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German Pages [312]
V&R
Arbeiten zur Pastoraltheologie
Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer
Band 24
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Die homiletische Situation Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems
Von Jan Hermelink
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hermelink, Jan: Die homiletische Situation: Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems / von Jan Hermelink. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1992 (Arbeiten zur Pastoraltheologie ; Bd. 24) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-525-62331-3 NE: GT
© 1992 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung stellt die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die 1990 von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde. Sie verdankt sich einer längeren Beschäftigung mit homiletischen Grundfragen, bei der mich Herr Prof. Dr. Gerhard Rau geduldig begleitet hat. Dankbar bin ich auch Herrn Prof. Dr. Dr. Dietrich Rössler für manche Vergewisserung. Herr Prof. Dr. Friedrich Wintzer hat sich freundlicherweise für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe eingesetzt. Ohne die vielfältige Unterstützung von Freundinnen und Freunden wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Ich nenne vor allem Friederike Anz, Susanne Edel, Martin Germer und Stefan Gosepath. Zu danken habe ich auch für finanzielle Unterstützung: Die badenwürttembergische Landesgraduiertenförderung und vor allem die Studienstiftung des Deutschen Volkes haben mir Promotionsstipendien gewährt. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat einen namhaften Druckkostenzuschuß zur Verfügung gestellt; daneben danke ich für Beiträge des Kirchenkreises Berlin-Charlottenburg und der Charlottenburger Gustav-Adolf-Gemeinde. Berlin, am Sonntag Sexagesimae 1992
Inhalt
Vorwort
5
Einleitung 1. 2. 3. 4.
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Das Problem der "homiletischen Situation" Der historische Kontext der Auseinandersetzung Der systematische Kontext der Auseinandersetzung Folgerungen für die Untersuchung
11 14 18 25
ERSTER TEIL
Die Erschließung der gegenwärtigen Wirklichkeit als Problem des Glaubens A. Die "wirkliche Welt" als Kriterium der Predigt: Hans Joachim Iwand I. Einführung: Das homiletische Programm der Predigtmeditationen 1. Die "wirkliche Welt" als Ziel der Predigt 2. Die Wirklichkeit als Problem der Predigt 3. Die Struktur von Iwands Homiletik und ihre Interpretation II. Die Wirkung des Wortes Gottes 1. 2. 3. 4.
Aufhebung und Erneuerung der Wirklichkeit Die individuelle Wirkung des Wortes Die öffentliche Wirkung des Wortes "Verheißung" als Wirkungsweise des Wortes
III. Die Vermittlung von Wort und Wirklichkeit in der Predigt 1. Die Kirche als Resultat des Wortes und als Ort der Predigt 2. Das Gesetz Gottes als Gehalt der Predigt 3. Die menschliche Rede als Form der Predigt IV. Die Vermittlung von Wort und Wirklichkeit im Subjekt des Predigers 1. Das Bekenntnis als Ziel des Glaubensgeschehens 2. Der theologische Beruf zwischen Lehre und Predigt 3. Der Beruf des Predigers als Anfechtung
31 31 32 34 38 40 40 44 48 52 56 56 60 64 69 69 74 77
7
4. Predigtarbeit als Bewegung des Predigers V. Der Beitrag der Predigtmeditationen zur Erschließung der Wirklichkeit 1. Die Predigtmeditationen als theologische Lehre 2. Die Predigtmeditationen als pastoraltheologische Orientierung
83 87 87 91
B. Die Erschließung der Wirklichkeit durch die Predigt als Verstehensvorgang: Manfred Mezger
96
1. Das Verstehen der Wirklichkeit als Aufgabe der Predigt 2. Verstehen als homiletische Methode 3. Predigtanleitung als Verpflichtung des Predigers
97 101 105
C. Die "Predigtnot" als Resultat eines dogmatischen Wirklichkeitsbegriffs
ill
1. 2. 3. 4.
Homiletik als Bearbeitung der Predigtnot Die Predigtnot als Ausbleiben der Predigtwiikung Die Predigtnot als Ausdruck des pastoralen Unglaubens Die Predigtnot als berufliches Problem
111 113 115 119
ZWEITER TEIL
Die Erschließung der alltäglichen Wirklichkeit als institutionelles Problem
A. Einführung: Kritiker des dogmatischen Predigtmodells 1. 2. 3. 4.
W.Marxsens exegetische Kritik der Predigtarbeit W.Trillhaas' Plädoyer für homiletische Bescheidenheit D.Rösslers Präzisierung der Situation des Predigers Die neue Frage nach der Situation
B. Das Gegenüber der Verkündigung als Thema der Ökumene 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Zur Thematik und Struktur der ökumenischen Studienarbeit Die moderne Gesellschaft als missionarische Herausforderung Der kirchliche Wirklichkeitsverlust Die Interpretation der Welt als missionarischer Prozeß Die Kirche als Funktion der missionarischen Situation Missionarische Strukturelemente Die missionarische Situationsdeutung als homiletisches Problem
C. Der "Ernstfall des Glaubens" als Kriterium der Predigt: Ernst Lange I. Zur Eigenart von Langes theologischer Perspektive 1. Aufnahme und Korrektur der ökumenischen Situationsdeutung
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2. "Gestaltete Subjektivität" als Interpretationsproblem II. Die Wirklichkeit des Glaubens in der Neuzeit 1. Glaube, Wirklichkeit und Verheißung 2. Die Situation des Glaubens in der Neuzeit 3. "Anfechtung" als Signatur des neuzeitlichen Christseins III. Die Erschließung der Wirklichkeit in der Ortsgemeinde
162 166 166 169 171 175
1. Die Funktion des Gottesdienstes zwischen Wiiklichkeit und Verheißung... 175 2. Kirche als "Kommunikation des Evangeliums" 179 3. Die Funktionalität des Normalfalls 184 IV. Der Wirklichkeitsbezug der Kirche als pastorales Problem 1. Die pastorale Perspektive auf das kirchliche Handeln 2. Die theologische Korrektur des funktionalen Ansatzes V. Die Einführung der "homiletischen Situation" 1. Der Ausgangspunkt beim pastoralen Predigtproblem 2. Die "homiletische Situation" als Kommunikationsbedingung da-Predigtarbeit 3. Die homiletische Situation als pastorales Verständigungsproblem 4. Die homiletische Situation als individuelles Glaubensproblem 5. Das homiletische Kommunikationsmodell 6. "Verheißung" als homiletischer Leitbegriff
D. Varianten der pragmatisch-empirischen Wende zur homiletischen Situation I. Die Fraglichkeit der homiletischen Situation als Grund ihrer kybernetischen Erschließung: Hans-Dieter Bastian 1. Die Rezeption der Kybernetik 2. Die theologische Kontinuität im Wirklichkeitsverständnis 3. Die Unterbestimmung der homiletischen Situation II. Die Geschichtlichkeit der homiletischen Situation als Grund ihrer rhetorischen Erschließung: Gert Otto 1. Von der didaktischen zur rhetorischen Perspektive auf die Predigt 2. Personalität und Konkretion der Situation des Glaubens 3. Die pragmatische Relativierung der homiletischen Situation III. Die Sprachlichkeit der homiletischen Situation als Grund ihrer dialogischen Erschließung: Werner Jetter 1. Der phänomenologische Zugang zur Institution der Predigt 2. Die Anwesenheit Gottes in der Wirklichkeit 3. Die Predigtarbeit als pastorales Streitgespräch mit dem Hörer
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245 245 249 252
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E. Die homiletische Situation als kommunikatives Problem 1. Die neue Deutung der homiletischen Krise 2. Die doppelte Sicht der Predigtarbeit 3. Empirische und theologische Deutung der homiletischen Situation
256 257 261 265
SYSTEMATISCHER ERTRAG
Die homiletische Situation als Thema des pastoralen Berufs 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Relativierung der dogmatischen Perspektive Die Relativierung der empirisch-pragmatischen Perspektive Die Eigentümlichkeit der pastoralen Perspektive Die pastorale Perspektive als Vermittlungsleistung Die pastorale Perspektive als Unterscheidungsleistung Die homiletische Situation als pastorale Not und Verheißung
Literaturverzeichnis
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273 276 279 284 287 293
299
Einleitung
1. Das Problem der "homiletischen Situation" "Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfahrungen und Anschauungen, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Erfolge und sein Versagen, seine Aufgaben und sein Schicksal. Ich rede mit ihm über seine Welt und seine Verantwortung in dieser Welt, über die Bedrohungen und Chancen seines Daseins. Er, der Hörer, ist mein Thema, nichts anderes; freilich: er, der Hörer vor Gott. Aber das fügt nichts hinzu zur Wirklichkeit seines Lebens, es deckt vielmehr die eigentliche Wahrheit dieser Wirklichkeit auf."1
Mit diesen Sätzen hat Ernst Lange 1968 den Bezug der Predigt auf ihre Hörerinnen und Hörer in ungewöhnlicher Weise thematisiert. Dabei fand seinerzeit nicht so sehr die hier angedeutete Vielfalt von Wirklichkeitsaspekten Beachtung, und wohl auch nicht der Versuch, diese Vielfalt zugleich in einen theologischen Horizont zu stellen, der von der Predigt aufzudecken ist. Anstoß erregte vielmehr Langes Anspruch, mit dem Situations- oder Hörerbezug der Predigt ihr fundamentales Kriterium anzugeben: Gehalt und Absicht der Predigt sollen in erster Linie durch die jeweils besondere Erfahrung der Gottesdienstgemeinde bestimmt werden. Es ist dieses eigentümliche Verständnis der Predigtaufgabe, das Lange zur Prägung des Begriffs der "homiletischen Situation" geführt hat. Aufschlußreich ist etwa die folgende Erläuterung: "Unter homiletischer Situation soll diejenige spezifische Situation des Hörers, bzw. der Hörergruppe verstanden werden, durch die sich die Kirche, eingedenk ihres Auftrags, zur Predigt, das heißt zu einem konkreten, dieser Situation entsprechenden Predigtakt herausgefordert sieht" (ZTP 22).
Auch der Begriff der homiletischen Situation, der nicht zu Unrecht als Inbegriff von Langes homiletischem Anliegen gilt, insistiert auf der Besonderheit der jeweiligen Situation, in der die Predigt sich vollzieht. Für Lange ist weiterhin bedeutsam, daß die "homiletische Situation" als eine 1
Lange, AcR 58. - Zur Zitierweise der vorliegenden Arbeit vgl. das Literaturverzeichnis.
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Herausforderung erscheint. Es handelt sich stets um eine problematische Situation, die auf den Eingriff der Predigt angewiesen ist2. Auch hier wird also der "konkrete Predigtakt" in erster Linie durch den Bezug zu den Hörenden begründet. Für die pastorale Predigtarbeit ist die genaue Orientierung an der "homiletischen Situation" konstitutiv. Mit der Unterstreichung des homiletischen Situationsbezugs hat Lange sich bekanntlich gegen die Vernachlässigung des Hörers in der zeitgenössischen Predigtlehre gewandt. Seine Kritik ist jedoch selbst nicht unwidersprochen geblieben. Am deutlichsten hat R.Bohren bereits 1971 Stellung bezogen: "Ich bin mir als Hörer nicht so interessant, daß ich meinetwegen zur Predigt gehen möchte. Ich bin als Hörer ein allzu mieses Thema für eine Predigt."3 Zwar fragt auch Bohren ausdrücklich nach der pastoralen Predigtarbeit und deren Bestimmungsfaktoren, aber er will diese Praxis nicht durch die Situation der Hörenden begründet wissen: "Die Erfahrung zeigt, daß der Prediger, der mit der Situation beginnt, gewöhnlich in ihr stecken bleibt, er macht sich zu ihrem Gefangenen" (Bohren 1981, 424). Bohren plädiert darum für eine vorgängige theologische Bestimmung der Situation4. Eine eingehende Analyse der Hörersituation dagegen, wie Lange sie infolge seines Predigtverständnisses fordert, "verführe den Prediger dazu, dem Hörer von gestern zu predigen", die konkrete "homiletische Situation" also gerade zu verfehlen (1980,465). Die Orientierung des Predigenden an der konkreten "homiletischen Situation" ist auch von F.Mildenberger heftig abgelehnt worden: Das Ausgehen von der Situation des Hörers und seinen Bedürfnissen gefährdet die theologische Priorität des Evangeliums; es wird dann lediglich nach seiner Brauchbarkeit befragt (vgl. Mildenberger 1984, 24f). Darum darf die Predigtarbeit auch nicht als eine "synthetische Struktur" verstanden werden, in der Hörergemeinde und biblischer Text durch den Prediger vermittelt werden, sondern dieser hat lediglich aufzudecken, "wie im Evangelium Text und Gemeinde immer schon beieinander sind, weil unsere Zeit in Gottes Zeit hineingenommen ist" (aaO. 21.26).
2 Vgl. die Fortsetzung des Zitats: "Und die Aufgabe des homiletischen Aktes ist, von daher gesehen und formal ausgedrückt, die Klärung dieser homiletischen Situation" (ebd.). 3 Bohren 1980 (1. Auflage 1971), 451; vgl. aaO. 449ff. 4 Bohren 1981, 423f. Seine Predigtlehre spricht pointiert von der "Erfindung des Hörers", die anhand der Prädestinationslehre zu erfolgen hat: "Den Hörer erfinden heißt, den Vorgefundenen als vor Gott befindlich finden, heißt ihn in der Gnadenwahl sehen" (1980, 467).
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Die Bedeutung der Situation der Hörenden, die Lange wieder auf die homiletische Tagesordnung gesetzt hat, ist offensichtlich nach wie vor umstritten. Zugleich ist diese Fragestellung aber von kaum zu überschätzender Bedeutung. Denn die Art und Weise, in der die Wirklichkeit der Hörerinnen und Hörer die Predigtarbeit bestimmt, ist nicht nur Gegenstand theoretischer Auseinandersetzung in der homiletischen Lehre, sondern ist im Grunde für jeden "konkreten Predigtakt" neu zu reflektieren. Der Horizont, in dem diese Aufgabe heute zu lösen ist, wird durch die Position Langes ebenso bestimmt wie durch den Widerspruch, den sie ausgelöst hat. Die vorliegende Untersuchung macht den Versuch, die Auseinandersetzung um die "homiletische Situation" aus der positionellen Entgegensetzung zu befreien, in der sie weithin geführt wird. Die oben angeführten Zitate lassen jedoch bereits die Schwierigkeit einer solchen Klärung erkennen: "Beim Thema des Hörers steht für die Homiletik insgesamt Entscheidendes auf dem Spiel" (Dannowski 1985, 92). Die Differenz zwischen Lange und zahlreichen Autoren der gegenwärtigen Homiletik einerseits und der durch Bohren und Mildenberger markierten Position andererseits besteht im Grunde in einer als gegensätzlich empfundenen Perspektive auf die Predigt selbst: Soll sie primär dogmatisch, als eine "Gestalt des Wortes Gottes" verstanden werden, wie das zuerst K.Barth formuliert hat5, oder wird eine praktische Perspektive eingenommen, die nach der Predigtarbeit und deren besonderen Bedingungen fragt? Aus dieser Grundentscheidung resultieren nicht nur die Deutungskategorien für die jeweilige Situation der Hörenden, sondern auch die Erwartungen, die an die Predigtwirkung hinsichtlich jener Situation gerichtet werden6. Die neuere Auseinandersetzung um die "homiletische Situation" ist also nicht allein von predigtpraktischem Interesse. Es sind vielmehr Fragestellungen der Homiletik, ja der Praktischen Theologie im ganzen, die hier zum Ausdruck kommen und die fortwährende Intensität der Debatte bestimmen. Die Horizonte, in denen die homiletische Debatte um die Hörerinnen und Hörer auf diese Weise steht, sind nun kurz zu skizzieren, um daraus Folgerungen für die weitere Untersuchung zu ziehen.
5
Vgl. Barth, KD 1/1, 89ff und KD 1/2, 831ff; dazu zuletzt Gräb 1988, 56ff. So hat Dannowski die verschiedenen Positionen zur Frage "Wem wird gepredigt?" anhand der jeweils vorausgesetzten "Erwartungen der Hörer" systematisiert (1985, 92ff). 6
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2. Der historische Kontext der Auseinandersetzung Langes homiletische Ausführungen haben bald nach ihrer Publikation eine außerordentliche Wirkung entfaltet, die seine Arbeiten zu "Standardtexten der theologischen Aus- und Weiterbildung" gemacht hat7. Langes Texte erscheinen als exemplarischer Ausdruck der "pragmatisch-empirischen Öffnung" der Homiletik, wie sie sich in den Jahren um 1965 vollzog8. Erst vor dem Hintergrund dieser Entwicklung gewinnt der Versuch Profil, die "homiletische Situation" zum konstitutiven Bestandteil nicht nur der Predigtarbeit, sondern des Predigtbegriffs zu machen. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Deutung jenes homiletischen Umschwungs bis heute "auf der ganzen Linie umstritten" sind9. Das leitende Motiv der meisten Beteiligen wird man jedoch mit W.Gräb als "verstärktes Interesse an der Zeitgenossenschaft der Predigt und damit an der Verfassung ihres kommunikativen Vollzugs" namhaft machen können (1988, 21). Es ist das Bedürfnis nach einer "zeitgerechten Praxis" der Predigt (Müller 1986, 548) und damit nach einem intensiveren homiletischen Gegenwartsbezug, das sich nicht zuletzt in Langes Texten zum Ausdruck bringt. Für die Homiletik resultiert dieses Interesse in einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die "erfahrungswissenschaftlichen Einzelprobleme der Predigtlehre" (Wintzer 1987,184). Die vielfältigen Bedingungen der Predigtarbeit, darunter eben auch ihr kommunikativer Bezug auf die "homiletische Situation", werden zum Gegenstand intensiver Untersuchung10. Über der Bearbeitung empirischer Einzelfragen, die sich nicht zuletzt aus der faktischen "Pluriformität der Predigten" legitimiert (aaO. 210), tritt die Frage nach einem dogmatischen Begriff der Predigt in den Hintergrund. W.Trillhaas kann diese Entwicklung, an der er selbst nicht unwe-
7 Schloz 1976, 7. Die Rezeption von Langes homiletischen Texten, auch im Zusammenhang der von ihm angeregten "Predigtstudien", beschreibt K.Liedtke (1987, 173ff). 8 Grab 1988, 11 u.ö.. 9 Dannowski 1985, 11 zur Frage der Notwendigkeit einer dogmatischen "Definition" der Predigt. Zur homiletischen "Wende" vgl. weiter die knappen Bemerkungen aaO. 14ff.35ff; weitere Deutungen bieten Jetter 1982, 392ff; Josuttis 1978, 21-25; Josuttis 1988, 49ff; Wintzer 1982, 108-112 und besonders Wintzer 1989, 36ff. Kritisch äußern sich Bohren 1980, 554ff; Jörns 1982, 147ff und Mildenberger 1984, 14f.24f. 10 Einen repräsentativen Überblick gibt Dannowski 1985, vgl. auch Hirschler 1988, 46ff.
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sentlich beteiligt war, darum als die Emanzipation von "der Diktatur eines einheitlichen dogmatischen Prinzips" begrüßen11. Indem die Homiletik sich seit den 60er Jahren den konkreten Problemen der pastoralen Praxis zuwendet und die dogmatischen Prinzipienfragen relativiert, steht sie im Horizont einer "Wende zur Erfahrungswelt", die die gesamte Praktische Theologie der Zeit vollzogen hat. In einer knappen Charakterisierung hat D.Rössler darauf hingewiesen, daß diese Entwicklung "das Ergebnis einer breiten kirchlichen Zustimmung zu praktischen Programmen" gewesen ist, die sich ihrerseits nicht zuletzt allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen verdankt12. Gemeinsam ist solchen Programmen die Auffassung, daß von einem planvoll-kontrollierten Handeln eine ausweisbare Wirkung, ein bestimmter Erfolg erwartet werden kann. Demzufolge rückt die "konkrete Tätigkeit der Kirche im ganzen wie des einzelnen Pfarrers [...] in den Vordergrund des Interesses" (ebd.). Für das Problem der "homiletischen Situation" ist dieser Kontext nicht zuletzt deswegen bedeutsam, weil hier ein etwas anderer Begriff von "Erfahrungswelt" thematisch ist. Es ist nicht in erster Linie die Erfahrungswelt der Adressaten kirchlicher Praxis, an der sich die Praktische Theologie nun orientiert. Die Erfahrung, die hier neues Gewicht erhält, ist vielmehr die Erfahrung der Pfarrer selbst, es ist die Erfahrung pastoraler Praxis. Nur in zweiter Linie, nämlich als Gegenstand dieser Praxis, kommt die Wirklichkeit aller Christen, und damit die "homiletische Situation" im Sinne Langes in den Blick13. Diesem Doppelsinn des Erfahrungs- bzw. Wirklichkeitsbegriffs ist im nächsten Abschnitt noch weiter nachzugehen. Die Orientierung an der Erfahrung der pastoralen Praxis hat sich gerade in der Homiletik mittels einer z.T. polemischen Abgrenzung gegenüber der vorangehenden Generation vollzogen. Dennoch hat W.Steck in der bislang gründlichsten Untersuchung der empirischen Wende in der 11 Trillhaas 1974, 4. In ähnlicher Hinsicht spricht Jetter von einer "Ernüchterung" der Homiletik (1982, 393). 12 Rössler 1974, 58. Zur weiteren Charakterisierung vgl. Rössler 1986, 48ff und vor allem Drehsen 1988, lOff. 13 Es ist daher nicht verwunderlich, daß auch der Begriff der "homiletischen Situation" nicht selten auf die pastorale Praxissituation der Predigt verweist, vgl. etwa Josuttis 1985, 52: "Die homiletische Situation läßt sich in den Grundzügen für den Regelfall wie folgt wiedergeben: Ein kirchlicher Amtsträger soll im Rahmen eines religiösen Rituals eine Rede halten, die einen biblischen Text zur Voraussetzung und einen dispersen Hörerkreis zum Adressaten hat."
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Homiletik darauf hingewiesen, daß die meisten zeitgenössischen Beiträge zur "praktischen Predigttheorie" keineswegs "mit den traditionellen homiletischen Denkformen" brechen14. Das gilt nicht nur für das Festhalten am dogmatischen Begriff der Predigt als "praedicatio verbi divini", sondern, wie sich zeigen wird, selbst für Langes Bestimmung der "homiletischen Situation"15. Die prinzipielle Kontinuität, die sich in der "empirischen Wende" der Homiletik beobachten läßt, verdankt sich der Eigenart der bis heute wirksamen "Wort-Gottes-Theologie". Seit ihrer Entstehung hat diese Bewegung bekanntlich auf die kirchliche Predigt gezielt und hier auch - besonders in der Bekennenden Kirche - ihr Bewährungsfeld gefunden. Es war die pastorale Praxis der regelmäßigen Predigt, die "Situation des Pfarrers am Samstag an seinem Schreibtisch, am Sonntag auf der Kanzel", anhand derer Barth 1922 in seinem Vortrag "Not und Verheißung der christlichen Verkündigung" eine programmatische Skizze jener Theologie gegeben hat16. Hinsichtlich der homiletischen Wirkungsgeschichte Barths ist es nun von außerordentlicher Bedeutung, daß seine Argumentation bei der Erwartung der Hörenden einsetzt: Ihre faktische Teilnahme am Gottesdienst kann nur so interpretiert werden, daß ihnen in ihrer sonstigen Lebenswirklichkeit die Gegenwart Gottes fraglich geworden ist17. Die Situation der Menschen, denen sich der Prediger gegenüber sieht, ist von einer "großen unstillbaren Lebensunruhe" bestimmt: "Der Ernst der Situation bei uns ist der, daß die Menschen das Wort zu hören begehren, will sagen: die Antwort auf die Frage, ob's wahr ist, von der sie, ob sie es wis-
14 Steck 1974, 67. Für Lange selbst wird diese Kontinuität durch einen Vergleich mit der erstmals 1936 erschienenen Homiletik von H.Schreiner belegt; vgl. aaO. 63-66. 15 S.u. Zweiter Teil C.V.2 und 6; dazu bereits Josuttis 1978, 22: Daß Lange "trotz dieser empirischen Orientierung letztlich dem dialektischen Ansatz treu bleibt, zeigt vor allem seine Beschreibung der homiletischen Situation, die noch ganz vom Schema des Antagonismus zwischen Hörererwartung und Verkündigungsauftrag bestimmt ist." 16 Barth 1922, 99. Die in den beiden folgenden Absätzen in Klammern gegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Text. - Daß Barth seine Theologie aus einer Deutung der "homiletischen Situation" (im Sinne von Josuttis; vgl. oben Anm. 13) entwickelt, haben auch Dannowski (1985, 120 und v o r allem Gräb (1988, 97ff) herausgearbeitet. Zur homiletischen Bedeutung der Anfänge Barths vgl. zuletzt Denecke 1989, 139ff. 17 In einer berühmten Zusammenstellung spricht Barth vom Blick "auf einen blühenden Kirschbaum, auf Beethovens neunte Sinfonie, auf den Staat oder auch auf unser und anderer ehrliches Tagewerk" als "irgendwie erschöpften Möglichkeiten", einen Sinn des eigenen Lebens zu finden (1922, 105f; vgl. 112).
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sen oder nicht, bewegt werden" (108). Es ist die "homiletische Situation", und zwar durchaus im Sinne Langes, die auch für Barth als Herausforderung des Predigers, als ein Grund seiner Predigt erscheint. Zwar relativiert Barth die Bedeutung dieser Situation sofort durch den Hinweis auf die Präsenz der Bibel, die "eine neue [...] spannungsvolle Erwartung in die kirchliche Situation hineinträgt von der andern Seite" (112), und damit die theologische Relevanz der Hörererwartungen allererst zum Ausdruck bringt. Zugleich macht er deutlich, daß diese Erwartungen im Grunde nicht vom Prediger, sondern nur von Gottes Handeln selbst erfüllt werden können18. Die Situation des Predigers, von Gott reden zu müssen, es als selbst nur fragender Mensch gar nicht zu können und darum auf das verheißene Tun Gottes umso mehr angewiesen zu sein, kann Barth damit nicht nur als Inbegriff der pastoralen Berufssituation im ganzen interpretieren19, sondern jene Deutung der Predigtsituation wird für ihn zum Ausgangspunkt der "dialektischen Theologie", die die Ferne des Menschen von Gott und dessen souveräne Freiheit und Zuwendung zur Welt in den Vordergrund stellt20. Trotz dieser theologischen Generalisierung der pastoralen Situation, und trotz der einhergehenden Relativierung der menschlichen Krisenerfahrungen als Herausforderung der Predigt, ist die Wort-Gottes-Theologie jedoch an ihrem konkreten Ausgangspunkt orientiert geblieben. Die "kirchliche Verkündigung" ist das praktische Ziel der Offenbarungstheologie; und die Predigt gilt als exemplarischer Fall dieser Verkündigung. Es dürfte diese theoretische Zentralstellung der Predigtarbeit sein21, die der Wort-Gottes-Theologie in der Homiletik bis heute - etwa in den Arbeiten Bohrens und Mildenbergers - Wirkung verschafft. Aber auch die Autoren der "empirischen Wende", nicht zuletzt Lange selbst, haben den 18 Die Situation des Predigers erscheint Barth als Ort einer bestimmten Verheißung: "Das ist die Verheißung der christlichen Verkündigung: daß wir Gottes Wort reden. Verheißung ist nicht Erfüllung. [...] Verheißung ist des Menschen Teil; Erfüllung ist Gottes Teil" (aaO. 117). 19 Vgl. Barth 1922a, 158ff. 20 An Grabs Versuch, Barths Texte von 1922 als homiletische, auf die konkrete Arbeit des Predigers zielende Überlegungen zu verstehen, muß darum die Frage gerichtet werden, ob damit nicht Barths eigener Anspruch vernachlässigt ist, die pastorale und christliche Lage im ganzen zu entfalten. Daß Barths Orientierung des Theologen in der "Situation des Widerspruchs" (Grab 1988, 105) als homiletische Anweisung zu verstehen ist, erscheint zweifelhaft. 21 Rössler hat allerdings darauf hingewiesen, daß Barth mit der Hervorhebung der Predigt nur der ohnehin vorherrschenden Tendenz eine neue Begründung gegeben hat (1974, 57).
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Anspruch erhoben, die Intentionen gerade jener Theologie neu zur Geltung zu bringen22. Daß dies auch bezüglich der "homiletischen Situation" kein völlig verfehlter Anspruch ist, hat der Rückblick auf Barths Ansatz deutlich gemacht. Eine Klärung des mit diesem Begriff angezeigten Problemfeldes erfordert dann nicht nur, Langes Texte in den Kontext anderer einschlägiger Bemühungen um die "Zeitgenossenschaft der Predigt" (Gräb) und des kirchlichen Handelns im ganzen zu stellen23. Sondern die Absichten und Abgrenzungen jener Autoren lassen sich nur im vielschichtigen Gegenüber zu der traditionellen Homiletik verstehen, die bis in die 60er Jahre tonangebend war. Die folgenden Untersuchungen richten sich deswegen nicht nur auf die erfahrungsbezogenen Ansätze Langes und anderer, sondern beziehen auch Entwürfe ein, die sich nach dem Ende des Kirchenkampfes, in einer neuen kirchlichen Situation, wiederum ausdrücklich der dogmatischen, von Barth eingeführten Perspektive auf die Predigt und die Situation ihrer Hörer bedienen. Hinsichtlich des historischen Kontextes beschränkt sich die vorliegende Studie zur "homiletischen Situation" damit auf die Zeit zwischen 1945 und ungefähr 197524.
3. Der systematische Kontext der Auseinandersetzung Die Frage nach der Bedeutung der Hörerinnen und Hörer für das Predigtgeschehen verweist, wie bereits eingangs deutlich wurde, auf fundamentale theologische Probleme. Umso mehr ist es erforderlich, die folgende Untersuchung nicht nur in historischer, sondern auch in systematisch-be-
22
Vgl. besonders Lange, CdA 322f.326f; dazu unten, Zweiter Teil C.V.l. Die Skizze des ökumenischen Wirklichkeitsverständnisses, das sich um 1960 artikuliert hat (s.u. Zweiter Teil B), stellt darum den Versuch dar, wenigstens an einer Stelle einen Diskussionszusammenhang in die Untersuchung einzubeziehen, der gleichsam von außen die Predigtlehre wie die Praktische Theologie im ganzen nachhaltig beeinflußt hat. 24 Die Beschränkung auf den unmittelbaren historischen Zusammenhang der "empirischen Wende" unterscheidet die vorliegende Untersuchung von den beiden anderen Arbeiten, die die Problemgehalte jener Wende bisher ausführlicher bearbeitet haben. Sowohl W.Steck (1974) als auch W.Gräb (1988) haben, um die gegenwärtige Lage der Homiletik zu erhellen, auf zeitlich weiter vorausliegende homiletische Ansätze zurückgegriffen, nämlich auf F. Niebergalls Konzept der "modernen Predigt" bzw. auf die prinzipiell-homiletischen Überlegungen von K.Barth, E.Hirsch und F.Schleiermacher. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Ergänzung und Präzisierung dieser Arbeiten im Blick auf ein spezielles, freilich zentrales Teilproblem. 23
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grifflicher Hinsicht einzugrenzen. Zur Erläuterung des theologischen Verständnisses von "Wirklichkeit" bzw. "Situation", das hier leitend sein wird, sei zunächst auf zwei Theologen zurückgegriffen, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln ausführlich mit diesem Thema befaßt haben, nämlich G.Ebeling und E.Herms 25 . Anschließend lassen sich die Umrisse eines spezifisch homiletischen Wirklichkeitsbegriffs skizzieren. Naturgemäß fließen dabei bereits Ergebnisse der Einzelanalysen ein. Fragt man nun zunächst nach einem möglichst allgemeinen Begriff von "Wirklichkeit" oder "Realität", so faßt Herms die erkenntnistheoretische Debatte der Neuzeit in der These zusammen, daß der Status alles Seienden "konkret als die Verfassung des erkennbar Seienden zu denken" ist, so daß Wirklichkeit ihrer Struktur nach als Erfahrungswirklichkeit bestimmt werden muß (1982, 10). In der Tradition des kritischen Empirismus resultiert daraus: "In diesem Begriff des Seienden wird es nicht nur als das erkennbare, sondern zugleich als das erkennende Seiende gedacht; und zwar so, daß es als das erkennbar Seiende nicht primär als das dem erkennend Seienden gegenüber Äußere, sondern als das ihm Gegenwärtige bestimmt wird" (aaO. 11).
Jeder Begriff der Wirklichkeit muß das erkennende Subjekt einschließen, für das die Wirklichkeit gegenwärtig ist, das sich also selbst als Teil dieser Wirklichkeit erfährt. Auch die empirischen Wissenschaften stimmen darin überein, "daß nicht nur für alles alltagsweltlich Gewußte, sondern auch für alles in der Wissenschaft Gewußte jeweils die Tätigkeit des Wissenden konstitutiv ist" (Herms 1987,92). "Wirklichkeit" ist ein Relationsbegriff, auch wenn die Beziehung des Erfahrenden auf die Wirklichkeit ganz unterschiedlich gedacht werden kann. Aus der Struktur aller Wirklichkeit als Erfahrungswirklichkeit resultiert, daß sie nur als Deutung, in einer subjektiven Auslegung zugänglich ist. Die Situation des Erkennenden läßt sich dann näherhin, so Ebeling, als "Sprachsituation" fassen, insofern sich der Zugang zur Wirklichkeit immer als ein sprachlicher Vorgang der Benennung und Auseinandersetzung vollzieht. Jede konkrete Situation ist dann von einer Vielzahl von Dimensionen bestimmt, in der die Wirklichkeit dem einzelnen gegenüber-
25 Vgl. Ebeling 1960; 1974a; 1979; 1979a, 210ff.261ff; dazu Thaidigsmann 1982 und Jetter 1982. Zu Herms vgl. vor allem 1978a; 1982; 1982a; 1987; dazu Browarzik 1982.
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tritt und von ihm begriffen und "verantwortet" werden muß26. Erst in dieser subjektiven Verarbeitung unterschiedlicher Ansprüche entsteht "Wirklichkeit" als Ort menschlichen Erfahrens und Handelns. Der Begriff der Wirklichkeit enthält, so läßt sich folgern, stets ein konstruktives Element. Es ist eine bestimmte Praxis, in der sich die "Wirklichkeit" konstituiert und ihre spezifischen Züge erhält27. Die Erfahrungswirklichkeit hat einen prinzipiell dynamischen Charakter, weil sich diese Praxis des Deutens und Gestaltens unablässig vollzieht. Und nur mit Hinsicht auf das jeweilige Verfahren der Konstitution läßt sich ein bestimmter Begriff der Wirklichkeit, so auch der homiletische, entfalten28. In diesen theoretischen Horizont muß sich nun auch - und sei es kritisch - der theologische Begriff der Wirklichkeit einfügen, denn das "Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens"29 zielt von sich aus, wie der Begriff der Schöpfung anzeigt, auf die Wirklichkeit als ganze. Es ist darum die eigentümliche Perspektive anzugeben, in der die Erfahrungswirklichkeit für den Glauben erscheint. In diesem Sinn hat Herms darauf hingewiesen, daß die Rede von der Schöpfung dazu verpflichtet, die Wirklichkeit auf ihren Grund hin zu deuten und auszulegen (1987, 82f). Die theologische Betrachtung thematisiert diejenige Instanz, welche die individuelle Wirklichkeitserfahrung allererst ermöglicht. Der Theologie fällt damit die Aufgabe zu, in der menschlichen Wirklichkeitserfahrung einen notwendigen Transzendenzbezug, und damit einen Gottesbezug aufzuweisen30. Im Hinblick darauf unterscheidet Ebeling die vielfältigen Einzelsituationen von einer "Grundsituation", die dem umfassenden Gegenüber Gottes entspricht.
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Vgl. Ebeling 1979a, 210ff; ähnlich Herms 1987, 93: "Das Zeichenbilden ist diejenige Tätigkeit von Wissenden, die als konstitutiv für alles gedacht werden muß, was von ihnen als so und so bestimmt gewußt werden kann". 27 Innerhalb der Soziologie ist diese Einsicht insbesondere in der Tradition von A.Schütz ausgearbeitet worden, vgl. besonders Schütz/Luckmann 1979; Berger/Luckmann 1969 und allgemein die Arbeiten zum "Symbolischen Interaktionismus", vgl. AG Bielefelder Soziologen 1981. " Indem die Wirklichkeit als "Konstitutionszusammenhang" beschrieben wird, ergibt sich für Herms zugleich die Notwendigkeit, verschiedene Formen der Konstitution und damit eine "tätigkeitsabhängige Variabilität" von Wirklichkeits-Typen anzunehmen (1987, 92). 29 So der Untertitel einer einschlägigen Untersuchung: Härle/Herms 1978. 30 Dies ist für Ebeling der Sinn der Rede von Gott. "Denn wo 'Gott' gesagt und an ihn geglaubt wird, da ist jedenfalls dies intendiert, daß ein letztes und alles umfassendes Gegenüber die anderen Dimensionen des Gegenübers relativiert und bestimmt" (1979a, 212).
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Es ist "diejenige Situation, die für das Menschsein konstitutiv ist und die allen nur denkbaren Situationen als letztlich bestimmend zugrundeliegt und in ihnen präsent ist. [...] Ich bezeichne die Grundsituation als Sprachsituation, weil sich in ihr ein vielfältiges Sprachgeschehen vollzieht, in dem Ansprüche verantwortlich wahrgenommen werden unter der Herausforderung durch ein letztinstanzliches Angegangensein. [...] Die damit umrissene Situation ist aber nicht eine beliebig offene und neutrale, sondern sie ist immer schon so oder so bestimmt. Sie ist eine strittige und darum bedrängte Situation" (1979, 189Q.
Zureichend ist die Wirklichkeit nur zu verstehen, wenn das jeweilige Ensemble von Relationen und Begegnungen ausdrücklich auf die fundamentale Sprachsituation bezogen wird, in der sich der Mensch verantworten muß. Die "konkreten", einzelnen Situationen stellen für den Glauben eine spezifische Auslegungsaufgabe dar. Sie besteht darin, "einen bestimmten Lebensvorgang in seiner Komplexität auf die Zusammenhänge hin [zu] erfassen, von denen abhängt, ob die gegebene Situation recht gelebt, ertragen oder verändert wird, jedenfalls im Gegensatz zum bloßen Dahinleben [...] wirklich erlebt und dadurch schon gewandelt wird"31. Theologisch muß die Wirklichkeit jeweils auf die Züge hin interpretiert werden, die sie als eine Ausprägung der Grundsituation ausweisen und damit zugleich als eine Situation, die von Gott als dem Grund der Wirklichkeit bestimmt ist. Ebelings Begriff der Grundsituation macht weiterhin den strittigen, bedrängenden Charakter der Wirklichkeit ausdrücklich. In der theologischen Deutung wird thematisch, daß der Mensch seiner Wirklichkeit in einem fundamentalen Sinne nicht gerecht wird. Ebeling hat dies mit dem Hinweis auf das Gewissen erläutert: Im Phänomen des "bösen Gewissens", das stets auf eine konkrete Situation bezogen ist, erfährt sich der Mensch "als einen, der mit sich selbst nicht identisch ist, aber wesenhaft gefragt ist nach seiner Identität mit sich selbst" (1960, 440). Die Wirklichkeitserfahrung des Glaubens läßt sich dann präziser als Gewissenserfahrung beschreiben32, und damit als die Erfahrung eines fundamentalen Widerspruchs zwischen jeweiliger Lebenssituation und der Begegnung mit Gott. Obwohl die theologische Wirklichkeitsinterpretation den Anspruch auf allgemeine Geltung erhebt33, kann sie, auch wegen dieses kritischen Ak31 32 33
1974, 571; vgl. ähnlich auch 1979, 195. Vgl. Ebeling 1960, 432ff.444ff; 1979a, 144ff.416f u.ö.. Vgl. dazu programmatisch Herms 1977, 257-261; 1982, 8.
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zents, nicht auf unmittelbare Evidenz ihrer Deutung vertrauen. Die theologische Perspektive auf die Situation erscheint nicht selbstverständlich, sondern muß mit einem bestimmten Widerstand rechnen, der seinen Grund in der von der Sünde geprägten Relation des Menschen zu seiner geschöpflichen Wirklichkeit hat. Es ist nicht zuletzt diese Erfahrung der Wirklichkeit als Krise, die für das Thema der homiletischen Situation von großer Bedeutung ist. Während der theologische Begriff der Schöpfung die gesamte Wirklichkeit umfaßt, ergibt sich aus diesem Begriff selbst doch die Notwendigkeit, eine spezifisch pastorale Perspektive auszugliedern. Ebeling hat darauf hingewiesen, daß die religiöse Erfahrung, indem sie die vielfältigen Deutungen der menschlichen Wirklichkeit auf deren Grund bezieht, eine "Erfahrung mit der profanen Erfahrung" darstellt, sie ist gleichsam eine Deutung zweiter Potenz34: In der religiösen Thematisierung der Grundsituation werden die Einzelerfahrungen in ihrer Bedeutung für das je eigene, ganze Leben bedacht, so daß die Wirklichkeitserfahrung des Glaubens in besonderem Maße ein reflexives Moment enthält. Diese Reflexion kann zum Gegenstand einer eigenen Profession werden, eben des pastoralen Berufs35. Dessen Praxis besteht in der methodischen Bearbeitung der religiösen Erfahrung der Gemeinde. Die Wirklichkeit, die in dieser Praxis gegenwärtig wird, hat damit stets einen Doppelcharakter: Einerseits hat sie Teil an der "Praxis situation jedes Glaubenden" und der damit gegebenen Auslegungsaufgabe. Andererseits geht die Pfarrerin bzw. der Pfarrer anleitend, reflektierend und gegebenenfalls korrigierend mit jener Wirklichkeit um, woraus sich bestimmte "zusätzliche Konkretisierungen" ihres Begriffs ergeben (Herms 1982, 21; vgl. 20ff.40ff). Das Verhältnis zwischen dem exemplarischen Charakter pastoraler Erfahrung und ihren spezifischen, professionell bedingten Zügen wird sich als eines der schwierigsten Probleme des homiletischen Situationsbegriffs herausstellen36. Generell ist zu sagen, daß sich der Krisencharakter der Wirklichkeit in der pastoralen Perspektive
34 Ebeling 1974a, 22; vgl. auch 1979a, 279: "Durch den theologischen Begriff des Gesetzes werden alle Weisen der Erfahrung und Deutung der Lebenswirklichkeit daraufhin reflektiert, was sich darin vollzieht, und so gewissermaßen in zweiter Potenz interpretiert. Als gemeinsamer Grundriß ergibt sich dabei die Tendenz, das Leben auf Letztgültiges zu beziehen." Vgl. auch Herms 1978, 105ff, besonders 108. 35 Vgl. dazu Herms 1978, 110-113; Steck 1991, 314f. 36 Vgl. dazu besonders den Abschnitt V. des Schlußteils.
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noch steigert, tritt doch zu der grundsätzlichen Strittigkeit der Erfahrung des Glaubens nun diejenige Widerständigkeit hinzu, die sich allererst aus dem pastoralen Umgang mit der Erfahrungswirklichkeit ergibt37. Die reflektierte Erschließung der Wirklichkeit als einer "Praxissituation des Glaubens" (Herms), die Beachtung der jeweils unterschiedlichen, individuellen Perspektiven auf die Wirklichkeit, und schließlich der Widerspruchscharakter, der der theologischen Perspektive eigentümlich ist dies sind Grundzüge, die schließlich auch das homiletische Wirklichkeitsverständnis prägen. Es kann zunächst als dasjenige Verständnis begriffen werden, das sich einem spezifischen Teil der pastoralen Praxis verdankt, eben der Predigtarbeit. Für diese Praxis ist charakteristisch, daß sie die Erfahrung der Glaubenden stets im Rückgriff auf bestimmte biblische Texte bearbeitet. Dementsprechend läßt sich die Predigtaufgabe als eine Vermittlungsbemühung verstehen, "und zwar in mehrfacher Hinsicht: Als Vermittlung zwischen dem historischen Bestand des Christentums (in seinen Texten) und der Gegenwart; zwischen dem allgemeinen neuzeitlichen Wahrheitsbewußtsein und den christlichen Überzeugungen; zwischen den prinzipiellen Perspektiven des Christentums und der Subjektivität des Hörers. Diese Aspekte der Vermittlungsaufgabe lassen sich wohl unterscheiden, aber nicht trennen."38
In dieser umfassenden Bestimmung der homiletischen Praxis wird nicht zuletzt die Vielschichtigkeit des entsprechenden Wirklichkeitsbegriffs kenntlich. Denn jeder der drei Aspekte schließt eine bestimmte Perspektive auf die Wirklichkeit ein, die der Prediger zu bearbeiten hat. So erscheint die homiletische Situation als das gegenwärtige Gegenüber der biblischen Texte und gerät damit in den fundamentaltheologischen Horizont des Verhältnisses von Offenbarung und Wirklichkeit. Indem die Situation der Predigtgemeinde durch das allgemeine Wahrheitsbewußtsein geprägt ist, steht sie im Horizont einer geistesgeschichtlichen Deutung des Glaubens in der Neuzeit. Und der Hinweis auf die Subjektivität des Hörers macht unter anderem deutlich, daß dessen spezifische Wirklichkeit von der prinzipiellen Perspektive unterschieden werden muß, die der Prediger durch seine Einbindung in die kirchliche Institution einnimmt.
37 Eine in ähnliche Richtung weisende Deutung des allfälligen Krisenbewußtseins der Praktischen Theologie hat V.Drehsen gegeben (1988, 10ff.23ff). 38 Rössler 1986, 345f; vgl. die Erläuterungen aaO. 346-348. Rössler präzisiert hier ein von Ebeling (1974) vorgelegtes, gleichsam fundamentalhomiletisches Schema.
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Die Vielschichtigkeit der homiletischen Perspektive auf die Wirklichkeit ist offenbar Ausdruck der zentralen Stellung der Predigt für die protestantischen Kirchen. In der Institution der Predigt finden ganz unterschiedliche Fragestellungen der Theologie ihre exemplarische Konkretisierung. In die Frage des jeweiligen pastoralen Umgangs mit der Situation der Hörerinnen und Hörer fließen dann zahlreiche Erwartungen und Befürchtungen ein, die sich ganz anderen Motiven verdanken als der Rücksicht auf die konkrete Predigtarbeit und ihre Bedingungen. Der Begriff der "homiletischen Situation" muß m.a.W. als ein theologischer Programmbegriff von hoher Komplexität gelten. Der gleichsam stellvertretende Charakter des homiletischen Wirklichkeitsbegriffs wirft nun allerdings die Frage auf, ob dieses Thema nicht lediglich eine abgeleitete Problematik darstellt, also ein Thema, das ausschließlich im Rekurs auf die angedeuteten weiteren Zusammenhänge angemessen zu bearbeiten ist39. Dazu kommt, daß die homiletische Situation in der Predigtarbeit selbst, in deren wahrnehmenden, interpretativen und produktiven Aspekten, in ganz unterschiedlicher Weise thematisch wird 40 . Insofern könnte die Rede von der "homiletischen Situation" durchaus in die Irre führen. Jedenfalls in den skizzierten historischen und systematischen Horizonten scheint dieser Begriff ein höchst disparates Bündel von Problemen und Aufgabenstellungen zu bezeichnen41. Die folgende Untersuchung versucht dieser Schwierigkeit dadurch Rechnung zu tragen, daß das Material auf die unterschiedlichen Motive und Aspekte hin befragt wird, die sich mit der Wirklichkeit der Predigthörerinnen und -hörer jeweils verbinden. Eine solche eingehende Beschäftigung mit der homiletischen Tradition läßt jedoch zugleich eine bestimmte, einheitliche Perspektive erkennen, die implizit oder explizit den meisten Darlegungen zugrundeliegt: Auch der homiletische Wirklichkeitsbegriff, dies ist die Ausgangsthese der vorliegenden Arbeit, wird in erster
39 Die praktisch-theologische Homiletik wäre dann, wie Rössler 1966 kritisch bemerkt hat, nur "eine Instanz zur Sammlung der ihr von den anderen Disziplinen vorgegebenen Themen und Argumentationen, die sie - als Homiletik - nicht einmal zu diskutieren, sondern allenfalls zu ordnen berechtigt ist" (Rössler 1966, 26). 40 Vgl. Josuttis' Ausführungen zu den drei Aspekten "homiletischer Kompetenz" (1985, 59-66); ein ähnliches Schema bei Luther 1982. 41 Auch die "Impressionen", die K.F.Daiber zum "Wirklichkeitsbezug der Predigt" vorgelegt hat (Daiber 1984), reflektieren die Vielfalt der mit diesem Thema zusammenhängenden Dimensionen, ohne eine Zusammenschau zu versuchen.
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Linie durch die Praxis bestimmt, in der er Bedeutung gewinnt. Es ist die konkrete, berufliche Predigtarbeit, in deren Zusammenhang die "homiletische Situation" zur Aufgabe wird. Die Frage nach den Hörenden wird darum hier als eine pragmatische Frage aufgefaßt42: Der Begriff der homiletischen Situation soll ein bestimmtes pastorales Handeln orientieren.
4. Folgerungen für die Untersuchung Es ist nunmehr deutlich geworden, daß sich mit dem Begriff der "homiletischen Situation" unterschiedliche historische und systematisch-theologische Problemstellungen verbinden. Im folgenden wird versucht, diesen Horizont im Interesse einer Klärung des predigtpraktischen Problems zu erhellen, das durch die Wirklichkeit der jeweiligen Hörerinnen und Hörer gestellt ist. Für die Betrachtung der einschlägigen Texte ergeben sich drei analytische Ebenen: (a) Zunächst ist der theologische Kontext zu umreissen, in dem die Frage nach den Predigthörern jeweils Bedeutung gewinnt. Die verschiedenen Interessen kommen dabei am deutlichsten auf der Ebene der prinzipiellen Homiletik zum Ausdruck, wenn also gefragt wird, in welcher Weise der Begriff der Predigt einen Bezug auf die Hörenden einschließt. Dies hängt offenbar nicht zuletzt davon ab, ob der Predigtbegriff vorwiegend dogmatisch oder praktisch bestimmt wird. (b) Sodann ist zu untersuchen, wie die Situation grundsätzlich und im einzelnen ausgelegt wird. Stehen theologische oder erfahrungswissenschaftliche Kategorien im Vordergrund, und welche Interessen und Probleme lassen sich in dieser Deutungsperspektive ausmachen? Wie wird außerdem das Subjekt jener Deutungen bestimmt? Zu bedenken ist hier weiterhin, "daß Situationen in der ihres Namens werten Predigt nicht nur zur Kenntnis genommen werden. Die Predigt des Evangeliums verändert auch immer wieder Situationen [...]" (Wintzer 1982, 111). Es ist darum nicht nur nach der Deutung, sondern auch nach der intendierten Wirkung der Predigt in der Wirklichkeit der Hörerinnen und Hörer zu fragen.
42 Diese Vorentscheidung schließt, wie sich herausstellen wird, eine dogmatische Perspektive auf das Predigtgeschehen keineswegs aus; vgl. dazu Abschnitt I des Schlußteils.
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(c) Schließlich kommt, im Sinne der oben (3) skizzierten pastoralen Perspektive, jeweils das homiletische Verfahren in den Blick, in dessen Kontext die "homiletische Situation" allererst erscheint: Mit welcher Methodik wird diese Situation in der konkreten Predigtpraxis erschlossen und mit anderen Bestimmungsfaktoren vermittelt? Hinsichtlich der Gliederung des Materials, an das diese Fragen zu stellen sind, legt der historische Ort des Problems eine Zweiteilung nahe. Der Untersuchung von Langes Konzeption wird die Interpretation derjenigen Position vorangestellt, an die die homiletische "Wende zur Erfahrungswelt" kritisch anknüpft. Während Bohren von einem folgenschweren "Verdrängen der Väter" gesprochen hat43, bringt eine Analyse jener "Väter" die ausdrückliche wie die verborgene Kontinuität zum Vorschein44, die sich nicht zuletzt in der Einschätzung des zugleich konstitutiven wie problematischen Charakters der "homiletischen Situation" zeigt. Die entscheidende Differenz resultiert aus der jeweiligen prinzipiellen Perspektive: Wird die Predigt primär systematisch-theologisch betrachtet, so erscheint - wie bei Barth - die Situation der Gemeinde als unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Lage vor Gott. Die Predigtarbeit vollzieht sich dann als exemplarisches Glaubensgeschehen, in dem die Situation des Predigers zugleich die seiner Hörer erschließt (Erster Teil). Für die Autoren der "empirischen Wende", die das Predigtgeschehen von der pastoralen Erfahrung aus in den Blick nehmen, besteht das Problem der homiletischen Situation dagegen in der kommunikativen Distanz zwischen Prediger und Hörern. Die soziale Ausdifferenzierung verschiedener Institutionen nötigt den Prediger dazu, die alltägliche Erfahrung der "säkularisierten" Lebenswirklichkeit, die ihm nicht mehr ohne weiteres zugänglich ist, jeweils neu zu erschließen. Exemplarisch ist die Predigtarbeit vor allem darin, daß hier der Wirklichkeitsbezug der kirchlichen Institution auf dem Spiel steht (Zweiter Teil). Innerhalb der beiden Teile konzentriert sich die Untersuchung jeweils auf eine exemplarische Position. Dabei bedarf die Thematisierung von HJJwands Arbeiten im Ersten Teil allerdings einer kurzen Erläuterung. Iwand hat seine homiletische Auffassungen vornehmlich im Zusammen43
Vgl. Bohren 1980, 556ff und, auf Lange bezogen. Bohren 1981, 420ff. Diese Kontinuität ist nicht allein in der bleibenden Bedeutung Barths begründet, sondern auch in der Rezeption der hermeneutischen Überlegungen R.Bultmanns. Zu Bultmanns homiletischen Auffassungen vgl. ausführlich Hauschildt 1989, 107ff. 44
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hang der "Göttinger Predigtmeditationen" (GPM) formuliert. Deutlicher als andere zeitgenössische Autoren hat Iwand den dogmatischen Ansatz Barths bei der Situation der Predigt darum wieder in ein homiletisches Verfahren überführt; und es ist gerade diese, auf die konkrete Predigtarbeit zielende Perspektive gewesen, mit der Iwand das Predigtverständnis und wohl auch die Predigtpraxis der 50er Jahre geprägt hat. Dazu kommt, daß der Wirklichkeitsbezug des Wortes Gottes Iwands Predigtauffassung stärker bestimmt als gemeinhin angenommen wird. Die Stärken und Grenzen seiner Deutung der homiletischen Situation sind darum für das Verständnis der "empirischen Wende" höchst aufschlußreich45. Den beiden genannten Positionen sind jeweils weitere Entwürfe zugeordnet. Weil hier keine umfassende Darstellung des homiletischen Situationsverständnisses der jüngsten Zeit beabsichtigt wird, ist eine Beschränkung auf wenige Skizzen möglich. Sie dienen, wie auch die Zusammenfassungen der beiden Teile, in erster Linie der historischen Klärung des gegenwärtigen homiletischen Wirklichkeitsverständnisses46. Die Mehrzahl der zu betrachtenden Texte verdankt sich weniger einem theoretischen als einem praktisch-pastoralen Interesse an den Problemen der Predigt. Die Untersuchung geht darum nur selten begrifflich-systematisierend vor, sondern versucht jeweils, die unterschiedlichen Motive und Deutungsperspektiven herauszuarbeiten, von denen die Interpretation der homiletischen Situation bestimmt ist. Es ist vielleicht nicht überflüssig zu erwähnen, daß die gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnisse, die das Gegenüber der Predigt im fraglichen Zeitraum faktisch geprägt haben, mittels dieses immanenten Analyseverfahrens nur indirekt und soweit thematisch werden, als sie sich in den jeweiligen homiletischen Beiträgen spiegeln. 45 Daß sich ein Vergleich von Iwand und Lange durch ihre jeweilige Wirkungsgeschichte nahelegt, hat bereits Schröer angedeutet (vgl. Lubkoll/Schröer 1983, 199). Sachliche Parallelen haben Gandras (1975, 197) und Hasselmann (1977, 153) gesehen. Am ausführlichsten hat bisher J.H.van der Laan die Übereinstimmungen notiert (1989, 287-290), dabei aber auch auf die entscheidende Differenz hingewiesen: Erst bei Lange findet sich der Versuch einer methodischen Besinnung auf die Predithörer (aaO. 289f)· 46 Daß zum gegenwärtigen Horizont dieses Problems weitere gewichtige Stimmen gehören, ist dem Verfasser bewußt. Eine Untersuchung beispielsweise der Arbeiten von W.Trillhaas, die Kontinuität und Wandel der homiletischen Situationsauffassung von 1935 bis 1974 repräsentieren, oder der Beiträge R.Bohrens, die ebenfalls eine eigentümliche Mittelstellung zwischen den herausgearbeiteten Polen markieren, würde das Bild zwar weiter differenzieren, aber nicht grundsätzlich ändern. Zu Trillhaas vgl. die Darstellung bei Gräb 1988, llff.l8ff; zu Bohren vgl. Rothermundt 1984, 36ff und Gräb 1988, 21ff.
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Der Schlußteil wendet sich noch einmal ausdrücklich der pastoralen Perspektive zu und zeigt, wie diese Sicht die unterschiedlichen Bestimmungen und Bewertungen, die die homiletische Situation in den letzten Jahrzehnten erhalten hat, zu vermitteln und zu relativieren vermag. Es ist das pastoraltheologische Verständnis der homiletischen Situation, mit dessen Entfaltung hier ein Beitrag vorgelegt wird zu einer "homiletischen Gesamttheorie", "in der die systematisch-theologischen, erfahrungswissenschaftlichen und wissenschqftsgeschichtlichen Probleme und Erkenntnisse aufeinander bezogen werden" müssen (Wintzer 1989,44).
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ERSTER TEIL
Die Erschließung der gegenwärtigen Wirklichkeit als Problem des Glaubens
Α. Die "wirkliche Welt" als Kriterium der Predigt: Hans Joachim Iwand
/. Einführung: Das homiletische Programm der Predigtmeditationen Hans Joachim Iwand (1899-1960)1 teilt mit anderen Theologen seiner Generation die zuerst von K. Barth formulierte Auffassung, daß "Theologie als Wissenschaft der Kirche in ihren sämtlichen Disziplinen nichts anderes sein soll als Predigtvorbereitung, im weitesten Wortsinn genommen"2. Obgleich Iwand sich dezidiert als systematisch-theologischer Lehrer versteht, finden sich darum in allen Teilen seines umfangreichen Werkes "Äußerungen, die zeigen, daß für ihn die Predigt der Zielpunkt aller theologischen Arbeit gewesen ist"3. Iwands spezifischer Beitrag zur homiletischen Debatte der Nachkriegszeit besteht allerdings nicht in einer thematisch ausgeführten Theorie der Predigt, sondern in seinem Engagement für die seinerzeit noch wenig verbreitete praktisch-theologische Gattung der Predigtmeditation: Von 1947 bis 1960 gab er die 1945 gegründeten "Göttinger Predigtmeditationen" (GPM) heraus, die unter seiner Leitung zur meist verbreiteten deutschen theologischen Zeitschrift wurden und der er einen beträchtlichen Teil seiner Arbeitskraft widmete4: Iwand verfaßte selbst zahlreiche Meditationen und erörterte das Verfahren der Predigtmeditation in Begleitwor-
1 Zu Biographie und Theologie Iwands vgl. den Überblicksartikel von H.W.Surkau (1987). Aufschlußreich für die Biographie sind darüber hinaus: Sänger 1979; Sänger 1979a; Seim 1983. Die enge Verbindung von Existenz und Theologie bei Iwand hat besonders Thaidigsmann 1981 entfaltet. 2 Barth 1966, 7. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist auch eine Äußerung Barths gegenüber A.v.Harnack: "Die Aufgabe der Theologie ist eins mit der Aufgabe der Predigt" (1923, 326). 3 Bittner 1981, 72; vgl. auch Gandras 1975, l l f . 4 Vgl. Surkau 1987, 430; Kreck 1968, 289f und Gollwitzer 1963, 5f.
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ten zu einzelnen Heften in einem weiten theologisch-politischen Kontext5. Die Frage, welche Bedeutung die Wirklichkeit der Predigtgemeinde bei Iwand hat, ist darum zunächst in den Kontext seiner Auffassung von Absicht und Inhalt der Gattung "Predigtmeditation" zu stellen6.
1. Die "wirkliche Welt" als Ziel der Predigt Wesentliche Züge von Iwands homiletischem Programm lassen sich dem Geleitwort entnehmen, mit dem er 1954 den 9 Jahrgang der GPM eröffnete: "Mit diesem Heft grüßen wir - zum ersten Mal wieder seit langen Jahren - unsere Brüder in der einen deutschen Evangelischen Kirche. Daß unsere Bemühungen um die rechte, schriftgemäße Verkündigung nun uns wieder vereinigen in einem hoffentlich nicht mehr lange zerteilten Deutschland [,] ist Gegenstand großer Freude und Dankbarkeit. Es entspricht zugleich der Hoheit und Überlegenheit des Evangeliums, das nicht nach Menschenart ausgelegt und verkündet sein will, sondern Gottes freie Gnade aller Welt kundmacht. Um diese Freiheit der Gnade Gottes und ihrer Verkündigung haben wir im Kirchenkampf gegen stärkste verführerische Kräfte gerungen, diese Freiheit hat dann unsere Evangelische Kirche in ihrer Einheit und Einmütigkeit gegenüber einer drohenden Zerteilung mit manchen Mühen und Kämpfen seit 1945 bis zum Leipziger Kirchentage glücklich und dankbar zu bezeugen vermocht. Die Kirche ist nicht primär Organisation, sie ist primär eine Gemeinschaft des Glaubens auf Grund des verkündigten Wortes. Daß diese Gemeinschaft von innen und außen her ständig neu in Frage gestellt und angefochten wird, gehört dazu, daß wir in der Zeit leben, und wir werden das eine nicht vermeiden können, wenn wir das andere ehrlich auf uns nehmen und die wirkliche Welt, in der wir stehen, als die Welt ansehen, für die Gott seine Botschaft gesandt hat und ausgerichtet haben will. Eine Hilfe für dieses echte Finden des Wortes in unserer wissenschaftlichen, geistigen und politischen Wirklichkeit wollen unsere Meditationen sein. Die Vielfalt der Mitarbeiter entspricht der Vielfalt der Predigt. Uniformität ist niemals ein Zeichen geistlicher Einheit [...] gewesen. Daß wir uns wiederum an den 'alten Evangelien' versuchen, entspricht dem Brauch der Kirche, das Wort immer wieder neu und tiefer zu fassen. Dazu leben wir und dazu bewegt sich die
5 Vgl. PM mit dem programmatischen Vorwort von H.Gollwitzer (aaO. 5-11). Für Iwands Wirkungsgeschichte ist aufschlußreich, daß dieser bereits drei Jahre nach seinem Tod publizierte Sammelband weitaus mehr und höhere Auflagen erzielt hat als alle anderen von Iwand selbst oder aus seinem Nachlaß publizierten Arbeiten; vgl. Seim 1983, 54f mit Anm. 26 sowie die Bemerkungen bei K.G.Steck 1974, 230. 6 Dafür spricht auch die Wirkungsgeschichte der erwähnten Vor- und Nachworte: Sie sind sehr bald als homiletische Wegweisung verstanden worden; vgl. schon K.G.Steck 1954, 3f und passim. Ebenso hat sich dann die Forschung zu Iwands Homiletik meist auf diese Texte konzentriert. Explizit gilt dies für Bizer 1972, 87-106 sowie Gräb 1988, 242-245; de facto orientiert sich auch Hüttel v. Heidenfeld 1979, 295f ausschließlich an den Vorworten, ebenso über weite Strecken Gandras 1975.
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Weltgeschichte - heute offensichtlich mit gewaltigen Sprüngen -, damit wir immer von neuen Nöten, Hoffnungen, Aufgaben und Möglichkeiten her Gottes Wort und Wirklichkeit ergreifen, begreifen und begreiflich zu machen vermögen. Omnis locus scripturae est infinitae intelligentiae.' [...] - Bonn, im November 1954" (PM 419).
Die kirchliche Predigt und damit auch die Predigtmeditationen werden hier in einen denkbar weiten Zusammenhang gestellt. Weil das verkündigte Wort Gottes den Grund der Kirche darstellt, hat die Predigtarbeit unmittelbare Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung der "einen deutschen Kirche": Predigtamt und Kirchenleitung müssen in eins fallen7. Dementsprechend wird die kirchliche Lage in Iwands GPM-Beiträgen durchgehend thematisiert und kritisch an der "Freiheit der Gnade Gottes und ihrer Verkündigung" gemessen. Über die Kirche hinaus reklamiert das zitierte Vorwort die Bedeutung der Verkündigung in der "wissenschaftlichen, geistigen und politischen Wirklichkeit". So wird die kirchliche Einheit auf die politische Einheit Deutschlands bezogen; und auch im allgemeinen zielt die Predigt nach Iwands Auffassung auf eine Klärung der "wirklichefn] Welt, in der wir stehen". Deren Wandel und Komplexität ist eigentlicher Anlaß der Predigt: In den jeweils neuen Situationen soll "Gottes Wort und Wirklichkeit" aufgesucht und namhaft gemacht werden. "Offenbarung heißt doch wohl Erleuchtung des Ganzen der menschlichen Existenz unter Einbeziehung der Weltsituation dieses Menschen" (PM 60). Insofern die Predigt als Medium der Offenbarung erscheint, stellt der Bezug der Predigt auf die "wirkliche Welt" für Iwand eine fundamentale homiletische Struktur dar. Die Wirklichkeit in der angedeuteten Weite ist der Zielpunkt des Wortes Gottes8, und entsprechend bildet die Wirkung auf "Existenz und Weltsituation" das entscheidende Kriterium der Predigtarbeit. In diese Konstellation fügt sich auch der homiletische Umgang mit dem biblischen Text: Zwar läßt Iwand in Theorie und Praxis keinen Zweifel daran, daß die Verkündigung und darum auch die GPM metho-
7
Vgl. aaO. 530.557; jeweils unter Berufung auf Schleiermacher. 1953 schreibt Iwand in einem Aufsatz "Über den Verlust der theologischen Existenz heute": "Was uns fehlt, ist eine neue Grundlagenlehre, eine Art Enzyklopädie der Theologie, [...] die Ausdruck einer echten Einheit sein müßte von Theorie und Praxis. Die Wirklichkeit, in der wir leben, auch die 'kirchliche', will begriffen sein. Sie will nicht nur gelebt oder erlitten werden, sie will begriffen sein" (1953, 512). Dies ist für Iwand wiederum sowohl eine theologische als auch eine homiletische Aufgabe. 8
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disch auszugehen haben "von der Schrift, dem Text, der Auslegung, der Exegese" (aaO. 528). Gleichwohl verdeutlicht das oben zitierte Vorwort, daß sich die "unendliche Tiefe" der Schrift allererst im Zusammenhang der zwischen Not und Hoffnung bewegten Wirklichkeitserfahrung erschließt. Die gängige Charakterisierung von Iwands Homiletik durch die Formel "Vom Text zur Predigt" (vgl. Surkau 1987, 430) greift daher zu kurz. Iwand sieht die Predigt vielmehr als eine Begegnung zweier "Wirklichkeiten": Mittels der Auslegung eines biblischen Textes ist sie bemüht, "Wort und Wirklichkeit Gottes" im Hinblick auf die Realitäten der "wirklichen Welt" zu "ergreifen, begreifen und begreiflich zu machen"9. Einer auf die Wirklichkeit zielenden Predigtarbeit sollen schließlich auch die GPM dienen, die Iwand als "Hilfe" zum "Finden des Wortes in unserer [...] Wirklichkeit" beschreibt. 1955 schließt er sein Geleitwort mit dem Wunsch: "Möchte er [sc. der neue Jahrgang] die Gemeinschaft des Dienstes an dem uns heute zukommenden und geltenden Wort der Schrift bei den Lehrern und Predigern des Evangeliums in Ost und West festigen und ein helles Licht, ein Licht des Friedens und der Freude, in unserer bedrängten Welt ausstrahlen lassen" (471). Die Predigtmeditationen gewinnen ihren Sinn durch eben die Wirkung auf die kirchliche wie die politische Wirklichkeit, die dem Wort Gottes selbst zukommt. Diese gleichsam stellvertretende Funktion der GPM erklärt Iwands unablässiges Bemühen um ihre weitere geographische Verbreitung10 und um eine entsprechende Vielfalt der Mitarbeiter, die zwischen dem Wort und je ihrer Wirklichkeit vermitteln sollen.
2. Die Wirklichkeit als Problem der Predigt Das durch Anlage und Inhalt der GPM verkörperte homiletische Programm Iwands ist jedoch durch den Hinweis auf die existentielle, kirchliche und politische Wirklichkeit als Ziel der Predigt noch nicht zureichend
' Z u r fundamentaltheologischen Relevanz dieser dreifachen Aufgabe vgl. unten IV.1. 10 Vgl. Gollwitzer 1963, 5: "Die persönlichen Beziehungen zu östlichen Kirchenmännem und Politikern [•··] waren ihm vor allem auch wichtig wegen der dadurch erlangten Gelegenheit, den Druck und Bezug der Meditationen innerhalb der DDR und ihre Bezugsmöglichkeit innerhalb der Oststaaten durchzusetzen. Auf jeder Reise betrieb er diese Sache und bei jeder Rückkehr berichtete er davon."
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beschrieben. Das eingangs zitierte Geleitwort von 1954 macht auch auf die mit diesem Ziel verbundenen Gefahren aufmerksam: Von außen wie von innen ist die Gemeinschaft des Wortes "ständig neu in Frage gestellt und angefochten", und zwar nicht zuletzt deshalb, weil das Evangelium sich dagegen sperrt, "nach Menschenart ausgelegt und verkündigt" zu werden. Offenbar ist die Predigt für Iwand nicht zuletzt durch die ihr gegenüberstehende Situation, durch die an ihr beteiligten Menschen gefährdet. Die Bemühungen der GPM, Wort und Wirklichkeit homiletisch zu vermitteln, gewinnen ihr besonderes Profil durch den Bezug auf diesen Aspekt der Wirklichkeit, wie er etwa im Vorwort zum 7. Jahrgang (1952/53) skizziert ist: "Entstanden aus einer unmittelbaren Not vertriebener Pfarrer in der Nachkriegszeit und zunächst getragen von einem Kreis Göttinger Professoren", sind die Meditationen zwar inzwischen hinsichtlich ihrer Verbreitung wie auch der Zahl der Mitarbeiter "erfreulich gewachsen. Aber das eigentliche Elend unserer Verkündigung, über das bereits die ersten Hefte vernehmlich Klage führten und dem sie zu begegnen trachteten, ist geblieben: immer noch liegt es über unserer Predigt wie eine Lähmung, anders als in den schweren, aber doch kirchlich und theologisch so fruchtbaren Jahren zuvor" (PM 327).
Obwohl die GPM zunächst nur als exegetische Hilfe für vertriebene Prediger konzipiert waren, die ihre theologischen Bücher verloren hatten11, sahen sie sich sehr schnell mit einem bereits von W.Trillhaas, dem ersten Herausgeber der GPM, formulierten Problem konfrontiert: "Die Predigtnot hat sich nicht gebessert. Trotz der Führungen und Erfahrungen, die der Kirche in ihrer jüngsten Geschichte zuteil geworden sind, hört man überall müde Predigten."12 Die Klage über die "Lähmung" (61; vgl. 122.667), den "Bann" (120), den "Nebel" (221.327) oder den "Verfall" (392) der Predigt zieht sich wie ein roter Faden durch Iwands Vorund Nachworte. Dabei gewinnt die "Predigtnot" ihre Bedrohlichkeit durch den Vergleich mit der Erfahrung im "Kirchenkampf' der NS-Zeit: "Wir haben eine Epoche in unserer jüngsten Kirchengeschichte gehabt, in der die Predigt der Kirche [...] etwas galt" (PM 528). Gegenüber den
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Vgl. Gollwitzer 1963, 5; Hasselmann 1977, 68. Zit. nach PM 528. Das Stichwort der "Predigtnot" stammt aus Barths programmatischem Vortrag "Not und Verheißung der christlichen Verkündigung" (Barth 1922). Seine allgemeine Verbreitung nach 1945 deutet jedoch darauf hin, daß diese Not nun - anders als bei Barth - als ein aus der besonderen zeitgeschichtlichen Situation der Predigt entstandenes Phänomen empfunden wurde; vgl. dazu unten Kapitel C. 12
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damit geweckten Erwartungen erscheinen die Predigten nun als weithin enttäuschend, "kraftlos"13 und "müde". Diese Wahrnehmung der Predigt im Rahmen des kirchlichen und politischen Wiederaufbaus stellt bald den eigentlichen Anlaß für die Herausgabe der GPM dar; und ihr Erfolg ebenso wie die von Iwand zitierte Korrespondenz mit den Lesern belegen, daß diese Einschätzung auch von den Predigern selbst geteilt wurde14. Die "Not der Predigt" bildet den Horizont der Meditationsarbeit, und Iwands Reflexionen in seinen Vor- und Nachworten bestehen über weite Strecken in nichts anderem als der Bearbeitung dieser krisenhaften Situation. Dabei lassen sich drei Aspekte unterscheiden, bei denen die Predigtnot zugleich als Ausdruck weiter reichender Probleme erscheint. Zunächst benennt Iwand, besonders in den Jahren 1952 bis 1956, ein theologisches Problem, nämlich den "Riß zwischen exegetischer und dogmatischer Methode"15, der sich auch in den Meditationen als "zuweilen sehr greifbarfe]" "Not" (ebd.) niederschlug. Der theologische Schulstreit über das Verständnis des Wortes Gottes erschwert nicht zuletzt die Predigtarbeit. Umgekehrt erwartet Iwand gerade von ihr "eine Versöhnung höherer Art dieser beiden oftmals differenten Denk- und Forschungsmethoden" (353f). Die konkrete Arbeit an der Predigt ist der Ort, an dem theologische Grundfragen zur Lösung kommen16. Zum zweiten stellt auch die kirchliche und politische Wirklichkeit für die Predigt eine bedrohliche Herausforderung dar. Wie der Kirchenkampf gezeigt hat, ist es die Predigt, in der die Einheit des Evangeliums und damit auch die "ursprüngliche reformatorische Einheit" der sichtbaren Kirche zum Ausdruck kommt (PM 151; vgl. 408. 419). Immer wieder wendet Iwand sich daher in den Vorworten gegen eine Re-Konfessionalisierung der deutschen evangelischen Kirche und gegen "die Rede von der 'konfessionsbedingten' Verschiedenheit der Evangeliumsverkün-
13 Vgl. die bei Gollwitzer (1963a, 11) zitierte Passage aus Iwands letztem Rundschreiben an die GPM-Mitarbeiter sowie Gollwitzer 1963, 7. 14 Vgl. dazu auch die von K.G.Steck 1954 verarbeiteten Voten. 15 PM 327; vgl. zu diesem Problem, hinter dem sich für die 50er Jahre auch "in etwa die Auseinandersetzung zwischen der Bultmannschen und der Barthschen Theologie" (PM 354) verbirgt, das von Iwand (470) enthusiastisch besprochene Buch von H. Diem: Dogmatil·;. Ihr Weg zwischen Existentialismus und Historismus (Diem 1955), sowie für die Homiletik die Übersicht bei Hummel 1971, 5.265ff. 16 So erhofft sich Iwand von der Meditations- und Predigtarbeit wiederholt auch die Versöhnung von Wissenschaft und Praxis im allgemeinen; vgl. PM 60.392.528.590ff.
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digung" (151): Auf diese Weise entzieht sich die Kirche unter dem Druck eigener oder fremder Interessen der Wirksamkeit des Wortes. Die Kraftlosigkeit der Predigt erscheint nicht zuletzt als Resultat eines nur an den äußeren Strukturen orientierten, restaurativen "Wiederaufbaus" in Kirche und Gesellschaft; "die innere, geistige und geistliche Seite desselben ist weithin vernachlässigt" (528). Dieses Versäumnis hat, wie unten näher auszuführen ist, auch politische Folgen17. Die beiden skizzierten Aspekte kommen darin zusammen, daß sich in der Predigtnot der drohende Verlust der theologischen bzw. der kirchlich-politischen Einheit durch die auseinanderstrebenden menschlichen Interessen und Zwecke manifestiert. So ist es nicht verwunderlich, daß Iwands Predigtkritik zum dritten immer wieder auf diejenigen Menschen zurückkommt, die das Wort auszulegen haben: Die Ursache der Predigtnot "liegt wohl meist darin, daß wir nicht bedürftig genug, nicht leer, arm, blind, lahm und gottfern genug an den Text herankommen, daß wir schon immer etwas, unter Umständen sogar unser dogmatisch-orthodoxes, unser konfessionell "gegebenes" Verständnis mitbringen [...] " (195).
Die Krise der Predigt erscheint im Grunde als eine Glaubenskrise der Prediger, die zu dem Wort, das sie verkünden sollen, nicht das richtige Verhältnis gewinnen. In der Person des Predigers spitzen sich für Iwand die verschiedenen Aspekte der Predigtnot zu; und darum ist das Selbstverständnis des Predigers für seine Bemühungen konstitutiv. Dies zeigt sich auch dort, wo die Predigtnot auf ihren eigentlichen Grund hin interpretiert wird: "Es könnte sein, daß gepredigt wird - und daß doch das Wort nicht auf dem Plan ist, das eine, ewige, rettende Wort, um deswillen allein gepredigt wird, um deswillen Kirche und Amt, Theologie und Schrift da sind [...]. Es könnte sein, daß Gott schweigt und unser Reden und Beten ins Leere geht, es könnte sein, daß ihm unser Auslegen und Reden nicht gefällt, weil er Sein Wort, das Wort, dessen Subjekt Er ist, nicht wiederfindet in dem, was wir sagen [...]. Das ist die tiefste Not und eigentliche Sorge, die uns bewegt" (196).
17 S.u. Π.3; vgl. auch Heinrich 1982, 144: "Die Unwirksamkeit von Predigt und Meditation wird nicht als ein isoliertes Problem der Kirche (und der Homiletik) gesehen, sondern als ein Problem im funktionalen Beziehungsfeld von biblischer Verkündigung, Kirche, Staat und Gesellschaft"; vgl. weiter aaO. 144-147 mit Akzent auf dem politischen Aspekt.
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In Iwands Deutung ist die Predigtnot kein rein empirisches Phänomen, das sich methodisch bewältigen ließe. Sie erscheint vielmehr als Ausdruck des Gerichtes Gottes über menschliche Eigenmächtigkeit, die die Beziehung des Wortes zur Wirklichkeit verfälscht und verhindert. Indem die GPM in der jeweiligen geschichtlichen und pastoralen Situation der Predigtnot in ihren verschiedenen Aspekten entgegentreten, leisten sie einen bestimmten Beitrag zur Verkündigung: Vorbereitend, stellvertretend sollen sie die kritische, einigende und befreiende Wirkung des Wortes auf die Wirklichkeit demonstrieren.
3. Die Struktur von Iwands Homiletik und ihre Interpretation Indem die GPM die empirische und geistliche Predigtnot bearbeiten, stellen sie selbst eine exemplarische Vermittlung von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit dar. Diese Wirklichkeit erscheint in Iwands Beiträgen nun in einer charakteristisch doppelten Perspektive. Zunächst versucht er anhand der Auslegung einzelner Texte den materialen Gehalt derjenigen Predigt vorzustellen, welche dem göttlichen Wortgeschehen zu entsprechen hoffen kann. Zu dessen Auslegung gehört darum regelmäßig eine eingehende Bearbeitung der Lebenswirklichkeit, die durch das Wort in eine neues Licht gestellt wird. Nicht wenige Untersuchungen der Theologie Iwands haben sich darum fast ausschließlich auf das in PM gesammelte Material beschränken können18. Damit wird freilich die spezifisch homiletische Perspektive auf die Wirklichkeit noch nicht erfaßt. Diese wird vielmehr zunächst in den Begleitworten deutlich, in denen Iwand die jeweilige Wirklichkeit in ihrer Bedeutung für die Predigtarbeit, genauer: für das Selbstverständnis der Predigenden zu bestimmen sucht. Diese sollen in jene offene und bedürftige Haltung versetzt werden, in der sie allererst zu Verkündigern des Wortes werden können. Aus diesem Bezug auf die subjektive Wirklichkeit der Prediger erklärt sich weiterhin der eigentümlich drängende Stil der Meditationen. Ihre nicht selten "pathetische Redeweise" (K.G.Steck 1980, 32) verdankt sich offenbar
18 Cf etwa Hertog 1988; Sänger 1983; K.G.Steck 1974; Tacke 1983. Dieses Verfahren erklärt sich auch aus der wirkungsgeschichtlichen Bedeutung der Meditationen.
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der Absicht, die Leser in diejenige Bewegung hineinzuholen, welche die Begegnung mit dem Wort Gottes beim Autor selbst ausgelöst hat19. Der spezifische Wirklichkeitsbezug von Iwands homiletischer Hinterlassenschaft ist schließlich auch verantwortlich für dessen fragmentarische Gestalt: Die Veränderung der individuellen wie der gesellschaftlichen Lage resultiert in einem stets neuen Verhältnis von Wort und Wirklichkeit. So ist zwar jeder GPM-Beitrag Iwands eine abgeschlossene Ausarbeitung dieses Wechselverhältnisses im Blick auf die pastorale Predigtnot und -aufgabe, zugleich aber werden dabei nur selten diejenigen homiletischen Fragen thematisiert, welche unabhängig von der Auslegung eines bestimmten Textes sind. Abgesehen von den einzelnen Meditationen und Geleitworten hat Iwand sich nur selten öffentlich zur Predigtlehre geäußert, und dann in anderen thematischen Zusammenhängen. Aus dieser Quellenlage ergibt sich für die folgende Untersuchung ein im wesentlichen induktives Vorgehen20. Die von Iwand skizzierten Perspektiven werden jeweils an einigen wenigen Texten erhoben, um die Struktur der Argumentation erkennbar zu machen. Dabei stehen die GPM-Beiträge im Vordergrund, zur weiteren Erläuterung sind gelegentlich aber auch andere Texte herangezogen. Die folgende Rekonstruktion von Iwands homiletischem Wirklichkeitsbegriff orientiert sich an dessen oben skizzierter Struktur. Ausgangspunkt ist die gleichsam objektive Beziehung des Wortes Gottes zur Wirklichkeit, seine inhaltlich zu beschreibenden Wirkung auf die "wirkliche Welt" (II). Die Vermittlung dieser Wirkung geschieht nach Iwands Auffassung wesentlich in der Predigt (III). Für deren Gelingen ist jedoch, wie die Erörterungen zur "Predigtnot" gezeigt haben, eine bestimmte Verfassung des predigenden Subjekts konstitutiv. Die Wirklichkeit des Predigers stellt das Zentrum und zugleich das entscheidende Problem von Iwands Homiletik dar (IV). Damit läßt sich schließlich sein Versuch erläutern, mittels der Predigtmeditationen die berufliche Aufgabe der homiletischen Wirklichkeitserschließung theologisch zu steuern (V). 19 Mit dieser Intention dürfte es auch zusammenhängen, daß Iwands Vor- und Nachworte häufig nach dem Schema "Not - Hoffnung" strukturiert sind; vgl. etwa PM 60.196f.327. 407f.470f.528f.666ff. 20 Die Probleme, die sich aus der Gestalt von Iwands Hinterlassenschaft für eine Rekonstruktion seiner Auffassungen ergeben, sind bereits des öfteren diskutiert worden; vgl. Heinrich 1982, 25-28; Hoffmann 1988, 15f; Seim 1983, 57ff. Ein spekulatives Element wird sich allerdings in keiner systematischen Rekonstruktion vermeiden lassen.
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Obwohl die folgende Interpretation den Anspruch erhebt, Iwands Homiletik in ihrer Grundstruktur zu erfassen21, resultiert die Konzentration auf das Wirklichkeitsverständnis doch in einigen Einschränkungen, die abschließend erwähnt seien. So finden Iwands Ausführungen zu den hermeneutischen und den formalen Aspekten der Predigtlehre, so weit sie sich nicht ohnehin aus dem Verhältnis von Wort Gottes und Wirklichkeit ergeben, nur am Rande Berücksichtigung. Auch der weite theologische und geistesgeschichtliche Hintergrund, der sich für Iwand mit dem Thema der "Wirklichkeit" verbindet, kann hier nur angedeutet werden22. Beabsichtigt ist nicht eine (weitere) Einordnung von Iwands Wirklichkeitsverständnis in die Schemata von "Gesetz und Evangelium", "Glaube und Werke" etc., sondern eine induktive Erhebung seiner spezifischen Perspektive auf die "homiletische Situation".
II. Die Wirkung des Wortes Gottes
1. Aufhebung und Erneuerung der Wirklichkeit In besonderer Prägnanz hat Iwand seine Auffassung des wirksamen Wortes Gottes in einer ausführlichen Predigtmeditation zu Jes 55, 6-13 entfaltet23. Er betont zunächst die Souveränität des Wortes: "Es trägt seine eigene Wirklichkeit und Gewißheit in sich selber" (388). Und als solches
21 Zu Iwands Homiletik liegt eine große Arbeit von J. Gandras (1975) vor, die jedoch eher referierend vorgeht und die spezifische Eigenart von Iwands Homiletik nicht deutlich werden läßt. Iwands Meditationstheorie, die zweifellos das Herzstück seiner Predigtlehre darstellt, ist von verschiedenen Autoren bearbeitet worden (Bizer 1972, 87-106; Grab 1988, 242245; Hasselmann 1977, 68-85; Hilttel v.Heidenfeld 1979), meist jedoch ohne den weiteren Kontext, der im folgenden wenigstens angedeutet werden soll. Methodisch vergleichbar mit der vorliegenden Untersuchung ist W.Bittners aufschlußreiche Skizze über "Aspekte der Predigt bei H.J.Iwand" (1981). 22 Vgl. dazu besonders Kreck 1968; Schellong 1979; Thaidigsmann 1981. Zu Iwands Lutherstudien vgl. die Hinweise bei Seim 1981; zu seiner Beschäftigung mit dem deutschen Idealismus Heinrich 1982, 29-103; Thaidigsmann 1989. Außer Betracht bleiben muß auch die komplexe Gedankenführung von Iwands Ethik, vgl. dazu die gründliche Untersuchung von M. Hoffmann (1988). 23 PM 386-392; zum Sonntag Rogate 1954. Ein Anspruch auf systematische Vollständigkeit wird dadurch wahrscheinlich, daß die Elemente dieser Skizze sich vollständig in NW 1, 173-211 wiederfinden, wo Iwand die "Theologie des Wortes" zum Thema macht.
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zielt es auf die umfassende und fundamentale Veränderung des Bestehenden: "Es wird wirklich etwas Neues geschehen, nicht nur im Menschen, sondern auch um ihn her. Das Kommen des Wortes Gottes ist auch innerweltlich ein umwälzendes Ereignis! [...] Alles, was ist, gerät darum in Bewegung. Alles wandelt sich" (ebd.).
