgegebene Mahnung sollte jeder im Dienst des Evangeliums Stehende auch heute beherzigen: ,Es kommt nicht darauf an, daß es klingt, sondern daß es stimmt'." (Frey, aaO., S. 158). — Ähnlich urteilt auch P. Cornehl in seinem Aufsatz „Die Funktion der Bibel für die Frömmigkeit als praktisch-theologisches Problem", Thpr 7, 1972, S. 1 2 4 - 1 4 2 , 125. 92 Zur theologischen Grundlegung der Homiletik durch die dialektische Theologie vgl. die im ersten Kapitel genannte Literatur. 93 F. Niebergall, Die neueste Theologie und die Praxis, aaO-, S. 18. 94 Vgl. dazu oben das erste Kapitel: „Der Prozeß der Predigtarbeit als Problem der homiletischen Theorie". 9 5 Niebergall, die neueste Theologie, S. 18. 96 Niebergall, aaO.
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und Situation, am Hörer und an seiner Beziehung zu Text und Predigt 97 scheint Niebergall in gewissem Sinne recht zu geben. Und doch sind die Grundprobleme der gegenwärtigen praktischen Homiletik andere als die der .modernen Predigt'. So dringend die Entfaltung der praktischen Homiletik gegenwärtig ist, so wichtig die Entwicklung homiletischer Modelle und Verfahren für die Predigt der Gegenwart erscheint, das homiletische Problem ist auch ein theoretisches, ein Problem, das die Theologie im ganzen betrifft. Denn die erneute Anknüpfung an Schleiermachers homiletisches Grundkonzept, die Einsicht in die komplexe Struktur des homiletischen Aktes 9 8 , fordert eine Neugestaltung auch der prinzipiellen Homiletik, die nicht auf den Rahmen der praktischen Theologie beschränkt bleiben kann. Friedrich Niebergall hatte versucht, die Predigtlehre als eine Aufgabe aller theologischen Methoden und Arbeitsgebiete zu entwickeln. Aber er hatte die Homiletik auf die praktische Theologie beschränkt und dabei die eigenartige Bedeutung des exegetischen und des dogmatischen Denkens verkannt. In der Folgezeit wurde der theologische Charakter der Homiletik immer deutlicher profiliert 99 . Die gegenwärtigen Neuansätze einer praktischen Homiletik können nur dann mit dem systematisch-theologischen Denken verschmolzen und zu einer umfassenden Theorie der Pred'gt weiterentwickelt werden, wenn es gelingt, einerseits die praktisch-theologischen Methoden, wie Soziologie und Kybernetik, über das Gebiet der prinzipiellen Homiletik hinaus in die praktisch-theologische Reflexion der Predigtarbeit einzubeziehen und andererseits ebenso die systematischen Prinzipien der Predigt für deren praktische Gestaltung fruchtbar zu machen 1 0 0 . Die Homiletik der Gegenwart bedarf mehr denn je einer systematischen, einer bewußt theoretischen Bearbeitung, die dem synthetischen Charakter alles homiletischen Denkens und Arbeitens gerecht wird. Nur aus einer kritischen Vermittlung von prinzipieller und praktischer Homiletik, von Theorie und Praxis der Predigtarbeit kann sich eine Predigtlehre entwickeln, die den komplexen Bedingungen des homiletischen Aktes gerecht wird. Die homiletische Synthese ist seit Schleiermacher zugleich Problem und Aufgabe der Predigttheorie. Paul Drews hat sie zum Thema der modernen 9 7 Vgl. dazu die Abschnitte in dem Teil „Ansätze zu einer praktischen Predigttheorie" im ersten Kapitel. 9 8 Vgl. dazu vor allem W. Jetter, Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer (MPTh 56, 1967, 212—228) und die parallelen Ansätze in der gegenwärtigen Homiletik (vgl. oben Kapitel 1). 9 9 Gerade in den gegenwärtigen praktisch-homiletischen Neuansätzen darf Barths homiletische Prämisse nicht in Vergessenheit geraten: „Der Begriff der Predigt kann nicht auf Grund irgendwelcher Erfahrungen festgelegt werden, sondern er ist ein theologischer Begriff, der im Glauben geschieht, der nur hinweisen kann auf die göttliche Wirklichkeit" (Barth, Homiletik, hrsg. v. G. Seyfferth, 1966; 32). 100 v g l . dazu oben den Abschnitt „Das Problem der praktischen Predigttheorie".