Diese Bewegung, diesen greifbaren Effekt des Wortes entfaltet Iwand in vier aufeinander aufbauenden Schritten, so daß zugleich der Zusammenhang von individuellem Hören auf das Wort und universaler Veränderung der Wirklichkeit deutlich wird. Die Macht des Wortes wird zunächst darin erkennbar, daß es zum "nahen Wort" (389) wird, daß Gott sich finden läßt, bevor wir ihn suchen: "Es ist also nicht an dem, [...] daß wir die Ferne zu ihm überwinden, daß wir das Geheimnis Gottes aufdecken müßten, sondern es ist von Gott her aufgedeckt, die Ferne ist überwunden"24. Vor aller menschlichen Aktivität ist "unser Leben hineingenommen in den Tag des Heils" (ebd.). In dieser Erfahrung wird aber zugleich der Unterschied spürbar "zwischen Gott und uns, zwischen seinen Wegen und unseren Wegen, seinen Gedanken und unseren Gedanken" (389, vgl. Jes 55, 8f), und damit die Ferne des Wortes. Für die dem Tod und der Sünde verfallene menschliche Wirklichkeit kann es "keinen Übergang" in die von Gott bestimmte Wirklichkeit geben (390), sondern die Voraussetzung dieses Übergangs ist ein "Nein" zum "Gefängnis der sogenannten Wirklichkeit" (388) und damit zu allen Versuchen, von der menschlichen Existenz und ihrer Lebenserfahrung her "Berührungspunkte" für das Wort zu konstruieren. Der Bezug des Wortes auf die Wirklichkeit kann darum nur ein solcher sein, der das "Beben und Wankendwerden des Bestehenden" durch das "wirksame Wort" impliziert: Indem "vom Himmel her etwas geschieht, [...] bleibt auch auf der Erde nichts so, wie es ist" (387). Das wirksame Wort "deutet nicht das Sein, indem es seinen Sinn enthüllt, sondern es schafft, was es sagt"25. Der Souveränität Gottes kann nur eine offen-
24 AaO. 389; vgl. auch NW 1, 177: "Die Tatsache also, daß das Wort zu mir gesagt ist, kann nicht aus meinem Gottesverhältnis abgeleitet sein - das unabhängig vom Wort, in der Existenz als solcher gesetzt ist -, sondern muß selbst ein Akt des Wortes Gottes sein, seines Erscheinens in der Welt. Es [...] existiert völlig selbständig und in ihm ist Gott selbst 'da'!" 25 AaO. 390. Im Hinblick auf die schöpferische Potenz des Wortes bestreitet Iwand auch in verschiedenen anderen Zusammenhängen, daß "die Verkündigung Deutung des zunächst
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sichtliche Verwandlung der Wirklichkeit entsprechen, wie sie in Deuterojesajas Bildworten entfaltet wird. Diese Wirkung ist zwar zunächst auf den Menschen bezogen, dessen Leben vom Wort Gottes neu gegründet wird; gleichwohl betont Iwand gerade an den jesajanischen Verheißungen (vgl. PM 414ff.532ff) wiederholt, daß auch die politische und die natürliche Umwelt des Menschen in diese Verwandlung einbezogen ist: Wie diese durch die Sünde des Menschen geprägt sind, muß auch die Umgestaltung durch Gottes Wort die ganze Wirklichkeit betreffen. Die Verheißung, daß der "ganze Kosmos [...] an dieser Verherrlichung und Auszeichnung des Menschen" teilnimmt, zielt schließlich auf "die Tat des Glaubens an das Wort Gottes" (391). Nur in einem von den Glaubenden vollzogenen Handeln kann die "wirkliche Welt" zu ihrer Wahrheit26, kann die Erneuerung von Mensch und Kosmos zu ihrem Ziel kommen. Dabei bleibt das Wort der Wirklichkeit stets voraus: "Denn es kommt nicht aufs Sehen an, sondern aufs Hören und darum nicht auf die Wirklichkeit, in der wir leben, sondern auf die Botschaft, von der wir in unserer Wirklichkeit leben" (ebd.). Der spannungsvolle Prozeß der Wirkung des Wortes, den Iwand hier entfaltet hat, resultiert für die Adressaten dieses Wortes offenbar in einer doppelten Veränderung ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit. Auf der einen Seite gerät das als bestehend, als faktisch Aufgefaßte durch die Konfrontation mit dem Wort unausweichlich in eine kritische Perspektive: "Dieser falsche Glaube an die Wirklichkeit, die man 'siehet' und die darum immer eine hoffnungslose, trügerische, eben nicht von Gott und seinem Wort her erfaßte Wirklichkeit ist, muß dann Schritt für Schritt aus unserem Herzen weichen [...]" (PM 122).
Für den Hörer des Wortes ist die gegebene, feststehende Wirklichkeit der befreienden Bewegung Gottes entgegengesetzt. Die Macht des Wortes muß darum "Schritt für Schritt" dazu führen, daß der Glaubende sich vom unmittelbar Sichtbaren abwendet. Die Wirklichkeit kann also unterschiedlich erfahren werden, indem man sich entweder am Vorfíndlichen, an den Situationen eigenen und fremden Versagens orientiert, oder vom
einmal als Faktum hingenommenen Geschehens sei. Nicht das Geschehen geht voran, sondern das Wort, die Verheißung" (PM 207; vgl. aaO. 70.202.415 sowie NW 1, 200f). 26 E.Thaidigsmann macht Iwands Anliegen der "Versöhnung von Wahrheit und Wirklichkeit" (1981, 117) zum Ausgangspunkt der Darstellung seines theologischen Ansatzes.
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Glauben an die erneuernde Kraft des Wortes leiten läßt27. Beide Möglichkeiten gründen für Iwand in einem bestimmten Handeln Gottes, insofern "Sünde und Vergebung, [...] Gottes Zorn und Gottes Gnade die Achse sind, um die unser aller Leben, verborgen dort und offen hier, schwingt, unser politisches nicht minder [...] wie unser persönliches und religiöses,,2î. Die Wirkung des Wortes wird dadurch zu einem unabschließbaren Prozeß, daß menschliche Sünde und göttliche Gnade stets von neuem in eine produktive, die Wirklichkeit aufbrechende Konfrontation geraten. Während die kritische Sicht des Vorfindlichen jedoch im wesentlichen eine Frage der vom Wort Gottes gewirkten Erkenntnis ist, realisiert sich auf der anderen Seite seine erneuernde Kraft nicht zuletzt in einem erneuerten Handeln der Glaubenden. Die vom Wort Gottes geprägte Wirklichkeit ist immer nur als Ziel, als Verheißung präsent, die sich allererst im Handeln erschließt: "Indem wir vorangehen, weichen die Hindernisse, nicht aber können wir warten, bis wir sehen, daß sie weichen" (391). Auch von dieser Seite erscheint die Wirkung des Wortes als eine unaufhörliche, nun gleichsam ethische Bewegung. Die weitere Betrachtung dieses Wandels, in den das Wort die Wirklichkeit versetzt, kann von der Beobachtung ausgehen, daß Iwand immer wieder zwei Aspekte dieser Wirklichkeit unterscheidet, nicht ohne sie jedoch zugleich in eine enge Beziehung zu setzen: Zwar ist der unmittelbare Angriffspunkt für das Wort Gottes der einzelne Hörende, dessen individuelle Perspektive auf die Umwelt damit in Bewegung gerät (2). Diese Bewegung zielt aber immer auf die größtmögliche Öffentlichkeit der Bezeugung und handelnden Veränderung (3). Das Wort hat stets auch eine politische Relevanz, es kann gerade nicht auf eine "Innerlichkeit" des Glaubenden beschränkt bleiben.
27 Vgl. Hoffmann 1988, 51: "Wirklichkeit ist für ihn [sc. Iwand] offensichtlich nicht einfach identisch mit 'Realität' als Bezeichnung des schlicht Vorhandenen und Bestehenden. Wirklichkeit ist eine Sache der Definition, also eine bestimmte Sicht der Welt aufgrund bestimmter Wahrnehmungsmuster." 28 AaO. 348. Diese doppelte Sichtweise hat Iwand besonders in lukanischen Gleichnissen gefunden. So schreibt er im Zuge einer Auslegung der Erzählung von der Salbung durch die Sünderin (Lk 7, 36ff; bes. 41ff): "Es geht in diesen Gleichnissen immer um zwei verschiedene Situationen, die verdecken, daß unsere Situation vor Gott die gleiche ist: hier um die beiden Schuldner, anderswo um die beiden Söhne, die beiden Arten von Gästen, Betern usw." (PM 314).
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2. Die individuelle Wirkung des Wortes Ausgangspunkt für Iwands Verständnis der Wirkung des Wortes ist die souveräne Unbedingtheit des Handelns Gottes. Sein Wort ist für die menschliche Existenz zunächst das "ferne Wort", es kann nicht von diesem Subjekt her bestimmt werden. Die Frage nach der individuellen Wirkung des Wortes impliziert für Iwand darum das Problem, wie das reformatorische "pro me" zu verstehen ist, in dem die Ferne des Wortes für den Glauben aufgehoben ist. So erörtert er in einer Meditation zu Jes 1229, welche Bedeutung den Rufen "mein Gott", "mein Heil" etc. zukommt (PM 349f): "[W]ie kann ein Mensch, über dem Gottes Zorn liegt, zu Gott sagen: du bist mein Gott, meine Stärke? Hier ist die Frage noch richtig gestellt, denn vom Menschen her gesehen ist das nicht möglich. Wäre der Zorn nicht Gottes Zorn, wäre er nur eine (verkehrte) menschliche Vorstellung, dann wäre er freilich keine Realität. Aber er ist Realität [...]. Wer darf überhaupt von Gott sagen: Mein? Wer darf ihn sozusagen als Garanten und als Diener seiner Ziele und Wünsche gebrauchen? Das ist die sachliche Frage [...]. Denn wie nahe liegt es doch, daß wir hier wieder dem neuprotestantischen, dem deutschchristlichen Irrtum verfallen, als wäre Gott an sich gar nichts, als wäre er nur in Beziehung auf mich, auf den Menschen, auf die Welt - Gott!"
Die hier anklingende Unterscheidung hat Iwand 1954 in seinem Referat "Wider den Mißbrauch des 'pro me' als methodisches Prinzip in der Theologie" näher entfaltet30. Dabei grenzt er sich von einem "methodischen" Verständnis des "mein" ab, das - im Rückgang auf Kant - die notwendige Subjektivität aller Glaubenssätze behauptet. Das "mein Gott" repräsentiert dann die einzige Form, in der die Rede von Gott Bedeutung erlangen kann; auch alle theologischen Aussagen werden damit zu "Werturteilen", denen der Charakter des Seinsurteils, einer Bestimmung der Wirklichkeit über die Subjektivität hinaus, abgehen muß. Aus dieser Auffassung, für die Iwand insbesondere Ritsehl und in neuer Zeit Bultmann namhaft macht, resultiert nicht zuletzt die Forderung einer "Entweltlichung" des Glaubenden, während Iwand darauf insistiert, daß der Zorn Gottes ebenso wie "der an Gott verzagende, verzweifelnde, der an Sünde und Auflösung preisgegebene Mensch eine - und zwar sehr greifbare,
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PM 347-353; zum 3.So. n. Trin. 1953. Iwand 1954. Auf die Bedeutung dieser Ausführungen hat auch W.Kreck hingewiesen (1968, 249). 30
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uns alle umgebende [..] - Realität" sind (PM 350). Die erkenntnistheoretische Subjektivierung des Glaubens würde Gott dagegen zur Funktion der - von der Sünde geprägten - menschlichen Wünsche und Bedürfnisse machen; von einem realen, die menschliche Existenz tatsächlich verändernden Eingreifen Gottes könnte nicht geredet werden. Dagegen stellt Iwand ein "inhaltliches" Verständnis des "mein" bzw. des "pro me". Der Bezug des Wortes auf den individuellen Glauben ist nicht in dessen noetischer Struktur, sondern in Gottes Handeln begründet; das "mein" ist in der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes immer schon eingeschlossen: "Im 'pro me' will diese göttliche Gerechtigkeit, die iustitia coelestis auch in mir siegen und zu ihrer Anerkennung kommen, wie sie an sich - in Jesus Christus - je schon über die Sünde und den Tod gesiegt hat. Darum geht 'meine Gerechtigkeit' in Christo meiner Existenz voraus."31 Das "mein" der biblischen Texte ist Ausdruck einer Wirklichkeit Gottes, die ihm "zuvorkommend" gegenübersteht und ihn daher richtend und rettend konstituiert, ohne im Glauben des einzelnen und in dessen Lebenswirklichkeit aufzugehen. Wenige Monate vor seinem Tod, im Herbst 1959, hat Iwand das daraus resultierende theologische Verständnis individueller Existenz durch die Auslegung einiger früher Texte Luthers zur "theologia crucis" entfaltet32. Dabei stellt Iwand zunächst die kritische Absicht dieser Äußerungen heraus. Mit der Fundierung der theologischen Erkenntnis im Kreuz weist Luther die scholastische Auffassung ab, der Mensch könne von sich aus, in einer "intelligiblen Anschauung" nicht nur die geschöpfliche Wirklichkeit erkennen, sondern von dort aus auch die "invisibilia Dei" schauen. Für den Lutherinterpreten Iwand beruht die Selbst- und Gotteserkenntnis des Glaubenden dagegen auf einer vorgängigen Offenbarung Gottes, welche sich in der Leidensgeschichte Jesu konzentriert, in den "visibilia et posteriora Dei per passiones et crucem conspecta"33. Von hieraus versucht Iwand nun "den neuen Begriff von Wirklichkeit [zu] entfalten, der sich für den Glauben an das Kreuz ergibt" (382).
31 Iwand 1954, 123. Damit wendet Iwand, wie er ausdrücklich sagt (aaO. 124), die Lehre von der Gnadenwahl auf das Verständnis theologischer Sätze an. 32 NW 2, 381-398; "ausgearbeitet für den Beienroder Konvent im Herbst 1959" (aaO. 381). 33 Vgl. aaO. 384f. Iwand interpretiert hier die Thesen der Heidelberger Disputation von 1518, besonders These 19 und 20; vgl. WA 1, 353ff.
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Das Wort vom Kreuz läßt die negativen Lebenserfahrungen in den Vordergrund treten. Es ist die eigene Sünde, der vergebliche Versuch, die Wirklichkeit autonom zu gestalten, die in "Leiden und Schmach" resultiert (388). Das Schwergewicht der Wirklichkeitserfahrung liegt für Iwand nicht auf der erfüllten Verheißung oder gelingender Gestaltung, sondern auf der offensichtlichen Widerständigkeit des Lebens, auf der Erfahrung des Widerspruchs und der Entfremdung: "Der Weg des Kreuzes ist also eine klare eindeutige Realität unseres Lebens. Er liegt sozusagen vor uns" (395). In der Meditation zu Jes 12 hat Iwand diese Bewertung theologisch vertieft, indem er das Leiden an der Wirklichkeit als Ausdruck göttlichen Zorns interpretiert. Unser "natürliches, fleischliches, am Kreuz (und das heißt am Gericht) vorbeizielendes, erschlichenes Mein möchte Gott immer in seinen Gaben haben. Darum bricht der Zom Gottes denn auch immer auf an seinen Gaben. Der Zorn Gottes wird immer da erfahren, wo er nicht er selbst ist! Alle Welt, alles, was Gott geschaffen hat, kann sozusagen 'brennen', Gottes Zorn kann alles Gut in ein Übel, alle Freude in Leid verwandeln, und er muß es dahinein verwandeln, weil wir sonst Gott nie finden können" (PM 350).
Für den "theologus crucis" ist Gott nun in der leidvollen und bedrängenden Lebenswirklichkeit erfahrbar, und zwar gerade als der Gott, der in seinem Richten von dieser Wirklichkeit unterschieden sein will34. Die Hoffnung auf seine Gnade muß dann im Widerspruch zur Wirklichkeit und zu aller menschlichen Erfahrung stehen: "Luther kann dieses Hoffen im Untergang und Zusammenbruch aller 'merita' als einen Prozeß des Entkleidetwerdens schildern [...]: Wir werden nackt vor uns hingestellt und müssen erprobt werden, ob wir allein auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen, ob wir allein aus ihr leben. Es geht hierbei um die Unabhängigkeit des Glaubens vom 'sentire' - wir fühlen nichts mehr von Gottes Gnade. [...] Im Augenblick des Durchbruchs des Glaubens können wir uns nur als Abgefallene [...] und Verzweifelnde wissen" (NW 2, 3910-
Die individuelle Wirkung des Wortes besteht in der Aufhebung aller Gewißheit, aller Erfahrung mit der gegebenen Wirklichkeit; der Mensch
34 Vgl. NW 2, 393: "Weil der Mensch von Hause aus Gott feind ist, darum kann er das Wirken Gottes an ihm nur als Leiden, als Anfechtung und Beraubung erfahren, eben nicht als Lebenserhöhung, sondern als Gericht und Tod."
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"stirbt und wird neu erfunden. Er geht unter und tritt wiedergeboren heraus" (391). Aus diesem existentiellen Bruch resultiert nun eine andere Perspektive auf die individuelle Wirklichkeit. Sie erscheint als eine "vita passiva"; "es geht Luther um eine Bewegung, bei welcher wir die Bewegten und Gott der Bewegende ist" (392). Das jeweils gegebene Leben in seiner Vielfalt wird dadurch zu dem Ort, an dem der Glauben berufen wird: "Der Ruf Gottes geht an eine bestimmte Stelle - da ist er vernehmbar, nur da. Und wenn ich dem wirklichen Leben in seinen Höhen und Tiefen, seinen Anfechtungen und Tröstungen ausweiche, dann vernehme ich den Ruf Gottes nicht. Denn ich stehe ja dort, wo ich selbst meinen Platz, meinen Standort gewählt habe" (395f)·
Indem die Lebenswirklichkeit als Ausdruck des Handelns Gottes, als Manifestation der götüichen Führung interpretiert wird, gelingt es Iwand, die Weite menschlicher Erfahrung nicht nur kritisch einzuholen. Es ist wiederum die Unverfügbarkeit der eigenen Biographie, in der Gott präsent ist. "So kann man immer nur beides zugleich finden: Gott, den wirklichen Gott, der der Herr meines ganzen Lebens ist, und die Wirklichkeit dieses Lebens selbst in seiner ganzen tiefen Rätselhaftigkeit" (396). In der Perspektive der "vita passiva" wird die Erfahrung der Wirklichkeit zur Erfahrung Gottes: "Darum darf sich der Mensch dem Leiden nicht entziehen, das Gott in der Unberechenbarkeit des Lebens uns zugedacht hat. Darum Ehe, darum Arbeit, darum heraus aus einer präparierten Form christlicher Existenz! Darum (so könnte man vielleicht sagen) immer ausgerichtet auf das Leben, das selbst das Ergebnis unserer Fehler und Leidenschaften ist" (397).
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch den Glauben schließt ein Handeln in dieser Wirklichkeit also durchaus ein. Dieses Tun begreift sich aber nur dann richtig, wenn es als ein von Gott geführtes und ermöglichtes erscheint, als eine Wirkung seines Wortes. Theoretisch hat Iwand die externe Bestimmung des Glaubenshandelns in der menschlichen Wirklichkeit durch die Lehre vom unfreien Willen interpretiert35. Eine absolute Freiheit des Handelns kann Iwand mit Luther nur als Selbsttäuschung begreifen, die der Wirklichkeit des Menschen 35 Iwands Arbeiten zum unfreien Willen sind gesammelt in GA I, 17-61.247-268; GA II, 194-197; vgl. außerdem seine Erläuterungen zu "De servo arbitrio" (Iwand 1954a). Zur Interpretation vgl. vor allem Hoffmann 1988, 83-92.122-127.
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nicht entspricht. Die konkrete Gestalt dieser Freiheit ist vielmehr stets von einer Auffassung der eigenen Person bestimmt, die entweder, unzutreffenderweise, als durch das Handeln selbst begründet erscheint und damit durch die "iustitia activa", oder die sich erkennt als Konsequenz der von Gott geschenkten "iustitia passiva": "Die Freiheit des Menschen ist nicht darin begründet, daß der Mensch gegenüber der Welt frei ist, sondern daß er sich selbst gegenüber frei ist" (NW 2, 22). Indem der Glaube nicht an die Selbst- und Welterfahrung, sondern an das Wort gebunden ist, wird er frei zu einer verantwortlichen Lebensgestaltung.
3. Die öffentliche Wirkung des Wortes Der Duktus des in den letzten beiden Abschnitten Dargelegten läuft jeweils zu auf eine wirksame Veränderung der Wirklichkeit durch ein vom Glauben bestimmtes Handeln des Einzelnen. Die Wirkung des Wortes setzt zwar beim Individuum an, bei dessen Sterben und Wiedergeburt; sie wird jedoch falsch verstanden, wenn die faktische Veränderung der "wirklichen Welt", auch in ihrer politischen Dimension, nicht als notwendige Konsequenz dieser Wirkung erscheint. Diese von Iwand immer wieder kritisch gegen die Theologie der "Innerlichkeit" und eine falsch verstandene Zwei-Reiche-Lehre vorgetragene Denkfigur läßt sich an einer ausführlichen Auslegung von Mt 6, 19-24 entfalten 36 . Der Bezug des Wortes auf die vom Mammon bestimmte "Wirklichkeit unseres Lebens" wird hier christologisch begründet: "So gewiß Jesus in die Welt gekommen ist, und nun wirklich in die Welt, wie sie ist, [...] so gewiß hat er zu dieser wichtigen Frage der Güter unseres Lebens nicht geschwiegen" (81). Dabei besteht die Eigenart des Wortes Jesu darin, daß es die gesellschaftliche Realität auf die innere Verfassung des Individuums zurückführt: "Jesus kommt es auf das Herz an. Das, wonach wir bei der Erörterung unserer wirtschaftlichen, politischen, sozialen Zustände meistens nicht fragen, was wir vergessen daß sie Daseinsformen, Willensformen und Gestaltungen bestimmter Menschen [...] sind - das sieht Jesus. Darum klopft er an die Außenwand der Dinge, er will ins 'Herz'
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PM 81-89; zum 6.So. n.Trin. 1947. Diese Meditation hat Iwand selbst als programmatisch für das Verhältnis von Schriftauslegung und "den weltanschaulichen Fragen unserer Tage" bezeichnet (aaO. 76); vgl. weiterhin Seim 1988, 300-304.
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der Dinge vorstoßen, zu dem Menschen, der darin seinem Streben, seinem Wollen, Hoffen, Leben Ausdruck gibt. [...] Herz ist offenbar der Punkt im Menschen, an dem sich alles entscheidet, Weisheit und Torheit, Gott und Welt, Leben und Verdammnis. [...] Denn dazu ist ja Jesus mitten unter uns, um unser Herz wieder an Gott zu binden, uns Gott so nahe zu bringen, daß unser Herz hier - und hier allein seinen Frieden findet" (84f).
Die politischen und sozialen Verhältnisse werden mittels dieser Metapher als Ausdruck einer bestimmten Haltung zu Gott interpretiert. In dieser Perspektive kann Gott nicht mehr als "Garant der Ordnungen dieses Daseins" gelten (85). Die Erfahrung der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird vielmehr von der Erwartung und dem Anspruch eines umfassenden Wandels bestimmt: Die "eschatologische Komponente des christlichen Ethos" wird auch politisch zur Geltung zu bringen sein. Iwand verweist auf die gesellschaftliche Wirkung der Urgemeinde und auch der Reformation, welche "die Lebensordnungen in Staat und Wirtschaft, Schule und Familie entscheidend gewandelt hat" (85). Iwand verbindet diese Auslegung nun mit einer expliziten Korrektur einschlägiger Auffassungen Luthers. Für diesen sei die Person die einzige "Klammer, die beides, Glauben und Tat, zusammenschließt". In Luthers Zuspitzung der ethischen Reflexion auf die Person sieht Iwand bereits den "Riß zwischen der privaten und der öffentlichen Existenz" (86) angelegt, der infolge der neuzeitlichen Entwicklung zum beherrschenden Problem der christlichen Ethik wurde. Der Fortfall einer geschlossenen, christlich geprägten Gesellschaftsordnung hat die Religion zur "Privatsache" und damit den Einfluß des Glaubens auf die "omnipotente" Macht des Staates undenkbar gemacht. Damit ist für Iwand, angesichts "der tatsächlichen Praxis unseres Lebens" (86), eine Neufassung des Verhältnisses von Christentum und öffentlichem Ethos notwendig: Der "Mammon" ist eine Macht, die eben nicht allein als individuelles Problem zu bearbeiten ist. Den Schluß der Passage bildet folgerichtig ein Hinweis auf die zweite These der Barmer Erklärung. Die Einsicht, daß das Wort nicht allein individuelle, sondern öffentlich-politische Relevanz beansprucht, hat Iwand selbst in zahlreichen Äußerungen in Anspruch genommen37. Typisch für seine Argumenta-
37 Zu Intention und Thematik von Iwands politischem Engagement liegt eine Fülle von Untersuchungen vor; zu verweisen ist insbesondere auf Hoffmann 1988; Klappert 1989; Kreck 1976; Thaidigsmann 1981.
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tionsweise ist ein kurzer Text, der 1956 unter dem Titel "Umkehr und Einsicht" veröffentlicht wurde38. Hinter der politischen und geistigen Restauration erkennt Iwand eine kollektive Realitätsverleugnung: Die Menschen träumen von einer Rückkehr zu den Grenzen von 1937 oder in das Kaiserreich, die Verantwortung für die geschichtliche Schuld wird systematisch verdrängt. Die "Deutschen haben sich ihrem eigenen Schicksal gegenüber entfremdet" (156), das "Subjekt des Geschehens" hat sich "vom Schauplatz seiner eigensten Geschichte" wegbegeben (155). Iwand insistiert dagegen auf der Verantwortung dieses Subjekts für seine Vergangenheit wie für seine Zukunft, die ihm beide zugleich in einem Akt des Bekenntnisses zugänglich werden: "Wer aber an den nur ihm selbst erkennbaren Punkt in der innersten Mitte seiner Geschichte tritt, wo der Mensch seiner Schuld ansichtig wird, dem bewegt sich auch die Vergangenheit. Er zerbricht ihre Fesseln und gibt dem stummen Schicksal einen Mund, der es enträtselt. In ihm hebt es sich selbst auf' (157).
Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit sind zu verstehen als ein auf die politische Umkehr zielendes "Gericht"; der Vollzug der bekennenden Umkehr39 kann dann auch ein neues Verstehen der Gegenwart bewirken. Offensichtlich bezieht Iwand hier die These vom unfreien Willen auf die Gesellschaft als ganze: Die Einsicht in die eigene kollektive Schuld und zugleich in die Möglichkeit, diese Schuld angesichts der im Kreuz Christi präsenten Gnade Gottes zu bekennen40, erscheint als der einzige Weg, die Handlungsfreiheit gegenüber der Wirklichkeit wiederzuerlangen. Auch an anderen Texten läßt sich erkennen, wie Iwand gesellschaftliche Probleme dadurch mit dem "Wort vom Kreuz" konfrontiert, daß er die politischen Strukturen auf ihren "geistigen Gehalt" und damit auf eine Frage des menschlichen Selbstverständnisses zurückführt (vgl. etwa FO 159ff). Dabei findet sich immer wieder die bereits skizzierte dreifache
38 Ursprünglich publiziert in den "Blättern für deutsche und internationale Politik"; jetzt zugänglich in FO 153-158. " In dem stellvertretenden Bekenntnis der Schuld und der Bitte um Vergebung hat Iwand den Skopos seiner kirchlichen und politischen Versöhnungsarbeit mit dem Osten gesehen; vgl. FO 125ff.l99ff und dazu Klappert 1989, 346.348Í. 40 Der Aufsatz schließt mit einem Hinweis auf die Kreuzesgeschehen: "Hat doch auch unser gemeinsames Menschenschicksal in einem Menschen und in seinem letzten Schrei [...] seine bleibende Wendung erfahren" (157).
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Dimension der Wirkung des Wortes: Die Kritik an der vorfindlichen Wirklichkeit als Ausdruck menschlichen Versagens und göttlichen Zorns; die Distanzierung von dieser Wirklichkeit durch die Begründung der Existenz, des "Herzens" in der souveränen Gnade Gottes ("Umkehr und Einsicht"); schließlich die Freiheit, die neue Existenz an der Lebenswirklichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen zu bewähren. In dieser Struktur spiegelt sich nichts anderes als die Erfahrung des Glaubens: "Nicht mehr der Tod, sondern das Leben ist jetzt Gegenwart. Nicht mehr die Sünde und die Schuld, sondern die Vergebung und die Gerechtigkeit sind jetzt Gegenwart. Wir werden also nicht mehr vor eine Aufgabe gestellt, die wir zu bewältigen haben, es sei denn vor die eine Aufgabe, zu glauben - zu glauben, daß der Sieg errungen ist. Alle Wirklichkeit, die uns begegnet, stellt uns die Aufgabe, diesen Glauben an ihr zu bewähren" (NW 2,180-
Die gesellschaftliche Relevanz dieses Glaubens läßt sich abschließend an Iwands programmatischem Aufsatz über das Verhältnis von "Kirche und Gesellschaft" erläutern41. Mittels eines kritischen Durchgangs durch die Staats- und Gesellschaftstheorien des Protestantismus entwickelt Iwand seine These, daß die Stellung der Kirche zur Gesellschaft nicht als ein statisches Abbild- oder Koexistenzverhältnis aufgefaßt werden darf, sondern daß die Existenz der Kirche den "Einbruch und die Störung dieses Eigenlebens der Gesellschaft" bedeutet (aaO. 108). Indem die Kirche sich gründet auf die "eine gottgesetzte Ordnung: das ist das Evangelium von der Vergebung der Sünden in Jesus Christus", muß sie zugleich alle anderen in Frage stellen: "Die Ordnungen oder auch Bindungen, in denen die Menschen leben, sei es Ehe oder Staat, sei es Besitz oder Familie, können von Haus aus nichts anderes als 'gottlose Bindungen' sein"42. Das Verhältnis zur Gesellschaft ist wiederum durch die Figur des Gegensatzes geprägt: Die Predigt des Wortes muß "innerhalb jeder Gesellschaft wie ein Aufruhr wirken" (110), und zwar deswegen, weil die Weltordnungen hier als unveränderlich, als notwendig so und nicht anders bestehend mißverstanden werden. Die provokative Freiheit des Glaubens von den gesellschaftlichen Ordnungen führt aber nicht einfach zur Distanzierung zwischen Kirche und 41 Iwand 1952; der Aufsatz erschien in einer Festschrift für M.Niemöller. Vgl. die ausführliche Analyse bei Hoffmann 1988, 204ff. 42 AaO. 109; durch das Zitat wird wiederum auf die 2.These der Barrner Erklärung verwiesen.
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Gesellschaft. Sondern diese Freiheit muß sich in ein politisches Engagement umsetzen, das wiederum der Durchsetzung von Freiheit dient: "Was wird geschehen, wenn die falschen Herren dieser Welt - ihre Usurpatoren - sich plötzlich diesen freien, weil durch die Tat Gottes [...] von Sünde und Tod frei gemachten Menschen gegenüber sehen? Werden sie nicht neue Tafeln setzen für das, was in der Zeit der Knechtschaft als Gut und Böse gegolten hat [?] Werden sie nicht Meister sein im Zeihrechen der alten Tafeln, die jener Todesordnung des Gefängnisses gelten? Werden die neuen Tafeln und Gesetze nicht in Wahrheit die alten, auf Gott und seine Gerechtigkeit zurückgehenden sein [,..]?"43
Die öffentliche Predigt von der Gerechtigkeit Gottes muß dann, wie Iwand abschließend präzisiert, Stellung nehmen "zu Krieg und Frieden, zu sozialer Gerechtigkeit und menschlicher Freiheit, zu Ehe und Arbeit, zu Geld und Besitz" (116). In allen diesen Bereichen, so läßt sich Iwands Überzeugung formulieren, ermöglicht das Wort Gottes eine verantwortliche Ausrichtung auf das befreiende und erneuernde Handeln Gottes, das sich im Handeln der Christen spiegeln wird.
4. "Verheißung" als Wirkungsweise des Wortes Iwands eigentümliche Auffassung vom Wirklichkeitsbezug des Wortes ist an seinem Gebrauch des Begriffs der Verheißung weiter zu klären44. Dabei zielt auch die Verheißung nicht nur auf das personale Sein des Menschen; durch sie "wird die vorhandene Welt nicht geistig entwertet, wie es der Idealismus tat, sondern sie wird verwandelt" (PM 527). Die Verheißung ist "bezogen auf eine zwar noch ausstehende, aber darum keineswegs irreale Wirklichkeit" (ebd.). Diese Zitate machen allerdings wiederum deutlich, daß die Verheißung sich auf die vorhandene subjektive und objektive Wirklichkeit nur in kritischer Form, ja als deren Aufhebung beziehen kann. Diese negative Logik des Verheißungswortes hat Iwand besonders eindrücklich an Jes 62,
43 AaO. 111; vgl. auch den programmatischen Schlußabschnitt von Iwands Vortrag "Über das Verhältnis von Theologie und Kirche" (GA I, 202-213). Er fordert eine Kirche, die "in Wort und Tat diese Freiheit der Gebundenen zu bezeugen bereit ist. Indem wir das tun, dürfen wir gewiß sein, daß auch unsere äußere, unsere politische und bürgerliche Freiheit nicht ausbleiben wird" (213). 44 Vgl. die von H.Tacke (1983) herangezogenen Texte; außerdem Gandras 1975, 90ff.
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10-12 demonstriert45. Er interpretiert den Text aus der religiösen Situation der nachexilischen Gemeinde: Im Exil hatte das Wort Gottes als Verheißung, konkret in der Prophetie Deuterojesajas, neuen Glauben gestiftet, der sich auf die zukünftige Wirklichkeit der Heimkehr richtete. Zu dieser Hoffnung sieht Iwand die Erfahrung der Heimkehrenden in eklatanten Widerspruch geraten: Die Situation ist politisch, moralisch und kultisch so desolat, daß sie als "die nackte Wirklichkeit der Sünde, des Todes und des Verfalls" (534) erscheinen muß. "Ihr in der Zeit der Verbannung erwachsener und bewährter Glaube an Gottes Verheißung wird gerade jetzt, gerade angesichts der eingetretenen Erfüllung ad absurdum geführt. Verheißung und Wirklichkeit sind aufs neue in unaufhebbaren Kontrast getreten" (533).
P.-P.Sänger hat darauf hingewiesen, daß Iwand mit dieser Behauptung einer notwendigen Gegensatzes nicht zuletzt die Erfahrung derjenigen Theologen aufnimmt, welche die restaurativ geprägte Nachkriegszeit als Widerlegung ihrer Hoffnungen auf einen wirklichen "Neubau der Gemeinde Jesu" empfanden (1983,72). So dürfte auch Iwands theologische Deutung dieser Erfahrung von unmittelbarer Aktualität gewesen sein, daß nämlich "die Verheißung Gottes nie und nirgends greifbare, konstatierbare, unsere Augen oder unsere Begriffe erfüllende Wirklichkeit ist" (PM 535). Der Widerspruch von Wort und Wirklichkeit geht nicht etwa zu Lasten der Glaubwürdigkeit der Verheißung, sondern ist Ausdruck ihrer Unverfügbarkeit: Die Behauptung einer greifbaren Erfüllung des verheißenden Wortes würde die Wirklichkeit Gottes zu einem objektiven "Faktum" machen und die exklusive Ausrichtung des Glaubens auf das Wort gefährden. Die Widersprüchlichkeit der Empirie dagegen stellt sicher, daß "Gottes Verheißung immer Verheißung bleibt" - so die Überschrift des betreffenden Meditationsabschnittes. Charakteristisch für die Verheißung ist also ihre bleibende Distanz zur Wirklichkeit; alle "Erfahrungen" der Verheißung können nur als Erfahrung von noch Ausstehendem, noch nicht endgültig Erfülltem begriffen werden. An verschiedenen Stellen zieht Iwand dafür das Bild der Morgendämmerung heran46: Das Licht der neuen Welt Gottes ist zwar für den
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PM 532-539; zum 1.Advent 1956; vgl. dazu Sänger 1983. Vgl. etwa PM 121.249 und dazu Tacke 1983, 396.
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Glauben bereits wahrnehmbar, aber es ist stets noch von Dunkelheit begleitet. Das Wort Gottes erscheint, als Verheißung begriffen, vom Vorfindlichen in einer zeitlichen Hinsicht unterschieden47, es ist den Fakten deswegen überlegen, weil es stets ein noch nicht eingeholtes und gleichwohl wirksam auf diese Fakten bezogenes ist. Indem die Verheißung zu ständiger Unterscheidung zwischen dem geglaubten Handeln Gottes und der gegebenen Wirklichkeit zwingt, setzt sie eine eigentümliche Wechselwirkung in Gang: Die jeweilige Wirklichkeit wird davor bewahrt, als endgültig angesehen zu werden; und der Gehalt der Verheißung wird im Gegenüber zu jeder neuen geschichtlichen Situation selbst klarer. Die Beobachtung, daß Jes 62 im wesentlichen "Wiederholungen" der deuterojesajanischen Prophetie enthält, deutet Iwand als Ergebnis dieses wechselseitigen Interpretationsprozesses : "Die Worte von einst sind wieder da, aber so, daß die inzwischen neu und unerwartet über den Prediger eingebrochene Anfechtung in sie hineingenommen und überwunden ist. [...] Es geht in der Tat um diesen Prozeß des Verlierens und Wiedergewinnens, des Irrewerdens und Neu-Vertrauens [...]. Ähnlich steht es mit dem at-lichen Zitat in der nt-lichen Botschaft. Die durch die Tatsachen in Frage gestellte Verheißung Gottes tritt neu und kräftig auf den Plan" (534f).
Die Rekapitulation der prophetischen Tradition dient Iwand als Nachweis, daß die Erfahrungen, die "als Erfüllung seiner Worte, als Bestätigung unseres Glaubens" aufgefaßt werden können (535), grundsätzlich erst dann zutreffend gedeutet sind, wenn sie selbst wieder als Verheißungen eines noch Ausstehenden erscheinen. Dies gilt auch für das Zeugnis des NT: "Denn das ist das Auszeichnende an der in Christus Jesus verkündigten Erfüllung, daß sie den Verheißungscharakter der Offenbarung nicht aufhebt, sondern erst voll und ganz sicherstellt" (PM 165). Stets besteht die eigentümliche Wirkung der Verheißung in der Freisetzung eines unabschließbaren Interpretationsprozesses der Wirklichkeit, in dem der Glauben stets von neuem von der Erfahrung auf den göttlichen Urheber der Verheißung verwiesen wird48. Alle Wirklichkeit erscheint so als vorläufig, als ein Übergangsphänomen, das alsbald von
47 Vgl. auch NW 1, 195: "Weil aber die Wirklichkeit immer a posteriori ist zu dem Wort des Glaubens, darum ist das Wort ihm [sc. dem Glauben] immer Verheißung-epangelia!" 48 Aus deer Struktur des steten "Aufbruchs" aus der jeweiligen Situation entnimmt Sänger unter Hinweis auf die von Iwand zitierten Autoren, daß Iwand hier "für Aufklärung im Sinne eines prophetisch ausgelösten andauernden Prozesses Stellung bezogen" habe (1983, 79).
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der Verheißung bestritten werden wird. Iwand formuliert diese Perspektive im Anschluß an Hegel: "Was am Gewordensein interessiert, ist der Prozeß, das Werden, nicht das Gewordene, das Fertige. Wo aber umgekehrt die Verheißung auf ein Gewordensein, auf 'Geschichte' im Sinne des Abgeschlossenen, Endgültigen begründet wird, da wird dem Toten Macht gegeben über das Lebendige, dem Gestern Macht über das Morgen."49
Mit einer solchen Verhältnisbestimmung von Verheißung und Geschichte verbindet sich nun ein Problem, das Iwands gesamten homiletischen Ansatz prägt. Zwar kann er die "wirkliche Welt" von der Auslegung des Wortes her faktisch in großer Ausführlichkeit und Präzision in den Blick nehmen. Gerade seine differenzierten politischen Analysen haben an Aktualität noch nichts verloren50. Dennoch fällt auf, daß im Grunde alle Dimensionen und Aspekte der Wirklichkeit als Ausdruck von Schuld und Verfehlung des Menschen bzw. des göttlichen Zorngerichtes erscheinen. Gegenüber der Verheißung der Gnade Gottes kann die Lebenswirklichkeit immer nur eine dunkle Folie leidvoller Erfahrung sein. Diese Perspektive ist zwar zeitgeschichtlich, in der Situation der Restauration nach 1945 naheliegend. Gegen den Rekurs auf angeblich unveränderliche Ordnungsstrukturen muß Iwand immer wieder ausdrücklich warnen: "Nie wird es eine 'christliche Welt' geben, mögen auch noch so viele Hoffnungen ihr gegolten haben."51 Aber die prinzipielle Kritik an der gegebenen Wirklichkeit, die auf Lebenserfahrungen nur in gebrochener Weise Bezug nehmen kann, versagt vor der Aufgabe, in diesen Erfahrungen Hinweise auf das erneuernde Handeln Gottes auszumachen52. Damit droht der Glaube nun doch - gegen Iwands ausdrückliche Intention - zu einer wirklichkeitslosen Überzeugung zu werden.
49 PM 534; vgl. zu Iwands Aufnahme von Hegel, Heine und Engels, welcher diese Bemerkung entstammt, die eingehende Interpretation bei Sänger 1983, 75-77. 50 Vgl. die Neuauflage seiner Überlegungen zur Aussöhnung mit den osteuropäischen Völkern und Staaten von 1988 (FO). 51 PM 535; vgl. Sänger 1983, 73f. 52 R.Heinrich hat ähnliche Beobachtungen, die er allerdings nicht kritisch wertet, auf Iwands Verständnis der "theologia crucis" zurückgeführt (Heinrich 1982, 105ff): In neuerer Zeit ist diese meist als ein formales Erkenntnisprinzip verstanden worden, indem etwa E.Bizer (1958) und in seinem Gefolge O.Bayer das Kreuz als Grund der fundamentalen Unverfügbarkeit der Wirklichkeit und damit als Prinzip der "fides ex auditu" interpretieren, die differenzierte Deutungsmöglichkeiten der Erfahrung aus sich entläßt (vgl. etwa Bayer 1986). Iwand hat in ausdrücklichem Widerspruch dazu (vgl. NW 2, 381) die theologia crucis als ein inhaltliches Erkenntnisprinzip begriffen: Die Lebenswirklichkeit kann nichts anderes sein
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III. Die Vermittlung von Wort und Wirklichkeit in der Predigt
An welchem Ort kommt das vielschichtige Verhältnis von Wort und Wirklichkeit nun konkret zur Wirkung? Es hat sich bereits gezeigt, daß Iwand hier zwar je nach dem Zusammenhang seiner Überlegungen Verschiedenes nennen kann: die Kirche, deren öffentliche Äußerungen, deren Predigt oder auch individuelle, theologische oder politische Aussagen. Iwand teilt jedoch die Auffassung der zeitgenössischen Theologie, daß die genannten Vermittlungsformen sämtlich als Verkündigung zu verstehen sind, und daß der exemplarische Fall der Verkündigung die kirchliche Predigt darstellt: Es ist zunächst die Predigt, in der das die Wirklichkeit richtende und eine neue Wirklichkeit verheißende Wort Gottes zur Sprache kommen soll. Aus der Art und Weise, in der Wort Gottes und Wirklichkeit sich grundsätzlich vermitteln, ergeben sich in erster Linie Ort, Gehalt und Gestalt der Predigt. Den einschlägigen homiletischen Ausführungen Iwands lassen sich dann nicht zuletzt weitere Züge seines Wirklichkeitsbegriffs entnehmen.
1. Die Kirche als Resultat des Wortes und als Ort der Predigt Iwands Ekklesiologie, von der hier nur einige Grundzüge zu skizzieren sind, gründet auf Luthers These, "daß die Kirche aus Gottes Wort entsteht und nicht umgekehrt, daß sie von Gott durch sein Wort geschaffen wird"53. Am Phänomen der Kirche wird damit die Eigenart des Wortes Gottes deutlich: Sie ist einerseits eine wirkliche und Wirkung entfaltende Größe, andererseits entspricht diese Wirklichkeit der Unverfügbarkeit des Wortes: Die Kirche ist im Grunde eine "ecclesia invisibilis". In einer Meditation über Apg 2,42-47, die lukanische Sicht der Urgemeinde, finden sich zur Realität der Kirche nähere Ausführungen 54 . Iwand betont zunächst gegen andere Ausleger, daß hier keine "idealisie-
als "der Weg des Kreuzes", "das Ergebnis unserer Fehler und Leidenschaften" (NW 2, 395. 397); sie erscheint als eine stets zu kritisierende und zu überwindende Größe. 53 Gollwitzer 1960, 183 unter Hinweis auf WA 2, 430: "Ecclesia enim creatura est Evangelii". 54 PM 365-370; zum 20.So. n. Trin. 1953.
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rende Darstellung" vorliegt, sondern der Text eine "sichtbare, durch die Einheit des Glaubens ausgezeichnete und bestimmte Versammlung der Gläubigen" (366) schildert. Die Gemeinde stellt eine erfüllte Verheißung dar, so daß hier "der bittere Riß zwischen 'Idee' und 'wirklicher Welt'" als geschlossen zu betrachten, genauer: zu glauben ist (367). So wahr die Inkarnation des Wortes in Jesus Christus Wirklichkeit ist, so muß auch eine solche Gemeindesituation als reale Möglichkeit angesehen werden. Zur Wirklichkeit dieser Gemeinde gehört es, daß der "ganze Mensch, der Mensch mit allem, was er ist und was er hat, [...] in die Gemeinde hineingenommen" ist; und die durch diese Menschen ausgelöste "Veränderung greift mitten hinein in die Realität der menschlichen Gesellschaft, auch in die ökonomische Realität der Welt" (367). Wieder besteht Iwand darauf, daß die Verkündigung des Wortes nicht nur die Person, sondern auch die Dinge verändert, die das "Verhältnis der Personen zueinander bestimmen" (ebd.). Die daraus resultierenden Tätigkeiten der Glaubenden, wie sie in V.42 beschrieben sind, stellen "grundlegende signa ecclesiae" dar; und deren vornehmstes ist wiederum die Wortverkündigung, insofern "unsere sonntägliche Predigt eigentlich nichts anderes bedeutet als dieses 'Festhalten und Sich-Bemühen' um der Apostel Lehre" (368). Auf diese Weise, durch das Handeln der Christen, entfaltet die Kirche die dem Wort zugeschriebene öffentliche Wirkung. Zu Hebr 10, 24f schreibt Iwand: "Die so gewonnene Gemeinschaft des Volkes Gottes kann nicht verborgen bleiben. Sie muß in all ihrer Neuheit - vielleicht auch Fremdheit - in der Welt in Erscheinung treten. [...] Hier hat einer am anderen die Aufgabe, ihn anzuspornen, daß gute Werke Realität werden, hier gewinnen nun auch die Versammlungen [...] Verbindlichkeit. Denn schließlich muß doch an einer Stelle dieser Welt offenbar werden, daß mit Jesus, mit seinem Tod und seiner Auferstehung, die neue Welt Gottes eingebrochen ist in dieses Dasein [...]" (157).
Je massiver jedoch die Realität der Kirche herausgestellt wird, umso mehr achtet Iwand auf der anderen Seite darauf, Wirklichkeit und Wirkung der Kirche nicht verfügbar, nicht als mögliches Resultat menschlicher Fähigkeiten und Absichten erscheinen zu lassen. So bemerkt er zu der Perikope l.Thess 1, 1-1055, die er als "Dokument der 'gemeindegründenden Predigt' (M.Kähler) des Apostels" auffaßt, von Paulus sei es
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PM 617-623; zum 14.So. n. Trin. 1958.
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gerade nicht als Erfolg seiner Predigtbemühung aufgefaßt worden, "daß an Menschen dieser Welt die Wendung stattfand zu dem lebendigen Gott"; vielmehr sei diese Wendung und Umkehr ihm "selbst überraschend" gewesen (618). Alles Handeln der Gemeinde muß darum den Charakter der Absichtslosigkeit haben, es hat sich von der Frage nach dem "moralischen bzw. sozialen Effekt" (619) frei zu machen. Entsprechend bestimmt Iwand auch den missionarischen Charakter der Kirche nicht als Folge ihres gezielten Tuns; sondern mit "ihrem Dasein in der Welt beginnt die Gemeinde auch auszustrahlen [...], zu wirken" (621). Die Unverfügbarkeit der kirchlichen Wirklichkeit und Wirkung für die an ihr beteiligten Menschen hat Iwand, im Anschluß an Luther, als Resultat der wesenhaften Unsichtbarkeit der Kirche interpretiert. In einer Auseinandersetzung mit "Luthers Kirchenbegriff" und seiner Wirkungsgeschichte56 arbeitet er heraus, daß die sichtbare Kirche zur unsichtbaren keineswegs in einem Verhältnis der zeichenhaften Entsprechung steht, so daß die Institution heilsvermittelnde Qualität bekäme. Damit wendet er sich explizit gegen die lutherische Ekklesiologie des 19.Jahrhunderts, wie sie etwa von F.J.Stahl oder W.Löhe entwickelt wurde. Der gegebenen Kirche steht die wahre, unsichtbare Gemeinschaft des Glaubens vielmehr prinzipiell "rivalisierend" gegenüber (GA II, 218), weil die von Menschen gemachte, "weltliche" Institution stets dazu tendiert, ihre Bindung an Wort und Glauben zu verdunkeln. Die Sichtbarkeit der Kirche, auf die Iwand um der Wirkung des Wortes willen so viel Wert legt, kann daher nicht an der kirchlichen Ordnung festgemacht werden57. Sie realisiert sich ausschließlich in einer permanenten, vom "Einbruch des Wortes" ausgelösten Dynamik des kirchlichen Lebens, die im wirksamen Zeichen des Predigtwortes (und der es besiegelnden Sakramente) ihren auf Glauben angewiesenen Ausdruck findet (aaO. 230f). Die Bestimmung der Kirche als creatura verbi führt Iwand zu einer ausgesprochen institutionskritischen Ekklesiologie5*. Daher richtet sich sein Protest nach 1945 immer wieder gegen die restaurati ven und konfes56
Vgl. GA Π, 189-239: "Zur Entstehung von Luthers Kirchenbegriff'; dazu NW 5, 235ff. So fordert Iwand in einer Meditation zu Phil 3, 17-21 den Kampf gegen eine Kirche, die sich mißversteht als "eine irdisch-praktische Realität [...], eine für die Welt, ihre Ordnung und Erhaltung, ihre sittliche Besserung und antirevolutionäre Sicherung gegebene Größe" (PM 275). Hier wird deutlich, daß die Kirchenkritik selbst politische Implikationen hat. 58 Auf die durchgehende "Institutionsfeindlichkeit" bereits der frühen Wort-Gottes-Theologie hat W. Marsch nachdrücklich hingewiesen (1970, 76ff). 57
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sionalistischen Tendenzen der kirchlichen Verfassungsentwicklung, so etwa in einer Glosse zur Auseinandersetzung um die Rolle eines protestantischen "Episkopats"59. Er kritisiert das Interesse, Bestand und Ordnung der Kirche durch Rekurs auf bestimmte "Heilstatsachen" und Lehrsätze kirchenrechtlich zu sichern. Durch eine solche institutionelle Machtausübung sieht er die "evangelische Freiheit" in der Wurzel gefährdet: "Gerade damit ist im Prinzip die Kirche dem Worte und seiner Verkündigung nebengeordnet. Evangelisch sein heißt aber [...], daß der Prediger und die Gemeinde nichts über sich haben als das reine Wort Gottes, den offenen Himmel seiner Offenbarung in Jesus Christus durch die alleinige Geltung der Heiligen Schrift [...]. Jedes Mehr an Sicherung ist hier ein Weniger" (aaO. 91).
Der Gefahr, daß das Wort Gottes in die Regie der Kirche genommen wird, kann wiederum nur dadurch entgangen werden, daß die Freiheit des Glaubens auch zur Norm kirchlicher Gestaltung wird. Darum insistiert Iwands auf einer unabschließbaren Bewegung der Kirche und ihrer Lehre "zwischen rechter und falscher Erkenntnis" (ebd.); die Dogmatik und mit ihr jedes kirchliche Lehramt haben keine andere Aufgabe, als immer wieder den "Zugang zur Schrift" offen zu halten (92). Die Freiheit des Wortes resultiert hinsichtlich der Kirche in deren nicht feststellbarer Gestalt. In je neuen Akten des Predigens und Bekennens muß sich die Kirche dem Wort Gottes aussetzen und so immer neu zur Kirche werden. Die Kirche als "creatura verbi" kann von Iwand offenbar nur als gleichsam spontaner Handlungszusammenhang gedacht werden, nicht als eine rechtlich verfaßte Organisation. Die Wirklichkeit der durch das Wort je neu konstituierten Kirche kommt dann eigentlich nur in der Verkündigung dieses Wortes zum Vorschein: Die Predigt ist zugleich Grund und Ausdruck der Kirche. Wird nach dem Ort gefragt, an dem Wort Gottes und Wirklichkeit sich tatsächlich vermitteln, so kann der bei Iwand recht häufig begegnende Rekurs auf die Kirche nur als Hinweis auf die kirchliche Predigt verstanden werden. Auch hinsichtlich der Wirklichkeit der Kirche zeigt sich damit die die bereits im letzten Abschnitt thematisierte Schwierigkeit. Iwands aktualistische, dem Bestehenden gegenüber äußerst kritische Ekklesiologie hin-
59 Iwand 1951/52. Die verschiedenen kirchenpolitischen Ereignisse, auf die Iwand dabei Bezug nimmt, müssen hier unberücksichtigt bleiben. Zu Iwands Kirchenkiitik vgl. etwa GA I, 138-172; NW 2, 243ff.371ff; dazu Kreck 1976.
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dert ihn, das Kriterium der "Freiheit des Wortes" analytisch auf die empirische Institution zu beziehen. Die Reduktion der Kirche auf das unverfügbare Predigtgeschehen schließt eine Reflexion der in der Institution selbst aufzufindenden Momente von Freiheit, Bewegung und Offenheit aus. Die Kirche ist zwar der Ort, an dem die Predigt ihre vom Wort begründete, kritische und konstruktive Wirkung entfalten soll; sie ist aber, als empirisches Phänomen, dezidiert nicht der Ort, an dem jene Wirkung der Predigt bereits entfaltet ist und anschaulich wird. Die kirchliche Institution kann dann erst recht nicht der Ort sein, an dem das Predigtgeschehen inhaltlich oder methodisch reflektiert und verantwortet wird. Wie die einzelne Predigt Wort und vorfindliche Wirklichkeit konkret vermittelt, läßt sich aus der Verfassung der Kirche in keiner Hinsicht herleiten, sondern nur aus einer näheren Bestimmung des Predigtwortes selbst.
2. Das Gesetz Gottes als Gehalt der Predigt Mit der Überzeugung, daß das Wort Gottes sich in erster Linie in der Verkündigung der Kirche, in der Predigt zur Wirkung bringt, teilt Iwand die opinio communis der zeitgenössischen Theologie. Die Vermittlungsfunktion, die der Predigt damit zufällt, sieht er jedoch allein dadurch gewährleistet, daß sie inhaltlich als Predigt des Gesetzes bestimmt wird60. Damit grenzt Iwand sich ausdrücklich ab von anderen Auffassungen der Relation von Offenbarung und Wirklichkeit (vgl. NW 2, 49ff): Wird das Wort Gottes als Gesetz gepredigt, so kann es nicht mehr als eine rein "innerliche" Mitteilung an die "religiöse Persönlichkeit" verstan60 Einschlägig sind hier insbesondere drei Texte: "Die Predigt des Gesetzes" (1934) in GA II, 145-170, vgl. dazu NW 6, 264 (Briefe vom 12.V. und vom 19.VIII.1934). - "Das Gebot Gottes und das Leben"; NW 2, 46-73, die Einordnung in der Edition von NW 2 legt ein Datum vor 1951 nahe. - "Die Predigt des Gesetzes"; NW 2, 74-90 (wohl um 1951). Die beiden letzten Texte sind von Iwand selbst nicht publiziert worden und tragen "die Spuren vielfältiger Umarbeitung an sich" (NW 2, 46), etwa durch alternative Schlüsse und ergänzende Passagen. - Einschlägig sind außerdem einige Meditationen über Texte der Bergpredigt, insbesondere PM 455-462 (zu Mt 5, 20-26). Diese und andere Texte hat J.Seim unter der Frage nach "Iwands Auslegung der Bergpredigt" eingehend diskutiert. Er kommt zu dem Urteil: "Es zeigt sich also bei Hans Iwand [...] ein erstaunlich kohärentes Verständnis der Bergpredigt" (1988, 323); ähnliches wird man für Iwands Auffassung der Predigt des Gesetzes im ganzen sagen können. - Die Vorlesung über "Gesetz und Evangelium" von 1936/37 (NW 4; vgl. Seim 1984) geht homiletisch über das in den genannten Aufsätzen Gesagte nicht hinaus.
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den werden. Es repräsentiert vielmehr Gottes Willen, der auf die weltliche Gerechtigkeit zielt. Umgekehrt gilt: Wird das Gesetz als Wort Gottes gepredigt, so kann nicht mehr von der "Eigengesetzlichkeit" der natürlichen oder gesellschaftlichen Verhältnisse geredet werden, deren "stumme" Geltung von der Predigt des Evangeliums unabhängig wäre. Gegen diese konservativ-lutherische Sicht betont Iwand: Die "Proklamation des Willens Gottes" vollzieht sich "nicht in der Überzeitlichkeit des in Stein gehauenen [...] Gesetzes, sondern in der Gegenwart des zu uns sprechenden Gottes" (GA Π, 145). Erst in der konkreten Predigt gewinnt der Wille Gottes Verbindlichkeit für die gesamte menschliche Wirklichkeit. Die Verbindlichkeit des Gesetzes ist allerdings mißverstanden, wenn sich der Prediger angesichts jener "blendenden Vollmacht, die ihm am autoritären Staat Auge und Herz bezaubert", zu einem "theokratischen Traum" verführen läßt (GA II, 147f)· Das gepredigte Gebot kann nicht auf eine ähnlich selbstverständliche Durchsetzung seiner Normen hoffen wie das staatliche Gesetz, weil es sich keiner Instanz verdankt, die mit weltlicher Macht ausgestattet wäre. Daß das göttliche Gesetz nur als Wort erscheint, ist vielmehr Ausdruck der Weltüberlegenheit Gottes. Gegenüber einem theokratischen Verständnis des Gesetzes betont Iwand die empirische "Schwachheit des Wortes", die der Schwachheit Gottes in der Inkarnation entspricht (aaO. 147). Auch die Predigt des Gesetzes ist für Iwand mithin christologisch begründet: Sie ist nur als Predigt des in Christus erfüllten Gesetzes möglich, als Predigt von der in Christus erschienenen und am Kreuz offenbarten "Gerechtigkeit Gottes". Auch die Gesetzespredigt Jesu selbst verdankt sich der Eigenart seiner Person: "[E]r ist die selige Mitte der Mühseligen und Beladenen, er steht im Mittelpunkt, darin liegt das 'ganz andere' der Situation. [...] Er, der sterbende und auferstehende Christus steht hinter dem 'Ich aber sage euch'" (GA II, 162). Auch die Predigt der Kirche gewinnt dadurch Verbindlichkeit, daß sie auf das in Christus gesetzte neue Verhältnis der Welt zu Gott zurückverweisen kann61. Iwand läßt keinen Zweifel daran, daß die Predigt gerade als Verkündigung des Gesetzes vom Evangelium bestimmt ist:
61 Vgl. das von Iwand gebrauchte Bild des Feldherrn, der allein durch seine den Sieg verbürgende Person die "an sich" ohnmächtige Heerschar zum Kampf rufen kann: "Das Gebot hat die Botschaft des Sieges zum Hintergrund" (NW 2, 78).
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Das gepredigte Gesetz Gottes "kann nicht nur dann und wann frohe Botschaft sein, es ist in seinem Ursprung frohe Botschaft: Wenn ich dein Gebot nicht hätte, wäre ich vergangen in meinem Elend. Luther nannte nicht zufällig das Evangelium die lex spiritualis." 62
Die Betonung der Gesetzespredigt hat dann vor allem den Sinn, die menschliche Realität als einen Handlungszusammenhang zu kennzeichnen: "[V]or dem Gebot Gottes sind wir immer die Handelnden und werden immer, ob wir wollen oder nicht, bei unseren Handlungen behaftet werden" (NW 2, 66). Auf diese Einsicht hin hat Iwand auch die Lehre vom unfreien Willen interpretiert. "Des Menschen Wille ist nur dann 'frei', wenn er ein von Gott und seiner Verheißung bewegter, von daher in seiner Richtung bestimmter Wille ist."63 Mittels der Predigt zielt das Wort Gottes auf den menschlichen Willen und damit nicht zuletzt auf sein die Lebenswirklichkeit veränderndes Handeln. Die Art und Weise, in der die Predigt des Gesetzes jene Wirklichkeit zugleich erschließt und verändert, hat Iwand vor allem an Texten der Bergpredigt entfaltet64. Dabei stößt man wiederum auf den argumentativen Dreischritt von Kritik, Distanz und Bewährung, der bereits oben als Charakteristikum von Iwands theologischem Verständnis der Wirklichkeit herausgearbeitet wurde. Die Predigt des Gesetzes macht zunächst die "Lage des Menschen vor Gott" offenbar65; sie führt zur Erkenntnis der Sünde: "Das Gesetz macht mir gerade darum, weil es so gut ist und so gut von mir denkt, das Dasein unerträglich." Indem etwa die Gebote der Bergpredigt die Bestimmung des Menschen zur Freiheit und Gotteskindschaft voraussetzen, fallt das faktische Versagen des Einzelnen um so schwerer ins Gewicht. Indem die Predigt das Gesetz als Gesetz Gottes entfaltet, wird diese Erfahrung jedoch in einen neuen Zusammenhang gestellt: "Das ist das Ziel des Gesetzes, die Wahrheit des Menschen und die Wahrheit Gottes so in eins zu fassen, daß niemand an sich selbst verzweifeln kann[,] ohne zugleich 62 GA I, 239. Es ist für Iwand fundamental, "daß auch das Gesetz Rede des gnädigen Gottes an uns und Führung eben dieses gnädigen Gottes zu seinem Ziel ist, wie das Evangelium. Ja, daß dieses immer in das Fundament aller Gesetzeslehre einzubauen ist, weil ohne das Evangelium das Gesetz nicht begriffen werden kann" (NW 2, 87). 63 NW 5, 90. Vgl. Hoffmanns Erläuterung: "Luthers These vom unfreien Willen entspricht der Einsicht in die Wirklichkeit des Menschen, wie sie sich von der Offenbarung Gottes aus darstellt" (1988, 85). 64 Vgl. dazu ausführlicher Seim 1988, 289ff.300f. 65 Dieses und die folgenden Zitate des Abschnittes aus GA Π, 153.
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an Gott zu glauben, und niemand an Gott glauben kann[J ohne an sich zu verzweifeln." Wird das Gesetz als ein von Christus proklamiertes und erfülltes gepredigt, so können seine Gebote zugleich als "Hilfe" verstanden werden, "Hilfe gerade dadurch, daß sie uns auf die Wirklichkeit anreden, in der wir stehen, und uns von ihr frei machen" (GA 11,169). An den Antithesen der Bergpredigt demonstriert Iwand, daß die im Verbot enthaltene Schilderung der Gesetzesübertretung den Hörenden in einen befreienden Abstand zu sich selbst zu rücken vermag: "[D]as Wort Jesu [wendet] deinen Blick auf dich selbst, und du siehst dich, wie du dich sonst siehst im Spiegel der begangenen Tat, der unaufhebbaren Schuld. Du siehst dich in seinem Wort von der Tat gezeichnet, noch ehe sie geschah. Sein Wort hat dir die Reue ins Herz geschrieben und dich dadurch vor der Tat behütet" (aaO. 167).
Die Autorität der Person Jesu, in der Gottes Wille und Gottes Versöhnung präsent sind, verbindet sich mit der treffenden Schilderung der Wirklichkeit, und zwar so, daß diese im Wort des Gebotes vorweggenommen und zugleich relativiert wird66. "Iwand will darauf hinaus, daß das Gesetz, wie Jesus es in der Bergpredigt aufnimmt, die Menschen nicht gefangennimmt, sondern freisetzt" (Seim 1988,290). In konstruktiver Hinsicht zielt die Predigt des Gesetzes für Iwand dahin, "daß Gottes Gesetz und des Menschen Wille nicht mehr Feinde sind, daß die Frage nach dem Wie der Tat beantwortet ist durch das Geschenk der Tat" (GA II, 166). Das jeweilige Handeln ergibt sich gleichsam von selbst aus der Erkenntnis in die von der Versöhnung bestimmte eigene Wirklichkeit. Mit dieser Argumentation wird die Lehre vom "usus theologicus legis", daß "das Gesetz Erkenntnis bringt und nicht Tat" (aaO. 160), homiletisch zugespitzt: Die vom Gesetz bewirkte Selbsterkenntnis geschieht im Vollzug der Predigt; und dieser setzt zugleich das Werk des Glaubens frei: "Das Gesetz predigen hieße dann nichts anderes als die Gnade Gottes verkündigen, die den Glauben nicht ohne Werke läßt."67 Von Bedeutung ist schließlich, daß die Predigt des Gesetzes nicht nur Ausgangspunkt der kritischen und konstruktiven Wirkung des Wortes ist, sondern zugleich dessen Ziel zum Ausdruck bringt: "Verstehen wir,
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Vgl. die Zusammenfassung dieser Argumentation in PM 457f (zu Mt 5, 20ff). GA II, 166; vgl. die exemplarische Durchführung dieses Gedankens in Iwands Auslegung von Mt 6, 19ff (PM 81ff); s.o. Π.3 und dazu Seim 1988, 300ff. 67
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daß wir mit dem Tun der Gebote das Ja Gottes an die Welt in der Welt real werden lassen, daß wir damit das Ja Gottes zum Menschen weitergeben, Tat werden lassen?" (NW 2, 62) Das dem Glauben in der Wirklichkeit gebotene Tun kann als Weitergabe des göttlichen Wortes und damit wieder als Predigt aufgefaßt werden. Iwands Auskünfte über die Wirkungen der Gesetzespredigt können dann nicht zuletzt reflexiv verstanden, sie können auf die Predigtarbeit selbst angewandt werden: Auch die Predigtarbeit ist theologisch als ein Handlungszusammenhang zu beschreiben, in dem eine bestimmte Glaubenserkenntnis zur Kritik, Relativierung und Verwandlung der individuellen Wirklichkeitserfahrung führt. So erklärt es sich, daß Iwand bei der Reflexion der Gesetzespredigt immer wieder auf den Prediger stößt: "Der Mensch, der zuerst ganz allein vom Gesetz getroffen wird und getroffen werden muß, ist der Prediger des Gesetzes selbst. Das ist die ungeheure Anfechtung des Predigers, 'das Geheimnis seiner Erfahrungstheologie', daß er selbst der erste ist, der mit dem Wort des Gesetzes zusammenstößt."68
3. Die menschliche Rede als Form der Predigt Die kirchliche Bedeutung der Predigt wie ihre inhaltliche Bestimmung als Predigt des Gesetzes verbindet Iwand mit einem verstärkten Interesse an der Menschlichkeit des Predigers. Daß der Prediger selbst ein angefochtener und bedrängter Mensch ist, stellt für die Vermittlungsfunktion der Predigt kein Hindernis, sondern eine entscheidende Voraussetzung dar. Damit wendet Iwand sich ausdrücklich gegen eine Wort-Gottes-Theologie, die den "dialektischen", unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch und damit die Unmöglichkeit menschlichen Predigens zum Ausgangspunkt nimmt. Das Menschsein des Predigers ist für Iwand keine dem Wort Gottes entgegenstehende, allererst zu überwindende Größe, vielmehr gehört es zur Eigenart dieses Wortes selbst, daß es nur in Form menschlicher, subjektiv betroffener Rede zur Wirkung kommt.
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G A II, 164; vgl. auch aaO. 150ff; NW 2, 80f.
In besonderer Klarheit hat Iwand dies in einer ausführlichen Besprechung des ersten Halbbandes von Barths "Kirchlicher Dogmatik"69 zum Ausdruck gebracht. Bei aller Zustimmung zu Barths Ansatz äußert er gerade dort Bedenken, wo die "Problematik der Lehre vom Worte Gottes nach ihrer 'existentiellen' Seite hin" (106) thematisch wird. Diese "existentielle Seite", die Frage nach der Existenz des Predigers wird von Iwand insbesondere in zwei Argumentationen zur Geltung gebracht. (a) Er kritisiert zum einen Barths Vorschlag, die Dogmatik als "Reflektion über die Verkündigung" dieser so nachzuordnen, daß die Verkündigung als "actus purus" der Offenbarung Gottes erscheint, während die Dogmatik diesem "actus purus" das Material ihrer Arbeit entnimmt (vgl. 93). Für Iwand kann die Eigentümlichkeit des Wortes nicht in formaler Weise, durch die Unverfügbarkeit des jeweiligen Predigtgeschehens zum Ausdruck kommen. Das Wort Gottes ist "actus purus" nicht "im Sinne des kommenden und gehenden Moments, in dem die Verkündigung als zeitliches Ereignis geschieht", sondern gewinnt seine Aktualität, wie sie im "reformatorischen 'ubi et quando visum est Deo'" zum Ausdruck kommt, aus seinem spezifischen Inhalt. Das Wort ist Ausdruck der "praedestinatio Dei" und deswegen ein von menschlicher Wirklichkeit und menschlichem Handeln unabhängiger Offenbarungsakt Gottes70. Iwands Lösung der dogmatischen Bestimmung des Wortes vom Akt der Verkündigung soll zugleich verhindern, daß dieses Handeln "als ein innerzeitliches Geschehen aus dem Zusammenhang der geschaffenen Welt und ihrer geschichtlichen Zeit ausgegliedert wird" (95). Die Predigt ist Ort der Präsenz des Wortes in der "Ordnung von Raum und Zeit" (ebd.) und zugleich Ausdruck einer menschlichen Wirklichkeit, nämlich des Glaubens des Predigers. Die konkrete Verkündigung muß darum der dogmatischen Arbeit gleichgeordnet werden. Beider Möglichkeit resultiert aus ihrer Bezogenheit auf eine vorgängige "Glaubensentscheidung" (94); theologische Lehre und Predigt bilden eine Art Zirkel, in dem die Dogmatik selbst "ein Faktor in der Verkündigung" ist (ebd.). Lehre wie
69 KD 1/1, 1932; Iwands Rezension erschien 1935 und trug den Titel "Jenseits von Gesetz und Evangelium?". Seitenzahlen im Text nach dem Abdruck in GA I, 87-109. 70 Alle Zitate aaO. 94. Es ist deutlich, daß Iwand hier bereits in ähnlicher Weise argumentiert wie später in seinem Aufsatz zum reformatorischen "pro me" (Iwand 1954): Die Form der Offenbarung Gottes ist nicht Ausdruck einer bestimmten anthropologischen Gegebenheit, sondern ergibt sich aus ihrem eigenen Inhalt, der Gnadenwahl Gottes in Christus.
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Predigtarbeit stellen Akte des Glaubens dar und sind darin zugleich ein besonderes, beschreibbares menschliches Tun. (b) Grundsätzlicher noch sind Iwands Einwände gegen Barths Unterscheidung von Menschenwort und Gotteswort. Das menschliche Wort der Verkündigung hat auf diese Weise stets ein "gebrochenes" und problematisches Verhältnis zum "Wort Gottes an sich" (102), womit für Iwand die Einheit des Wortes und damit die Glaubensgewißheit, im verkündigten Wort tatsächlich Gott zu erfahren, gefährdet ist. Stattdessen schlägt er eine christologische Bestimmung des Wortes vor. Die Inkarnation ist die notwendige Bedingung der Predigt: "Wo Gott menschlich zu uns redet, da gerade redet er zu uns als unser Gott und anders können wir ihn nicht aushalten. Das ist mehr als ein Mittel, das er braucht, als eine Hülle, in der er sich verbirgt, [...] sondern es ist unser Sein, das er zu seinem eigenen macht."71
Aus der christologischen Bestimmung des Wortes folgert Iwand seine menschliche Gestalt. Die Situation des Menschen vor Gott findet ihren Ausdruck dann in seiner Haltung gegenüber dem Wort der Predigt (106): "Der Mensch erfährt Gottes Wort nicht anders als eine, in seinen Augen belanglose Rede eines Menschen von Gott. Anders 'erfährt' der Mensch das Wort Gottes nie. Aber das ist eben sein Urteil!" Indem der Mensch die Predigt nur als menschliches, als von außen zu beurteilendes Wort auffaßt, verkennt er dessen Grund im Christusgeschehen. Als Wort Gottes "außer Christus", als Wort "an sich" kann auch die Predigt nur als Bestätigung der menschlichen Selbstverurteilung coram Deo erscheinen, als "Verdammungsurteil Gottes" (vgl. 103). Der Unglauben, der sich "je schon frei gemacht [hat] von Gott" (106), bestätigt das göttliche Urteil. Der Glaube hingegen realisiert sich darin, daß er das menschliche Predigtwort als Wort Gottes erfährt; indem "das Wort Gottes das urteilende Wort wird und der Mensch unter dieses Urteil tritt", kommt der Glauben zu seiner Gewißheit (107). In der Schwachheit des Wortes erkennt der Glaubende "seine eigene, wahre, menschliche Gestalt" (110) als Sünder und als Gerechtfertigter. Iwand faßt zusammen: "Beides, die Selbsttäu-
71 AaO. 105. Iwand weist ausdrücklich darauf hin, daß sich diese Überlegungen der spezifisch lutherischen Christologie verdanken, die der menschlichen Natur Christi und der "communicatio idiomatum" mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als die reformierte Tradition (vgl. 103).
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schung des Menschen im Wort und die Selbsterkenntnis durch das Wort ist darin begründet, daß uns das Wort in menschlicher Gestalt begegnet" (ebd.). Die Predigt entfaltet ihre Wirkung eben dadurch, daß sie selbst in der Form derjenigen Kommunikation begegnet, welche die Lebenswirklichkeit bestimmt. Durch Iwands inkarnationstheologische und zugleich im Grunde an der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium orientierte Bestimmung der Predigt erhält deren "existentielle" Komponente eine konstitutive Bedeutung. Relevanz für die Wirklichkeit der Welt erhält die Predigt nur im Zusammenhang der besonderen Wirklichkeit des Predigers. Dies läßt sich etwa an einer Meditation über 2.Kor 2,14-17 zeigen, die "gerade die Situation des Amtes und der Verkündigung" thematisieren will72. Iwand legt den Text als Zeugnis des Apostels aus, "daß sein ganzes Dasein vor Gott und den Menschen darin beschlossen liegt, daß er ein Redender ist [...] und wie er es ist, was es heißt, das Wort Gottes reden zu müssen" (184). Für den Prediger muß die Situation der Verkündigung zunächst als rein passiv erscheinen. Gleichwohl kommt seiner Existenz große Bedeutung zu: "Wer zum Zeugen der Offenbarung berufen ist, kann seinem eigenen Offenbarwerden nicht entgehen. Gott steht hinter ihm und vor ihm, hinter ihm als der, der ihn sendet, vor ihm als der, dessen Angesicht auf ihn gerichtet ist. So, in dieser Exponiertheit und Enge, muß der stehen, der Gottes Wort redet [...]" (185; vgl. V.17b).
Iwand beschreibt die Predigtarbeit als ein Geschehen, das sich ausschließlich zwischen dem Prediger und Gott abspielt. Für die Ausrichtung des Wortes Gottes ist darum die Freiheit des Predigers gegenüber allen Aspekten der konkreten Predigtsituation konstitutiv. Die Predigt darf nicht dem "eigenen Denken, Fühlen und Erregtsein" entstammen; und ihr Gegenüber "ist weder die Welt und ihre Mächtigen [...] noch die Gemeinde und ihre großen und kleinen Repräsentanten" (186). Hier ist das für die Homiletik Barths bestimmende Motiv aufgenommen, die Souveränität des Wortes vor der Vereinnahmung durch menschliche Zwecke zu schützen, wie sie sich in einem absichtsvollen Eingehen auf die Situation ausdrücken würden73.
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PM 183-189; zum 4.So. n. Michaelis 1949. Zitat: 183. Vgl. PM 185: "Jede andere Rück-Sicht, jede andere Motivierung der Rede, jede andere Vor-Sicht, jedes andere Gegenüber des Redenden ist Verrat." 73
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Die Konsequenz dieser existentiellen "Exponiertheit" des Predigers besteht darin, daß Iwand auch die Wirkung der Predigt unmittelbar mit dem Prediger verbindet. Die Unabhängigkeit gegenüber der Situation versetzt ihn zugleich in die Lage, diese Situation entscheidend zu bestimmen. Die paulinische Mission geschieht, "um an diesem Mann und seiner Rede die Welt in Gerettete und Verlorene zu scheiden. [...] Paulus als Prediger ist das Ende der Mitte [...] - ist dieses Entweder-Oder, ist das Aufbrechen einer Kluft, die kein Sterblicher schließen kann" (188). Die "Entscheidung" der Welt gegenüber der Offenbarung fällt an der Person des Predigers selbst. Bereits 1935 hat Iwand diese hervorgehobene Stellung durch einen Rückgriff auf die Kategorie des Priesters verdeutlicht. "Der Prediger steht eben nicht wie der Lehrer vor der Klasse und unterrichtet sie über das, was sein und was nicht sein soll, [...] sondern er, der Bote des Evangeliums, weiß sich unter den Sündern, zu denen er gesandt ist, immer als der [...] erste. Entweder werden in ihm alle getroffen oder keiner wird getroffen. Sein Priestertum ist ein Stück des Hohenpriestertums Christi, der Fleisch und Blut annahm, damit er in allem seinen Brüdem gleich würde, denn wie soll der Prediger denen helfen, zu denen er gesandt ist, wenn er nicht mitleidet, was sie leiden, und nicht mitversucht wird, worin sie versucht sind" (GA1,165).
In der Konfrontation mit dem Wort erkennt der Prediger sich selbst als angefochtenen Sünder; seine Predigt vollzieht sich dann so, daß sie diese Erfahrung exemplarisch und insofern stellvertretend, priesterlich vorführt. Daß die Predigt Rede eines Menschen über seine Situation vor Gott ist, erscheint auch hier als ihre fundamentale Bestimmung. Die Frage nach Iwands homiletischem Wirklichkeitsbegriff spitzt sich damit auf die Person des Predigers zu: Nur in der Vermittlung durch das predigende Subjekt vermag das Wort seine umwälzende und erneuernde Kraft zu entfalten. Auf dieses Subjekt fällt das volle Gewicht der Aufgabe, die Wahrheit der Offenbarung mit der "wirklichen Welt" zu vermitteln. Die Formulierungen, die Iwand für diese These findet, wie etwa die kühne Parallelisierung von Prediger und Priester, machen indes deutlich, daß hiermit eine Überlastung des Predigers droht. Das folgende Unterkapitel wird sich darum der Frage zuwenden, wie Iwand die subjektive Erschließung der homiletischen Situation des näheren beschreibt, und wie er dabei die Person des Predigers vor prinzipieller Überforderung zu bewahren versucht.
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IV. Die Vermittlung von Wort und Wirklichkeit im Subjekt des Predigers
Für Iwand ist die kirchliche Predigt der Ort, an dem das Wort Gottes die "wirkliche Welt" aufhebt und verwandelt. Dieser Auszeichnung der Predigt liegt zugrunde, daß sie Ausdruck einer bestimmten, exemplarischen Erfahrung des Predigers ist. Die konkrete Predigt ist nichts anderes als die Entfaltung einer individuellen Begegnung mit dem Wort, in der sich der Glaube des Predigers konstituiert. Die Rekonstruktion von Iwands homiletischem Wirklichkeitsbegriff muß darum nun die Eigenart dieser subjektiven Wirklichkeit des Glaubens zum Thema machen. Diese Wirklichkeit hat Iwand als einen Prozeß beschrieben, der auf Mitteilung an andere drängt; und die Predigt kann als exemplarische Form dieses dem Glauben eigenen Bekenntnisses verstanden werden (1). Auch die gleichsam spezialisierte, berufliche Arbeit des Predigens hat Iwand aus der Struktur des Glaubens entwickelt (2). Dabei ist es insbesondere die Erfahrung der Anfechtung, der der "Zeuge" auf Grund seines Berufes immer wieder ausgesetzt sein wird (3). Schließlich ist zu fragen, ob Iwand unter diesen Voraussetzungen die konkrete Predigtarbeit, und damit nicht zuletzt die homiletische Erschließung der Wirklichkeit, zureichend und realistisch beschreiben kann (4).
1. Das Bekenntnis als Ziel des Glaubensgeschehens Die Genese und Struktur des Glaubens hat Iwand am ausführlichsten in einer fundamentaltheologischen Vorlesung mit dem Titel "Glauben und Wissen" entfaltet74. Hier wird eine existentielle Bewegung reflektiert, die durch das Gegenüber von göttlicher Wirklichkeit und menschlicher Subjektivität konstituiert ist. Diese Dynamik erläutert Iwand mehrmals mittels einer Auslegung von Joh 6, 69, dem johanneischen Petrusbekenntnis: "Wir haben geglaubt und erkannt, daß Du der Heilige Gottes bist". Kon-
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Die Manuskripte Iwands zu dieser mehrfach gehaltenen Vorlesung sind in NW 1, 27-216 aus dem Nachlaß publiziert, ohne daß jedoch die Zuordnung einzelner Passagen zu bestimmten Entstehungszeiten deutlich würde. Thematisch verwandt sind auch verschiedene Passagen aus der Vorlesung "Theologie als Beruf' von 1951 (vgl. NW 1, 228-276). - Die Seitenzahlen im Text des folgenden Abschnitts beziehen sich auf den o.a. Band.
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stitutiv für den Prozeß der theologischen Arbeit wie für die Existenz des Glaubenden sind dann drei Momente, nämlich der Glaube im engeren Sinne, das Erkennen sowie das Bekenntnis. Dabei kommt dem Glauben als der Annahme des göttlichen Wortes "pro me" die Priorität zu. Im Glauben übernimmt der einzelne die im Erwählungshandeln Gottes bereits gefallene Entscheidung (vgl. 27f.241) als Bestimmung der eigenen Existenz. Iwand schildert ihn deshalb vorwiegend als ein Empfangsgeschehen, er "ist in seiner Wurzel kein Erkennen, sondern eher ein Erkanntsein" (243), ein "Folgen, Hören, Gehorsam" (31)75. Das dem Hören und Vertrauen gegenüber "aposteriorische" Erkennen wird sich daher stets als "Nach-denken" des durch den Glauben Vorgegebenen vollziehen. Damit wird Iwands Tendenz verständlich, systematisch-theologische Themen in der Form der Auslegung biblischer Texte zu bearbeiten. Gleichwohl hebt Iwand hervor, daß dem Glauben das Erkennen mit Notwendigkeit folgt, denn die anonyme "fides informis" muß zu einer ihrer selbst bewußten und ihrer selbst gewissen Überzeugung werden: "Ich weiß, woran ich glaube" (29). Als "Individuation des Glaubens" verbürgt das Erkennen, daß der Glaubende nicht auf fremde Autorität angewiesen bleibt, sondern ein unvertretbares "Subjekt, sein Ich erhält" (30). Im Erkennen ist dieses Subjekt nun auf eine bestimmte Wirklichkeit bezogen, über die es wahre Aussagen machen kann: Das Erkennen "begründet die Wahrheit der Glaubensaussage" (242) und zugleich deren "Weltbezug" (25). Dabei ist es zunächst Gott selbst, der in seiner Offenbarung erkennbar geworden ist: "Und eben dies meinen wir, wenn wir von Dogma reden. Die Sache ist heraus, sie ist offenbar geworden und die Welt wird nun direkt mit ihr konfrontiert" (33). Mit der Erkenntnis Gottes ist jedoch stets die Erkenntnis einer neuen Wirklichkeit verbunden: "Gottes Welt im Unterschied zu der mir so bekannten, um das Ich denke oder Ich bin zentrierten Menschenwelt. Das ist die andere Seite dieser Welt, ihre verborgene, unsichtbare, ungreifbare - aber darum keineswegs irreale Seite" (248). Das dem Glauben folgende Erkennen er-
75 Diese Beschreibung ist offenbar Ausdruck der Anthropologie des "unfreien Willens": "Jesus bedeutet also für den Glaubenden eine nicht mehr rückgängig zu machende Entscheidung, bedeutet, daß er damit die freie Wahl seines Lebensweges aus seiner Hand an den zurückgegeben hat, der der Herr seines Lebens ist" (28).
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schließt die vorfindliche Realität als Ort von Gottes Handeln. So betont Iwand: "In Wahrheit ist der Realist derjenige, der Gott findet" (39). Es ist die Erkennbarkeit des Glaubensinhalts, die die "Freiheit und Unabhängigkeit" dieses Inhalts vom Glaubenden, von seiner subjektiven Verfassung verbürgt (41); der Inhalt des Glaubens "hört auf, mein Glaube zu sein, und wird zum Erweis des wahren Sachverhalts" (250). Von hieraus bestimmt Iwand die Struktur der theologischen Sätze: "Diese Sätze gelten, auch wenn ich - als empirisches Subjekt - sie irgendeinmal nicht mehr glauben, nicht für wahr halten sollte. [...] Sie stehen als solches fest" (35). Die theologischen Aussagen beziehen sich auf ein Geschehen, über dessen existentielle Bedeutung sie Auskunft zu geben haben, das aber von diesem Existenzbezug nicht konstituiert wird. Diese spezifische Inhaltlichkeit der Theologie bezeichnet Iwand mit Luther als "assertio": "Die Dogmatik (Glaubenslehre) hat sich in assertorischen Aussagen zu vollziehen. Ihre Aussagen dürfen nicht Meinungen über die Sache bieten, sondern müssen die Sache bieten, die der Glaube meint" (279; vgl. 35ff). Als Assertionen werden die Sätze der Theologie wie des Glaubens allerdings zugleich bestreitbar. "Wir müssen das vor anderen Menschen rechtfertigen (Gespräch!). Wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß wir dort den handfestesten Zweifeln begegnen. Wir müssen aber weiter uns darauf gefaßt machen, daß diese ihre Zweifel in unserem Herzen und Verstand einen Bundesgenossen finden" (250).
Indem sich das Resultat der Erkenntnis als assertio vom Subjekt löst, wird zugleich die Vorläufigkeit der subjektiven Erkenntnis deuüich. Weil die geglaubte und erkannte Welt Gottes stets eine verborgene bleibt, kann sie im Erkennen des Subjekts nicht vollständig bestätigt werden. Iwand hat darum die Frage nach Gott als den legitimen Ausgangspunkt des dogmatischen Denkens bezeichnet, weil "der Glaube selbst der Anfang und nicht das Ende des Fragens nach Gott ist" (114). Gegenüber der Offenbarung Gottes ist unser "ganzes Leben [...] reine Frage"; der Ort des Glaubens und Erkennens ist der Ort "unserer Not, unserer faktischen Ratlosigkeit"76. Das Erkennen vollzieht sich stets als ein "Aufstieg aus
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A a O . 97; Hervorhebungen getilgt.
71
der Nacht ins Licht" (119) und damit als eine Bewegung, in der der Glaubende stets von neuem der Wirklichkeit Gottes gewiß werden muß: "So wird das Erkennen nun auch zu dem Weg des persönlichen Suchens und Fragens nach Gott. Jeder Satz kann Antwort und Frage sein. In jedem Satz begegnen sich Menschen von beiden Seiten her, einmal die, welche gefunden haben, und dann die, welche aus diesem Gefunden-Haben neues Suchen gewinnen. Jedes Haben wird wieder ein Entbehren, [...] jede Frage eine Fixierung meiner Not, jede These ein Hilfe gegenüber der absoluten Aporie" (251).
Glaubensaussagen wie theologische Sätze lassen sich nicht nur verstehen als assertorische Präsentation des Glaubensgegenstandes, sondern zugleich als Einladung, nach der Wirklichkeit dieser Sache zu fragen. Mit dieser Dialektik konstituiert das Verhältnis von Glauben und Erkennen nicht nur einen jeweils individuellen Prozeß, sondern auch die kommunikative, soziale Verfassung des Glaubens. Im Hinblick darauf bestimmt Iwand die Sätze des Glaubens nun als Bekenntnis: Der Prozeß des Glaubens zielt auf eine öffentliche Mitteilung des Erkannten. Dabei hat das Bekenntnis einerseits objektiven Charakter; es ist das gemeinsame Bekenntnis der Kirche, das auf der Praevenienz des Glaubensgegenstandes beruht (vgl. 253-256). Sein gebundener, liturgischer Charakter weist auf den transsubjektiven Wahrheitsanspruch seiner Aussagen hin; "nur so hat es die Kraft, von der Person weg auf die Sache, auf die Offenbarung und Erscheinung Gottes auf Erden zu verweisen" (254). Von größerem Interesse ist für Iwand jedoch das "subjektive, persönliche Element des Bekennens, wo nun auch von mir die Rede ist" (257). In dieser Hinsicht erscheint das Bekenntnis zunächst als Sündenbekenntnis, als "Confessio". Im Licht der vom Glauben erkannten Sündenvergebung kann die "Tiefe der menschlichen Verlorenheit und Schuld" (264), die zugleich erkannte und überwundene Wirklichkeit der eigenen Sünde allererst thematisch werden: "Mit der Konfession betreten wir den Boden der faktischen Erfahrung, hier darf nun der Mensch zu Worte kommen nach der Maßgabe dessen, was in ihm werden und ans Licht kommen möchte" (260). Die im Bekenntnis formulierte, individuelle Erfahrung ist durch ihre Vorläufigkeit, ihre Unabgeschlossenheit gekennzeichnet: "Mit der Confessio ist [...] das 'passim' des Glaubens gegeben. Schritt für Schritt 'komme' ich hier weiter. [...] Hier gibt es Fortschritt und Rückschritt, Sieg und Niederlage. Hier befinden wir uns in dem unabsehbaren Feld 72
unabsehbarer Anfechtungen, insofern als jeder Sieg für mich morgen zur Anfechtung und jede erreichte Station morgen für mich zur Versuchung werden kann, stehen zu bleiben" (264). Das Bekenntnis formuliert nicht mehr als einen Ausschnitt jenes Prozesses; es ist zugleich assertio und, indem es um die Unabgeschlossenheit der Erkenntnis weiß, Hypothese, vorläufige Auskunft, "die jeweils mit dem Standpunkt meines Glaubens zusammenhängt" (251). Es ist diese dialektische Struktur, die das Bekenntnis des Glaubens auf einen Dialog, auf Ergänzung und Bereicherung durch andere drängen läßt: In der gegenseitigen Mitteilung der Erkenntnis "gelangen wir miteinander in die Aussprache über das Tiefste, was Menschen bewegen kann, ihr Fragen und Suchen nach Gott, ihr Zeugnis und Gefundenhaben, ihr Mitteilen und Mitarbeitersein" (251). Die Wirklichkeitserschließung des Glaubens vollzieht sich in einem kommunikativen Prozess, in dem die Vielfalt individueller Bewegungen zwischen Glauben und Erkennen zum Ausdruck kommt. Möglich wird dieser Dialog dadurch, daß das Bekenntnis "nichts als Rede" ist, "ohne Zweck, sondern ganz und gar in der Gegenwärtigkeit dieses so gnädigen, dieses alles verstehenden und alles vergebenden Gottes" (259). In dieser absichtslosen und individuellen Form erschließt das Bekenntnis jedoch zugleich die allgemeine Situation "coram Deo", weil der Bekennende, "der so zur Wahrheit seiner selbst erwachte und erweckte Mensch [...], indem er von sich selbst redet, doch zugleich von etwas redet, was alle Menschen verstehen und kennen" (261). Das subjektive Bekenntnis der eigenen Verlorenheit und Erwählung ist zugleich Grundlage für "eine neue Sprache des Verstehens"77, der Verständigung über den gemeinsamen Glauben und dessen Wirklichkeitsbezug. Die Predigt ist dann nichts anderes als die hervorgehobene Form eines Beitrags zu diesem Gespräch der Glaubenden; und die theologische Arbeit des Predigers ist deijenige Ort, an welchem der Prozeß des Glaubens exemplarisch und zugleich mit größtmöglicher Öffentlichkeit zum Ausdruck kommen soll. Im Rahmen dieser Bestimmung hat Iwand die Aufgabe des Predigers durchgehend entfaltet.
77 Ebd.; vgl. ähnlich GA II, 192: "Die theologische Aussage über das peccatum originale ist zwar das Bekenntnis eines einzelnen, aber sie transzendiert das Individuelle, Besondere und offenbart im einzelnen das allgemeine Sein des Menschen vor Gott."
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2. Der theologische Beruf zwischen Lehre und Predigt Die Frage, wie der Beruf des Theologen und damit der Beruf des Predigers sachgemäß zu beschreiben ist, hat Iwand von Anfang bis Ende seiner akademischen Arbeit beschäftigt78. Dabei versteht er den Beruf, im Anschluß an Luther, generell als Ausdruck einer Berufung durch Gott, durch die "der Mensch in die Verantwortung für ein Ganzes gestellt ist" und damit zugleich die Sinngebung seiner Existenz erfährt (1953a, 565). Der Beruf verdankt sich stets der Erfahrung einer transpersonalen, das ganze Leben betreffenden Wahrheit. Insbesondere die wissenschaftlichen Berufe können dann nur sekundär als Handeln begriffen werden: "Wo immer wir auf die Wahrheit stoßen, werden wir in irgendeiner Weise festgelegt, wird uns die freie Entscheidung über unser Leben aus der Hand genommen" (aaO. 228). Kriterium der Berufstätigkeit ist die sachliche, auftragsgemäße Orientierung an einer biographische Einheit stiftenden Erfahrung. Der theologische Beruf ist nun insofern paradigmatisch, als der Gottesbezug, der andere Berufe nur indirekt auszeichnet, hier ausdrücklich zum Gegenstand der Berufstätigkeit wird. Theologische Arbeit geschieht für Iwand nur dort sachgerecht, wo sie sich als Auslegung der göttlichen Wahrheit, als "Lehre von Gottes Wort" versteht79. Der theologische Beruf vollzieht sich als ständige Durchsetzung dieses Wortes in der Person des Theologen, so daß dessen Praxis als "Einheit von Wort und Tat, von Glaube und Leben, von Wahrheit und Wirklichkeit" beschrieben werden muß (GA I, 84). Auch hinsichtlich der Berufsarbeit ist Iwand an einem Verhältnis von Wort und Wirklichkeit interessiert, das sich notwendig durch die Existenz vermittelt, ohne jedoch in dieser aufzugehen80.
78 Einschlägig ist zunächst ein Vortrag mit dem Titel 'Theologie als Beruf', in dem Iwand 1929 die Grundsätze dargelegt hat, nach denen er im Königsberger "Lutherheim" und an der dortigen Fakultät theologisch ausbildete (NW 1, 219-227). Den gleichen Titel gab er 1951 einer fundamentaltheologischen Vorlesung in Göttingen (aaO. 228ff). Von Bedeutung ist auch ein Aufsatz von 1935 über die "Sachlichkeit der theologischen Arbeit" (GA I, 75-86); dazu ein Vortrag "Über das Verhältnis von Theologie und Kirche", den Iwand 1954 zur Hundertjahrfeier des theologischen Stifts der Universität Bonn hielt (aaO. 202-213). 79 NW 1, 220. Zu der daraus resultierenden Auffassung der Theologie als Wissenschaft und ihrer enzyklopädischen Organisation vgl. G A I, 62-74. 209-211; Iwand 1953 und dazu die Skizze bei K.G.Steck 1980, 38f. 80 Ahnlich hat E.Thaidigsmann festgestellt: "Anders freilich als beim Existentialismus ist für Iwand das Ziel nicht die Einheit der Existenz. Die Einheit von Erkennen und Tun, von
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Im Interesse der Rückbindung der Praxis an die vorgängige Erfahrung der Wahrheit Gottes hat Iwand mehrmals betont, daß die entsprechende Berufung sich auch zeitlich am Anfang der Berufsarbeit vollziehen muß, nämlich im Zusammenhang des wissenschaftlichen Studiums der Theologie. Der universitäre Unterricht ist der Ort, an dem der Theologe seine "Berufsgewißheit" (NW 1, 224) gewinnen soll. Die Frage nach der Theologie als Beruf spitzt sich für Iwand darum zunächst in der Frage nach "den theologischen Prinzipien des akademischen Unterrichtes" zu (aaO. 225). Die entsprechenden Ausführungen lassen zugleich sein berufliches Selbstverständnis in besonderer Prägnanz erkennen. 1929 hat Iwand den "theologischen Lehrer" durch die Aufgabe der Stellvertretung gekennzeichnet: "Der Begriff stellvertretenden Handelns ist der Kernpunkt der Gemeinschaft zwischen dem theologischen Lehrer und seinem Hörer [...]" (NW 1, 225f). Im Beruf des Lehrers verbinden sich zeitliche und sachliche Aspekte der Stellvertretung, insofern der Lehrer dem Schüler die Wahrheit des Wortes präsentiert, das dieser als Prediger später selbst verkündigen soll: "Er redet den Hörer von dessen Zukunft her an und setzt ihn so zu dieser ins Verhältnis, zu seiner Zukunft, vorgestellt als Beruf der Verkündigung des göttlichen Wortes. Auf diese Weise ist es möglich, den Zuhörer zu der Wahrheit ins Verhältnis zu setzen [...]. Stellvertretend stellt der Lehrer die Einheit von Gegenwart und Zukunft im Leben seines Schülers her. Je unvollkommener er die Gegenwart ansieht, und je vollkommener er die Zukunft glaubt, desto treffender wird er lehren. Stellvertretend übernimmt er alle Not und Ratlosigkeit dieses bevorstehenden Lebensweges, aber stellvertretend glaubt er auch an das Ziel, denn dieser Glaube ist die Voraussetzung seines derartigen Handelns" (NW 1,225).
Die Bedeutung des Lehrers für seine Schüler besteht offenbar darin, daß er ihnen in seiner Person die Wahrheit Gottes zugänglich macht. Für den seiner Berufung ungewissen Schüler ist diese Wahrheit eine noch ausstehende, die ihm nur durch die Vermittlung des Lehrers präsent wird. Als defizienter, "ratloser" ist der Schüler Repräsentant der Welt, die Gott zwar vergessen möchte, aber doch "nicht von Gott und seiner Liebe loskann [...]. Die Gottgebundenheit der Welt, diese unsichtbare, vielmehr unverstandene Gebundenheit, sie garantiert uns die Berufsgewißheit in der Welt" (aaO. 224). Die theologische Lehre und Berufstätig-
Theorie und Praxis in der Existenz des Zeugen steht vielmehr für ein anderes ein: für die Einheit von Wahrheit und Wirklichkeit im Ganzen [...]. " (1981, 141)
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keit ist Ausdruck einer bestimmten, immer schon vom Wort geprägten Verfassung der Wirklichkeit, auf die der Beruf zielt81. Die vom Lehrer vermittelte Wahrheit ist allerdings auch für diesen selbst eine stets ausstehende. Auch der Lehrer "forscht und fragt" lediglich, "wo und wie das Wort zu finden ist, das Wort der Wahrheit und des Lebens, das die Gemeinde von denen erwartet, die er zu solchem Befragen und Suchen anleitet" (GAI, 212). Der akademische Lehrer ist selbst auf die Predigt angewiesen. Im Rahmen der universitären Gemeinschaft erscheint dann der Schüler für den Lehrer als derjenige zukünftige Prediger, "aus dessen Verkündigung er selbst seinen Glauben schöpfen könnte" (NW 1, 226). Die akademische Arbeitsgemeinschaft ist mithin durch eine wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnet. Der Lehrer vertritt den Schülern gegenüber deren berufliche Zukunft als Prediger, die "ihnen an seiner nach Gottes Wort verlangenden Gegenwart präsent" wird (ebd.). Auf diese Weise können sich die Studierenden am "Bild eines zu erhoffenden Dienstes" orientieren (GA I, 211). Als Geschehen wechselseitiger Stellvertretung bringt die akademische Gemeinschaft, wie Iwand sie hier beschreibt, das oben skizzierte, dialektisch-dialogische Verhältnis von Glauben und Erkennen zum Ausdruck. Der Glaube des Lehrers an die noch nicht erfahrbare Wahrheit des Wortes bewegt ihn zu wissenschaftlich-theologischen Erkenntnisbemühungen, die vom Schüler wiederum nur zu rezipieren sind, wenn er sie auf seinen eigenen, ebenfalls nach der Wahrheit fragenden Glauben bezieht. Das akademische Arbeiten wird von Iwand als ein Prozeß gemeinsamen Suchens verstanden (vgl. GA I, 71-73): In der Erkenntnis der "Not" und "Unvollkommenheit" der Wirklichkeit bewährt und konkretisiert sich der Glaube und wird zum Anstoß weiteren Forschens und Lehrens82. Faktisch hat Iwand das soziale Geschehen der theologischen Lehre im Modell der Predigt beschrieben: Der akademische Unterricht hat selbst Predigtcharakter, indem eine objektive, erkennbare Wahrheit durch die Person des Lehrers mit dem Ziel vermittelt wird, die Person des Schülers zu bestimmen. Als Modellsituation des theologischen Berufes hat Iwand deswegen in seinen späteren Texten weniger das Studium als vielmehr 81 Vgl. aaO. 223: "Die Welt - wirklich die Welt, oder besser, die Menschen, in denen die Welt wirklich wird, ist unser [,] der Theologen Beruf [...]." 82 Wie sich dies in Iwands eigener Lehrtätigkeit vollzogen hat, hat D.Schellong (1979, 392) beschrieben.
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die Predigt selbst gesehen: "[NJicht das Katheder, sondern die Kanzel ist der Punkt, auf den Lehren und Lernen bei uns ausgerichtet sein sollen"83. Das Predigtgeschehen ist nicht nur der Ort, an dem jedem Glaubenden seine Berufung vermittelt wird, sondern zugleich stellt es das sachgemäße Ziel jener Auslegung dar, als die sich die wissenschaftliche wie die praktische Berufsarbeit des Theologen vollzieht. Entsprechend ausführlich hat Iwand sich darum mit der Eigenart des Predigtberufs beschäftigt.
3. Der Beruf des Predigers als Anfechtung Iwand hat den Beruf des Predigers von zwei Seiten aus beschrieben. Zum einen ergibt sich, gleichsam objektiv, die Notwendigkeit eines menschlichen Zeugen aus der Eigenart des Wortes: Als das inkarnierte und am Kreuz offenbarte Wort Gottes kann es sich der wirklichen Welt nur in einer machtlosen, aber gerade so zum Urteil des Glaubens herausfordernden menschlichen Rede vermitteln (s.o. III.3). Zum anderen, aus der subjektiven Perspektive, ist die berufliche Tätigkeit des Predigens der exemplarische Fall des Handelns aus Glauben, das sich als Bekenntnis ergibt aus dem unabschließbaren, individuellen wie sozialen Prozeß zwischen Glauben und Erkennen (IV. 1), und das als ein berufliches Handeln das gesamte Leben des Theologen bestimmen wird (IV.2). In einer Reihe von Predigtmeditationen hat Iwand beide Perspektiven in der Explikation des "Zeugen" verbunden: Dessen Erfahrung, wie sie an Johannes dem Täufer oder an Petrus (Lk 5, Iff) anschaulich zu machen ist84, wird zur Norm für das berufliche Selbstverständnis des Predigers. Auch in diesen Texten, die nun unmittelbar homiletisch ausgerichtet sind, hebt Iwand zunächst die Notwendigkeit des Zeugen hervor, denn nur in menschlicher Form kann das Wort dort wirksam werden, "wo die 83 GA I, 21 lf; vgl. NW 1, 228: "Indem wir die Theologie als einen Beruf verstehen, ist damit ein Doppeltes gesagt: einmal, daß eine Berufung in ihr und zu ihr erfolgt, die sich aus dem Gegenstande der Theologie selbst ergibt, und zweitens, daß das Ziel dieser Berufung einen bestimmten Dienst vor Augen hat, der seine Mitte in der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus innerhalb der Gemeinde besitzt." 84 Vgl. zu Johannes dem Täufer besonders PM 420-424 (zu Joh 1, 19-28; zum 4.Advent 1954) und PM 431 (zu Joh 1, 6-8 im Rahmen einer Meditation über Joh 1, 1-14 zum 1. Weihnachtstag 1954). Auf diese beiden Texte stützt sich auch J.Gandras in seinen Ausführungen zum "Zeugendienst als analogielose[n] Beruf' (1975, 74ff). Von Bedeutung ist aber auch die Meditation zu Lk 5: PM 447-454; zum 5.So. n. Trin. 1955.
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Menschen im Alltag ihres Lebens zu Hause sind" (PM 450). Zugleich verbürgt die Vermittlung des Wortes durch ein menschliches Gegenüber seine bleibende Fremdheit und Unverfügbarkeit: "[W]eil niemand das sehen und hören kann aus sich selbst, darum müssen es die Boten bringen, hintragen bis in die letzten Winkel der Erde."85 Nur in der Vermittlung durch das Subjekt des Predigers kann das Wort sowohl wirksame Präsenz wie kritische Distanz zur Situation des Menschen entfalten. Wiederum wird jedoch die Bedeutung des menschlichen Zeugen nur so hervorgehoben, daß er zugleich relativiert wird. Zu Joh 1, 14 schreibt Iwand: "Zeugendienst ist ein von sich weg-, ein über sich hinausweisender Dienst. Erst im Zeugendienst kommt die echte, die dem Wort und der Sache gemäße Objektivität zur Darstellung" (PM 431). Die Existenz des Zeugen muß als Ausdruck einer "Objektivität" und Öffentlichkeit des Bezeugten beschrieben werden86. Aus dieser Fremdbestimmung zieht Iwand den radikalen Schluß, daß die Wirklichkeit des Predigenden selbst nur als Hinweis auf ein "Loch" (420), als "Negation" eigenständiger Realität in Betracht kommt: "Und nun fragt es sich, [...] ob nicht diese Negation so wesentlich zu dem Amt der Verkündigung von Jesus Christus hinzugehört, als Form zum Inhalt, als die notwendige, unvermeidliche, menschliche Existenzweise der sich selbst erweisenden Realität Gottes gegenüber, als der leere Rahmen, in dem das Bild selbst erscheint, als Stimme, in der das Wort selbst laut wird" (421).
Die spezifische berufliche Wirklichkeit des Predigers erscheint Iwand ausschließlich als Unterordnung unter eine transsubjektive Wahrheit und damit als ein "Nein" zu einer eigenständigen Existenzweise (vgl. 422). Das Zeugnis ist ohne eine fundamentale Ohnmachtserfahrung des Zeugen nicht denkbar, in der sich die Anthropologie der "theologia crucis" konkretisiert87. Diesen Sachverhalt hat Iwand mehrmals an der urchristlichen Verfolgungssituation expliziert, wie sie sich etwa in der matthäischen
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AaO. 308; Hervorhebungen getilgt. Vgl. PM 421: "Im Zeugnis wird die Wahrheit des Bezeugten von der Person dessen, der sie bezeugt, abgelöst, wird 'objektiv', öffentlich gültig. Im Zeugnis überführt der Zeuge die Zweifelnden, Ungläubigen, Widersprechenden von der an und für sich gültigen Wahrheit des Bezeugten." 87 S.o. Π.2; vgl. PM 76: "Das Kreuz ist das rechte Wegzeichen, an das sich die 'Gesandten' dieses Herrn halten sollen." Vgl. auch aaO. 310f. 86
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Sendungsrede spiegelt88. Die Existenz des Predigers als "theologus crucis" konkretisiert sich in einem bestimmtem Schicksal, nämlich im "Untergang" des Boten: "Es geht nicht um den Menschen, sondern es geht um Gott und seinen Sieg über den Menschen, weil nur so der Mensch im ewigen Sinne gerichtet und gerettet werden kann. Voran steht das Zeugnis, welches aus dem Leiden seiner Boten erwächst. Dieses Zeugnis lebt und wirkt, auch dann und gerade da, wo der Mund des Boten durch äußere Gewalt geschlossen wird. Vielleicht soll uns das daran erinnern, daß wir unseren Untergang nicht verwechseln mit dem der Sache Gottes. Sie siegt, indem wir erliegen. [...] Sie setzt sich durch in unheimlicher Kraft, indem wir ohnmächtig, verfemt und verlassen untergehen."89
Das Schicksal der Zeugen ist für Iwand deswegen von Interesse, weil es die Eigenart des bezeugten Wortes veranschaulicht. Gegenüber dem "Sieg Gottes" kann es für die menschliche Existenz nur das Schicksal des Untergangs geben, das sich zwar von außen, durch den gewaltsamen Widerspruch der Welt vollzieht, aber seinen inneren Grund doch in der Überlegenheit Gottes selber hat: Die Ohnmacht der Prediger ist die notwendige Kehrseite der Macht Gottes90. Die prinzipielle Ohnmacht der Zeugen stellt darum zugleich den Grund für die Wirksamkeit des Wortes dar. Von den Jüngern "soll (greifbar und freilich auch angreifbar) eine vom Heiland der Welt gelenkte Bewegung ausgehen" (PM 79), denn am Leiden der Boten wird die Macht und Herrlichkeit Gottes sichtbar. Diese Erfahrungen des Martyriums (im doppelten Sinne) deutet Iwand in eindrucksvoller Weise: "[D]a, wo kein Laut mehr nach außen dringt, wo die Zeugen stumm gemacht werden, wo Kirche und Staat, Staat und Kirche, beide gemeinsam [...] zu Gericht sitzen, um das 'écrasez Γ infame' mehr oder weniger lautlos, mehr oder weniger abschreckend in die Tat umzusetzen - es gibt äußerst feine und geräuschlose Methoden, das zu tun da gerade, wo das Kreuz Christi wächst, ist die Kraft der Auferstehung" (310).
88 Vgl. PM 76-81 über Mt 10, 16-22 zum l.So. n. Trin. 1947; PM 306-312 (gleicher Text) zum l.So. n. Trin. 1952. Beide Beiträge hat G.den Hertog unter der Fragestellung "Kreuzestheologie in den Predigtmeditationen Hans Joachim Iwands" untersucht (Hertog 1988), und zwar zusammen mit zwei Meditationen über 2.Kor 1,3-7, die unten ebenfalls herangezogen werden. 89 PM 311; vgl. aaO. 573f; GA I, 118.185 u.ö.. 90 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch K.Hüttel v.Heidenfeld: "Zum Zeugnis gerufen ist nicht der Mensch mit seiner Leistung, sondern der unterlegene und überwundene Mensch [...]. Mir scheint, Iwand hat sich den Prediger als einen beschädigten Menschen vorgestellt, dessen Stärke im Mangel und dessen Kraft seine Schwachheit ist" (1979, 296).
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Offensichtlich zielt Iwand mit solchen Ausführungen nicht primär auf die aktuelle Situation der Prediger. G.den Hertog hat vielmehr darauf hingewiesen, daß hier Erfahrungen des Kirchenkampfes verarbeitet werden91. Durch die kreuzestheologische Interpretation wird jene historische Situation als eine notwendige Erfahrung begreiflich und zugleich generalisiert: Dieser "Untergang" war nicht etwa ein extremer Sonderfall kirchlicher und theologischer Existenz, sondern hier kam exemplarisch zum Ausdruck, worin der Beruf des Zeugen besteht92. Es ist nun, auch im Blick auf die Wirkungsgeschichte Iwands, von größter Bedeutung, daß diese Erfahrungen von "Negation" und Untergang in den Predigtmeditationen nicht selten als "Anfechtung" bezeichnet werden. Damit stellt Iwand die spezielle Erfahrung der Predigtarbeit in den Kontext einer Beschreibung des Glaubens, die der lutherischen Frömmigkeitstradition entstammt93. Jener Begriff umschreibt die Erfahrung, die jeder Glaubende im Gefolge des Versuches macht, das von ihm Erkannte an der eigenen wie an der intersubjektiven Realität zu bewähren: "Ich bin gerecht - aber was begegnet, was antwortet diesem Glauben, wenn ich eintrete in mich? Was würde laut werden, wenn die anderen, die mich sehen und beurteilen, reden würden. Welch ein Hohngelächter in mir und bei den anderen! Das ist die Anfechtung dieses Glaubens! Genauso mit allem anderen: wenn wir der Welt zusagen, daß sie erlöst ist, daß sie Frieden hat, daß sie ihre Schuld bekennen soll [...] - welch ein Hohn und Spott von allen Seiten [...]" (NW 1, 264f).
Die erfahrbare Wirklichkeit scheint den Glauben in jeder Hinsicht ad absurdum zu führen, und zwar deswegen, weil sie als Resultat eigenmächtigen Handelns von Menschen aufgefaßt werden muß. Indem das Wort den Glaubenden an die Wirklichkeit der Sünde verweist und damit in die Anfechtung, wird dieser Glaube auf seinen eigentlichen Gegenstand, die Wirklichkeit Gottes, zurückverwiesen. Die Anfechtung wird von Iwand somit als eine Glaubenserfahrung gedeutet, die für den oben (IV. 1) skizzierten Prozeß von Glauben, Erkennen und Bekennen konsti-
91
Vgl. Hertog 1988, 228f.230f.246f. Zum weiteren Kontext vgl. auch Ludwig 1988. An anderen Stellen bezieht Iwand diese Deutung auch auf die Erfahrungen der Gemeinde: "In dieser bedrängten, verfolgten, verkannten, verachteten Gemeinde hält Gott die Welt, so wie er sie einst gehalten hat, in Jesus Christus" (GA I, 86). Vgl. auch PM 307 u.ö.. 93 Zur zentralen Bedeutung des Anfechtungsbegriffs in der Theologie Luthers vgl. zuletzt Beintker 1978, 695ff; Bayer 1988, 49ff. 92
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tutiv ist. Es ist eben diejenige Erfahrung, welche jenes Geschehen zu einem prinzipiell unabschließbaren Prozeß macht. Die zuletzt zitierte Passage zeigt allerdings, daß Iwand die Anfechtung, die Bestandteil jeder Glaubenserfahrung ist, zugleich als eine spezifisch berufliche Erfahrung versteht. Es ist eben die Aufgabe des Predigers, der Welt Erlösung und Vergebung zuzusprechen, und im Gefolge dieser Aufgabe wird der beschriebene Widerstand der Erfahrung zum Problem. Diesen gleichsam homiletischen Aspekt der Anfechtung hat Iwand anhand von 2.Kor 1, 3ff beschrieben94: Die "Bedrängnis", auf die Paulus hier zurückblickt, interpretiert er als ein "tiefes Irrewerden an seinem Beruf', als eine "Erschütterung der missionarischen Gewißheit". Es sei im Zuge seiner missionarischen Tätigkeit geschehen, so vermutet Iwand, daß "die ganze Nutz- und Sinnlosigkeit seines Laufens und Verkündigens ihm vor Augen getreten sein mag, die Vergeblichkeit und Bruchstückhaftigkeit seiner ganzen Existenz" (PM 626). Diese Erfahrung des Mißerfolgs läßt sich nun in zweifacher Hinsicht als theologisch notwendig begreifen. Zum einen kann der Prediger gerade so und nur so der Gemeinde "die Schwachheit des Menschen, die Aporie in der Existenz der Erlösten, an seiner eigenen Lage ihnen vordemonstrieren" (624). Die Anfechtung übt den Prediger in die Perspektive auf die Wirklichkeit ein, die für jeden Glaubenden konstitutiv ist. Indem die Predigt die angefochtene und darin exemplarische Wirklichkeit des Predigers zum Ausdruck bringt, vermag sie die Wirklichkeit der Gemeinde theologisch zu erschließen. Zum anderen bewahrt die Anfechtung den Prediger davor, die Wirkung seines Tuns falsch zu beurteilen. 1935 hat Iwand die Gefahr der Selbstüberschätzung als Anfechtung durch den "theokratischen Traum" des Predigers geschildert: "Weil die Wirklichkeit des Gesetzes ihm auch im Staat und in der gesellschaftlichen Ordnung vor Augen steht, und zwar eines Gesetzes, das nicht nur Wort ist, sondern auch Macht, das nicht nur das Herz, sondern auch den Leib trifft, [...] darum bricht von daher die Verzweiflung über die Nutzlosigkeit seines Auftrages, die Bedeutungslosigkeit seines Redens über ihn hinein" (GA1,147).
94
PM 623-627; zum I6.S0. n.Trin. 1958.
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Die Anfechtung ergibt sich aus dem Kontrast zwischen der Verheißung der Predigt, Wirkung bei den Hörern zu haben, und der Erfahrung des Predigers, dem sich diese Wirkung nicht an der Predigt zeigt, sondern in den politischen Machtverhältnissen. Die Anfechtung, die sich an der Wirkung des eigenen Handelns entwickelt, hat die Funktion, den Prediger auf ein anderes berufliches Selbstverständnis zu orientieren. Leitend darf nicht die Erwartung eines bestimmten Effekts sein, sondern jene Unterordnung unter die Macht des Wortes, die sich als Untergang, als Sterben des Zeugen darstellt95. Die Deutung der beruflichen Existenz des Predigers mittels des Anfechtungsbegriffs nimmt in Iwands homiletischem Entwurf offenbar eine zentrale Stelle ein. Denn diese Deutung hat angesichts der Erfahrung persönlicher Unzulänglichkeit wie des politisch-gesellschaftlichen Kontexts, der die Wirkung der Predigt in Frage zu stellen scheint, einen nicht unbeträchtlichen Entlastungseffekt: Werden diese Erfahrung als Anfechtungen interpretiert, so erscheinen sie als Ausdruck eines bestimmten göttlichen Handelns: "Das ist die Arbeit, die Gott an uns verrichtet, damit wir geschickte Werkzeuge sind in seiner Hand" (GA I, 82). Die Erfahrung der Anfechtung erscheint für Iwand als ein notwendiger Bestandteil des theologischen Berufes; und das Ziel der hier betrachteten Texte besteht offenbar darin, diese Erfahrung für den Prediger verbindlich zu machen. C.Bizer hat Iwand darum vorgeworfen, vom Prediger "eine spezifische Gestalt gläubiger Vorleistung zu verlangen", nämlich eine vorgängige "Selbstpreisgabe" gegenüber dem Wort Gottes96. In der Tat kann Iwand nicht selten so verstanden werden, daß die Anfechtung die Voraussetzung der Predigtarbeit bildet: Das Wort "bleibt, weil es ein Wort des Lebens ist, nur bei denen, die in Finsternis und Todesschatten sitzen" (PM 120). Mit solchen Sätzen scheint sich eine widersprüchliche Argumentation zu ergeben: Der Glauben, der sich im Verlauf der Predigt-
95 Vgl. die Interpretation von Lk 5, Iff (PM 454): "Entscheidend ist, daß der Jünger als 'Menschenfischer' für seine eigene Person durch eine Erfahrung hindurch muß, nicht nur einmal, sondern immer wieder, die Tod und Leben, Sterben und Auferstehung in sich schließt, und daß er in dieser allein das wird, was er seiner Berufung nach sein sollV 96 Bizer 1972, 104f. Ähnlich hat auch W.Gräb davon gesprochen, daß der Prediger von Iwand "auf diejenige (religiöse) Disposition seiner selbst verpflichtet" wird, die dem Wort Gottes und darum dem konkreten Text "im Prozeß der Predigtvorbereitung zur Durchsetzung verhilft" (Grab 1988, 245).
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arbeit durch die Erfahrung des Wortes einstellen soll, wäre in Gestalt der Unterordnung unter das Wort bereits Voraussetzung jenes Tuns. Der Anschein einer Aporie löst sich auf, wenn die systematische Stellung der Anfechtung als einer Erfahrung im Prozeß des Glaubens bedacht wird. Innerhalb dieses Prozesses erscheint die Anfechtung stets als Reaktion auf das Widerfahrnis des Wortes, das den Glaubenden mit seiner Wirklichkeit konfrontiert. Die Anfechtung, auch die Anfechtung des Predigers ist ein notwendiges, aber doch sekundäres Element der unabschließbaren Bewegung, in der sich jeder Glaubende befindet. Die von Bizer kritisierten Passagen sind als Ausdruck dieser exemplarischen Erfahrung zu verstehen und nicht als Auskünfte über Vorbedingungen oder methodische Schritte der konkreten Predigtarbeit. Sind Iwands Texte zur Predigerexistenz so zu lesen, so zeigt sich allerdings zugleich das eigentliche Problem seiner Homiletik: Diejenigen Bedingungen, welche die berufliche Situation des Predigers von der jedes Glaubenden unterscheiden, kommen kaum in den Blick. Zwar ergibt sich die besondere Berufung des Predigers unmittelbar aus dem Verhältnis des Wortes zur Wirklichkeit: Er ist der notwendige Zeuge, in dessen angefochtener Existenz das Wort zur Wirklichkeit kommt. Aber indem dieses Geschehen einzig und allein als ein - freilich exemplarischer - Glaubensprozeß erscheint, bleibt die spezifische Aufgabe des Predigers als Prediger doch unterbestimmt. Dieses Problem zeigt sich auch dort, wo Iwand die konkreten Vollzüge der Predigtarbeit zum Thema macht.
4. Predigtarbeit als Bewegung des Predigers Fragt man nach der Art und Weise, in der Iwand die konkrete Predigtarbeit beschreibt, so stößt man durchgehend auf den Begriff der Textauslegung. Immer wieder schärfen die GPM-Vorworte ein, daß der biblische Text einziger Ausgangspunkt, "Quelle" (PM 591) und Inhalt der Verkündigung zu sein habe, denn die Verheißung der Begegnung mit dem Wort ist ausschließlich an den Text gebunden: "Der Buchstabe der Schrift ist nun einmal diese Stelle, wo wir anklopfen dürfen und müssen, und ohne die Mühe um den Buchstaben wird die Gabe des Geistes nicht empfangen" (PM 94, vgl. 195). Homiletische Arbeit erscheint als das "Bemühen, das Wort Gottes im Zeugnis der Schrift so vernehmlich zu machen, 83
daß es uns eint, uns erweckt aus aller Trägheit des Denkens und Tuns und uns sehend macht mitten in der Finsternis" (530): Nur indem der Text auf das in ihm enthaltene Wort Gottes hin ausgelegt wird, kann die menschliche Wirklichkeit so verändert werden, wie es dem Wort entspricht. Die enge Zuordnung von Wort, Text und dessen Auslegung hat Iwand mit der Metapher der Bewegung verdeutlicht97. Dem Wort Gottes ist eine souveräne Bewegung von Gott zu den Menschen eigentümlich, die sich in der Gestalt der Schrift spiegelt. Iwand verweist auf das Nebeneinander zweier Testamente, die das Reden Gottes in der Dynamik von Verheißung und Erfüllung erscheinen läßt98; dazu zeigt sich in den biblischen Texten "das Nebeneinander von Buchstabe und Geist, von Schrift und Wort". Die Bibel erscheint als ein "Buch, das immer wieder aufhören möchte, ein Buch zu sein" und Verkündigung werden will. Die sachgemäße Auslegung besteht dann in der Aufnahme dieser Dynamik: "Jede Auslegung der Heiligen Schrift will uns in das Ganze dieser Bewegung hineinnehmen, die nichts anderes ist als die Bewegung, der Aufbruch des Volkes Gottes zu dem ihm gesteckten Ziel." Der Text, der sich der Bewegung des Wortes verdankt, wird in dieser Sicht zum Subjekt seiner eigenen Auslegung. Die Predigtarbeit vollzieht sich so, daß "der Text selbst die Zielsetzung bestimmt, in der die Predigt zu gehen hat"99. Iwands Interesse besteht offenbar darin, die Predigtarbeit möglichst eindeutig als einen Prozeß zu beschreiben, der ausschließlich von der Bewegung des Wortes bestimmt wird. Sie geht zwar, wie jede theologische Arbeit, nach bestimmten methodischen Regeln vor, sie wird sich aber nicht als Ergebnis dieses Vorgehens begreifen dürfen: "Wir werden die philologischen, historischen, philosophischen Methoden anwenden müssen - andere haben wir nun einmal nicht -, um immer wieder zu sehen, daß sie uns nur bis zu der Grenze führen, wo sie [...] von der der Bibel eigentümlichen Sache zerbrochen werden. So wird die Auslegung immer zugleich ein Ereignis sein. [...] Der Ereignischarakter der Auslegung ist Verkündigung" (NW 1,274).
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Diese Metapher hat Bizer zum Ausgangspunkt seiner Interpretation von Iwands Meditationsauffassung gemacht (1972, 91ff). 98 Alle folgenden Zitate des Absatzes finden sich NW 1, 272f. 99 PM 591; vgl. aaO. 94 sowie 61, wo Iwand sein Predigtideal nennt: "Es könnte ja auch einem Pfarrer gegeben sein, den Text so zu erläutern, daß er als solcher sich dem Hörer erschließt [...]."
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Als Auslegung muß die Predigtarbeit, ungeachtet aller Methoden, im Prinzip als ein Widerfahrnis begriffen werden, denn sie ist eben deijenige Vorgang, in welchem der Auslegende zum Glauben an das Wort Gottes gelangt, auf das im Text hingewiesen wird. Die Auslegung ist ein "Ereignis", zu dessen sachlichem Gehalt der Auslegende selbst nichts beitragen kann, sondern in dem sich seine Unterwerfung unter das im Text angezeigte Wort Gottes vollzieht. Aus diesem Grunde ist Iwand auch an der Einheitlichkeit der Auslegung interessiert. Alle Aspekte der beruflichen Arbeit werden nur dann richtig begriffen, wenn sie als Elemente der Selbstdurchsetzung des Wortes im Prediger erscheinen. In diesem Rahmen diskutiert Iwand auch die Frage nach dem Situationsbezug der Predigtarbeit. Eine Trennung von historischer Auslegung und dem Bezug auf die Gegenwart erscheint ihm für das homiletische Verfahren nicht legitim: "Ob man [...] zwischen einer an sich richtigen explicatio und einer auf einem anderen Blatt stehenden, aus irgendwelchen zeitlichen, psychologischen, materiellen und geistigen Nöten stammenden bzw. auf sie zu beziehenden applicatio unterscheiden darf? Wahrscheinlich wird, wo die applicatio nicht stimmt, auch die explicatio nicht stimmen. Denn auch die Richtung, in der das Wort Gottes uns anspricht, liegt in ihm selbst [...]" (PM 94).
Der Wirklichkeitsbezug ist für die Predigtarbeit zwar insofern konstitutiv, als das Wort selbst in der Bewegung zur Wirklichkeit begriffen ist. Die explizite Berücksichtigung der gegenwärtigen Wirklichkeit erscheint für Iwand jedoch in dem Moment problematisch, wo sie ein eigenständiges, nicht in den passiv-einheitlichen Prozeß der Auslegung integriertes Moment zu sein beansprucht. Die Predigt zielt gewiß auf die "applicatio", aber doch nur so, daß der Prediger selbst mittels der Auslegung eines konkreten Textes in die dialektische Bewegung von Glauben und Erkennen hineinkommt, in deren Verlauf zugleich mit dem Text auch die menschliche Wirklichkeit erschlossen und öffentlich formuliert wird. Der Blick auf Iwands spärliche Bemerkungen zur Methodik der Predigtarbeit macht nochmals auf die Schlüsselstellung aufmerksam, die der predigende "Zeuge" in der homiletischen Vermittlung von Wort und Wirklichkeit einnimmt. Im Prozeß der Predigt ist er gleichwohl nur als eine exemplarische "Negation" von Bedeutung, als der "leere Rahmen, in dem dann das Bild selbst erscheint" (PM 421). Damit wird die an der "theologia crucis" gewonnene negative Wirklichkeitsperspektive (s.o. 85
II.3/4) am Prediger als dem exemplarisch Glaubenden konkretisiert: Von Interesse ist die Existenz dieses gleichsam beruflich Bekennenden als eine solche, die ihre Bestimmung ganz durch das Wort Gottes empfängt und diesem gegenüber als defizient, als leidend und angefochten in Betracht kommt. Auch hinsichtlich des Predigers kann Iwand nicht berücksichtigen, daß die gegebene Wirklichkeit auch als Ort der Verheißung zu sehen ist, daß sie also für die Entstehung des Glaubens nicht zuletzt konstruktive Bedeutung hat. Durch die Ausblendung dieser gleichsam konservativen, an der Vorgegebenheit der Wirklichkeit orientierten Perspektive bleibt jedoch nicht allein die Menschlichkeit des Predigers, sondern zugleich seine spezifische, berufliche Wirklichkeit unterbestimmt. Wenn am Ende alle methodischen Auslegungsregeln zerbrechen, wenn sie irrelevant werden angesichts des unverfügbaren Ereignisses, in dem das Wort zur Wirkung kommt, dann sind die Bedingungen und Möglichkeiten, die die pastorale Predigtarbeit steuern, faktisch der Reflexion entzogen. Damit wiederholt sich die Schwierigkeit, die bereits hinsichtlich der - von Iwand bestrittenen - kirchlichen Verantwortung der Predigt skizziert wurde (s.o. III. 1): Indem die Predigt ausschließlich als Resultat des souveränen Wortes Gottes erscheint, kann der Beitrag des menschlichen Handelns zu ihrem Vollzug nicht beschrieben und im Grunde nicht verantwortet werden. Gleichwohl hat Iwand sich gezwungen gesehen, einen beträchtlichen Teil seiner Arbeitskraft einem Unternehmen zu widmen, das nun doch auf die Unterstützung der konkreten pastoralen Predigtarbeit zielt. Abschließend ist darum zu fragen, welchen Sinn, welche Notwendigkeit die GPM im Rahmen einer Homiletik gewinnen, die einerseits die souveräne Bewegung des Wortes Gottes betont, das mittels der Predigt auf die effektive Veränderung der Wirklichkeit drängt, und in der andererseits die subjektive Wirklichkeit des Predigers als der zugleich konstitutive und zutiefst problematische Durchgangspunkt dieser Wirkung erscheint.
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V. Der Beitrag der Predigtmeditationen zur Erschließung der Wirklichkeit
Die Rekonstruktion von Iwands theologischem Wirklichkeitsverständnis hat ein bestimmtes strukturelles Gefälle erkennbar werden lassen: Von der Frage nach der Wirklichkeit, die - als Ort der Wirkung des Wortes ein entscheidendes Kriterium der Predigt darstellt, gelangt Iwand stets zur Frage nach derjenigen Praxis, in welcher diese Wirkung sich entfaltet. So rückt nicht nur das Handeln der Glaubenden und damit die Ethik in den Vordergrund, sondern auch die spezifische Praxis der Predigt. Die Reflexion der wirklichkeitsbestimmenden Praxis wiederum besteht zu einem guten Teil in der Explikation des subjektiven Verfassung desjenigen, der diese Praxis vollzieht. Auch dies gilt für den Prediger wie für jeden von der Bewegung des Wortes bestimmten Menschen. Die vorliegende Untersuchung folgt diesem Gefälle, wenn sie abschließend nach dem Beitrag fragt, den das homiletische Verfahren der Predigtmeditation zum Wirksamwerden des Wortes in der "wirklichen Welt" leisten soll. Denn für Iwand stellen die GPM ein Verfahren bereit, das die Praxis der Prediger im Grunde nur dadurch bestimmt, daß es deren Subjektivität zu prägen sucht. So kommt gerade in der praktischtheologischen Gattung der Predigtmeditationen das Anliegen zum Ausdruck, das Iwand mit der Frage nach der "wirklichen Welt" verbindet. Und deswegen lassen sich auch die Probleme dieses homiletischen Wirklichkeitsbegriffs anhand des Programms der GPM zusammenfassen.
1. Die Predigtmeditationen als theologische Lehre Im Kontext einer vielfältigen "Predigtnot" (s.o. 1.2) stellt die Herausgabe und Kommentierung der Meditationen ein "Bemühen um die rechte Predigt" (196) dar, das Anleitung und "Hilfe" (152.419) für die konkrete Predigtarbeit geben soll100. Dabei nehmen die Predigtmeditationen für Iwand eine konstitutive Mittlerstellung ein. Wenn die Predigtnot nicht zuletzt ein Problem der mangelnden "Wechselwirkung von Theologie und Verkündigung" ist (528), so fällt den Meditationen die Aufgabe zu, das
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Seitenzahlen im Text dieses und des folgenden Abschnittes verweisen auf PM.
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Gespräch zwischen "Wissenschaft und Praxis" (392), zwischen "Exegese und Verkündigung" (60) zu institutionalisieren und für die einzelne Predigt fruchtbar zu machen. Indem sie angesichts fortschreitender Spezialisierung zwischen theoretischer Erkenntnis und praktischer Predigtarbeit vermitteln, sollen sie die Einheit der theologischen Berufsarbeit, die Einheit von Berufung und individueller Bezeugung bewahren. Diese Funktionszuschreibung erklärt, daß die Predigtmeditation gegenüber der einzelnen Predigt immer nur eine vorläufige, vorbereitende Stellung einnehmen101. Da das soziale Geschehen der theologischen Berufsarbeit jedoch ein einheitlicher, ausschließlich vom Wort bestimmter Prozeß ist, kann Iwand zugleich von den Meditationen selbst predigtartige Wirkungen erwarten und solche auch erfreut notieren. So bemerkt er 1948, daß es den GPM gelungen sei, "der leichtfertig ausgestreuten Rede von der 'konfessionsbedingten' Verschiedenheit der Evangeliumsverkündigung innerhalb der evangelischen Kirchen ein sichtbares Zeichen [...] gegenteiliger Wirklichkeit entgegenzustellen" (151). Und in den letzten Jahren seiner Herausgeberschaft unterstreicht er mehrmals die kirchliche und politische Chance, die in der verschiedene Positionen und Traditionen umfassenden Vielfalt der Mitarbeiter wie der Leserschaft begründet ist: Die Meditationen "sind ein lebendiges Zeichen für die versöhnende Kraft des Glaubens nach Krieg und Gewalttat geworden und sind heute die Stimme einer communio sanctorum, die, wenn ich an die Zeit nach 1918 denke, undenkbar gewesen wäre"102. In solchen Bemerkungen spiegelt sich der enge Zusammenhang von wissenschaftlicher Theologie, Meditation und Predigt, so daß die Meditationen in der Tat als "Predigt an Prediger" zu verstehen sind (Hasselmann 1977, 75).
101 Vgl. insbesondere 530f: "Die Meditation ist nicht die Predigt. [...] Erst in der Predigt reift die Frucht, die Meditation ist dann nur leere Schale. Erst in der Predigt eines anderen bewährt sich unsere Arbeit. Erst dort fällt die Entscheidung über das, worauf es ankommt. Was dort geschieht - und wo es geschieht, geschieht es sicherlich nicht ohne unser Wollen und Laufen -, das erst rechtfertigt unsere vorläufige Bemühung." 102 PM 666; vgl. 408.419.528; dazu auch Gollwitzer 1963, 5: "Ist dadurch, daß in Tausenden von Pfarrhäusern auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs zur Vorbereitung der Sonntagspredigt zur gleichen Zeit die gleichen Meditationen, von Verfassern aus Ost und West stammend, herangezogen werden, nicht mehr geschehen für die Einheit der Kirche über die politischen Grenzen hinweg als durch eine Anzahl internationaler Konferenzen von Kirchenführern?"
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Aus dem enzyklopädischen Ort der Predigtmeditation ergibt sich das von Iwand mehrfach erläuterte Verfahren für die einzelne Meditation102: Sie muß sich als eine zugleich exegetische und dogmatische Auslegung des Predigttextes vollziehen. Der "Bewegung des Wortes Gottes" dient die Meditation durch eine doppelte Weise der Textbindung: "[S]ie wird die Verkündigung erschweren, indem sie den Wortlaut des Textes verbindlich macht, und sie wird sie zu erleichtern versuchen, indem sie die Verheißung entfaltet, die im Text enthalten ist" (60).
Die Meditation vollzieht sich als eine systematische Explikation der "Inhaltlichkeit" (195) des vorgegebenen Textes und damit des Wortes Gottes selbst. In der Vermittlung über den Glauben des Predigers soll dieser Inhalt Gegenstand der Predigt werden. Eben das "Ereigniswerden" des Wortes in der Predigt (121) aber ist es, was die dem Text eigene Verheißung ausmacht: "Der Text ist gerade in seiner Inhaltlichkeit, in seiner Wörtlichkeit, die ständige Erinnerung und die göttliche Verheißung, daß hier wirklich die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Toten auferstehen könnten" (195). Die beiden in der oben zitierten Passage genannten Formen, den Predigttext in der Meditation auszulegen, fallen daher faktisch zusammen: Die Entfaltung und Erläuterung der Verheißung vollzieht sich in der wissenschaftlichen Explikation des "wörtlichen", sachlichen Textgehalts. Auf diese Weise versucht die Meditation, wie Iwand 1954 programmatisch formuliert, "Gottes Wort und Wirklichkeit [zu] ergreifen, begreifen und begreiflich zu machen" (419; s.o.I.l). In dieser formelartigen Beschreibung ist unschwer die Grundstruktur des Glaubens und aller theologischen Arbeit zu erkennen, die Iwand durch die Trias Glauben/Erkennen/Bekennen gekennzeichnet hat (s.o.IV.l). Die Meditationen ordnen sich der Verbindlichkeit des Wortes unter, und zugleich entfalten sie dieses Wort inhaltlich als einen zu erkennenden Sachverhalt, den es intersubjektiv "begreiflich zu machen" gilt. Sie müssen dann selbst als theologische Lehre verstanden werden104. 103 Zu Iwands Meditationsauffassung vgl. Bizer 1972, 87-105; Hasselmann 1977, 68-85 sowie Gräb 1988, 242-245. 104 Auch H.Benckert hat in einer Nachzeichnung von Iwands Konzept der Meditationen deren i>5l£maiiic/i-theologischen Charakter hervorgehoben. Gegen den Augenschein dürfen Iwands Meditationen darum nicht als exegetisch fachwissenschaftliche Texte mißverstanden werden (vgl. 1959, 195f).
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Sind die Meditationen ein Vollzug theologischer Lehre, so müssen sie als Bestandteile des spezifischen Kommunikationsprozesses gelesen werden, den Iwand aus seiner Bestimmung theologischer Sätze entwickelt hat (s.o. IV. 1/2). Die Beiträge sind dann als individuelles Bekenntnis eines theologischen Lehrers zu verstehen und zugleich als Sätze, die einen allgemein erkennbaren Sachverhalt zum Ausdruck bringen wollen. Dementsprechend muß der Leser sich als theologischer Schüler verstehen, der jene Ausführungen auf einen analogen Prozeß zwischen Glauben und Erkennen zu beziehen hat, also auf eine Wahrnehmung des Wortes in der eigenen Wirklichkeit, die gleichfalls auf ein Bekennen zielt. Aus diesem Verständnis ergibt sich nun ein eigentümlicher, doppelter Wirklichkeitsbezug der Meditation105. Sie wird das Wort einerseits als eine erkennbare Realität zu entfalten haben, so daß die Vermittlung von Wort und "wirklicher Welt" als künftiger Inhalt der Predigt assertorisch zum Ausdruck kommt. Dementsprechend hat Iwand keinen Zweifel daran gelassen, daß der sozialen und politischen Wirklichkeit größte Aufmerksamkeit zuzuwenden ist: In den Begleitworten wie in seinen eigenen Auslegungen werden durchgehend "Existenz und Weltsituation" des Glaubenden (61) entfaltet als durch das Wort bestimmt und durch die Predigt erschließbar. Andererseits ist jedoch an die "Ratlosigkeit" und Not zu erinnern, die dem theologischen Schüler, dem Empfänger der Lehre zugeschrieben werden muß. Gerade die assertorische Entfaltung der vom Wort bestimmten, verheißenen Wirklichkeit enthüllt dem Schüler die Differenz zwischen den Sätzen des Glaubens und seiner eigenen Erfahrung. Aus der Perspektive des Lesers bzw. Predigers tritt damit die Problematik der Erfahrungswirklichkeit in den Vordergrund: "Daß Gottes Wort unter uns wohnte, das müßte doch bedeuten, [...] daß unsere Augen anfangen, die Wahrheit zu erkennen, daß sie anfangen, auf die Wahrheit zu sehen und nicht mehr auf das, was wir Wirklichkeit nennen und und was doch gemeinhin immer nur die Wirklichkeit des Bösen, der Sünde, des Todes und jenes Menschen ist, der von Gott nichts weiß [...]. Dieser falsche und böse Glaube an die Wirklichkeit, die man "siehet" und die darum immer eine hoffnungslose, trügerische, eben nicht von
105 Hier ist nochmals an Iwands Charakterisierung theologischer Sätze zu erinnern: "Jeder Satz kann Antwort und Frage sein. In jedem Satz begegnen sich Menschen von beiden Seiten her, einmal die, welche gefunden haben, und dann die, welche aus diesem GefundenHaben neues Suchen gewinnen. Jedes Haben wird wieder ein Entbehren [...]" (NW 1, 251).
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Gott und seinem Wort erfaßte Wirklichkeit ist, muß dann Schritt für Schritt aus unseren Herzen weichen [...]" (122).
In der Assertion des Wortes zielt die Meditation auf eine fundamentale Kritik aller Erfahrung und steht damit ebenfalls in der Iwands Ansatz kennzeichnenden Gefahr, die Lebenswirklichkeit der mit dem Wort konfrontierten Prediger und Hörer ausschließlich negativ in den Blick zu nehmen (s.o. II.4; IV.4). Darüber hinaus ist an dieser homiletischen Kritik des Vorfindlichen jedoch von Bedeutung, daß sie im Grunde auf eine Veränderung im Selbstverständnis des Predigers ausgerichtet ist. Im Zusammenhang der Entfaltung eines bestimmten, vom jeweiligen Text gesteuerten Verständnisses der "wirklichen Welt" hat die Predigtmeditation als "Lehre" stets auch die subjektive Wirklichkeit zu orientieren, die nach Iwands Auffassung für die konkrete Predigt konstitutiv ist.
2. Die Predigtmeditationen als pastoraltheologische Orientierung Als theologische Lehre vermitteln die Predigtmeditationen zwischen der wissenschaftlichen Arbeit am Wort Gottes und der konkreten pastoralen Predigtarbeit. Damit stehen sie im Zentrum der gesamten theologischen Arbeit, so wie Iwand sie versteht (s.o. IV.2). So ist es nicht verwunderlich, daß sich die GPM-Begleitworte über weite Strecken auch als eine Sammlung pastoraltheologischer Notizen lesen lassen: Die verschiedensten politischen, kirchlichen und theologischen Themen werden von Iwand in ihrer Bedeutung für den pastoralen Beruf erörtert, indem er sie in den Kontext der Predigtaufgabe stellt. Auch die Verschiedenheit der pastoralen Arbeitsfelder wird auf diese Weise gelegentlich thematisch: "[W]ir glauben, daß es eine Stimme und ein Zeugnis ist, das im Evangelium kund wird, ob das nun im Oderbruch geschieht oder im Getriebe einer modernen Großstadt, [...] in der Industriesituation des mechanisierten Lebens, wo der vermeintlich 'religionslose' Mensch uns begegnet. Wir haben den Gedanken erwogen, ob man sich nicht einmal zusammenfinden sollte, um diese Fragen des praktischen Dienstes von der Mitte der Predigt her etwas dringlicher, realistischer, praktischer anzufassen, um die nötigen Antworten kritischer, aber vielleicht auch sicherer, verbindlicher zu geben, als es heute geschieht" (PM 530).
Auf die Differenzierung der pastoralen Berufsarbeit, wie sie nach 1945 immer deutlicher wird, reagiert Iwand mit der Konzentration auf die ho91
miletìsche Aufgabe. Es ist die Predigtarbeit, die in aller Unterschiedlichkeit die Einheit des theologischen Berufes verbürgt, weil hier die pastorale Begegnung mit dem Wort ihr bleibendes Zentrum hat. Dementsprechend hat jene im Zitat erwähnte Tagung die Analyse der "echten Probleme und Aufgaben, die die Kirche heute zu bewältigen hat" (590), als eine homiletische Aufgabe verstanden106: Das "vielfältige, weithin neue Handeln der Kirche" erschien jedenfalls Iwand durch die Verkündigung "in Bewegung zu bringen", genauer: durch "theologisch durchdachte Predigten" (590f). Indem die Predigt als Paradigma aller beruflichen Arbeit des Pfarrers und zugleich als Paradigma des individuellen Glaubensbekenntnisses erscheint, kann die Predigtmeditation die Wirklichkeit, die dem Pfarrer begegnet, in ihrer gesamten Breite zum Thema machen. Die Konzentration auf die Predigtaufgabe stellt insofern, wie die GPM ausweisen, für die pastorale Reflexion zunächst einen Wirklichkeitsgewinn dar. Dem steht jedoch offenbar zugleich ein bestimmter Verlust an beruflicher Orientierung gegenüber, wie er von den Lesern der GPM mehrmals beklagt wurde. Typisch sind die Kritikpunkte, die anläßlich einer 1954 durchgeführten "Rundfrage" unter den Beziehern geäußert wurden: '"Im ganzen sollte wohl noch stärker Wert darauf gelegt werden, [...] für die Übersetzung der biblischen Begriffssprache mehr Hinweise zu geben. Ob nicht auch für den jeweiligen Einstieg in eine Predigt [...] und auch für die Veranschaulichung noch gewisse Hilfen geboten werden könnten?' [...] 'Die GPM hören da auf, wo die Arbeit des Gemeindepfarrers erst beginnt.' [...] 'Oft habe ich den Eindruck, der Bearbeiter ist froh, wenn er die exegetische Arbeit geleistet hat und macht sich über die Folgen seiner Textbearbeitung in homiletischer Beziehung keine Gedanken mehr.' [...] Und noch eine Stimme: 'Weniger Theorie, mehr Praxis erwünscht. Oft kommt der Großstadtpfarrer erst samstagabends zur Vorbereitung."'107
Das Defizit an "Wirklichkeit", das hier angemahnt wird, besteht offenbar weniger im mangelnden Eingehen auf spezifische Situationen der Hörer und der Gemeinden, als in einer unzureichenden Thematisierung der 106 Die Tagung wurde von den Herausgebern der "Monatsschrift für Pastoraltheologie" im Oktober 1957 veranstaltet; vgl. den Tagungsbericht von E.Hahn (1958). Iwands enthusiastischer Rückblick findet sich PM 590f. 107 Die Zitate entstammen dem Bericht über der Rundfrage, den K.G.Steck auf einer Tagung des "Mitarbeiterkreises" der GPM im Juli 1954 gegeben hat (K.G.Steck 1954, 10). Vgl. zur Bewertung der Umfrage auch Iwand, PM 407f. Ähnliche Klagen referiert Iwand mehrmals, vgl. PM 60.94.353.408.
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berufsmäßigen Predigtvorbereitung: Die Wirklichkeitserschließung, die von den Meditationen erwartet wird, bezieht sich nicht zuletzt auf die Wirklichkeit der Prediger selbst. Iwands Reaktion zeigt, daß er die Bedeutung des Problems erkannt hat, und macht zugleich die Schwierigkeit deutlich, darauf im Rahmen seiner homiletischen Systematik einzugehen. Als praktisches Kriterium der Predigtmeditation gilt ihm "ein bestimmtes in-actu-esse, welches dem Wort Gottes als solchem gemäß ist und welches weder mit der zeitgemäßen Interpretation der historischen noch mit der psychologischen Analyse der praktischen Exegese in eins fällt. [...] Hier liegt der Mangel, den so viele richtig bemerkt haben, der ja auch das Problem unserer Verkündigung ist. Um diesem Notstand, der unser aller theologisches Suchen und Fragen ausmacht, ein wenig gerecht zu werden, wollen wir Beihefte mit ausgewählten Predigten herausgeben, so daß gleichsam von der anderen Seite her [...] das Gegenüber zu den Meditationen sichtbar wird. Die Mitte selbst können und dürfen wir nicht ausfüllen. Sie muß der freie Ort bleiben, wo jenseits jedes Schemas und aller Methodik das 'ubi et quando visum est Deo' seine konkrete Realität hat [...]" (408).
Wie alle Methoden der Auslegung kann auch die Meditation nur vorbereitenden Charakter haben. Die individuelle Predigtarbeit, die Begegnung zwischen dem Wort und dem einzelnen Prediger muß deswegen unverfügbar bleiben, weil hier die Freiheit und Souveränität des Wortes selbst auf dem Spiel steht. Die Predigtmeditation kann auch in berufspraktischer Hinsicht nicht mehr tun, als das Subjekt des Predigers an das Geschehen des Wortes zu binden: "In einem wollen [...] wir freilich fest und standhaft bleiben, daß wir keinen fertigen Predigtaufriß geben, sondern weiterhin dem Prediger seine eigene, besondere Freiheit lassen, indem wir zu der jeweiligen Perikope exegetisch und dogmatisch auf die faktische Bewegung hinweisen, die im theologischen Raum vor sich geht [...]" (354).
Die Zurückhaltung der Meditation gegenüber der homiletischen Praxis ist darin begründet, daß in der Freiheit des Predigers die Freiheit des Wortes selbst zum Ausdruck kommt. Zwischen den Inhalt des Wortes und das Subjekt des Predigers, auf dessen Bestimmung das Wort zunächst zielt, darf keine Zwischeninstanz treten. Bezüglich der Predigtpraxis muß sich die Meditation darum auf die Beschreibung einer bestimmten persönlichen Haltung des Predigers beschränken. So läßt sich nicht zuletzt die spezifische rhetorische Form von Iwands Texten erklären: Ihre appellative und nicht selten persuasive Redeweise ist Ausdruck der In-
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tention, den Prediger in jene vom Wort induzierte Bewegung zwischen Glauben und Erkennen hineinzustellen. Die Anlage der GPM macht einmal mehr deutlich, daß Iwand die Reflexion der pastoralen Berufsarbeit auf die Homiletik konzentriert, und daß die homiletische Reflexion sich darauf zuspitzt, die individuelle Bindung des Predigers an das Geschehen des Wortes und seine daraus resultierende Freiheit zu entfalten. Der individuelle, unverfügbare Glaubensprozeß des Predigers ist das einzige Steuerinstrument seiner Predigtpraxis108. Die für Iwands Theologie insgesamt eigentümliche Konzentration auf das Subjekt des Predigers stellt jedoch zugleich das eigentliche Problem seiner Homiletik dar. Dazu seien noch drei Aspekte skizziert. (a) Zunächst läßt die Funktionsbestimmung der GPM unschwer erkennen, daß mit der Konzeption einer zugleich lehrhaften und auf die Subjektivität des Predigers zielenden Predigthilfe dessen berufliche Praxis unbestimmt bleibt. Wie sich die Bewegung zwischen Wort und individueller Wirklichkeit in der konkreten Predigtarbeit niederschlägt, kann Iwand nicht zum Thema machen. Es ist darum kein Zufall, daß seine homiletische Hinterlassenschaft sich im wesentlichen im Rahmen der GPM findet: Homiletische Anleitung zur Predigt kann sich nicht durch eine theoretische Beschreibung der Predigtarbeit vollziehen, die die unterschiedlichen Aspekte dieses Prozesses entfalten würde. Sondern für Iwand geschieht die Reflexion der Predigtaufgabe ausschließlich in einer gleichsam fragmentarischen Gestalt, nämlich in einer am einzelnen Text orientierten Entfaltung des Wortes, seiner objektiven und subjektiven Relevanz, wie sich sich jeweils neu dem Prediger mitteilen soll109. (b) Das Subjekt, auf das sich in homiletischer Hinsicht nun alles konzentriert, kann jedoch nur als ein defizitäres in den Blick kommen: Die Einweisung des Predigers in die Bewegung zwischen Wort und Wirklichkeit, die die Predigtmeditation intendiert, wird stets in einer Abwendung von der eigenen Erfahrung bestehen. Die "religiöse Disposition" (Gräb 1988, 245), auf die der Prediger verpflichtet wird, besteht allein in
108 Daß Iwands Konzept in dieser Weise auf die "unabdingbare Individualisierung" der Predigtarbeit zielt, hat auch Gräb (1988, 243f) herausgestellt. 109 Darauf hat auch C.Bizer aufmerksam gemacht: "Die Predigtmeditation tendiert dazu, theologische Homiletik für die anstehende Predigtvorbereitung überflüssig zu machen" (1972, 87).
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der Erkenntnis seiner "Ratlosigkeit" und "Armut" (vgl. PM 60.121.195 u.ö.) gegenüber dem erhofften Wort: "Das möchten unsere Meditationen sein, nichts anderes als ein Ausschauhalten nach diesem Licht, ein Rufen und Fragen, ob die Nacht schier hin ist, ein Postenbeziehen an der einzigen Stelle, wo wirklich Hilfe kommt, wo das Herz fest wird und ein neuer, gewisser Geist unser wartet" (196).
Die Subjektivität des Predigers wird auf diese Weise systematisch ausgeblendet. Obwohl die Meditationen sich an den Glauben des Predigers wenden müssen, können sie diesen doch nur als ausstehend beschreiben. Damit ist gerade die entscheidende Stelle in Iwands Homiletik, eben das predigende Subjekt, der Reflexion entzogen: Wie die konstruktive Leistung dieses Subjekts für seine berufliche Arbeit beschaffen ist, kann Iwand nicht in den Blick bekommen. (c) Die fundamentale Widersprüchlichkeit von Iwands homiletischem Ansatz kommt schließlich auch in der Weise zum Ausdruck, in der die Predigtmeditationen die "wirkliche Welt" erschließen sollen. Zwar wird diese Wirklichkeit in Iwands GPM-Texten durchgehend zum Thema. Aber die fragmentarische, gleichsam untheoretische Form der Meditationen verhindert, daß Iwand in prinzipieller Weise die theologischen Kategorien reflektiert, denen sich seine Deutung der Wirklichkeit verdankt. Auch die homiletische Erschließung der Wirklichkeit kann in diesem Rahmen nicht als ein eigentümlicher Aspekt der Predigtarbeit begreiflich werden. Stattdessen erscheint es so, als würde die Perspektive auf die Lebenswirklichkeit immer wieder, in einer stets neuen Begegnung mit dem Wort, aus dem biblischen Text entnommen. Die prinzipielle Schwäche von Iwands Wirklichkeitsbegriff wird damit auch für die Homiletik zum Problem: In der predigtartigen Reflexionsform der Meditation kann die vorgegebene menschliche Situation nur als zu kritisierende Größe entfaltet werden, während ihre Erschließung und Erleuchtung durch die Verheißung unkonkret bleibt. Auf Grund ihrer systematischen Prämissen können die GPM nicht anders, als jene Erfahrung der Predigtnot zu vertiefen, die sie eigentlich überwinden wollen. Die "wirkliche Welt", der nach Iwands Auffassung die Predigtpraxis zugute kommen soll, bleibt für seine Predigttheorie ein ungelöstes Problem.
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Β. Die Erschließung der Wirklichkeit durch die Predigt als Verstehensvorgang: Manfred Mezger
Die homiletische Debatte der 50er Jahre ist von den daran Beteiligten als außerordentlich bewegt und konfliktreich empfunden worden. Insbesondere in der prinzipiellen Homiletik haben sich die theologischen Gegensätze zwischen den Schulen Barths und Bultmanns gespiegelt1; aber auch in predigtpraktischer Hinsicht haben einige Autoren versucht, eine stärker hermeneutisch reflektierte Auslegungsmethodik plausibel zu machen. Neben dem Verweis auf die exegetische Verantwortung der Predigt war dabei die Überzeugung leitend, daß die hermeneutische Perspektive der neuzeitlichen Wirklichkeit in besonderer Weise entspreche. Im Rückblick erscheinen diese Gegensätze jedoch eher als Binnendifferenzierungen innerhalb des durch die GPM markierten und oben an Iwand entfalteten homiletischen Konsenses. So hat es in dem hier zur Debatte stehenden Zeitraum bis etwa 1960 eine große Übereinstimmung hinsichtlich der zentralen Bedeutung der Predigt sowie ihrer theologischen Begründung gegeben. Allen Beteiligten gemeinsam ist aber auch die Überzeugung, daß sich die konkrete Predigtarbeit ausschließlich als Auslegung des Textes zu vollziehen habe, während die gegenwärtige Wirklichkeit zwar das Ziel dieser Auslegung, zugleich aber Gegenstand permanenten theologischen Mißtrauens sein müsse. Die These eines prinzipiellen wie praktischen Konsenses über das homiletische Wirklichkeitsverständnis soll im folgenden mittels der Arbeiten des Mainzer Praktischen Theologen Manfred Mezger (*1901) begründet werden, der sich eng an Bultmann angeschlossen2 und zugleich immer wieder den Anspruch auf besondere Wirklichkeits- und Praxisnähe sei-
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Vgl. etwa die Beiträge von Dehn, Konrad, Ott und Niebergall in Hummel 1971. Gewährsleute für Mezger sind außerdem E.Fuchs und G.Ebeling; mit Fuchs hat Mezger in Tübingen und auch in Mainz gemeinsame homiletische Seminare veranstaltet (vgl. 1959, 387; 1959a, 106). Fuchs' eigene homiletische Arbeiten im engeren Sinne (1959; 1959a; 1960) sind sämtlich im Kontext dieser Zusammenarbeit mit Mezger entstanden. 2
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nes homiletischen Entwurfs erhoben hat. Als Ergänzung werden Texte von G.Harbsmeier (1910-1979) herangezogen, der zunächst in Lüneburg und seit 1962 in Göttingen Praktische Theologie lehrte3.
1. Das Verstehen der Wirklichkeit als Aufgabe der Predigt Ausgangspunkt und durchgehender Zug der meisten homiletischen Texte Mezgers ist eine Kritik an der zeitgenössischen Predigtpraxis, deren Motive insgesamt den Anspruch erschließen, unter dem die Predigt steht. In den Vordergrund rückt dabei zunächst deren Sprachgestalt: "Bis auf allzu wenige Ausnahmen kann ich von denjenigen Predigten, die man zu hören, zu lesen und wohl auch zu rezensieren bekommt, außer dem deutschen Vokabular [...] fast keinen Satz verstehen, noch viel weniger in mein Leben übernehmen. Die Anforderungen sind hinsichtlich der antiquierten Sprache zu hoch, bei gleichzeitig bedrückend niedrigem Sprachniveau. Die tragenden Begriffe sind leblos, blutlos, sinnlos. Es wird nicht aufgeschlüsselt, nicht übersetzt, [...] nicht interpretiert"4.
Kriterien der Predigt sind offenbar ihre Verständlichkeit und damit zugleich ihr Bezug auf das Leben der Hörer. Darum wird die Sprachebene der Predigt kritisiert: "Man kann vielen Predigten heute den Vorwurf nicht ersparen, daß sie die Chiffren der Lehrbegriffe nicht aufzulösen vermögen in Lebensvorgänge; ja, daß im Gegenteil in die Chiffren der Begriffe geflüchtet wird" (1959, 398). Lebensbezug und Verständlichkeit der Predigt interpretieren sich gegenseitig: Verständlich ist im Vollzug der Predigt nur dasjenige, was sich als Lebensvorgang entfalten läßt, und diese Entfaltung muß sich einer Sprache bedienen, die voraussetzungsloses Verstehen ermöglicht. Das Kriterium des Wirklichkeitsbezuges schließt für Mezger weiterhin aus, daß für Hörerinnen und Hörer "die Übernahme historischer Kategorien verbindlich gemacht wird, seien es Gottesvorstellungen, Weltbilder, Heilstatsachen, [...] oder apokalyptische Kalender" (1962, 486). Die Predigt erliegt dann der Gefahr, die "metaphysischen" Vorstellungen, denen die biblischen Texte verpflichtet sind, als notwendigen Bestandteil 3 Die homiletischen Beiträge H.Diems (vgl. Diem 1949/50; 1952; 1958; 1963), die in besonderer Weise eine Vermittlung zwischen den beiden "Lagern" versuchen, müssen hier leider unberücksichtigt bleiben. Zu Diem vgl. Niebergall 1969, 102-105; Scholder 1976. 4 Mezger 1959a, 112 (Hervorhebung getilgt); vgl. auch 1964a, 428f; 1967, 379f.
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der Botschaft zu verstehen und sich damit in einen falschen Gegensatz zur Welterfahrung der Hörer zu setzen. Mezger hat dies mehrmals an der Himmelfahrt Jesu verdeutlicht: Daß "der Kyrios auf einer Wolke hinaufschwebt [...], ist weder schwierig zu denken noch sich vorzustellen. [...] Ich verstehe sogar das Interesse, das in dieser Vorstellung steckt; aber ich mache es mir nicht zu eigen"5. Wer diese Vorstellungen für verbindlich erklären will, verwechselt biblische Sprachmittel und Weltbilder mit der Verbindlichkeit, die die Predigt beansprucht: "Das Massive ist noch lange nicht konkret. Konkret ist, was mich - auch als These - so angeht, daß ich mit meinem ganzen Leben sofort zur Antwort aufgerufen bin. Das bin ich nicht, wenn mir mirakulöse Vorgänge zugemutet werden" (1967, 379). Unmittelbare Bedeutsamkeit für das Leben der Hörer kann die Predigt nur dadurch erreichen, daß sie sich der gegenwärtigen Sprachmittel und des darin implizierten Weltbildes bedient. Mezger kritisiert die "Teilung: Diesseits - Jenseits, Gott - Welt, Himmel - Erde, Zeit - Ewigkeit", denn damit sieht er die menschliche Wirklichkeit unzulässig abgewertet gegenüber himmlischen Welten oder dem "erwünschte[n] Dermaleinst, nach dem wir uns sehnen" (1970, 216). Homiletisch verpflichtend ist jedoch die in sich einheitliche, alltägliche Wirklichkeit, der "Werktag, in dem's nach Ursache und Folge, Motiv und Tat" zugeht (aaO. 217). Mezger ist der Überzeugung, mit diesem Akzent einem spezifisch "neuzeitlichen" Zug der Wirklichkeit zu entsprechen. Die Moderne "beginnt mit der Erkenntnis, daß es eine ungeteilte, nicht 'übersteigbare' Welt gibt. Diese ist es, die unsrige, die einzige, die ganze. Und das Eigentliche ihres Wesens und Lebens liegt nicht 'darüber hinaus', sondern in ihr selbst" (1969, 314). Zugleich aber entspricht diese Sicht auch dem eigentlichen Anliegen des Glaubens. Im Anschluß an Bultmann bestreitet Mezger, daß sich der Glaube auf eine andere als die alltäglich erfahrbare Wirklichkeit bezieht. Dann nämlich wäre er "die Annahme unmöglicher oder vernunftwidriger Vorgänge oder Vorstellungen: das Gegenteil des Glaubens, ein Werk des Menschen"6.
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1962, 488; vgl. 1959, 394f; 1959a, 114f. 1964, 434. Eine Konvergenz von Glauben und Neuzeit besteht weiterhin in der Abwehr formaler, nicht inhaltlich ausgewiesener Autorität (vgl. 1968, 47f), sodann in der Haltung gegenüber "Weltbildern", um deren Relativität der Glaube ebenso weiß wie die Aufklärung (vgl. aaO. 92). 6
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Diesen - gelegentlich auch expliziten - Gegensatz zu Barths wie zu Iwands theologischem Wirklichkeitsverständnis7 hat Mezger des öfteren am Gottesbegriff entfaltet. Er bestreitet die Jenseitigkeit Gottes und sucht dessen Unverfügbarkeit in der vorfindlichen Wirklichkeit aufzuweisen: "Das vielberufene 'extra nos' im Gottesbegriff ist nur sagbar als konkreter, kontrollierbarer Ort 'zwischen dir und mir'. Ich kann ihn weder wählen noch abschaffen. Und die Unverfügbarkeit Gottes ist darstellbar allein in dem Gegenüber der Begegnung. Der Mensch, der mir begegnet, ist nicht identisch mit mir. Er ist anders, einfach anders. [...] Gottes Wirklichkeit in menschlicher Begegnung ist kein Dogma von Optimisten, sondern nüchterne Erfahrung des ganzen Menschen" (1964,425).
Die Predigt interpretiert die menschliche Wirklichkeit dadurch als Ort der Gegenwart Gottes, daß sie auf die kontingente Erfahrung der Mitmenschlichkeit hinweist. Mittels der Deutung persönlicher und unmittelbarer Lebenserfahrung kann die Predigt auch von Gott als "einsichtiger und überführender Wirklichkeit" sprechen (aaO. 426). Mezger verbindet die Einheit der Wirklichkeit und die Unverfügbarkeit des in ihr "geschehenden" Gottes nun dadurch, daß er auf die "absolute Bindung" hinweist, derer sich der oder die einzelne angesichts bestimmter sozialer Verhältnisse bewußt wird. Hier wird deutlich, "daß ich schlechterdings gehalten bin, etwas zu tun oder zu lassen. Ich kann nicht darüber verfügen, ob mir etwas freigestellt oder verwehrt ist; das liegt völlig außerhalb" (aaO. 425). Der Glaubende wird der ihm begegnenden Realität nur dadurch gerecht, daß er deren Verpflichtungscharakter wahrnimmt. Es wird zum Kriterium des Glaubens, auch "gegen den Augenschein der Dinge" zu hoffen und zu lieben8. Auch für Mezger bezieht sich die Predigt auf die Lebenswirklichkeit der Hörenden darum nicht im Sinne einer einfachen Bestätigung von deren Interessen und Erwartungen9. Die Konkretion der Predigt schließt die Bearbeitung gesellschaftlicher Tabus ein: "Sozialprobleme, Rassenhaß, Kindesmißhandlung, Lohnkampf, Kulturkrise, Lebensangst" (1973, 257). Zur homiletischen Perspektive auf die Wirklichkeit gehört die Kritik an der Selbstsicherung des Menschen in seiner Lebenswelt.
7
Zu Barth vgl. etwa 1959a, 114.116; 1962, 486; 1964a, 103; zu Iwand 1962, 487 (zu Iwands Auslegung von Joh 1,1); 1965, 323 (zu Iwands Aufsatz über das reformatorische "pro me" (1954)) und 1967, 387 (zur Frage der Jungfrauengeburt). 8 1964a, 103; vgl. auch aaO. lOlf; 1968, 105. ® Vgl. zur differenzierten Bewertung der Erwartungen der Hörer besonders 1966, 44.49ff.
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Mit ähnlicher Stoßrichtung hat Harbsmeier von einer "Occasionalität" des Wortes Gottes gegenüber der Wirklichkeit gesprochen: "Es stößt in ganz bestimmte Situationen, ist ganz und gar auf seine Gelegenheit zugeschnitten. Es überfällt und überrascht. Es läßt sich nicht festhalten. Es läßt sich nirgendwo einordnen, ist ohne passende Kategorie. Es schlägt zu und 'sitzt' wie das treffende Wort im gegebenen Moment [...] Es sprengt jeden herkömmlichen Rahmen. Es hat nirgends Raum in der Herberge. Man ist nirgends vor ihm sicher. Der Augenblick ist seine Stunde" (1967,293).
Die Predigt des Wortes vermittelt dann, ähnlich wie bei Iwand, die Erfahrung Gottes und die vorfindliche Wirklichkeit auf eine Weise, die ebenso eine wirksame Veränderung dieser Wirklichkeit impliziert wie die bleibende Unverfügbarkeit des Wortes. Im Unterschied zu Iwand haben die hermeneutisch geprägten Predigtlehrer die Wirklichkeitserschließung jedoch ausdrücklich als Vorgang des Verstehens beschrieben: "Was also wäre dann verständliche Verkündigung? Alles, was mich antrifft, in meiner Welt von Freude und Sorge, Hoffnung und Enttäuschung, Leben und Sterben" (Mezger 1966, 54). Die Beschreibung der Predigtwirkung als neues Verstehen der Wirklichkeit verbindet die beiden für Mezger zentralen Aspekte der Wirklichkeitsdeutung. Zum einen kann der Hörer nur verstehen, was ihn als Person in seinen sozialen Bezügen unmittelbar und zugleich kritisch betrifft. Als Kriterien der Predigtarbeit nennt Mezger daher "Weltoffenheit", "natürliche Sprache" und Bezug auf die "Forderung des Tages" (aaO. 58f). Die homiletische Arbeit zielt auf ein Verstehen, in das der Hörer als ganze Person involviert ist. Die hermeneutische Begrifflichkeit vermag zum anderen die Unverfügbarkeit der Wirklichkeit ausdrücklich zu machen, die die Predigt zugänglich macht. Diese Unverfügbarkeit liegt für Mezger im Geschehen des Verstehens selbst, insofern dieses sich für die einzelnen als ein reines Widerfahrnis der Wahrheit vollzieht: Ich "kann, wenn ich mich treffen lasse, nichts weiter tun als es bestätigen: 'Du hast mich gewonnen'. Denn was wahr ist, ist einfach wahr, weil es aufleuchtet und überwältigend mein Herz trifft. Da bleibt - eigentlich - keine Wahl. [...] Anders als in der Weise: nämlich als eine uns überwältigende, aber freie Gefolgschaft fordernde, können wir Wahrheit weder erfahren noch verstehen" (1962,492).
Die Wirklichkeit, die die Predigt verständlich macht, besteht in der "Erfüllung der Stunde" (1964a, 104), in einer Erfahrung, die nur momenthaft zugänglich ist. Auf diese Weise entsprechen sich Form und Inhalt der hermeneutischen Wirklichkeitserschließung: Die Predigt eröff100
net das Verständnis der einen, konkreten und individuellen Wirklichkeit des Hörenden, und zwar so, daß diese Wirklichkeit als eine dem Hörer entzogene und ihn zugleich verpflichtende erscheint.
2. Verstehen als homiletische Methode Hinsichtlich der Frage, wie sich die Situationserschließung nun in der konkreten Predigtarbeit vollzieht, markiert die Anlage der GPM in den 50er Jahren die herrschende Überzeugung: Die konsequente Auslegung des Predigttextes bietet die ausschließliche und zugleich hinreichende Gewähr, daß auch die gegenwärtige Wirklichkeit in der Predigt verantwortlich zur Sprache kommt. An dieser Auffassung hat auch Mezger festgehalten; er hat sie allerdings gegenüber der zeitgenössischen Predigtpraxis kritisch präzisiert: "Lese- und Hör-Erfahrung bei vielen Predigten: an die Stelle der Unterscheidung (nämlich zwischen der Lage des Autors und unseren Lebensbedingungen) tritt bedenkenlose Gleichsetzung. Der Text wird ins Heute - nicht herübergeholt, sondern hereingerissen. An die Stelle neuer Überlegung des dort Gesagten [...] tritt die bedenkenlose Zumutung des Alten" (1967, 375).
Die vorschnelle Gleichsetzung biblischer und gegenwärtiger Wirklichkeitsdeutung stellt für Mezger eine Mißachtung des Textes dar, insofern seine "jeweils ganz bestimmte Betroffenheit" auf diese Weise zu einer "allgemeinen Wahrheit" wird (1959, 390f). Die "bedenkenlose Zumutung des Alten", die den Wahrheitsanspruch an historische Vorstellungen knüpft, verhindert, daß das im Text Gemeinte verständlich wird. Mezger hat darum immer wieder versucht, eine homiletische Hermeneutik zu skizzieren, die sowohl den biblischen Texten als auch der neuzeitlichen Wirklichkeit gerecht zu werden vermag, ohne die Texte den Erwartungen der Hörer oder den Eigeninteressen der Prediger zu unterwerfen10. Hinsichtlich des Predigers wird die Predigtarbeit darum auch von Mezger als ein im Grunde passiver Prozeß der Selbstauslegung des Wortes beschrieben. Zugleich legt er jedoch großen Wert darauf, die Arbeit des Predigers am Text als ein lernbares "Handwerk", als ein "kontrollierbares 10 Einschlägig sind insbesondere die folgenden Texte: Mezger 1959, 387-395; 1964a; 1967; 1968, 35ff.86ff.
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Verfahren" darzustellen11, das sich in einer Einheit von exegetischer und "betrachtender, überlegender Arbeit am Text" vollzieht (1964a, 100), und für dessen Durchführung der Prediger selbst verantwortlich ist. Diesen Doppelcharakter hat Harbsmeier, dem ebenfalls an einer durchschaubaren homiletischen Methode gelegen ist, durch eine Unterscheidung zweier Phasen der Predigtarbeit markiert: Die Auslegung des Predigttextes vollzieht sich zunächst als eine Verstehensbemühung, die "jedem beliebigen - also auch außerbiblischen - Text gegenüber" ebenso vollzogen werden kann und muß und die in der Nachzeichnung des "in dem Text zum Ausdruck gebrachten Selbstverständnisses" gipfelt (1952, 94). Dann aber sieht Harbsmeier "einen Punkt, an dem die ganze wissenschaftlich exegetische Arbeit [...] verlassen werden muß" (aaO. 99), wenn nämlich das am Text Verstandene dem Prediger als seine eigene Situation vor Gott aufgeht. Die Predigtarbeit ist durch einen notwendigen "Bruch" charakterisiert (102.104), insofern nun, im Anschluß an das rationale Verstehen, Gott selbst sein Wort in einer existentiellen Erfahrung des Predigers "verifiziert" (vgl. 1963,277). Die hermeneutische Methode hat dann eine zwar notwendige, aber doch nur vorläufige Bedeutung. Mezger hingegen ist der Auffassung, daß "in der sachlichen Gewissenhaftigkeit und in der inhaltsbedingten Ehrfurcht", die die methodische Auslegung jedes Textes zu leiten habe, bereits die Überzeugung eingeschlossen sei, "daß der Text - aber bitte dann von A-Z! - nicht unserer Verfügungsgewalt unterliegt in seiner sich selbst erschließenden Vollmacht" (1965, 324). Wiederum ist es der Vorgang des Verstehens selbst, der zugleich als passives Widerfahrnis wie als methodisch verantwortliches Tun interpretiert wird. Im Rückgriff auf die Hermeneutik kann sowohl die Vernünftigkeit und Allgemeingültigkeit der homiletischen Arbeit behauptet werden als auch ihr Anspruch, der Eigenart des Textes wie der gegenwärtigen Wirklichkeit zu entsprechen. Konkret bedeutet die homiletische Anwendung der hermeneutischen Methode zunächst, daß der Prediger sich der "gegebenen, konkreten Textgestalt" zuwendet (1959, 392). Diese Gestalt muß, schon durch methodisch genaue Übersetzung, gewahrt bleiben gegenüber dem "vorschnellen Zugriff auf den sogenannten 'Gehalt' des Textes": "Interpreta-
11 1968, 97 in kritischer Wendung gegen H.Thielickes Vorschlag, "persönliche Assoziationen" zum Leitfaden der Predigtarbeit zu machen.
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tion ist nicht Eliminierung" (ebd.). Ihre Dynamik gewinnt die Predigtarbeit vielmehr gerade aus der vom Prediger erfahrenen Differenz zwischen der erwarteten sachlichen Verbindlichkeit des Textes und der historisch bedingten Fremdheit seiner Gestalt, die sich in der methodischen Auslegung als ein spezifischer Widerstand bemerkbar macht: "Wer bereitet also die sogenannte Predigtnot? Keine Theologie, sondern der Text selber. [...] Zu verzweifeln gibt es gar nichts. Man muß ihm nur standhalten. Denn der Text selber, in seiner strengen Wörtlichkeit, die - je mythologischer, desto heilsamer rein verbal hinten und vorne nicht stimmt, der Text selber ist der Herausforderer der Wahrhaftigkeit, indem er den Ausleger, gerade durch seine fragwürdige Wörtlichkeit (und nicht an ihr vorbei) zum Sinn-Erfragen zwingt, also zur Unterscheidung dessen, was da steht, von dem, was drin steht" (1964a, 99).