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Predigtbewegung gemacht und von ihr einen „homiletischen Frühling" 101 erhofft. Karl Fezer hat der Predigttheorie die Aufgabe gestellt, „der prinzipiellen Homiletik über den toten Punkt, den sie seit Schleiermacher nicht überwinden konnte, durch Verwendung der Erträgnisse der neuen systematischen und religionspsychologischen Arbeit hinwegzuhelfen" 102 . Die Beschreibung des homiletischen Grundverhältnisses von Evangelium, Hörer und Predigt bildet auch die theoretische Seite des gegenwärtigen homiletischen Problems. Dieses Problem zu lösen ist eine der wesentlichen Aufgaben der gegenwärtigen Homiletik und damit der ganzen Theologie. In der kritischen Auseinandersetzung mit Friedrich Niebergalls homiletischem Programm gewinnen deshalb die theologischen Perspektiven der gegenwärtigen praktischen Homiletik erhöhte Bedeutung. Ernst Lange konzentriert sich bei der Entwicklung seines homiletischen Verfahrens zwar ganz auf die praktisch-theologischen Aspekte der Predigt und verweist den systematisch-theologischen Predigtbegriff in die Prolegomena der praktischen Theologie 103 . Aber er beschreibt zugleich doch auch das Verhältnis, in dem theoretische und praktische Homiletik zueinander zu stehen haben: die systematisch-theologische Entfaltung der Homiletik muß die praktisch-homiletische Perspektive „als selbständige Frage ermöglichen und begründen und dann freilich auch begrenzen" 104 . Lange begründet sein praktisch-homiletisches Programm denn auch mit einer theoretischen Beschreibung der Predigt und ihres theologischen Horizonts, die für die Entwicklung einer praktisch-theologischen Theorie der Predigt in der Gegenwart exemplarische Bedeutung hat. Lange verbindet in der Beschreibung der Predigt die ekklesiologische Begründung der praktisch-theologischen Homiletik mit der systematisch-theologischen Definition der Predigt als Verkündigung des Wortes Gottes, wie sie in der Homiletik seit Barth Gültigkeit erlangte. Beide Perspektiven einer theologischen Theorie der Predigt verschmelzen sich in dem praktisch-theologischen Horizont, in dem Lange die Predigt sieht. Er versteht die Predigt als „eine unter vielen Verständigungsbemühungen der Kirche" im „Wirkungszusammenhang .Kommunikation des Evangeliums' " 10S . Lange erfaßt das Wesen der Predigt durchaus praktisch-theologisch, von ihrer Wirkung aus. Aber er macht das Evangelium nicht wie Niebergall zum Instrument der homiletischen Arbeit 106 , sondern er bestimmt umgekehrt die Predigt als eine Funktion des Evangeliums. 101
P. Drews, Die Predigt im 19. Jahrhundert, 1903, S. 59. "β K. Fezer, Das Wort Gottes und die Predigt, 1925, S. 106. 103 E. Lange, aaO., S. 20. io« Ebd. ios AaO., S. 14. 106 Vgl. dazu besonders den Abschnitt „Die Theorie des Predigttextes" in unserem dritten Kapitel und die Bedenken, die gegen Niebergalls Verhältnisbestimmung von Text und Predigt geltend gemacht wurden.