Die hermeneutisch verantwortliche Auslegung des Predigttextes vollzieht sich in Mezgers Perspektive als ein Konfliktgeschehen, dem der Prediger "redlich" und "wahrhaftig" standzuhalten hat, indem er die Verstehensbedingungen der Gegenwart gegenüber dem Text vertritt12. Das hermeneutische Prinzip besteht in der Einsicht, daß gerade das Durchhalten der Distanz zum Text dessen Intention freilegt: "Nur im Durchgang oder im Widerstand wird die Energie des Textes freigesetzt. Nur wo der Text sich uns 'entgegenwirft', kommt es zum Dialog mit einem selbständigen Partner" (1968, 48). Der hermeneutische Konflikt wird nun, und dies ist das gegenüber Iwand neue Moment in Mezgers Gedankengang, zunächst nicht in der Person des Predigers ausgetragen, etwa als Konflikt von Unglauben und Glauben, sondern in den Text selbst hinein verlegt. Sein in der "Wörtlichkeit" manifestes Defizit gegenüber dem gegenwärtigen Wirklichkeitsverständnis wird zum Anstoß, im Text selbst eine Unterscheidung zwischen "Sprachgestalt und Sachverhalt" vorzunehmen13. Der Vollzug dieser Unterscheidung, "durch ein - in der Regel paritätisches - Gleichmaß von Einstimmung und Widerspruch" (1968, 48) seitens des Auslegers, stellt den Kern der Auslegung dar. Der in der Predigtarbeit geübte "Gehorsam gegen den Text" bzw. seiner "Sache" manifestiert sich dann in der Bemühung, "alle Sprach- und Ausdrucksmittel, auch die Vorstel-
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Vgl. 1964, 432ff; 1966, 67ff; 1968, 35ff; 1970, 217ff.221ff. Vgl. 1967, 372: "Vereinfacht ausgedrückt: Sprachgestalt ist, was da steht; Sachverhalt das, was drin steht. Es bedarf der Erkenntnis des einen - zum Verstehen des anderen." 13
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lungswelt des Textes selbst, dem Aussagewillen des Textes kritisch dienstbar zu machen"14. Wird der hermeneutische Konflikt auf diese Weise als kritische Bearbeitung des Textes selbst zum Austrag gebracht, so muß sich dessen Verbindlichkeit vor dem Forum gegenwärtigen Verstehens immer wieder erst erweisen: "Ein Text kann an Kraft der Überführung, der Vergebung, der Erneuerung nur immer so viel freigeben, als jetzt durch ihn in der Predigt sagbar wird" (1964a, 91). Die Überzeugungskraft eines Textes beruht in dieser Perspektive darauf, daß "ein Grundsachverhalt angedeutet oder ausgesprochen ist, der zum Ganzen menschlichen Daseins gehört"15. Damit scheint Mezger jedoch nicht den Verweis des Textes auf ein besonderes "Ereignis" (vgl. 1959, 388) zum Kriterium zu machen, sondern die Möglichkeiten des Predigers, diesen "einfachen Grundverhältnissen des Lebens" (1966, 50) jeweils in seiner Situation ansichtig zu werden. Zum Maßstab des Predigtinhalts wird der pastorale Verstehenshorizont16. Gegenüber dieser Kritik ist jedoch zu beachten, daß Mezger den Verstehensvorgang, in dem sich die Unterscheidung von Sprache und Sache des Textes vollzieht, nicht als einen Akt des Predigers deutet: "Verkündigung als ergehende, Wahrheit als geschehende [...] liegen also nicht fest, sondern sie stellen sich, wohlverstanden: in Freiheit der Sache selbst, erst ein" (1968, 95). Das Verstehen des Textwillens, durch das die Ausarbeitung einer verständlichen Predigt möglich wird, stellt sich dem Prediger in einem Moment der Erleuchtung ein, so "daß die schaffende Kraft des Textes und sein Wahrheitsanspruch nur zu erörtern ist als Augenblick der Inpflichtnahme und als Weise der Betroffenheit" (1964a, 109). Die kritische Differenzierung des Textes kommt zum Ziel in einer unverfügbaren Betroffenheit des Predigers von der Sache, die der Text zum Aus-
14 1964, 435. Diesen Vorgang versteht Mezger gelegentlich als einen Austausch von Sprachmitteln. Ziel der Auslegung ist es, "die dem Text aus seiner Herkunft anhaftenden Sprachhallen [...] so durchscheinend zu machen, daß sie den Sinn nicht verstellen. Ebenso sind aber auch die heutigen Sprachmittel von beengenden Bedingungen zu befreien, so daß sie dem sagbaren Textwillen fügsam werden. Die Befreiung des Textes zu seinem eigenen, eigentlichen Aussagewillen geschieht mit der heutigen Sprache, zuweilen auch gegen sie, niemals aber ohne sie" (1968, 55f; vgl. 1959a, 113). 15 1967, 374; vgl,1964a, 105: "Das Anthropologische ist nun einmal unwahrscheinlich konstant"; so auch 1959, 391; 1968, 44. 16 Dies hat auch K.G.Steck Mezger vorgeworfen, wenn er sich (in einer Auseinandersetzung mit Mezger 1959) dagegen wehrt, daß man "die Wahrheit Gottes im Handeln Jesu Christi [...] in die allzu engen Grenzen der Existenz des einzelnen und seines partiellen Selbstverständnisses einsperrt" (Steck 1961, 13).
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druck bringen will und die in der Erfahrung des Verstehens das Selbstverständnis des Predigers nachhaltig verändert. In Mezgers Perspektive ist der Prediger dann in der gleichen Weise wie bei Iwand Maßstab der Textauslegung. Auch jener hat ja im Interesse der Unverfügbarkeit des Wortes die Differenz zwischen diesem Wort und der darauf jeweils nur hinweisenden Wörtlichkeit des Textes herausgestellt und das Ereignis des Wortes als ein Geschehen am Prediger begriffen, das nicht ohne die Bemühung um den Text zu denken ist (vgl. PM 94). Die Unterscheidung von Wort und Text wird von Mezger zwar so gewendet, daß sich die Durchsetzung des Wortes in der Regel gegen die Sprachmittel des Textes vollzieht. Der Ort, an dem sich das Wort als ein verbindlich Glauben forderndes zur Geltung bringt, ist jedoch auch hier die Person des Predigers. Dessen "Redlichkeit" und "Wahrhaftigkeit" gegenüber dem Text wie den Verstehensbedingungen der Gegenwart sind die von Mezger oft genannten Voraussetzungen der Auslegung. Auch für Mezger erscheint die Predigtarbeit daher im Grunde als ein Glaubensgeschehen: Der Prediger vollzieht die Bewegung des Textes so nach, daß dieser eine "Einschmelzung in meine Existenz" erfahrt, die ihn zum "Text meines Glaubens" macht (1959, 401). Die homiletische Erschließung der Wirklichkeit wird wiederum durch den Glauben des Predigers vermittelt. Damit stellt sich auch bei der hermeneutischen Homiletik die Frage, in welcher Weise die Situation des Predigers selbst gedeutet wird.
3. Predigtanleitung als Verpflichtung des Predigers Die Eigenart von Mezgers homiletischem Entwurf besteht darin, daß er die Predigt als einen hermeneutischen Vollzug beschreibt. Der Prediger muß zunächst selber die Sache des Textes verstanden, mithin auf seine eigene Wirklichkeit bezogen haben. "Habe ich's aber selber verstanden, so kann ich's auch verständlich sagen; und alle unlauteren Konditionen sind hinfällig" (1959a, 115). Der Wirklichkeitsbezug der Predigt ist dann nichts anderes als das Resultat der hermeneutisch bewußten Auslegung des Textes; die Deutung der Wirklichkeit vollzieht sich mit genau denjenigen Kategorien, die das pastorale Verstehen des Textes steuern.
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Mit der Betonung einer universalen Methode zielt Mezger ausdrücklich auf eine "Anleitung zur Predigt", wie der programmatische Titel eines seiner ersten homiletischen Aufsätze (1959) lautet. Mezger spitzt das hermeneutische Predigtverständnis deutlicher als Iwand auf die berufliche Wirklichkeit des Predigers zu. Wie diese gedeutet wird, dokumentiert etwa folgende Erläuterung: Die Anleitung zur Predigt "teilt mit der Exegese noch das Interesse an der Auslegung, sine ira et studio, fragt also nicht, wie das Erkannte praktikabel werden möchte. Sie teilt aber mit der Meditation [...] das Interesse an der Konkretion, am Ziel also, am Menschen, zu dem das gelangen soll. Sie umfaßt und prüft so den ganzen Weg der Übersetzung über die Kluft des historischen Abstandes zu unserem Leben, und da sie beachtet, daß das einst Gesagte nicht nachgesagt, sondern neu gesagt werden soll, so muß sie zeigen, was Verstehen heißt, und sichtbar machen, wie Verstandenes zur Sprache kommt, d.h. heute sagbar wird für hörende Menschen. Anleitung zur Predigt ist also unterwegs vom Text zur Verkündigungsrede. Will die Exegese sagen, was dasteht, so will verstehende Anleitung sagen, was drinsteht. Man soll nicht sagen, das geschehe auf einer anderen Ebene, denn es handelt sich lediglich um eine konsequente Weiterführung der Exegese, so freilich, daß ihr Ergebnis bis zur Gemeinde durchgedacht und ausgesprochen wird, [...] als unmißverständliche Aufforderung zum Glauben. Exegese spricht den erkannten Sachverhalt des Textes aus. Predigt spricht ihn dem Hörer zu. Je besser Exegese und Predigtanleitung miteinander korrespondieren, desto ungebrochener und überzeugender findet der Text zum Hörer" (1959,383f).
Diesem Text läßt sich Mezgers Grundanliegen ebenso entnehmen wie die Probleme, die aus seiner spezifischen Fassung der Homiletik entstehen. Die Anleitung zur Predigtarbeit erscheint als eine Anleitung zum Verstehen auf einem kontinuierlichen und zugleich perspektivenreichen Weg, der von der exegetischen Arbeit zur Predigt verläuft. In dieser Einheit verbinden sich der methodisch ausgewiesene Textbezug und der dem Glauben eigene Wirklichkeitsbezug. Das ¡Continuum des Auslegungsprozesses verbindet außerdem die methodische Eigenverantwortlichkeit in Exegese und Meditation mit dem angezielten Zustand rezeptiver Betroffenheit von der "Sache" des Textes. Die Einheit des Auslegungsprozesses erweist sich in dem zitierten Text allerdings zugleich als eine Maxime, die den Zugang zur Wirklichkeit des Predigers eher verstellt als klärt. Denn das Postulat der Kontinuität macht es höchst schwierig, einzelne Schritte oder Aspekte der Predigtarbeit methodisch voneinander abzugrenzen. So wird hier die "Meditation" als Reflexion des Predigtziels von der Exegese gleichsam aufgesogen: Im vorletzten Satz steht die Exegese nur noch der Predigt gegenüber. Inwiefern sich historische Exegese, eigenes Verstehen und Ausarbeitung einer be106
stimmten Predigt doch auch unterscheiden, kann in diesem Rahmen nicht zur Sprache kommen. Dazu verhindert die Betonung der Auslegungskonsequenz die Differenzierung verschiedener homiletischer Reflexionsebenen·. Stellt die "Predigtanleitung" zunächst ein Bedenken der konkreten Predigtarbeit in Exegese und Meditation dar, so wird sie im weiteren Verlauf des Zitats, als "unterwegs vom Text zur Verkündigungsrede", selbst zu einem Teil der Predigtarbeit, und zwar demjenigen, welcher der Exegese korrespondiert. Die Unklarheit des theoretischen Status' der "Predigtanleitung", die sich auch in anderen Ausführungen aufweisen läßt, ist Ausfluß der Identifikation von theologischem Inhalt und homiletischer Methode17. Als Anleitung zum Verstehen entfaltet die Homiletik die hermeneutischen Regeln, die die Predigtarbeit leiten sollen, und führt zugleich die angemessene Anwendung dieser Regeln selbst vor, indem sie exemplarische Themen in predigtartiger Diktion verständlich zu machen versucht18. Hier zeigt sich eine überraschende Parallele zu Iwands Konzeption: Die homiletischen Ausführungen tendieren dazu, selbst exemplarische Durchführung konkreter Predigt zu werden, indem sie die theologische Tradition auf deren Bezug zu gegenwärtiger Wirklichkeit hin auslegen. Auch für Mezger beschreibt die "Anleitung zur Predigt" im Grunde nichts anderes als die Entstehung des Glaubens. Die Behauptung eines bruchlosen homiletischen Verstehensprozesses zielt dann darauf, die Predigtarbeit doch als einen rezeptiven Vorgang zu fassen: Zwischen Textaussage und Hörerwirklichkeit darf das Subjekt des Predigers keinerlei eigenständige, etwa als "schöpferischen Vorgang" zu beschreibende19 Aktivität entfalten. Wiederum ist das Mißtrauen gegenüber pastoraler Aktivität ein bedeutsames homiletisches Motiv. Dieses Mißtrauen manifestiert sich bei Mezger zwar nicht, wie bei Iwand, in einer inhaltlichen Bestimmung des Subjekts als eines "theolo-
17 Die Vermengung von Theorieebenen zeigt sich exemplarisch auch in folgendem Satz: "Anleitung zur Predigt gehört also innerhalb der Homiletik [...] nicht zur formalen, sondern zur prinzipiellen Lehre von der Predigt, wiewohl sie selbst nicht Lehre von der Predigt ist, sondern Einübung in sie, also die Lehre von der Predigt voraussetzt" (aaO. 385). 18 Paradigmatisch ist die Gliederung von Mezger 1967: Unter "I. Zugang" wird die hermeneutische Methodik in Anlehnung an Gadamer entfaltet, "II. Verständnis" entfaltet drei theologische "Beispiele als Versuche sagbarer Sachverhalte" (aaO. 381). 19 So kennzeichnet - in der Replik auf Mezger - H.Schröer die Meditation (Schröer 1965, 747).
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gus crucis", der gegenüber dem Wort Gottes nur als eine in der Anfechtung zum Verschwinden bestimmte Größe erscheint. Im Rahmen des hermeneutischen Ansatzes wird die Priorität des Wortes vielmehr durch die Verpflichtung des Predigers auf eine bestimmte Methode gewahrt, aus der sich die zu predigenden Inhalte jeweils ergeben. Die Unverfügbarkeit der Offenbarung ist durch diese methodische Wendung im wesentlichen formal begründet. So erklärt sich die wiederholte Forderung nach "Redlichkeit" oder "Wahrhaftigkeit" des Predigers. Eine theologische Deutung dieser Maxime geschieht lediglich durch Hinweise auf die "evangelische Freiheit vom Gesetz"20 oder die Vollmacht des Textes, die sich dem Prediger mitteilt. Aus der Verpflichtung auf eine bestimmte Methode ergibt sich jedoch im Grunde die gleiche Abbiendung des predigenden Subjekts, wie sie bei Iwand zu beobachten war. Denn die homiletische Methode sachgemäßen Verstehens, auf die Mezgers Anleitung zielt, ist eben kein vom Verstehenden selbst bestimmtes und begrenztes Handeln, sondern vollzieht sich als eine Bestimmung von außen, die dem Verstehenden als Wahrheit "aufgeht". Die Predigtarbeit als je neue Konstitution des pastoralen Glaubens vollzieht sich in der unverfügbaren "Erfülltheit des Augenblicks" (1964a, 104), in dem jeweils alle subjektiven Vorgaben hinfällig werden. Ebensowenig können die Bedingungen berücksichtigt werden, denen das Verstehen in einem bestimmten sozialen Kontext unterliegt. Auch wenn das glaubende Subjekt durch Verstehen, nicht durch Erkennen (Iwand) konstituiert wird, bleibt es im Ergebnis wiederum in kritischer Distanz zu allem Vorflndlichen, denn Glauben wie Predigtakt sind nur möglich im Geschehen einer diskontinuierlichen "Aktualität" (vgl. 1964a, 104ff). Die Folgen dieser Deutung der hermeneutischen Predigtarbeit lassen sich zunächst an den einschlägigen Überlegungen Harbsmeiers demonstrieren: Wenn die Predigt auf ein Verstehen der Hörer zielt, das sich nicht durch eine menschliche Leistung herstellen läßt, so darf auch der Prediger selbst nicht am Erbringen einer bestimmten Leistung orientiert sein. Seine angemessene Haltung besteht vielmehr in einer spezifischen "Selbstvergessenheit":
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Vgl. etwa 1964a, 100; 1967, 377.
"Predigen ist dann nur im Vergessen ein Reflexionsprodukt. Dieses eigentümliche 'Vergessen' [...] ist das Loskommen von sich selbst [...] Das geschieht dadurch, daß dem Prediger der Sinn einzig danach steht, die Bestimmung der Predigt zur Geltung zu bringen, nicht ihre Leistung. Das Eigeninteresse des Predigers verschwindet in die Bestimmung der Predigt hinein" (1973,343).
Die Orientierung an der Bestimmung der Predigt, unverfügbar Glauben bei den Hörern zu schaffen, resultiert in dem programmatischen Verzicht des Predigers auf eine Reflexion seiner Arbeit, die vom "Augenblick" des entsprechenden Widerfahrnisses absieht. Damit aber ist das predigende Subjekt sich selbst und erst recht einer von außen kommenden homiletischen Reflexion entzogen. Deswegen hat Harbsmeier die Homiletik verschiedentlich nicht als "Wissenschaft", sondern als "Weisheit vom Predigen" bezeichnet21. Auch diese Unterscheidung soll markieren, daß die konkrete Predigtarbeit nicht zur Gänze methodisch zugänglich ist, sondern sich in ihrer individuellen "Spontaneität" im Grunde jeder objektiven Beschreibung entzieht. Mehr als ganz situationsabhängige "Weisheitsregeln" kann es für die Predigt des unverfügbaren Wortes nicht geben. Dieser prinzipiell begründeten Zurückhaltung gegenüber der Angabe praktischer Regeln der Predigtarbeit hat sich auch Mezger angeschlossen, wobei er zwischen dem legitim "Praktischen" und dem voreilig "Praktikablen" als Ziel der theologischen Besinnung differenziert (vgl. 1965). Ähnlich wie bei Harbsmeier soll damit eine Bestimmung der pastoralen Arbeit von "außen", durch eigene Interessen der Beteiligten abgewiesen werden. Die legitime Praxis ergibt sich vielmehr unmittelbar aus der aktuellen Glaubenserfahrung. So gilt für Homiletik ebenso wie für die Predigtarbeit im einzelnen (Mezger 1965, 322): "Natürlich gibt es 'Erfahrungsgrundsätze' und 'Gebrauchsregeln'; aber zur linken Hand, und in organischer Folgerung (nicht Anstückelung) aus dem erkannten Sachverhalt. Das ist in der "Lehre' wie in der 'Praxis' genau gleich. Man kann nicht in der Liebe sein und fragen: 'Wenn ich doch bloß wüßte, wo ich nun die Liebe praktizieren kann!"'
Im Blick auf die Situation des Predigers ergibt sich damit aus der hermeneutischen Homiletik die gleiche Konsequenz wie aus Iwands gleich-
21 1973, 346f; vgl. 1964, 338 sowie 1967, 305: Die Ziele theologischer Bildung sind "Gespür" und "Takt".
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sam gegenständlichem Ansatz. Die konkrete berufliche Aufgabe, vor der der Prediger steht, ist nichts als ein exemplarischer Fall des Glaubensgeschehens, bei dem sich das Handeln unmittelbar aus der unverfügbaren Erfahrung der Offenbarung ergibt22. Besondere, über die allgemeinen theologischen Auslegungsgrundsätze hinausgehende Regeln der Predigtarbeit können unter dieser Voraussetzung ebenso wenig Bedeutung erlangen wie Erfahrungen, die sich aus der spezifischen beruflichen Praxis des Predigens ergeben. Dies hat schließlich auch Folgen für Mezgers Auffassung der durch die Predigt zu erschließenden Wirklichkeit. Die Situation der Hörer, auf deren "Konkretheit" die Auslegung zielen soll, kann immer nur im Augenblick des Glaubensverstehens, als eine je neue Wirklichkeit erscheinen. Aus der Aktualität des Verstehens ergibt sich der weitgehende Verzicht auf eine inhaltliche Bestimmung dieser Wirklichkeit. Eine grundsätzliche Reflexion der Aufgabe, die der Predigt durch ihre Hörer vorgegeben ist, hat Mezger sich ebenso erspart wie dies bei Iwand festzustellen ist: Hier wie dort kommt die homiletische Situation nur kritisch, nicht aber konstruktiv in den Blick.
22
Vgl. 1965, 322: "Die Sprache der Predigt, ihre Verständlichkeit, ihre Sach- und Lebensnähe - ist auf keinen Fall ein Sonderproblem neben der Frage nach der Botschaft; sie ist vielmehr eine reine Sachfrage."
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C. Die "Predigtnot" als Resultat eines dogmatischen Wirklichkeitsbegriffs
Die Untersuchungen des Ersten Teils haben gezeigt, daß die Frage nach dem homiletischen Begriff der Wirklichkeit auch die von der Wort-Gottes-Theologie geprägte, in sich sehr differenzierte Predigttheorie zu erschließen vermag. So ist es nicht verwunderlich, daß die Beiträge, die etwa ab 1960 die zeitgenössische Predigtlehre - wiederum im Namen der "Wirklichkeit" - in Frage stellen, zunächst ebenfalls an den theologischen Kategorien festhalten, mit denen die Situation der Hörenden von Iwand und seinen Zeitgenossen interpretiert wird. Um diese implizite, von den Beteiligten kaum durchdachte Kontinuität zu verdeutlichen, konzentriert sich die folgende Auswertung auf eine Skizze derjenigen Elemente des homiletischen Wirklichkeitsbegriffs, die auch für die weitere Entwicklung der Diskussion bedeutsam blieben. Eine solche Skizze vermag zugleich die Probleme herauszuarbeiten, an denen jene Kritik angesetzt hat.
1. Homiletik als Bearbeitung der Predigtnot Die Gemeinsamkeit, die die bisher betrachteten homiletischen Beiträge trotz alle Unterschiedenheit auszeichnet, ist nicht zuletzt die Gemeinsamkeit eines bestimmten Problembewußtseins. Iwand spricht von einem "Bann", der auf der Predigtarbeit liegt (PM 120), und auch Harbsmeier und Mezger sehen sich zu ihren homiletischen Äußerungen durch - im einzelnen unterschiedlich beschriebene - Mängel der Predigtpraxis veranlaßt, die wiederum als Ausdruck einer defizienten Predigttheorie erscheinen. In seinen theoretischen wie praktischen Aspekten ist dieses Problembewußtsein in der weit verbreiteten Rede von der "Predigtnot" zusammengefaßt. Diese gemeinsame pastorale Erfahrung prägt auch die Beschreibung der Art und Weise, in der die Predigt sich auf die Wirklichkeit ihrer Hörer beziehen soll. 111
Zur Verdeutlichung dieser leitenden Perspektive der "Predigtnot" sei zunächst nochmals an die theologische Zentralstellung der Predigt erinnert, die im Gefolge der Wort-Gottes-Theologie für alle o.g. Autoren selbstverständlich ist. Im Anschluß vor allem an Barths dogmatische Beschreibung erscheint die Predigt als Paradigma des kirchlichen Verkündigungshandelns und damit als vornehmste berufliche Aufgabe des Theologen. Die Predigt ist der Ort, an dem das prinzipiell "dialektische" Verhältnis von Wort Gottes und Wirklichkeit für alle Beteiligten konkret wird. Die den Glauben begründende, konflikthafte Durchsetzung des Wortes vollzieht sich dann, wie besonders Iwand deutlich gemacht hat, paradigmatisch in der Predigtarbeit1. Es ist zunächst die Situation des Predigers, in der das spannungsvolle Verhältnis von Gott und Mensch so klar zum Vorschein kommt, wie Barth es in den bekannten drei Sätze über die "Bedrängnis der Theologie" formuliert hat2. Die den Predigern zugemutete "Not der Predigt" ergibt sich in dieser Tradition zwangsläufig aus dem vorausgesetzten dogmatischen Predigtbegriff3. Iwands Ausführungen zur Predigtnot in den GPM-Vorworten machen allerdings deutlich, daß sich in der Nachkriegs situation mit dieser prinzipiellen Deutung mehr und mehr bestimmte Erfahrungen der Prediger verbinden: Entgegen den durch den Kirchenkampf geweckten Erwartungen erscheint die Predigt weithin als wirkungslos; sie ist für das christliche Leben, auch in seiner politischen Dimension, weder von kritischer noch von konstruktiver Bedeutung4. An zahlreichen homiletischen Beiträgen der Zeit läßt sich die Enttäuschung über eine restaurative Entwicklung in Kirche und Gesellschaft ablesen, die dem Inhalt und der Wirkung der Predigt in den Jahren vor 1945 diametral entgegengesetzt zu sein scheint5. Auch Mezgers Polemik gegen eine lebensfremde Predigtsprache
1 Dieser Zusammenhang, der von Iwand an der Existenz des "Zeugen" erläutert worden ist, wird auch von H.Ott, der die Predigt im übrigen ganz anders versteht, benannt: "Die Predigt ist objektiv Lehre. Sie ist aber - weil diese Lehre existentieller Art ist - zugleich subjektiv der Ausdruck einer persönlichen Gotteserkenntnis." (Ott 1955, 276) 2 "Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben." (Barth 1922a, 158) 3 Vgl. zu dieser Konsequenz der Wort-Gottes-Homiletik Rössler 1986, 343f. 4 Mit großer Resonanz apostrophierte G.Ebeling die Predigt als "institutionell gesicherte Belanglosigkeit" (1959, 13); vgl. dazu Jetter 1982, 385f. 5 Vgl. neben Iwand und Harbsmeier (1977, 5 0 etwa Dehn 1946; Diem 1952; Trillhaas 1949.
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und gegen eine homiletische "Überwelt" läßt sich als Auseinandersetzung mit dem praktischen Wirkungsdefizit der zeitgenössischen Predigt verstehen. Dieses Defizit aber wird für Iwand und andere Autoren eben dadurch zur Bedrängnis, daß der Predigt nach wie vor eine exemplarische Bedeutung zugemessen wird: In der Diskussion über Anspruch und Wirkung der Predigt wird zugleich die gesellschaftliche Bedeutung von Kirche und Theologie im ganzen thematisch. In der Reflexion der Predigtnot verbinden sich somit dogmatisch-prinzipielle Momente mit der Bearbeitung des pastoral erlittenen Wirklichkeitsverlustes der Predigt. Es ist diese doppelte Perspektive, in der die Frage nach der Wirklichkeit für die Predigtlehre bedeutsam wird. Im weiteren soll dazu die folgende These entfaltet und begründet werden: Die Erfahrung der Predigtnot, wie sie sich in den betrachteten Texten vielfältig spiegelt, ist wesentlich durch die programmatisch geforderte und zugleich systematisch erschwerte Beziehung der Predigt auf die Situation der an ihr Beteiligten bestimmt. Die Predigtnot ist faktisch Ausdruck eines bestimmten homiletischen Wirklichkeitsbegriffs, und die Konturen dieses Wirklichkeitsverständnisses lassen sich den einander ergänzenden Auslegungen der Predigtnot entnehmen.
2. Die Predigtnot als Ausbleiben der Predigtwirkung Alle bisher untersuchten Autoren sind sich darin einig, daß die Predigt zunächst dogmatisch-normativ als Wort Gottes zu bestimmen ist; dessen angemessene Entfaltung stellt die inhaltliche Norm der Predigtarbeit dar. Insofern das Wort Gottes eo ipso auf die Wirklichkeit bezogen ist, muß auch von der Predigt eine reale, zugleich kritische wie konstruktive Wirkung erwartet werden. Die kritische Bestimmung der homiletischen Situation, wie sie im Anschluß an die "dialektische" Theologie der Krise allgemeine Gültigkeit erhielt, ist am deutlichsten von Iwand expliziert worden, und zwar durch den Rückgriff auf die "theologia crucis". Die Offenbarung Gottes im Kreuz läßt die menschliche Wirklichkeit nicht nur als Leidenszusammenhang in den Blick kommen, so daß sie für den Glaubenden zur Quelle der Anfechtung wird. Sondern sie erscheint auch geprägt durch die Tendenz zur individuellen und kollektiven Selbstsicherung. Im Handeln des Ein113
zelnen wie in dessen institutioneller Verfestigung manifestiert sich eine Gottlosigkeit, die die jeweilige Lebenswirklichkeit prägt. Indem die Predigt dies zur Sprache bringt, wird sie zur Predigt des Gesetzes. Mit der Predigt des Wortes verbindet sich auf der anderen Seite die Erwartung einer positiv veränderten Wirklichkeit, die als restituierte Schöpfung (Harbsmeier) oder als durch den Freispruch des Evangeliums ermöglichte Freiheit zu erneuertem Handeln anzusprechen ist. Insbesondere Iwand hat darauf insistiert, daß das Christusgeschehen auf diese Weise nicht nur das individuelle Menschenleben, sondern die Wirklichkeit im ganzen neu konstituiert. Der Generalisierung der Anfechtung entspricht die Hoffnung auf eine durch die Verheißung umfassend verwandelte Welt. Die Predigt darf die "wirkliche Welt" daher weder durch eine unzutreffende Ontologie noch durch eine Beschränkung auf kirchliche Sonderwelten verfehlen (Mezger), sondern in der Explikation des Wortes bringt sie eine gegenständliche Erkenntnis zum Ausdruck (Iwand), die ein verwandeltes christliches Ethos ermöglicht und anleitet. Auch in dieser Hinsicht realisiert sich der Wirklichkeitsbezug der Predigt in ihrem Charakter als Predigt des Gesetzes6; und dieses gepredigte Gesetz hat dann nicht zuletzt auch politische Relevanz7. Die Frage nach der Bedeutung der menschlichen Wirklichkeit für die Nachkriegshomiletik findet damit eine zunächst erstaunliche Antwort. Die dogmatische Bestimmung der Predigt zielt praktisch auf die Entfaltung des Wortes Gottes mittels der Auslegung eines biblischen Textes. Zur materialen Norm der Predigtarbeit wird damit jedoch die dem göttlichen Wort zugeschriebene Wirkung-, und der Gehalt der Predigt läßt sich im wesentlichen durch ihren intendierten Wirklichkeitsbezug beschreiben8. Gegen die ausdrückliche Intention der Homiletiker erscheint die Homiletik dann als eine Lehre von der Wirkung der Predigt·, und die Predigtnot
6 Ohne diesen Begriff zu benutzen, haben auch Mezger und Harbsmeier keinen Zweifel daran gelassen, daß die Predigt auf eine Bestimmung der Wirklichkeit als eines Handlungszusammenhangs hinauszulaufen hat. 7 S.o. A.II.3 und III.2; vgl. weiterhin etwa Dehn 1946, 196f; Harbsmeier 1977, 186ff. 202ff; Iwand u.a. 1954; Schellong 1959. 8 Dieses Gefälle auf eine theologische Erschließung und Bestimmung der Wirklichkeit ist etwa für Iwands Predigtmeditationen durchgängig kennzeichnend.
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besteht in der Erfahrung, daß die reale Predigt nicht die durchgreifenden Wirkungen entfaltet, die ihr dogmatisch zugeschrieben werden9. Im Unterschied zu den im Zweiten Teil zu untersuchenden Arbeiten hat die bisher betrachtete homiletische Diskussion für dieses Problem jedoch nicht einen unzureichenden Situationsbezug der Predigt verantwortlich gemacht. Unter dem Eindruck der Predigtnot verstärkt sich vielmehr die theologische Verurteilung der Wirklichkeit: Sie erscheint als widerständiges Gegenüber der Predigtarbeit, als geprägt von Gesetzlichkeit und dem menschlichen Anspruch, über das eigene Leben vollständig verfügen zu können. Auf diese Weise bestätigen sich dogmatisches Vorverständnis und pastorale Erfahrung der Wirklichkeit gegenseitig: Die ausbleibende Predigtwirkung erscheint als Ausdruck der prinzipiell-theologisch kritischen Bestimmung des Vorfindlichen; und die entsprechende Qualifikation der Predigtarbeit als Quelle der Anfechtung bestätigt sich in der krisenhaften Predigererfahrung. Auf diese Weise, durch eine unzureichend reflektierte Verknüpfung von dogmatischen und erfahrungsbezogenen Deutungen, erscheint die gegebene Wirklichkeit der Hörenden ausschließlich als Problem der Predigt. Die verheißene, von der Predigt zu erschließende Wirklichkeit wird unter dem Eindruck der Predigtnot nicht an denjenigen Aspekten der Lebenserfahrung expliziert, welche sich bereits als Wirkung des Evangeliums deuten ließen, sondern die Wirklichkeit des Glaubens muß eine rein zukünftige oder eine, so Harbsmeier, in unverfügbarer Spontaneität realisierte bleiben.
3. Die Predigtnot als Ausdruck des pastoralen Unglaubens Gemeinsam ist den betrachteten Autoren nicht allein die Erwartung einer bestimmten Wirkung der Predigt und damit die fraglose Applikation systematisch-theologischer Kategorien auf die Wirklichkeit, die der Predigt gegenübersteht. Sondern es herrscht auch Einigkeit über die Instanz, die diese Wirkung der Predigt konkret, gleichsam empirisch vermittelt. Die Bedingung der Möglichkeit für jene Bestimmung der "wirklichen Welt" ist jedenfalls nicht die vorfindliche, verfaßte Kirche. Die Kirche ist nicht
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Von dieser Erfahrung geben die Briefe Iwands aus seinen letzten Lebensjahren ein z.T. erschütterndes Zeugnis; vgl. Sänger 1979a, 99ff.
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Bedingung der Predigt, auch die Gemeinde erscheint vielmehr als eine durch den jeweiligen Akt der Predigt allererst geschaffene Wirklichkeit10, die wiederum, als eine "unsichtbare Kirche", stets im kritischen Gegensatz zum institutionalisierten Kirchentum stehen wird. Aus dieser Denkfigur ergeben sich die durchgehend kirchenkritischen Töne, die eine Verantwortung der Kirche für Gehalt und Wirkung der Predigt negieren. Wird auf diese Weise die faktische Rahmung der Predigt durch Kirche und veranstalteten Gottesdienst lediglich als Bedrohung des Predigtvollzugs wahrgenommen, so muß die gesamte Verantwortung für den Wirklichkeitsbezug der Predigt vom Subjekt des Predigers getragen werden. Die Wirklichkeit der Predigthörer fällt für alle untersuchten Autoren so mit der Situation des Predigers selbst zusammen, daß sich in seiner Erfahrung das Verhältnis zwischen der Offenbarung und der Lebenswirklichkeit exemplarisch erschließt. Die Frage nach dem homiletischen Wirklichkeitsbegriff wird damit zur Frage nach derjenigen subjektiven Wirklichkeit, in der das Wort allererst zur Wirkung kommen muß, um Inhalt der Predigt zu werden. Insofern diese Wirklichkeit des Predigers zugleich exemplarisch für alle Wirklichkeit des Glaubens steht, wird die "wirkliche Welt", der die Predigt gilt, de facto doch immer durch das Medium des Glaubens, also in einer subjektiven Perspektive erschlossen11. Mezgers entschiedene Interpretation der Gotteserfahrung im Medium interpersonaler Begegnung macht nur ausdrücklich, was hinsichtlich der Wirklichkeitserschließung auch von Iwand und anderen vorausgesetzt wird: Das Gegenüber der Predigt ist stets die Situation eines einzelnen, der seine Lebenswirklichkeit im Zusammenhang seines Glaubens erfährt. Erscheint der Inhalt der Predigt nun zugleich als exemplarischer Ausdruck des Glaubens, so muß die Vorbereitung der Predigt als derjenige Prozeß verstanden werden, in welchem sich der Glaube des Predigers allererst konstituiert. Was Mezger durch die Entfaltung einer verbindlichen
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In besonders deutlicher Form ist diese Überzeugung in H.Diems Formel "Die Geburt der Gemeinde in der Predigt" zum Ausdruck gebracht (vgl. Diem 1949/50). 11 Der damit skizzierte Konsens wird von J.Konrad formuliert: "Die Beziehung der Verkündigung auf die Situation geht über die Situationsverbundenheit der Existenz, ob es sich dabei nun um den Einzelnen, die Gemeinde oder die Welt handelt, der die Ausrichtung des Wortes gilt. In der Existenz begegnen sich Evangelium und Situation. [...] Das heißt zugleich, daß uns die Situation, wie weit oder wie eng ihr perspektivischer Umriß erscheinen mag, nicht abstrakt reflektiert, nicht objektiv für sich betrachtet, sondern lediglich in unmittelbarer Bedeutung für die Existenz angeht" (Konrad 1957, 238).
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homiletischen Methode intendiert, versucht Iwand durch inhaltliche Bestimmungen zu verdeutlichen: Die Entstehung des Glaubens muß, so ist die gemeinsame Überzeugung, zugleich als hinreichender Grund seiner öffentlichen Äußerung verstanden worden. Dieser Zusammenhang ist etwa an Iwands Strukturierung der Glaubenserfahrung als eines Prozesses zwischen Glauben, Erkennen und Bekennen abzulesen, insofern das Bekennen selbst die Urform der Predigt darstellt. Ist der Glaube des Predigers die Instanz, in der sich die Wirkung des Wortes ausschließlich vermittelt, so muß die Predigtanleitung zur Vermittlung einer bestimmten Haltung des Predigers werden. In der Tat können die homiletischen Texte durchgehend als der Versuch gelesen werden, diese subjektive Wirklichkeit des Predigers normativ so zu beschreiben, daß sie dem Widerfahrnis der Offenbarung entspricht. Dabei wiederholt sich jedoch die Tendenz, die vorfindliche Wirklichkeit im wesentlichen kritisch zu beschreiben: Die Subjektivität des Predigers ist ein Gegenstand des Mißtrauens, denn die Existenz des Glaubenden darf gegenüber dem Wort keine eigenständige Bedeutung beanspruchen, sondern hat lediglich mediale, vermittelnde Funktion. Jenes Mißtrauen zeigt sich etwa an der homiletischen Diskussion über die Bedeutung des "Verstehens" in der Predigtarbeit. In dieser Auseinandersetzung spiegelt sich die dogmatische Kontroverse über die Zuordnung von "Glauben und Verstehen". Beide hier vertretenen Positionen können als Ausdruck des Interesses verstanden werden, die in der Predigt zur Sprache kommende Wirklichkeit des Glaubens nicht durch das "eigenmächtige" Subjekt des Predigers verfalschen zu lassen. Während Iwand und die unmittelbaren Schüler Barths wie O.Weber und H.Diem die Predigtarbeit deswegen nicht als eine hermeneu tische Bemühung bestimmen wollen, weil das Verstehen ihnen als paradigmatischer Akt menschlicher Bemächtigung erscheint12, insistiert insbesondere Mezger darauf, die Vorbereitung der Predigt ausschließlich in hermeneutischen Kategorien zu beschreiben, weil das Verstehen ihm, im Anschluß an Bultmann, als Paradigma existentieller Betroffenheit durch eine gerade nicht verfügbare Wahrheit erscheint. Einig sind sich die beiden Auffassungen also darin, daß die Subjektivität des Predigers sich der Erfahrung des Wortes zu unterwerfen hat: Die homiletische Anleitung zur Predigt voll12
Vgl. Diem 1958, 282ff; K.G.Steck 1961, 13; Weber 1960, 23.31.
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zieht sich in jedem Fall weniger als Anleitung zu einer bestimmten Praxis denn als Verpflichtung auf eine bestimmte, das Vorfindliche in Frage stellende Erfahrung. Auch in dieser im engeren Sinne pastoralen Perspektive erscheint die Erfahrung der Predigtnot als Resultat einer Verschränkung dogmatischer und erfahrungsorientierter Momente. Theologisch wird die unzulängliche Predigtpraxis als Konsequenz des Gegensatzes von Gott und sündigem Menschen verstanden. Die mit der Predigtarbeit verbundenen Anfechtungen spiegeln dann nichts anderes als die im Kreuz erschlossene Lebenswirklichkeit als Leidens- und Enttäuschungserfahrung. Umgekehrt müssen unter dieser Prämisse die Wirkungslosigkeit der Predigt und die entsprechenden beruflichen Schwierigkeiten den Predigern als Folge ihres eigenen Unglaubens erscheinen: Die Predigtnot wird interpretiert als Resultat einer Haltung, die sich dem Geschehen des Wortes durch das Festhalten an eigenen Interessen und Absichten zu entziehen versucht13. Wiederum erscheint die Predigtnot als Ausdruck eines Wirklichkeitsverständnisses, das einseitig dogmatisch bestimmt ist. Indem die Predigt als exemplarische Äußerung des glaubenden Subjekts und zugleich als dessen Negation erscheint, wird der Zugang zur Wirklichkeit der an der Predigt Beteiligten systematisch erschwert. Hinsichtlich der spezifischen Wirklichkeit des Predigers zementiert die faktische Ausblendung des Subjekts, wie sie besonders klar in Harbsmeiers Rede von der notwendigen "Selbstvergessenheit" des Predigers zum Ausdruck kommt, eine ausschließlich kritische Sicht des Predigtproblems. Damit wird die Predigtnot, wie die Homiletik der 50er Jahre sie zugleich produziert und beklagt, faktisch zu einer beruflichen Schwierigkeit von kaum zu unterschätzendem Gewicht.
13 So argumentiert auch O.Weber in seinen Erwägungen zu "Not und Verheißung unserer Predigt", wenn er die Erörterung verschiedener prinzipieller wie zeitbedingter Aspekte der Predigtnot auf die Frage "nach dem bekehrten Prediger" reduziert (Weber 1960, 27), der die Verheißung für sich selbst "in Glauben und Gehorsam vernehmen" soll (aaO. 24).
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4. Die Predigtnot als berufliches Problem Die dogmatische Bestimmung der Predigt impliziert nicht nur ihre tendenzielle Identifizierung mit dem Wort Gottes und seiner Wirkung sowie, in anderer Hinsicht, mit dem individuellen Bekenntnis des Glaubens. Sondern die Predigt erscheint auch als das Paradigma der Verkündigung, die dem kirchlichen Amt aufgetragen ist. Diejenige Praxis, auf welche die erörterten homiletischen Beiträge zielen, ist daher im Grunde die pastorale Praxis im ganzen. Dabei wiederholt sich auch hinsichtlich dieser beruflichen Perspektive auf die Wirklichkeit, daß ein solcher Bezug einerseits wahrgenommen und akzentuiert, andererseits aber aus dogmatischen Gründen verdeckt wird. Die Predigt ist Zentrum der pastoralen, der theologischen Berufstätigkeit. Die Predigtnot erscheint darum zugleich als Krise der Theologie, der Kirche und des Glaubens und wird eben dadurch bedrohlich: In der Not der Predigt steht das gesamte kirchliche Denken und Handeln auf dem Spiel. Wie die beiden vorangegangenen Abschnitte verdeutlicht haben, wird jene Not darum von Iwand und anderen auch durch Rückgriffe auf alle diese Ebenen zu bearbeiten versucht. Die hierbei gefundenen prinzipiellen Einsichten haben stets in irgendeiner Weise die konstruktive Beschreibung der faktischen Predigtarbeit zum Ziel. In der Frage nach dem konkreten Verfahren der Predigtarbeit spitzen sich nicht nur die homiletischen, sondern auch die pastoralen und theologischen Probleme im ganzen zu. Unter dieser Prämisse müssen die Auskünfte, die die hier betrachteten Autoren über die berufliche Predigtarbeit geben, zwei Perspektiven verbinden: Sie sollen die Predigtarbeit als ein methodisches Handeln erschließen und orientieren und diese pastorale Praxis zugleich als den unverfügbaren Moment der Konstitution des Glaubens bestimmen14. Insbesondere die Bemühungen um die präzise Beschreibung der homiletischen Textauslegung lassen sich als Versuche verstehen, beiden Hinsichten gerecht zu werden. So wird die historisch-kritische Methode als ein rational-wissenschaftlicher Textumgang zwar bejaht, sie wird aber auf ver14 Dogmatisch reformuliert geht es hier um das Verhältnis der Freiheit des Wortes und der Verantwortung des Glaubenden. Die Predigtarbeit wird damit zu einem Unterfall der christlichen Ethik. Entsprechend hat etwa M.Doeme nach dem "Liebeswerk der Predigt" (Doeme 1964) und W.Fürst nach dem "guten Werk der Predigt" (Fürst 1973) gefragt.
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schiedene Weise doch in das Geschehen des Glaubens eingebettet, sei es durch Iwands Hinweis auf die Begrenzung der Methode durch die souveräne Bewegung des Wortes oder durch ein Verständnis dieser Methode selbst als einer Unterwerfung unter den Sachgehalt des Textes. In jedem Fall läuft die Fassung der Predigtarbeit als Textauslegung darauf hinaus, jene Arbeit als ein Glaubensgeschehen von aller vorgegebenen Erfahrung unabhängig zu machen. Die Erfahrung des Predigers, die ihn zur Predigt befähigt, kommt ausschließlich im Verlauf der Predigtarbeit selbst zustande. Den jeweiligen individuellen und sozialen Verhältnissen kann dann für die Beschreibung des konstruktiven Wirklichkeitsbezugs der Predigt in keinerlei Hinsicht Bedeutung zukommen15. Wird die Predigtarbeit jedoch ausschließlich als ein aus der momentanen Erfahrung des Glaubens resultierendes Handeln verstanden, so bleibt der Prediger für sich selbst und für jede reflektierende Betrachtung unzugänglich. So etwas wie eine Ausbildung zum Prediger oder eine wachsende homiletische Professionalität kann es dann streng genommen nicht geben: Die wachsende Erfahrung, die der Prediger im Verlauf seiner Berufstätigkeit macht, können die theoretische Beschreibung seiner Predigtarbeit nicht tangieren16. Das zeigt sich besonders in der durchgehenden Weigerung, für die Ausarbeitung der individuellen Predigt andere Regeln anzugeben als allgemeine Auslegungsprinzipien. Hier ist vielmehr programmatisch alles der durch den Glauben konstituierten Freiheit des Predigers überlassen, die als Ausdruck der "Freiheit des Wortes" von außen nicht zugänglich und bestimmbar sein darf 7 . Der Vollzug der Predigtar-
15 Noch 1973 hat W.Fürst, der Nachfolger Iwands als Herausgeber der GPM, auf dieser Linie argumentiert. Die entschiedene Ablehnung einer eigenständigen Bedeutung der Situation für die Predigtarbeit korrespondiert mit der theologischen Abwertung des Vorfindlichen: In der Predigt "ist im Lichte des Evangeliums das Vorfindliche zu deuten als Symptom des Alten, zu dem Gottes Urteil die Welt erklärt, indem er sie zu erneuem verheißt" (Fürst 1973, 86). 16 Harbsmeier hat diese Auffassung explizit vertreten: "Es gehört aber zu den Grundweisheiten von allem Predigen, daß man darin nicht nur nie auslernt, sondern daß man damit immer wieder ganz von vorn anfängt, daß es einem immer schwerer fällt [...]" (1973, 347). 17 Bezeichnend für den Konsens in dieser Sache ist K.G.Stecks Versuch, die Predigt näher zu bestimmen als "Inbegriff des uns aufgetragenen Handelns - durchaus auf der irdischmenschlichen Ebene" (1954, 29f)- Die "großen und kleinen Regeln, Künste[.] und Techniken unseres Predigthandwerks" (27), darunter auch die sorgfältige Reflexion des "eigenen Erfahrungsbereichs" (26), liegen zwar in der Verantwortung der Prediger. Sie dürfen jedoch nicht selbständig reflektiert werden, sondern sind im Hinblick auf die "Freiheit der Verkündigung" (31) nur in "ihrer Vorläufigkeit und Anspruchslosigkeit richtig gesehen und be-
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beit hat in jedem Fall eine freie und unverfügbare "Mitte" zwischen vorbereitender und nachgehender Reflexion zu bleiben18. Indem die Nachkriegshomiletik die Predigt als eine paradigmatische Äußerung des Glaubens beschreibt, verdeckt sie also den beruflichen, professionellen Charakter der Predigtarbeit. Hier schlägt sich nicht zuletzt der antiinstitutionelle Zug der homiletischen Wirklichkeitsauffassung nieder: Die spezifischen Bedingungen, unter denen die Predigtarbeit sich als eine Tätigkeit des theologisch gebildeten, kirchlich beauftragten und liturgisch gebundenen Amtsträgers vollzieht, finden in die Beschreibung dieser Arbeit keinen Eingang. Als ein praktisches, die Berufstätigkeit der Prediger erschwerendes Problem wird die Predigtnot darum von den dogmatischen Prämissen dieser Homiletik geradezu hervorgebracht. Zu jenen spezifischen Bedingungen der beruflichen Arbeit an der Predigt gehört nun aber nicht zuletzt das Verhältnis zur Wirklichkeit der an der Predigt Beteiligten. Der Prediger kann sich eben nicht nur wie jeder Glaubende dadurch auf die "wirkliche Welt" beziehen, daß er sie als die Situation seines eigenen Glaubens wahrnimmt und zu begreifen versucht. Sondern er hat auch die durch die Predigtarbeit - und die entsprechende Ausbildung - selbst gesetzte Differenz zwischen seiner und der Situation der Hörenden zu berücksichtigen. Diese gleichsam professionelle Differenz und die daraus resultierende Aufgabe einer Reflexion der Hörersituation haben die homiletischen Entwürfe Iwands und seiner Zeitgenossen aber konsequent geleugnet. Diese Entwürfe insistieren vielmehr darauf, daß die Auslegung der Wirklichkeit sich jeweils nur im Vollzug der individuellen "Begegnung mit dem Text" als einer je neuen Erfahrung des Wortes Gottes ergeben kann19. Die systematisch-theologischen Kategorien, in denen sich in den Predigtmeditationen und Predigten die Erschließung der Wirklichkeit faktisch vollzieht, werden darum in der Beschreibung des homiletischen Verfahrens abgeblendet - und damit auch der kritischen Reflexion entzogen.
urteilt" (28). Auch Steck verzichtet darum faktisch darauf, jene predigtspezifischen "Regeln und Künste" material zu entfalten. 18 Vgl. Iwand, PM 408. 19 J.Koniad artikuliert diese Überzeugung ebenfalls: "Situation ist insofern eine legitim theologische Kategorie, als sie sich ihrem eigentlichen und letzt angehenden Sinne nach unter dem Wort erschließt. Erst da, wo sie transparent wird für das uns nun und so angehende und darum letztlich betreffende Wort Gottes, [...] ist sie in ihrer eigentlichen Dimensionstiefe gesichtet und bewertet" (1957, 248).
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Zwischen der Unterbestimmung der beruflichen Wirklichkeit des Predigers und der unzureichenden Berücksichtigung der Wirklichkeit, die der Predigt in ihren Hörern immer schon gegenübertritt, besteht ein Zusammenhang, der in der exklusiv dogmatischen Beschreibung der Predigt begründet und in der Erfahrung der "Predigtnot" zum Ausdruck gekommen ist. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Bemühungen, über die hier skizzierten Aponen hinauszukommen, die Predigtnot nun explizit als berufliche Problematik verstanden haben: Die Hinwendung zur "homiletischen Situation" hat sich zunächst als Versuch vollzogen, von neuem der spezifischen Wirklichkeit der Prediger gerecht zu werden.
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ZWEITER TEIL
Die Erschließung der alltäglichen Wirklichkeit als institutionelles Problem
Α. Einführung: Kritiker des dogmatischen Predigtmodells
Die Untersuchungen des Ersten Teils haben gezeigt, daß die "empirische Wende" in der Homiletik eine komplizierte Vorgeschichte hat. Die Frage nach der Wirklichkeit als dem Ziel der Predigt hat die Debatte bereits dort intensiv bewegt, wo die dogmatische Bestimmung der Predigt unbestrittene Priorität genoß und ebenso das damit verbundene Verständnis der Predigtarbeit ausschließlich als Textauslegung. Die Kritik der Predigtpraxis im Namen der "Wirklichkeit" ist bereits im Gefolge dieses Grundmodells ein durchgehendes Moment der Homiletik. Um 1960 jedoch ist von verschiedenen Seiten eine Kritik geäußert worden, die sich nicht mehr ausschließlich im Rahmen dieses Paradigmas bewegt, sondern dessen Ergänzung oder gar Ablösung fordert. Dabei hat sich die Aufnahme älterer, bisher verdeckter Perspektiven jeweils mit Versuchen verbunden, neue theologische und dann auch profanwissenschaftliche Einsichten zur Klärung der Predigtprobleme heranzuziehen. Ebenso vielfältig wie die Formen dieses Wandels dürften seine Gründe sein; neben dem steigenden Druck der unbefriedigenden Predigtpraxis sind innertheologische Veränderungen sowie gesellschaftliche Umbrüche von Bedeutung gewesen, die sich in der Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgewirkt haben. Der Zweite Teil wird einige dieser Motive anhand der einschlägigen Texte Ernst Langes aufzeigen, die für jenen Wandel als exemplarisch gelten können. Zuvor soll jedoch der Versuch einer gleichsam atmosphärischen Skizze der Gesprächslage unternommen werden, in die Langes Arbeiten gehören, und zwar anhand von drei Texten, die das Verhältnis von Predigt und ihrer Situation in unterschiedlicher Hinsicht neu zur Diskussion gestellt haben. Auf diese Weise kann zugleich die Mehrdeutigkeit verständlich werden, die dem Begriff der "homiletischen Situation" von Anfang an eigen ist.
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1. W.Marxsens exegetische Kritik der Predigtarbeit 1956 hielt der Neutestamentier W.Marxsen einen Vortrag über den "Beitrag der wissenschaftlichen Exegese des Neuen Testaments für die Verkündigung" 1 , der nach dem Urteil C.Möllers "eine Art consensus unter jüngeren Theologen über den Weg vom Text zur Predigt" geschaffen hat2. Von Interesse ist hier die Kritik Marxsens an der zeitgenössischen Predigttheorie und Predigtpraxis: Unter Verweis auf "die Praxis der Kasualrede" (1957, 32) beklagt er, daß die Predigt häufig nicht mehr auf einer gründlichen Exegese beruhe, sondern biblische Worte aus ihrem eigentlichen Zusammenhang gelöst und ganz anders ausgelegt würden, als sie ursprünglich gemeint seien. Marxsens Kritik zielt daher im Grunde weniger auf die Predigt als auf den Akt der Predigtvorbereitung. Hier diagnostiziert er in den studentischen Predigtarbeiten einen verhängnisvollen Bruch: "Bei der Arbeit am Predigtentwurf hat der Kandidat ganz neu eingesetzt. Eine Brücke zwischen Exegese und Predigt kann man nicht (oder doch nur in der Form eines sehr wackeligen Steges) finden" (33). Und der untaugliche Versuch einer "praktischen Exegese" kann die faktische Bedeutungslosigkeit der biblischen Wissenschaften für die Predigtarbeit nur zementieren (vgl. 33ff). So urteilt Marxsen: "Die Predigtnot ist zutiefst eine exegetische Not" (37). Vom Standpunkt des Exegeten erscheint die skizzierte Predigtpraxis als ein folgenschweres Mißverständnis der Texte selbst. Diese sind, wie Marxsen betont, in ihrem historischen Selbstverständnis keine "zeitlosen" Predigttexte für kommende Generationen, keine beliebig wiederholbaren "Sätze", sondern jeder Text will "in irgendeiner Weise Predigt, Verkündigung in eine bestimmte (immer vergangene!) Zeit hinein sein" (42). Eine Predigtarbeit, die die den Texten eigene "Geschichtlichkeit" (1959, 43), ihren historischen Ort und dessen Distanz zur Gegenwart unterschlägt, verfehlt im Grunde auch den apostolisch vermittelten "Urtext", das Christusgeschehen selbst. Zum beherrschenden Problem wird daher der homiletische "Brückenschlag" (1957, 34.36f.53ff): Die Predigtnot
1 Marxsen 1957. Von Interesse ist auch ein Vortrag von 1959 über "Die Bedeutung der Einleitungswissenschaft für die Predigtarbeit" (Marxsen 1960, dort Anm.l auch weitere Literaturhinweise). 2 Möller 1970, 37. Möller hat Marxsens homiletischen Ansatz ausführlich und kritisch dargestellt (1970, 37-49; 1982, 375-377), vgl. dazu auch den Schluß des Abschnitts.
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erscheint für Marxsen als das Versagen der Prediger, die exegetisch erhobene Situation des Textes mit der Gegenwart zu vermitteln. Diese Kritik bewegt sich zunächst offenbar im traditionellen Rahmen. Die Predigt erhält ihre Legitimität dadurch, daß sie Textauslegung ist; die historisch-kritische Exegese ist diejenige wissenschaftliche Bemühung, welche die pastorale Praxis als eine theologische qualifiziert und steuert3. "Verkündigende Exegese" bzw. auf Predigt zielende "Auslegung" werden darum bereits für die Untersuchung des NT selbst leitende Begriffe (vgl. 1959, 7ff). Auch das Interesse an der "Geschichtlichkeit" der Texte und an ihrer letztendlichen Unverfügbarkeit signalisieren Marxsens Orientierung am homiletischen Konsens. Dennoch geht sein Vortrag insofern über diesen Konsensus hinaus, als der Begriff der "Situation" eine eigenständige Bedeutung erhält. Bereits exegetisch ist die spezifische Lage der Hörer bzw. Leser von fundamentalem Interesse. Dem entspricht dann der homiletische Hinweis, daß "auch ich eine Gemeinde mit konkreter Situation vor mir habe" (1960, 13), auf die hin die Vergegenwärtigung des Textes zu erfolgen hat. Der "komplexe Vorgang" der Predigtarbeit (1957, 56) läßt sich dann nicht auf wissenschaftliche Auslegung reduzieren. Marxsen skizziert vielmehr eine Methodik der Predigtvorbereitung, in der zusätzlich zur exegetischen Arbeit ein eigenständiges "Erspüren" analoger Situationen in der Predigtgemeinde stattfinden soll sowie ein "Umleiten" des Textes in diese Situation, ein "Nachsprechen dessen, was der Verfasser seinen Lesern sagen wollte, in meiner Sprache" (54f. 50). Die Bemühung um die Hörersituation wird zu einem selbständigen homiletischen Arbeitsgang. Gleichwohl ist dieses Situationsverständnis, wie verschiedene Autoren gesehen haben, hermeneutisch unzureichend 4 . Mit der Aufgabe des "Brückenschlages" gerät der Prediger selbst in eine "abstrakte Situation" (Möller 1982, 377), insofern seine subjektive Betroffenheit durch den Text methodisch ausgeblendet wird. Mit der ausschließlichen Orientierung an Situationen der Gemeinde wird das auf Glauben zielenden 3 Vgl. 1959, 36: "Wenn eine Kirche auf die wissenschaftliche Ausbildung ihrer Pastoren verzichtet, wenn sie nicht [...] den Nachweis der Befähigung zu wissenschaftlicher Exegese verlangt, wenn eine Kirche in der angedeuteten Weise zwischen Wissenschaft und Praxis eine Zäsur legt, dann fördert sie die Verflachung des Dienstes ihrer Diener." 4 Vgl. Kluge 1960; Moltmann 1963, 124f; Möller 1970, 36ff; aufgenommen in Möller 1982, 375-377. W.Danielsmeyer (1961) hat jedoch zu Recht Marxsens Verständnis des biblischen Textes selbst als Grundlage seines homiletischen Entwurfs benannt und kritisiert.
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Selbstverständnis der Texte gerade nicht aufgenommen. Es ist Marxsen nicht gelungen, so läßt sich zusammenfassen, den Hinweis auf die Bedeutung der "Situation" für die Predigtarbeit mit der, nicht erst von Iwand artikulierten, Einsicht zu verbinden, daß der Prediger selbst als exemplarisch Glaubender "konstitutives Element dieses Prozesses" ist5.
2. W.Trillhaas' Plädoyer für homiletische Bescheidenheit Marxsens exegetische Kritik der Predigtpraxis im Namen der "Situation" geht davon aus, daß die Verbindlichkeit der Predigt ausschließlich von der Art und Weise ihres Textbezuges abhängig ist. Die entsprechende dogmatische Bestimmung der Predigt wird darum auch von Marxsen erneut bekräftigt. Die beiden nun vorzustellenden Texte machen dagegen die prinzipielle Homiletik, so wie sie um 1960 die Diskussion beherrschte, selbst zum Gegenstand der Kritik. Dabei ist es von Interesse, daß auch diese Kritik sich als Hinweis auf bestimmte, von Predigttheorie und -praxis vernachlässigte Aspekte der Wirklichkeit vollzieht. W.Trillhaas versucht in seinem Aufsatz "Die wirkliche Predigt", "das rätselhafte Verhältnis zwischen der theologischen Beurteilung der Predigt und der wirklichen Predigt der Kirche" zu klären (Trillhaas 1963, 13). Dieses Verhältnis sieht er gekennzeichnet durch eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität. Auf der Seite des Predigtf?egn)5fr notiert Trillhaas die reformatorische Entscheidung, die Predigt zur maßgebenden nota ecclesiae zu machen und dem in ihr präsenten Wort die alleinige Heilsbedeutung zuzusprechen. Dieser Anspruch wurde durch die dialektische Theologie womöglich noch gesteigert, so daß "der Begriff der 'Verkündigung' zu einem der [...] inhaltsleersten Begriffe sowohl der Theologie wie der Kirche geworden ist" (aaO. 14). Die Prävalenz des Predigtbegriffs, dessen Fassung des Wortes Gottes "supranaturalistische Züge" aufweist (20), hat andere Aufgaben der Kirche theoretisch wie praktisch "veröden" lassen und ein nüchternes Erörtern der wirklichen Predigt erschwert (14).
5 Kluge 1960, 69. Möller weist in diesem Zusammenhang auch auf Bonhoeffer hin (1982, 377ff).
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Hinsichtlich der realen Predigtpraxis konstatiert Trillhaas eine quantitative und qualitative Überforderung des Predigers, der der Forderung nach Originalität, selbständiger Exegese und eigenen Einfällen beim besten Willen nur selten genügen kann. Neben den gestiegenen pastoralen Anforderungen hat dies vor allem institutionelle Gründe: Die Predigt ist "längst aus der Mitte der heutigen Redekultur herausgeworfen" (16) und kann auch keine im Hören geschulte Gemeinde mehr voraussetzen. Angesichts solcher Beobachtungen bezweifelt Trillhaas, "daß man bei heutiger Predigt dem begegnet, worauf sie Anspruch erhebt" (ebd.). Die Diskrepanz zwischen einem "übersteigerten Predigtbegriff' und der unzulänglichen allsonntäglichen Predigt möchte Trillhaas zunächst mit praktischen Vorschlägen vermindern. Der Überforderung der Prediger soll durch gewisse "Sparmaßnahmen" (18) begegnet werden, die auf eine quantitative Reduzierung der Predigt sowie auf eine Unterscheidung von pastoraler Arbeit, Amt und Predigtauftrag hinauslaufen, so daß "nicht jeder Amtsträger der evangelischen Kirche ein Prediger sein muß" (18). Zugleich muß jedoch die einzelne Predigt besser vorbereitet werden, und zwar durch vermehrte theologische Reflexion und meditative Arbeit. Diese Vorschläge machen deutlich, daß Trillhaas das Problem der "wirklichen Predigt" vornehmlich als Problem des Predigers begreift. Diese Feststellung gilt auch für Trillhaas' Erwägungen zum Predigtbegriff. Mit der Formel "Dienst am Wort" versucht er, die dogmatische Hochschätzung des "Wortes" aufrechtzuerhalten, während die konkrete Predigt lediglich als eine "Heranführung" an dieses Wort erscheint, die "den Einsatz unserer Menschlichkeit" erfordert (21). Damit wird auch die praktische Bedeutung der Predigt gegenüber Unterricht und Seelsorge relativiert. Die Ermäßigung des Predigtbegriffs dient dem Ziel einer pastoralethischen "Theorie der legitimen Entlastung des Predigers"6. Dessen Situation, ihre Berücksichtigung, Beschreibung und praktische Verbesserung, ist Rechtsgrund der von Trillhaas formulierten Kritik.
6
V.Drehsen, in: Beutel u.a. 1986, 11.
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3. DRösslers Präzisierung der Situation des Predigers Auch D.Rössler geht in seinem 1966 erschienenen Aufsatz "Das Problem der Homiletik" vom Auseinanderfallen zwischen Anspruch und Wirklichkeit der zeitgenössischen Homiletik aus. In einem ersten Teil kritisiert er die Konzentration der "offiziellen Homiletik" auf die Prinzipienfragen, das "Wesen" der Predigt, denn die damit verbundene Orientierung der gesamten Theologie auf das Predigtproblem beraubt die Homiletik ihres eigentümlichen Gegenstandes; sie degeneriert zu einer "Instanz zur Sammlung der ihr von den anderen Disziplinen vorgegebenen Themen und Argumentationen, die sie - als Homiletik - nicht einmal zu diskutieren, sondern allenfalls zu ordnen berechtigt ist" (Rössler 1966, 26). Dazu kommt, daß der am theologischen Universalbegriff der "Verkündigung" orientierte Predigtbegriff die konkrete Sonntagspredigt mit einer Reihe gänzlich unerfüllbarer Superlative belastet7. Im Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Kritik steht somit die Frage, wie eine solche Homiletik die konkrete Predigtarbeit anleiten kann. Darauf zielen auch die Ausführungen Rösslers zu den methodischen Anweisungen der etablierten Homiletik. "Der Weg vom Text zur Predigt" legitimiert zwar die biblischen Wissenschaften als theologische, unmittelbar der Predigt dienende Disziplinen. Die konkrete Beschäftigung des Predigers mit dem einzelnen Text wird durch die Frage nach der "Nötigung zur Predigt" oder ähnliche Verallgemeinerungen aber eher behindert. Diese Kritik läuft darauf hinaus, daß der Prediger durch die zeitgenössische Predigtlehre keine Anleitung erfährt, sondern durch übersteigerte Erwartungen zusätzlich belastet wird. Als Thema der Homiletik wird von Rössler mithin, auch im Blick auf ihre eigene Problemgeschichte, die Erfahrung des regelmäßigen Predigtauftrags geltend gemacht. Daß diese berufliche Situation die Erwägungen bestimmt, zeigt auch die Kritik an Marxsens homiletischem Konzept. Rössler fragt, ob hier nicht zu Unrecht von einer stets wechselnden "Situation" der Hörenden ausgegangen werde, ob nicht "gerade 'die Situation' für den Prediger das weithin Gleichbleibende sei" (29f). Die Aufmerksamkeit der Homiletik hat zu-
7 Rössler bezieht sich vor allem auf G.Wingrens Predigtauffassung sowie auf Texte von J.Moltmann; vgl. Moltmann 1963, 1965.
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nächst der invarianten Wirklichkeit des Predigenden zu gelten, nicht einer davon unterschiedenen Wirklichkeit der Gemeinde. In einem zweiten Teil geht Rössler der Differenz zwischen Anspruch und faktischer Bedeutung der "herrschenden" Homiletik durch die Betrachtung zweier zeitgenössischer Predigten nach. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Grundsätze jener Homiletik, etwa der zur Entscheidung rufende Charakter der Predigt oder die konstitutive Bedeutung selbständiger wissenschaftlicher Auslegung, bei der Produktion dieser Predigten gerade nicht leitend gewesen sind. Das faktische Vorgehen der Prediger ist vielmehr durch die straffe thematische Organisation der Rede sowie die im Grunde akzidentielle Bedeutung der Exegese gekennzeichnet. Der "Stoff der Predigten, für den Rössler eine Reihe historischer Vorgänger anführt8, hat sich den Predigern im wesentlichen durch einen jeweils individuellen "Einfall" ergeben, "eine homiletische Idee, [...] die dann in der eigentlichen Ausarbeitung der Predigt durchdacht, gegliedert, angefüllt und profiliert werden muß" (37). Für diese Ausarbeitung sind nicht zuletzt "Bedürfnisse der Zuhörer" von Bedeutung. Rössler faßt diese - im wesentlichen rhetorischen - Gesichtspunkte als Bestandteile einer generell wirksamen "praktischen Predigtlehre" auf, die die Predigtproduktion gemäß der Erfahrung der Prediger faktisch bestimmen. Soll die Homiletik die konkrete Predigtpraxis anleiten, so müssen jene "Gesetze und Regeln" neu, "unter den Bedingungen der Gegenwart" formuliert werden, und zwar nicht zuletzt, um den übersteigerten Predigtbegriff kritisch zu relativieren (37f). Im Unterschied zu Trillhaas sieht Rössler die pastorale Predigtpraxis also in keiner Weise durch ein tatsächliches Versagen der Prediger gekennzeichnet, sei es institutionell oder persönlich begründet. Problematisch wird die berufliche Wirklichkeit nur dadurch, daß sie von der herrschenden Predigttheorie systematisch verfehlt wird. Daß diese Praxis durch die kirchliche Situation der Gegenwart problematisch geworden ist, tritt dagegen vollkommen in den Hintergrund. Diese Vernachlässigung einer wesentlichen Komponente zeitgenössischer Predigererfahrung dürfte es mit sich gebracht haben, daß Rösslers Beitrag in der folgenden
8 Auch an anderen Stellen des Aufsatzes kommt Rösslers Überzeugung zum Ausdruck, daß das "Problem der Homiletik" nicht zuletzt in einer Vernachlässigung ihrer eigenen Theoriewie Praxisgeschichte begründet ist.
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Diskussion eher zurücktritt9. Außerdem hat Rössler zur Ausarbeitung der von ihm geforderten "praktischen Predigtlehre" selbst nur am Rande beigetragen10. Wegweisend, nicht zuletzt für Lange, ist sein Versuch jedoch darin, daß er die Homiletik auf die Bearbeitung der Situation des Predigers als einer besonderen beruflichen Situation verpflichtet.
4. Die neue Frage nach der Situation Die skizzierten Texte zeigen, daß die homiletische Debatte um 1960 in ein neues Stadium getreten ist. Der Kritik, die bisher im Namen des dogmatisch-exegetischen Predigtbegriffs an der Praxis der Predigt geübt wurde, treten nun Äußerungen zur Seite, die sich auf einen Mangel der Predigttheorie beziehen11. Zunächst wird dabei weniger die Berechtigung der dogmatischen Bestimmung der Predigt als "Wort Gottes" in Frage gestellt als vielmehr deren Tauglichkeit zur Orientierung der faktischen Predigtarbeit. Problematisch wird also zuerst die praktische Rolle der Exegese. Während im Rahmen des dogmatischen Predigtmodells nur eine mangelhafte Exegese kritisiert werden kann12, verweist Marxsen darauf, daß die "Textauslegung" nicht mit der Predigtarbeit zu identifizieren ist; und auch Rössler relativiert die Leitfunktion der Exegese. Im Zusammenhang dieser gleichsam pragmatischen Kritik des dogmatischen Predigtmodells steht weiterhin die häufige Warnung vor einer Überforderung der Prediger. Trillhaas führt ihre wissenschaftliche und persönliche Überlastung im Grunde auf die übersteigerte dogmatische Predigtbestimmung selbst zurück. Rössler ist ihm hierin gefolgt und hat daraus die weitergehende Konsequenz gezogen, die Homiletik wieder als 9 Von einigen Seiten hat er allerdings heftige Kritik erfahren: Fürst 1967, 18; Möller 1970, 45; differenzierter urteilt Josuttis 1970, 75. 10 Vgl. aber Rössler 1983. - Ohne sich auf Rössler zu berufen, hat G.Otto den rhetorischen Charakter der Homiletik ausführlich entfaltet; vgl. dazu unten D.U. 11 Auch M.Doemes häufig zitiertes Votum: "Irrlehre und natürliche Theologie scheinen aus dem Feld geschlagen. Dafür weht durch die Predigten auf deutschen Kanzeln nicht selten ein Hauch gespenstischer Monotonie" (1959, 440), zielt nicht allein auf die Praxis der Predigt, sondern stellt, im Rahmen eines Artikels über "Homiletik", auch eine vorsichtige Kritik an den theoretischen Folgen der Theologie des Wortes Gottes dar. 12 Exemplarisch für dieses Vorgehen ist R.Bohrens Aufsatz "Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese" (Bohren 1962; vgl. Möller 1970, 72ff). Bohren kritisiert letztlich ein dogmatisches Defizit der homiletischen Exegese, die heilsgeschichtliche sowie pneumatologische Gesichtspunkte ausklammere.
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eigenständige Disziplin zu betrachten: Predigtarbeit und wohl auch Predigtziel müssen vor allem im Blick auf diejenigen Gesichtspunkte bestimmt werden, welche sich der Erfahrung der Prediger aufdrängen. Anweisungen und Ansprüche des dogmatischen Predigtmodells werden nun durch die Berufung auf zwei Aspekte der "homiletischen Situation" relativiert. Zum einen findet das Gegenüber der Predigt stärkere Beachtung. Marxsen hat dessen Bedeutung bereits für die Exegese selbst hervorgehoben und von daher eine eigenständige homiletische Bearbeitung der konkreten Gemeindewirklichkeit gefordert; Trillhaas hat auf die allgemeinen sozialen und geistigen Veränderungen verwiesen, die die Rezeption der Predigt tiefgreifend beeinflussen. Als einer der ersten hat H.O.Wölber diese Veränderungen auch mittels humanwissenschaftlicher Kategorien zu erfassen gesucht: Psychologische und sozialpsychologische Erwägungen führen ihn bereits 1959 dazu, eine umfassende "Theologie der Kommunikation" zu fordern, die die "dialogische Existenz des Predigers" im Kontext des "modernen Lebens" beschreibt (1959, 379ff). Wölbers Beitrag zeigt exemplarisch, daß eine reflektierte Wendung zur Situation der Gemeinde, der Hörer o.ä. zugleich stets auf die Aufgabe verweist, auch die Situation des Predigers neu zu bedenken. Die in den skizzierten Texten beginnende Wende läßt sich darum prägnant in der Art und Weise erkennen, in der nun die berufliche Erfahrung der Predigt thematisiert wird. Die Schwierigkeiten, die hier nach wie vor als besonders drückend empfunden werden, erscheinen nicht mehr ausschließlich als individueller Ausdruck einer "Predigtnot", der durch den Aufruf zu einer vertieften Glaubenspraxis oder wissenschaftlichen Anstrengungen zu begegnen wäre. Die Kritik an der übersteigerten Bedeutung exegetischer Arbeit, an der Mißachtung der gesellschaftlichen Lage oder an einer praktisch versagenden Predigttheorie kommt vielmehr darin überein, daß hier die Predigtarbeit von Faktoren beeinflußt ist, die die pastorale Berufspraxis objektiv erschweren. In dieser Perspektive erscheint die "Predigtnot", ohne daß die individuelle Verantwortung der Prediger geleugnet würde, zugleich als Ausdruck einer Krise des kirchlichen Handelns, als ein institutionelles Problem der Wirklichkeitsferne und Wirkungslosigkeit. Mit dieser Wendung bleibt die Homiletik auch in den 60er Jahren paradigmatisch für die Wirklichkeitssicht der zeitgenössischen Theologie im ganzen.
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Β. Das Gegenüber der Verkündigung als Thema der Ökumene
Werden die Probleme der Predigt nicht mehr hauptsächlich in dogmatischen Kategorien bearbeitet, so muß auch die Frage nach dem homiletischen Verständnis der Wirklichkeit in einen weiteren Rahmen gestellt werden. Die Bemühungen um die "homiletische Situation" in den 60er Jahren stehen damit im Zusammenhang jener veränderten Deutung des kirchlichen Handelns und seiner Situation im ganzen, die als "Wende zur Erfahrungswelt" beschrieben worden ist1. Motive und Eigenart dieser neuen Perspektive lassen sich mit besonderer Klarheit anhand einer Debatte über die "missionarischen Strukturen der Gemeinde" herausarbeiten, die die ökumenische Bewegung etwa von 1960 bis 1965 geführt hat. Diese Texte sind nicht nur für die westdeutsche Bewegung der Kirchenreform 2 und ihrer praktisch-theologischen Überlegungen im ganzen von großer Bedeutung, sondern die hier zu Tage tretende Auffassung der "modernen Wirklichkeit" stellt insbesondere für Langes Arbeiten eine unerläßliche Verstehensvoraussetzung dar. Langes theologisches Engagement ist bekanntlich von Anfang an ökumenisch geprägt3; die Ladenkirche etwa wäre ohne seine Erfahrungen in den USA undenkbar gewesen. An der Strukturstudie hat er selbst mitgearbeitet und seine kirchlichen Experimente wie die begleitenden Publikationen nicht zuletzt als Anwendung der dort gewonnen Einsichten verstanden. Auch Langes homi-
1
S.o. Einleitung, S.15f; vgl. auch die Charakterisierung bei Rössler 1986, 48: "Die Wende zur Erfahrungswelt bezeichnet das Aufkommen der Erwartung, daß auf allen Gebieten des Lebens durch Praxis und also durch planvolles Handeln Verbesserungen der Bedingungen unserer Existenz möglich sein werden. Die Epoche, die durch jene Wende begonnen wurde, ist bestimmt von der Hoffnung darauf, daß im Blick sowohl auf äußere Umstände wie auf menschliche Verhältnisse und Beziehungen durch absichtsvolles Eingreifen Wandel und Veränderung zum Guten geschaffen werden kann." 2 Vgl. etwa Marsch 1970, 21 Iff und die Referate bei Möller 1987, 71-77.239f; Daiber 1989, 367ff und Schloz 1990, 53. 3 Vgl. als Überblick Raiser 1987; Details bei Liedtke 1987, 61ff. 267ff.
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letische Ansätze lassen sich dann auffassen als ein Stück Wirkungsgeschichte der nun zu betrachtenden ökumenischen Debatte.
1. Zur Thematik und Struktur der ökumenischen Studienarbeit Das ökumenische Studienprojekt "Die missionarische Struktur der Gemeinde" wurde auf der Dritten Vollversammlung des Ökumenischen Rates (Neu Delhi 1961) in Auftrag gegeben und ist aus einer seit den 40er Jahren geführten Debatte über "Evangelisation" erwachsen. In einer Aufarbeitung dieser Diskussion hat H.J.Margull deren Ursprung, der für ihn mit dem Ursprung der ökumenischen Bewegung zusammenfällt4, in einer doppelten Krisenerfahrung gesehen. Zum einen machen die politischen und theologischen Veränderungen nach 1945 die klassische "Heidenmission" unmöglich, während zugleich die nordwestliche, traditionell christliche Kultur selbst zunehmend als Missionsgebiet erscheint5. Das Verständnis von "Welt", das sich im Rahmen der Missionsarbeit entwickelt hat, kann dann mehr und mehr die gesamte kirchliche Arbeit orientieren. Im Rahmen dieses Perspektivenwechsels wird dann zum anderen die Kirche selbst kritischer wahrgenommen. Sie repräsentiert nicht nur in den Kolonialländern eine fremde, ja feindliche Größe, sondern findet auch zu den Arbeitern und anderen Gruppen der Industrieländer keinen Zugang mehr: Sie ist "missionarisch untauglich". Es ist deutlich, daß die Wahrnehmungen eines veränderten Gegenübers und einer sich selbst isolierenden Kirche sich gegenseitig bedingen und bestätigen. Insofern ist zu vermuten, daß das Bewußtsein der Krise der Mission nicht allein solchen Wahrnehmungen, sondern auch einem bestimmten theologischen Vorverständnis entspringt. Marguli jedenfalls kommt in seinem Referat der Entwicklung bis 1959 zu dem Urteil, "daß die Situation, die in der missionarischen Verkündigung vorgefunden wird, nicht in erster Linie die des Gegenübers ist [...], sondern die Situation der Kirchen selbst, die zur missionarischen Verkündigung gerufen
4
Vgl. M arguii 1959, 127f.235ff und auch Hoekendijk 1965a, 477f. Diese Sicht ist wesentlich geprägt durch die Arbeit und die literarischen Äußerungen der französischen "Arbeiterpriester", vgl. Marguli 1959, 163ff. Sie sahen sich mit einem "Heidentum inmitten eines von der Kirche, ihrer Botschaft und ihrer Kultur geprägten Raumes" konfrontiert (aaO. 165). 5
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sind und diesen Ruf aufs Ganze gesehen nicht aufnehmen" (aaO. 147). Ausgangspunkt der ökumenischen Debatte ist eine bestimmte Selbstwahrnehmung der Kirche, auch wenn diese sich stets im Hinblick auf das der Kirche entfremdete Gegenüber artikuliert. Die ekklesiologische Ausrichtung des Situationsbegriffs bestätigt sich im Fortgang der ökumenischen Studienarbeit seit 1961, denn nun werden die Strukturen der Kirche bzw. der Gemeinde selbst zum Thema kritischer Untersuchung. Die leitenden Interessen lassen sich Margulls Erläuterung jener umstrittenen Vokabel entnehmen (ORK 1965, 6): "'Struktur' war damit in einer doppelten Weise verstanden worden, die sich hier am besten in der schlichten Frage wiedergeben läßt: Was müssen wir hinsichtlich des 'Gefüges' unseres theologischen Denkens und unseres gemeindlichen Lebens tun, um uns von innen nach außen zu wenden?"
Nicht nur die Organisations- und Verkündigungsformen, die "morphologischen" Elementen der Kirche werden nun auf ihre missionarische Tauglichkeit befragt, sondern ebenso die zugrundeliegende Theologie bzw. Ekklesiologie. Die Eigenart der Überlegungen besteht dabei in der Wendung nach "außen", dem Ansatz "sehr weit draußen" (aaO. 5). Damit wird zunächst die "Welt" anders, nämlich nicht mehr als feindliches, allererst zu bekehrendes Gegenüber der Kirche gesehen6. Sondern in Kooperation mit Soziologen, die "säkulare" Gesellschaftsdeutungen in die Arbeit einbrachten, hat man sich um ein besseres Verständnis der "modernen Wirklichkeit" bemüht und zugleich um eine neue theologische Deutung der entsprechenden geschichtlichen Prozesse. Die differenzierte Beschreibung der gegenwärtigen missionarischen Situation wurde von den Beteiligten als die eigentliche Leistung der Studie empfunden7. Hinsichtlich der kirchlichen Strukturen führt die Einbeziehung soziologischer Perspektiven zur Kritik an der pastoralen und parochialen Ausrichtung der Organisation, insofern sie einem Denken "von innen nach außen" entspringen (Krusche 1968, 135). Auf den verschiedensten Ebenen soll "die Frage der Erneuerung radikal gestellt" werden (ORK 1965, 7). Die ökumenische Studie versteht sich darum weniger als theoretische
6
Daiber beschreibt diese Entwicklung als Abkehr von einer "differenztheologische[n] Sichtweise" (1989, 368). 7 Vgl. etwa ÖRK 1967, 9f; Hoekendijk 1967, 343ff.351.
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Ausarbeitung und eher als Aufruf zu einer gründlichen Reform der Kirche. Sie möchte "unüberhörbar - und darum notwendig mit einseitig gesetzten Akzenten - das sagen [...], was heute in der Kirche unabdingbar fällig ist. Dieses Konzept will angriffig sein, will aus selbstverständlich gewordenen Denkgewohnheiten herausrufen und Anstöße zum Nach- und Umdenken geben" (Krusche 1968,162f).
Diese pragmatische, geradezu polemische Ausrichtung gilt es bei der Interpretation der Texte zu berücksichtigen. Oftmals skizzieren sie, um ökumenische Treffen vor- und nachzubereiten, eher Fragen und Perspektiven, als die umfassende Bearbeitung eines Themas zu bieten. Dabei ergibt sich häufig ein thematisches Gefälle der Argumentation. Die Texte setzen bei einer Interpretation der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit ein, und zwar unter humanwissenschaftlichen wie unter theologischen Aspekten, und bestimmen daraufhin sowohl die grundsätzliche Funktion der Kirche als auch, in unterschiedlicher Konkretion, die entsprechenden Aufgaben und Strukturen8. Diesem Gefälle folgt in etwa auch die folgende Darstellung. Aus Gründen der Übersichtlichkeit konzentriert sich die folgende Skizze auf die Arbeiten der westeuropäischen Arbeitsgruppe9. Herangezogen werden dazu einige Skizzen des niederländischen Missionswissenschaftlers J.C.Hoekendijk, der 1949-52 Sekretär des Genfer "Referats für Verkündigung" war und bis 1965 die westeuropäische Arbeitsgruppe leitete. Denn nach dem Urteil Ratzmanns kann die "Studienarbeit über die Gemeindestrukturen [...] zu einem guten Teil als Aufarbeitung und Anerkennung der Ideen Hoekendijks verstanden werden"10.
8 So ist beispielsweise Margulis Textsammlung (ÖRK 1965) in die folgenden Kapitel gegliedert: "Gottes Handeln in seiner Welt - Die Welt im Wandel - Kirche - Konkrete kleine Schritte"; vgl. ähnlich ÖRK 1967, Krusche 1968 und die Gliederungen bei Ratzmann 1980, 87-167. 9 Es handelt sich zum einen um das bereits zitierte "Arbeitsbuch" (ÖRK 1965), in dem sowohl Arbeitspapiere und Referate einzelner Mitglieder als auch verschiedene Ausarbeitungen der ganzen Gruppe gesammelt sind, und zum anderen um deren Schlußbericht, der im Herbst 1965 in West-Berlin entstand (ÖRK 1967, 7-61). Vgl. zur Geschichte und zum Kontext des Studienprojektes Ratzmann 1980, bes. 73-85.168ff und die Hinweise bei Möller 1987, 223ff. Zur Rezeption der Studie ist besonders ein Referat des Leiters der DDR-Arbeitsgruppe des Projektes, W.Krusche, von Bedeutung, mit dem dieser die Studienergebnisse auf einer Konsultation des Lutherischen Weltbundes vorstellte und einige Tendenzen vorsichtig, aber dennoch grundsätzlich kritisierte (Krusche 1968, bes. 162ff). 10 Ratzmann 1980, 86; vgl. 14.78. In Deutschland ist Hoekendijk besonders durch sein Buch "Die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft" (1964) bekannt geworden, das
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2. Die moderne Gesellschaft als missionarische Herausforderung Die neue, krisenhafte Wahrnehmung der Situation läßt sich zunächst anhand früher Texte Hoekendijks rekonstruieren, die in der Strukturstudie weitergeführt und korrigiert wurden. Ausgangspunkt der Betrachtung ist meist, auch durch die Orientierung an den Arbeiterpriestern, die moderne Industriestadt, die der traditionellen Dorfkultur gegenübergestellt wird. Hoekendijk kennzeichnet diese Lebensverhältnisse 1948 als "offen": "Die Offene Gesellschaft lebt in der Stadt, dem losen Konglomerat von heterogenen Menschengruppen, dem Konzentrationspunkt von Reichtum und Macht, dem Ort des Marktes. Alte Bindungen sind hier zerbrochen, primäre Großgruppen desintegriert und die Tradition entwertet. Sozial und geistig mobile Individuen [...] können ihre Einsamkeit [...] auch in Kameradschaft und Organisationen nicht vertreiben. Diese Verbindungen sind von funktioneller oder experimenteller Art und oft so tyrannisch, daß eine individuelle Urteilsbildung nicht mehr möglich ist. Damit ist die Depersonalisierung vollendet" (Hoekendijk 1964,133).
Hoekendijk strukturiert diese Impressionen durch den Hinweis auf vier Dimensionen eines fundamentalen Traditionsbruchs11. So ist die Gesellschaft durch ihre industriell-egalitäre Struktur als "post-bärgerlich" qualifiziert; gegenüber den großen Organisationen schwinden Freiheit und Entscheidungsfähigkeit des Subjektes. Der Typus der Gegenwart ist dagegen der "Vierte Mensch", der im Wissen um eine letzte Sinnlosigkeit gelangweilt oder rebellisch alle absoluten Wertsetzungen ablehnt12. In der "post-persönlichen" Gesellschaft werden die Bindungen verantwortlicher Individuen durch funktionale, am Arbeitsprozeß orientierte Beziehungen ersetzt und haben transitorischen Charakter. Damit bilden sich an Stelle der traditionalen, nicht zuletzt sakral bestimmten Sozialgefüge neue Kollektive, die sich durch eine gemeinsame "Situation" definieren und zusammenfinden (vgl. Marguli 1959, 178ff).
Arbeiten aus den Jahren 1948 bis 1963 enthält. Von weitreichender Wirkung war weiterhin sein Referat "Bemerkungen zur Bedeutung von Mission(arisch)" (ÖRK 1965, 30-39), das 1963 der westeuropäischen Arbeitsgruppe vorgetragen wurde. Die Ergebnisse der Studienarbeit hat Hoekendijk selbst in einem Anhang zur deutschen Ausgabe seiner Dissertation zusammengefaßt: Hoekendijk 1967, 339-353. 11 Unser "Zeitalter [...] ist nicht anti etwas, es ist nur post etwas" (Hoekendijk 1956, 262); vgl. zum folgenden aaO. 262-265; 1964, 141f. 12 Hoekendijk orientiert sich an der Soziologie A.Webers; vgl. Hoekendijk 1964, 137ff und dazu Margull 1959, 178.
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Die Kirche steht damit vor einer Missionssituation, in der sie nicht mehr an einen Grundbestand christlicher Überzeugung anknüpfen kann, der nur zu "erwecken" wäre. Die Auflösung des "Corpus Christianum" hat zu einer "nach-christlichen" Situation gefuhrt. Dies wird nicht zuletzt an der Bildung neuer kollektiver "Mythen" deutlich, mit deren Hilfe die funktionalen Gemeinschaften sich konstituieren, indem sie orientierende Vorgaben schaffen: "Der Mythus interpretiert nicht die Situation, sondern definiert sie."13 Er ersetzt für die Betroffenen genau die Funktion der Kirche, mit der sie in der Lebenswirklichkeit relevant erschien. Besonders eindrücklich sind schließlich Hoekendijks Ausführungen zum "post-kirchlichen" Aspekt, auf den seine Gegenwartsdeutung stets zuläuft. In der modernen Welt erscheint die Kirche entweder als ein "Museum" oder als eine "Partei", die bestimmte partikulare Interessen durchsetzen will. Gegenüber der Wirklichkeit im ganzen lebt sie jedoch in einer "sozialen Gefangenschaft" 14 . Diese Abständigkeit konzentriert sich bei den Amtsträgern. Zur Verdeutlichung zitiert Hoekendijk einen ehemaligen Kriegsgefangenen: "Da steht ein Pfarrer auf der Kanzel und redet. Wir verstehen ihn nicht. Über die Kanzel ist eine Glasglocke gestülpt. Die dämpft jeden Laut. Um die Kanzel stehen unsere Zeitgenossen. Auch die reden und rufen. Aber da drin versteht man das nicht. Die Glocke dämpft jeden Laut. So sehn wir einander noch reden, aber verstehen einander nicht mehr" (1964,143).
Bemerkenswert an dieser häufig aphoristischen Zeitdeutung ist eine fundamentale Ambivalenz in der Beurteilung. Die Stadt stellt zwar den Inbegriff der Modernität dar, an der die Kirche sich unbedingt zu orientieren hat. Gleichwohl werden die negativen Züge dieser Entwicklung in den Vordergrund gestellt: die Auflösung der Person in gleichgültige Einsamkeit und in Kollektivismus, der Verlust sozialer und ethischer Orientierung. Gerade die Krise der Moderne wird zur Herausforderung der missionierenden Kirche. Das von solchen Eindrücken geprägte Bild der Gesellschaft hat die Struktur Studie differenzierter und im ganzen positiver gezeichnet. Die Veränderung zeigt sich besonders an der Interpretation des Phänomens
13
Hoekendijk 1964, 154; vgl. Margull 1959, 181f. Ratzmann 1980, 5 I f f unter Aufnahme einer Formulierung Margulls. Vgl. dazu weiter Abschnitt 3. 14
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der "Säkularisierung", das nun, in Abwendung von gängigen Deutungen, nicht mehr als "Entchristlichung" und auch nur noch begrenzt als "Entkirchlichung" erscheint. In soziologischer Hinsicht heben die Texte drei Aspekte der Säkularisierung hervor. Zum einen erscheint die säkulare Gesellschaft als ein Prozeß der sozialen Differenzierung-, die Wirklichkeit zerfällt mehr und mehr "in eine unbegrenzte Anzahl 'Welten'" (Hoekendijk 1967, 351). Dieser Prozeß "umschließt nicht nur die Arbeitsteilung und die Trennung von Arbeit und Wohnwelt. Er schließt ebenso die zunehmende Spezialisierung von Gruppen, Institutionen und Interessen in der gesamten Gesellschaft ein. Er beeinflußt demzufolge das System der Werte und Normen [...] (Pluralismus der Werte) und das Leben des Individuums (der Mensch in verschiedenen sozialen Rollen)" (ORK 1967,11).
Die Umstände, die zuvor lediglich als bedrohliche Auflösung traditioneller Orientierungen erschienen, werden nun als Aspekte eines Prozesses verständlich, der den Individuen auch mehr Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten vermittelt. Hierbei fällt gelegentlich das Stichwort der "Humanisierung", insofern an die Stelle autoritärer Beziehungen die "Kommunikation zwischen mündigen, verantwortlichen [...] Bürgern" tritt (Ratzmann 1980,142). Zum anderen jedoch gehört zur Säkularisierung eine zunehmende Zentralisierung der sozialen Struktur. Wichtige Entscheidungen werden zunehmend nicht mehr auf kommunaler und damit durchschaubarer Ebene getroffen, sondern auf höhere Organisationsniveaus verlagert, was zugleich eine Globalisierung der Entwicklungen zur Folge hat15. Für den einzelnen erhält der Differenzierungsprozeß damit nochmals eine größere Unübersichtlichkeit. Auch für die Strukturstudie stellt die Großstadt das Paradigma der Moderne dar16, denn hier, in der "urbanen Gesellschaft", zeigt sich die dritte Differenz zur traditionalen Gesellschaftsstruktur: Das Leben in der Stadt ist dauernder Veränderung unterworfen, so daß sein "einzig unveränderliches Kennzeichen der ständige Wandel" ist:
15 Vgl. ORK 1967, 25 sowie den Vorbereitungs- und Studienband zur sozialethischen Weltkonferenz des ORK in Genf, der den Titel trägt: "Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft" (ORK 1966). 16 Diese durchgehende Tendenz kritisiert Ratzmann als "bürgerlich" beschränkt und als zu sehr am amerikanischen Leitbild orientiert (1980, 65-67), ohne jedoch die Mehrzahl der Beobachtungen bestreiten zu wollen.
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"Die Struktur der Welt konnte nicht mehr als zeitliche Reflexion eines ewigen Originals gedacht werden. Stattdessen wurden Welt und Geschichte erfahren als Übergang im beständigen Fluß von Ereignissen. [...] Die Fluktuation der gegenwärtigen Gesellschaft korrespondiert daher mit der Erfahrung des modernen Menschen von Geschichte als fortgesetzter Weltverwandlung" (ÖRK 1967,15, vgl. 12f).
In idealtypischer Unterscheidung von einem sakralen und statischen Wirklichkeitsverständnis erscheint der geschichtliche Wandel nun weiterhin als Resultat menschlichen Handelns. Der Mensch erfährt sich nicht nur als Objekt des Wandels, sondern zugleich als "Sachwalter einer für ihn offenen Welt", in der die vielfältigen Situationen als je neue Gestaltungsaufgabe erscheinen (vgl. aaO. 90). Damit gewinnt der Typ eines "säkularisierten Menschen" Kontur: "Es ist der Mensch, der aus seinem Denken die 'Hypothese' eines allmächtigen Gottes ausschließt, dessen Handeln bestimmt wird durch ein Wissen um menschliche Werte, der jedoch seine Entscheidungen im Bewußtsein seiner Selbständigkeit [...] fällt; dem entweder jedes religiöse Empfinden abgeht [...] oder der dieses Empfinden, wenn er es hat, in Frage stellt und ihm mißtraut" (aaO. 83).
Im Unterschied zu Hoekendijks Diagnose der "Depersonalisierung" zeichnet die Studie einen "modernen Menschen", der in viel höherem Maße als bisher mündig und verantwortungsfähig ist und für den gerade dadurch die traditionelle Religion und ihre kirchliche Organisation nicht mehr von Bedeutung sind. Dies heißt allerdings nicht, daß die ökumenischen Texte die Krisen der Urbanen Gesellschaft übersehen würden. Jenen Gefahren ist eine der detailliertesten Passagen des Schlußberichtes gewidmet (ÖRK 1967, 23-26). Hier ist sowohl die Rede von Vereinsamung und Entfremdung, die infolge der gesellschaftlichen Spezialisierung zunehmen, als auch von der korrespondierenden "Vermassung", insofern der hohe Organisationsgrad der sozialen Abläufe ein eigenverantwortliches Leben erschwert. Ebenso wie in Hoekendijks Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit erscheinen also diejenigen Phänomene als besonders bedrohlich, welche dem Bild eines mündig-autonomen Individuums zuwiderlaufen. Die Aspekte der Säkularisierung, in denen die neue Freiheit in eine "postpersönliche" Verfassung umzuschlagen droht, begegnen als Herausforderungen der missionarischen Arbeit. Die Deutung der gesellschaftlichen Situation zielt auf den Aufweis eines besonderen kirchlichen Auftrags; und zugleich bildet sie die Basis für eine Kritik der bestehenden Kirche. 141
3. Der lärchliche Wirklichkeitsverlust Wie bei einer ökumenischen Diskussion nicht anders zu erwarten, hat sich die Kritik an den kirchlichen Verhältnissen zunächst am Begriff der Mission artikuliert. Hoekendijk wendet sich gegen das "anthropozentrische Verständnis von Mission", das diese nicht von ihrem "göttlichen Ursprung und Auftrag", sondern von einem bestimmten, meist geographischen Ziel her versteht (vgl. ORK 1965, 30ff). Die missionarische Verkündigung intendiert, "eine Kirche in einem Gebiet des Unglaubens zu wiederholen" (aaO. 33). In den westlichen Ländern erhält die missionarische Arbeit einen konservativen Zug, sie zielt auf die Wiederherstellung "des Corpus Christianum, jenes integrierten Kulturkomplexes unter der Leitung und Ordnung der Kirche" (Hoekendijk 1964, 88). In diesem Rahmen erscheint jede Bekehrung als "Erweckung und Erinnerung" (aaO. 142), als eine Rückkehr in die eigentlich immer schon bekannte religiöse Ordnung. Das Resultat dieses Missionsverständnisses besteht in einer faktischen Selbstüberhöhung der Kirche: Sie erscheint "um nichts anderes bemüht [...] als um ihr äußeres Gedeihen, ihre Selbsterhaltung, ihre eigene Behaglichkeit" (Margull 1959, 151). Mehr und mehr begreift sich die Kirche als eine Art Interessenvereinigung: Die "örtliche Kirchengemeinde gleicht oft einem Klub" (aa0.150). Hoekendijk bemerkt, daß diese Organisationsform mit ihrer Betonung von Vernunft und Sprache, einer individualistischen Moral und einer spiritualisierenden Verkündigung "die Lebenselemente des 'Bürgers'" voraussetzt und sich damit vom proletarischen Milieu isoliert17. Ähnlich wird von einer "selbstverschlossenen Sonderwelt" unzeitgemäßer Vorstellungen und Lebensformen gesprochen (ORK 1965, 28). Margull hat diesen Eindruck als "soziologische" bzw. soziale "Gefangenschaft der Kirche"1* zusammengefaßt: In der Welt des nonkonformistischen, skeptischen und funktional orientierten "Vierten Menschen" stellt die Kirche einen Anachronismus dar. Die an der Strukturstudie beteiligten Soziologen haben nun insbesondere diesen Aspekt der Kritik zu korrigieren versucht, indem sie die Sä17 Hoekendijk 1964, 144ff; vgl. die Hinweise auf ähnliche Aussagen der Arbeiterpriester bei Margull 1959, 164-167. 18 Vgl. Margull 1959, 151 ff; Ratzmann bemerkt zu Recht, daß der Ausdruck "soziale Gefangenschaft" den gemeinten Sachverhalt besser trifft (1980, 225; Anm. 131).
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kularisierungserfahrung anders deuten19. Matthes spricht den "Beobachtungen, die die These von der gesellschaftlichen Emigration der Kirche zu bestätigen scheinen", nur eine partielle Gültigkeit zu, denn der Prozeß sozialer Differenzierung und Emanzipation resultiert für die Kirche eher in einem "Funktionswandel" als einem "Funktionsverlust" (aaO. 79f). Im öffentlichen Bereich hat die Kirche sogar an Bedeutung gewonnen. Leitend ist hier Matthes' Überzeugung, daß "auch in der modernen Gesellschaft ein Bestand an 'Christlichkeit' vorhanden ist", auf den die kirchliche Arbeit zurückgreift20. Auch die soziologische Interpretation des kirchlichen Funktionswandels führt die ökumenischen Autoren jedoch zu einer Kritik der traditionellen parochialen Strukturen. Denn die Zentrierung auf das Pfarramt zementiert den Abstand der kirchlichen Arbeit von der Vielfalt des gegenwärtigen Lebens21. Die Ortsgemeinde kann zwar "immer noch einigen Lebensbereichen dienen - Familie, Erziehung, Heranwachsende [...]. Man muß aber hinzufügen, daß sie bei aller Bedeutung nur einen kleinen Sektor des Lebens ausmachen" (ORK 1967, 33f). Und die forcierte Errichtung kirchlicher, säkularer Gebäude steht in der Gefahr, "in der Gemeinde ein Gefühl religiöser Sicherheit innerhalb der Mauern eines isolierten heiligen Ortes [zu] unterstützen" (aaO. 32). Für diese konservativen Tendenzen der etablierten Kirche hat sich der einprägsame Begriff des "morphologischen Fundamentalismus" durchgesetzt. Von besonderem Interesse sind die verstreuten Hinweise auf die kirchliche Predigt. Soll die Kirche über ihre sozialen Grenzen hinaus "kommunizieren", so gilt: "Die Verkündigung nach außen kann niemals eine Wiederholung der Predigt sein. Sie ist etwas völlig anderes als die Predigt. [...] Man gäbe sich Illusionen hin, wollte man annehmen, Kommunikation könne nur durch das Wort möglich sein" (Hoekendijk 1964, 156). Die Bewertung der Predigt erscheint hier paradigmatisch für die Einsicht, daß die klassischen Formen der Verkündigung "nicht bis zu den Zentren vor [-dringen], an denen heute die wichtigsten Entscheidungen 19 Hier ist besonders J .Matthes' einschlägiges Referat von Bedeutung gewesen (ÖRK 1965, 78-82). Daiber (1989, 369) macht darauf aufmerksam, wie stark die einschlägigen Thesen der Arbeitsgruppe (aaO. 83-88) hiervon beeinflußt sind; das Gleiche gilt für die entsprechenden Passagen des Schlußberichtes (ÖRK 1967, 11-13). 20 AaO. 80; zu den frühesten Verfechtern dieser Deutung gehört T.Rendtorff (1958, 137ff; 1962). 21 ÖRK 1965, 153; vgl. Hoekendijk 1964, 144f.
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fallen" (ORK 1965, 153). Ein Festhalten an der Zentralstellung professioneller Predigt ignoriert die durch die gesellschaftliche Differenzierung veränderten Kommunikationsbedingungen. Das kirchliche Versagen angesichts der neuen Verhältnisse führen die ökumenischen Konsens-Texte schließlich auf tint falsche Ekklesiologie zurück, die sich in einem Schema "Gott - Kirche - Welt" zusammenfassen läßt: "Gott beziehe sich durch die Kirche auf die Welt, um so viele wie möglich aus der Welt in die Kirche hineinzuversammeln" (aaO. 19). Die Kirche wird so zum Zentrum ihres eigenen Denkens22 und tendiert dazu, bei der Entstehung neuer Gemeinden die hergebrachten kirchlichen Formen verbindlich zu machen und alle Menschen "nach unserem Bild von einem Christen und gemäß unserer kirchlichen Ähnlichkeit formen zu wollen" (W.Krusche 1968, 140). Damit wird jedoch verkannt, daß Gottes Gegenwart und sein Handeln nicht zuerst der Kirche, sondern allen Menschen gelten. Um der Selbstüberschätzung der Kirche entgegenzuwirken, hat die ökumenische Studie die veränderte gesellschaftliche Lage darum als Herausforderung zu einer neuen theologischen Bestimmung der "missionarischen Situation" begriffen.
4. Die Interpretation der Welt als missionarischer Prozeß Der Versuch der ökumenischen Texte, die Wirklichkeit theologisch als Ort des Handelns Gottes zu begreifen, setzt bei zwei Begriffen ein, nämlich dem Verständnis der "missio" als eines primär göttlichen Prädikates sowie der Entfaltung der christlichen Heilserwartung als "Schalom". Die leitende Idee der "missio Dei" hat wiederum Hoekendijk verdeutlicht: "'Mission', Sendung ist an erster Stelle ein innertrinitarischer Begriff. Mission bedeutet eine Bewegung in Gott selbst. Diese Bewegung bricht dann nach außen hin durch und verbreitert sich zu einer reichen Missionsökonomie. Gott handelt dadurch [...]. Er sendet seine Engel, seine Propheten, sein Wort, seine Wahrheit, seinen Geist, seine Apostel, seine Kirche und so weiter. Eine murmelnde Geschäftigkeit von Evangelisten und Dysangelisten [...]" (1967a, 126f).
Das missionarische Handeln der Kirche und einzelner Christen wird hier in einen weiten theologischen Rahmen eingeordnet. Die traditionell 22
W.Krusche spricht von einer "aufgeblähten Ekklesiologie" (1968, 139).
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eschatologische Ausrichtung der Missionstheologie wird radikal auf die vorfindliche Welt bezogen, so daß diese als Ort des fortwährenden Sendungshandelns Gottes erscheint, als ein geschichtlicher Prozeß, der auf das Reich Gottes zielt. Die verkündigende Tätigkeit der Kirche wird so eingeordnet in eine schöpferische "Ökonomie", die bereits vorher und unabhängig von ihr vonstatten geht. Auch die Einführung des Schalom-Begriffes zielt auf eine stärkere theologische Gewichtung der Welt. Der westeuropäische Schlußbericht formuliert: "Versucht man den Inhalt der missio Dei zu definieren, dann bietet der biblische Begriff des Schalom eine Hilfe. Dieses Wort wird verwendet, um alle Aspekte des menschlichen Lebens in ihrer gottgewollten Fülle beim Namen zu nennen: Gerechtigkeit, Wahrheit, Gemeinschaft, Frieden usw. [...] Schalom ist nicht etwas, was man objektivieren und für sich haben kann [...], es ist auch keine innere Verfassung (Friede des Herzens), die man für sich genießen kann. Schalom ist ein [...] Geschehen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Er kann darum nie auf eine einfache Formel gebracht werden. Er muß entdeckt werden als Gottes Gabe in bestimmten Situationen" (ORK 1967, 17).
Mit der Betonung der sozialen Verfassung des "Schalom" wird die notwendige Vermittlung des Heils durch die Kirche in Abrede gestellt; die Welt muß vielmehr vor jeder kirchlichen Bemühung als durch Gottes Handeln bestimmte Wirklichkeit gesehen werden. Die Sozialität des Schalom verbietet weiterhin eine individualistische Deutung; hier sind vielmehr Heil und Wohl untrennbar verbunden, denn der einen Wirklichkeit der Welt entspricht ein einheitliches, vollkommen der Welt zugewandtes Handeln Gottes23. In diesen Horizont wird auch das Christusereignis eingezeichnet: "In der Person Jesu ist die Herrschaft Gottes mit Macht gegenwärtig (Mt 12, 28). Seine Worte und Taten bringen Unruhe in die Welt (Mt 13, 33; Mk 2, 22). [...] Sie leiten einen Neuanfang dynamisch ein. Dieser Wandel hat zwei Aspekte: Er hat schon stattgefunden [...] - und er ist noch im Gange; Geschichte wird erfahren als der Wandel, dessen Anfänger und dessen Ziel Jesus ist" (ÖRK 1967,15; vgl. ORK 1965,720-
23 Die mangelnde Differenzierung im Handeln Gottes hat W.Krusche kritisiert. Er weist auf die lutherische Unterscheidung zwischen dem die Welt erhaltenden Gesetz und dem Evangelium hin: Es "ist doch der Begriff der missio streng auszusparen für Gottes Tun als Erlöser mittels des die Kirche begründenden und von ihr verkündigten Evangeliums" (1968, 167f).
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Auch die Sendung Jesu qualifiziert vor allem die soziale Wirklichkeit in einer bestimmten Weise. Sie erscheint auch theologisch als Ort permanenter Veränderung zwischen dem "Schon" der Inkarnation und dem "Noch nicht" der Parusie: "Für die Gemeinde ist es diese Spannung, die die Dynamik der Geschichte erzeugt und die geschichtlichen Veränderungen bewirkt. So wird Geschichte zu einem unumkehrbaren, zielgerichteten Prozeß" (ORK 1965, 40). Mit dieser Historisierung der Eschatologie24 gewinnt die Studie Anschluß an die oben skizzierte Deutung der modernen Gesellschaft: Die Erfahrung permanenter Veränderung wie die entsprechenden Krisenphänomene lassen sich verstehen als ausgelöst durch das Christusereignis selbst. Die Moderne erscheint als eine Wirklichkeit, die vom Evangelium intendiert ist, ja der Prozeß der Säkularisierung kann als "Frucht des Evangeliums" interpretiert werden (vgl. ORK 1967, 12ff). Dies läßt sich auch im einzelnen zeigen. So spiegelt sich in der Differenzierung von gesellschaftlichen Situationen und Funktionen die "Nichtansässigkeit" Gottes; seine Gegenwart kann eben nicht auf bestimmte ethnische oder historische Räume, kirchliche Organisationsformen oder andere "Lokalitäten" festgelegt werden (vgl. ORK 1965, 34; Hoekendijk 1967, 345). Gottes Handeln zielt vielmehr auf ein mündiges Subjekt, das in vielfältigen Situationen Verantwortung übernimmt. Die fortschreitende "Humanisierung" ist dann als Ziel der Herrschaft Christi zu begreifen: "Der Welt ist seit Christus in einer bestimmten Weise eine humane Struktur mitgegeben. Christus hat sie zum Guten verändert"25. In ähnlicher Weise läßt sich die zunehmende Konzentration und Intensivierung des Lebens in der Metropole als Bewegung hin auf die "neue Stadt" deuten, die in Offb 21 als Bild der Endzeit erscheint (vgl. ORK 1965,45).
24 Auf die Differenz zur traditionellen Eschatologie hat W.Krusche hingewiesen:"Die Zukunft der Welt, das Reich Gottes, ist nicht ein die Geschichte radikal transzendierendes Geschehen. Die Geschichte läuft nicht ihrem Ende, sondern ihrer Vollendung entgegen; die neue Welt bricht nicht in die Geschichte ein, indem sie sie abbricht, sondern sie bricht aus der Geschichte hervor, indem sie die verborgen wirksame Herrschaft Christi offenbar macht" (1968, 145f). 25 ÖRK 1965, 74. Gegen den Vorwurf, die Herrschaft Christi in eine "geschichtsimmanente Kontinuität" aufzulösen, versucht sich die Studie durch den Hinweis auf das prophetische Moment der "Überraschung" zu sichern, das der durch Christus bestimmten Geschichte eigen ist: "Damit ist dem Menschen die Möglichkeit genommen, Geschichtsschemata zu konstruieren. Andererseits ist ihm gerade dadurch die Freiheit gegeben, den Veränderungen im geschichtlichen Raum (auf die beispielsweise die Soziologie aufmerksam macht) offen und aktiv zu begegnen" (aaO. 73f)·
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Die theologische Affirmation der gesellschaftlichen Wirklichkeit verstellt der ökumenischen Studie allerdings nicht den Blick für die spezifischen Gefahren der Säkularisierung. Vereinsamung und Vermassung, Überforderung und Sinnleere geben vielmehr der eschatologischen Hoffnung Gewicht, daß die Geschichte der Welt dennoch im Grunde eine "positive Geschichte" ist (ORK 1965,131). Zur Deutung der Welt als eines auf das Reich Gottes zielenden Prozesses ziehen auch die ökumenischen Texte gelegentlich den Begriff der Verheißung heran. Indem die Christen "Gottes Verheißungen trauen, wagen sie es, sich auf die gegenwärtige Geschichte einzulassen" (ORK 1967, 16). Wird die Situation durch den Prozeß der "missio Dei" interpretiert, so verpflichtet sie die Glaubenden, den konkreten Verheißungen in der säkularen Gesellschaft nicht nur deutend, sondern handelnd nachzukommen. Die theologische Interpretation der modernen Welt findet ihr Ziel daher im Bild einer Kirche, die diesem Auftragscharakter der Wirklichkeit entspricht.
5. Die Kirche als Funktion der missionarischen Situation Die Grundzüge der entsprechenden Ekklesiologie sind in der niederländischen Diskussion über die "Apostolizität" der Kirche entwickelt worden26. Gegenüber einer institutionellen Definition der Kirche durch die apostolische Sukzession oder eine korrekte apostolische Lehrtradition versteht Hoekendijk das Handeln Gottes selbst als Apostolat, so daß die Kirche nur erscheint "in actu, in der Ausführung des Apostolats, in der Mitteilung des Evangeliums vom Reich an die Ökumene. Kurz: Die Kirche ist eine Funktion des Apostolats" (Hoekendijk 1964, 122). Als Ausdruck der Definition der Kirche durch ihren Auftrag ist der Begriff der Funktionalität in der folgenden Diskussion weitgehend akzeptiert worden. Nur in der Erfüllung ihrer Funktion, in einem auftragsgemäßen Handeln kann die Kirche ihre Apostolizität gewinnen: "Wir werden nicht verstehen, was die Apostel gelehrt haben, ehe wir nicht tun, was die Apostel zu tun beauftragt waren und auch taten" (ORK 1965, 31).
26 Vgl. zum Folgenden die Darstellungen von Marguli 1959, 137ff und Ratzmann 1980, 41ff. Zur niederländischen "Apostolatstheologie" vgl. Piper 1956 und Moltmann 1959.
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Dieses Handeln ist von Hoekendijk mit einem Schema dreier sich ergänzender Begriffe entfaltet worden, das in der ökumenischen Diskussion eine außerordentliche Wirkungsgeschichte gehabt hat: Das Apostolat realisiert sich "im Kerygma, der verkündigenden Repräsentation des Schalom, in der Koinonia, der korporativen Partizipation am Schalom, und in der Diakonia, der dienenden Demonstration des Schalom"27. Auch diese Beschreibung missionarischer Tätigkeit zielt offensichtlich auf einen möglichst umfassenden und differenzierten Weltbezug. Diesen ekklesiologischen Grundzug macht die Strukturstudie ausdrücklich, indem sie das Schema "Gott-Kirche-Welt" durch die Abfolge "Gott-Welt-Kirche" ersetzt28. Die Kirche kann nur durch ihre Funktion gegenüber der Welt und insofern "exzentrisch" bestimmt werden, so daß jede kirchliche Tätigkeit nur von "außen nach innen" gedacht und geplant werden kann29. W.Krusche resümiert: "Es ist geradezu der Grundtenor der ganzen ökumenischen Studie, einer Überbewertung der Kirche zu wehren; zu bestreiten, daß sie einen eigenen selbständigen Stellenwert habe" (1968, 138). Mit dieser Intention hat die Studie auch die Trias des apostolischen Handelns aufgenommen: Der kerygmatische Auftrag der Kirche besteht darin, die Wirklichkeit für immer neue und überraschende Erfahrungen des Handelns Christi zu öffnen. "Damit und dadurch stellt sie ein dynamisches Element in der Geschichte der Menschheit dar" (ORK 1965, 76). Die situationsbezogene Konkretion dieser eschatologischen Wirklichkeitsdeutung ist jedoch nicht möglich "ohne einen demütigen Dialog mit Nichtchristen und ohne Gemeinschaft mit ihnen. In diesem Dialog ist die Rolle der Kirche die eines Partners, der zum Hören und Empfangen bereit ist."30 Die Koinonia hat Hoekendijk bereits 1952 durch das Stichwort der sozialen "Kommunikation" inteipretiert (1964, 137-158). Über die verbalen Formen der Mitteilung hinaus muß die Kirche versuchen, in eine "communio" mit den neuen gesellschaftlichen Gruppen zu treten. Ähnlich spricht auch die Studie vom Auftrag einer "bewußten, liebevollen, die27 Hoekendijk 1964, 120; vgl. aaO. 100-108 sowie Marguli 1959, 191ff und Ratzmann 1980, 57ff. 28 Vgl. ÖRK 1967, 19f; dazu Ratzmann 1980, 112ff. 29 ÖRK 1967, 21. Zur "exzentrischen Position der Kirche" vgl. auch ÖRK 1965, 35f, wo Hoekendijk diesen Gedanken unter Hinweis auf den Religions Soziologen P.L.Berger entwickelt. 30 ÖRK 1967, 14; vgl. zum Stichwort "Dialog" auch Ratzmann 1980, 122-124.
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nenden Kommunikation mit der Welt" (ORK 1965,76). In dieser Wortwahl überschneidet sich das Moment der ganzheitlichen Mitteilung mit dem Moment der Gemeinschaft, die die Kirche mit der Welt in allen ihren Gestalten haben soll. Die Diakonie schließlich bedeutet die umfassende Anpassung an die Probleme und Krisen der jeweiligen Umwelt31. Dort versucht die Kirche, und zwar in bewußter Anonymität und unter Verzicht auf Mitgliederwerbung, "vielfältige Zeichen des Schalom in der Welt aufzurichten" (ORK 1965, 41). Um dem apostolischen Handeln Gottes zu entsprechen, muß die missionarische Kirche nicht nur in die soziale Wirklichkeit eingreifen, sondern sich geradezu mit dieser Wirklichkeit "identifizieren": "Die Kirche steht in und mit der Welt durch ihre Sendung dadurch, daß sie sich der Welt annimmt als dem Gegenstand ihrer Liebe und ihres Bemühens, dadurch daß sie sich selbst mit der Welt identifiziert, wie Christus sich selbst mit der sündigen Menschheit identifizierte" (aaO. 870·
Auf eine kaum noch zu überbietende Weise wird hier "die Grenze zwischen Kirche und Welt möglichst weitgehend offengehalten"32, indem die Ekklesiologie sich einseitig am dienenden und leidenden Christus orientiert. Ihre Spitze erreicht diese Tendenz in Hoekendijks Rezeption der altkirchlichen Kenosis-Lehre: "Die Kirche muß sich selber leer machen, muß Kenosis üben (Phil 2, 5ff), ihre ekklesiastische Statur und ihren ekklesiastischen Status absterben lassen", um den Menschen wirklich gleich zu werden (ORK 1965, 35). Die Arbeitsgruppe hat diesen Begriff aufgenommen, aber doch betont, daß die Kirche sich nicht in die Welt hinein verlieren dürfe: "Kenosis bedeutet nicht Selbstaufgabe, sondern Identitätsgewinn" (Ratzmann 1980,125). Dieser Gewinn an Identität und Eindeutigkeit wird in der Studie allerdings kaum entfaltet. Das apostolische Sein der Kirche entscheidet sich vielmehr primär in der Orientierung an der modernen Gesellschaft. Dies belegen auch die konkreten Vorschläge, die die Texte zur Frage "missionarischer Strukturen" machen.
31 Z.B. korrespondiert der oben erwähnten Liste von krisenhaften Aspekten der modernen Gesellschaft eine Reihe von detaillierten Bestimmungen des jeweiligen diakonischen Auftrags der Kirche (ÖRK 1967, 23ff). 32 So faßt Ratzmann die ekklesiologischen Intentionen der Studie zusammen (1980, 124).
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6. Missionarische Strukturelemente Wird der kirchliche Auftrag programmatisch an die Wahrnehmung der Situation gebunden, so muß der fortschreitenden Differenzierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine große "Flexibilität und Vielfalt" missionarischer Gestaltungsformen entsprechen (ORK 1967, 27). Aus diesem kritischen Grundsatz sind eine ganze Reihe Vorschläge entwickelt worden, von denen hier drei Komplexe herausgegegriffen seien. (a) Die Wahrnehmung der Gesellschaft als Differenzierungsprozeß hat zunächst der schon länger geführten Debatte über die Bedeutung der Laien33 eine neue Wendung gegeben: "Wenn die Kirchen in allen wichtigen Sozialstrukturen in Mission gegenwärtig sein wollen, dann muß ein bedeutend flexibleres und differenzierteres Amtsverständnis entwickelt werden. Gegenwärtig überläßt man das missionarische Werk der Kirche den Pfarrern [...] und kirchlichen Angestellten. [...] Die große Mehrheit der Christen, genannt die Laien, sind aber schon in all den Gesellschaftsstrukturen anwesend, die das gegenwärtige Leben entscheidend prägen, die aber durch den heutigen Pluralismus von den traditionellen kirchlichen Strukturen isoliert werden. Christen müssen also auf die besonderen Möglichkeiten für ihren Dienst hingewiesen werden" (ORK 1965,153).
Die Pluralität der Wirklichkeit kann der Kirche nur noch durch die Laien zugänglich werden. Die kirchliche Institution selbst hat dagegen im wesentlichen einen katechetischen Auftrag: Sie soll die Laien so ausbilden und ausrüsten, daß sie "im Kontext bestimmter Situationen", die sie mit Nichtchristen teilen, "die Bedeutung des Evangeliums für die Welt" entdecken und jeweils neu benennen können (ORK 1967, 28f). In dieser Schwerpunktverlagerung erkennt die funktionale Ekklesiologie den sachgemäßen Ausdruck der "exzentrischen Position" der Kirche, die ihren eigenen Mittelpunkt nicht mit den Schwerpunkten gesellschaftlichen Lebens verwechseln darf. Dementsprechend erscheint auch das Pfarramt zugunsten einer Vielfalt situationsbezogener Dienste relativiert34, denn den Pfarrern haftet am ehesten das Odium des "Berufskirchlichen" an. Neben der Laienschulung haben sie vor allem die Integration der verschiedenen kirchlichen Grup-
33 34
Vgl. dazu M arguii 1959, 220ff und Ratzmann 1980, 61f. Vgl. ÖRK 1965, 155; 1967, 37.
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pen zu leisten35. Zu einer neuen Beschreibung des pastoralen Berufsfeldes sind die ökumenischen Texte aber nicht vorgestoßen. (b) In organisatorischer Hinsicht kritisiert die Studie immer wieder das Festhalten am Monopol der Ortsgemeinde, denn hier zeigt sich der "morphologische Fundamentalismus" am deutlichsten. Der Vielfalt der sozialen Wirklichkeit muß jedoch eine Vielfalt von Gemeindeformen entsprechen. Ratzmann gibt eine Übersicht, die stabile und seßhafte "Hausgemeinden" oder "Zellen", Gruppen des "ständigen Angebotes", die längerfristige diakonische Aufgaben erfüllen, und "Formen ständiger Gemeinschaft" (z.B. evangelische Orden) nennt36. Die für die ältere Diskussion charakteristische Konzentration auf die Arbeitswelt ist zugunsten einer größeren Vielfalt von Situationsbezügen verlassen; und die diakonisch, funktional orientierten Strukturen sind den kerygmatischen, worthaftexpliziten Missionsformen deutlich vorgeordnet. Von Bedeutung sind insbesondere "kleine Dienstgruppen von Christen an den Naht- und Bruchstellen unserer komplizierten Gesellschaften" (ORK 1965, 8). Der Hinweis auf solche Gruppen und die Reflexion ihres ekklesiologischen Status' bilden ein Proprium der Strukturstudie37. Auf die gegenläufigen Prozesse der Integration und Zentralisierung zielt dagegen der Vorschlag, die Kirche weniger parochial als regional zu organisieren: "Wenn die Kirchen im Sinne von Zonen umstrukturiert werden, können sie sich auf einer Ebene sinnvoll engagieren, auf der sich die reiche Vielfalt des modernen Lebens entfaltet."38 Wiederum steht offenbar das Bild der modernen Großstadt im Hintergrund, in der unterschiedliche kirchliche Strukturen eine "brüderliche Polyphonie" bilden sollen (ORK 1965, 134). (c) Die funktionale Ekklesiologie impliziert schließlich auch ein neues Verständnis des Gottesdienstes. Unter Hinweis auf Rom 12,1 wird er oft mit dem gesamten kirchlichen Leben gleichgesetzt:
35 Hoekendijk resümiert: Im "Bild der Bühne sind sie nicht mehr als Souffleur und vielleicht auch noch ein ganz klein wenig Regisseur" (1956, 266). 36 Ratzmann 1980, 150; vgl. auch die Aufzählungen ÖRK 1965, 148f.l54f und Hoekendijk 1967, 352. 37 Dies gilt noch stärker für den nordamerikanischen Schlußbericht, vgl. ÖRK 1967, 63ff und die Charakterisierung durch Ratzmann 1980, 75-77. 38 ÖRK 1967, 37; vgl. auch ÖRK 1965, 208ff: "Raumgemäße Strukturen für die Kirche".
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"Gottesdienst ist also ein Wort, das nicht auf den Gemeindegottesdienst oder spezifische Kultakte beschränkt ist - Gottesdienst bezieht sich auf das ganze Leben. Umgekehrt umfaßt Mission nicht nur das (ganze) tägliche Leben, sondern auch den Gemeindegottesdienst" (ÖRK 1965,183).
Auch der Gottesdienst im engeren Sinne erhält seine Berechtigung nur als Voraussetzung und Resultat missionarischer Arbeit. Er kann darum angemessen nur in nach außen orientierten Gemeinden und Dienstgruppen gefeiert werden und ist dann ein Ort, an dem das Gespräch zwischen missionarischer Situation und dem Evangelium von der Weltherrschaft Christi stattfindet. Dabei sollen die traditionelle Liturgie und die Sakramente das missionarische Tun "vor der Gefahr [schützen], Handeln der Welt wegen und nicht Gottes wegen zu sein" (ÖRK 1965, 189). Die notwendige Distanz des Gottesdienstes zur Situation wird allerdings in den Texten nur selten hervorgehoben. Wichtiger ist der Studie wiederum der Wirklichkeitsbezug des Gottesdienstes, so daß im Sinne von l.Kor 14 auf Verständlichkeit und Situationsnähe zu achten ist. Damit verringert sich die Bedeutung der Predigt: "Wir möchten in aller Vorläufigkeit sagen, daß es in einer missionarischen Gemeinde Verkündigung im wahren Sinne des Wortes, also als (prophetische) Proklamation gegenüber bestimmten entscheidenden Sachverhalten, ziemlich selten geben wird [...]" (ÖRK 1965, 181). Je energischer kirchliches Selbstverständnis und Strukturen an der Gesellschaft der Moderne ausgerichtet werden, umso dysfunktionaler muß die institutionalisierte, an Wort und individuellem Glauben orientierte kirchliche Predigt erscheinen.
7. Die missionarische Situationsdeutung als homiletisches Problem Die ökumenische Debatte über "missionarische Strukturen" ist für die Frage nach dem homiletischen Wirklichkeitsverständnis in den 60er Jahren von Bedeutung, weil sich die hier skizzierten Motive einer neuen Sicht des Gegenübers der Verkündigung bei Lange und anderen Kirchenreformern wiederfinden. Ihre Aufwertung der "Situation", auf die nicht nur Langes Arbeiten zielen, ist von jener Debatte vorbereitet worden, in der die "Welt als Horizont" (Hoekendijk 1965) eine neue Wertschätzung erhält. Ein zusammenfassender Blick auf die Eigenart dieser Wirklich152
keitsdeutung läßt jedoch auch die praktischen Probleme erkennen, die sich für den konkreten Umgang der Predigt mit der Situation der Hörenden ergeben. Die ökumenischen Texte haben die soziale Wirklichkeit, auf die die Missionsarbeit zielt, als einen zielgerichteten geschichtlichen Prozeß gedeutet, der sich dem Handeln Gottes verdankt. Damit wird die theologische Sicht anschlußfähig für humanwissenschaftliche, insbesondere soziologische Interpretationen der Wirklichkeit: Der Prozeß der sozialen Differenzierung und Zentralisierung wie der Funktionswandel der kirchlichen Institution können als Ausdruck und Resultat der göttlichen Verheißungfür die Welt reklamiert werden. Gegenüber der so verstandenen Wirklichkeit hat die kirchliche Arbeit zunächst die Aufgabe, die schon wirksame Herrschaft Christi zur Geltung zu bringen. Damit wird sich die Aufforderung zu einem neuen Handeln verbinden, das den positiven Tendenzen der sozialen Entwicklung entspricht und zugleich den Gefahren begegnet, die der rasche Wandel für die Humanität des gesellschaftlichen Lebens impliziert. Beides, Proklamation und Appell, muß jedoch in eine wachsende Vielfalt sozialer Situationen hinein vermittelt werden. Damit wird die Distanz zwischen traditioneller kirchlicher Verkündigung und moderner Wirklichkeit, die Hoekendijk mit dem Bild der Glasglocke zwischen Predigern und Hörenden verdeutlicht hat, zum entscheidenden Moment der theologischen Situationsdeutung: Je positiver die moderne differenzierte Wirklichkeit erscheint, umso mehr muß eine kirchliche Organisation der Kritik verfallen, die sich dieser Veränderung in einer sozialen und zugleich theologischen Gefangenschaft verschließt. Von der theologischen Deutung der modernen Welt ergibt sich auf diese Weise ein Gefälle zur Reflexion der spezifischen Wirklichkeit der Kirche: Die Erkenntnis der Welt als Ort des göttlichen Schalom führt zu einer neuen Bestimmung der Kirche als "Funktion" der umfassenden "missio Dei"; und die im Namen der veränderten sozialen Verhältnisse geäußerte Kritik am parochialen und pastoralen Monopolanspruch resultiert im Entwurf einer entsprechend vielfältigen und flexiblen Organisation der kirchlichen Arbeit. Mutatis mutandis zeigt diese Struktur eine erstaunliche Übereinstimmung mit dem im Ersten Teil der vorliegenden Untersuchung skizzierten WirklichkeitsVerständnis. Wiederum verläuft eine argumentative Linie 153
von der theologischen Hochschätzung der menschlichen Wirklichkeit, die als Ziel des Handelns Gottes begriffen ist, zu einer Kritik des kirchlichen Handelns, das mit seinen Verkündigungsbemühungen jene Wirklichkeit gerade nicht erreicht und nicht wirksam bestimmt. Der Eindruck der Predigtnot, der für Iwand und andere die homiletische Deutung des Vorfindlichen steuert, ist nicht nur äußerlich vergleichbar mit der fundamentalen ökumenischen Krisenerfahrung eines Versagens der Kirche gegenüber der veränderten sozialen Wirklichkeit. Angesichts dieser strukturellen Parallelen, die sich dem Erbe der WortGottes-Theologie verdanken dürften, wird allerdings auch die Eigenart der ökumenischen Situationsdeutung augenfällig: Das Subjekt, in dem das göttliche Offenbarungshandeln sich mit der vorfindlichen Wirklichkeit vermittelt, ist nicht mehr der einzelne "Zeuge" in seiner exemplarischen Erfahrung des Glaubens. Der auf die weltweite Kirche gerichteten ökumenischen Perspektive entspricht es vielmehr, daß an die Stelle einer Reflexion der Verkündigung, die auf die Wirklichkeit des Predigers zuläuft, eine Untersuchung der kirchlichen Strukturen und ihres defizienten Wirklichkeitsbezuges tritt. Auch die strukturell orientierte Beschreibung des kirchlichen Handelns steht allerdings vor dem Problem einer Abbiendung der entscheidenden Instanz der Verkündigung, wie sie oben im Ersten Teil hinsichtlich des predigenden Subjekts herausgearbeitet wurde: Unter den Bedingungen einer totalen Orientierung an der gesellschaftlichen Wirklichkeit kann der eigenständige Beitrag, den die Kirchen hinsichtlich dieser Wirklichkeit zu leisten haben, nicht mehr verdeutlicht werden. Wie der Gottesdienst, so wird auch jedes andere Element kirchlicher Struktur unter die Forderung des Situationsbezuges und der permanenten Verflüssigung gestellt, so daß die kirchliche Wirklichkeit nun doch bis zur Unkenntlichkeit verschwindet. Damit erhält aber auch die Deutung der missionarischen Situation eine eigentümliche Ambivalenz: Als Ziel der "missio Dei" ist sie zwar funktionaler Orientierungspunkt allen kirchlichen Handelns. Zugleich darf dieses Handeln aber nicht zu einer "Verkirchlichung" der Wirklichkeit führen: Die traditionellen Formen der Verkündigung können keine missionarische Bedeutung mehr beanspruchen, um die ursprüngliche "Weltlichkeit" des Evangeliums nicht zu gefährden. Damit verstärken sich theologische Hochschätzung der Moderne und fundamentale Kirchenkritik gegenseitig 154
auf eine Weise, in der die problematische Distanz zwischen kirchlicher Institution und gesellschaftlicher Wirklichkeit systematisch festgehalten wird. Wiederum führt die unreflektierte Verbindung dogmatischer und erfahrungsorientierter, nun human wissenschaftlicher Deutungen zu einer Affirmation der Krisenerfahrung, deren Überwindung die theologischen Bemühungen um das Gegenüber der Verkündigung gelten. Nicht zuletzt durch diese Aporie wird die ökumenische Deutung der Situation nun auch zu einem homiletischen Problem. Zwar ist der Bezug der Predigt auf die Wirklichkeit ihrer Hörer dadurch erleichtert, daß diese Wirklichkeit schon immer als der Ort der "missio" Gottes und seines Schalom gelten kann. Die Predigt proklamiert eine Deutung der Wirklichkeit, die nicht erst ein Ergebnis des von ihr zu weckenden Glaubens ist. Allerdings legen auch die ökumenischen Texte großes Gewicht auf die von den Christen zu begleitende Veränderung der Wirklichkeit; auch hier besteht also die Tendenz, die konkrete Situation vor allem kritisch in den Blick zu nehmen. Schwerwiegender sind jedoch die homiletischen Konsequenzen, die sich aus der ökumenischen Institutionskritik der Verkündigung ergeben. Denn die gottesdienstliche, vom Pfarrer verantwortete Predigt muß als Inbegriff der traditionellen, morphologisch unzureichenden kirchlichen Arbeit gelten. Je mehr die Verkündigung sich auf die Eigenart moderner Wirklichkeit einläßt, desto geringer wird die Bedeutung der Predigt. In einem an der missionarischen Situation orientierten Gottesdienst muß sie zu einem auf Verständlichkeit bedachten Dialog werden und bedarf in ihrer isolierten Verbalität einer Ergänzung, wenn nicht Ersetzung durch Dienst und Gemeinschaft. Die ökumenische Deutung der Wirklichkeit läßt sich also zunächst gerade nicht als Entfaltung einer homiletischen Situation begreifen. Die Konzentration auf die Funktionalität der kirchlichen Strukturen erschwert sowohl die inhaltliche Reflexion darüber, wie in der Verkündigung die Situation der Hörer zu deuten ist, als auch die praktische Frage danach, wie eine von bestimmten Hörern geprägte, konkrete Wirklichkeit für die Predigtarbeit Bedeutung gewinnen könnte. Es ist dieses pastorale Dilemma der ökumenischen Situationsdeutung, angesichts dessen Ernst Langes praktisch-theologische Arbeiten ihr eigentümliches Profil erhalten.
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C. Der "Ernstfall des Glaubens" als Kriterium der Predigt: Ernst Lange
Ernst Lange (1927-1974)1 hat den Begriff der "homiletischen Situation", auf dessen Interpretation der Zweite Teil der Untersuchung zielt, in einigen Texten entwickelt, die zwischen 1965 und 1968, meist im Zusammenhang der "Predigtstudien" entstanden sind. 1976 hat R.Schloz diese Arbeiten zusammen mit Beiträgen zur Liturgik und zur Pastoraltheologie in dem Band "Predigen als Beruf' neu herausgegeben2. Die Überlegungen zur homiletischen Situation sind aber, das zeigt bereits eine flüchtige Durchsicht dieses Bandes, eng verbunden mit den Einsichten über die kirchliche Situation im ganzen, die Lange seit 1959 im Rahmen seines Berliner Arbeitsfeldes formuliert hat. Die homiletischen Texte bilden den zeitlichen, und in gewisser Weise auch den sachlichen Abschluß deijenigen Arbeiten Langes, die auf dem Hintergrund seiner Tätigkeit in der Spandauer Ladenkirche entstanden sind3. Bei diesem "kirchlichen Experiment", das wesentlich von Lange initiiert worden ist, ging es um "den Versuch einer die neue Lage der Kirche in der Industriegesellschaft berücksichtigenden Verflüssigung und Verwandlung der herkömmlichen parochialen Strukturen", wie er 1965 in der ersten Bilanz formulierte4. Das Unternehmen zielte darauf, die oben (B) skizzierte, vom Eindruck einer dramatischen Krise bestimmte Deutung der kirchlichen Situation in die Strukturen und Arbeitsweisen einer konkreten Gemeinde umzusetzen. Durch die Konsequenz seiner Durchführung, aber auch durch Langes be-
1 Zur Biographie Langes vgl. Rein 1987; zum hier betrachteten Zeitraum auch Liedtke 1987, 132-138. 2 Vgl. Lange, PaB (Neuauflage, mit einem ergänzenden Nachwort, 1982 im Rahmen der "Edition Emst Lange"). 3 Außer in PaB finden sich diese Arbeiten in "Chancen des Alltags" (CdA) sowie in Lange 1981. 4 B65, 66. Eine instruktive Beschreibung der theologischen Ansprüche und der wechselvollen Geschichte der Ladenkirche gibt Butenuth 1986.
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gleitende und reflektierende Arbeiten ist es für den Beginn der Kirchenreformbewegung in der Bundesrepublik von großer Bedeutung gewesen5. Die in den genannten Arbeiten zum Ausdruck kommende Perspektive auf das Gegenüber der kirchlichen Arbeit ist hier nicht nur deswegen von Bedeutung, weil sie, wie ihre Wirkungsgeschichte bezeugt, exemplarisch für die Auffassung zahlreicher Pfarrer und Praktischer Theologen in den 60er Jahren steht. Sondern diese eigentümliche Deutung der Situation ist von Lange selbst mehr und mehr im Hinblick auf die Predigtarbeit zugespitzt worden. Die Reflexion der in der Ladenkirche vollzogenen Predigtpraxis bildete von Anfang an einen integrierenden Bestandteil aller Bilanzierungen 6 . Weitere Anstöße zu solcher Reflexion ergaben sich durch Langes Berufung an die Kirchliche Hochschule Berlin7 sowie durch die Gründung der "Predigtstudien". Daß der Begriff der "homiletischen Situation" seine Erläuterung insbesondere in diesem praktischen Zusammenhang erhielt, stellt nicht nur äußerlich eine Parallele zu Iwands Arbeit am homiletischen Wirklichkeitsverständnis im Rahmen der GPM dar. Die Untersuchung wird sich zunächst dem durch die Ladenkirche markierten Kontext zuwenden (II-IV), und zwar besonders im Rückgriff auf Langes Buch "Chancen des Alltags" (1965), das die Ergebnisse jenes Experiments in einen weiteren Rahmen stellt. Erst auf diesem Hintergrund werden die homiletischen Überlegungen im engeren Sinne verständlich (V)8. In Anbetracht der an Mißverständnissen reichen Wirkungsgeschichte von Langes Texten ist jedoch zuvor deren inhaltliche und formale Eigenart soweit zu klären, daß sich Leitfragen zur Interpretation seiner Wirklichkeitsauffassung ergeben.
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Vgl. Möller 1987, 234-242 und Schloz 1990, 55. Vgl. Bilanz 1965, 163ff; 1965b, 321f; AcR 52f. 7 Über Langes Lehrveranstaltungen unterrichtet Liedtke 1987, 136.481Í. 8 Die Schwierigkeit vieler Deutungen von Langes Arbeiten zur Predigt (vgl. besonders Wiedemann 1975, 111 ff; Hasselmann 1977, 135ff; Krotz 1980; Bohren 1981) besteht nicht zuletzt in der Ausblendung dieses Kontextes. 6
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I. Zur Eigenart von Langes theologischer Perspektive
1. Aufnahme und Korrektur der ökumenischen Situationsdeutung Langes theologische Prägung läßt sich kaum auf bestimmte Personen oder Schulen zurückführen. Zweifelsohne bildet die Wort-Gottes-Theologie zunächst auch für ihn den Horizont der Reflexion, wobei Gogarten eine besondere Rolle zu spielen scheint (vgl. Gestrich 1985, 39ff). Bedeutsamer für seine Biographie ist aber das starke Engagement in der evangelischen Jugendarbeit der Nachkriegszeit, in der er bald eine führende Position einnahm (vgl. Liedtke 1987a). Persönliche und theologische Bedeutung zugleich hat weiterhin die Gestalt D.Bonhoeffers 9 . Alle genannten Einflüsse müssen jedoch im Rahmen von Langes durchgehenden und intensiven Kontakten zur ökumenischen Bewegung gesehen werden, die in ihrer Wirkung auf sein Denken und Handeln kaum zu überschätzen sind10. So ist das Projekt der Ladenkirche selbst nicht nur zuerst durch Langes Begegnung mit der "East Harlem Protestant Parish" und anderen christlichen "Dienstgruppen" in den städtischen Elendsgebieten der USA angeregt worden, sondern die Beschreibung seiner "Voraussetzungen" und "Leitvorstellungen" ist auch im einzelnen von den ökumenischen Einsichten über die gesellschaftlichen Veränderungen und den resultierenden Funktionswandel der Kirche bestimmt11. Die inhaltliche Ausrichtung von Langes praktischer wie literarischer Arbeit mindestens bis 1968, als er Berlin verließ, kann darum insgesamt am ehesten als eine Aufnahme und Korrektur jener Perspektive auf die "missionarische Situation" beschrieben werden. Langes programmatisches Buch "Chancen des Alltags" beginnt mit einer Skizze der verbreiteten Resignation angesichts des "Vorhangs, der Kirche und Wirklichkeit voneinander scheidet": Das kirchliche Leben wird von einer "Atmosphäre der Unwirklichkeit und Unwirksamkeit" bestimmt, weil es sich mehr und mehr vom gesellschaftlichen Alltag in ei-
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Vgl. besonders Lange 1981, 19ff und zusammenfassend Liedtke 1987, 384ff. Zur ökumenischen Seite von Langes Biographie vgl. besonders Rein 1987, 539.544. 549ff; Raiser 1987; Simpfendörfer 1989, 167ff. 11 Vgl Β65, 66ff.76ff sowie zur Vorgeschichte der Ladenkirche Butenuth 1986, 59f und Liedtke 1987, 62ff. 10
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nen besonderen "Feierbereich" zurückzieht (aaO. 8.13). Theoretisch wird diese Entwicklung von einer wirklichkeitsvergessenen Liturgik und Ekklesiologie legitimiert12. Auch Langes Ausgangspunkt ist jene doppelte Krisenerfahrung einer veränderten Wirklichkeit und einer "historisch gewachsen Insuffizienz der gegenwärtigen Kirche" (Gestrich 1985, 35), die die ökumenischen Texte leitet. Ebenso teilt Lange den doppelten analytischen Ansatz der oben betrachteten Debatte: Die moderne Wirklichkeit wie der kirchliche Auftrag werden sowohl soziologisch wie theologisch bearbeitet. Hinsichtlich der Gegenwart "bedient sich Ernst Lange mit Entschiedenheit der begrifflichen und methodischen Mittel, die die Sozialwissenschaften bereitstellen, um 'der Welt' im Modus ihrer eigenen Erfahrung und Selbstauslegung nahezukommen" (Schloz 1981, 8). Zugleich sieht er die moderne Wirklichkeit als "Wirkungsgeschichte der Verheißung" (CdA 127ff), so daß die fortschreitende Differenzierung der Gesellschaft als vom Evangelium selbst ausgelöste "unaufhaltsame Verwandlung" (aaO. 25Iff) erscheint. Indem Lange die Frage nach der "Krise des Kirche-Welt-Verhältnisses" (Schloz 1981, 8) jedoch konsequent auf die eigentümliche deutsche Situation bezieht, kommt es zu einer Reihe von Korrekturen der ökumenischen Einsichten. Die Deutung der modernen Wirklichkeit sowie die "Funktionen" der Kirche angesichts dieser Situation werden insbesondere in dreierlei Hinsicht präzisiert und weitergeführt. Gerade in der Bestimmung der homiletischen Situation kommen diese Blickwinkel dann gemeinsam zum Tragen. Stärker als die ökumenischen Texte hat Lange zunächst den existentiellen Aspekt des gesellschaftlichen Wandels der Neuzeit zum Thema gemacht13. So kann er, im Anschluß an die theologische Verhältnisbestimmung von Glauben und Wirklichkeit, die Situation des Christen in der Moderne nicht nur soziologisch als Vereinzelung, sondern zugleich als "Anfechtung" beschreiben. Deutlicher als in der Strukturdiskussion wird die individuelle Erfahrung der Krisen und Chancen des kirchlichen Lebens beschrieben und in den Kontext einer Frömmigkeitstradition gestellt, die Lange besonders durch die Jugendarbeit zugänglich war.
12 Zu Langes Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Liturgik vgl. Cornehl 1984, 350f. 13 Darauf weisen auch Neven (1982, 196) und Gestrich (1985, 37ff) hin.
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Eine zweite Eigenart der Wirklichkeitsdeutung zeigt sich in Langes Zuspitzung der funktionalen Ekklesiologie auf den Gottesdienst. Skizzen der Seelsorge und des Katechumenats, aber auch die Frage nach dem "Gottesdienst der Kirche" wie des Einzelnen rücken im Grunde das gesamte Handeln des Glaubens in den Rahmen liturgischer Begrifflichkeit™. Damit erhalten die zeitdiagnostischen wie die praktischen Überlegungen wiederum Anschluß an eine ausgebaute theologische Theorie. Gründlicher als die ökumenischen Texte hat Lange dabei den Wirklichkeitsverlust der Liturgie in der historischen Dimension entfaltet, indem er das Verhältnis von Kirche und sozialer Wirklichkeit von den Ursprüngen über die "parochiale Symbiose" (CdA 35ff) bis zur gegenwärtigen Randstellung der Ortsgemeinde und ihres Gottesdienstes skizziert15. In solchen Argumentationen wird deutlich, daß Lange, auch über die liturgische Terminologie hinaus, neben der existentiellen eine parochiale Perspektive auf die Wirklichkeit der Neuzeit formuliert. Die unter dem Titel "Der Gottesdienst in Funktion" zusammengestellten Texte (CdA 179ff) beschreiben im Grunde den ganzen Kreis ortsgemeindlicher Probleme und Aufgaben. Ebenso fragen zahlreiche andere Arbeiten nach der Funktionalität des traditionellen, des parochialen Kirchentyps16. Im Unterschied zu den ökumenischen Texten wird die faktische Funktionalität des Gegebenen also nicht kritisch übersprungen. Langes interpretative Leistung besteht vielmehr nicht zum wenigsten im Festhalten der Einsicht, daß die vorfindliche Kirche der BRD in erster Linie parochial verfaßt ist und daß alle Veränderungsvorschläge von dieser Struktur auszugehen haben17. Die Deutung gottesdienstlicher wie parochialer Vollzüge impliziert stets ein "Plädoyer für den Normalfall" (CdA 289ff). In diesem Sinne hat Lange auch die Strukturen der Ladenkirche zunehmend als eine spezifische Form parochialer Arbeit akzeptiert.
14 Vgl. CdA 109ff.l51ff. Auch in den programmatischen "Thesen zur Theorie und Praxis des evangelischen Gemeindegottesdienstes" (Lange 1965a) ist die Tendenz deutlich, das gottesdienstliche Geschehen als Grundvollzug von Kirche und damit als Orientierung des gesamten ortsgemeindlichen Handelns zu entfalten. 15 Vgl. CdA 26ff.35ff; dazu auch Lange 1968a. 16 Vgl. neben der "Bilanz 65" etwa Lange 1981, 177ff ("Ein anderes Gemeindebild") und auch PaB 96ff ("Der Pfarrer in der Gemeinde heute"). 17 Vgl. z.B. CdA 292: "Die Ortsgemeinde ist ganz ohne Frage nach wie vor eine Grundgestalt der Kirche. Dächte man sie sich weg, es bliebe an sichtbarer und auf die Dauer wirksamer Kirche so gut wie nichts." Vgl. auch J.Schmidt 1987.
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Eine solche kritische Reflexion der parochialen Normalität enthält im übrigen bereits wesentliche Elemente einer theologischen Reflexionsform, die Lange später als "Theorie kirchlichen Handelns" skizziert hat18: Angesichts der bleibenden Funktionalität kirchlicher Strukturen, auch in der modernen Gesellschaft, ist zunächst nach den Gründen dieses Beharrens zu fragen, das ja zugleich nicht selten im Widerspruch zu den kritischen Momenten der christlichen Tradition steht. Erst auf dem Hintergrund einer solchen Analyse der Situation können die kirchlichen Handlungsstrategien der "Bestandssicherung" und der radikalen Reform mit dem Ziel beschrieben werden, jene kritischen Impulse tatsächlich für die bestehende Normalität fruchtbar zu machen. Auch wenn der gesellschaftliche Kontext einer solchen Theorieform von Lange erst später scharf gesehen worden ist, kennzeichnet die Argumentation mit der gegebenen Situation und dem daraus resultierenden Handlungsbedarf doch bereits seine ersten Arbeiten zur parochialen Situation. Langes Interesse an der Normalsituation des kirchlichen Handelns läßt schließlich eine dritte Perspektive auf die Wirklichkeit der modernen Gesellschaft erkennen. Es sind nämlich insbesondere die Pfarrer, die den Funktionswandel der Parochie als Problem erfahren. Die Krise der kirchlichen Wirklichkeit spitzt sich für Lange in der "Krise des PfaiTerberufs" zu, im Widerspruch zwischen dem Anspruch des Amtes, in der gesellschaftlichen Lebenswelt präsent zu sein, und der aufreibenden, sozial marginalisierten "Wirklichkeit seiner alltäglichen Arbeit"19. Lange thematisiert die Ortsgemeinde in einer pastoralen Perspektive, als ein komplexes Aufgabenfeld des Pfarrers, das empirisch durch eine Vielfalt von Mitgliedschafts- und Bedürfnisprofilen, theologisch etwa durch die Unterscheidung verschiedener Formen und Phasen des "Dienstes am Wort" strukturiert ist (vgl. PaB 120f.l07ff). Es ist die alltägliche Arbeit des Gemeindepfarrers, auf deren Erörterung Langes Texte regelmäßig hinauslaufen. Die implizit pastorale, und jedenfalls explizit pragmatische Ausrichtung zeigt sich dann auch in deren sprachlicher Gestalt.
18 Vgl. Lange 1981, 197ff.215ff. Zum weiteren Horizont dieses Projekts vgl. Gestrich 1985; zur Berliner Wirkungsgeschichte Eisele 1989. 19 Vgl. PaB 97ff. Besonders klar hat Lange die pastorale Ausrichtung seiner Analyse 1972 formuliert: "Eine 'blinde' kirchliche Praxis und eine 'leere' theologische Theorie treten immer weiter auseinander, vermittelt nur noch im Leiden der Pfarrer, die beides nicht mehr miteinander verbinden können" (Lange 1981, 208).
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2. "Gestaltete Subjektivität" als Interpretationsproblem Ernst Langes Versuch, die ökumenisch formulierte Krisenerfahrung im Kontext volkskirchlicher Normalität so zur Sprache zu bringen, daß sie als pastorale Gestaltungsaufgabe erkennbar wird, hat auf das kirchliche Selbstverständnis eine außerordentliche Wirkung gehabt20. Zugleich jedoch ist diese Wirkung höchst umstritten21. Abgesehen von theologischen Fragen, auf die im Laufe der Untersuchung einzugehen ist, richtet sich die mehr oder weniger deutliche Kritik auf Langes gleichsam essayistische Darstellungsweise. Diese Anfragen lassen sich im wesentlichen auf zwei Punkte reduzieren, die Bohren in polemischer Schärfe formuliert hat: Zum einen argumentiere Lange nicht sachbezogen, sondern implizit mit seiner besonderen Biographie: "[D]a leidet einer an der Predigt, an der Kirche, an seinem Predigerdasein und in-der-Kirche-sein. Von seinem Leiden geht unzweifelhaft eine Faszination aus. Sein Leiden erweckt Teilnahme, macht ihn sympathisch" (1981, 418). Zum anderen moniert Bohren (aaO. 417) eine begriffliche "Verschwommenheit": "Die Stringenz fehlt. [...] Liegt das Geheimnis der Wirkung Langes an einem Mangel an theologischer Präzision [...]?" Damit ist die Frage nach dem eigenartigen Sprachgestus Langes gestellt. (a) Es kann zunächst kein Zweifel bestehen, daß Lange zu seinen Lebzeiten nicht allein durch seine Texte gewirkt hat, sondern auch durch die Publizität seiner Praxis, sei es in den 50er Jahren in der überregionalen Jugendarbeit, sei es in den 60er Jahren als Initiator der Ladenkirche. Dazu muß seine persönliche Ausstrahlung ausgesprochen beeindruckend gewesen sein. Nach Langes Tod dürften dann die Spannungen und Brüche seiner Biographie in einer freilich kaum greifbaren Weise zu seiner Wirkung beigetragen haben. Eine Rekonstruktion von Langes Einsichten kann seine Texte dennoch nicht vornehmlich im Zusammenhang dieses eigentümlichen Lebensweges interpretieren22. Denn es ist auffällig, wie sorgfältig in Langes Publi20 Dies belegt die große Bedeutung von Langes Texten im Kontext theologischer Ausbildung (vgl. etwa Gestrich 1985, 43ff) und im Zusammenhang der Bemühungen, die Volkskirche theologisch zu begreifen (vgl. zuletzt EKD 1986, 70ff). 21 Eindrücklich ist insbesondere die von R.Bohren ausgelöste Kontroverse über die Wirkungsgeschichte von Langes Homiletik; vgl. Bohren 1981; P.Krusche 1981; zum ganzen vgl. auch Schloz 1982. 22 Vgl. dagegen etwa Liedtke 1987, besonders 18ff.
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kationen alle Verweise auf seine Biographie vermieden sind: Er war offenbar nicht daran interessiert, seine Person zum konstitutiven Bestandteil praktisch-theologischer Arbeit zu machen. Die folgende Darstellung geht daher nicht auf private Eindrücke, biographische Details oder psychische Strukturen ein, sondern beschränkt sich auf die von Lange selbst veröffentlichten Texte. In einem anderen Sinn ist Langes Biographie allerdings sehr wohl von Bedeutung. Bohren hat sicher darin recht, daß Lange bei der Deutung der kirchlichen Arbeit seine konkreten pastoralen Erfahrungen, und zwar gerade die problematischen Erfahrungen, hat einfließen lassen. Insofern sind seine Arbeiten jeweils von einem spezifischen beruflichen Kontext geprägt, den auch die Interpretation zu beachten hat: Lange geht stets von den Problemen einer bestimmten Situation aus und formuliert entsprechend konkrete Vorschläge23. (b) Dieser intensive Situationsbezug vermag auch die Diagnose der begrifflichen "Verschwommenheit" zu klären und zu relativieren. Es ist nicht zu bestreiten, daß Langes Texte über weite Strecken nicht dazu angetan sind, den theoretischen Ansprüchen der Theologie zu genügen. Ihr mehr persuasiver als deskriptiver Stil ist jedoch Ausdruck einer bestimmten argumentativen Intention. Exemplarisch läßt sich dies an einem Text mit dem Titel "Freisein im Gegebenen" aufzeigen (CdA 223-243). Lange beginnt mit der These: "Niemand kann sich aus eigener Kraft von der Last seiner Vergangenheit befreien. Um frei zu werden, bedarf er eines anderen, der ihm eine Chance eröffnet" (223). Er entfaltet diese Einsicht hinsichtlich der Ehe, der ElternKind-Beziehung und am Umgang mit der deutschen Schuld nach 1945. An der Zachäusgeschichte (Lk 19) expliziert er dann die befreiende Wirkung Jesu, der im Vertrauen auf Gott den "Ring der menschlichen Selbsteinschließung" durchbricht (231). Die Zachäusgeschichte wird wiederum gedeutet als "maßstabsgetreues Modell dessen, was in der Liturgie [...] an Entlastung geschieht" (233). An dieser Aufgabenstellung muß sich aber nicht nur der Gottesdienst orientieren, sondern die Ausführung jenes Modells ist vor allem im individuellen Alltag zu leisten, etwa bei Alkoholkranken oder, im Rahmen der Ortsgemeinde, als gegenseitiges "Freihalten" der Generationen.
Um den Prozeß der gegenseitigen "Freite" (aaO. 225f) in seinen Bedingungen und Möglichkeiten zu erläutern, verknüpft Lange ganz unter-
23 Vgl. auch Schloz 1980, 6: "Ernst Lange schrieb in die Zeit hinein, mit Blick auf mögliche Wirkung. Die meisten seiner Texte gehen auf Vorträge zurück. Ich bin fast sicher, daß er kaum je einen Vortrag gleichlautend zweimal gehalten hat. Er verfaßte seine Gedanken für jede Gelegenheit neu."
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schiedliche Situationen: nicht nur individuelle, sondern auch Gruppenund Gemeindeerfahrung, historische Szenen und psychologische Fallbeispiele. Dabei ist es von Bedeutung, daß die meisten dieser Hinweise eine narrative Form aufweisen, es sind Geschichten, die zur Identifizierung mit einer subjektiven Perspektive einladen. Dementsprechend hat Rössler den Predigten Langes ein hohes "Maß an sprachlich gestalteter Subjektivität" bescheinigt (1968, 72). Die Deutung der Wirklichkeit geschieht "am Leitfaden eigener Erfahrungen" (aaO. 73) und wird so auch für andere Individuen plausibel. Die Muster, in denen Lange die unterschiedlichen Facetten subjektiver Erfahrung verknüpft, läßt er sich zumeist von biblischen Geschichten und Gestalten vorgeben. Kennzeichnend für Langes Stil ist weiterhin das Bemühen um bestimmte, einprägsame Formeln oder Metaphern. Dabei sind insbesondere Gegenüberstellungen von Bedeutung, seien diese theologischen Ursprungs ("Bezeugung und Bekenntnis", CdA 166ff), auf soziale Erfahrung bezogen ("Bürgschaft und Beglaubigung", aaO. 79ff) oder erfahrungswissenschaftlich geprägt ("Innen- und Außenfunktionen", aaO. 149ff). Meist jedoch schließen die Metaphern an kirchlich vertraute Sprache an. Ihre Leistung besteht darin, die konkreten Situationen pastoraler bzw. christlicher Praxis so zu strukturieren, daß ihr Zusammenhang mit anderen Erfahrungen erkennbar wird. Der vertrauten und zugleich verunsichernden Situation werden durch diese sprachliche Gestaltung neue Aspekte und Handlungsperspektiven abgewonnen. Das Fehlen klarer Begrifflichkeit ist somit Ausdruck des Versuchs, die subjektive Wirklichkeitserfahrung in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit zu artikulieren und zugleich konkrete Handlungsmöglichkeiten zu erschließen24. Auch in formaler Hinsicht ist die Verbindung von Situationsund Verfahrensbezug charakteristisch für Langes Texte. Wiederum sind es gerade die Erfahrungen der Pfarrer, die auf diese Weise artikuliert werden können25.
24 Ähnlich, nämlich mit Langes Interesse an der Kommunikation mit dem Leser bzw. Hörer, argumentiert Schloz, wenn er darauf hinweist, "daß begriffliche Klarheit und definitorische Schärfe, Präzision und Stringenz der Argumentation diesem Ziel in selbem Maße abund zuträglich sind. Wissenschaftliche Methodik geht einher mit einer systematischen Perzeptionsbeschränkung" (1982, 195; vgl. 1981, 1 i p . 25 Selbst Bohren konzediert: "Er hat - wie kaum ein anderer - die Gabe, einem Prediger aus dem Herzen zu sprechen" (1981, 416). Zur Wirkung Langes vgl. auch Gestrich 1985, 42.51.
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Es ist nun aufschlußreich, daß die genannten Beobachtungen zu Langes Argumentationsstil sich auch an seinen Predigten machen lassen. Auch dort verdichtet sich eine Vielfalt subjektiver Wahrnehmungen zu sprachlich stets sehr sorgfältig ausgearbeiteten Formeln und Metaphern, deren Entfaltung auf detaillierte Handlungsanweisungen zielt26. Langes theologischer Stil ist darum in einem präzisen Sinne predigtartig zu nennen27: Er zielt auf den Glauben des Rezipienten, der sich in der Wahrnehmung und Gestaltung der Wirklichkeit bewähren soll. Die formale Eigenart von Langes Arbeiten verbietet es, sie als Beiträge zu einer systematisch-deskriptiven Theorie zu interpretieren28. Viel eher handelt es sich um - oftmals programmatische - Anregungen in einer spezifischen Situation, die insofern stets auf Ergänzung durch die Hörer und Leser angelegt sind. Zugleich schließt diese Kontextualität jedoch auch eine einfache Paraphrase von Langes Gedanken aus29, sondern im Grunde wäre jeweils die eigentümliche Gesprächssituation zu rekonstruieren. Da dies hier nicht zu leisten ist, wird Langes Wirklichkeitsdeutung im folgenden gleichsam von innen, am Leitfaden der von ihm gefundenen Formeln und Schemata nachgezeichnet. Anhand umgrenzter Textstücke ist nach Leistung und Grenzen einzelner Deutungsmuster zu fragen sowie nach den Intentionen, denen sie sich jeweils verdanken. Dabei orientiert sich die Gliederung an den oben skizzierten drei Perspektiven, in denen Lange die ökumenische Sicht der Situation präzisiert hat.
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Vgl. zu Langes Predigtstil Rössler 1968, 72ff und v.d.Laan 1989, 249ff. Der regelmäßige Rekurs der einzelnen Abschnitte im III.Teil von CdA auf einen bestimmten biblischen Text, ihre ungefähr gleiche Länge sowie ihr jeweils geschlossener Argumentationsduktus machen es im übrigen wahrscheinlich, daß es sich hier um umgearbeitete Predigten oder Bibelarbeiten handelt. Auch für andere Teile von CdA kann dies zumindest vermutet werden (vgl. aaO. 79ff.97ff.l51ff). 28 Die Gefahr einer solchen Vorgehens läßt sich an F.Krotz' Versuch studieren, Langes "homiletische Theorie" systematisch nachzuzeichnen (Krotz 1980): Unweigerlich kommen hier Interpretamente des Autors zum Tragen, die in einer deutlichen Spannung zu Langes essayistischen Texten stehen. 29 Auf diese Weise legen etwa H.Schmidt (1975) und G.Liedtke (1987) Langes Texte aus. 27
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II. Die Wirklichkeit des Glaubens in der Neuzeit
1. Glaube, Wirklichkeit und Verheißung Es ist charakteristisch für Langes Vorgehen, daß er das Verhältnis von Glauben und Wirklichkeit am "Gottesdienst Jesu", an seinem Wirken und Schicksal besonders ausführlich erläutert30. Die Predigt Jesu von der Gottesherrschaft steht in der Spannung zwischen der Ansage ihrer bereits wirksamen Gegenwart und dem Verweis auf ihre zukünftige Vollendung. Für Lange ist es diese "Spannung, in der sich der Glaube entzündet, der das Kommende liebend vorwegnimmt und dadurch geschehen läßt" (CdA 73). Im Predigen und Handeln Jesu wird der zukünftige "Schalom" darum bedeutungsvoll für konkrete Situationen gegenwärtiger Bedrückung. Die vertrauensvolle Erwartung, daß Gott "jetzt und hier" sein Reich durchsetzen wird, macht den Glauben Jesu zum Medium eines "Anbrechen des Großen im Kleinsten" (78): "Glaubend traut er dieser Welt Gott zu und Gott diese Welt, wie sie ist. Darum läßt er sich immer tiefer auf die Welt und seine Mitmenschen ein [...] in der Erwartung, daß er mit diesen Menschen und sie mit ihm jetzt und hier im Anbruch des Kommenden stehen. - Also geht er mit den Sündern um, als ob sie schon herausgebrochen wären aus ihrer Selbsteinschließung, als ob sie frei wären. Denn sie sind ja frei im Licht der Verheißung: diese ihre kommende Freiheit [...] traut er ihnen jetzt zu, traut er in sie hinein mit der Kraft seines eigenen Glaubens, und siehe, sie folgen ihm in die Freiheit" (81).
Ähnlich wie bei Iwand entspricht dem Glauben offenbar eine bestimmte, reale Wirkung. Als "Anstiftung des Kommenden" (78) verändert der Glaube seine Umgebung. Damit hat er für Lange einen doppelten Wirklichkeitsbezug: Einerseits heißt Glauben, wie die Berufung der Jünger zeigt, "bewegt werden, hineingerissen sein in den Anbruch der Gottesherrschaft" (95). Und insofern die Gottesherrschaft auf die ganze Schöpfung bezogen ist, erscheint die Wirklichkeit dem Glaubenden bereits im Licht ihrer zukünftigen Möglichkeiten. Andererseits bewährt sich der Glaube im Umgang mit der Realität: Indem er diese ihre Zukunft anspricht, läßt er "das Kommende geschehen" (73), ja er ist verantwortlich
30 CdA 66-109; dieser Text wird von Comehl (1984, 347f) mit Recht als ein Höhepunkt des Buches empfunden.
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dafür, daß die heilvolle Zukunft der Wirklichkeit auch gegen den Augenschein präsent bleibt. Den spezifischen Wirklichkeitsbezug des Glaubens hat Lange mehrfach mit dem Phänomen der Bürgschaft erläutert31. Auch dabei greift er auf die Wirkung Jesu zurück: "So leistet Jesus mit seinem eigenen Glauben Bürgschaft für das Kommen Gottes, für die Vertrauenswürdigkeit Gottes. Die Macht, die Gott über ihn selbst hat, greift um sich. In seinem Vertrauen finden andere Anhalt zum Vertrauen. [...] Er ist ihr Gewährsmann. [...] Ihm kann man Gott glauben" (81f).
Der Wirklichkeitsbezug des Glaubens wird hier erkennbar als ein Geschehen zwischen Personen: Das glaubende Subjekt bürgt anderen für den Anbruch der Gottesherrschaft in der gemeinsamen Wirklichkeit; und im Vertrauen auf diese Zukunft entsteht neuer Glauben, neues Vertrauen und ein entsprechendes Handeln. Die soziale Beziehung der Bürgschaft wird damit zugleich zur Bestätigung des Glaubens, auch des Glaubens Jesu: "Daß Gott mit ihm ist, wird ihm so bestätigt, daß Gott zu den anderen kommt" (111). Die Bestätigung oder "Beglaubigung", auf die der Bürge angewiesen ist, um sein Vertrauen nicht zu verlieren, gründet in dem durch Gott gewirkten Glauben anderer Menschen und damit zugleich in einem Geflecht personaler Relationen, für das die einzelnen Verantwortung tragen. Die Explikation des Glaubens als Bürgschaft verweist damif auf ein fundamentales Problem von Langes theologischem Ansatz. Indem die Bürgschaft sich sowohl auf andere Personen als auch auf die Wirklichkeit bezieht, die von den Glaubenden erfahren wird, erscheinen Glaube bzw. Bürgschaft durch eben diejenige Wirklichkeit ermöglicht, auf welche sich ihr Auftrag richtet. Lange ist so stark am Wirklichkeitsbezug des Glaubens interessiert, daß die Distanz des Glaubenden zur Lebenswirklichkeit in den Hintergrund tritt. Der einzelne wird tendenziell damit belastet, die Bestätigung seines Glaubens ausschließlich im Glauben ande-
31 Später hat Lange auch die Kirche im ökumenischen Kontext "als ein Geflecht von Bürgschaftsbeziehungen" beschrieben (1972, 305ff). Für G.W.Neven stellt Langes Rekurs auf die Bürgschaftsbeziehung die "systematische grondstructuur" seiner Theologie dar (1982, 205 ff).
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rer und damit in den Beziehungen zu suchen, in denen er doch selbst bürgen soll32. Zur weiteren Entfaltung der Relation von Glauben und Wirklichkeit hat sich auch Lange des Begriffs der Verheißung bedient, den er am Alten Testament gewinnt. Er interpretiert die Geschichte Israels als Folge von Verheißungsworten, die eine reale Befreiung ankündigen, und geschichtlichen Erfahrungen, die als Erfüllung der Verheißung verstanden werden: "Verheißungen sind Worte und Ereignisse, in deren Zusammenhang Gott sich Glauben verschafft" (CdA 97). Diese ihre Wirkung entwickelt die Verheißung, indem sie immer wieder "bezeugt" wird: "Einzelne werden berufen, jetzt und hier für den Gott zu sprechen, dessen Treue von den Vätern her immer schon bezeugt und erwiesen ist. Im Namen Gottes sagen sie Zukunft an und rufen das Volk in diese Zukunft. Dabei werden sie mit ihrem eigenen Vertrauen, mit ihrem Leben aus der Verheißung für andere zu Bürgen des Glaubens" (aaO. 101).
Der Begriff der Verheißung steht also für die geschichtliche, umfassende Wirkung des Glaubens. Wort und Werk Jesu stellen dann die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungsgeschichte dar und zugleich entfalten sie, als Bürgschaft der anbrechenden Gottesherrschaft, neue verheißende Wirkung: Die Bezeugung der Christusgeschichte verleiht der jeweiligen Situation selbst verheißungsvollen Charakter, indem diese als eine "neue Geschichte" erscheint (CdA 167; vgl. 150ff)· Auf diese Weise realisiert sich, wie Lange formuliert, der "Mehrwert der Verheißung" (vgl. aaO. 99.100.105 u.ö.), der die auf Veränderung deutenden Aspekte einer Situation zum Vorschein bringt und diese damit in Bewegung versetzt. Im Licht der Verheißung erscheint die Wirklichkeit als ein Prozeß, der auf ein "Mehr" an Freiheit und Gerechtigkeit zuläuft. Der Begriff der Verheißung steht für eine bestimmte Wirklichkeitserfahrung, in der die individuelle bzw. soziale Situation positive Qualitäten wie "Bewegung", "Offenheit", "Veränderlichkeit" erhält. Ähnlich wie Iwand betont Lange also den unmittelbaren Situationsbezug des Christusgeschehens. Daß deren Bezeugung sich zunächst an bestimmte Personen und deren Wirklichkeitserfahrung richtet, tritt dagegen in den Hintergrund. Umso wichtiger ist dann die Verantwortung des Glaubens: Er ist
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Zu den Implikationen des Bürgschaftsbegriffes vgl. auch Gestrich 1985, 38.
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beauftragt, Verheißung und Wirklichkeit auch gegen Widerstände "zusammenzuhalten" (CdA 119.159 u.ö), indem er das Vertrauen auf Gottes Kommen in der jeweiligen Situation durchhält. Unter den Bedingungen der Neuzeit erhält jener Auftrag jedoch eine neue Qualität.
2. Die Situation des Glaubens in der Neuzeit Die Folie für Langes Analyse der neuzeitlichen Situation des Glaubens wie der Kirche bildet das Bild der "parochialen Symbiose". Im Anschluß an T.Rendtorff33 sieht Lange die mittelalterliche Gesellschaft als eine einheitliche Wirklichkeit: "Kirche und Welt waren in der Parochie ein so enges Bündnis eingegangen, daß der Glaube niemals aus dem Wirkfeld Christi heraustreten konnte. Er war, auch in seinem Alltag, immer geborgen und in Anspruch genommen durch das, was Sonntag für Sonntag [...] als der Grund und die Mitte aller Wirklichkeit bezeugt und begangen wurde" (CdA 1180-
Der einzelne lebt stets in einer religiös strukturierten Ordnung, sei es im Alltag und bei festlichen Ereignissen, sei es in Krisen- und Grenzsituationen. Auch die Reformation hat hier zunächst nichts verändert: Zwar wird der eigenverantwortliche "weltliche Gottesdienst" aufgewertet, aber es bleibt bei einer umfassenden Ordnung, in die die Verheißung immer schon eingelassen ist. Den Zerfall dieser parochial-ständischen Ordnung beschreibt Lange zunächst ähnlich wie die ökumenischen Texte. Die "Revolution alles gesellschaftlichen Lebens" (CdA 39) erscheint als zunehmende funktionale Ausdifferenzierung. Lange erläutert das Phänomen meist im Horizont der familiären Erfahrung34: Nicht nur die Berufsarbeit wandert aus dem Familienverband ab, sondern auch die ältere Generation sowie eine Anzahl von Bildungsaufgaben sind für die Familie nicht mehr im Blick. Auch der immer raschere soziale Wandel trägt zur "Uniiberschaubarkeit und Zerrissenheit [des] Daseins" bei (aaO. 255). In einem späteren Text faßt Lange seine Sicht der Lage des Individuums fast dramatisch zusammen:
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Vgl. Rendtorff 1958; weiterhin die Bibliographie in CdA 309f (b). Diese Perspektive dürfte mit seiner intensiven Arbeit in "Familienseminaren" zusammenhängen; vgl. die Berichte in Bilanz 1965, 21.48f.236-245; dazu CdA 40-43.205f u.ö.. 34
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"Im Geflecht der hochdifferenzierten Funktionen und Beziehungen des Lebens in der modernen Industriegesellschaft lebt jede Gruppe, ja jeder einzelne Mensch in einer ständig sich verändernden, gleichwohl höchst spezifischen, im Prinzip unvergleichlichen Situation, die in ihrer eigentlichen Problematik, Gefährdung und Möglichkeit von außen kaum einsichtig und kaum zu klären ist" (PaB 59).
Die Konsequenzen dieser Lage für die Erfahrung des Glaubens sind in Langes Sicht ausgesprochen ambivalent. Zunächst begegnet der Glaube hier der "Wirkungsgeschichte der Verheißung" selbst (vgl. CdA 127ff). Der Säkularisierungsprozeß, die "Mobilisierung, Spezialisierung und Konzentration" der Gesellschaft (1981, 179), muß als Konsequenz des Wirklichkeitsbezugs des Glaubens begriffen werden35: Indem der christliche Glaube die Welt im Licht ihrer "offenen Zukunft" als "voller Chancen, voller sinnvoller Aufträge" verstand, initiierte er den Wandel, "der heute die Signatur der Zeit ist" (CdA 130.133). Insbesondere ist es die christliche "Erfindung der Person" als selbstverantwortlicher, nicht durch traditionelle oder institutionelle Vorgaben entlastbarer Instanz, die der funktional-sachlichen, vom Menschen geschaffenen Welt zugrunde liegt. Der Auftrag des Glaubens, "bei der Verheißung zu bleiben", konkretisiert sich dann als "unkündbare Verantwortung" (CdA 307) des einzelnen gegenüber der Wirklichkeit. Er darf sich dem Wandel nicht entziehen, sondern muß durch Bürgschaft und Engagement den "Mehrwert der Verheißung" in seiner sozialen Situation präsent halten. Zugleich arbeitet Lange allerdings heraus, daß die Auflösung der religiös-sozialen Ordnung dem Glauben einen anderen Stellenwert zuweist. Denn die funktionale Struktur der Neuzeit ist verbunden mit einem "tiefgreifenden Wandel in der Erfahrung von Wirklichkeit überhaupt"36. Bis zur Aufklärung wurde die Welt als "divinisiert", als Spiegel der göttlichen Macht erfahren, dergegenüber die menschliche Existenz als "offene Ausgesetztheit [...] in eine unbeherrschte Natur" erschien. Die Präsenz der kirchlichen Institution in der Lebenswelt brachte die "Heiligkeit" alles Wirklichen zum Ausdruck und bot zugleich verläßlichen Schutz. Der moderne Mensch hingegen erfährt die Wirklichkeit als "hominisiert": Sie ist Ausdruck seiner eigenen Aktivität, "seine Schöpfung" (CdA 35 Gestrich hat darauf hingewiesen, daß Lange hjer Gogaitens Säkularisierungsverständnis aufnimmt (1985, 39f). Lange selbst beruft sich ausdrücklich auf die ökumenische Debatte (vgl. Lange 1981, 190f) und daneben auf D.V.Oppen (1960; vgl. Liedtke 1987, 103ff). Vgl. aber auch Rendtorff 1962. 36 Die folgenden Zitate 1966, 128f; Lange beruft sich dabei auf Metz 1968.