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Lange formuliert im Anschluß an Bastian: „Das Wort Gottes ist kein Instrument kirchlicher Rede, so wahr die kirchliche Rede ein Instrument des Wortes Gottes werden soll." 107 Mit dieser Beschreibung ist das Verhältnis von systematisch-theologischer Begründung und praktisch-theologischer Entfaltung der Homiletik eindeutig bestimmt. Werner Jetter hat diesen Ansatz einer praktisch-theologischen Theorie der Predigt und deren system atisch-theologische Prinzipien noch konsequenter dargestellt. Er faßt die Verbindung von systematisch-theologischer und praktisch-theologischer Perspektive der Homiletik in den Titel: „Die Predigt als Institution und Instrument" 108 . Jetter versteht das kirchliche Handeln wie Lange als „Kommunikation des Evangeliums" 109 und fordert dementsprechend, „die überkommene Predigtinstitution aus ihrer splendid isolation zu erlösen, sie in ein breiteres, reicheres Instrumentarium verbaler Kommunikationsbemühungen einzubeziehen und sie damit aus der künstlichen Situation bloß allgemeiner, abstrakter, liturgisch stilisierter und institutionell sakralisierter Reflexion herauszuholen und näher an konkrete christliche Lebenspraxis heranzuführen" 110 . Jetter intendiert mit der Zeichnung eines neuen theoretischen Horizonts der Homiletik „ein weniger anspruchsvolles, instrumentales Verständnis der Predigt innerhalb des ganzen kirchlichen Instrumentariums" 111 . Diese praktisch-theologische Akzentuierung der Predigt, ihres Auftrags und ihrer Wirkung, kommt freilich keineswegs einer „Relativierung" 112 der Predigt und ihrer Theorie gleich. Sie ermöglicht vielmehr die Entwicklung einer theologischen Homiletik, in der sich die Predigtpraxis mit ihren praktischen Gesetzmäßigkeiten und die Predigttheorie mit ihren theologischen Prinzipien nicht unvermittelt gegenüberstehen, sondern in der vielmehr „die Predigt als Institution und Instrument" zugleich erfaßt wird, einer Predigttheorie, in der Auftrag und Verheißung der Predigt untrennbar miteinander verbunden sind 113 . Die Situation der gegenwärtigen Homiletik scheint in der Tat eine Synthese aus den beiden antithetisch einander gegenüberstehenden homiletischen Denkbewegungen der ,modernen Predigt' und der dialektischen Theologie darzustellen. Die gegenwärtige Predigtlehre bleibt dem theologischen Ansatz der Homiletik der dialektischen Theologie treu. Aber sie verbindet ihn mit dem praktisch-homiletischen Interesse, das die moderne Predigt107
Lange, aaO., S. 19. W. Jetter, Die Predigt als Institution und Instrument. In: E. Stammler (Hrsg.), Herausforderung durch die Zeit, Festschrift für E. Breitsohl, 1970, S. 3 9 - 6 2 . κ» Jetter, aaO., S. 50. no AaO., S. 52. AaO., S. 58. i " AaO., S. 59. • 13 Zu der Verbindung von Auftrag und Verheißung der Predigt vgl. die von Lange mit diesen Begriffen umschriebene Trennung und Verbindung von systematisch-theologischer und praktisch-theologischer Perspektive der Predigttheorie (Lange, aaO., S. 19f.). 108
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bewegung kennzeichnete. Friedrich Niebergall hatte in ähnlicher Weise kritisch an die Predigtpraxis der Aufklärung angeknüpft. Er sagt von sich und seinen Freunden, „daß wir zwar in der Form der Predigt mit dem Rationalismus vieles gemeinsam haben, aber in Bezug auf ihre inhaltliche Norm unsre eigenen Wege gehen" 1 1 4 . Die gegenwärtige Predigttheorie kann der .modernen Predigt' ebenfalls nur hinsichtlich ihrer formalen, ihrer praktischen Impulse folgen. Ihre theologischen Prinzipien sind andere als die Niebergalls. Aber eben darin scheint sich Niebergalls Charakterisierung theologischer Theorie zu bestätigen: „Alle Theologie ist Synthesen-, ist Vermittlungstheologie." u s Nicht zufällig beruft sich Niebergall für diese Kennzeichnung des theologischen Denkens neben Paulus und Luther auch auf Schleiermacher 116 . Gerade im Gebiet der Homiletik scheint Schleiermachers theoretischer Grundansatz gegenwärtig neue Bedeutung zu erlangen. Und man darf wohl angesichts der derzeitigen Situation der Homiletik mit Paul Drews und Friedrich Niebergall „Hoffnung auf einen neuen homiletischen Frühling" schöpfen, „wo Schleiermachers Losung für die Predigt: Synthese von Prediger, Text und Gemeinde wieder neue Kraft gewinnt" 1 1 7 . 114 115 116 117
F. Niebergall, Synthesen-Theologie, ChW 25, 1911, S. 2 9 2 - 2 9 5 , 293. Niebergall, aaO., S. 295. Ebd. F. Niebergall, Die moderne Predigt 1929, S. 69.
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