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131). Die Wirklichkeit ist für den "homo faber" keine eigenständige Macht mehr, sondern vornehmlich das "Material seiner Weltgestaltung" (1966, 129). Die Religion ist dann nicht mehr fraglose Voraussetzung der Wirklichkeitswahrnehmung, sondern wird hinsichtlich der Motive und Ziele des Handelns thematisch, wenn der einzelne "nach dem Auftrag und der Verheißung [...] seines Tuns, nach der Orientierung seines Daseins" fragt (aaO. 129f). Angesichts ständig wechselnder Situationen nimmt er auch zur Religion "ein gleichsam experimentelles Verhältnis" ein, er wählt Religion unter der "Frage nach der Wirklichkeitsgemäßheit und Wirklichkeitsmacht dessen, woran sie sich hält" (aaO. 131). Aus diesem neuartigen Wirklichkeitsbezug entsteht das Bedürfnis nach einer jeweils neuen Explikation des Glaubens, der dieser Situation zu genügen vermag. Auf diese Weise wird auch bei Lange der Glaube zu einer Funktion der Wirklichkeit: Seine Aufgabe wie die Aufgabe der Kirche besteht darin, jenem religiösen Bedürfnis zu entsprechen, um die Verheißung in der von ihr selbst geschaffenen Wirklichkeit präsent zu halten37. Mit eben diesem Auftrag jedoch, der funktional durch die soziale und religiöse Verfassung der Neuzeit bestimmt ist, gerät der Glaube in eine Lage, die Lange wiederholt als "Anfechtung" beschreibt. Mit dieser Deutung erhält seine Verhältnisbestimmung von Glauben und neuzeitlicher Wirklichkeit ihr eigentümliches Profil.
3. "Anfechtung" als Signatur des neuzeitlichen Christseins Es gehört für Lange zur unausweichlichen Erfahrung des Glaubens in der Gegenwart, sich in einer fundamentalen Spannung zwischen Gottes- und Wirklichkeitserfahrung zu befinden: "die Welt jenseits der Kirchenmauem, weil man von dem Wort herkommt, das für Gott spricht, erleiden als die Welt, die den Glauben anficht; und wiederum aus der Zerreißprobe, in der man gescheitert ist, zurückkehren und die Verheißung suchen und dabei, ob man hören kann oder nicht, noch einmal und wieder in die Krise geraten. Diese Grundspannung gehört zu den Konstanten gegenwärtigen Christseins" (CdA 302).
37 Darum bedarf "der Begriff des Bedürfnisses, das nicht identisch ist mit subjektiver Erwartung, sondern eine objektive Notlage beschreibt, [...] dringend einer theologischen und kirchlichen Aufwertung" (B65, 72; vgl. aaO. 69; 1981, 183f).
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Wenn Lange diese Spannung mit dem Begriff der "Anfechtung" deutet, so greift er damit auf grundsätzliche Überlegungen zum Wirklichkeitsbezug des Glaubens zurück, die er wiederum am Beispiel des Geschicks Jesu entwickelt hat (CdA 82-88). Lange deutet Jesu Passionsweg als Anfechtung, weil die Bürgschaft seines Glaubens nun keine "Beglaubigung" mehr erfährt, sondern in Ablehnung und Feindschaft umschlägt. Die durch den Glauben und damit durch Gott selbst gestiftete soziale Wirklichkeit des Jüngerkreises zerbricht. Der Weg ans Kreuz muß Jesus als Anfechtung erscheinen, weil er sich damit von Gott selbst verlassen sieht. Sein Leben endet "mit einer schlechthin offenen Frage" (88), die erst durch die neue Bürgschaft im Osterglauben Antwort erfährt. Lange generalisiert die Erfahrung Jesu, indem er die Anfechtung auf die Widerständigkeit der Wirklichkeit gegenüber der Verheißung zurückführt. So wird die "Frage, die den Glauben aus seiner Umwelt trifft, [...] immer eine Herausforderung, womöglich eine Anfechtung des Glaubens" sein (CdA 125). Gelingt es ihm nicht, Verheißung und Wirklichkeit konkret zusammenzuhalten, so wird diese Situation als Anfechtung erfahren: als eine Situation von Gottes Abwesenheit und zugleich als eine Situation des eigenen Versagens gegenüber seinem spezifischen Auftrag. Das durch Verheißung, Auftrag und Anfechtung gekennzeichnete Verhältnis des Glaubens zur Wirklichkeit hat Lange nun hinsichtlich der neuzeitlichen Lage präzisiert. Aufschlußreich ist eine Passage zum "Gottesdienst des Einzelnen" (CdA 151-159), der jenseits der Versammlung der Gemeinde stattfindet, im jeweiligen Alltag. Zu den Anfechtungserfahrungen, die sich dort ergeben, gehört die Vereinzelung, die aus der Minderheitssituation der Glaubenden entsteht. Dazu kommt, daß die moderne Welt "in allen ihren Lebensbeziehungen den Abstand der Sachlichkeit" gebietet. "Dazu nötigt uns nicht nur die Verfassung der industriellen Welt. Dazu nötigt uns auch der Glaube" (152). Damit ist aber die Kommunikation des Glaubens im Arbeitsleben genauso erschwert wie in der Intimität der Familie. Insgesamt ist es "die Realität selbst, diese ganze von Menschen entworfene Welt in ihrer großartigen Sachlichkeit und ihrer geheimen Menschenfeindlichkeit", die den Glaubenden in eine quälende Isolierung drängt (153). Denn zum einen läßt sich der Grund seiner Hoffnung, "die großen und unentbehrlichen Schlüsselworte der christlichen Überlieferung", nicht bekennend in die moderne Welt übersetzen (154); zum anderen erleidet der einzelne angesichts der komplizierten und rasch wechselnden Situationen auch "im wortlosen Zeugnis des Gehorsams [...] Schiffbruch" (155). Unausweichlich wird er gegen seinen Auftrag handeln. Der alltägliche "Ernstfall des Glaubens" (156 u.ö.), in dem er die Verheißung zum Ausdruck bringen soll, wird zugleich zur unausweichlichen Krise, in der der Christ "allen sichtbaren Halt verliert, selbst den Halt an seinen vergangenen Glaubenserfahrungen" (158).
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Als Quelle der Anfechtung erscheinen in diesem Text gerade die Aspekte der neuzeitlichen Situation, in denen die Säkularisierung zum Ausdruck kommt. Dies gilt für die einsame "Wüstenkriegerexistenz" (154), in die der Glaubende auf Grund der segmentierten Wirklichkeit unweigerlich gerät, wie für die ausschließliche Funktionalität der sozialen Beziehungen. Ebenso ist die verwirrende Unübersichtlichkeit der Wirklichkeit zwar ein Ergebnis der vom Glauben intendierten "unaufhaltsamen Verwandlung"; gleichwohl wird sie als verunsichernder "Schwindel der Freiheit" erfahren (CdA 251.255). Durch den Rekurs auf die Begrifflichkeit der Anfechtung gelingt es Lange, den ambivalenten Charakter der Neuzeit auch in der Perspektive des einzelnen herauszuarbeiten. Daß die Wirklichkeitssicht des Glaubens zu zahlreichen Alltagskonflikten führt, wird als eine notwendig zur Verfassung des Glaubens hinzugehörige Erfahrung begriffen. Insofern wird auch das Leiden unter den Folgen der Neuzeit theologisch artikulierbar und nicht durch einen universalen missionarischen Impuls verdeckt. Indem Lange die traditionellen Begriffe der Frömmigkeit strikt auf die Lebenswirklichkeit bezieht, erscheint diese als ein dialektischer Prozeß, in dem sich Momente der Entlastung und Hoffnung mit Momenten der Krise und Bedrohung verbinden (vgl. Cornehl 1984, 348). Auf diese Weise kann Lange die Mehrdeutigkeit von Lebenssituationen der theologischen Deutung zugänglich machen. Wie der oben paraphrasierte Abschnitt erkennen läßt, steht diese Deutung hinsichtlich der neuzeitlichen Lage allerdings in Gefahr, durch eine "generalisierte Anfechtungsstruktur" determiniert zu werden (Cornehl 1984, 355), derzufolge der individuelle Alltag als permanente Krise erscheint. Diese Tendenz ist das Ergebnis bestimmter, sich gegenseitig bestätigender Deutungen der modernen Wirklichkeit. Die theologische Deutung der funktional differenzierten Gesellschaft als "Wirkungsgeschichte der Verheißung" rückt den verpflichtenden Charakter des Glaubens in den Vordergrund: "Welt wird für die Kirche konkret als die jeweilige Situation, als die jeweilige Auftragslage [...]" (1981, 191). Umgekehrt wird damit die soziologische Interpretation einer ausschließlich durch "sachliche" Beziehungen bestimmten Gesellschaft absolut gesetzt, während die latente "Christlichkeit" der Moderne, von der etwa Matthes spricht (ORK 1965, 80), als Korrektiv nicht in Betracht kommt.
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Angesichts der neuzeitlichen Wirklichkeit radikalisiert sich für Lange offenbar die oben skizzierte Doppelstruktur der Anfechtungserfahrung: Das Versagen des Glaubens ist Ausdruck der Sünde des einzelnen, der seinem Auftrag in der gegenwärtigen Welt nicht gerecht wird, und zugleich ist dieses Versagen durch die Neuzeit selbst verursacht, in der die Verheißungserfahrung keinen Raum hat. Indem Lange auf diese Weise eine Sicht der modernen Welt entwickelt, die "nun doch die Gott-losigkeit zu ihrem entscheidenden Merkmal erklärt" (Cornehl 1984, 354), schreibt er, ähnlich wie die ökumenischen Texte, die Distanz zwischen Kirche und Gesellschaft fest, die der Glauben doch überwinden soll. Im Grunde dürfte die tendenziell negative Sicht der Wirklichkeit, der die Verheißung gleichsam abgerungen werden muß38, wiederum mit Langes Bestreben zusammenhängen, die Verheißung unmittelbar auf die individuelle Lebenswirklichkeit zu beziehen. In der Situation des Zweifels oder der Anfechtung genügt es dann nicht, wie Gestrich verdeutlicht hat (1985, 43),wenn der Predigende "es bei der Botschaft von Gottes gnädiger Annahme des versagenden Sünders bewenden ließe. Er müßte vielmehr überzeugende Gründe nennen können, warum die enttäuschende Erfahrung [...] keinen wirklichen Einwand gegen die Zusammengehörigkeit von Verheißung und Wirklichkeit bedeutet. Welche Gründe aber lassen sich da finden?"
Abgesehen von der als Anfechtung bzw. Verheißung erfahrenen Situation hat das glaubende Subjekt für Lange kein Eigenrecht, keine eigentümliche, von seinen Lebenserfahrungen und -aufträgen unterscheidbare Wirklichkeit von Sünde und Gnade. Die gelegentlich anklingende Einsicht, daß die Verheißung gerade als situationsäbergreifende zur Wirkung kommt und daß daher der Glaube in gewisser Weise unabhängig von der Situation, ja im Widerspruch zu deren Anspruch entsteht, bleibt in den Erörterungen zur Lage des Glaubenden in der Neuzeit meist folgenlos. Indem Lange die Lebenswirklichkeit als einziges Kriterium des Glaubens auffaßt, wird deren Vieldeutigkeit - entgegen seiner Absicht - auf eine permanente Krisenerfahrung verkürzt. Während diese Konstellation nicht zufallig an Iwands Sicht der Wirklichkeit einerseits, an die ökumenische Abqualifizierung des Bestehenden
38
C.Gestrich meint eben diese Einstellung, wenn er von einer "manichäische[n] Düsternis" spricht: "Immer erst die veränderte Wirklichkeit wäre demnach gut und verheißungsgemäß. Das Gute wäre nicht schon da" (1985, 48).
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andererseits erinnert, hat Lange in anderer Hinsicht doch sehr wohl eine eigene, spezifisch "kirchliche" Wirklichkeitserfahrung des Subjekts entfaltet. Mit dem Begriff der Anfechtung wird ja die Erfahrung artikuliert, daß der Glaubende zwar an die neuzeitliche Wirklichkeit verwiesen ist, dort aber mit seinem Auftrag notwendig scheitert. Die Überwindung jener Erfahrung muß darum auch für Lange an einem besonderen Ort geschehen, wo sich dem angefochtenen Glauben die konkreten Situationen nun doch als verheißungsvoll erschließen. Auf diese Weise kommt die Bedeutung der Ortsgemeinde und ihres Gottesdienstes in den Blick. Hier wird für Lange eine Dimension der Wirklichkeitserfahrung erschlossen, die die unmittelbaren Probleme der individuellen Situation transzendiert.
III. Die Erschließung der Wirklichkeit in der Ortsgemeinde
1. Die Funktion des Gottesdienstes zwischen Wirklichkeit und Verheißung Emst Lange hat seine Gedanken zur Reform des kirchlichen Handelns als "Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart" entwickelt - so lautet der Untertitel von "Chancen des Alltags". Wie die Gliederung des Buches zeigt, umfaßt der Begriff des Gottesdienstes hier die Gesamtheit christlicher und kirchlicher Existenz39 und nimmt damit, ähnlich wie die ökumenischen Texte, den weiten Gottesdienstbegriff der paulinischen Tradition auf, wie ihn besonders E.Käsemann von neuem herausgearbeitet hatte40. Charakteristisch für Langes Perspektive ist jedoch, daß er unter der Überschrift "Der Gottesdienst in Funktion" verschiedene Aspekte der Gemeindearbeit entfaltet (CdA 179ff). Seine "Theorie des gottesdienstlichen Handelns" (Cornehl 1984, 350) ist immer zugleich eine Theorie des parochialen Handelns. Für dessen Deutung kommen die liturgischen Strukturen in Betracht, weil Lange den traditio-
39 Lange thematisiert, ausgehend vom "Gottesdienst Jesu", nacheinander den Gottesdienst der Kirche, der Gemeinde, des Einzelnen und den parochialen Gottesdienst im engeren Sinn. 40 Vgl. Rom 12, Iff; dazu den programmatischen Aufsatz Käsemann 1960.
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nellen Gottesdienst als notwendiges Zentrum der Ortsgemeinde begreift, als Paradigma ihres Lebens und ihres Wirklichkeitsbezuges. Die hervorgehobene Bedeutung des Gottesdienstes hat Lange mittels der Gegenüberstellung von "Ekklesia und Diaspora" näher bestimmt. Die christliche Gemeinde erscheint grundsätzlich in zwei Sozialformen, in zwei "Phasen", die idealtypisch als "Versammlung" und "Zerstreuung" zu bezeichnen sind41. Die Versammlung, der Gottesdienst im engeren Sinn, ist der Ort, an dem der rezeptive Aspekt des Glaubens zu seinem Recht kommt: Der einzelne erfährt in der Gemeinschaft der Glaubenden die "Bürgschaft der Anderen" für die Verheißung. In der Versammlung, der Ekklesia, wird die Wirklichkeit als offener und verheißungsvoller Prozeß zur Sprache gebracht. In der Zerstreuung, der Diaspora dagegen hat der nun isolierte Glaubende selbst zu bürgen, in der Hoffnung, den Durchbruch der Verheißung in der Auseinandersetzung mit seiner besonderen Lebenssituation allererst zu erfahren. Lange betont die wechselseitige Bezogenheit der beiden Phasen; die Versammlung des Gottesdienstes hat ihren Sinn nur darin, Gott "diese Welt und ihre Vollendung zu[zu]trauen", und verweist damit den Glauben an die Lebenswirklichkeit im ganzen (CdA 146); umgekehrt ist diese Sendung darauf angewiesen, daß sich der Glaube "in, mit und unter der Kommunikation der Glaubenden" empfängt (ebd.). Obgleich diese Zweiphasigkeit für Lange zum "Wesen" der Gemeinde gehört (vgl. CdA 141.148), gewinnt sie angesichts der neuzeitlichen Situation besonderes Gewicht: Je mehr sich die alltägliche Lebenswelt differenziert, umso weniger ist die Diaspora-Phase, der "Gottesdienst des Einzelnen" durch feststehende, religiöse Ordnungen geprägt, die in der ekklesialen Versammlung entwickelt werden könnten. Vielmehr ist die Verheißung in einer Vielfalt ständig wechselnder Situationen zu bezeugen, so daß die Verantwortung für die "Kommunikation des Glaubens" in der Diaspora ausschließlich beim Einzelnen liegt: "Er ist - jeder in seinem Bereich - [...] der bevollmächtigte Sprecher des Glaubens. Er ist der 'Nächste', der unvertretbar 'dran' ist in der jetzt und hier gegebenen Situation. Nur er kann die Zeichen der Zeit in seiner Ehe, an seinem Arbeitsplatz, in seinem Verein wirklich beurteilen, [...] nur er kann seine Welt unter dem Aspekt ihrer Zukunft wahrnehmen" (CdA 206).
41
Vgl. zum Folgenden besonders CdA 141-149 und 1966, 131ff.
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Die Verheißung, die der Glaube für seine Wirklichkeit erfahren und bezeugen soll, wird nur in dieser Konkretion zur Wirkung kommen. Damit verschiebt sich der Wirklichkeitsbezug des kirchlichen Handelns: "Seit die Kirche mit ihren Versammlungen, ihren Gottesdiensten und ihrem Gemeinschaftsleben an den Rand der gesellschaftlichen Wirklichkeit [...] abgedrängt ist, hat die Diasporaphase von Kirche ein ungeheures Gewicht erlangt" (1966, 132). Der Gottesdienst der Ekklesia hat keinen Sinn in sich, sondern muß nunmehr ausschließlich als Gegenüber zu jenem "Ernstfall des Glaubens" verstanden werden. Im Rahmen dieser funktionalen Sicht des Gottesdienstes hat Lange der Liturgie drei Aufgaben zugeschrieben42: Die gottesdienstliche Versammlung soll die Christen von der anfechtenden Wirklichkeit entlasten, sie in festlicher Weise von Anfechtung und Zweifel befreien: absolutio. In der Folge kann der einzelne die Fülle der Verheißung, die ihm und seiner Wirklichkeit gilt, "aus dem Abstand des getrösteten Glaubens" wahrnehmen: promissio. Schließlich wird der gelungene Gottesdienst zur "Auftragserneuerung" führen, zur Sendung der Glaubenden in ihre je eigenen Lebenssituationen hinein: missio. Alle liturgischen Vollzüge werden also auf die Wirklichkeitserfahrung der Beteiligten bezogen. So präzisiert Lange etwa hinsichtlich der "absolutio": "Nicht Freispruch von der Wirklichkeit, sondern Freispruch für die Wirklichkeit"43. Die dreifache Funktion des Gottesdienstes verweist auf die Struktur der Erfahrung des Glaubens, so wie sie Lange vor Augen steht. Jene Erfahrung erscheint hier als ein dialektischer Prozeß, als ein Wechselspiel von Anfechtung, die immer wieder im Gottesdienst zu überwinden ist (absolutio), und Verheißung für den Alltag, die im Gottesdienst begründet wird (promissio). Auf die Bedeutung dieser am Gottesdienst entwikkelten Dialektik hat Cornehl hingewiesen: "Die Struktur der 'Kommunikation des Glaubens', nämlich: Vertrauen in die Verheißung und Bürgschaft des Glaubens - Krise und Anfechtung - erneute Ermächtigung und Beauftragung, ist die gleiche im Leben Jesu und im Osterglauben der Jünger, sie bildet
42
Vgl. CdA 210ff; Anspielungen auch aaO. 118 und 1981, 186f. CdA 211. In der Entfaltung der "missio" versammeln sich darum die positiv besetzten Schlüsselworte der Zeit: "Missio ist Anstiftung zur Freiheit. Missio ist Weckung der Fantasie der Liebe [...]. Missio ist Ermächtigung der [...] Vernunft. Missio ist Schärfung des Wahmehmungs- und des Urteilsvermögens. Missio ist Sensibilisierung des Zeitgefühls" (CdA 212). 43
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die Struktur des Glaubens Israels und der Christen, die Struktur der gottesdienstlichen Versammlung und jeder einzelnen Predigt" (Comehl 1984,348).
Diese Struktur hat Lange hinsichtlich des Gottesdienstes als Bundeserneuerung beschrieben44. Hier sollen die Menschen, die durch ihr Versagen gegenüber der Wirklichkeit den Bund gebrochen haben, "sich erneut in den ungekündigten Bund Gottes fügen" (CdA 165). Im Gottesdienst vollzieht sich zum einen die "Bezeugung" jenes Bundes als Proklamation und Interpretation der Verheißung und zum anderen das "Bekenntnis" bzw. die "Homologie", in der die Menschen, die die Verheißung erfahren haben, in den "Bund Gottes mit Mensch und Welt" einstimmen (ebd.). Während Lange das "Abendmahl als Homologie" entfaltet, erscheint die Predigt vornehmlich als "Bezeugung", als exemplarische Vermittlung der Verheißung in bestimmte Lebenssituationen hinein. Auf diese Weise erhält die Predigt zentrale Bedeutung45; liturgische und homiletische Situation fallen im Grunde zusammen. Infolge ihres funktionalen, zugleich theologisch gefüllten Situationsbezugs unterliegen Predigt- wie Gottesdienstgestaltung neben dem Kriterium der "Verheißungstreue" vor allem dem Gebot "optimaler Verständlichkeit" (CdA 214ff): Alle liturgischen Vollzüge in der "Ekklesia" erlangen ihre Bedeutung für die Kommunikation des Glaubens nur dadurch, daß sie auf die individuelle Lebenssituation des einzelnen bezogen werden. Dabei ist zu beobachten, daß der liturgische Bezug für Lange in doppelter Weise zum Problem wird. Auf der einen Seite gründet die Funktion des Gottesdienstes in seiner Distanz zum "Ernstfall des Glaubens", zur bedrängenden Wirklichkeit des einzelnen. Als Versammlung der Glaubenden hebt er die Isolierung der Diaspora auf und schafft einen geschützten Raum, der von der individuellen Anfechtung entlastet. In dieser Begründung, die bei Lange allerdings immer wieder in den Hintergrund tritt, spiegelt sich der notwendige Widerspruch von Christusverheißung und gegebener Wirklichkeit. Andererseits ist es gerade diese Distanz von Alltagserfahrung und kirchlichem Raum, die für die liturgische Gestaltung zum Problem wird. 44
Vgl. CdA 165ff sowie die thetische Zusammenfassung 1965a, 316-321. Dies zeigt sich auch daran, daß Lange sie nicht nur als Paradigma der "Bezeugung" begreift, sondern zugleich feststellt: "Auch die Predigt ist [...] wesentlich Homologie", insofern sie ein verantwortliches Einstimmen in das Bekenntnis der Väter darstellt (1965 a, 317). 45
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Für Lange findet der "Gottesdienst der Gemeinde" eigentlich "im Tor, im ständigen Übergang von der Ekklesia in die Diaspora" statt (CdA 147); die Rede von "besonderen Gottesdiensten" erscheint ihn "rundherum problematisch" (161f). Wenn der parochiale Gottesdienst jedoch nur im Übergang Berechtigung hat, so wird die "Ekklesia-Phase" im Grunde negiert; eine institutionell gesonderte kirchliche Wirklichkeit, ein vom Alltag unterschiedener gottesdienstlicher Raum ist in dieser Perspektive obsolet. In solchen Aufstellungen kommt Langes Bestreben zum Ausdruck, den unmittelbaren Bezug zur alltäglichen Situation festzuhalten. Die durchgehende und detaillierte Ausrichtung auf die Lebenswirklichkeit des Glaubens führt zu einer Spannung zwischen Begründung und Kritik des parochialen Gottesdienstes. Gleichwohl dürfte gerade diese strukturelle Spannung Lange ermöglicht haben, eine Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungen und Erwartungen hinsichtlich des Gottesdienstes aufzunehmen. Das gilt nun ebenso für seine Deutung des kirchlichen Lebens im ganzen.
2. Kirche als "Kommunikation des Evangeliums" Während Lange bei der Beschreibung des individuellen Wirklichkeitsbezugs des Glaubens sowie bei der funktionalen Begründung des Gottesdienstes eigene Wege gegangen ist, hat er sich in der Reflexion des kirchlichen Handelns im ganzen zunächst der ökumenischen Betrachtungsweise angeschlossen. Auch hier finden sich allerdings charakteristische Präzisierungen, vor allem infolge seiner Entfaltung des Kommunikationsbegriffs: "Kommunikation des Evangeliums" wird zum ausführlich bedachten Strukturprinzip der konkreten Gemeindearbeit. Den "Gottesdienst der Kirche" hat Lange 1965 als ein "Bleiben bei der Verheißung" beschrieben: Die Kirche, "das Zusammenkommen, das Zusammensein und das Zusammenspiel von Menschen, in dem die Christusverheißung zum Glauben kommt", soll dieser Glaubenserfahrung in ihren Innen- wie Außenbeziehungen entsprechen (CdA 109f)· Die Entfaltung dieses Auftrags orientiert sich, außer am Phänomen der Bürgschaft, an der Trias des missionarischen Handelns, die Hoekendijk in die öku-
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menische Ekklesiologie eingeführt hat46. Zunächst skizziert Lange unter Hinweis auf Apg 2,42ff die Verpflichtung der Glaubenden, "in Kommunikation" zu bleiben; die von Christus geleistete "Bürgschaft des Glaubens" realisiert sich in der sozialen Struktur der Koinonia. Den ZeugnisAspekt der Kirche versteht Lange als "Bleiben bei der Überlieferung", insofern die biblischen Texte "den Niederschlag der von Jesus geleisteten Bürgschaft" darstellen (CdA 114). Drittens ist die Kirche zum dienenden "Bleiben an der Realität" verpflichtet, auf die die Verheißung bezogen ist. Bei diesem "Bleiben an der Realität" liegt der Schwerpunkt von Langes Ausführungen. Er erläutert den Wirklichkeitsbezug allen kirchlichen Handelns in einem weiteren einprägsamen Dreischritt. Um der "vollen, vorurteilslosen" Präsenz in der Wirklichkeit willen muß die Kirche in die stets neuen Lebenssituationen "einwandern"47. Weiterhin hat der Glaube seinem missionarischen Auftrag durch "uneingeschränkte Verfügbarkeit" (122ff) zu genügen. Aus diesen beiden Grundhaltungen ergibt sich für Lange allererst "die Chance der Kommunikation" (124), des Gesprächs in der jeweiligen Situation: "So ist der Glaube unwiderruflich ins Gespräch berufen. [...] Die Frage, die den Glauben aus seiner Umwelt trifft, ist immer eine Herausforderung, womöglich eine Anfechtung des Glaubens. Er kann sich dieser Herausforderung, dieser Anfechtung nicht entziehen. Nicht nur, weil er dem fragenden Menschen und der fragenden Welt die Bürgschaft des Glaubens verweigerte [...]. Sondern auch, weil er selbst daran hängt, daß die Verheißung, von der er lebt, sich als die endgültige und darum auch jetzt und hier, angesichts dieser Frage gültige Verheißung erweisen wird" (125f).
Infolge der Bindung an die Verheißung wird die Kommunikation mit den jeweiligen Lebensverhältnissen zur Grundaufgabe der Kirche. Um so schwerer wiegen dann aber die Veränderungen der Kommunikationsbedingungen, die sich für Lange mit dem neuzeitlichen "Zerfall der parochialen Symbiose" verbinden. Da das Leben vieler Menschen und besonders der gesellschaftlichen Entscheidungsträger im wesentlichen außerhalb der "Wohnwelt" verläuft, ist eine Präsenz der ortsgemeindlich verfaßten Kirche in der Wirklichkeit dieser Menschen ausgeschlossen. Erst recht ist ihre gesellschaftliche Gesprächsfähigkeit oberhalb der kom-
46
Vgl. Marguli 1959, 190-194 und oben B.5. Zum folgenden vgl. CdA llOff. AaO. 120f. Implizit nimmt Lange hier die ökumenischen Überlegungen zur Aufgabe der "Indigenisation" auf; vgl. Schloz 1981, 9-11 und Liedtke 1987, 95ff. 47
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munalen Ebene begrenzt, wie Lange 1967 am Beispiel Berlins aufgezeigt hat (1981, 177-181). In Aufnahme der ökumenischen Kritik greift Lange darum ein Kirchenverständnis an, das auf "Selbstverteidigung, Selbsterbauung und Selbstwiederholung" der Kirche ziele (CdA 294) und sich auf diese Weise in eine institutionelle Sonderzone zurückziehe, anstatt der Struktur der Verheißung in einer entsprechend offenen organisatorischen - und nicht zuletzt liturgischen - Form zu entsprechen. Demgegenüber verdankt sich das Experiment der Ladenkirche dem Ziel, auf den Wandel des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft exemplarisch mit neuen Formen des Gemeindelebens zu reagieren. Der kritische Impuls von Langes Kirchenbild wird darum auch an den sieben "Leitsätzen" deutlich, die das Programm der Ladenkirche 1959/60 für die Öffentlichkeit zusammenfassen sollten48. Mit einem ostinaten "wir wollen weg von" wenden sie sich gegen traditionelle volkskirchliche Strukturen, etwa "anonymen Kirchenbesuch" oder "Almosenfrömmigkeit"; zugleich werden auch herkömmliche missionarische Arbeitsformen wie die "Rednerpult-Mission" kritisiert. Positiv setzen die Sätze bei der Skizze einer lebendigen "Gemeindeversammlung" ein und variieren dann Aspekte der ökumenischen Trias, etwa "nachbarschaftlichen Dienst" oder "stetige Verantwortung unseres Glaubens vor den Gefährten unseres Alltags". Fundamental für dieses Programm sind wiederum der Alltags- und Gemeinschaftsbezug ("gegenseitige Einübung im Glauben") des kirchlichen Handelns. Hier wie in anderen Texten ist Lange bemüht, innere und äußere Relationen einander anzugleichen: "Die Trias koinonia, diakonia, martyria beschreibt also, indem sie das Geschehen der Gemeinde beschreibt, zugleich den Weltauftrag des Glaubens" (CdA 314f). Ein solcher Versuch, auch das innere Leben der Kirche funktional zu beschreiben, enthält allerdings gewisse Unklarheiten, etwa wenn die Par-
48 Lange 1981, 63. Diese Sätze wurden auf dem ersten "Gemeindetag zu Pfingsten 1960 als Grundlinien unserer Arbeit besprochen" (Bilanz 1965, 80); sie dürften gegenüber den 1965 in der Bilanz entwickelten "Leitvorstellungen" (Lange 1981, 76-88) die ursprüngliche programmatische Ausrichtung der Ladenkirche darstellen. Zu den früheren Leitsätzen vermerkt der Redaktor der Bilanz nach fünf Jahren kritisch: "Hinter den ursprünglichen Vorstellungen verbirgt sich das Konzept einer [...] formell darzustellenden und durchzusetzenden 'Verbindlichkeit', das aus einem eher schwärmerischen, jedenfalls aber anti-volkskirchlichen Gemeindebegriff herrührt" (Bilanz 1965, 69). Zur programmatischen Entwicklung der Ladenkirche vgl. auch Butenuth 1986, 64ff.
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tizipation an der Realität unter dem Stichwort der "Koinonia" unmittelbar verbunden wird mit dem gemeinsamen Leben in der Kirche. Indem Lange nicht nur diese beiden Grundfunktionen von Kirche, sondern ihr gesamtes Handeln und Sein als "Kommunikation" faßt, nutzt er den Begriff faktisch in zwei verschiedenen, einander ergänzenden Bedeutungen49. Kommunikation bedeutet einmal eine bestimmte Erfahrung, wie sie sich in der Kirche als einer "Gruppe von Menschen in uneingeschränkter Kommunikation" (CdA 111) machen läßt: Es ist die Erfahrung gelingender Verständigung, geschenkter Gemeinschaft und selbstverständlichen gegenseitigen Dienstes, in der sich die Wirklichkeit des Alltags im Licht von Bürgschaft und Verheißung erschließt. Zugleich wird "Kommunikation" aber unter dem Einfluß der funktionalen Fragestellung zu einer aus dieser Erfahrung resultierenden Aufgabe, nämlich der Verheißung in der jeweiligen Wirklichkeit "kommunikativ", eben durch Präsenz, Verfügbarkeit und Gespräch gerecht zu werden. Den Auftrag der Gemeinde kann Lange dann als "Kommunikation des Evangeliums" zusammenfassen: Sie empfängt ihren Sinn und ihre innere Struktur durch die verantwortliche Weitergabe jenes Geschehens, dem sie sich selbst verdankt. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart hat Lange wiederholt vier "Stufen" des parochialen Kommunikationsauftrages unterschieden. Die verschiedenen Felder der Gemeindearbeit lassen sich auf diese Weise in ihrer Eigenart beschreiben und werden doch als "Phasen und Aspekte ein- und desselben Prozesses sichtbar"50. Nicht zuletzt in der Bilanzierung der Ladenkirche hat Lange die analytische Leistungsfähigkeit dieses Schemas unter Beweis gestellt (vgl. B65, 106-129). Die erste Stufe bilden Predigt bzw. gemeindlicher Gottesdienst, wo sich das Wort der Verheißung als ein "Wort für alle" realisiert, indem es "nicht nur jeden einzelnen in seiner Situation, sondern [...] des Menschen Mitmenschlichkeit in allen ihren Bezügen" betrifft (1966, 137f). Auch in der Ladenkirche bildet der Gottesdienst das "Zentrum der Gemeinde"51. Infolge ihrer Distanz zur Lebenswirklichkeit bedarf die gottes49
Auf diese Unterscheidung hat bezüglich CdA E.Herms hingewiesen (1977, 258 Anm.2). Β65, 101. Zum Folgenden vgl. Langes Ausführungen des Schemas CdA 209ff; B65, lOlff (überarbeitet PaB 137ff); 1981, 185f; dazu Liedtke 1987, 122-130. 51 "Zentrum der Gemeinde am Brunsbütteler Damm war und ist ihr sonntäglicher Gottesdienst, positiv und negativ, so vielfältig ihre Aktivitäten in der Woche auch sein mögen. Entsprechend empfindlich ist sie und reagiert sie auf das, was im Gottesdienst von Sonntag zu Sonntag 'passiert', vor allem auf die Predigt" (AcR 52). 50
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dienstliche Kommunikation jedoch der Übersetzung und Konkretisierung. Als zweite Stufe entfaltet Lange darum den "Katechumenat", der die Gemeindeglieder im Blick auf ihre Aufgaben zu selbständigem Urteil und Handeln befähigen soll. Lange nennt hier insbesondere die Jugendarbeit, verschiedene Formen der Bibelarbeit sowie Ehe- und Familienseminare. Das Gefälle zur konkreten Situation sowie zur verantwortlichen Laienbeteiligung setzt sich in der dritten Stufe fort, die Lange als "mutuum colloquium fratrum" bezeichnet. Hier geht es um den informierenden wie seelsorgerlichen Austausch unter denen, die durch die gleiche Lebens- oder Berufs situation verbunden sind und dort die Verheißung zu bezeugen haben. Lange verweist darauf, daß ein "wesentlicher Teil solcher Gespräche [...] offenkundig transparochial ist" (PaB 140). Als vierte Stufe schließlich erscheint wiederum der "alltägliche Gottesdienst" des einzelnen in den wechselnden Situationen seines Lebens. Daß bereits die erste Stufe, der parochiale Gottesdienst, auf diesen "Ernstfall des Glaubens" zielt, wurde oben (1) gezeigt. In diesem Deutungsschema für den kirchlichen Umgang mit der neuzeitlichen Wirklichkeit vermitteln sich zwei für Lange fundamentale Interessen. Einmal besitzt nicht nur der Gottesdienst, sondern auch die parochiale Kommunikation im ganzen ein Gefälle auf die individuelle Situation des Glauben in der "Diaspora". Lange rezipiert die ökumenische Debatte über den Auftrag des Laien, indem er für die kirchlichen "Außenfunktionen" ekklesiologischen und praktischen Vorrang gegenüber den "Innenfunktionen" fordert (vgl. CdA 149ff): Die Binnenvollzüge der Ortsgemeinde empfangen ihre Berechtigung in der Unterstützung des Laiendienstes. Die Kommunikation des Evangeliums hat eine gleichsam zentrifugale Tendenz. Dennoch ist das skizzierte Schema nach wie vor von der Aufgabe der Verkündigung und damit von der Predigt her entworfen und versucht insgesamt, wie namentlich die "Bilanz 65" zeigt, die Bedeutung der herkömmlichen parochialen Arbeit zu zeigen. Das Muster der vier Phasen ist nicht nur der Entwurf einer kommunikationsfähigen Gemeinde, es soll auch nicht nur die experimentelle Überschreitung des Bestehenden legitimieren, sondern es wird zugleich beansprucht, eine faktische kirchliche
Entsprechend empfindlich ist sie und reagiert sie auf das, was im Gottesdienst von Sonntag zu Sonntag 'passiert', vor allem auf die Predigt" (AcR 52).
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Struktur zu erschließen und auf ihre Funktionalität zu überprüfen. So erbringt Langes Ausführung dieses Schemas "ein umfassendes Bild der Lebenswirklichkeit der Ortsgemeinden, ihrer Themen und Aufgaben, wie es in dieser Prägnanz und Differenziertheit auch in der späteren Diskussion [...] kaum wieder erreicht worden ist" (Cornehl 1984, 353). C.Möller hat allerdings gefragt, "ob nicht die Kirche auch bei E.Lange in ein ganz neuartiges Ghetto hineingeführt wurde, indem die Wirklichkeit stets außerhalb der Kirche und der Ernstfall des Glaubens im Alltag der Welt angesiedelt wurden. [...] 'Kommunikation des Evangeliums' lebt bei ihm nicht aus einem schon vorgängigen Einverständnis, in dem Verstehen sich gründen kann. 'Kommunikation des Evangeliums' ist bei Lange vielmehr etwas, was immer erst hergestellt werden muß im Zusammensprechen von Verheißung und Wirklichkeit" (Möller 1987,245f).
In der Tat wird man zugeben müssen, daß auch Lange zu einer Abbiendung der eigenständigen Wirklichkeit von Kirche bzw. Gemeinde neigt52. Die skizzierten Schemata, mit denen er das parochiale Handeln beschreibt, zeigen jedoch die Grenzen dieser Kritik: Das funktionale Zentrum der "Kommunikation des Evangeliums" bilden Gottesdienst und Predigt. Im Gegensatz zu den ökumenischen Texten hält Lange an den traditionellen Institutionen der "Ekklesia" fest, und damit an der Bedeutung von Kommunikationserfahrungen, die sich nicht erst kirchlicher Aktion und Veränderung verdanken.
3. Die Funktionalität des Normalfalls Das Schlußkapitel von "Chancen des Alltags" hat Lange als "Plädoyer für den Normalfall" gestaltet, ohne damit die funktional-kritische Sichtweise aufzugeben. Hier wie in zahlreichen anderen Texten versucht er vielmehr, für die bleibende Funktionalität der parochialen Organisationsform zu argumentieren. Es ergibt sich gerade dann ein konstruktives Bild des "Normalfalls", wenn "man nicht von der traditionellen Parochie mit ihrer
52 Hier ist auch auf Langes Interpretation von Bonhoeffers Kirchenverständnis zu verweisen: Im Laufe seiner theologischen Entwicklung sei Bonhoeffer immer mehr zu Forderungen der kirchlichen "Selbstpreisgabe" gedrängt worden, weil nur auf diese Weise "Christus in der Wirklichkeit dieser Welt Gestalt gewinnt" (1967, 56). Bonhoeffers Überlegungen zur bleibenden Notwendigkeit eines eigenständigen Raumes der Kirche ("Arkandisziplin") laufen für Lange nur darauf hinaus, "die Welt gegen eine Kirche in Schutz zu nehmen, die sich selbst zum Gesetz macht" (59).
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ungeheuren Reichweite und Wirkkraft ausgeht, sich aber ebenso wenig durch den Mythos vom 'neuen Heidentum' und vom 'vierten Menschen' leiten läßt, der auf keinen religiösen Appell mehr antwortet"53. Die Normalität der Ortsgemeinde hat Lange zunächst mehrmals durch einen Überblick über ihre soziale Struktur beschrieben54. Dabei dokumentiert sich die Distanz zwischen Kirche und Gesellschaft nicht nur in der wachsenden Zahl rein formaler Mitglieder, die sich praktisch in einem "Zustand nicht verstandener Selbstexkommunikation" befinden (1966, 122); sondern auch die große Mehrheit der "distanziert Kirchlichen" nimmt die Ortskirche lediglich "an jenen Punkten [...] in Anspruch, wo diese mit ihren traditionellen 'Leistungen' noch in die Wirklichkeit heutigen Lebens hineinreicht" (CdA 46), also bei den Kasualien. Und gerade die Gottesdienstgemeinde entzieht sich der Verpflichtung des Glaubens, die Verheißung in der Alltagswirklichkeit missionarisch zu bewähren. Lange weist jedoch darauf hin, daß diese Beobachtungen auch anders zu deuten sind: Dort, "wo der verkündigte Glaube unmittelbar mit den entscheidenden Widerfahrnissen des persönlichen und des familiären Lebens zusammenklingt" (CdA 305), wo die Ortsgemeinde also bestimmte religiöse Bedürfnisse aufnehmen kann, dort gelingt der Kontakt von Parochie und Lebenswirklichkeit - und zwar, aufs biographische Ganze gesehen, mit fast allen Gemeindegliedern. Abgesehen von der "Masse der Distanzierten" sieht Lange in der Ortsgemeinde ein "Ensemble der Opfer" (vgl. CdA 295ff): In den Räumen und Veranstaltungen der Gemeinde begegnen nicht nur vorwiegend Kinder, Jugendliche und Alte - und damit Menschen, deren Lebenswirklichkeit von der Gesellschaft in jeweils bestimmter Weise eingeschränkt wird -, sondern gerade in der Kerngemeinde findet sich "die ständig wachsende Gruppe der Schlechtangepaßten, der Außenseiter, der gesellschaftlich und psychisch Kranken [...]. Ein erheblicher Teil der Kirchentreuen, ja der aktivsten Mitarbeiter gehört - wenn man sich nichts vormacht - zu dieser Kategorie" (aaO. 299). Mit der Präsenz dieser Randgruppen stellt die Ortsgemeinde für Lange alles andere als "ein unangemessenes Forum für die Predigt der Verheißung" dar (aaO. 300). Indem sich in der Paro53 CdA 295. Lange verweist hier auf C.H.Miskotte; offenbar steht aber auch Hoekendijks Rezeption jener Motive im Hintergrund. Zur Kritik an dieser Auffassung der Moderne vgl. aaO. 293f; 1981, 165. 54 Vgl. CdA 45ff.205ff; 1981, 116ff.136ff.184f; besonders ausführlich: 1966, 121ff.
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chie die Opfer der Gesellschaft sammeln, nimmt sie in einer der Gestalt Jesu gemäßen Weise an der Wirklichkeit dieser Gesellschaft teil. Langes kirchensoziologische Argumente für die Funktionalität der Parochie laufen darauf hinaus, ihren Wirklichkeitsbezug in neuer Weise zu beschreiben. Das Evangelium wird nicht allein durch strukturell oder inhaltlich neue Aktivitäten situationsbezogen kommuniziert, sondern die gegebene Parochie hat bereits an unvermutet vielen Stellen Kontakt zu den individuellen Orten, an denen die Verheißung konkret wird. Diese These untermauert Lange mit der bleibenden Bedeutung der "Wohnwelt". Nicht nur für jene Gruppen, "deren Leben vornehmlich lokal zentriert ist" und die darum auch in der Lokalgemeinde zu finden sind (1981, 185), sondern grundsätzlich finden sich die langfristigen Beziehungen und Verpflichtungen des Lebens immer noch im Wohnbereich. Und als Konsum- und Freizeitbereich ist jene soziale Umgebung auch für nahezu alle Berufstätigen von steigender Bedeutung. Die Ortsgemeinde ist funktional, weil zahlreiche fundamentale Bedürfnisse im lokalen Rahmen auftreten und dort zur Herausforderung der Kirche werden. Eine detaillierte Reflexion dieser bleibenden Funktionalität hat Lange in der "Bilanz 65" geleistet (vgl. B65, 106ff.l30ff). Über weite Strecken beschreibt er die Aufgaben, die sich in der faktischen kirchlichen Organisationsform ergeben, auch in der Ladenkirche: "Es geht schlicht darum, daß die örtliche Gemeinde sich dazu bekennt, daß sie heute weitgehend mit den Gefährdeten und mit den Opfern der Zeit zu tun hat, und zwar an dem Ort, wo die großen gesellschaftlichen Hilfsmaßnahmen nicht ausreichen, in ihren Wohnungen, wo sie allein sind oder an unerfüllter Gemeinschaft zerbrechen" (aaO. 136).
Unter dem Eindruck solcher Beobachtungen verschiebt sich Langes Augenmerk von der missionarischen Struktur der Gemeinde, nach der die ökumenischen Texte fragen, auf ihren diakonischen Auftrag55. Unter dem Stichwort "Diakonie" kann er die zahlreichen Möglichkeiten der Ortsgemeinde schildern, in den ihr "Anvertrauten" gesellschaftlicher
55 So bedient er sich zwar bei der Bilanzierung der Ladenkirche des ökumenischen Schemas von Gemeinschaft/Diakonie/Mission (vgl. B65, 130ff), legt aber auf die Diakonie den Schwerpunkt, während die Ausführungen zur Mission (aaO. 146ff) größtenteils wiederholenden Charakter haben. Aufschlußreich sind auch die "Thesen zur Kasualpraxis" (Bilanz 65, 227-230), die diese Praxis unter expliziter Relativierung des missionarischen und des gemeinschaftsbezogenen Aspektes als "diakonische Handlungen der Volkskirche" verstehen.
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Wirklichkeit zu begegnen: Kinder-, Familien- und Altenarbeit, Einzelseelsorge u.a.. Dabei verbindet sich die Aufwertung des diakonischen Aspekts mit einer deutlichen Korrektur des aktivistischen, missionarischuniversalen Gemeindekonzepts: Es gibt "eine große Mehrheit von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen nie zur vollen Teilnahme am Leben und an der Arbeit der örtlichen Gemeinde fähig und bereit werden, um so weniger, als sich die Leitvorstellung der 'verantwortlichen Gemeinde', die ja relativ hohe Ansprüche an die Kontaktfähigkeit, die Phantasie und die Intelligenz der Menschen stellt, durchsetzt. [...] Man muß vielmehr mit einer Fülle von verschiedenen Distanzen zur Präsenzgemeinde rechnen. [...] Jede dieser verschiedenartigen Beziehungen hat ihren Sinn und ihre mögliche Erfüllung (in der Kommunikation des Evangeliums) in sich selbst [...]" (B65,830·
Das realistische Bild der Ortsgemeinde, das sich in solchen Sätzen dokumentiert, hat Lange davor bewahrt, sie nun doch wieder zum (missionarischen) Ausgangspunkt allen Engagements des Glaubens zu machen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit kann von Parochie nur zu einem bestimmten, allerdings bedeutenden Teil erschlossen werden und bedarf darum auch anderer, ergänzender Strukturen. Die Relativierung der Ortsgemeinde verbindet sich jedoch mit einer Aufwertung ihres inneren Lebens, ihrer eigentümlichen Gemeinschaft: "Koinonia meint mehr als Arbeitsgemeinschaft, Funktionsgemeinschaft. Die Kommunikation des Evangeliums stiftet dauerhafte mitmenschliche Beziehungen, die mehr sind als ein Mittel zu gottesdienstlichen, diakonischen oder missionarischen Zwecken" (B65, 81). Entsprechend skizziert Lange in der "Bilanz 65" die Leitvorstellung einer "Einung des Unvereinten" (aaO. 82): Die Spannungen zwischen Geschlechtern, Generationen, Traditionen etc. können in den Begegnungen der Gemeinde zeichenhaft versöhnt werden. Und auch die Überlegungen zum "Gottesdienst in Funktion", die in "Chancen des Alltags" angestellt werden (aaO. 179ff), lassen sich allesamt als Aufweis von Handlungsmöglichkeiten verstehen, die in der besonderen sozialen und geistlichen Struktur der volkskirchlichen Parochie liegen. Trotz der zahlreichen Argumente für die Funktionalität der gegebenen kirchlichen Struktur hat Lange seine grundsätzliche Korrektur der ökumenischen, institutionskritischen Sichtweise selten ausdrücklich gemacht. Nicht immer ist ihm die Vermittlung von soziologisch-funktionaler Deutung der Parochie und Beschreibung aus der Innenperspektive ge187
lungen, die auch traditionelle theologische Kategorien heranzieht. Daß die Aufmerksamkeit für die Leistung des Normalfalls jedoch mehr als eine Nebenlinie seines Denkens ist, sei abschließend an einem Vortrag verdeutlicht, in dem er sich einige Jahre nach dem hier betrachteten Zeitraum nochmals der Frage "Was nützt uns der Gottesdienst?" zugewandt hat56. Lange beschreibt den Gottesdienst als eine Feier, in der die Begegnung zwischen bestimmten religiösen Bedürfnissen und der "Geschichte von dem Menschen, der für Gott spricht", auf Dauer gestellt wird (aaO. 83f). Die Funktionalität liturgischer Vollzüge begründet er dann zunächst durch eine im Grunde religionssoziologische Analyse der menschlichen "Suche nach Religion" (83 u.ö.). Hier drückt sich das Bedürfnis nach "Identität" aus, nach subjektiver Distanz vom gesellschaftlich Fixierten sowie nach der festlichen Darstellung einer Wirklichkeit, die die Ambivalenz des Vorfindlichen aufhebt. Im Blick auf diese Bedürfnisse vermittelt die liturgisch repräsentierte Begegnung mit Jesus eine "Identifizierung" des Menschen von außerhalb: Jesus "identifiziert uns durch Vergebung. Und er identifiziert uns als Bürger des Reiches Gottes, das wirklich alternativ ist zu der Welt, in der wir gefangen und verkrüppelt sind" (87). Der Gottesdienst ist die sinnliche Darstellung des "Vorgangs, in dem unser Menschsein eindeutig wird, in dem sein eigentlicher Sinn herauskommt" (89). Der traditionelle Gottesdienst ist damit für Lang e funktional unverzichtbar, und zwar gerade als eine ausdrücklich "religiöse Institution" (91). Das Mißlingen, die offensichtliche Krise dieser liturgischen Begegnung ist kein Argument gegen jene Funktionalität, sondern verpflichtet zur stärkeren Beachtung des spezifisch liturgischen Wirklichkeitsbezuges. Von daher kritisiert Lange nicht zuletzt die "zerquälte[...] Moralisierung und Ethisierung des Gottesdienstes, als wäre er nur eine Art Lagebesprechung, [...] ein Moment der christlichen Aktion" (93). Hier fallen die sinnlichen Elemente von Feier und Spiel, die den spezifischen Wirklichkeitsbezug des Gottesdienstes garantieren, einem avantgardistischen oder pädagogischen Ausschließlichkeitsanspruch zum Opfer. Liturgische Konzepte, die die Normalität des Gemeindegottesdienstes "im Stich lassen" (93), verfehlen den eigentümlichen Sinn dieser Institution.
56
Lange 1973b; zuerst als Vortrag auf dem Düsseldorfer Kirchentag im Juni 1973 gehalten. Vgl. zu diesem Text Möller 1987, 244f, der allerdings die Selbstkorrektur Langes überschätzt. 188
Deutlicher als zehn Jahre zuvor ist es Lange hier gelungen, die krisenhaften wie die positiven Erfahrungen mit der "Zentralveranstaltung der Kirche" (91) theologisch-inhaltlich und zugleich funktional zu deuten. Die Pointe dieser selbstkritischen liturgischen Reflexion dürfte jedoch nicht zuletzt darin bestehen, daß sie sich einer Korrektur der Wirklichkeitsauffassung verdankt, die die Aufgabe des Gottesdienstes begründet. Nun steht nicht mehr die Gesellschaft, ihre soziale Differenzierung und die daraus resultierende Diasporasituation des Glaubens im Mittelpunkt, sondern die Wirklichkeit des glaubenden Subjekts selbst, das seine Identität und Freiheit nicht so sehr im Zusammenhang als vielmehr in der Distanz zu den Lebenssituationen empfangt.
IV. Der Wirklichkeitsbezug der Kirche als pastorales Problem
1. Die pastorale Perspektive auf das kirchliche Handeln Abgesehen von dem Rekurs auf die Funktionalität des parochialen Normalfalls hebt sich Langes Reflexion von den ökumenischen Texten vor allem dadurch ab, daß er die kirchliche "Kommunikationskrise" (1981, 55 u.ö.) wie die daraus resultierenden Aufgaben zumeist aus der Sicht des Pfarrers beschreibt. So sieht er die Auflösung der parochialen Symbiose nicht zuletzt als einen pastoralen Kompetenzverlust: War der Pfarrer zuvor bei allen individuellen wie gesellschaftlichen Krisen zumindest mit zuständig, weil er nicht nur Religion, sondern Sitte und Ordnung der Gemeinschaft repräsentierte, so erfährt er nun, angesichts der immer komplexeren sozialen Wirklichkeit, seine Eingriffsmöglichkeiten als sehr begrenzt57. Auch die "Auszehrung" des Gottesdienstes und der Kerngemeinde spiegelt sich in Langes Texten besonders eindringlich als persönliche Enttäuschung der Pfarrer über die Einschränkung beruflicher Mög-
57
Lange hat diesen Wandel mehrmals an der Frage der pastoralen Eheberatung demonstriert: "Er kennt die besondere Situation dieser besonderen Ehe nicht. Und ob er genug weiß von der Problematik einer modernen Ehe, [...] ist durchaus fraglich. Zudem ist die Ehe heute derartig personalisiert und intimisiert, daß eine Einmischung Dritter überhaupt kaum denkbar ist [...]" (CdA 205; vgl. 1966, 126ff; B65, 66-68).
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lichkeiten. Daß die Masse der Ausgetretenen und der Distanzierten wächst, wird zur Bedrohung der pastoralen Identität58. Angesichts dieser Entwicklung fordert auch Lange eine Art Übertragung des pastoralen Auftrags: Es sind nunmehr die einzelnen Christen, die in ihrer jeweiligen Lebenssituation das "notwendige Wort" des Glaubens zu artikulieren und die Verheißung zu entfalten haben (vgl. etwa CdA 204ff). Dabei fällt an solchen Formulierungen auf, daß der Auftrag der Laien selbst mit pastoralen Kategorien beschrieben wird: Die Bedingungen des "notwendigen Wortes" sind im Grunde nichts anderes als die Bedingungen situationsgemäßer Predigt (aaO. 209f); und die Vollmacht des einzelnen hinsichtlich seiner Lebenssituation orientiert sich implizit am Modell der pastoralen Zuständigkeit in vormoderner Zeit (aaO. 205f). Unter den modernen Bedingungen erhält das alte Programm des "allgemeinen Priestertums" unmittelbare Aktualität: "Es gibt keinen Christen, der nicht von seiner Taufe her zur Verkündigung ordiniert wäre [...]. Das Christsein selbst ist Dienst am Wort" (1966, 117f). Ähnlich wie in der theologischen Generation zuvor wird es dann aber auch für Lange zum Problem, unter diesen Prämissen die eigenständige Leistung des Pfarrers zu beschreiben: Die Aufgaben, die sich dem diakonischen Glauben in der Gegenwart stellen, werden fast immer als Auftrag und Möglichkeit der ganzen Gemeinde beschrieben. Selbst beim Gottesdienst, hinsichtlich der Funktion des Bezeugens und Bekennens, wird die Leistung des Predigers bzw. des Liturgen von Lange nicht thematisiert. Nur insofern der Pfarrer in ein Gespräch mit den "Sachkundigen heutiger Wirklichkeit" - und dies sind stets die Laien - kommen kann, wird er an der "Ermächtigung des Glaubens für seinen Ernstfall im Alltag" beteiligt sein59. Die Schwierigkeit dieser Aufgabenbestimmung läßt sich auch anhand der Frage erläutern, auf welche Situation die Arbeit des Pfarrers, seine Predigt wie seine parochialen Aktivitäten, denn damit faktisch bezogen wird. Die individuelle, alltägliche Situation des Glaubenden kann ja von der Predigt als dem "Wort für alle" (1966,137) gar nicht getroffen werden, vielmehr wird sie vom Evangelium nur in jener gestuften Folge von Kommunikationsformen erreicht, in denen das Predigtwort des Pfarrers
58 59
Vgl. die entsprechenden Impressionen 1966, 97ff; CdA 292ff. Vgl. CdA 168ff.212ff. Zitate: 213.195.
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immer mehr zugunsten des konkreten Wortes der Laien in den Hintergrund tritt. Die Situation, die die Predigt klären kann, ist darum, wie Lange einmal sagt, im Grunde gar nicht jener Ernstfall, sondern "die spezifische Not des Christen zwischen Kirche und Alltag" (CdA 217): Die Predigt ist nur insofern auf die individuelle Lebenssituation bezogen, als sie das Problem der Distanz zwischen der kirchlichen Institution und der je besonderen Situation des Glaubens bearbeitet. Die Distanz zwischen Kirche und alltäglicher Wirklichkeit, an der Langes Überlegungen zur "Kommunikation des Evangeliums" sich beständig abarbeiten, erscheint damit nicht nur als eine individuelle und parochiale Krisenerfahrung, sondern vor allem als eine pastorale Herausforderung. Eine solche Perspektive erklärt dann nicht zuletzt Langes theologische Deutung dieser Erfahrung: Wird die pastorale Arbeit nur nach ihrer - missionarischen oder auch diakonischen - Wirkung im gesellschaftlichen Alltag beurteilt, so liegt die Behauptung der unvermeidlichen Anfechtung nahe, die sich aus der Erfahrung des neuzeitlichen CAmfseins noch nicht ergibt (s.o. II.3). Erst das Ineinander pastoraler und allgemein-christlicher Perspektiven kann Lange zu dem Urteil führen, daß die moderne Welt zunächst stets gegen Gott spricht. Die pastorale Perspektive ermöglicht ein theologisch wie pragmatisch vertieftes Verständnis des kirchlichen Handelns, allerdings nicht selten um den Preis, die Eigentümlichkeit dieser beruflichen Situation nun doch wieder zu verdecken.
2. Die theologische Korrektur des funktionalen Ansatzes Die pastorale Perspektive hat es Lange ermöglicht, den konkreten Hintergrund der ökumenischen Skizzen zu entfalten: Die Krise des kirchlichen Wirklichkeitsbezuges wird in der Ortsgemeinde und vor allem von deren Funktionsträgern erfahren und erlitten. Diese Erfahrungen hat Lange im Rückgriff auf historische, humanwissenschaftliche und theologische Einsichten artikuliert. Auf diese Weise bringt er die Wirklichkeit, in der sich das kirchliche Handeln vollzieht, in ihrer Widersprüchlichkeit und Unübersichtlichkeit zum Bewußtsein; und zugleich erscheint sie als ein Feld pastoraler Handlungsmöglichkeiten. Die Verbindung des funktionalen Ansatzes mit einer bestimmten beruflichen Perspektive führt zunächst zur Entlastung des Pfarrers. Die Kri191
senerfahrung, die sich bei den im Ersten Teil untersuchten Autoren in der "Predigtnot" artikuliert und dabei als ein in erster Linie subjektives Versagen der Amtsträger erscheint, wird nun vor allem auf institutionelle und gesellschaftliche Gründe zurückgeführt. Insofern läßt sich jene Erfahrung nicht allein durch Appelle an den Glauben des einzelnen bearbeiten, sondern bedarf einer umfassenderen Deutung, zu der Lange zahlreiche Materialien liefert. Die Verbindung funktionaler und beruflicher Aspekte führt jedoch, verglichen mit den ökumenischen Texten, zugleich zu einer gleichsam geistlichen Vertiefung jener "missionarischen" Krisenerfahrung. Diese Tendenz läßt sich besonders deutlich an einigen Texten zum Berufsfeld des Pfarrers ablesen, die in Langes letzten Lebensjahren entstanden sind60. So beschreibt er 1973 in einem Vortrag über "Glauben und Anfechtung im Alltag des Gemeindepfarrers", daß die zunehmende pastorale "Inkompetenz und Ineffizienz" sich zwar zum guten Teil auf den gegenwärtigen Funktionswandel der Religion zurückführen läßt. Zugleich verweist er aber, etwa anhand des Zerfalls der Sprache der Frömmigkeit, auf die theologische Dimension dieser Probleme, die für die Pfarrer immer wieder "qualitativ umschlagen in die geistliche Erfahrung der Gottverlassenheit" (1973, 174). Berufliche und religiöse Perspektive auf die pastorale Situation erläutern und konkretisieren sich gegenseitig. Dies gilt dann auch für die Langes Lösungsangebote. Er sucht die Überwindung der kirchlichen Sprachnot in "Akten der Solidarität mit den Leidenden, die den Weg Jesu kennzeichnen" (aaO. 191); und zugleich skizziert er eine neue Deutung des pastoralen Arbeitsfeldes, in der die Bindung an die marginalisierte Parochie als sachgemäßer Ausdruck eines spezifischen, eben diakonischen und pädagogischen Auftrags verstanden wird (vgl. 178ff). Wiederum durchdringen sich geistliche und empirische Betrachtung der pastoralen Wirklichkeit. An anderer Stelle hat Lange bereits in den 60er Jahren versucht, den funktionalen Ansatz der Kirchenkritik theologisch zu präzisieren. Die Untersuchung eines Textes über die "Anpassung der Kirche" (Lange 1966a) verdeutlicht zugleich, daß die bisher vorgestellten Überlegungen auf das Problem der Predigt in der Gegenwart hindrängen.
60
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Vgl. 1973; 1973a; weiterhin 1981, 278ff.287ff.294f; dazu Liedtke 1987, 337ff.
Das seinerzeit heftig umstrittene Thema der "Anpassung" kirchlicher Strukturen und Inhalte an die gesellschaftlichen Gegebenheiten versteht Lange als Frage nach den - gegenwärtig schwierigen - "Kommunikationsbedingungen" des Evangeliums (aaO. 162). Die daraus resultierende funktionale Betrachtung bedarf jedoch einer theologischen Reflexion, sonst droht entweder die "kritiklose eklektische Übernahme" religionssoziologischer Theoreme, und damit eine "prinzipielle Traditions- und Institutionsfeindlichkeit - eine Art kirchlicher Kenosislehre"; oder ein selbstzufriedener "morphologischer Fundamentalismus" führt zur pauschalen Zurückweisung aller empirischen Anfragen (164f). Die Funktionalität des Normalen, auf die Lange zielt, ist nicht nur durch die konservative Ekklesiologie gefährdet, sondern offenbar auch durch den extremen Ansatz Hoekendijks und seiner ökumenischen Rezipienten. Die Notwendigkeit einer theologischen Rezeption des funktionalen Ansatzes, und zwar gerade aus einer pastoralen Perspektive, versucht Lange nun an dem Text zu erweisen, der für die deutschen Kirchen jede Form der "Anpassung" an die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre Kommunikationsbedingungen zu verbieten scheint, nämlich die Barmer Theologische Erklärung von 1934. Indem in Barmen das Ansinnen abgewiesen wurde, eine bestimmte politische Lage und ein entsprechendes Selbstverständnis der Hörer zur "Quelle der Verkündigung" zu machen, scheinen auch alle ökumenischen Ansätze diskreditiert, die den Bezug auf die gegebene Wirklichkeit zum entscheidenden Kriterium kirchlichen Handelns machen61. Lange weist jedoch darauf hin, daß Barmen "in einer Art heiliger Einseitigkeit" vom "konkreten Vollzug der Verkündigung", von den konkreten Bedingungen des Predigens abgesehen hat. In einer solchen pragmatischen Perspektive auf die Verkündigung wird die Frage nach der Situation des Glaubens jedoch unabweislich: "In der gegenwärtigen Situation ist Christus, ist seine Herrschaft, seine Glaubwürdigkeit und also die Möglichkeit des Glaubens strittig. An der Wirklichkeit seines Lebens gerät der Glaube in die Anfechtung. Und eben diese Anfechtung lehrt aufs Wort merken [...]. In diesem Prozeß zwischen Tradition und Situation, zwischen Christus und der Wirklichkeit tritt die verkündigende Kirche als Zeuge auf. [...] Dabei geschieht es, ubi et quando visum est Deo, daß Christus sich tatsächlich als Herr der Situation
61 Vgl. aaO. 166f; dazu auch die Ausführungen 1981, 192-194, die die ökumenischen Texte und Experimente noch direkter mit Barmen konfrontieren.
193
erweist, daß er sich jetzt und hier gegen die Situation durchsetzt, sie erhellt, klärt und verändert, zur Zukunft hin aufbricht und insofern als das eine Wort Gottes [...] erneut glaubwürdig wird" (169).
Im konkreten Predigtakt wird sich darum stets auch eine Deutung der Situation und damit eine kirchliche "Anpassung" vollziehen. Von dieser Einsicht aus interpretiert Lange Barmen als Auskunft über die legitime Deutungsweise der Situation: "Nicht die Situation ist der hermeneutische Schlüssel für die Christusbotschaft, sondern die Christusbotschaft erweist sich im Vollzug der Verkündigung als der hermeneutische Schlüssel für die Situation, durch ihn [...] allein wird die Sprache der Tatsachen für den Glauben verständlich" (174). Auf diese Weise kann Lange unterscheiden zwischen einer illegitimen Anpassung der Kirche, die der gesellschaftlichen Situation "Wort-GottesCharakter" zuspricht und sie deshalb so, "wie sie sich selbst auslegt", zum einzigen Kriterium macht, und einer legitimen Anpassung, die die Wirklichkeit nach einem "im Verkündigungsgeschehen selbst gewonnenen prophetischen Urteil [...] ins Licht der Christusverheißung rückt" (175). Die Frage nach der legitimen Deutung der Situation läßt sich also je nur im praktischen Vollzug entscheiden. Mit der Zuspitzung des Wirklichkeitsproblems auf die individuelle Predigtarbeit gelangt Lange zu einer ganz ähnlichen Position wie die im Ersten Teil untersuchten Autoren: Der Bezug der Verkündigung auf die Wirklichkeit liegt im Grunde in der subjektiven Verantwortung des Predigers bzw. des Pfarrers62. Die Frage nach der "Kommunikation des Evangeliums", die Lange als Frage nach der angemessenen Gestaltung des parochialen und liturgischen Handelns gestellt hat, spitzt sich damit in doppelter Hinsicht zu. Die Kirche muß, wie Lange aus der Ökumene gelernt hat, neu nach der Situation fragen: Wie kann der Gegenwart auftragsgemäß, theologisch verantwortlich begegnet werden? Diese Frage läßt sich jedoch nur in der pastoralen Praxis, und das heißt auch für Lange: vor allem in der Praxis der Verkündigung angemessen bearbeiten. Die Vertiefung der funktiona62
Als eine solche Wendung zum "konkreten Vollzug" deutet Lange im übrigen auch Barmen selbst. Indem die Synode sich der staatlich gesteuerten Selbstauslegung der Situation entzog und sich auf den Widerspruch gegen diese Situation inhaltlich und strukturell einstellte, vollzog sie selbst eine bestimmte, höchst wirkungsvolle Deutung der Gegenwart. Dieser Einschätzung hat Gestrich zugestimmt: Das mit der Frage nach der Situation gegebene Problem der "natürlichen Theologie" sei in Barmen gerade nicht verabschiedet, sondern auf eine neuartige Weise angegangen worden (1985, 37 Anm. 9).
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len Sicht des kirchlichen Handelns resultiert in der Thematisierung deijenigen Wirklichkeit, welche in der konkreten Predigtarbeit bedeutsam wird. So ist es konsequent, daß Lange gegen Ende seiner Berliner Tätigkeit immer ausführlicher nach der "homiletischen Situation" gefragt hat.
V. Die Einführung der "homiletischen Situation"
1. Der Ausgangspunkt beim pastoralen
Predigproblem
In den meisten Texten, die Lange im Umkreis der Ladenkirche verfaßt hat, erscheint die Predigt in einer gleichsam traditionellen Weise, nämlich als die zentrale Form kirchlicher Arbeit, auf deren Bestimmung die meisten der parochialen Aufgabenbeschreibungen zielen. Zugleich wird die Funktionalität der Predigt mit dem Hinweis auf die gesellschaftlich bedingte Distanz zwischen Wortverkündigung und alltäglichem "Ernstfall" relativiert, so daß, wie in den ökumenischen Texten, die spezifische Aufgabe des Predigers ganz in den Hintergrund tritt. Zu einer Überwindung dieser tendenziell widersprüchlichen, zwischen Hochschätzung und Abbiendung schwankenden Sicht und damit zu einem eigenständigen homiletischen Ansatz kommt Lange erst dadurch, daß er die spezifisch pastorale Erfahrung mit der Predigt zum Leitfaden der Erörterungen macht. Seinen ersten Niederschlag hat dieser Ansatz in den "Thesen zur Theorie und zur Praxis der Predigt" von 1963/64 gefunden. "Die Thesen entstanden als Unterlagen für die Arbeit des homiletischen Seminars an der Kirchlichen Hochschule. Sie systematisieren, was die Predigtpraxis am Brunsbütteler Damm von Anfang an bestimmt hat, zunächst eher intuitiv und in der Weise einer Hypothese, bald aber und zunehmend auch in Sätzen begriffener Erfahrung [...]."63 Die homiletische Reflexion entspringt hier der Nötigung des akademischen Lehrers, die eigene pastorale Erfahrung als lehrbare Anleitung zum Predigen auszuarbeiten. Zugleich doku-
63
1965b, 321. Vgl. zu den Thesen auch Liedtke 1987, 144 und 481-483 (Anm.).
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mentieren diese Thesen eine intensive, keineswegs nur kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Homiletik64. Lange beginnt die Thesen mit einem Hinweis auf K.Barths zweiteilige Definition des "Wesens der Predigt" von 1932/33 (Barth 1966, 30). Barths Unterscheidung von Verheißung und Auftrag der Predigt versteht Lange als Auskunft über die spezifischen Bedingungen der Predigtarbeit: "Gegenstand der homiletischen Arbeit ist die Wahrnehmung des Predigtauftrags als eines verantwortlichen Menschenwerkes, das Verheißung hat" (aaO. 323). Die Verheißung der Predigt gilt zunächst dem auftragsgemäßen Handeln des Predigers, und dadurch vermittelt der Wirkung der Predigt. Folglich sieht Lange die Predigtarbeit vor allem unter pragmatischem Aspekt. Mit E.Fuchs betont er die bruchlose Einheit eines "in sich folgerichtigen Arbeitsgangfs] in mehreren methodischen Schritten" (aaO. 330). Unter Hinweis auf die Eigenart der biblischen Texte akzentuiert Lange den homiletischen Situationsbezug, nicht ohne allerdings, wiederum unter Hinweis auf Barth, eine theologische Deutung dieser Situation zu fordern (aaO. 325; vgl. auch AcR 62). Entscheidend für Langes homiletische Wirkungsgeschichte ist jedoch die Initiative zur Gründung der "Predigtstudien" gewesen. Auf einer "homiletischen Arbeitstagung" in Esslingen im September 1967, auf der das Konzept der "Predigtstudien" diskutiert und für eine Mitarbeit geworben wurde, hielt er einen Vortrag "Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit", der mit Beobachtungen zur "gegenwärtigen Problematik des Predigens" einsetzt und im weiteren ein "neues homiletisches Verfahren" entwirft65. Dabei geht es Lange nicht nur um eine genauere Beschreibung der pastoralen Predigtarbeit, sondern er zielt hier wie in dem die Predigtstudien eröffnenden "Brief an einen Prediger" (Lange 1968) zugleich auf die Begründung einer neuartigen schriftlichen Predigthilfe66. Auch das ausführliche Nachwort zu einer Veröffentlichung eigener Predigten macht deut-
64 Erwähnt werden H.Gollwitzer, G.Ebeling, J.Moltmann, WJetter und vor allem E.Fuchs, vgl. dazu Fuchs 1959; 1959a; 1960. Auf die bis ins Stilistische reichende Kontinuität weist auch Comehl (1984, 349f) hin. 65 Die Tagung ist dokumentiert in Lange u.a. 1968; Langes Vortrag (ZTP) aaO. 47ff. 66 Die folgenden Untersuchungen konzentrieren sich auf Langes eigenen homiletischen Entwurf. Das von den Herausgebern der "Predigtstudien" gemeinsam verantwortete Meditationsverfahren wird daher nur insoweit thematisiert, als Lange selbst sich dazu geäußert hat. Zur Methodik der Predigtstudien vgl. Cornehl 1976, 496ff; Hasselmann 1977, 141ff; Kleemann 1975; Steck 1974, 46f; Wiedemann 1975, l l l f f . Zur Bedeutung der Predigtstudien für Langes Wirkungsgeschichte vgl. auch Liedtke 1987, 174ff.
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lieh, daß das für die "Predigtstudien" entwickelte pragmatische Konzept Langes eigene Predigtpraxis zu reflektieren beansprucht67. Langes homiletische Arbeiten stellen mithin das Ergebnis einer Vermittlung pastoraler Erfahrung mit akademischen bzw. publizistischen Erfordernissen dar. Es sind vorläufige, auf eine Verständigung der jeweils Betroffenen zielende Skizzen, denen es weniger um eine neue homiletische Theorie als vielmehr um die normale, regelmäßige Predigtarbeit geht68. Zustimmung fand dieser Versuch zunächst durch die eindrückliche Formulierung eines "negativen Konsensus" (Lubkoll/Schröer 204) über die zeitgenössische Lage von Predigtpraxis und -theorie: "Man war ausgezogen in der Überzeugung von der Eigenmacht, der Eigenbewegung und Alleingenügsamkeit des Wortes, dem die Predigt dient. Und nun macht man die verwirrende Erfahrung, daß man gerade hier, im Kern des Dienstes, merkwürdig isoliert bleibt, daß man nichts ausrichtet, nichts bewirkt, nichts verändert. Und zwar nicht in dem Sinn, in dem der Theologe darauf vorbereitet ist: Selbstverständlich verfügt der Prediger nicht über die Heilswirkung der Botschaft, der er dient. Aber er kommt, wie es scheint, mit seiner Verkündigung gar nicht erst an den Punkt, an dem sich Glauben und Unglauben entscheiden. Er kann sich nicht verständlich machen. Er kann die gläserne Wand nicht durchbrechen, die ihn vom Hörer, vom Zeitgenossen trennt. Die Worte, die er spricht, stiften weder Ja noch Nein, weder den Aufbruch der Gemeinde noch den Abbruch verfehlter Beziehungen f...]."69
Diese Passage ist exemplarisch für Langes Orientierung, an der Perspektive des Pfarrers, des theologisch gebildeten Funktionsträgers. Ähnlich wie etwa Trillhaas (s.o. A.2) stellt er die theologische Wertschätzung der Predigt ihrer faktischen Bedeutung gegenüber: Im Urteil der "Zeitgenossen" erscheint sie "unverständlich, pathetisch, irrelevant, langweilig" (ZTP 15). Damit verfehlt sie die Wirkung, die Lange ihr ebenso wie seine Lehrer zuschreiben will: eine merkliche Veränderung der Wirklichkeit. Und weil die Predigt für das Selbstverständnis der Pfarrer nach wie vor zentral ist, wird ihre Distanz zur Wirklichkeit, die "gläserne Wand", zum fundamentalen beruflichen Problem.
67
AcR; zuerst erschienen in dem Predigtband "Die verbesserliche Welt" (Lange 1968b). Diese relativ bescheidene Absicht muß gerade bei der Interpretation von Langes homiletischen Arbeiten beachtet werden. Vgl. dazu Bohren 1980, 449ff; Bohren 1981 (dazu P.Krusche 1981); Hasselmann 1977, 135ff; Krotz 1980; Liedtke 1987, 141ff; Lubkoll/ Schröer 1983; Steck 1974, 63ff; Wiedemann 1975, 11 Iff. 69 z p P 18; diese Passage ist eine wörtliche Aufnahme von 1966, 106f; Lange hat lediglich "Verkündigung" bzw. "Verkündiger" durch "Predigt"/"Prediger" ersetzt: In der Erfahrung des Predigers konzentriert sich die pastorale Krisenerfahrung im ganzen. 68
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Das Bild der gläsernen Wand hat bereits bei Hoekendijk (1964, 143f) die Auswirkungen der institutionellen Randstellung der Kirche beschrieben. Ebenso führt Lange die Schwierigkeit der homiletischen Kommunikation nicht mehr auf den mangelnden Glauben der Prediger zurück, sondern formuliert sie als Problem der Verständigung, das nicht allein vom Prediger zu verantworten ist. "Denn das Leben in der modernen Welt ist von der Kanzel aus nicht mehr überschaubar" (AcR 58). Soziale Differenzierung und religiöser Bewußtseinswandel (s.o. II.2) erschweren das kirchliche Handeln in der Gegenwart; und diese funktionale Sicht hat Lange mit Entschiedenheit auf die konkrete Predigtarbeit angewandt. Im Interesse einer Klärung dieses Pfarrerproblems hat Lange dann auch die zeitgenössische Predigttheorie mehr und mehr kritisiert. Denn der "systematisch-theologische Predigtbegriff, die Frage also, was Predigt theologisch sei", kann für die praktisch-theologische Homiletik nicht leitend sein (vgl. ZTP 19f). Aus der Perspektive des Predigers muß der dogmatische Predigtbegriff problematisch erscheinen, weil er die Verheißung der Predigt zur Norm ihres Vollzuges macht, obgleich doch "- das steckt schon im Begriff der Verheißung -" die Predigt als menschlicher Akt sich diese Verheißung nicht selbst erfüllen kann (19). Lange identifiziert m.a.W. den "systematisch-theologischen" Predigtbegriff mit dem ersten Satz von Barths Definition: "Die Predigt ist Gottes Wort, gesprochen von ihm selbst [...]" (Barth 1966, 30), und warnt davor, dies als Ziel der konkreten Predigtarbeit zu verstehen. Faktisch wird dann der Prediger dadurch überlastet, daß er "den Offenbarer, den Erwecker, [...] den Statthalter der Autorität Gottes" darzustellen hat (ZTP 36). Ähnlich wie bei Trillhaas und Rössler zielt Langes Kritik an der dogmatischen "Übersteigerung des Predigtbegriffs" auf die Verzeichnung der praktischen Arbeit des Predigers70. Die dogmatische "Isolierung und [...] Überhöhung" der Kanzelpredigt "in der allerjüngsten Kirchen- und Theologiegeschichte" (ZTP 12) blendet den kommunikativen Kontext des Predigtgeschehens, seine Einbettung in eine bestimmte berufliche Situation, zugunsten der verführerischen Formel von der "Eigenbewegung und Alleingenügsamkeit des Wortes" aus. Die Predigtarbeit wird auf eine rezep-
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Vgl. zum Folgenden die von F.Krotz (1980, 17ff) getroffene Unterscheidung zwischen Langes Kritik am dogmatischen (Frage des homiletischen Aktes) und am exegetischen Predigtbegriff (Frage der homiletischen Situation).
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tive Textauslegung verkürzt, die unverzichtbare Eigenverantwortung des Predigers für das "neue Wort" wird geleugnet (ZTP 36). Weiterhin macht Lange darauf aufmerksam, daß die Formel von der exegetisch zu erhebenden "Eigenbewegung des Wortes" (ZTP 18; vgl. AcR 55) die der Predigt gegenüberstehende Wirklichkeit vernachlässigt. Der Hinweis, daß der Hörer und seine Situation bereits im Text enthalten seien71, überspielt die "gefährliche Distanz des Predigers zu seinen Hörern", so daß "die eigentliche Übersetzungsarbeit dem Hörer angelastet" wird (ZTP 32). Von der eingehenden Berücksichtigung der pastoralen Erfahrung mit der Predigt gelangt Lange auf diese Weise zur Frage nach der "homiletischen Situation", nach der faktischen Bedeutung der Lebenswirklichkeit der Hörenden für die Predigtarbeit.
2. Die "homiletische Situation" als Kommunikationsbedingung der Predigtarbeit Entschiedener als die meisten Homiletiker seiner Zeit geht Lange von pastoraler Erfahrung aus. Darum fragt er nicht dogmatisch "nach der Predigt als praedicatio verbi divini", sondern "nach dem konkreten homiletischen Akt, nach der wöchentlichen Predigtaufgabe und ihrer Lösung" (ZTP 19). Es geht ihm um die besonderen Kommunikationsbedingungen, denen die homiletische Vermittlung des Evangeliums in der Gegenwart faktisch unterliegt. Das heißt allerdings nicht, wie oft vermutet worden ist, daß Lange auf eine systematisch-theologische Bestimmung der Predigt verzichten will. Vielmehr kann nur ein solcher, in den "Prolegomena der Praktischen Theologie" auszuarbeitender Begriff die Reflexion der konkreten Predigtarbeit "als selbständige Frage ermöglichen und begründen und dann freilich auch begrenzen" (20). Wie die weitere Untersuchung zeigen wird, orientiert sich auch Lange faktisch an einem bestimmten dogmatischen Schema, mit dem er den Vorgang der Predigt theologisch "identifiziert"
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ZTP 50; 1966a, 172. Diese These stammt in ihrer klassisch zugespitzten Form von G.Wingren (1955, 33.35 u.ö.).
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und ihren jeweiligen Vollzug "orientiert"72. Im Unterschied zur zeitgenössischen Predigtlehre insistiert Lange aber auf einer Perspektive, in der das Predigen als eine pastorale "Bemühung um Kommunikation" erscheint. Es ist dieses Interesse, das ihn bei einer Präzisierung des Kommunikationsbegriffes einsetzen läßt: "Alle Kommunikationen zielen auf Einverständnis durch Verständigung. Dabei ist das Einverständnis als ein Entscheidungsakt grundsätzlich unverfügbar. Verständigung dagegen, als Vorbedingung jeden Einverständnisses, ist ganz und gar ein Geschehen im Bereich menschlicher Verantwortung und zwar der gemeinsamen Verantwortung der Kommunizierenden" (1965b, 323).
Mit dieser Unterscheidung versucht Lange offenbar die dogmatische Differenz von "Verheißung und Auftrag" der Predigt in eine praktikable Form zu überführen. Am Phänomen des Verständigungsprozesses selbst wird das "Unverfügbare", nicht "Machbare" des homiletischen Geschehens von dem abgehoben, was in menschlicher Verantwortung steht. Mittels der Präzisierung des zu erreichenden Predigtziels kann Lange das Predigen in sein Modell einer gestuften "Kommunikation des Evangeliums" einordnen: Die Predigt ist "eine, freilich besonders sichtbare Phase in einem viel breiter angelegten Kommunikationsprozeß" (ZTP 12). Die o.g. Unterscheidung ist darum zwar am Predigtvorgang orientiert, hebt aber zugleich auf die gemeinsame Verantwortung der Beteiligten und damit auf eine prinzipiell dialogische Verständigung ab. Langes Klärungen jener Kommunikation sind zwar vor allem an der Predigt interessiert, beanspruchen aber auch Gültigkeit für das gesamte kirchliche Handeln. Gegenstand jener kommunikativen Bemühung ist "die christliche Überlieferung in ihrer Relevanz für die gegenwärtige Situation des Hörers und der Hörergemeinde" (ZTP 20). Auch für Lange wird das Evangelium nicht ohne die Auslegung der Tradition konkret. Bereits durch das Stichwort der "Relevanz" wird jedoch der Hörersituation ein größeres Gewicht gegeben: Auch die Predigt wird nun funktional, durch die Orientierung an einer konkreten Wirklichkeit bestimmt. Ihr Gelingen hängt davon ab, daß Prediger und Hörer sich auch über die jeweilige Situation verständigen:
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Auf diese Weise hat F.Krotz die Aufgabe des dogmatischen Predigtbegriffs umrissen (1980, 18). Kritik an Langes "systematischer Unbekümmertheit" haben R.Bohren (1981, 418.423f) und H.G.Wiedemann (1975,130f) geübt.
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"Der Hörer soll verstehen, wie der Gott, für den Jesus spricht, der Herr der Situation, der Herr auch seiner spezifischen Lebenssituation ist. Er soll verstehen, wie das Vertrauen auf diesen Gott [...] vom Bann [...] der sogenannten 'Realität', von Schuld und Verzweiflung befreit und entlastet (Absolutio), das Leben mit Verheißung erfüllt und also seiner Zukunft gewiß macht (Promissio) und den Menschen zu einem neuen Leben konkret ermächtigt (Missio). Das ist das Ziel der Predigtbemühung: Das in der Bibel bezeugte Verheißungsgeschehen wird in seiner [...] Macht sichtbar, jetzt und hier Mut zu einem Leben in Glauben, Liebe und Hoffnung zu machen. Daß die Verheißung Glauben findet, kann die Predigt nicht bewirken. Sie muß aber zeigen, daß und warum die Verheißung Glauben 'verdient' und wie die geglaubte Verheißung die Wirklichkeit verändert" (AcR 62f; vgl. 55; ZTP 27.49).
Bemerkenswert ist zunächst der erneute Rekurs auf den Begriff der "Verheißung", der wiederum zwischen verfügbarer und unverfügbare Predigtwirkung zu unterscheiden erlaubt: Der Glauben an die Verheißung, so wie sie sich auf die Situation bezieht, ist kein erreichbares Kommunikationsziel, wohl aber sind die Voraussetzungen und Folgen dieses Geschehens durchsichtig zu machen. Die Frage nach der Relevanz der Verheißung schließt weiterhin an die theologische Deutung der Situation an, die Lange mittels der zitierten liturgischen Trias zur Begründung des parochialen Gottesdienstes im ganzen entwickelt hat: Die "spezifische Lebenssituation" des Hörers bedroht ihn durch "Schuld und Verzweiflung", also durch die Erfahrung der Anfechtung; eben diese Situation ist Zielpunkt der wirksamen "Macht der Verheißung"; und schließlich konstituiert das glaubende "Einverständnis" des Hörers eine Deutung dieser Situation als Auftrag. Als "Ziel der Predigtbemühung" kommt die Lebenssituation der Hörer offenbar zunächst nicht als verheißungsvoll, sondern als belastend in den Blick. Es ist dieser krisenhafte Charakter der Situation, der nun auch die Einführung des Begriffs der "homiletischen Situation" erfordert. Ausdrücklich findet sich das Stichwort der "homiletischen Situation" nur in den beiden Texten, in denen Lange durchgehend nach der konkreten Arbeit des Predigers fragt73 und darum die spezifische Aufgabe der Predigt im Unterschied zu anderen kirchlichen Kommunikationsformen thematisiert. "Verschiedene Situationen fordern die Kommunikationsbemühungen der Kirche in verschiedener, jeweils der speziellen Situation angemessenen Vollzugsformen heraus" (ZTP 20f). Die Eigenart der ho-
73 Es handelt sich dabei um die akademischen 'Thesen zur Theorie und Praxis..." (1965b) sowie um den Vortrag in Esslingen (ΖΓΡ).
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miletischen Arbeit ergibt sich aus der Eigenart derjenigen Situation, der die Predigtbemühung gilt. Die Situation des parochialen Gottesdienstes, in dem die Predigt ihren Ort hat, ist freilich durch die Randständigkeit der Ortsgemeinde und die Inhomogenität des Teilnehmerkreises ausgesprochen kompliziert und unübersichtlich. Lange macht deswegen den Vorschlag, die Predigtaufgabe von der Kasualpredigt her zu verstehen. Hier wird der Pfarrer in die besondere Situation bestimmter Menschen, "aus welchen Motiven auch immer, einberufen, um zu handeln und zu reden" (aaO. 22). Die jeweilige Bedürfnislage der Hörenden ist Anlaß eines entsprechenden homiletischen Aktes. Von daher fragt Lange, ob es nicht auch bei der sonntäglichen Predigt eine "außerordentlich schwer beschreibbare, aber gleichwohl von Fall zu Fall spezifische Situation gibt" mit je bestimmten "Widerständen und Kommunikationschancen" (23). Zu diesen Widerständen zählt er insbesondere die Erfahrung, daß der durch die Predigt geweckte Verheißungsglaube infolge des Wandels der Wirklichkeit problematisch und irrelevant geworden ist. Auf diese Weise ergibt sich der Begriff einer "homiletischen Situation": "Unter homiletischer Situation soll diejenige spezifische Situation des Hörers, bzw. der Hörergruppe verstanden werden, durch die sich die Kirche, eingedenk ihres Auftrags, zur Predigt, das heißt zu einem konkreten, dieser Situation entsprechenden Predigtakt herausgefordert sieht. Und die Aufgabe des homiletischen Aktes ist, von daher gesehen und formal ausgedrückt, die Klärung dieser homiletischen Situation" (ZTP 22).
Solche Ausführungen haben zu dem kritischen Urteil geführt, hier erhalte die Situation ein derartiges Gewicht, daß das Verheißungswort ihr nicht mehr kritisch und vollmächtig gegenübertreten könne, sondern die Predigt ausschließlich durch die Situationswahrnehmung des Predigers bestimmt sei74. Demgegenüber läßt sich aber zeigen, daß es Lange hier um eine Präzisierung der pastoralen Predigtaufgabe geht, die deren theologisch verantwortliche Beschreibung voraussetzt und vertieft. Dies macht bereits der Einschub "eingedenk ihres Auftrags" deutlich: Der Auftrag der Kirche besteht in der Kommunikation des Evangeliums. Durch die jeweilige Situation wird der Auftrag zur Predigt dann nicht erteilt, sondern lediglich zugespitzt: Um die Verheißung verständlich zu
74 Vgl. Bohren 1981, 424ff; Mildenberger 1984, 20.25f u.ö.; Möller 1986, 161f. Zur folgenden Interpretation vgl. auch Lubkoll/Schröer 1983, 201.
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machen, muß die Predigtarbeit die besondere Situation der Hörenden eigens bedenken. Und zwar wird sie bedacht als eine Situation des Glaubens7S: Den Charakter der homiletischen "Herausforderung" erhält sie eben dadurch, daß der Glauben der Hörer in die "Anfechtung" je ihrer Wirklichkeit geraten ist. Die homiletische Situation ist immer schon theologisch qualifiziert. Über den Stellenwert der homiletischen Situation gibt weiterhin die von Krotz notierte Beobachtung Aufschluß, daß hier eine zirkuläre Definitionsstruktur vorliegt: Die Situation wird dadurch zur homiletischen, daß sie den Prediger zu einer auftragsgemäßen Predigt der Verheißung herausfordert. Umgekehrt gewinnt die Predigt dadurch Kontur, daß sie als "Klärung" jener widerständigen, anfechtenden Situation bestimmt wird. "Beide Definitionen greifen ineinander. Das ist verständlich, handelt es sich hier doch um einen Kommunikationsvorgang, der lebendige Subjekte voraussetzt. Die Definitionen sind als Verweis darauf verständlich" (Krotz 1980, 18). Mittels des Begriffs der homiletischen Situation wird auch die Predigtaufgabe als Auftrag zur "Kommunikation des Evangeliums" bestimmt. In einer am "wöchentlichen Predigtakt" interessierten Perspektive wird die "homiletische Situation" zur leitenden Kategorie der homiletischen Reflexion. Die kommunikative "Relevanz" der Predigt kann sich für Lange nur durch den gelingenden Bezug auf die Lebenswirklichkeit des Hörers herstellen. Die Predigtaufgabe kann dann pointiert formuliert werden: "Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfahrungen und Anschauungen, seine Hoffhungen und Enttäuschungen [...]. Ich rede mit ihm über seine Welt und seine Verantwortung in dieser Welt [...]. Er, der Hörer, ist mein Thema, nichts anderes; freilich: er, der Hörer vor Gott. Aber das fügt nichts hinzu zur Wirklichkeit seines Lebens, die mein Thema ist, es deckt vielmehr die eigentliche Wahrheit dieser Wirklichkeit auf (AcR 58).
Diese Passage hat Bohren zu der Replik veranlaßt: "Ich bin mir als Hörer nicht so interessant, daß ich meinetwegen zur Predigt gehen möchte" (1980,451). Lange wird hier mißverstanden als ausschließlich an der 75 Das hat auch Gestrich (1985, 48) gegenüber Bohren (Bohren 1981, 423f.430) betont: "Nun möchte ich Langes 'Beginnen' bei der Wirklichkeit doch in Schutz nehmen, zumal ich es als einen nur scheinbaren Ausgangspunkt seiner Theologie ansehe: Es setzt nämlich bereits Glauben voraus!"
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vorfindlichen Situation des Hörers interessiert. Dabei ist jedoch das betonte "vor Gott" übersehen: Die homiletische Situation ist für die Predigt deswegen von Bedeutung, weil die jeweiligen "Hoffnungen und Enttäuschungen" des Hörers nicht zuletzt als Ausdruck seines Gottesverhältnisses begriffen werden können. Der Begriff der homiletischen Situation dient Lange dazu, auch hinsichtlich der Predigtaufgabe den funktionalen, wirklichkeitsbezogenen Ansatz theologisch zu vertiefen und auf diese Weise eine Orientierung für das konkrete pastorale Handeln zu gewinnen. Seine nähere Beschreibung der Predigtarbeit läßt sich darum als eine sukzessive Präzisierung der homiletischen Situation rekonstruieren. Ähnlich wie die Wirklichkeit des Glaubens im allgemeinen erfährt nun auch die homiletische Situation implizit stets eine doppelte Auslegung76. Zum einen orientiert sie den Predigtvollzug dadurch, daß sie als Situation der zweifelnden und angefochtenen Hörenden beschrieben wird. Sie erscheint als die exemplarische Situation des Glaubens, der auf die erneute Kommunikation des Evangeliums angewiesen ist (s.u.4.). Zum anderen spiegeln sich jedoch gerade in der Bestimmung der homiletischen Situation die besonderen Kommunikationsbedingungen der Kirche in der Neuzeit: Infolge der sozialen Marginalität des parochialen Milieus liegt zwischen der Situation des Predigers und der jeweiligen Lebenswirklichkeit seiner Hörer eine Distanz, die bereits die elementare "Verständigung", die Voraussetzung des glaubenden Einverständnisses bedroht. Es ist die homiletische Situation als exemplarische Situation des Verstehens, der Langes Aufmerksamkeit zunächst gilt.
3. Die homiletische Situation als pastorales Verständigungsproblem Bereits 1964 hat Lange in den "Thesen" zur Predigtarbeit darauf hingewiesen, daß der Pfarrer gegenüber den jeweiligen Lebenssituationen seiner Hörer generell ein "Außenstehender, Nichtbeteiligter und also unzuständig" ist (1965b, 325). Diese Behauptung wird hier noch nicht mit der neuzeitlichen Konstellation, sondern genuin theologisch begründet: Weil 76 Hinsichtlich der homiletischen Situation hat Lange diese Unterscheidung zweier Aspekte nicht ausdrücklich reflektiert. Sie läßt sich aber als Gliederungsprinzip einer Reihe von Erörterungen erweisen; vgl. PaB 112-116 (4./3.); 131ff (2./1.); ZTP 37-40/42-45; 51 (7. a/b); AcR 58-62/62-65.
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der Glauben nur in einer konkreten Lebenssituation entsteht, wird auch die Anfechtung, die den einzelnen nach Klärung suchen läßt, für den Prediger nur bedingt zugänglich sein. "Sein Auftrag nötigt ihn also, an der Situation, die die Predigt herausfordert, in einer Bewegung der bewußten Partizipation, soweit als möglich, teilzubekommen" (aaO. 325f). Die einschlägigen soziologischen Deutungen leisten dann nicht mehr als eine Zuspitzung dieser Auftragsbestimmung. Gleichwohl hat Lange in seinen späteren homiletischen Texten eher den institutionell bedingten Verlust des Pfarrers an Kompetenz und Kommunikation sfähigkeit hervorgehoben. Als Amtsträger einer mehr und mehr isolierten Institution ist er auf die Laien angewiesen, die eigentlichen "Sachverständigen" für die Probleme ihrer je eigentümlichen Wirklichkeit (AcR 61 u.ö.). Dementsprechend wiederholt Lange seine Erwägungen zu einer Differenzierung des gemeindlichen Kommunikationsprozesses: Die Predigt muß als eine von mehreren "Interpretationsstufen" der biblischen Tradition verstanden und damit zugunsten eines vielfältigen Gesprächs relativiert werden. Die Predigtarbeit erhält ihren Sinn als "ein aus dem Dialog erwachsenes und den Dialog wiederum eröffnendes Geschehen" (ZTP 50). Nur mittels einer Vor- und Nachbereitung, die den Predigtakt in den gesamten Prozeß der parochialen Kommunikation einbettet, kann der Prediger an den sozial differenzierten Lebenswirklichkeiten der Gegenwart teilhaben. Allerdings hat Lange bereits in den Thesen von 1964 betont, daß alle diese Bemühungen den Prediger nicht aus seiner eigenen Situation entlassen werden: "Faktisch heißt das, daß der Text mich in meiner Betroffenheit durch diese speziellen Situationen tröstet und freimacht" (1965b, 339). Die Bemühung um die unterschiedlichen "homiletischen Situationen" darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es immer nur die Situation des Predigers selbst ist, auf die hin die Predigt konkret entworfen wird. Auch später hebt Lange hervor, daß der Prediger, ungeachtet allen Dialogs, im Akt der Predigt doch "beides wird sein müssen: Anwalt der Hörergemeinde in ihrer jeweiligen Lage und Anwalt der Überlieferung" (ZTP 30). Die Verantwortung für die je eigene Predigt und ihren Situationsbezug kann nicht abgegeben werden. Gerade deswegen zielt das von Lange initiierte Verfahren der Predigthilfe zu einem Gutteil auf die pastorale Aufgabe, die jeweilige homiletische Situation kommunikativ zu erreichen. Von den herkömmlichen Pre205
digthilfen sollen sich die "Predigtstudien" vor allem dadurch unterscheiden, daß sie nicht nur "Hilfe zur Textauslegung" bieten, sondern "zugleich Einweisung in die homiletische Situation" (ZTP 50). Langes konkrete Hinweise lassen insbesondere zwei Schwerpunkte erkennen. Die homiletische Situation ist zunächst durch die biographische Lage der einzelnen und ihre Beziehungen untereinander bestimmt. Wenn jedoch im weiteren zwischen einer durch gesellschaftliche Konflikte geprägten homiletischen "Großwetterlage" und der "Lage vor Ort" unterschieden wird, so zeigt sich im Grunde eine pastorale Perspektive, die der jeweiligen Situation bestimmte Probleme und Bedürfnisse, aber auch Chancen der Predigt entnimmt. Die Situationen des einzelnen, der Gemeinde wie der Gesellschaft werden erst dort zur homiletischen Situation, wo sie als pastorale Herausforderung wahrgenommen werden. Die Leistung von Langes "homiletischem Verfahren" liegt dann nicht in einer ganz neuen Sicht des Partizipationsproblems, denn es ist schon immer homiletische Grundeinsicht gewesen, daß ein intensiver Austausch mit der Gemeinde für den Prediger unerläßlich ist. Lange hat diese Einsicht jedoch unter den veränderten institutionellen Bedingungen neu und prinzipieller formuliert, indem er die Erschließung der homiletischen Situation zum unverzichtbaren Bestandteil der "wöchentlichen Predigtaufgabe", also jedes einzelnen Predigtaktes erklärt und ein entsprechendes Meditationsverfahren skizziert hat. Dabei ist es charakteristisch für Langes Ansatz, daß er das kommunikative Problem der homiletischen Situation in zwei unterschiedlichen Aspekten entfaltet, die sich nicht ohne weiteres vermitteln lassen. Auf der einen Seite hat er den Prediger als "Anwalt der Hörergemeinde in ihrer jeweiligen Lage" beschrieben (ZTP 30). Die Predigt ist dadurch bestimmt, daß die Hörer jeweils selbst ihren Glauben vertreten müssen und dafür das zuerst in der Predigt artikulierte "notwendige Wort" erwarten. Für diese je neuen individuellen Glaubenssituationen kann die Predigt jedoch nur als ein ergänzungsbedürftiges Teilmoment der parochialen "Kommunikation des Evangeliums" in Betracht kommen; ihren Auftrag vermag sie "als isolierte Bemühung [...] nicht zu erfüllen" (ZTP 35). An anderen Stellen hat Lange die homiletische Situation jedoch eher aus der Perspektive des Predigers selbst beschrieben. In den Vordergrund treten dann die kommunikativen Schwierigkeiten, die sich aus der unübersichtlichen und ambivalenten Summierung der Einzelsituationen 206
ergeben, an der er durch die parochiale Arbeit "immer schon teilhat, durch sie belastet und bestimmt ist" (ZTP 23; vgl. 21). Hier sind die Hörer gleichsam Objekte des pastoralen Handelns, und die Undeutlichkeit ihrer Bedürfnisse macht das Spezifikum der homiletischen Aufgabenstellung aus. Diese wird dann allerdings auch anspruchsvoller gefaßt: Die Predigt selbst soll exemplarisch verdeutlichen, wie "Christus hier und jetzt für den jeweiligen Hörer Herr der Situation" ist (ZTP 49). Hier wird nun doch im Rahmen des gottesdienstlichen Vollzugs selbst eine wirksame Klärung der homiletischen Situation erwartet. Die perspektivische Unscharfe resultiert offenbar aus einer Doppelung von Langes Interesse. Zum einen geht er von der neuzeitlichen Situation des Glaubens aus, in die der Pfarrer nur durch vielfältige dialogische Vermittlung eingreifen kann. Zugleich ist Lange jedoch an einer Präzisierung des konkreten pastoralen Predigtauftrags interessiert. In dieser Perspektive erscheint weniger die dialogische als vielmehr die auf Verbindlichkeit zielende Dimension der Kommunikation von Bedeutung; dem von der Wirklichkeit angefochtenen Hörer soll die Übersetzung der Verheißung im Gottesdienst soweit als möglich abgenommen werden (vgl. 1966, 113f). Auch in homiletischer Hinsicht ist nun zu beobachten, daß Lange dahin tendiert, die pastorale Perspektive zugunsten der individuellen Situation zu verdecken. Der Prediger wird zu einer totalen Identifikation mit dem Hörer verpflichtet, er erscheint im Grunde als der ideale Laie: "Als Anwalt des Hörers" muß er so intensiv an dessen Situation partizipieren, daß er die jeweils spezifische Anfechtung selbst erfährt und die ebenso spezifische Verheißung vermitteln kann. Die kommunikativen Probleme, die sich dem pastoralen Predigtauftrag in der differenzierten gesellschaftlichen Gegenwart stellen, erscheinen nahezu unüberwindlich, wenn die "Relevanz der Überlieferung" für die je spezielle Situation des Hörers unmittelbar zur pastoralen Aufgabe wird, wenn also Glauben und Lebenssituation in der bereits oben problematisierten Weise verbunden werden (s.o. II.3). Langes Verwendung des Relevanzbegriffs in diesem pointierten Sinn läßt wiederum erkennen, daß es beim Thema der homiletischen Situation nicht so sehr um ein neuzeitliches Phänomen geht. Die Predigtarbeit wird vielmehr grundsätzlich durch die Situation des Glaubens herausgefordert, für den die Relevanz der Verheißung strittig geworden ist.
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4. Die homiletische Situation als individuelles Glaubensproblem Lange hat die homiletische Situation theologisch als die Wirklichkeit verstanden, die von einzelnen Hörern als Anfechtung erfahren wird und insofern zur Predigt der Verheißung herausfordert. Die pastorale Predigtarbeit im engeren Sinn, abgesehen vom Dialog mit den "Sachverständigen" der jeweiligen sozialen Wirklichkeit, wird von Lange nun in sechs argumentativen Schritten als eine Erschließung dieser Situation des Glaubens beschrieben (vgl. besonders ZTP 24ff). (a) Aus der Perspektive des Predigers erscheint die homiletische Situation grundsätzlich als widerständig: "Die homiletische Situation leistet [...] der Bemühung des Predigers um verständliche Bezeugung der Relevanz der christlichen Überlieferung im Hic et Nunc einen spezifischen Widerstand" (ZTP 24). Dieser kann aus Spannungen zwischen Prediger und Hörern, unter diesen selbst sowie aus unterschiedlichen persönlichen und politischen Problemen resultieren. Weiterhin weist Lange darauf hin, daß "die Hörersituation immer auch ein Stück Wirkungsgeschichte der christlichen Predigt repräsentiert", und zwar nicht zuletzt in der Weise, daß die den Glauben tragende Überlieferung "angesichts der Sprache der Tatsachen" (AcR 63) irrelevant oder mißverständlich wird. Für den Prediger "wird dieser Widerstand eine Qualität haben, die er für das Bewußtsein des Hörers selbst vielleicht nur sehr indirekt [...] hat: die Qualität der Anfechtung" (ebd.). Die Widerständigkeit der Situation ist nicht nur ein praktisches Problem des Predigers, sondern wird als Ausdruck einer Glaubenserfahrung der Hörer interpretiert. Dieses Vorgehen verdeutlicht nochmals, daß die aufeinander verweisenden Bestimmungen von Predigt und homiletischer Situation eine bestimmte Deutung der Situation voraussetzen. Die Lage der Hörer wird vom missionarischen, situationsbezogenen Auftrag des Glaubens her interpretiert. Folglich verkörpert der dem Prediger begegnende Widerstand "die Resignation des Glaubens angesichts der Verheißungslosigkeit des alltäglichen Daseins [...]. Er ist das, was jetzt und hier vielstimmig gegen Gott, gegen die Vertrauenswürdigkeit Gottes" spricht (ZTP 25). Erst durch die theologische Qualität, die der gleichsam pragmatische Widerstand der Situation erhält, wird die Lage des Predigers mit der der Hörer vergleichbar. Auch der Prediger ist nun durch seinen Auftrag in die Be-
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drohung des Verheißungsglaubens hineingezogen; und seine Aufgabe besteht in einer exemplarischen "Klärung" dieses Problems. (b) Lange weist nun darauf hin, daß die homiletische Aufgabe der Situations-"Klärung" in zweierlei Hinsicht verstanden werden kann, nämlich zum einen als "Aufklärung", aus der eine veränderte Sicht der Situation resultiert, und zum anderen als reale Veränderung der Situation, die als Befreiung von der Anfechtung - im Grunde nur durch Gott selbst zu bewirken ist. Nur in jener ersten Hinsicht kann die Klärung als Aufgabe des Predigers begriffen werden. Er muß in der Situation die besonderen "Schicksale, Erfahrungen, Erwartungen" entdecken, die seinem Predigtauftrag Widerstand leisten, die zugleich "aber auch bestimmte besondere Kommunikationswege und Kommunikationschancen eröffnen" (ZTP 22f). Der Prediger soll das Evangelium in der ambivalenten Wirklichkeit so kommunizieren, daß sie "im Licht der Verheißung auf eine eigentümliche Weise für Gott,für den Glauben und seinen Gehorsam [...] zu sprechen beginnt". Auf diese Weise vermag die Predigt "den Zwang, den die Realität auf den Glauben ausübt", durch ein neues, klärendes Wort aufzubrechen (ZTP 27). Lange spricht von einem "Bannbruch" (ebd.), der durch eine solche menschliche Verständigung zu erreichen ist. Das Einverständnis der Hörer, in dem sich die Verheißung erneut gegen die Anfechtung durchsetzt, geschieht jedoch als "Gottes befreiendes Wort an mich" (aaO. 26) und kann insofern von der Predigt nicht erzeugt werden. Gleichwohl kann diese, wie Lange betont, selbst schon eine Veränderung bewirken, indem in der Wirklichkeit des Hörers "der Weg des Glaubens in Liebe und Hoffnung sichtbar wird" (27). Die pastorale Aufklärung der homiletischen Situation vermag ihre Klärung durch die erneute Erfahrung der Verheißung vorzubereiten. (c) Die homiletische Aufgabe, neuen Glauben in der jeweiligen Lebenswirklichkeit möglich zu machen, verweist den Prediger auf die biblische Überlieferung. Zwar besteht der Krisencharakter der homiletischen Situation eben darin, daß "die Relevanz des in dieser Überlieferung ursprünglich und normativ bezeugten Christusglaubens" steht (ZTP 29). Zugleich jedoch ist die Christusverheißung nur im Rekurs auf die tradierten Texte zugänglich. Gerade die besondere Perilcope versetzt die Predigt
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in die Lage, die "selbstverständliche" und insofern problematische Überlieferung zu "verfremden"77 und situationsbezogen zu akzentuieren. Für die homiletische Konkretion ist außerdem von Bedeutung, daß die Perikope selbst auf eine bestimmte historische Situation bezogen ist. Die Predigtarbeit läßt sich dann nicht mehr allein als Auslegung des Predigttextes begreifen; vielmehr ist dessen "Funktion" wiederum an der homiletischen Situationserschließung orientiert: "Der Text wird dabei nicht eigentlich zünftig ausgelegt, sondern im Interesse der Verständigung verbraucht" 78 . Deutlicher als in dieser mißverständlichen Form kommt Langes Intention jedoch zum Ausdruck, wenn er den homiletischen Akt als Vermittlung zweier Größen darstellt: "Predigt gleicht also einem Lichtbogen zwischen zwei Polen: Tradition und Situation, Geschichte und Gegenwart, Botschaft und Bezeugung sind Korrelate und gehören untrennbar zusammen" (ZTP 49). Dieses Predigtverständnis schlägt sich auch in der Methodik der "Predigtstudien" nieder, je zwei Bearbeitende ins Gespräch zu bringen, und hat nicht zuletzt dadurch die weitere Diskussion bestimmt. Entsprechend beschreibt Lange auch die Predigtarbeit im engeren Sinne (aaO. 50): "Predigtvorbereitung ist der methodische Versuch, zu einer verständlichen Aussage darüber zu kommen, wie die gegenwärtige Situation die Rückfrage nach der Überlieferung auslöst, wie umgekehrt die Überlieferung diese gegenwärtige Situation erhellt, klärt und verheißungsvoll macht, wie also Tradition und Situation sich 'versprechen'."
(d) Lange nimmt seine Deutung der homiletischen Situation als Anfechtung auf, wenn er die Vermittlung von "Tradition und Situation" als ein Konfliktgeschehen begreift, das aus einer doppelten Widerständigkeit erwächst: "Der Widerstand der Situation hat seine Entsprechung im Widerstand des Einzeltextes" (ZTP 30). Indem die beiden Größen durch die Predigtarbeit konfrontiert werden, ergibt sich jeweils eine innere Differenzierung19. Bezüglich des Textes wird in der Konfrontation mit der homiletischen Situation "Historisch-Abständiges und Aktuelles" unterscheidbar. Lange rekurriert hier auf die traditionsgeschichtliche Exegese,
77 Den Begriff der Verfremdung hat H.D.Bastian in die Homiletik eingeführt; vgl. Bastian 1965. Die genannte wie die folgende "Funktion" der Perikope für die Predigt entfaltet Lange in ΖΓΡ 42f, dort auch die Zitate. 78 z T p 23; vgl. AcR 66. Zur Kritik dieser Formulierung vgl. etwa Bohren 1980, 452; Möller 1986, 162. 79 Vgl zum folgenden ZTP 33; dort alle Zitate des Absatzes.
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die den Text als mehrschichtigen Interpretationsvorgang des Evangeliums sieht und umgekehrt das Evangelium in seiner "Spur von Situation zu Situation" herausarbeitet80. Im Ergebnis der "homiletischen Textkritik" gewinnt das überlieferte Verheißungsgeschehen auch für die neue Situation Bedeutung. Umgekehrt vermag das Zusammentreffen mit dem Text die Widerständigkeit der jeweiligen Situation zu klären. In einer "homiletischen Situationskritik" unterscheiden sich nebensächliche Probleme von dem "eigentlichen Widerstand" des Predigers wie seiner Hörer. Auch für Lange ist der Ort dieses "Prozeßgeschehens" zwischen Text und Situation der Prediger selbst, denn er hat beides zu sein, "Anwalt der Hörergemeinde in ihrer jeweiligen Lage und Anwalt der Überlieferung in der besonderen Gestalt des Textes" (ZTP 30). In einem mehrfach zu durchlaufenden "Verstehenszirkel" (aaO. 32; AcR 64) muß der Prediger für seine eigene Person den Konflikt von Tradition und Situation und darin von Verheißung und Anfechtung austragen. Um die homiletische Situation zu klären, zielt die methodische Bemühung des Predigers also zunächst auf seinen eigenen Verheißungsglauben. Lange spricht hier von einer "Relevanzerfahrung". Sie besteht darin, "daß die Eigenaussage des Textes im Medium meiner Erkenntnis in der homiletischen Situation, an der ich partizipiere, oder auch gegen sie zu funktionieren beginnt. Es ist nun eine spezifische Beziehung hergestellt zwischen Tradition und Situation, nicht so, daß ich [...] vermittelt hätte (das eben ist mir, sofem ich wirklich angefochten bin, unmöglich!), sondern so, daß ich Zeuge einer Selbstapplikation und Selbstaktualisierung der Tradition [...] geworden bin" (CdA 328).
Implizit rekurriert Lange damit auf die oben an M.Mezger erläuterte Auffassung der Predigtarbeit (s.Erster Teil B): Das Bemühen um ein Verstehen der Überlieferung ist von der Erwartung getragen, daß sich das neue Verständnis als eine Glaubenserfahrung nicht zuletzt gegen die Situation des Predigers durchsetzen wird. Dabei wird das hermeneutische Modell der Predigtarbeit offenbar dadurch erweitert, daß Lange das Verstehen der Überlieferung zugleich als ein neues Verstehen der homiletischen Situation begreift. (e) Zum Ziel kommt diese doppelte Verstehensbemühung in einer Reihe von "Einfällen", aus denen sich schließlich ein einziger Predigteinfall in "immer größerer Klarheit aufdrängen" wird (ZTP 34). Obgleich Lange
80
Vgl. zu diesem Verständnis des biblischen Textes auch ZTP 43; AcR 64.
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Unbehagen an diesem Begriff äußert - "es haftet ihm etwas Inspiratorisches und zugleich etwas Willkürliches an" (1968,13) -, hält er ihn für unverzichtbar, um den passiven Aspekt der Predigtarbeit, ihren Erfahrungscharakter zu kennzeichnen: "Der Einfall ist kein Offenbarungsereignis. Er ist ein Durchbrach im Verstehen und zur Möglichkeit des Verständlichmachens, der der Kontrolle und der Kritik unterliegt und der verantwortlichen Ausführung bedarf."81
Auch das Phänomen des Einfalls wird von Lange in die Sicht der Predigtarbeit als Verständigungsbemühung einbezogen. Zugleich ist damit die Person des Predigers ausdrücklich in die homiletischen Überlegungen eingeführt. Der Predigteinfall ist Ergebnis der individuellen "interpretatorischen Phantasie" (ZTP 44) und insofern stets eine schöpferische Leistung: Der Prediger muß das "neue Wort" der Predigt in einer bestimmten Situation selbst verantworten. Seine Selbständigkeit unterliegt allerdings einer strikten "Kontrolle" durch andere Instanzen. Noch entschiedener als der Text kommt die Person des Predigers für Lange, wie das Bild des Anwalts verdeutlicht, nur in ihrer Funktion gegenüber Tradition und Situation in den Blick. (f) Der funktionale Bezug der pastoralen Predigtarbeit auf die homiletische Situation kommt schließlich auch in Langes Hinweisen zur Gestaltung der eigentlichen Predigt zum Ausdruck. Die "sprachliche Ausführung und Ausformung" des Einfalls, die sich der "klassischen Rhetorik" wie "methodischer Predigtkritik" bedienen soll, geschieht nun ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verständigung (ZTP 44f; vgl. CdA 340ff). Die Verantwortung des Predigers besteht im wesentlichen darin, den Hörenden die "Relevanz der Überlieferung in der und für die homiletische Situation" (ZTP 28) so verständlich zu machen, daß ihr glaubendes Einverständnis möglich wird. Dem dient auch die von Lange angeregte Predigthilfe, die "Material und Methoden zur Kontrolle des Einfalls und des homiletischen Entwurfs" bereitstellen soll (aaO. 51).
81 ZTP 34; vgl. 44.51; AcR 65. Liedtke (1987, 488f, Anm. 51) vermutet wohl zu Recht, daß dieser in den 'Thesen" von 1964 noch nicht benutzte Begriff auf D.Rösslers Anregung zurückgeht: Rössler, der zu den Initiatoren der "Predigtstudien" gehört, hat mit dem Begriff "Einfall" in seinem oben (A.l) referierten Aufsatz die rhetorische Invention des Predigers bezeichnet (Rössler 1966, 36f)·
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Das hiermit skizzierte Verfahren zur Erschließung der homiletischen Situation als eines Glaubensproblems läßt wiederum eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von der pastoralen Situation der Predigtaufgabe zu den Situationen der Hörenden erkennen. Der Einsatzpunkt des Verfahrens liegt bei der Erfahrung des Predigers, sich einem aus der Unübersichtlichkeit der gottesdienstlichen bzw. parochialen Situation resultierenden Widerstand gegenüber zu sehen. Die "große Vielfalt von Faktoren" dieses Widerstandes (ZTP 24) erfordert eine methodische Klärung, mittels derer sich auch "Kommunikationswege und Kommunikationschancen" der Predigt entdecken lassen (aaO. 23). In der weiteren Argumentation wird jedoch die Anfechtung der Hörenden betont, als Herausforderung in einem einseitig bedrohlichen Sinn. Diese theologische Einschätzung der Hörersituation droht die pragmatische Perspektive, in der jene Situation für den Prediger erscheint, negativ zu überformen82. Die Spannung dieser beiden Perspektiven wird besonders in Langes Überlegungen zur homiletischen Situations-"Klärung" sichtbar. Aus der Sicht des Predigers ist die produktive Mehrdeutigkeit des Vorgegebenen aufzudecken, so daß deutlich wird, "wie das Geschick, wie die Erfahrungen und Erkenntnisse, Meinungen und Urteile des Hörers [...] doch auch für die Verheißung in Anspruch genommen werden können und müssen" (AcR 65). Besteht das Ziel der Predigt in einer neuen Wahrnehmung der Situation, so erscheint der Glauben im Gegenüber zur Situation, die er als Anfechtung oder eben als verheißungsvoll erfahren kann; und die Predigtarbeit leistet zur Klärung dieser Erfahrung einen Beitrag, der in der methodisch geleiteten Verständigung über jene Situation besteht. Anders erscheint die Klärung hingegen, wenn Lange die Wirkung der Predigt aus der Sicht des Hörers beschreibt. Die homiletische Situation wird dann durch die Predigt "aufgebrochen" (ZTP 11); die Verheißung setzt sich gegen die als Anfechtung erlebte Situation durch. Hier ist nicht der auf die Situation bezogene Glauben des Hörers Zielpunkt der Predigtarbeit, sondern primär diese Situation selbst. Der Hörer soll erfahren, "wie ihn das in der Bibel bezeugte Geschehen in seiner gegenwärtigen
82 Auch Wiedemann hat bemerkt, daß "die starke Betonung des 'Widerstandscharakters' der homiletischen Situation" den Prediger dazu veranlassen kann, "die sehr differenzierten 'Situationen', denen er sich gegenübersieht, vorschnell auf den vereinheitlichenden Nenner der 'Verheißungslosigkeit des alltäglichen Daseins' zu bringen und sie damit zu verkürzen" (1975, 129).
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Situation angeht und trifft, zum Glauben befreit und zum Gehorsam ermutigt"83. Glauben und Situation sind hier unmittelbar verbunden, der neue Glauben ergibt sich aus der (neuen) Situation. In dieser Perspektive erscheint die Predigt selbst als Ausdruck eines Glaubensgeschehens, denn eine solche "Klärung" ist nicht methodisch zu explizieren, sondern erscheint als gleichsam kontrafaktische, von Gott selbst bewirkte Wandlung des Vorfindlichen, die der Prediger als "Anwalt" seiner Hörer selbst erfahren muß. Dieses implizite Changieren zwischen der Situation des auf Glauben angewiesenen Hörers, die der Prediger exemplarisch erfährt, und der Situation des methodisch vorgehenden Predigers resultiert offenbar wiederum aus der spannungsvollen Zuordnung von Glauben und individueller Lebenssituation. Jener Perspektivenwechsel, der bereits hinsichtlich der kommunikativen Aspekte der homiletischen Situationserschließung zu beobachten war (s.o.4), verdankt sich allerdings auch Langes Sicht des Predigtgeschehens, das er als Kommunikationsprozeß zwischen methodisch verantwortlichem Verstehen und unverfügbarem Einverständnis des Glaubens beschreibt. Eine nähere Betrachtung dieses eigentümlichen Kommunikationsmodells ist geeignet, Langes Begriff der homiletischen Situation weiter zu klären.
5. Das homiletische Kommunikationsmodell Im Interesse einer genaueren Beschreibung der pastoralen Predigtarbeit hat Lange die systematisch-theologische, gleichsam "dialektische" Gegenüberstellung von "Verheißung und Auftrag" der Predigt in eine Unterscheidung überführt, die am zwischenmenschlichen Kommunikationsprozeß selbst ablesbar sein soll. Die Aufgabe des Predigers besteht dann in einer bestimmten "Verständigungsbemühung": "Die Verheißung dieser Verständigungsbemühung ist das Einverständnis und die Einwilligung des Glaubens in das Bekenntnis der christlichen Kirche, daß Jesus Christus der Herr sei; und zwar in der zugespitzten Form, daß er sei mein Herr in je meiner Situation. Der homiletische Akt verfügt nicht über diese seine Erfüllung. Er hat aber
83
ZTP 49; Hervorhebung J.H.,
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ein [...] erreichbares Ziel, er hat eine Funktion. Seine Funktion ist die Verständigung mit dem Hörer über die gegenwärtige Relevanz der christlichen Überlieferung."84
Die Unterscheidung von erreichbarer Verständigung und unverfügbarem Einverständnis nimmt hinsichtlich der homiletischen Kommunikation den funktionalen Ansatz bei der Situation derer auf, denen diese Kommunikation gilt: Nur in strikter Orientierung an dieser Situation kann die Predigt ihrem Auftrag gerecht werden. Zugleich kommt auch hier die pastorale Perspektive Langes zum Ausdruck: Die Predigt wird als ein Kommunikationsprozeß verstanden, für den der Prediger in klar definierter Weise Verantwortung trägt. Dies entlastet ihn zugleich davon, das verheißene, aber unverfügbare Einverständnis des Glaubens zur Norm seiner Arbeit machen zu müssen. Die aus dieser Unterscheidung resultierende Beschreibung der Predigtarbeit als methodischer Erschließung der homiletischen Situation ist jedoch von verschiedenen Autoren kritisiert worden: Bohren etwa verdächtigt Lange als "homiletischen homo faber, der nun eine Anleitung erteilt, wie der Prediger die Situation in den Griff bekommt [...]. Und nimmt den Prediger, der Lange folgt, nicht vielmehr die Situation in den Griff?" 85 Auch Josuttis meint, der Prediger werde durch die "Doppelrolle", Anwalt der Überlieferung und der Hörersituation zu sein, in seiner Identität gefährdet (1978, 23). Die Anfragen zielen darauf, daß die funktionale Bindung an die Situation der Hörer den Prediger, gegen Langes eigentliche Intention, nicht entlastet, sondern vielmehr überfordert. In der Tat bringt die oben zitierte Passage ein sehr anspruchsvolles Verständnis der pastoralen Kommunikation zum Ausdruck. Ihr Ziel ist nämlich erst dort erreicht, wo die Verständigung über die Situationen der Hörenden vollständig und für alle Beteiligten befriedigend gelungen ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist der homiletischen Kommunikation das Einverständnis des Glaubens verheißen. Langes pastoraltheologische Auslegung der "dialektischen" Differenz im Predigtbegriff impliziert also eine bestimmte logische Beziehung: Die menschliche Verständigung ist, vom Prediger aus gesehen, dem durch das göttliche Wort bewirkten
84
ZTP 20; vgl. 1965b, 322-324; ZTP 19f.36f.49f. Bohren 1981, 425. Den Anspruch einer den Hörer völlig zufriedenstellenden Situationsdeutung durch den Prediger haben auch andere kritisiert, vgl. Hasselmann 1977, 137f; Jörns 1982, 147; Möller 1982, 376f. 85
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Glauben vorgeordnet. Die hierin liegende Gefahr der Überlastung zeigt sich in einer Passage, in der Lange den Auftrag des Predigers durch ein Selbstgespräch hinsichtlich eines "unkirchlichen" Hörers erläutert: "[D]as wäre doch die Aufgabe deiner Predigt, so vom Glauben zu reden, daß seine Relevanz für das Leben dieses Mannes unbestreitbar wird. Ob er dann glaubt oder nicht glaubt, sein Leben auf die biblische Verheißung gründet oder nicht, ist eine ganz andere Frage, die du nicht zu beantworten vermagst Aber daß er versteht, wie die Verheißung mit seinem Leben zusammengehört, wie sie die Wirklichkeit seines alltäglichen Lebens verändert, wenn er ihr traut, dafür bist du als Prediger haftbar. Genau das ist deine Verantwortung [...]" (AcR 55).
Bemerkenswert ist zunächst, daß eine solche Beschreibung des Predigtauftrags nun doch die neuzeitlich bedingte Differenz der Situationen des gottesdienstlichen Predigers und seiner Hörer vernachlässigt: Ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit und tendenziellen Unzugänglichkeit sollen die individuellen Lebenssituationen vom Prediger so erreicht werden, daß die "Relevanz des Glaubens unbestreitbar" wird. Nur dann hat der Prediger seine Aufgabe erfüllt. Auch in dieser Inkonsequenz dürfte Langes Interesse an der fortdauernden Legitimität der pastoralen Arbeit zum Ausdruck kommen. Schwerer wiegt allerdings die Beobachtung, daß diese strikt situationsbezogene Aufgabenstellung die Unterscheidung von Verstehen und Einverständnis im Grunde wieder aufliebt. Das Ziel der pastoralen Verständigungsbemühung besteht in dem Aufweis der "unbestreitbaren" Bedeutung des Glaubens für die jeweilige Lebenssituation. Was damit faktisch der Predigt zugemutet wird, ist jedoch nichts weniger als die Aufhebung der Anfechtung, wird diese doch als Erfahrung der Irrelevanz der Verheißung für die gegenwärtige Situation beschrieben. Der Gegenstand der Verständigung, eben der Zusammenhang von Verheißung und Situation, ist auf diese Weise identisch mit dem Ergebnis der unverfügbaren "Einwilligung". Der exklusive Bezug des Verstehensprozesses auf die spezifische Lebenswirklichkeit des Hörers macht nun doch, gegen Langes ausdrückliche Absicht, die gelingende, Glauben weckende Predigt zur Norm der pastoralen Arbeit. Das zitierte Selbstgespräch ist auch insofern aufschlußreich, als der für den Prediger nicht verfügbare Glauben des Hörers ausdrücklich als ein Handeln beschrieben wird, als ein bewußtes "Gründen" des Lebens auf die Verheißung. Daß der von der Predigt kommunikativ vorbereitete 216
Glaube primär eine Erfahrung darstellt, gerät hier, aus der Sicht des Predigers, vollkommen aus dem Blick. Offenbar resultiert die gleichsam aktivische Auffassung des Glaubens aus eben dieser pastoralen Perspektive: Da der Prediger für die vollständige Verständigung über die Situation verantwortlich ist, kann das Ergebnis dieser Kommunikation noch nicht der unverfügbare Glaube sein. Dieser muß vielmehr jenseits der pastoralen Deutung der Situation liegen, eben in einem - nun als bewußte Entscheidung verstandenen - "Einverständnis" der Hörer. Die genannten Unscharfen des homiletischen Kommunikationsmodells verdanken sich nicht zuletzt einer widersprüchlichen Sicht des Verstehensprozesses selbst. Aktiv zu verantwortende Aspekte der Kommunikation vermischen sich in Langes Erörterungen mit den Elementen rezeptiver Erfahrung wie dem "Einverständnis" oder, auf der pastoralen Seite, dem "Predigteinfall". Allerdings ist der Begriff des Verstehens auch in der systematisch-theologischen Diskussion der Zeit höchst umstritten, zumal er mit grundsätzlichen Hypotheken, etwa hinsichtlich des "Anknüpfungspunktes", belastet wird86. Langes verdienstvoller Versuch, jenen theologisch überforderten Begriff am Phänomen der homiletischen Kommunikation selbst zu präzisieren, ist unter diesen Voraussetzungen mit kaum lösbaren Schwierigkeiten konfrontiert. Gerade mit den skizzierten Spannungen kommt in Langes Auffassung des homiletischen "Verstehens" jedoch eine pastorale Sicht der Predigtarbeit zum Ausdruck, die zugleich deren Orientierung auf die "homiletische Situation" der Hörer ernst nimmt. Die Verbindung dieser beiden Aspekte muß zunächst zu einer Auffassung des Predigtgeschehens als eines aktiven, von den Beteiligten selbst zu verantwortenden Kommunikationsprozesses führen. Wird die Arbeit des Predigers allerdings als eine methodische Bemühung um die Situation der einzelnen Hörenden beschrieben, so kann seine eigene, berufliche wie geistliche Situation kaum noch expliziert werden. Es spricht für Langes Orientierung an der faktischen Erfahrung mit der Predigt, daß er gleichwohl die rezeptiven Elemente dieses Kommunikationsprozesses zur Sprache bringt. In der Beschreibung der Klärung und
86 Vgl. die Ausführungen oben im Abschnitt C.3 des Ersten Teils. Auf Langes Abhängigkeit von den einschlägigen Debatten zwischen Bultmann und Barth weist Schröer hin (Lubkoll/Schröer 1983 , 202).
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des Predigteinfalls erscheint die Predigt nun doch auch als die Kommunikation einer Glaubenserfahrung, die den Prediger exemplarisch von der Anfechtung zur Verheißung führt. Auch in dieser Perspektive jedoch bleibt die subjektive Leistung des Predigers, die Erschließung der Verheißung in der homiletischen Situation, im Grunde unthematisch - ähnlich wie das schon bei Iwand und Mezger festzustellen war. Langes homiletisches Kommunikationsmodell verdankt sich zwar insgesamt dem Interesse an einer Beschreibung und Klärung der pastoralen Predigtarbeit. Zugleich jedoch gerät auch hier die Person des Predigers in den Hintergrund, insofern sie entweder lediglich als Ort eines passiven Glaubens erscheint oder - und dies ist die stärkere Linie - ausschließlich in ihrer Funktion hinsichtlich einer Situation der Hörer in den Blick kommt, die eben nicht ihre eigene ist. Auch der theologisch vertiefte funktionale Ansatz kann die Predigtarbeit nicht soweit klären, daß sie als spezifische berufliche Leistung des Predigers beschreibbar wird87.
6. "Verheißung" als homiletischer Leitbegriff Ungeachtet der im letzten Abschnitt skizzierten Probleme ist es Lange offenbar gelungen, die Homiletik nachhaltig in Bewegung zu bringen. Dabei ist die vorliegende Untersuchung davon ausgegangen, daß Langes Wirkungsgeschichte weder als reine Verfallsgeschichte88 noch lediglich als Ergebnis produktiver Mißverständnisse zu verstehen ist, sondern auf eine bestimmte konstruktive Perspektive zurückgeht. Die Erörterung seines Beitrags soll darum anhand der Frage zusammengefaßt werden, worin die theologische Eigenart dieses Entwurfs besteht.
87 Auch Schröer stellt fest, daß Lange die "personale Vermittlung" im Rahmen der Predigtarbeit nur andeutet, sie sich aber "in seinen Schriften zur Predigtvorbereitung nicht niedergeschlagen hat" (Lubkoll/Schröer 1983, 205). Die weitere Diskussion zwischen Schröer und Lubkoll demonstriert den engen Zusammenhang dieser Frage mit der Berücksichtigung der Situation: "Meine Lebenssituation provoziert mich zu einem bestimmten Glauben" (aaO. 215.220; vgl. 211). - Zur Rolle des Predigers bei Lange vgl. kritisch auch Hasselmann 1977, 153. 88 Dazu neigt besonders Bohren: "Ich lese ihn [Lange] angesichts einer galoppierenden kerygmatischen Schwindsucht auf vielen Kanzeln [...]" (1981, 416). Auf die hermeneutische Fragwürdigkeit der Identifikation eines Autors mit seiner Wirkungsgeschichte wird bei P.Krusche 1981, 432f und Schloz 1982, 194f hingewiesen.
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Die vorstehenden Ausführungen haben nun zunächst das Urteil von F.Krotz bestätigt, daß Langes pastoraltheologischer Ausgangspunkt das "Herzstück seines homiletischen Neuansatzes" darstellt (Krotz 1980,15): Lange geht aus von den pastoralen Defiziterfahrungen hinsichtlich der Predigtarbeit und ihrer Wirkung und erreicht bereits dadurch eine Entlastung der Prediger, daß er die institutionelle Bedingtheit dieser Erfahrungen durch den neuzeitlichen Funktionswandel der Parochie beschreibt. Es ist diese pastoraltheologische Orientierung, die die Situation der Hörer in den Vordergrund treten läßt: Die konkrete pastorale Predigtarbeit wie ihr kommunikativer Rahmen in der Gemeindearbeit können präzise als Erschließung eben jener Situation beschrieben werden. Die heftige Kritik, die Bohren 1981 an Lange geübt hat, konzentriert sich darum vor allem auf die zentrale Stellung dieses Begriffs. "Am Anfang war die Situation, die 'Verheißung' wird nachgeschoben" (1981, 423). Das gelte sowohl für Langes Ausgangspunkt bei - unzulässig generalisierten - Mißständen der Predigtpraxis (vgl. aaO. 42 lf) als auch für seine Konzentration auf die Situation der Hörer. Die Reduktion der Predigtarbeit auf eine Erschließung dieser Wirklichkeit atomisiere die Gemeinde zu einzelnen Hörern und zementiere die Bindung des Predigers an ein mythologisch verfestigtes "Heute", dessen kritische Veränderung durch die Predigt damit ausgeschlossen sei (428f)· Bohren hat seine zahlreichen Bedenken darauf zurückgeführt, daß Lange sich vom dogmatischen Predigtbegriff abgekoppelt und die Predigtarbeit als ein theologisch unkontrolliertes, lediglich am Effekt orientiertes "Hantieren" beschrieben habe. Im Laufe der Untersuchung hat sich jedoch, entgegen Bohrens Polemik89, immer wieder herausgestellt, daß Lange seine homiletischen Arbeiten durchgehend theologisch strukturiert, indem er einerseits Elemente der zeitgenössischen, prinzipiell orientierten Homiletik aufnimmt und sich andererseits der begrifflichen Mittel bedient, die er bereits bei seiner Deutung der parochialen Situation herangezogen hat. Entgegen seinen eigenen, mißverständlichen Äußerungen verzichtet Lange keineswegs auf eine theologische Reflexion, auch wenn er die dabei leitenden Konzepte nur selten ausdrücklich macht.
89 Neben P.Krusche (1981) hat besonders Schröer die zahlreichen Unzulänglichkeiten von Bohrens Attacke genannt (Lubkoll/Schröer 1983, 199-204).
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Bereits Krotz hat in seiner Rekonstruktion der "homiletischen Theorie Ernst Langes" (1980) nachzuweisen versucht, daß diese Theorie durch den Terminus der "Verheißung" bestimmt ist90. In der Tat läßt sich zeigen, daß Lange mittels dieses Begriffs nicht nur die Predigtaufgabe, sondern auch das Verfahren der Predigtarbeit einer theologischen Deutung unterzieht. Schließlich erscheint auch die homiletische Situation selbst als eine Größe, die gerade "im Licht der Verheißung" für die Predigtarbeit Bedeutung bekommt. (a) Im Blick auf die Predigtauf gäbe hat Lange auf Barths Definitionen zurückgegriffen. Die Verheißung der Predigt, als Wort Gottes den Glauben der Hörer zu schaffen, steht für Lange allerdings im Kontext der Kirche und ihres Auftrags, "bei der Verheißung [zu] bleiben" (vgl. CdA 11 Off)· Auf diese Weise ergibt sich, wie Krotz aufgewiesen hat, eine von Lange nur angedeutete - dogmatische Begründung der Predigtaufgabe: Die Gewißheit der "Verheißungsfülle" der Wirklichkeit qualifiziert den Verständigungsauftrag des Predigers als einen selbst verheißungsvollen: "Die Verheißung, die der Predigt gegeben ist, und die Verheißung, die sie verständlich machen soll, sind dasselbe Evangelium" (Krotz 1980, 23). Die Bestimmung der Predigt durch den Begriff der Verheißung leistet zugleich, ähnlich wie bei Barth, eine Begrenzung dieses Auftrags: Die Erfüllung der Verheißung, die der Predigt gegeben ist, nämlich das "Einverständnis des Glaubens" in den durch Christus verbürgten Verheißungscharakter der Wirklichkeit (ZTP 20), kann und darf von der Predigt als pastoraler Bemühung nicht erwartet werden; die dogmatische Bestimmung der Predigt hat die Aufgabe einer "Entdramatisierung" der Predigtaufgabe91. Der Begriff der Verheißung ermöglicht Lange schließlich nicht nur die Begründung und Begrenzung, sondern auch - über die zeitgenössische Homiletik hinausgehend - die Präzisierung des Predigtauftrags, und zwar mit dem Hinweis auf die homiletische Situation. Durch die Differenz zwischen geglaubter Verheißung und erfahrener Anfechtung wird der Prediger zu einer "Klärung" der Situation herausgefordert. Die Predigt erhält
90 Diese These hat im Rahmen seiner Fragestellung auch Liedtke aufgenommen (1987, 189ff). 91 ZTp 36. Diese Intention teilt Lange im übrigen nicht nur mit Trillhaas (s.o.A.2), sondern auch mit Barth selbst, wie W.Fürst nachdrücklich betont hat (Fürst 1956, 144).
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ihren theologischen Ort im Rahmen von Langes Überzeugung, daß die "Sprache der Tatsachen" zwar zunächst gegen den Glauben spricht, dennoch aber vom Glauben "zum Zeugnis für die Verheißung aufgeboten" werden kann und muß (vgl. CdA 180-189). In dieser Hinsicht erscheint die Predigtarbeit auch für Lange als ein paradigmatischer Vollzug des Glaubens. (b) Lange hat sich bemüht, das homiletische Verfahren durch den Rekurs auf pastorale Erfahrung zu bestimmen. So ist die Beschreibung des "Verstehenszirkels" zu sehen, und ebenso der Verweis auf den Predigteinfall, der die weitere Verständigung mit den Hörenden bestimmt. Auch das Verständigungsziel formuliert Lange im Blick auf das Phänomen der menschlichen Kommunikation, wenn er formal von der "Relevanz", der überprüfbaren Bedeutung der homiletischen Bemühung in der Situation der Hörer spricht. Gleichwohl ist dieses Ziel für Lange auch theologisch qualifiziert: Es muß der Predigt um die erneute Plausibilität der Verheißung gehen, die in der Überlieferung des konkreten Predigttextes aufbewahrt ist. Im homiletischen Akt vertritt der Text den situationsübergreifenden Anspruch der Christusverheißung (vgl. CdA 106ff), die zugleich darauf zielt, in jeweils neuen Situationen relevant zu werden. Für das Verständnis des Predigtverfahrens ist es nun jedoch von Bedeutung, daß Lange nicht einfach "Tradition" mit "Verheißung" und "Situation" entsprechend mit "Anfechtung" identifiziert. Das Konfliktgeschehen der Predigtarbeit läuft für ihn keineswegs auf ein Geltendmachen der Tradition im Widerspruch zur - theologisch damit abgewerteten - Situation hinaus, sondern vollzieht sich als ein Prozeß der wechselseitigen Differenzierung beider Größen. Erst diese Konfrontation macht sowohl den Verheißungscharakter der Überlieferung als auch die Verheißung der Gegenwart erkennbar. Das Ziel des Verstehenszirkels besteht in einer Erschließung der biblisch bezeugten Verheißung in ihrer Geltung für die jeweilige Situation. Der Glauben an die im Text bezeugte Verheißung wird von Lange also nicht als notwendige Voraussetzung der Predigtarbeit begriffen, wie das etwa Bohren fordert (1981, 425). Vielmehr geschieht die Vermittlung von Verheißung und vorfindlicher Situation durch ein Verstehen, das den Glauben des Predigers allererst konstituiert und ihn damit in die Lage versetzt, jene Erfahrung auch im Hinblick auf die Situation der Hörer verständlich zu bezeugen.
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(c) Auch die homiletische Situation selbst ist von Lange in erster Linie mittels des Verheißungsbegriffes gedeutet worden. Die Anfechtung, die dieser Situation aus der Perspektive des Predigers eignet, läßt sich ja nur verstehen als Moment eines Prozesses, der von einer vorgängigen Erfahrung der Verheißung ausgeht: Die Gewißheit des Glaubens, daß seine Wirklichkeit unter der kommenden Herrschaft Gottes steht, wird in den konkreten Lebenssituationen zweifelhaft und schließlich zur Anfechtung. Die homiletische Situation konstituiert sich dadurch, daß der bedrohte Glauben auf ein "neues Wort" der Verheißung angewiesen ist. Die entscheidende konstruktive Leistung von Langes homiletischem Entwurf besteht nun darin, auch die pastorale Erfahrung mit der Predigtarbeit in diesen eigentümlichen Deutungshorizont einzubeziehen. Der Auftrag des Predigers, im Namen der Kirche die Verheißung zu bezeugen, muß ihn selbst in die konkreten Erfahrungen seiner Hörer führen. Das Muster von Verheißung, Glaubensauftrag und Anfechtung, das für die Situation des Hörers kennzeichnend ist und das die Herausforderung des Predigers konstituiert, wird dann im Verlauf der Predigtarbeit zur Situationsbeschreibung des Predigers selbst. Es ist diese Strukturgleichheit zwischen der Erfahrung der Predigt für den Hörer und ihre Erarbeitung durch den Prediger, die es ihm allererst erlaubt, die Verheißung nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Situation seiner Gemeinde verständlich zu machen. Das theologische Konzept der Verheißung, so läßt sich zusammenfassen, ist für Langes homiletischen Entwurf von fundamentaler Bedeutung. Das systematisch-theologische Verständnis der Predigt als Kommunikation der Verheißung formuliert den Anspruch der Predigt und benennt zugleich die pastorale Aufgabe der Predigtarbeit, ohne die damit verbundenen, ambivalenten Erfahrungen zu vernachlässigen. Im impliziten Anschluß an die homiletische Tradition orientiert Lange die Predigtarbeit dadurch, daß er seine anhand des Verheißungsbegriffs strukturierte Deutung der Wirklichkeit des Glaubens nicht nur für die Situation der Hörer heranzieht, sondern die pastorale Situation als deren exemplarischen Fall bestimmt. Es ist gerade nicht der Verzicht auf eine theologische Deutung der Situation, sondern ihr Verständnis als eine von der Verheißung geprägte und auf Verheißung angewiesene Wirklichkeit, das ihre zentrale Stellung in Langes homiletischen Arbeiten begründet.
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D. Varianten der pragmatisch-empirischen Wende zur homiletischen Situation
Die Frage nach der "homiletischen Situation" ist für die 60er Jahre bisher vor allem durch die Rekonstruktion von Ernst Langes Überlegungen bearbeitet worden. Es hat sich gezeigt, daß die homiletischen Texte integraler Bestandteil seiner Hinwendung zur beruflichen wie zur allgemeinchristlichen Erfahrung sind, und zwar zur Erfahrung mit dem kirchlichen "Normalfall" der Ortsgemeinde. Insofern gehören Langes Arbeiten in den praktisch-theologischen Kontext der "Wende zur Erfahrungswelt", die die vorwiegend systematisch-theologische Reflexion des kirchlichen Handelns ersetzt durch eine Orientierung an der pastoralen Praxis und an der jeweiligen konkreten Wirklichkeit, der diese Praxis gelten soll. Dabei zeigt die Untersuchung Langes, daß die "pragmatisch-empirische Öffnung" (Grab 1988, 11.13 u.ö.) der Predigtlehre das Thema der homiletischen Situation in den Vordergrund rückt, verschränken sich hier doch die Fragen der beruflichen Arbeit des Predigers mit der Wirklichkeit, auf die seine Predigt zielt. So verwundert es nicht, daß sich anhand dieser Fragestellung auch andere zeitgenössische Predigtauffassungen erschließen lassen, von denen hier drei vorgestellt seien. Gegenüber den bisher im Zweiten Teil betrachteten Texten erweitern diese Entwürfe die Perspektive auf die homiletische Situation vor allem in einer Hinsicht: Während Lange die empirische Wende vorwiegend mittels religions- und kirchensoziologischer Theoreme vollzieht und diese einer strikten theologischen Kontrolle unterwirft, haben andere Autoren in viel stärkerem Maße nicht-theologische Kategorien, besonders der Sozialund Kommunikationswissenschaften herangezogen. Predigt und Predigtlehre geraten damit regelmäßig in den umfassenden Kontext einer gleichsam empirischen, nicht immer theologisch durchreflektierten Theorie des kirchlichen Handelns. Dieser Horizont bestimmt nicht zuletzt die Perspektive auf die homiletische Situation.
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Um den systematischen Vergleich zu erleichtern, orientiert sich die folgende Darstellung nicht am inneren Argumentationsgefälle der Autoren, sondern an einer einheitlichen Gliederung: Zunächst wird nach den jeweils eigentümlichen außertheologischen Zusammenhängen gefragt, von denen aus die Predigt in den Blick kommt. In einem zweiten Schritt wird der theologische Hintergrund skizziert, der jene Rezeption leitet. Denn hinsichtlich der Wirklichkeitsauffassung läßt sich regelmäßig eine Kontinuität mit den bisher herausgearbeiteten, systematisch-theologischen Grundmustern namhaft machen. Schließlich wird nach den Konsequenzen gefragt, die sich aus jenen theologischen wie außertheologischen Prämissen für das Verständnis der homiletischen Situation und ihrer Erschließung in der Predigtarbeit ergeben.
I. Die Fraglichkeit der homiletischen Situation als Grund ihrer kybernetischen Erschließung: Hans-Dieter Bastian
Energischer als die meisten seiner praktisch-theologischen Kollegen hat H.-D.Bastian (*1930) eine empirisch-kritische Reflexion des kirchlichen Handelns gefordert. Dementsprechend hat er in seiner Programmschrift "Theologie der Frage" (1969), aber auch in zahlreichen Aufsätzen erfahrungswissenschaftliche Theorien und Resultate in großer Breite aufgenommen. Auch wenn seine "kybernetische" Reformulierung der Praktischen Theologie keine Weiterführung gefunden hat, sind seine Arbeiten doch mindestens in dem hier betrachteten Zeitraum als gewichtige kritische Beiträge, auch zur Homiletik, rezipiert worden1. Bastians Orientierung an der kommunikativen Praxis der Kirche und an "der Wirklichkeit des Kerygma-Empfängers" (1965, 6) hat allerdings nicht selten übersehen lassen, daß seine Aufstellungen im Grunde nur aus einer bestimmten
1 Bastian wurde vermutlich auf Grund seiner programmatischen Schrift "Verfremdung und Verkündigung" (1965) zur Gründungstagung der "Predigtstudien" eingeladen und hielt dort ein Referat zum Thema "Homiletik und Informationstheorie" (Bastian 1968b). Außer in den beiden genannten Texten hat sich Bastian, der seit 1960 Dozent für Religionspädagogik gewesen ist, zwar nicht ausführlich zur Predigtlehre geäußert. Mehrmals dienen ihm jedoch homiletische Erörterungen als praktisch-theologisches Paradigma; vgl. etwa Bastian 1968c, 341 f; 1968d, 50ff; 1969, 318ff.
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theologischen Perspektive verständlich werden. Auch Bastians Auffassung der homiletischen Situation erscheint als eine in gewisser Weise konsequente Weiterführung von Ansätzen, die bereits bei Iwand und Mezger zu finden sind.
1. Die Rezeption der Kybernetik Unter dem Titel "Vom Wort zu den Wörtern" hat Bastian 1968 sein Programm der Praktischen Theologie als Abkehr von K.Barths Konzentration auf das Wort Gottes formuliert. Dieser Ansatz hat laut Bastian zwar zur "pastoraltheologischen Vergewisserung" der Pfarrer beigetragen (1968d, 26), indem die dogmatische Gewißheit des Wortes von eigener Verantwortung für die "Wörter" der Verkündigung entlastet. Praktisch ist mit dieser assertorischen Begründung jedoch ein Verlust an Wirklichkeit verbunden. Die inhaltlich korrekte Verkündigung erweist sich weithin als wirkungslos, und zwar aus dogmatischen Gründen: Die praktische Irrelevanz des kirchlichen Handelns ist Resultat einer Theologie, die den Kontakt zur Hörerrealität nicht ernst nimmt (vgl. aaO. 28f). Aus dieser weit verbreiteten Diagnose zieht Bastian den Schluß, die Reflexion der pastoralen Praxis von ihrer dogmatischen Begründung abzukoppeln: "Der stets aktuelle Widerspruch zwischen der dogmatischen Prätention und der empirischen Praxis kann theologisch überhaupt niemals geschlossen oder bewältigt werden. Er ist auferlegt nicht als Alibi, sondern als Aufgabe" (aaO. 55). Da diese Praxis von der Kirche selbst zu verantworten ist, muß sie um der Wirkung der Verkündigung willen auf die "letzte theologische Gewißheit" verzichten; die Praktische Theologie ist methodisch darauf angewiesen, "das kirchliche und theologische Handeln unter einen empirischen Erkenntnishorizont zu stellen" (aaO. 29). Es sind vor allem Informationstheorie und Kommunikationswissenschaft, die Bastian in immer neuen Anläufen als einen solchen Horizont entfaltet2. Dabei läßt die Fülle der - nicht immer widerspruchsfrei referierten - Fakten, Begriffe und Theorien eine dreifache Absicht erkennen.
2 Vgl. Bastian 1968a; 1968c; 1971; aufschlußreich ist besonders Bastians letzter einschlägiger Buchtitel: "Kommunikation. Wie christlicher Glaube funktioniert" (1972).
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Zum einen ist Bastian an einer detaillierten Analyse des kirchlichen Handelns gelegen, das sich faktisch bereits einer großen Vielfalt von kommunikativen Medien bedient. Empirisch soll geklärt werden, unter welchen Bedingungen dieses Handeln jeweils steht, welche Wirkung es hat und worin seine Grenzen bestehen. So weist Bastian etwa auf die technisch-medial bestimmte Struktur der "Öffentlichkeit" hin, der gegenüber die Praktische Theologie sich als "Publizistik" (aaO. 35) etablieren muß, oder er untersucht die Bedeutung der Frage als eines "kommunikationstheoretischen Mikrozustandes" (1969,11). Diese empirische Analyse der kirchlichen Praxis ist nun zum zweiten durchgehend interessiert an deren Wirkung. Darum rezipiert Bastian die von B.Brecht entwickelte Theorie der künstlerischen "Verfremdung": "Die Verfremdung will eine Bewegung auslösen, die über das Ende der dramatischen Rede hinausgeht [...]" (1965, 17). Diese Wirkung wird dadurch erzielt, daß das bisher Selbstverständliche sich in einer fremdartigen, übeiTaschenden Perspektive präsentiert. Der "Verfremdungs-Effekt" erschließt die bekannte Erfahrungswelt in neuer Weise und schärft damit das Bewußtsein, daß die vorgegebene Wirklichkeit veränderbar ist. In der Bereitschaft der Angesprochenen, für diese Veränderung aktiv einzutreten, ja wirksam zu "kämpfen" (vgl. 18f)> kommt die verfremdende Rede, auch die verfremdende Verkündigung, zum Ziel. Auch Bastians Aufnahme des Begriffs der Information soll der Effizienz der Verkündigung dienen. Er begreift "Information" als eine eindeutige und überraschende Mitteilung, die für den Empfänger von Wichtigkeit ist. Kirchliche Rede darf sich nicht damit begnügen, längst Bekanntes "redundant" zu wiederholen, sondern muß als "gezielte Information" gestaltet werden, "um aufmerksam zu machen, zu betreffen und Wirklichkeit zu verändern" (aaO. 31, vgl. 1972, 93ff). Das Interesse an Verfremdungs- und Informationstheorie verdeutlicht, daß Bastian den Auftrag der Verkündigung als das Erzielen einer Wirkung begreift. Die Gleichnisse Jesu sind das Vorbild der Verkündigung, weil sie "die ideale Pointe der Rede in reale Wirkung bei den Hörern" umsetzen (41). Ungeachtet aller Modifikationen wird hier an der Grundstruktur der Wort-Gottes-Theologie festgehalten: Das Wort Gottes zielt auf eine bestimmte Situation, in der es zur Wirkung kommen soll, und die Verkündigung dient diesem Geschehen. Auf diese Weise erscheint die kirchliche Praxis aber gerade bei Bastian als Einweg-Kommunikation·, 226
die Konzentration auf die Wirkung schließt einen selbständigen Beitrag der Hörenden zum Sinngehalt dieser "Information" systematisch aus. Umso mehr hebt Bastian allerdings einen dritten Aspekt der Kommunikationswissenschaften hervor, der sich mit dem Thema der "Kybernetik" verbindet: Er versteht Kybernetik als eine "Theorie aller Wirkungsgefiige" hinsichtlich ihrer Steuerung durch die Handelnden selbst (vgl. 1968c, 337). Durch die Analyse der jeweiligen "Regelkreise" soll es auch in der kirchlicher Praxis möglich werden, "Störungen in Kommunikationsprozessen zu erkennen und nach Möglichkeit zu beseitigen" (aaO. 333). In diesem Zusammenhang weist Bastian auf den Modellgedanken hin: "Das Denken im Regelkreis lehrt uns, die Auseinandersetzung mit der vielfältigen Wirklichkeit so zu gestalten, daß Modelle des Handelns konzipiert [...] werden, welche diese selbst zum Zwecke der Kontrolle spielerisch vorwegnehmen" (1968d, 48; vgl. 1972, 31ff). Die Wirkung der Praxis wird zu einer optimierbaren Größe, die der Gestaltung der Handelnden aufgegeben ist. Nimmt man die drei skizzierten Motive für die Rezeption der Kybernetik und anderer "empirischer" Theoreme zusammen, so ist deutlich, daß Bastian nicht allein auf eine neuartige Reflexion des kirchlichen Handelns zielt, sondern im Grunde auf den methodischen "Kontakt zur technisch-industriellen Gegenwart" (Bastian 1968, 334): Als interdisziplinäre Leitwissenschaft der analytisch-technischen Weltbewältigung scheint die Kybernetik auch für die Theologie unumgänglich, wenn diese von gesellschaftlicher Bedeutung bleiben will. Es ist die konsequente Orientierung am neuzeitlichen Umfeld des kirchlichen Handelns, die Bastians Schriften ihr eigentümliches Pathos verleiht3. Auch Bastians Entfaltung des Kommunikationsbegriffs ist durch das genannte Interesse geprägt. Weil die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit auf Vermittlung von Information und Wirkung beruht, erhält "Kommunikation", der "Kontakt durch Information", den Rang einer fundamentalen Kategorie (1971, 9; vgl. 1972, 7ff). Auch die kirchliche Praxis ist als "Kommunikation" zu beschreiben, die auf die Wirklichkeit ihrer Adres-
3
H.Balz sieht hier den exemplarischen Ausdruck einer "doppelten Loslösungsbewegung der europäischen Großkirche: Ablösung von der Kirche in der übrigen Welt durch Orientierung auf die anderen westlichen Teilsysteme der Gesellschaft und Kultur; und Ablösung von der Vergangenheit der Kirche durch konsequente Anpassung an die System-Gegenwart, die durch ihren Erkenntnisstand zugleich zeitlos ist" (Balz 1978, 30).
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säten zielt und in ihrer Wirkung der Analyse und Regelung durch die Kommunizierenden vollständig zugänglich ist. Zugleich verbürgt diese Beschreibung die adäquate Erschließung der technisch bestimmten Wirklichkeit selbst: Als "Kommunikation" ist das kirchliche Handeln Teil des Wirkungs- und Vermittlungszusammenhangs, der die moderne Gesellschaft im ganzen prägt.
2. Die theologische Kontinuität im Wirklichkeitsverständnis Indem Bastian die Praktischen Theologie kybernetisch reformuliert, erscheint das Verhältnis der kirchlichen Praxis zur Wirklichkeit in zwei verschiedenen Hinsichten, die sich mit den Begriffen "Funktion" und "Information" charakterisieren lassen. Die kirchliche Praxis steuert sich zum einen funktional, nämlich durch ihre faktische Wirkung, und erscheint damit lediglich als eine Variante menschlicher Kommunikation. Zwar ist ihr Gegenstand das unverfügbare Wort Gottes, aber diese dogmatisch vermittelte Selbstvergewisserung muß von der kybernetischen Betrachtung ausgeklammert werden. Bastians Ausführungen reduzieren sich auf diese Weise, wie G.Harbsmeier bemerkt hat, auf "ein rein formales Postulat der Effektivität kirchlichen Handelns"4. Auf der anderen Seite hat Bastian jedoch die Differenz der kirchlichen Praxis zu anderen Kommunikationsformen durchaus markiert, indem er den Glauben als Information und damit als Kritik des Vorfindlichen, Selbstverständlichen einführt: Kybernetisch beschrieben "ist der Glaube wohl mehr Frage als Antwort, mehr Information als Redundanz, mehr Überraschung als Wiederholung" (1969, 194). Weil "das Evangelium, Gottes menschenfreundliche Nachricht, die Dauerstörung der Gesellschaft provoziert hat und weiter provozieren will" (1971, 71f), kommt die Kommunikation des Glaubens nur in der Veränderung der gegebenen, gegenwärtigen Wirklichkeit zum Ziel. Diese Überlegungen erinnern nun nicht zufällig an eine bereits bei Iwand gefundene Struktur: Das Wort Gottes zielt in der Verkündigung 4 Harbsmeier 1968, 314. Harbsmeier hat auch die entscheidende Differenz markiert: "[D]as Reden und Handeln der Kirche ist wohl den Bedingungen unterworfen, die das Handeln der Welt- und Selbstbewältigung sich geschaffen hat, aber es ist nicht auf Selbst- und Weltbewältigung aus, es will nicht 'bewältigen'" (aaO. 311).
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auf die gegenwärtige menschliche Wirklichkeit; und zwar so, daß diese durch die Konfrontation mit dem Wort verändert, ja verwandelt wird. Das Ineinander von intensivem Bezug auf die vorfindliche Realität und ihrer kritischen Aufhebung wird in Bastians "Kommunikationstheologie" radikalisiert: Nur als "funktionale", als technisch perfektionierbare Kommunikation kann die Verkündigung die Gegenwart erreichen - aber wiederum nur, um sie durch "Information" fundamental in Frage zu stellen5. Daß Bastians Überlegungen das traditionelle theologische Verständnis der Wirklichkeit zugrundeliegt, läßt auch ein Vortrag mit dem programmatischen Titel "Glauben ist anders" erkennen6. Er setzt bei der gängigen Auffassung ein, daß der Gottesglaube im Widerspruch zum "Jahrhundert der technischen Wissenschaft" (aaO. 11) stehe: "In unserer Welt kommt Gott schlechterdings nirgendwo vor" (15). Damit gewinnt Bastian den Anschluß an das "atheistische" Selbstverständnis der Moderne; zugleich wendet er den Gegensatz von Wirklichkeit und Glauben jedoch positiv: Der Grund des Glaubens, "Gottes souveräne Wirklichkeit" (aaO. 33), steht der Welt kritisch gegenüber: "Von Gott kann kein Mensch von sich aus reden. [...] Die Vollmacht, mitten in einer gottlosen Welt an Gott zu glauben, vermittelt allein das Wort Gottes" (15). Die Spannung von Welterfahrung und Glaubensgewißheit treibt die Glaubenden in das Gebet, in das Ringen um eine neue Gottesbeziehung. Der prinzipielle Gegensatz zwischen Erfahrungswirklichkeit und Glauben resultiert allerdings nicht in einer ausschließlich negativen theologischen Wertung des Vorfindlichen. Für Bastian korrespondiert der "aporetische Charakter" des Glaubens, wie er sich aus dem zwischen Zweifel und Gewißheit bewegten Gottesverhältnis ergibt, vielmehr mit der "offenen Fraglichkeit des Lebens" selbst7. Als permanentes Frage- und Kritikverhalten vermag der Glaube die Unabgeschlossenheit der Wirklichkeit so zum Thema zu machen, daß diese Offenheit zum Raum der "Ankunft Gottes" wird: "Daß wir im Fragen, im 'Qua re?' der aktuellen Welterfah-
5
Daß Bastian "sich durchweg in den Bahnen des herkömmlichen homiletischen Modells, im Rahmen der prinzipiellen Homiletik" bewegt, hat auch W.Steck herausgearbeitet (1974, 54f; vgl. 51). 6 Bastian 1968, 9-23. Der Titel dürfte formuliert sein in Anlehnung an das damals heftig diskutierte Buch von J.Robinson, Gott ist anders (Honest to God), München 1963. 7 Bastian 1969, 263.262; vgl. 253ff. In diesem Zusammenhang bezieht Bastian sich ausdrücklich auf Iwands Ausführungen zur Frage- und Suchstruktur aller theologischen Sätze; vgl. Iwand, NW 1, 251; dazu s.o. Erster Teil A.IV.l.
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rung, die Gottesfrage aushalten, das ist Glauben."8 Es ist der Charakter der Wirklichkeit als einer widersprüchlichen und anfechtenden Erfahrung, durch den der Glaube seine Bedeutung, seine "Funktion" erhält. In diesen Horizont stellt Bastian nun auch die Predigt: "Im Sinne einer homiletischen Didaktik ist eine Predigt dann 'gelungen', wenn sie den Hörer coram Deo zu der Frage stimuliert, die eine Gruppe [...] stellen muß, um in einer bestimmten Situation menschlich zu bleiben" (1969, 326). Die Predigt gewinnt ihre Relevanz dadurch, daß sie die Aponen der jeweiligen Situation aufzeigt und damit "verschlossene Wirklichkeit zu öffnen" versucht (ebd.). Allerdings droht diese Bestimmung selbst aporetisch zu werden: Das Ziel der Predigt besteht offenbar nicht im konstruktiven Umgang mit den Fragen der Gegenwart, sondern in ihrer Radikalisierung durch den Hinweis auf die stets selber fragliche Gottesbeziehung. Die Schwierigkeit, eine konstruktive Beziehung der Predigt zur homiletischen Situation zu entfalten, liegt offenbar in Bastians eigentümlicher Verhältnisbestimmung von Glaube und Wirklichkeit begründet: Indem der Glaube im Vertrauen auf Gott die Offenheit und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit zur Sprache bringt, erscheint er als eine dieser Wirklichkeit zutiefst entsprechende Haltung. Da Bastians Kommunikationstheorie die dogmatische Inhaltlichkeit jedoch ausblendet, erscheint der Glaube ausschließlich als eine solche Einstellung, als Haltung der Offenheit und der Kritik. Was er material, durch seinen Bezug auf das Wort, zur Erschließung der Wirklichkeit beizutragen hätte, muß offenbleiben, oder vielmehr: Jede solche Entfaltung wird sofort wieder in die allgemeine Fraglichkeit der Wirklichkeit einbezogen. Insofern ist C.Bizers Urteil zuzustimmen: "Da die Verheißung, selbst im Sog der Aporien, das Fragen als Glauben nicht nachvollziehbar zu begründen imstande ist, läßt sich dieser Glaube lediglich als habitus explizieren, der als fragendes Verhalten fraglos übernommen sein will" (Bizer 1972, 31). Die sachliche Parallele zu den im Ersten Teil untersuchten Ansätzen geht schließlich noch einen Schritt weiter. Von praktischer Bedeutung ist für Bastian nur der Auftrag des Glaubens, die Wirklichkeit zu verändern
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Bastian 1969, 320; vgl. aaO. 336: "Es ist die offene Warum-Frage von Golgatha, die den Menschen als Frage und alle Fragen des Menschen rechtfertigt. In der endlosen Weite dieses Warum? bewegt sich der Glaube, bis er wie Hiob fragend in die Frage Gottes fällt."
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bzw. in ihrer Fraglichkeit "offenzuhalten". Wie es jedoch zu diesem Glauben kommt, welche besondere Erfahrung ihn konstituiert, das kann kybernetisch nicht zum Thema werden. Auch bei Bastian verbindet sich der Verzicht auf eine konstruktive Entfaltung des Glaubens darum mit der Vernachlässigung des glaubenden Subjektes: Gibt es keine angebbare Erfahrung, die zu kommunizieren wäre, so wird auch das Subjekt unwichtig, das diese Erfahrung macht. Während Iwand das Subjekt des Glaubens immerhin negativ, als "Loch" und "Rahmen" in den Blick nimmt, verschwindet es bei Bastian hinter dem technischen Imperativ, mittels des effizienten "Zurechtmachens" des Wortes die Wirklichkeit zu erreichen.
3. Die Unterbestimmung der homiletischen Situation Im Horizont einer Praktischen Theologie als Kommunikationswissenschaft nimmt Bastian nun auch die Predigt wahr. Auch sie gilt als kommunikatives Geschehen, das der empirischen Analyse und Steuerung zugänglich ist. Mit diesem Predigtverständnis verfällt insbesondere die "Rede von der Eigenbewegung der Verkündigung", die nach Bastian "eine Art Transsubstantiation des Wortes in der Predigt" voraussetzt, einer heftigen Kritik (1965, 8f): Nicht der Text ist Subjekt der Predigt und ihres spezifischen Situationsbezuges, sondern der Prediger, der der "redundanten", selbstverständlichen Tradition eine neue, wirkungsvolle "Information" zu entnehmen hat. Bastian folgert, "daß das Wort zum Dienste des Menschen unbedingt zurecht gemacht werden muß, wenn es wirken soll, daß 'von selbst' weder etwas zur Gemeinde geht noch anderswohin"9. Entscheidend ist wiederum die Wirkung der Predigt, für die insbesondere der Prediger Verantwortung trägt. Auch im homiletischen Bereich sieht Bastian sich damit zunächst vor einer analytischen Aufgabe, nämlich vor der Frage nach der faktischen Bedeutung der Kanzelrede in der Gegenwart: "Das dogmatische Theorem 9 AaO. 9. Es ist allerdings deutlich, daß Bastian sich nur deswegen so energisch gegen die zeitgenössische Hermeneutik wenden kann, weil sein "Kerygmabegriff [...] merkwürdig schillert" (Wegenast 1966, 474): Bastian neigt dazu, Predigttext und Kerygma zu identifizieren, also Wortlaut und Sachgehalt der Überlieferung gleichzusetzen und damit die verfremdende und aktualisierende Bearbeitung des biblischen Textes in der Predigtarbeit als eine Gestaltung des Wortes Gottes selbst zu begreifen, die dessen Wirksamkeit allererst ermöglicht.
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der 'Verkündigung' müßte in konkreten, anwendbaren Redegestalten dechiffriert werden, deren kommunikative Kraft zu analysieren wäre. Es könnte sich dann herausstellen, daß die Predigt in der Technik der Information den gleichen Platz innehat wie vergleichsweise die Petroleumlampe in der Beleuchtungstechnik" (1968b, 58). Hatte die reformatorische Predigt noch eine große Öffentlichkeitswirkung, so kann sie heute den Vergleich mit anderen, technisch-medialen Formen der Kommunikation nicht mehr bestehen (vgl. 1968b, 51f). Ebenso kritisch ist zu prüfen, ob die Identifikation der "Verkündigung" mit der Sonntagspredigt nicht deren Stellung "im gesamten Kommunikationsfeld kirchlichen Handelns" weit überschätzt10. Und schließlich muß analytisch berücksichtigt werden, daß die kirchliche Predigt, zumindestens in Bastians Perspektive, in besonderer Weise als Repräsentantin der Tradition, des selbstverständlich Vorgegebenen erscheint (vgl. aaO. 50f). Sobald die Gegenwart, wie oben (2) skizziert, in ein prinzipiell kritisches Verhältnis zur Überlieferung gerät, wird insbesondere die Bedeutung der Predigt fraglich. Die "Predigtnot" resultiert für Bastian mithin aus einem doppelten Fehler: Zum einen wird die Predigt als ein "ex opere operato" wirksames, göttliches Tun mißverstanden (vgl. 1965, 22.29), während sie doch als ein pastoral zu verantwortender, menschlicher Kommunikationsprozeß zu analysieren ist. Und zum zweiten ist nach seiner Auffassung versäumt worden, die Störungen dieser Kommunikation empirisch aufzuhellen. In diesem Sinn hat Bastian etwa die linguistische Sprachtheorie rezipiert, in deren Rahmen die Predigt "als 'significant behavior' verstanden und analysiert werden" kann (1968d, 51, vgl. 1969, 322f). Auf diese Weise sollen die "Leerformeln" der kirchlichen Sprache erkannt und die sozialen Dimensionen der Sprache, ihr Bezug auf bestimmte Lebenszusammenhängen gründlicher bedacht werden (1968d, 52f). Solche Überlegungen weisen zugleich in das Gebiet der Rhetorik. Bastian fordert für die Predigt "den Vergleich mit der profanen Redezivilisation"11. Dazu ge-
10 AaO. 49. Diese Auffassung bringt auch der Titel einer Aufsatzsammlung Bastians zum Ausdruck: "Abseits der Kanzel" (Bastian 1968). Dazu bemerkt das Vorwort: "Der pointierte Titel dieser Schrift ist ein Mißtrauensvotum gegen die verbreitete kirchliche Meinung, das Wesentliche in Glauben und Verstehen geschehe heute unter den [...] Kanzeln, und zugleich eine Ermunterung, die theologische Aufmerksamkeit auf die Bereiche abseits der Predigtstühle zu richten" (aaO. 8). 11 1968b, 49; vgl. 1968d, 52f sowie 1969, 322ff. Hier schlägt Bastian vor, die Gegenstände der Predigt ähnlich wie in der antiken Rhetorik als "quaestiones" aufzufassen und ent-
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hört die rhetorische Predigtanalyse im Kontext politischer oder juristischer Reden sowie die kritische Reflexion des Verhältnisses von Predigt und Propaganda, vor allem im Blick auf die religiös gefärbte Redekultur der Nationalsozialisten (vgl. 1969, 50f). Für Bastian ist die Rezeption solcher und anderer empirischer Perspektiven Ausdruck eines fundamentalen Paradigmenwechsels: "In dem Augenblick, wo man nach der Struktur und Funktion der Predigt fragt, geht man ab von der klassischen dogmatischen, der ontologischen Fragestellung. Wir fragen technisch, und das finde ich gut. [...] mich interessieren die Machbarkeiten" (1968b, Alf).
Nicht nur hinsichtlich der homiletischen Analyse, sondern auch hinsichtlich der konkreten pastoralen Predigtarbeit, also der Steuerung der homiletischen Praxis nimmt Bastian eine strikt "technische", nicht-theologische Haltung ein: "Das Wort Gottes ist der Auftrag und die Verheißung kirchlicher Rede. Diese ist aber so weltlich, daß für ihre Gestaltung das Prinzip gelten muß: etsi Deus non daretur" (1965, 21). Um so mehr ist es allerdings bemerkenswert, daß keine der empirischen Perspektiven, die Bastian zur Erhellung des Predigtgeschehens herangezogen hat, eine konstruktive Bedeutung für die "grauen Relationen des Pfarreralltags" (1968b, 52) erkennen läßt. Zwar fordert Bastian, die Aufgabe der Predigt aus der Parochie an - nicht zuletzt massenmedial ausgebildete - homiletische Spezialisten zu delegieren (vgl. ebd.), aber inwiefern die allwöchentliche pastorale Predigtarbeit von der kybernetischen Perspektive praktisch profitieren könnte, bleibt undeutlich12. Dieser Mangel dürfte in Bastians Prämissen selbst begründet sein. Die Predigtarbeit kann ja weder durch den Rückbezug auf die Tradition bestimmt werden, deren "Nachrichtenweit" nur durch den interpretativen Akt selbst wiederherzustellen ist, noch durch die Orientierung an der Person, am Glauben des Predigers, denn jede "theologische" Beschreibung soll für die homiletische Gestaltung unberücksichtigt bleiben. Deutlicher
sprechend differenziert zu behandeln. Über diesen Vorschlag geht seine inhaltliche Rezeption der Rhetorik jedoch nirgendwo hinaus. 12 Dieses Problem hat D.Rössler bereits in Esslingen in die kritische Frage gekleidet (Lange u.a. 1968, 75), "die an Sie zurückgegeben werden müßte, Herr Bastian: Abgesehen von der Limitierung, die sie uns drastisch und deutlich beschrieben haben - was leistet nun die Kommunikationstheorie positiv für die Erfüllung dieses zugestandenermaßen geringfügigen Kanälchens?"
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noch als für Lange wird damit auch für Bastian die Wirklichkeit der Hörenden, die homiletische Situation zum entscheidenden Kriterium der Predigtarbeit13. Die Frage nach dieser Wirklichkeit wird daher auch von Bastian gleichgewichtig neben die Bearbeitung der Tradition gestellt14. Im Unterschied zu Lange thematisiert er die homiletische Situation allerdings nicht inhaltlich, sondern nur in formaler Hinsicht. Während Lange die homiletische Situation als den Ort des Glaubens an die Verheißung bestimmt, so daß das Predigtziel im Aufweis der "Verheißungsfülle" der jeweiligen Gegenwart besteht, nimmt Bastian diese Gegenwart nur als eine kritisch zu "störende" wahr, die durch die "Nachricht des Glaubens" in Frage zu stellen ist. Die Predigtwirkung soll in einer Zuspitzung der Hörerfragen bestehen und in einer - durch Verfremdung beförderten - Veränderung ihrer Wirklichkeitswahrnehmung. Auf diese Weise ist die homiletische Situation jedoch theologisch unterbestimmt. Wie die Veränderung der Wirklichkeit aussehen soll, die die Predigt kommunikativ bewirkt, kann Bastian nicht thematisieren, weil er den Predigtinhalt, also die Entfaltung des Glaubens angesichts einer bestimmten Wirklichkeit ausblendet. Zugleich verzichtet er auf die Reflexion der Person des Glaubenden: Die Konzentration auf den Effekt der Predigt vernachlässigt die Frage, wie dieser Effekt mit dem durch die Predigt zu weckenden Glauben der Hörer in Zusammenhang steht. Wird die vorgegebene Situation nur durch ihre Probleme, durch ihre "aporetischen" Fragen zum einzigen Maßstab der Predigtarbeit, dann ist sie schließlich auch empirisch unterbestimmt. Diejenigen Züge der Gegenwart, die ihre konkrete, kommunikative Erschließung als Wirklichkeit des Glaubens anleiten könnten, bekommt Bastian nicht in den Blick. Indem seine kybernetische Reformulierung der Homiletik die Perspektive auf die homiletische Situation empirisch-kritisch verengt, versagt sie vor
13 Vgl. dazu auch Bastians Kritik an Langes pastoraler Orientierung der Homiletik: "[M]it dem Pfarrer sind zugleich Hörer da, und diese haben genauso das Recht, homiletisch ernst genommen zu werden, wie der Pfarrer. Der Entwurf eines Predigtmodells primär vom Pfarrer her ist genauso irrig wie umgekehrt der Entwurf nur von der Motivation des Hörers her" (Lange u.a. 1968, 83). 14 Vgl. Bastian 1971, 63-66; dazu seine Forderung, abgesehen von der Auslegung biblischer Texte müsse der Prediger "die Frage nach dem Kommunikationsverhalten seiner Hörer stellen" (1971, 8).
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der selbstgestellten Aufgabe, eine Anleitung der Predigtarbeit unter gegenwärtigen Bedingungen zu geben15.
II. Die Geschichtlichkeit der homiletischen Situation als Grund ihrer rhetorischen Erschließung: Gert Otto
Der Mainzer Praktische Theologe G.Otto (*1927) hat durch die Sicht der Predigt als rhetorischer Aufgabe die homiletische Diskussion bis heute nicht unwesentlich bestimmt, zumal es ihm gelungen ist, diesen Ansatz in ein handlungsleitendes Konzept der Predigtarbeit zu überführen16. Da die vorliegende Untersuchung sich jedoch im wesentlichen auf den Zeitraum bis 1970 beschränkt, werden zur Rekonstruktion von Ottos Deutung der homiletischen Situation hier nur seine einschlägigen Publikationen bis 1973 herangezogen. Zu dieser Zeit hat Otto seine Grundanliegen, abgesehen von der Integration der Poetik (vgl. Otto 1976, 25ff), bereits deutlich formuliert; und speziell ihr inhaltlich-theologischer Hintergrund tritt in den frühen Texten klar hervor.
1. Von der didaktischen zur rhetorischen Perspektive auf die Predigt Auch Otto beginnt seine Überlegungen mehrmals mit der kritischen "Beobachtung gegenwärtiger Predigten" (1970, 58). Die Tendenzen "weltfernen, introvertierten Monologs und undialogischer Indoktrination" (ebd.) sieht er als Ausdruck einer Haltung der Kirche, die in "starker Distanz zur gegenwärtigen Welt und zum gelebten Leben" steht (1967, 290), und zwar sowohl im Urteil der Hörer wie im Urteil der Prediger
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Zu diesem Urteil gelangt auch W.Steck (1974, 56): "Die homiletische Informationstheorie [...] betont zwar den reduzierten Stellenwert der Predigt, aber nicht um innerhalb der gegebenen Möglichkeiten die kritisierte Predigtpraxis zu verbessern, um 'das, was möglich ist, sinnvoll möglich sein zu lassen' [D.Rössler; in: Lange u.a. 1968, 75]. Insofern dient die Anwendung kybernetischer Methoden auf das Gebiet der Homiletik mehr der Bestätigung der gegenwärtigen Krise der Predigt und weniger ihrer Überwindung." 16 Vgl. Otto 1976; 1981; 1986. Zur kritischen Diskussion von Ottos Thesen vgl. besonders O.Fuchs 1981; Rothermundt 1984, 31ff und Gräb 1988, 251ff.
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selbst. Wirklichkeits- und Wirkungsverlust der Predigt in der Gegenwart bilden auch hier den Ausgangspunkt der homiletischen Reflexion17. Häufiger und polemischer als die meisten seiner Zeitgenossen führt Otto die praktischen Defizite auf die traditionelle dogmatische Homiletik zurück18. Die homiletische Distanz zur Wirklichkeit gründet in einer Auffassung des Glaubens als "Gehorsam", als fragloses Hinnehmen feststehender Inhalte, deren Bezug zur Wirklichkeit der Hörer bzw. Schüler gar nicht zur Debatte steht19. Die Predigt erscheint als eine "autoritative Anrede" (1973, 325), allein bestimmt von der biblisch vorgegebenen Tradition. Damit wird nicht zuletzt das klassische, einlinige Verständnis der Predigtarbeit abgelehnt: Ausschließliche "Verantwortung der Predigt vor biblischem Text verengt den Horizont" (1970, 62). Demgegenüber weist auch Otto darauf hin, daß die Gegenwart durch eine kritische Einstellung gegenüber jedweder "selbstverständlichen" Überlieferung ausgezeichnet sei. Schon deswegen ist der Glauben auf eine argumentative Entfaltung seines Inhalts angewiesen (vgl. 1965,9ff). Eine Reflexion der Adressaten der Predigt und ihrer jeweiligen Situation ist für Otto allerdings nicht allein durch die Eigenart der Neuzeit begründet, sondern wird von der christlichen Tradition selbst gefordert: "Wenn in der biblischen Überlieferung selbst der Mensch in seiner Wirklichkeit interessiert, dann kann ja auch nur die theologische Aussage Sinn haben, in der es darum geht, daß sie den Menschen erreicht und daß er sie versteht" (1967,295).
Wird die Erschließung der menschlichen Lebenswirklichkeit zum Kriterium aller theologischen Sätze, so muß nicht nur der Religionsunterricht, sondern ebenso die Predigt als "ein didaktisches Phänomen" begriffen werden (aaO. 300). Alle Äußerungen der Kirche stehen gleichsam unter dem Imperativ der Vermittlung; sie haben einen didaktischen Wirk-
17 Vgl. Rothermundt 1984, 31: "Es ist das Wesen der Predigt, daß sie wirken will. Die öffentliche Reaktion, vor allem der Nicht-Kirchgänger, die Predigten für belanglos, schulmeisterlich-moralisch oder überflüssig halten, läßt ihn [sc. Otto] nicht ruhen." 18 Während in den 60er Jahren die Opposition zu Barth und seinen Schülern im Vordergrund steht, ordnet Otto 1973 auch Bultmanns Predigtverständnis kritisch in den "breiten theologischen Traditionsstrom" der Dialektischen Theologie ein (Otto 1973, 326). Die Fülle einschlägiger und nahezu stereotyper Zurückweisungen legt die Vermutung nahe, daß die etwa seit 1970 gängige Selbstdefinition der Homiletik als einer Gegenbewegung zur "dialektischen" Homiletik nicht zuletzt auf Ottos Publikationen zurückgeht. 19 Vgl. Otto 1973, 336: "Der Kritik eines im Bultmannschen Sinn am Gehorsam orientierten Glaubensverständnisses entspricht die Überwindung gläubiger Distanz zur Welt."
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lichkeitsbezug20. Auch die Predigt darf sich nicht mehr als eine "autoritäre" Anrede, sondern lediglich als Anleitung zum eigenständigen Durchdenken des Glaubens begreifen. Otto hat darum zunächst die Pädagogik zur Erläuterung des Predigtgeschehens herangezogen: Die Predigt kann nur dadurch überzeugen, daß sie ihr inhaltliches Vorgehen offenlegt und, mittels einer vernünftigen und klaren Darstellungsweise, der Prüfung durch die Hörer zugänglich macht (vgl. 1960,1 lf). Die didaktische Perspektive auf das Predigtgeschehen schlägt sich nicht zuletzt im Gestus von Ottos homiletischen Texten nieder. Durchgängig ist ihnen eine dialogische, auf das möglichst ungehinderte "Mitdenken" der Lesenden ausgerichtete Diktion eigen; die Ausführungen sind durch Beispiele gegliedert und konzentrieren sich immer wieder in übersichtlicher Thesenform. Ihr Ziel liegt offenbar weniger in einer detaillierten Entfaltung material-homiletischer Inhalte als in der Anregung einer neuen Sicht des Predigtproblems. Etwa ab 1970 hat Otto die didaktisch-kommunikative Beschreibung der Predigt dahingehend präzisiert, daß er sie in erster Linie als Unterfall menschlichen Redens begreift: "[...] Predigt ist, wie immer man sie theologisch definieren mag, Rede eines Menschen, und die Hörer sind, was immer Glaube sein mag, Menschen, deren Reden und Hören nicht im Augenblick der Predigt grundsätzlich andern Bedingungen unterliegt als sonst auch."21 Damit wird die Rhetorik zum entscheidenden außertheologischen Orientierungspunkt: Predigt erscheint primär als eine "rhetorische Aufgabe" (Otto 1986); und die für jede Rede "konstitutive Bedeutung von Adressat und Situation" ist auch hinsichtlich der pastoralen Predigtarbeit herauszuarbeiten (1970, 63). Ähnlich wie Bastian gelangt Otto auf diese Weise zur Frage nach der faktischen Wirkung der Predigt22. "Effekt und Reichweite der Predigt" (1973, 333) sind im Kontext anderer "Redegenera" der jeweiligen Gesellschaft zu prüfen und deren Zielen und Wirkungen gegenüber zu verantworten (vgl. 1970, 58f). Ebenso fragt Otto nach den Wirkungsmög-
20 "Didaktisch" ist hier, wie bei Otto selbst (vgl. 1986, 131ff), in einem weiten Sinn verstanden als Bezogenheit auf Lehr- und Lernvorgänge jeglicher Art. 21 Otto 1973, 328; Hervorhebungen getilgt. 22 Vgl. auch Rothermundt 1984, 31: "Für Otto ist die Wirkung der Predigt der eigentliche Richtpunkt. Er setzt Wesen und Wirkung in eins. Es ist das Wesen der Predigt, daß sie wirken will."
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lichkeiten der Predigt im Vergleich mit anderen Medien des kirchlichen Handelns und schildert die Kommunikation der Kirche als Einheit, in der der Sonntagspredigt nur eine begrenzte Funktion zukommt23. Das Verständnis der Predigt als Rede hat Otto durch eine doppelte Abgrenzung präzisiert. Zum einen ist es wiederum die "Dialektische Theologie", deren dogmatische Überbewertung der Predigt als "Wort Gottes" zur Vernachlässigung anderer kirchlicher Redeformen und zur Ausblendung der rhetorischen Fragestellung geführt habe. Die Konzentration auf den dogmatisch korrekten Inhalt der Predigt hat auch für Otto die Vernachlässigung der konkreten Predigtarbeit und ihres Wirklichkeitsbezugs zur Folge gehabt (vgl. 1970, 63; 1973, 341f). Zugleich jedoch betont Otto, daß die Rhetorik "per definitionem innerhalb der Formfragen der Rede deren Inhalte und die Probleme ihrer Weitergabe umfaßt" (1973, 340). Während die "technokratisch halbierte Rezeption kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnisse" (aaO. 341), wie Otto sie an Bastian und anderen kritisiert, sich ausschließlich formal an der Effizienz der Predigt orientiert, betrifft die rhetorische Perspektive stets auch deren Gehalt. Andernfalls wird der Prediger "zum Werbeagenten", zum unkritischen "Verkäufer" gegebenenfalls höchst fragwürdiger theologischer Erkenntnisse (aaO. 323). Otto versteht Rhetorik nicht nur als Reflexion des Predigtverfahrens, sondern auch seiner Inhalte, die allerdings wiederum nicht abgesehen vom kommunikativen Geschehen der Predigt zu gewinnen sind. Als rhetorisches Phänomen rückt die Predigt in den Kontext einer Auffassung von Rede, die deren aufklärerische Funktion in den Mittelpunkt stellt. Als öffentliche Rede in diesem Sinn, wie Otto ihn etwa bei W.Jens findet, muß auch die Predigt als kritische, auf mehr Humanität gerichtete Bemühung verstanden werden: "Predigt ist, vom Fragehorizont der Rhetorik her, im Kern stets Auseinandersetzung mit der geistig-politischen Situation ihrer jeweiligen Zeit, Bemühung um öffentliche, zu veröffentlichende Mitbestimmung des Geistes der Zeit [...] Sie muß am Prozeß der gesellschaftlichen Auseinandersetzung partizipieren wollen [...]" ( 1 9 7 3 , 3 4 2 f ) .
23 Auch Otto nimmt hier das Argument auf, gegenüber der Reformation habe die Bedeutung der Predigt für die öffentliche Kommunikation der Gegenwart drastisch abgenommen (vgl. 1973, 334). Unter Verweis auf die Erwartungen der Hörer wie die faktische Tätigkeit der Pfarrer hat er diese Relativierung der Predigt später allerdings wiederum relativiert; vgl. etwa Otto 1979, 13f.
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Aus dieser ausdrücklich nicht-theologischen Bestimmung der Predigt ergibt sich für Otto schließlich die Legitimation ihrer "monologischen" Gestalt (vgl. 1970,59f): Im konkreten sozialen Zusammenhang kann die Predigt etwa zur Klärung eines Sachverhaltes oder zur Reflexion bestimmter Handlungsschritte beitragen sowie - in den Kasualien - als "sprachliche Begleitung von Lebenseinschnitten und -Situationen" dienen. Funktion und Inhalt der Predigt ergeben sich in der rhetorisch-didaktischen Perspektive aus ihrer aufweisbaren Bedeutung in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen. Auch für Otto ist die spezielle Situation, auf die die Predigt zielt, darum von fundamentaler Bedeutung.
2. Personalität und Konkretion der Situation des Glaubens Otto hat die Predigt in didaktischer und rhetorischer Perspektive thematisiert. Die Wirklichkeit des Hörer und der Hörerin, die damit in den Vordergrund rückt, wird auch von Otto jedoch nicht allein "empirisch", sondern zunächst theologisch gedeutet. Auch wenn diese Deutung in seinen späteren Texten nicht mehr ausdrücklich erscheint, bildet sie doch eine bleibende Voraussetzung seiner Homiletik. Konstitutiv für diese Wirklichkeitsauffassung ist besonders die hermeneutisch-theologische Sicht der Situation als einer durch die Verkündigung je neu geprägten "personhaften Wirklichkeit": "Das Ereignis des Wortes Gottes redet an und stiftet so die Relation Gott-Mensch; und in dieser Relation liegt zugleich eine neue Möglichkeit des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst und zum Mitmenschen. [...] So verstandene Wirklichkeit ereignet sich, geschieht, wo immer Verkündigung ausgerichtet wird und der Mensch hört. Sie betrifft alle Welt und alle Situationen in der Welt. Sie baut nicht fromme Provinzen, sondern sie meint das Leben in der Welt mit all seinen Aspekten" (1960,9).
Otto ist daran interessiert, daß die durch die Verkündigung "gestiftete" Wirklichkeit des Glaubens keinesfalls als "eine besondere Situation, [...] als ein vom natürlichen Fluß des Lebens abgehobenes Terrain" angesehen wird, sondern als Auslegung derjenigen Erfahrungen, welche die Person insgesamt macht24. In der Konzentration auf die Person des ein-
24 Otto 1965, 11. Der Vorwurf der "Lebensfremdheit" kennzeichnet darum durchgehend seine Kritik an der vorfindlichen Predigt; vgl. 1965, l l f ; 1967, 290f; 1970, 58.60f.
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zelnen ist zugleich, ähnlich wie bei Mezger, alle ihr gegenüberstehende Realität eingeschlossen. Auf diese Weise will auch Otto den universalen Anspruch der Verkündigung festhalten: Sie betrifft nicht nur eine "Provinz" der Person, sondern ihr gesamtes Erfahren und Handeln. Zugleich resultiert die personale Zuspitzung der Wirklichkeit aber in der Betonung des jeweils konkreten Kontextes. Der Glaubende ist "an die jeweilige Weltzeit und Weltstunde, in der er lebt, gebunden" (1965, 10); er erfährt Gott immer in einer besonderen, nicht prinzipiell festlegbaren Weise. In Anlehnung an Bultmann verwendet Otto für diesen Sachverhalt den Terminus der "Geschichtlichkeit": "Der Einbruch der Verkündigung [...] geschieht nicht durch dogmatische Lehre, sondern in geschichtlicher Begegnung"25. Damit ist die theoretisch nicht einholbare Besonderheit jeder Situation des Glaubens markiert; und die Verkündigung ist darauf angewiesen, ihren Inhalt "im Wandel unserer jeweiligen Situation konkret" zum Ausdruck zu bringen. Die Predigt wird "zum primären Ort, an dem die Wandlungen Gottes und des Glaubens geschehen, indem sie ausformuliert werden" (1967, 295.299). Ähnlich wie Mezger hat Otto zur Erläuterung der "Geschichtlichkeit" das Phänomen des Verstehens herangezogen. Die Situation des Glaubens ist weder durch die individuelle Biographie noch durch die gesellschaftlichen Umstände festgelegt, sondern konstituiert sich jeweils neu im Moment des Verstehens der Verkündigung. Das Interesse an der "Aktualität" der Wirklichkeit (1960, 6) resultiert auch bei Otto offenbar aus ihrer betonten Unverfügbarkeit. Ihm liegt daran, "daß man diese Wirklichkeit niemals manipulieren kann" (aaO. 9), die "geschichtliche" Situation des Glaubens ist weder von außen noch für den Glaubenden selbst verfügbar, insofern sie stets ein neues und besonderes Verstehen darstellt. Gegenüber der so gedeuteten Situation erscheinen nun nicht nur die institutionellen Vorgaben der Predigt als bedeutungslos. Sondern prinzipiell ist die kirchliche Praxis der Verkündigung, die sich auf diese Wirklichkeit bezieht, nicht vollständig systematisierbar: "[I]n der jeweiligen theologischen Aussage kann niemals vollgültig aufgehen, was Glaube und Verkündigung konkret ist. Es bleibt ein Rest, der für die Theorie Schweigen ist, in der handlungsgeladenen, lebensvollen Wirklichkeit allerdings ein unerhört beredtes Schweigen" (1960,5).
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Otto I960, 12; vgl. aaO. 9; 1965, 10.
Die Reflexion der konkreten Predigtarbeit hat unter dieser Voraussetzung ausgesprochen enge Grenzen. Redet Otto über "Erziehung" oder "Verkündigung", so legt er programmatisch "mehr Wert auf offene Situationen als auf geschlossene Systeme, auf die Person dessen, der verkündigt, glaubt und erzieht als auf ein steriles Koordinatensystem, in das sich Verkündigung und Erziehung abstrakt einfügen ließen"26. Auf eine nähere theologische Bestimmung der Situation des Glaubens wird damit ausdrücklich verzichtet, denn alle weiteren inhaltlichen Aussagen sieht Otto im Grunde als unsachgemäße, "abstrakte" Festlegungen, die der personalen Konkretion des Glauben nicht gerecht werden können. Mit dieser systematischen Abstinenz gegenüber der hermeneutisch konstituierten Wirklichkeit ergeben sich allerdings auch für Otto die bereits im Ersten Teil (B) diskutierten Schwierigkeiten: Die Beschränkung des homiletischen Interesses auf den je neuen "Augenblick des Verstehens" qualifiziert die vorgegebene Wirklichkeit der Hörenden von vorneherein als negativ, als eine kritisch zu verändernde Realität. Und der Verzicht auf eine ausdrückliche theologische Deutung der Situation des Glaubens tendiert dazu, auch die Reflexion des homiletischen Umgangs mit dieser Situation auf formale Angaben zu beschränken. Ottos Beschreibung der Predigtarbeit ist daraufhin zu befragen, inwiefern die homiletische Situation tatsächlich den rhetorischen Vollzug der Predigt bestimmt.
3. Die pragmatische Relativierung der homiletischen Situation In späteren Publikationen hat Otto seine rhetorische Auffassung des Predigtgeschehens durch die Formel "Wahrheitals Mitteilung" erläutert (Otto 1981): Der Wahrheitsanspruch des Predigtinhalts läßt sich nur im Prozeß seiner Mitteilung an bestimmte Hörer in einer bestimmten Situation for-
26 Otto 1960, 6. Die energische Ablehnung eines theologischen "Systems", verstanden als eine "lückenlose Theorie" der Wirklichkeit und Praxis des Glaubens, prägt auch noch Ottos "Grundlegung der Praktischen Theologie" (vgl. Otto 1986, 5.72 u.ö.). Leitend ist hier "die konkrete Vielfalt von Menschen mit ihren je unterschiedlichen Beziehungen zu Religion und Kirche" (aaO. 62); jede von diesen "konkreten Subjekten" (63) abstrahierende "allgemeine" Theorie steht in Gefahr, die von ihr gemeinte Wirklichkeit zu verfehlen.
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mulleren27. Das Verfahren der Predigtarbeit läßt sich dann nicht in einfachen Formeln wie dem Motto "Vom Text zur Predigt" zusammenfassen; und es kann auch nicht als eine technisch optimierbare, vom Prediger zu steuernde Kommunikation verstanden werden. Otto entnimmt der rhetorischen Theorie vielmehr in erster Linie den Hinweis auf die hohe Komplexität der "Redner-Hörer-Beziehung" (vgl. 1973, 329f). Die homiletische Aufgabe der Vermittlung eines bestimmten Inhalts erscheint als ein vielfältig bedingter und nur begrenzt beeinflußbarer Prozeß. Eine solche relativierende Sicht der Predigtarbeit bringt Otto auch dort zum Ausdruck, wo er die didaktische Bedeutung des Predigttextes reflektiert: Sein Gehalt soll jeweils in den Rahmen "aktueller Weltverantwortung" eingebracht werden, ist aber für die Predigt "weder alleiniger Grund [...] noch selbstverständliches Ziel ('wiedergewinnen') noch unbefragbare Autorität" (1970, 63). Wenn die Predigtarbeit auf die "geschichtliche" Situation der Hörer zielt, so kann sie weder durch den Text noch durch andere Vorgaben eindeutig normiert werden, sondern muß auch in ihrem Umgang mit dem Text "viel beweglicher" sein28. Die pastorale Aufgabe erscheint dann wiederum als Vermittlung: "Wie kommt die Predigt auf diesen Weg? Indem der Prediger seine exegetischen Erkenntnisse und die Welt- und Menschenkenntnis seiner Gegenwart in einen Dialog miteinander führt. [...] Er muß den Text mit seinem ganzen Vorstellungsmaterial so in das Material eigenen Lebens einschmelzen, daß der Horizont eigener Zeit, unserer Welt, gegenwärtigen Menschseins verbindlich angesagt werden kann" (aaO. 299).
Zwar erinnert diese Sicht zunächst an Langes Ansatz, in der Person des Predigers Text und Situation in ein produktives Gespräch zu bringen. Indem Otto jedoch auch die Situation des Predigers als eine hermeneutisch entstehende Situation des Glaubens begreift, wird sie praktisch unzugänglich. Auch die berufliche Situation ist auf eine Weise "konkret" und "geschichtlich", die eine weitere theologische Deutung verbietet. Die Arbeit des Predigers bleibt auf diese Weise pragmatisch unterbestimmt. Ottos im Grunde dogmatische Haltung, daß der Verlauf der Pre-
27 Vgl. Otto 1979, 16: "Mit dem Weg, auf dem ich Wahrheit finde, und mit der Weise, sie andern mitzuteilen, damit es in einer konkreten Situation ihre Wahrheit werde, damit hat es Rhetorik zu tun." 28 Otto 1967, 304; vgl. auch 1973, 339: "Ist aber die Funktion des Textes offen, seine Funktion allererst zu bestimmen, dann wird sie gewiß, vom Ausgangspunkt einer je verschiedenen, zu analysierenden Realität her, auch verschiedenartig sein [...] müssen."
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digtarbeit in keiner Hinsicht durch vorgängige "Setzungen" zu bestimmen ist, relativiert nicht zuletzt die Bedeutung der theologischen und religiösen Überzeugungen des Predigers. Sie erscheinen nicht als Größen, die die Erschließung von Text und Situation von vorneherein beeinflussen, sondern gewinnen ihre sorgfältig begrenzte Bedeutung29 nur als einzelne Momente im Prozeß der Predigtarbeit. Weder von sich selbst noch von den Hörern darf der Prediger verlangen, "daß er religiöse Vorgaben irgendwelcher Art einbringt" (1967,298). Das Verfahren der Predigtarbeit wird von Otto deswegen bewußt offen gelassen. Materiale und formale Gesichtspunkte können einander in einem "rhetorischen Zirkel" mit großer Variabilität zugeordnet werden (vgl. Otto 1976). Auch die Rhetorik wird nur soweit rezipiert, wie sie sich dem Axiom der "geschichtlichen", theoretisch nie einholbaren homiletischen Situation einordnet. So weist er zwar auf das rhetorische Problem der Invention, der Themenfindung hin, das sich nicht durch den Rekurs auf den Predigttext erledigen lasse. Welchen Instanzen sich die Invention aber statt dessen verdankt, bleibt unklar. Otto beschreibt den Prozeß der Predigtvorbereitung, wie auch Rothermundt kritisiert hat, im Grunde "sehr offen, aber auch recht beliebig"30. Die Auffassung, daß sich die Wirklichkeit, auch die Wirklichkeit des Predigers, in der "geschichtlichen Begegnung" je neu und unvorhersehbar konstituiert, blendet jede Form von theologischer Steuerung der Predigt aus und verhindert zugleich ihre Beschreibung als eine bestimmte berufliche Aufgabe. Dies hat schließlich auch Auswirkungen auf die Erschließung der homiletischen Situation. Als rhetorische Anstrengung ist die Predigt zwar auch für Otto, wie für Lange und Bastian, durch den Bezug auf die Situation ihrer Adressaten bestimmt. Im Unterschied zu Bastian ist die Wirkung der Predigt jedoch nicht allein durch den Prediger zu steuern, sondern setzt die "inhaltliche" Berücksichtigung der jeweiligen Hörerwirklichkeit voraus. Allerdings meint Otto im Unterschied zu Lange, auf eine
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Vgl. die polemische Zuspitzung des Theologieverständnisses: 'Theologie, die sich auf Rhetorik einläßt, kennt also den Glauben nicht als fertige, situationslose Substanz, sondern erfährt ihn in vielfältigen Dialogen, die über die Mauern der Theologie hinausführen" (1979, 20). 30 Rothermundt 1984, 34; vgl. ebd.: "Daß es sich beim Predigtmachen um einen kreativen Prozeß handeln könnte, der eine innere Gesetzmäßigkeit besitzt, und daß daher die rhetorischen Aufgaben nicht beliebig zu verteilen, sondern den einzelne Phasen dieses Prozesses zuzuordnen sind, kommt bei ihm nicht in den Blick."
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theologische Deutung dieser Situation verzichten zu müssen, um ihre jeweilige Individualität nicht zu verfehlen. Deswegen radikalisiert Otto im übrigen die bei Lange beobachtete Tendenz, die Situation des Glaubens so ausschließlich als die jeweilige individuelle Lebenssituation zu verstehen, daß jegliche Distanz des Glaubens zu dieser besonderen Realität in Abrede gestellt wird31. Die Situation der Hörenden wird damit de facto ausschließlich durch die Kriterien gedeutet, die Otto der emanzipativen Rhetorik entnimmt. Sie erscheint als Ausschnitt eines öffentlichen, argumentativ bestimmten Kommunikationszusammenhangs, in dem die Predigt sich zu bewähren und zu legitimieren hat. Leitend für die Predigtarbeit ist dann zum einen das Bild des skeptischen Hörers, der der Tradition, zumal der christlichen, prinzipiell distanziert gegenübersteht, und zum anderen eine kritische Bewertung des fraglos Gegebenen, das durch die emanzipative Rede aufzubrechen ist. Obwohl Otto Bastians technisch-kybernetische Steuerung der homiletischen Situation ablehnt, kommt er doch zu einem ganz ähnlichen Resultat: Es ist nun doch die Überzeugungskraft, die didaktisch-rhetorische Wirkung der Predigt, die ihre Qualität ausmacht. Dies heißt aber nichts anderes, als daß die homiletische Situation den Vollzug der "christlichen Rede" als Predigt nicht methodisch steuern kann. Ottos Verzicht auf eine theologische Identifizierung der Wirklichkeit liefert die pastorale Predigtarbeit ausschließlich dem Rekurs auf - jeweils wieder subjektiv gebrochene - rhetorische Regeln und die Selbstauslegung der "konkreten Hörer" aus; theologisch aber wird sie beliebig. Als homiletische Situation, also als eine Situation des Glaubens, die nicht irgendeine "monologische Rede", sondern die die Predigt als Bemühung der Kirche herausfordert, wird diese Wirklichkeit in der exklusiv rhetorischen Perspektive nicht erkennbar32.
31 In seiner Auseinandersetzung mit Ottos Predigtverständnis hat O.Fuchs in diesem Zusammenhang moniert, daß bei Otto "die Frage nach dem transzendenten und personalen Gott" und damit der "Freiraum des Christen und des Predigers" gegenüber der menschlichen Erfahrung zu wenig thematisch sei und damit die homiletische Situation auf die unmittelbare Lebenswirklichkeit der Adressaten verkürzt werde (1981, 119.138). 32 In ähnlicher Weise resümiert Gräb: "Aber was diese Rede zur Predigt macht, bleibt unausdrücklich. 'Homiletik als Rhetorik' verstanden, muß diese um den ihr eigenen Gegenstand bringen, wenn dabei die Predigt zum Sachverhalt Rede eingeebnet wird" (1988, 253).
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III. Die Sprachlichkeit der homiletischen Situation als Grund ihrer dialogischen Erschließung: Werner Jetter
1. Der phänomenologische Zugang zur Institution der Predigt Bereits 1964 hat der Tübinger Praktische Theologe WJetter (*1913) ein Buch mit dem Titel "Wem predigen wir?" veröffentlicht und damit "die beinahe vergessene Frage nach dem Hörer" neu gestellt (Jetter 1964, 5). Sein spezifischer Beitrag zu dieser Debatte besteht allerdings weniger in der Rezeption bestimmter außertheologischer Kategorien oder in einer gänzlich neuen Sicht der homiletischen Situation, sondern in der Entfaltung einer eigentümlichen, dialogisch orientierten Perspektive. Programmatisch kommt diese Perspektive in der Einleitung seiner homiletischen Aphorismensammlung zum Ausdruck, die Jetter als "mittlere Feststellungen in Sachen Predigt" charakterisiert. "1 Mittlere Feststellungen nehmen nicht unbedingt für die Predigt und auch nicht unbedingt gegen sie Stellung. 2 Mittlere Feststellungen trauen der Predigt zwar längst nicht mehr alles, aber auch nicht überhaupt nichts mehr zu. 3 Mittlere Feststellungen wollen nicht dauerhaft festgelegt werden: sie stimmen bald älteren und bald neueren Meinungen zu. 4 Mittlere Feststellungen gebrauchen ein mittleres Vokabular und beanspruchen nur einen mittleren Rang. [...] 6 Mittlere Feststellungen bleiben bei dem, was sich feststellen läßt; wenn man zu hoch hinaus will, wird man bald tiefer gehängt."33
Auch Jetters frühere homiletische Texte sind von dieser ironisch-zurückhaltenden, auf Vermittlung zielenden Intention geprägt. Sie sind weniger an theoretischer Eindeutigkeit interessiert als am Zusammenstellen einer Vielzahl oft einprägsam formulierter Detailbeobachtungen, die eine homiletische Theorie allererst tragfähig machen34. Jetter analysiert die Predigt, wie auch andere Formen des kirchlichen Handelns, gleichsam 33 Jetter 1976, 9f. Im folgenden werden allerdings auch von Jetters zahlreichen homiletischen Veröffentlichungen (vgl. Miltenberger 1983) im wesentlichen nur die Arbeiten bis 1970 berücksichtigt. Darüber hinaus ist neben der soeben zitierten "Homiletischen Akupunktur" besonders eine Arbeit zu G.Ebelings Predigtverständnis (1982) zu erwähnen, die zugleich Jetters eigene homiletische Überzeugungen zusammenfaßt. Zu Jetters Ansatz vgl. auch den Abschnitt "Der Hörer als homiletisches Problem" bei Steck 1974, 41-45. 34 Vgl. aaO. 11: "Mittlere Feststellungen sind als die Arbeitnehmer der Theorieproduktion zu betrachten: sie müssen sich organisieren, um diese mitzubestimmen."
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phänomenologisch in der Überzeugung, daß diese Phänomene selbst bei sorgsamer Betrachtung die Auslegenden "zu ihrer Sache bringen und nicht außen bleiben lassen" werden (1965, 420). Auch die homiletischen Grundsätze lassen sich, so meint Jetter, am einleuchtendsten aus "mittleren Feststellungen" über die tatsächliche Lage der Predigt und die in ihr wirksamen Faktoren erheben. Den Schlüssel zum Phänomen der Predigt hat Jetter mit dem vielschichtigen Begriff der "Institution" gewonnen35. In dessen Auslegung hinsichtlich der Predigt verbinden sich die Fragen nach ihrer historischen Bedingtheit und ihrer faktischen Situation mit der Rekonstruktion ihrer theologischen Begründung. So ist es das Phänomen der mit dieser Institution verbundenen, außerordentlich hohen Erwartungen, in denen die theologische Bewertung der Predigt einen evidenten Ausdruck findet: Sie erscheint offensichtlich für die Prediger wie für Gemeinde und Öffentlichkeit als "kirchliche Zentralinstitution" des Protestantismus (1970, 39). Jetter führt dies auf die reformatorische Hochschätzung des "Wortes" zurück. Nach CA VII ist das Wortgeschehen der Predigt dann "eine Stelle, an der das Wesen der Kirche herauskommt, sogar besonders gut herauskommt" (1964, 30), insofern sich hier die Erwartung des unverfügbaren und zugleich vollmächtigen Wortes Gottes konzentriert. "Predigt ist das Angebotene, sein Wort das zu Erwartende; Predigt ist das Phänomen, sein Wort dessen Qualität" (1965, 421). Die Institutionalisierang der Predigt ist für Jetter Ausdruck des Offenbarungs- und Kirchenverständnisses, das für den Protestantismus konstitutiv ist. Faktisch sind für die Predigtinstitution jedoch auch bestimmte "nichttheologische Bedingungen, unter denen sie ihre zentrale Position damals erlangen konnte", von Bedeutung (1970, 49). Jetter weist darauf hin, daß bis in die Neuzeit die gesellschaftliche Öffentlichkeit "sozusagen zum innerkirchlichen Bereich umgewandelt" erschien (1967, 209), so daß der Predigt ein "selbstverständlicher Zusammenhang mit der christlichen Alltagspraxis" wie den politischen Verhältnissen garantiert war (1970, 51). Die Institutionalisierung der Predigt erscheint damit als ein zwiespältiges Phänomen: Zwar trägt die regelmäßige gottesdienstliche Predigt zu "Vergewisserung und erreichbarer Übereinkunft" über das Christliche (1970, 54) bei und stellt damit die Kirche auf Dauer. Die Hochschätzung des
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Vgl. Jetter 1962, 346f; 1967, 206-210; 1970, 39ff.
Predigtinstituts steht aber zugleich in Spannung zum Ereignischarakter des Wortes, dessen Unverfügbarkeit durch den amtlich-repräsentativen Rang der Predigt verdunkelt wird. Angesichts des zunehmenden Funktionsverlusts der Institution Predigt, der mit dem Wegfall jener "nichttheologischen Bedingungen" einhergeht, sieht Jetter sich zu einer vertieften theologischen Reflexion des Phänomens herausgefordert. Die zentrale Stellung der Predigt kann nur dadurch gerechtfertigt werden, daß der Charakter des Wortes selbst, auf den die Institution verweist, im Hinblick auf die Gegenwart neu ausgelegt wird. Jetter hat die Predigt in diesem Sinne als "Instrument der Kirche" (1970, 48ff), als ein besonderes "Werkzeug jener Botschaft" (1964, 21) bezeichnet. Damit ist ausgedrückt, daß sie nicht unmittelbar mit dem Wort Gottes identifiziert werden darf, sondern sich immer neu an diesem Wort auszurichten hat. Zugleich hat die "instrumentale Selbstkontrolle" der Predigt (1970, 48) aber auch empirische Aspekte. Beobachtungen zur instrumentalen Effizienz, zu den "objektiven Möglichkeiten und gesellschaftlichen Wandlungen der öffentlichen Predigtinstitution" gehören zu den "mittleren Feststellungen", die dem Phänomen der Predigt infolge seines eigenen Sinnhorizontes angemessen sind36. Damit werden auch für Jetter die Krisenerfahrungen thematisch, die sich mit der gegenwärtigen Predigt verbinden und für die er eindrückliche Formulierungen findet. Zu beklagen ist der faktische "Arkanverschluß der veranstalteten Sonntagsrede"37: "Allzuschnell wird da die Gemeindepredigt zur innerkirchlichen Ziergartenpflege im Kleingärtnerhorizont, und die Welt bekommt ein paar Schnittblumen der Barmherzigkeit in einer Sammeltüte überreicht" (1962, 349). So erscheint es nur folgerichtig, daß das Interesse an der Predigtinstitution nachläßt. Unter dem theologischen Gesichtspunkt institutioneller Selbstkontrolle wird der abwesende
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1 970, 40; vgl. 1968, 131 sowie 1967, 216: "Es ist ein bißchen seltsam, daß man zwar die Predigt selbstverständlich theologisch und kirchlich auf jede erdenkliche Weise fleißig einsteuert und ins rechte Lot zu bringen versucht; sobald sich aber der Blick auf ihre Wirkung richtet, wird plötzlich die Angst vor dem Synergismus pathetisch laut, als ob es nicht auch dort Vorbelastungen aller Art [...] gebe, denen zu begegnen gerade die Lehre und die Weisheit der Kirche sich leidenschaftlich bemühen müßte! " 37 Jetter 1967, 209; vgl. auch 1964, 80: "In den innerkirchlichen Predigtdialekt sind Sachvorstellungen eingemauert, die in weltlicher Sprache heute nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind und darum in der Regel schweigend verehrt und heimlich bezweifelt zu werden pflegen. [...] Die Sprache des Glaubens droht in einem innerkirchlichen Eingeborenendialekt zu erstarren".
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Hörer zum zentralen Thema: "Das brennendste Problem der Predigt ist der Mensch, der sie nicht hört" (aaO. 346). Die Problematik solcher Beobachtungen liegt für Jetter darin, daß die Predigt in jedem Fall ein kommunikatives Phänomen darstellt. Aus der pastoralen Perspektive erscheint die Predigtaufgabe als ein "Parier de quelqu'un à quelqu'un"38, zur Predigt gehört stets ein "institutionalisiertes Auditorium" (1967, 206). Jetter weist auf die biblische Begründung dieser Betrachtungsweise hin, nämlich auf "jenes Wörtlein 'alle', mit dem das Neue Testament" die Frage nach dem Hörer "ganz einhellig beantwortet hat" (1964, 5). Die "dünnen Stellen im Auditorium", die die Erfahrung mit der Predigt zunehmend prägen (1967,213), gewinnen ihre Brisanz aus der theologisch motivierten Erwartung des Gegenteils. Aus Jetters Anliegen, das Phänomen der Predigt im Blick auf die ihm eigene "Sache" auszulegen, ergibt sich folgerichtig die Frage nach dem konkreten Gegenüber der Predigt, nach der homiletischen Situation. Die referierten "Feststellungen" lassen schließlich erkennen, daß Jetter durchgehend die pastorale Perspektive einnimmt. Es ist der Prediger, der das Instrument des Wortes bedienen muß, und ihn werden die "dünnen Stellen im Auditorium" zuerst bedrücken. Die institutionelle Aufgabe "wird in der Predigt zugleich zur Aufgabe eines einzelnen und fällt darum zusammen mit der Zumutung an ihn, individuell beteiligtes Wagnis und offizielles kirchliches Zeugnis in der eigenen Person zu vermitteln"39. Die Institution ist auf die existentielle Betroffenheit und zugleich auf die amtlich-professionelle Befähigung des Predigers angewiesen. So spitzt sich das homiletische Problem auf die berufliche Frage zu (1967,215): "Wie kann der Mann, der oben steht, das ermächtigte Wort [...] für sie alle finden?" Die Lösung dieses Problems hängt auch für Jetter wesentlich an der theologischen Deutung der Situation, die jenem "alle" entspricht.
38
1 964, 54; vgl. 1965, 420.430; 1967, 206.218 u.ö.. Jetter 1970, 46; vgl. auch 1968, 125: "Der Prediger bringt öffentlich und persönlich zum Ausdruck, wie er den Auftrag der Kirche in seiner Zeit versteht, und gleichzeitig kommt er ihm zu seinem Teil nach, indem er predigt." 39
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2. Die Anwesenheit Gottes in der Wirklichkeit Eine eindringliche Deutung der gegenwärtigen Wirklichkeit ist Jetter in seine Tübinger Antrittsvorlesung über das "Vermächtnis des Arbeiterpriesters Henri Perrin" gelungen40. Die Aktionen und Experimente der Arbeiterpriester, die die Distanz zwischen dem Proletariat bzw. dem Subproletariat und dem kirchlichen Milieu überwinden sollten, sieht Jetter als Ausdrck der Sorge, "ob nicht das ganze institutionalisierte Christentum in seiner Sendung gelähmt" sei (aaO. 354), also wiederum als Reaktion auf ein Problem der Kirche und ihrer Theologie selbst. Seine Rückfrage an die Texte der Arbeiterpriester konzentriert sich dementsprechend auf die Art und Weise, in der sie ihre eigentümlichen Glaubenserfahrungen artikuliert haben. Das zentrale theologische Motiv Perrins sieht Jetter in der "Berufung" des Glaubens, "die Menschwerdung Christi fortzusetzen und durch unser Leben seine Liebe und seine Freude zu verkünden" (aaO. 364). Weil die Inkarnation den Glauben begründet, muß er sich als eine konsequent "weltliche Existenzweise" verstehen, was Jetter in drei Hinsichten entfaltet. Zunächst beschreibt er den Glauben als eine "Koexistenz", die der Hingabe Christi zu entsprechen sucht: "Es gilt, sich dem Leben, den Tatsachen zu unterwerfen, in allen Widerfahrnissen und Begegnungen, auch denen mit Ungläubigen, seinen Umgang mit Gott zu festigen" (369). Der Glauben lebt weiterhin als "Proexistenz", als eine selbstlose Hinwendung zu den Menschen. Jetter akzentuiert die Haltung der "beteiligten Freundschaft" und zitiert Perrin selbst: Freunde "sind das schönste Zeichen für die Gegenwart des Vaters" (aaO. 374). Die bedingungslose Teilnahme an den gesellschaftlichen Konflikten führt den Glaubenden schließlich in die "Kontraexistenz", in der er, als "Glaube im Widerspruch", im Grunde an der Ohnmacht des Kreuzes partizipiert (376). Auch für Jetter resultiert die weltliche Existenz des Glaubens zuletzt immer in der Isolierung des einzelnen, in seiner Anfechtung, in der er um so mehr auf das Wort Gottes angewiesen ist.
40 Jetter 1962. Jetter hat damit ein Thema aufgenommen, das auch Lange beschäftigt (vgl. Lange, CdA 326) und bereits die ökumenische Debatte über die Situation beeinflußt hat: Die Überlegungen zur "missionarischen Verkündigung" sind immer wieder von den Erfahrungen der französischen Arbeiterpriester ausgegangen; vgl. Margull 1959, 163ff. Einen Überblick über die einschlägigen Texte gibt Jetter 1962, 350-352 (Anm.3).
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Jetter faßt seine Deutung in dem Satz zusammen: "Der Glaube will in der Welt atmen, damit sie die Menschwerdung Gottes erfährt" (aaO. 385). Sein Engagement zielt darauf, die Wirklichkeit selbst als Ort der Anwesenheit Gottes zu begreifen und zu proklamieren. Die Inkarnation Christi wird zum Schlüssel einer eigentümlichen Interpretation der Wirklichkeit selbst (1962, 374): "Denn hier geht es um nichts Geringeres als um die Anwesenheit Gottes in unserem Leben. Denn Gott ist nicht ins heilige Buch gebannt. Will die Bibel, in der die Glaubenskunde zu Buch steht, uns nicht vielmehr zum Lesebuch Gottes werden, mit dessen Hilfe wir in den Lebenswiderfahmissen und in den Menschengesichtern besser lesen lernen, so daß wir dort überall der Wirklichkeit seiner Menschwerdung begegnen?"
Die Zuwendung zur Lebenswirklichkeit bringt zum Ausdruck, daß sich der Glaube der Inkarnation Gottes in diese Wirklichkeit verdankt. Der existentiell zugespitzte und durch die Erfahrungen der Arbeiterpriester beispielhaft konkretisierte Begriff der Wirklichkeit wird damit auch für Jetters Verständnis des kirchlichen Handelns zentral. Eine weitere Entfaltung dieses Begriffs, die nicht zuletzt von homiletischer Bedeutung ist, hat Jetter wiederum durch die Orientierung an einem exemplarischen Phänomen vollzogen, nämlich am Phänomen des Gesprächs, das er als fundamentale anthropologische Kategorie begreift: Es ist das Gespräch, in dem der Mensch seine Wirklichkeit vornehmlich erfährt41. Im Gespräch erschließt sich die Wirklichkeit unter den Bedingungen eines wechselseitigen Vertrauens und Respekts. Die sich der Institutionalisierung entziehende, gleichsam spielerische Gestalt des Gesprächs ist Ausdruck einer "großen Freiheit, unverbindlich und doch auf dem Wege, Verbindungen zu knüpfen" (1967, 211). Dieses Ineinander von Offenheit und Verbindlichkeit erläutert die Beschreibung des Menschen als einer "dialogischen Existenz" (aaO. 213): Er ist auf das Gespräch angewiesen, in dem sich unverfügbar und wirkungsvoll zugleich immer wieder das "Wunder des Verstehens" ereignet. Auf diese Weise erschließt Jetter die religiöse Dimension des Gesprächs: Während der Tod als "endgültiges Verstummen des Gesprächs" erscheint, zielt die dialogische Existenzwei-
41 Zum Folgenden vgl. besonders Jetter 1967; dazu bereits den frühen Aufsatz Jetter 1954. Jetter hat hier die Wirklichkeitsdeutung seines Lehrers G.Ebeling konkretisiert, indem er bereits die grundsätzlichen Erwägungen vom Blick auf die Praxis des Glaubens bestimmt sein läßt.
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se des Menschen auf das gelingende, ja im Grunde "auf das erlösende Gespräch, in dem er erkennt, wie und weil er erkannt ist" (211.213). So überrascht es nicht, daß Jetter auch die Anwesenheit Gottes in der Wirklichkeit als ein dialogisches Geschehen beschreibt. Bei Jesus findet er ein dialogisches Lehren, ein umfassendes und differenziertes Gespräch mit der Wirklichkeit (vgl. 1965, 431f; 1967, 217). In der Person Jesu zeigt sich das Wort Gottes nicht als autoritäre Verlautbarung, sondern als ein Geschehen, in dem "sich der Mensch zu seinem Heil von Gott ins Gespräch gezogen findet" (1965,432). Das Phänomen des menschlichen Gesprächs ist das adäquate Medium des Glaubens und der fortwährenden Menschwerdung Gottes. Aus dieser Perspektive erscheint die spielerische Distanz, in die das Gespräch die Beteiligten versetzt, als die konkrete Gestalt des "Raumes der Freiheit", den das Evangelium schafft (aaO. 453). Das Gespräch des Glaubens vermag die bedrängende Lebenserfahrung zu relativieren und ermöglicht damit einen sachlichen Umgang mit der Wirklichkeit. Das Gespräch ist zugleich der Ort, an dem die Strittigkeit des Evangelium zu ihrem spezifischen Ausdruck kommt: Der Dialog des Glaubens in und mit seiner Situation schließt eine Auseinandersetzung mit deren Widerständigkeit ein; er vollzieht sich als ein Kampfgeschehen, als ein Streitgespräch. Das Gespräch, das nicht zuletzt die erlittene Abwesenheit Gottes thematisiert, "macht den Menschen zum gerechtfertigten Sünder, der simul iustus simulque peccator - anfechtungsbedroht und hoffnungsgetröstet den Dialog des neuen Lebens durchhalten kann" (1967, 218). Es ist die offene, nach Wahrheit allererst suchende Form des Gesprächs, in der sich die Auseinandersetzung des Glaubens mit seiner Lebenswirklichkeit sachgemäß realisiert. Die Aufgabe des kirchlichen Handelns besteht dann für Jetter in der Eröffnung eines Gespräches, in dem der Glauben seine Freiheit und zugleich seine Verbindlichkeit, seine kritischen wie seine konstruktiven Aspekte zur Sprache bringen kann. Auch die Predigt muß einen dialogischen Charakter aufweisen, auch sie muß sich als ein Gespräch mit der Situation der Hörenden vollziehen, in der die Anwesenheit Gottes geglaubt wird.
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3. Die Predigtarbeit als pastorales Streitgespräch mit dem Hörer Wird die Situation des Glaubens als Ort der dialogischen Anwesenheit Gottes gedeutet, so ist es die Aufgabe der Predigt, diese Anwesenheit hinsichtlich der speziellen homiletischen Situation deutlich zu machen: "Aber predigen heißt nicht, auf dem Wort stehen, sondern es in die Zeit kommen lassen, und wenn die Situation nicht mit aufleuchtet, dann predigt man auch im Fortissimo gehäufter christologischer Aussagesätze von blauen Enten" (1964, 35). Die homiletische Situation ist damit konstitutiver Bestandteil der Predigtarbeit. Die Art und Weise, in der die Situation "mit aufleuchten soll", hat Jetter zunächst durch eine Reflexion auf die Bedeutung des Predigttextes erläutert. Das "Wesen des Textes" (1965, 434ff) ist die Darstellung jener "Elementarleistung der Sprache, die im Artikulieren von Wirklichkeitserfahrung besteht" (aaO. 437). In überlieferten Texten zeigt sich eine menschliche Deutungsaktivität, die die Wirklichkeit vor allem hinsichtlich ihrer Widerständigkeit bearbeitet, nämlich dort, "wo uns Geschehendes widersteht und der Mensch versuchen muß, seiner zunächst durch Benennung Herr zu werden" (ebd.). Die biblischen Textes können dann als Ausdruck und Bezeugung einer "einmaligen, im Jesusgeschehen konzentrierten neuen Wirklichkeitserfahrung" (aaO. 440) verstanden werden. Auch die Predigtarbeit vollzieht sich als ein Widerspruchsgeschehen. Die in den biblischen Texten artikulierte Wirklichkeitserfahrung steht zunächst quer zur gegenwärtigen Erfahrung und Deutung des Lebens, an der nicht zuletzt der Prediger selbst teilhat. Es entspricht dann der Intention des Textes, wenn der Prediger "sich gezwungen fühlt, mit dem widerständigen Text solange zu ringen, bis aus ihm im Kontext der eigenen Zeit und des eigenen Herzens das Wort wird, das den Glauben und damit die Kirche heute zur Welt bringt[.] Es geht durch ihn hindurch, das kann nicht anders sein. [...] Predigt und Theologie erstarken am Widerstand der Zeit. Dort gewinnen sie ihre Klarheit, wo es um ihre Verbindlichkeit geht" (1964,43).
In doppelter Hinsicht erinnert diese Beschreibung an Langes Sicht des homiletischen Aktes. Zum einen erscheint die homiletische Situation als eine für den Prediger beruflich wie geistlich herausfordernde Situation: Das Gespräch mit dem Unglauben, das Jetter an den Erfahrungen der Arbeiterpriester verdeutlicht hat, zielt vor allem auf die der Kirche Entfremdeten, weil hier jene Widerständigkeit der Wirklichkeit zum Ausdruck 252
kommt, durch die die Predigt allererst ihre "Klarheit und Verbindlichkeit" gewinnt. Zum anderen fällt auch hier alles Gewicht auf die Person des Predigers. Zwischen Kirche und Welt steht er als prophetischer Wächter, als "Späher im Grenzland", der "dem Welthorizont verpflichtet" ist (23) und damit "die Kirche zur Welt bringen" soll (1964, 23.33). Es wird immer zuerst die eigene Existenz sein, die der Prediger mit dem Text konfrontiert und in die er die Fragen und Zweifel seiner Hörer hinein nimmt. Auch für Jetter ist darum die pastorale Erfahrung der Anfechtung deijenige Zugang zur homiletischen Situation, mittels dessen das persönliche Wort zugleich die adäquate Form öffentlicher Predigt wird (1964, 53): "Der Vers, daß die Anfechtung auf das Wort merken läßt, läßt auch eine Auslegung auf die Predigtlehre zu, derart, daß oft gerade des Predigers verspürte Anfechtungen seine Hörer auf seine Worte aufmerken lassen. Er lebt im selben Weltgeschick. Er kennt vermutlich ihre Zweifel nicht bloß literarisch. [...] Einen andern Schlüssel zum Kontext der Zeit wird er kaum besitzen. So benütze er diesen fleißig und ehrlich!"
Indem Jetter die Predigtarbeit als exemplarische Auseinandersetzung mit der Anfechtung beschreibt, findet er Anschluß an seine inkarnatorische Wirklichkeitsdeutung: Der homiletische Akt repräsentiert jenes Gespräch des Glaubens, in dem sich Wirklichkeits- und Gotteserfahrung zugleich vollziehen. Daß die Predigt ein kommunikatives, auf die gegenwärtige Wirklichkeit zielendes Geschehen ist, kann darum durch ihre Beschreibung als "Gespräch mit dem Hörer" entfaltet werden. Diese Bestimmung hat Jetter mehrmals im Gegenüber zu traditionellen Predigtdefinitionen erläutert. So darf die Predigt nicht als "Kultrede", als eschatologischer Lobpreis Gottes mißverstanden werden, denn die "Predigt will zur Doxologie führen, ist dies aber nicht selbst" (1965, 428). Eine Deutung der Predigt als unmittelbare Gottesrede läuft dem offenen Charakter des Gesprächs und damit der Wirklichkeit des Glaubens zuwider (vgl. 1967, 217). Aus ähnlichen Gründen kritisiert Jetter die homiletische Verabsolutierung des Verkündigungsbegriffs: "Wird die Predigt beherrschend, ja ausschließlich als Verkündigung verstanden, so ist sie von doketischer Entstellung bedroht. Dann wird der Prediger zum Sprachrohr, in einer Weise von Demut, die ihn inkommunikabel macht, nur noch Instrument, Amtsträger sein läßt" (1965,430).
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Daß der Begriff der Verkündigung die göttliche Autorität der Predigt zum Ausdruck bringt, darf nicht als Auskunft über ihre kommunikative Form verstanden werden und auch nicht als Forderung einer passiven Haltung des Predigers. Als Gespräch mit den Hörenden bedient sich die Predigt vielmehr einer Redeweise, "in der ihre Sache, nämlich die Mitmenschlichkeit Gottes, am angemessensten zum Ausdruck kommt" (aaO. 431). Die verschiedenen Arbeitsgänge der Predigtvorbereitung interpretiert Jetter folgerichtig als Phasen eines Dialogs, in dem "der Prediger als Hörer mit dem Text spricht" (aaO. 446) und damit das Gespräch des Glaubens über die Wirklichkeit exemplarisch führt42. Die Bestimmung der Predigt als Gespräch in und mit der homiletischen Situation hat nicht zuletzt Konsequenzen für ihren Umgang mit den Hörern, denen sie den "Vorbehalt des Geistes und damit der Freiheit" zuzugestehen hat43. Werden die Hörenden als Gesprächspartner gesehen, so ist die Predigt zu klarer, verständlicher und "wohlbegründeter" Rede verpflichtet, die die Beteiligten als denkende und fragende Menschen ernst nimmt (vgl. 1967, 214). Im ganzen bleibt Jetter aber auch hier bei einer Perspektive, die das gegebene Phänomen, das Übliche und damit die pastorale Arbeit in den Blick nimmt. Vor- und Nachgespräche wie Dialogpredigten erfordern viel Vorbereitung und können nicht mehr sein als eine experimentelle Ergänzung des Normalen (vgl. 1965, 430f). Um so mehr ist die Predigt, wird sie als Gespräch verstanden, auf die Ergänzung durch andere Formen des Dialogs im Rahmen des kirchlichen Handelns angewiesen. Hinsichtlich der Institution der Predigt selbst jedoch wird der dialogische Vollzug "im Kern ein Problem der Denk- und Redeweise bleiben" (1967, 219). Wie die pastorale Predigtarbeit sich zum realen Dialog mit anderen Gemeindegliedern verhält, bleibt im Grunde offen.
42 W.Steck hat darauf hingewiesen, daß die Arbeit des Predigers ähnlich bereits von Schleiermacher in seiner Praktischen Theologie beschrieben wird: "Das Verfahren ist seiner Natur nach ein dialogisches; es ist ein Dialog mit seiner Schriftstelle, die er fragt und die ihm antwortet, und mit seiner Gemeine" (zit. nach Steck 1974, 44 [Anm. 160]). Jetter hat sich im übrigen in seinen homiletischen Arbeiten zwar selten, aber meist positiv zu Schleiermacher geäußert; vgl. etwa 1965, 410. 43 Jetter 1970, 41; vgl. 1964, 53: "Vielleicht sollten wir eine Zeitlang nicht so sehr in der 'Liebe' zu unseren Hörern predigen wollen, wenn sie uns doch allermeist etwas zu pastoral gerät, sondern sollten erst einmal schlicht und bescheiden in der Achtung vor ihnen, im schuldigen mitmenschlichen Respekt zu ihnen reden lernen."
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Mit seiner dialogischen Konzeption der Predigtlehre hat Jetter, so läßt sich zusammenfassen, die konstitutive Bedeutung der homiletischen Situation festgehalten. Wird die Wirklichkeit theologisch als ein Geschehen gedeutet, das sich allererst im Streitgespräch des Glaubens erschließt, so erscheint sie von sich aus auf die Predigtbemühung angewiesen. Und umgekehrt stellt die Predigt, in der sich der Glauben in Freiheit und Verbindlichkeit zugleich zum Ausdruck bringt, einen exemplarischen Ausschnitt dieser immer schon dialogischen Situation dar. Schließlich ist damit auch die Aufgabe des Predigers umrissen: Als Ort der strittigen Anwesenheit Gottes fordert die homiletische Situation den Prediger zur Entfaltung seines persönlichen Glaubens und zugleich zu einem beruflichen, spezifisch pastoralen Gesprächsbeitrag heraus. Jetter beläßt es allerdings auch hinsichtlich der Situation der Predigthörer bei "mittleren Feststellungen". Eine präzisere Interpretation dieser Situation, die die Predigtarbeit auch methodisch klären könnte, trägt er nicht vor; und die auf das homiletische Gespräch bezogenen Formeln bleiben im Grunde programmatisch. Sie verstehen sich offenbar als Anregungenfür die pastorale Reflexion, die auf eine Ergänzung durch andere Deutungen jener Situation angelegt sind44.
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Ausdrücklich hat F.Wintzer das Stichwort des Dialogs aufgegriffen, indem er die Predigt als "Ermutigung zum Dialog" bestimmt (vgl. Wintzer 1970) und ähnlich wie Jetter exegetische und meditativ-homiletische Arbeit des Predigers als Vollzug eines "indirekten Dialogs" mit den Hörern versteht (aaO. 209.215 u.ö.). Auf Jetters Überlegungen hat Wintzer aber nur am Rande zurückgegriffen (aaO. 209).
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E. Die homiletische Situation als kommunikatives Problem
Die Debatte der 60er Jahre über die homiletische Situation, die hier anhand der Beiträge Langes und anderer untersucht wurde, zeigt ein überaus komplexes Bild. Damit dokumentiert diese Debatte zunächst nur die faktische Vielschichtigkeit der praktisch-theologischen "Wende zur Erfahrungswelt" im ganzen, in der sich theologische Motive immer wieder mit außertheologischen Entwicklungen und Einflüssen verbinden. Zugleich ist allerdings zu bedenken, daß dem Problem der homiletischen Situation im Kontext jener Wende ein besonderer Stellenwert zukommt. Trotz der teilweise heftigen Kritik an der Wort-Gottes-Theologie bleiben alle Autoren dabei, daß die Predigt die paradigmatische Form der kirchlichen Verkündigung ist und insofern die Predigtlehre die praktisch-theologische Leitdisziplin darstellt. Es ist darum zunächst weiterhin die Homiletik, die die neuen Fragestellungen vornehmlich diskutiert und entfaltet1. In diesem Rahmen aber stellt sich die Frage nach den Erfahrungen der an der Verkündigung Beteiligten eben als Frage nach der homiletischen Situation. Gerade in ihrer Komplexität stellt die oben nachgezeichnete Debatte dann einen exemplarischen Ausdruck der Wende zur Erfahrungswelt dar. Die Untersuchungen des Zweiten Teils haben die bleibende Relevanz theologischer Betrachtungsweisen erkennen lassen, die nicht selten der dogmatischen Arbeit der vorangehenden Generation entstammen. Zwar wird diese theologische Perspektive zumeist durch die vermehrte Aufnahme pastoraler Berufserfahrung und die Rezeption außertheologischer 1 So schreibt W.Steck: "Die gegenwärtigen Ansätze einer praktisch-theologischen Homiletik [...] brechen keineswegs mit den traditionellen homiletischen Denkformen. Sie markieren vielmehr Stadien in einem Entwicklungsprozeß, der das theologische Denken im Ganzen erfaßt hat. Die Integration der Homiletik in die theologische Arbeit, das Charakteristikum der vergangenen Jahrzehnte homiletischer Entwicklung, ist nicht nur Anlaß für das neue praktisch-theologische Denken, sondern ebenso auch dessen Grundvoraussetzung" (Steck 1974, 67).
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Deutungsmuster überlagert und verdeckt. Gerade in ihrer Unausdrücklichkeit entfalten die dogmatischen Prämissen der homiletischen Arbeit jedoch eine bleibende Wirkung. Die folgende Zusammenfassung konzentriert sich auf dieses spannungsvolle Verhältnis theologischer und unmittelbar erfahrungsorientierter Aspekte der Situationsdeutung. Zum Vergleich wird dabei auf Ergebnisse des Ersten Teils zurückgegriffen.
1. Die neue Deutung der homiletischen Krise Auch den Autoren der 60er Jahre erscheint das Gegenüber der Predigtarbeit als Kristallisationspunkt einer Krisenerfahrung. Sprachen Iwand und seine Zeitgenossen vom Bann der "Predigtnot", der die Reflexion des homiletischen Wirklichkeitsbezuges erzwang, so stellt nun die "Unwirklichkeit", die "Lebensferne" oder die "Irrelevanz" der zeitgenössischen Predigt den Ausgangspunkt der Überlegungen dar. Daß die Predigt ihrem Anspruch auf Relevanz und Verbindlichkeit für ihre Hörer nicht gerecht wird, ist zur Kernerfahrung eines "homiletischen Situationsbewußtseins" geworden, "das beinahe allgemeingültig genannt werden kann" (W.Steck 1974, 22). Das Bewußtsein der Krise bezieht sich allerdings nicht mehr ausschließlich auf die theologische Qualität der Predigt und ihre ausbleibende geistliche Wirkung. Für Lange und seine Zeitgenossen werden vielmehr "die dünnen Stellen im Auditorium" (Jetter 1967, 213) bedrängend: Die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt und entsprechend steigt die Zahl der "Nichthörer", die ihre Enttäuschung auch öffentlich machen 2 . In dem verbreiteten Bild der "gläsernen Wand" zwischen dem Prediger und seinen potentiellen Hörern kommt die Erfahrung einer mißlingenden Verständigung zum Ausdruck: Der Prediger "kommt, wie es scheint, mit seiner Verkündigung gar nicht erst an den Punkt, an dem sich Glauben und Unglauben entscheiden" (Lange, ZTP 18). Dieser gleichsam kommunikativen Deutung der Predigtnot entspricht eine andere Sicht ihrer Ursachen. Für Iwand wie Mezger geht die Wirkungslosigkeit der Predigt im Grunde auf ein individuelles Versagen der
2 Vgl. etwa die sowohl von Jetter (1962, 488) wie von Lange (CdA, 8) angeführte Klage O.Küsters.
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Prediger zurück: Es ist der Unglaube bzw. die defiziente Theologie der zur Verkündigung Berufenen, wodurch die Predigt der Kirche zum Problem wird. Iwand hat den "Bann" über der Predigtarbeit darum ausdrücklich als eine Glaubenserfahrung, nämlich als Anfechtung der Prediger verstanden und bearbeitet. Wird die Predigtnot dagegen zunächst als ein Problem der Verständigung begriffen, so rücken ihre institutionellen Ursachen in den Vordergrund. Diese Verschiebung kommt besonders in der zunehmenden Bedeutung der Kirchen- bzw. Religions Soziologie3 zum Ausdruck, wie sie hier für Lange nachgezeichnet wurde. Die Schwierigkeit, die homiletische Situation überhaupt zu erreichen, wird zurückgeführt auf eine prinzipielle Distanz zwischen dem bürgerlich-traditionell geprägten kirchlichen "Milieu" und der alltäglichen Lebenswirklichkeit in der modernen, vielfältig differenzierten Gesellschaft. Die soziale Marginalisierung der Ortsgemeinde führt zu einem Funktionsverlust der gottesdienstlichen Predigt, der nicht dem einzelnen Prediger angelastet werden kann. Auch im Binnenvergleich verschiedener kirchlicher "Kommunikationsformen" erscheint die Predigt als eine monologische, tendenziell autoritäre Vermittlungsweise, deren Effizienz im Vergleich mit der massenmedialen Verkündigung, aber auch, in anderer Hinsicht, mit den kirchlichen Bildungsveranstaltungen als gering zu betrachten ist. Es ist die Kommunikationstheorie in ihren verschiedenen Spielarten, die in dieser Hinsicht an Bedeutung gewinnt. Auf diese Weise ergibt sich in der Deutung des Predigtproblems allerdings eine Spannung, auf die besonders Lange hingewiesen hat: Während ihre faktische Bedeutung und ihre kommunikative Struktur die Predigt objektiv zu einem Randphänomen kirchlicher Wirksamkeit machen, erscheint sie aus der Perspektive der an ihr Beteiligten weiterhin als zentrale Institution der kirchlichen Arbeit; zugleich ist sie damit der Ort, an dem sich das pastorale Selbstbewußtsein vornehmlich definiert. Die Deutung der Predigtnot als ein pragmatisch-institutionelles Problem kann deswegen nicht verhindern, daß insbesondere die Prediger diese Krise nach wie vor als außerordentlich bedrängend erfahren. Aus dieser Spannung zwischen objektiver und subjektiver Perspektive auf das Predigtproblem sind unterschiedliche Folgerungen gezogen wor3
Vgl. zur Beschreibung und zugleich Kritik dieser Entwicklung Rendtorff 1966.
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den. Die ökumenische Debatte hat die traditionelle Kommunikationsform der Predigt im Ergebnis für irrelevant erklärt, weil sie unter den gegenwärtigen Bedingungen ihre Funktionalität verloren habe. Bastians kybernetische Betrachtungsweise ist faktisch dieser Linie gefolgt, weswegen es ihm auch nicht gelungen ist, die konkrete Predigtarbeit konstruktiv zu beschreiben (s.o. D.I.3). Mit solchen Ansätzen, deren Spuren sich durchaus auch bei Lange finden, wird im Grunde eine bestimmte theologische Tradition aufgenommen, die die negative Einschätzung der vorfindlichen Wirklichkeit mit einer scharfen Kritik an der verfaßten Kirche verbindet. Die Polemik gegen die Selbstisolierung und Wirklichkeitsvergessenheit des kirchlichen Lebens führt die Kritik fort, die bereits Iwand wie Mezger und Harbsmeier geäußert haben: Die kirchliche Organisation hintertreibe durch das Interesse an der eigenen Stabilität faktisch die Freiheit und die Wirklichkeitsbezogenheit des Wortes. Mit dieser prinzipiellen Institutionskritik ist jedoch ein Desinteresse an der Reflexion der pastoralen Praxis verbunden, das bei Iwand und Mezger wie bei den extremen Funktionalisten zur Ausblendung der homiletischen Situation als eines spezifischen Problems der Prediger führt. Wird die homiletische Krise dagegen nicht ausschließlich als funktionales Problem gedeutet, sondern auch die pastorale Innenperspektive berücksichtigt, so muß die dogmatische Auffassung der Predigt zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden. Denn es ist die theologische Bestimmung der Predigt als Verkündigung des Wortes Gottes, die ihren hohen Rang für das kirchliche und pastorale Selbstverständnis im wesentlichen legitimiert. Die zeitgenössische "Überhöhung" eines solchen Predigtbegriffs verhindert jedoch zugleich, wie zuerst Trillhaas kritisiert hat, daß die Predigt als eine konkrete pastorale Aufgabe in den Blick genommen wird. Wird die Predigt unmittelbar als "Wort Gottes" verstanden, so bleibt ihre faktische Verflechtung mit anderen Formen der Verkündigung ebenso undeutlich wie die Vielfalt der homiletischen Situationen, denen sie gilt. Mehrheitlich wird die Predigtnot in den 60er Jahren darum als ein Phänomen gedeutet, das die homiletische Dogmatik selbst in Frage stellt. Die bisher skizzierten Verschiebungen können dann als Ausdruck einer Veränderung des Predigtbegriffs gelten, die in ihren Konsequenzen nicht leicht zu überschätzen ist. An die Stelle des traditionellen dogmatischen 259
Predigtbegriffs, in dessen Rahmen die Arbeit des Predigers sich auf eine exemplarische, stets rezeptive Glaubenserfahrung reduziert, tritt eine Auffassung der Predigt als einer bestimmten kommunikativen Bemühung: Der Prediger steht vor der Aufgabe, das Evangelium in einer spezifischen Situation verständlich zu machen. In den Umschreibungen der Predigt als "notwendiges Wort" (Lange), als "Rede" oder "Gespräch" (Otto/Jetter) oder auch als "Nachricht" (Bastian) steht dieser kommunikative Aspekt im Vordergrund. Wird die Predigt nicht allein in ihrer "dogmatischen Normativität" in den Blick genommen, sondern zugleich hinsichtlich ihrer kommunikativen "Faktizität"4, so verändert sich auch das Verständnis der homiletischen Situation. Neu ist dabei allerdings nicht die Forderung eines funktionalen Bezugs der Predigt auf die Wirklichkeit ihrer Hörer. Bereits in der dogmatischen Perspektive Iwands ist die Predigt dadurch bestimmt, daß das Wort Gottes selbst auf die menschliche Wirklichkeit zielt und dort seine Wirkung entfalten soll. Insofern ist die Predigtarbeit bereits hier funktional an der homiletischen Situation ausgerichtet. Die Kritik am dogmatisch überhöhten Predigtbegriff zielt jedoch nicht zuletzt darauf, daß der homiletische Wirklichkeitsbezug nicht ausschließlich durch das pastorale Subjekt, genauer: in seinem Glauben herzustellen ist. Es ist diese Konzentration auf den persönlichen, stets neu zu konstituierenden Glauben des Predigers, die zur Ausblendung der jeweiligen institutionellen Bedingungen der Predigtarbeit führt. Ebensowenig läßt sich die Frage nach der Funktion der Predigt allerdings auf diese Bedingungen reduzieren. Durch die Analyse der entsprechenden empirischen Beschränkungen, wie sie besonders Bastian unternimmt, ist die Frage nach einem konstruktiven funktionalen Bezug zur Wirklichkeit gerade noch nicht beantwortet. Die meisten Autoren haben die Funktionalität der Predigt darum in der konkreten pastoralen Kommunikationsbemühung gewahrt gesehen: Die adäquate Erschließung der homiletischen Situation vollzieht sich in einer individuell verantworteten Predigtarbeit und unterliegt zugleich bestimmten institutionellen Bedingungen, die vom Prediger zu reflektieren sind. Die Predigtarbeit erscheint mithin als eine spezifische berufliche Aufgabe,
4
Vgl. zu diesen Bestimmungsfaktoren der Predigt Gräb 1988, 50ff.l68ff.
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deren Lösung systematisch-theologische wie auch erfahrungswissenschaftliche Einsichten erfordert. Wird die "Predigtnot" als ein kommunikatives, und damit beruflich zu bearbeitendes Problem aufgefaßt, so lassen sich die homiletischen Texte der 60er Jahre als Reaktion auf eine doppelte Erfahrung des Ungeniigens lesen. Zunächst verstärkt sich, je stärker empirische Perspektiven einbezogen werden, der Eindruck einer methodischen Hilflosigkeit gegenüber der homiletischen Problemstellung. Daraus resultiert die verstärkte Suche nach "neuen homiletischen Verfahren", deren Kriterium nicht zuletzt darin liegt, "in der Realität gemeindlichen Lebens hantierbar" zu sein (Lange, ZTP 35ff.48). Erhält jedoch die konkrete Predigtarbeit neue Aufmerksamkeit, so rückt zugleich die Situation in den Vordergrund, auf die die kommunikative Bemühung zielt. Da die Wirklichkeit der Hörenden dem Prediger nicht mehr ohne weiteres zugänglich ist, erfordert sie eine eigentümliche, und eigens zu reflektierende Deutung. Beide Fragestellungen, die aus dem kommunikativen Predigtbegriff resultieren, sind nun näher zu betrachten.
2. Die doppelte Sicht der Predigtarbeit Die Generation Iwands hat die Predigtarbeit in methodischer Hinsicht ausschließlich als Auslegung des Predigttextes verstehen wollen, weil nur so die Souveränität des Wortes Gottes über die menschliche Wirklichkeit zu wahren sei. Der Erste Teil hat gezeigt, daß die homiletische Situation dann nur als fundamental kritisierte und verwandelte Realität Bedeutung für die Predigt gewinnen kann. In der beruflichen Erfahrung der Predigtnot bestätigen sich diese theologische Deutung und die konkret erlittene Widerständigkeit der Situation gegenseitig und werfen den Prediger immer wieder auf die individuelle Auseinandersetzung mit dem Text zurück. Zugleich hat sich allerdings herausgestellt, daß eine solche Auffassung der Predigtarbeit auf der selbstverständlichen Identifikation von Predigerund Hörersituation beruht. Die ausdrückliche Reflexion des Gegenübers der Predigt kann nur deswegen theoretisch vernachlässigt werden, weil die Erfahrung des Predigers, daß das Wort ihn in seiner Situation trifft und neuen Glauben begründet, zugleich die Erfahrung der Hörer reprä-
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sentiert. Der Charakter der Predigtarbeit als eines exemplarischen Glaubensprozesses garantiert, daß die Predigt sich trotz der systematischen Abwertung der menschlichen Wirklichkeit faktisch auf die Situation der Hörer zu beziehen vermag. Erscheint die homiletische Krisenerfahrung jedoch zunehmend als Verständigungsproblem, so hat jene selbstverständliche Voraussetzung offensichtlich an Plausibilität verloren. Es ist gerade die Differenz zwischen Prediger- und Hörersituation, die die Predigtarbeit als kommunikative Bemühung erscheinen läßt. Auch wenn diese Distanz von den einzelnen Autoren sehr unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet wird, so herrscht doch Einigkeit darüber, daß die Predigtarbeit nicht ausschließlich als eine (exemplarische) Erfahrung des Glaubens verstanden werden kann, sondern daß sie eine ausdrückliche Bemühung um die Situation der Hörenden einschließen muß, wie sie exemplarisch in Langes "neuem homiletischen Verfahren" entfaltet wird. Damit ergibt sich in dem betrachteten Zeitraum ein neues, reichhaltigeres Verständnis der Predigtarbeit, das etwa in ihrer durchgehenden Beschreibung als "Dialog" zum Ausdruck kommt 5 . Durch den erneuten Rückgriff auf dieses Phänomen wird zunächst die prinzipielle Gleichwertigkeit von Text- und Situationsbezug angezeigt: Die Aufgabe des Predigers besteht in einer Vermittlung der vorfindlichen Situation und des aus dem Text erschlossenen Evangeliums. Die Rede von einer dialogischen Predigtarbeit kann jedoch auch so verstanden werden, daß sie primär auf den Dialog mit den Hörern zielt: "Predigen heißt: ich rede mit dem Hörer über sein Leben" (Lange, AcR 58). Die Predigtarbeit erscheint hier im Ganzen als Erschließung der homiletischen Situation. Wird die Predigtarbeit nicht zuletzt als eine solche Erschließungsaufgabe begriffen, so ist sie allerdings nicht mehr ausschließlich mit theologischen Kategorien zu deuten, die die Wirklichkeit jedes Glaubenden betreffen. Dementsprechend versucht Lange, ebenso wie Otto und Jetter, die Predigtvorbereitung nicht allein als Glaubenserfahrung, sondern zu-
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Vgl. Lange, ZTP 50: "Predigt und Predigtvorbereitung tragen daher prinzipiell dialogische Struktur. Sie sind ein aus dem Dialog erwachsendes und den Dialog wiederum eröffnendes Geschehen." - Otto 1967, 299: "Wie kommt die Predigt auf diesen Weg? Indem der Prediger seine exegetischen Erkenntnisse und die Welt- und Menschenkenntnis seiner Gegenwart in einen Dialog miteinander führt. Von der Vitalität dieses Dialogs hängt alles ab." - Zu Jetter s.o. D.III.3.
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gleich als einen Zusammenhang verschiedener methodischer Arbeitsgänge zu beschreiben. Bei diesen Autoren ist also eine doppelte Perspektive zu beobachten: Die Kommunikation mit der Wirklichkeit der Hörer soll empirisch aufgeklärt werden und wird zugleich weiterhin systematischtheologisch interpretiert. Das Verhältnis dieser beiden Sichtweisen gehört zu den zentralen Problemen des homiletischen Situationsbegriffs. Betrachtet man zunächst die erfahrungswissenschaftlichen Deutungen, so versuchen alle Autoren, die Predigt in das Spektrum menschlicher Kommunikation einzuordnen und für die Predigtarbeit entsprechende Kategorien heranzuziehen. Das Verständnis der Predigt als Rede und dementsprechend die Rezeption der Rhetorik hat hier bereits Tradition. So versuchen Lange und vor allem Otto, das homiletische Kommunikationsgeschehen rhetorisch zu analysieren und die einschlägigen Einsichten für die Predigtarbeit zu nutzen. Eine ähnliche Funktion hat Bastians Rezeption der Kommunikationstheorie: Indem die Predigt als ein bestimmter Fall von Information verstanden wird, soll ihre Wirkung "technisch" optimiert werden. Schließlich zielt auch Jetters Verständnis der Predigt als Gespräch darauf, die Einsicht in die anthropologische Bedeutung des Dialogs für die pastorale Arbeit fruchtbar zu machen. Die Aufnahme solcher Perspektiven verpflichtet die Predigt regelmäßig zu einer sorgfältigen Berücksichtigung des Kontextes, in dem sich ihre Kommunikationsbemühung vollzieht. Es ist die Erschließung der homiletischen Situation, worauf die empirischen Bemühungen um die Bedingungen der Predigtwirkung und Predigtarbeit zielen. Im Grunde geht es ihnen darum, die verlorene Identität von Prediger- und Hörerwirklichkeit wiederherzustellen. Dieses theologische Ziel der Rezeption empirischer Kategorien wird allerdings dort undeutlich, wo die feststellbare Wirkung der Predigt tendenziell zum einzigen Kriterium wird. Bastians einliniges, allein auf Effektivität bezogenes Kommunikationsverständnis läßt die Frage nach dem spezifischen Inhalt, den die Predigt zu vermitteln hat, ebenso in den Hintergrund treten wie Ottos programmatische Verzicht auf eine nähere Bestimmung des Predigtaktes. Mit einer solchen, ausschließlich empirisch bestimmten Ausrichtung an der Situation der Hörenden gerät die pastorale Predigtarbeit in den Verdacht, die kritische Potenz des Wortes Gottes
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nicht zur Geltung kommen zu lassen6. Wird die Predigtarbeit auf eine kommunikative Verständigungsaufgabe reduziert, so erscheint ihre theologische Deutung und Kontrolle überflüssig. Es ist eben diese Gefahr eines empirischen Mißverständnisses der Predigtarbeit, auf die Langes Unterscheidung zwischen dem Auftrag der Verständigung und der Verheißung des "Einverständnisses" zielt. Auch wenn diese Unterscheidung sich in verschiedener Hinsicht als unzulänglich erweist7, ist damit doch der Versuch unternommen, die prinzipielle Unverfügbarkeit jenes Geschehens festzuhalten. Zwar weist auch Lange dem Prediger die Aufgabe zu, die institutionsbedingte, objektive Distanz zwischen seiner Wirklichkeit und der Wirklichkeit seiner Hörer so weit als möglich kommunikativ zu überwinden. Zugleich lassen er, und andere Autoren, aber keinen Zweifel daran, daß die Vermittlung von Wort Gottes und homiletischer Situation weder durch den Prediger noch durch die Hörenden selbst methodisch erreichbar ist. Lange hebt deswegen die Bedeutung des rhetorischen Einfalls hervor, in dem sich die Selbstdurchsetzung der Verheißung manifestiert; und Jetter weist auf die Unverfügbarkeit eines jeden gelingenden Gespräches hin. In theologischer Hinsicht bleiben die genannten Autoren im Grunde bei der traditionellen Auffassung der Predigtarbeit als eines exemplarischen Glaubensprozesses. Diese Kontinuität kommt auch darin zum Ausdruck, daß der homiletische Akt von den meisten weiterhin als ein Konfliktgeschehen beschrieben wird. Die vorfindliche Situation des Predigers, die mittels seiner kommunikativen Bemühungen zugleich die Situation seiner Hörer repräsentiert, verhält sich zum Anspruch der Überlieferung zunächst immer widerständig, ja antagonistisch; und es bedarf einer erneuten Glaubenserfahrung, in der Situation und Evangelium sich vermitteln. Damit scheint sich die theologische Wertung zu wiederholen, die für Iwand und seine Zeitgenossen kennzeichnend ist: Die homileti-
6 Diesen Vorwurf hat gegenüber Lange insbesondere Bohren erhoben; vgl. Bohren 1980, 450ff; 1981, 424f. Ähnlich argumentiert Mildenberger: "[D]ie einseitige Orientierung an dem Predigthörer, dessen Zeit der homiletische Akt für sich gewinnen möchte, bring[t] ein synthetisches Verständnis der Predigt mit sich. Die Predigt bringt dem Hörer das Evangelium nahe; und muß dabei selbstverständlich darauf achten, daß dieses Evangelium einem Bedürfnis der Hörer entgegenkommt; daß er begreift: Ich brauche dieses Evangelium. [...] Der Praktische Theologe immunisiert sich mit derartigen Äußerungen gegen jede kritische Funktion, sei es der Schriftauslegung oder Dogmatik [...]" (1984, 24; vgl. 20f). 7 Vgl. die Diskussion oben in Abschnitt C.V.5.
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sehe Situation kommt nur als problematische und allererst kritisch zu verändernde in den Blick. Die theologische Perspektive auf die homiletische Erschließung der Situation muß jedoch nicht zwangsläufig zu einer Einengung dieser Aufgabe führen. Wiederum an Lange ist vielmehr zu beobachten, wie theologische und erfahrungsorientierte Deutung ineinandergreifen: Indem die Predigtaufgabe als Klärung der Situation, als Erweis ihrer eigentümlichen Verheißungsfülle bestimmt wird, ist die konstruktive Erschließung der Situation theologisch begründet. Auch Otto und Jetter versuchen jeweils, Situation und Predigtinhalt nicht einfach entgegenzusetzen, sondern die kommunikative Bemühung um die Situation der Hörenden theologisch als notwendigen Bestandteil der Predigtarbeit zu erweisen. Die Verbindung einer kommunikationswissenschaftlichen und einer theologischen Deutung der Predigtbemühung hat nun Konsequenzen für das Verständnis der homiletischen Situation selbst. Zielt die Predigt nicht mehr ausschließlich auf eine kritische Erschütterung des Gegebenen, sei sie empirisch oder "geistlich" beschrieben, sondern auf eine neue, verheißungsvolle Deutung der homiletischen Situation, so sind die Grundsätze anzugeben, denen eine solche Erschließung folgen soll.
3. Empirische und theologische Deutung der homiletischen Situation Der theoretische Gewinn der homiletischen Debatte in den 60er Jahren liegt zunächst in einer differenzierten Sicht der pastoralen Predigtarbeit. Aus der Erkenntnis, daß die Predigt aus theologischen Gründen als eine bestimmte Kommunikationsbemühung zu verstehen ist, ergibt sich eine neue Aufmerksamkeit auf die institutionellen und individuellen Bedingungen, denen sie jeweils unterliegt. Mit diesem gleichsam pragmatischen, berufsbezogenen Interesse erweist sich die homiletische Debatte als integrierender Bestandteil der praktisch-theologischen "Wende zur Erfahrungswelt". Zugleich gewinnt in dieser pragmatischen Perspektive jedoch die Erfahrungswelt der Hörenden an Bedeutung. Wird die Predigtarbeit als kommunikative Aufgabe verstanden, so muß sie sich ausführlich mit der jeweiligen Wirklichkeit ihrer Hörerinnen und Hörer auseinandersetzen.
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Mit der pragmatischen Aufwertung der homiletischen Situation ist nun, besonders bei Lange und Otto, eine bestimmte Akzentuierung verbunden, nämlich die Betonung der je individuellen, konkreten Lebenswirklichkeit, die nicht in der kirchlichen oder gesellschaftlichen "Großwetterlage" aufgeht. Diese Akzentuierung dient offenbar der Legitimation: Je spezifischer die homiletische Situation beschrieben wird, je weniger sie nur als immer gleiche Situation des Glaubens erscheint, desto einsichtiger ist die Notwendigkeit ihrer eigenständigen pastoralen Bearbeitung. In diesem Sinne fordern die beiden Autoren, bei der homiletischen Reflexion nicht mehr vom Modell der sonntäglichen Gemeindepredigt auszugehen, sondern von der Kasualpredigt. "Bei der Bemühung um die Kasualrede ist das zumindest zeitlich erste die Kenntnisnahme von einer besonderen Situation, von besonderen Menschen und ihrem Geschick."8 In dieser Perspektive wird die Predigtaufgabe wesentlich durch eine Situation bestimmt, die in ihrer Individualität eben nicht mehr allein durch die Bearbeitung eines Textes zu erschließen ist. Eine kasuelle Auffassung der Predigt und das Interesse an den konkreten Zügen der homiletischen Situation bedingen sich gegenseitig. Zugleich ist es allerdings offensichtlich, daß das neue Verständnis des Predigtmodells wie der homiletischen Situation sich theologischen Entwicklungen verdankt, die den Rahmen der Predigtlehre weit überschreiten. Insbesondere bei Otto, aber auch bei Lange ist die Überzeugung wirksam, daß der Glaube sich stets in einer bestimmten, konkreten Lebenssituation verwirklicht. Es ist offenbar die hermeneutisch-theologische Tradition, wie sie oben skizziert wurde, der sich diese Auffassung im wesentlichen verdankt9. Auch für die 60er Jahre ist die Deutung der Hörerwirklichkeit nicht zuletzt Ausdruck der gesamttheologischen Diskussionslage und ihrer Wandlungen10. So wird das Gegenüber der Pre-
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Lange, ZTP 22; vgl. 15.22-24; ähnlich argumentiert auch Otto 1970, 63f. S.o. Erster Teil B.l. Für viele Autoren der homiletischen Wende sind auch G.Ebelings Überlegungen und Formulierungen von Bedeutung. 10 Auch Rössler führt die unterschiedlichen Auffassungen der Predigt und ihres Wirklichkeitsbezugs, wie sie sich in der Neuzeit herausgebildet haben, auf eine im Grunde dogmatische Unterscheidung hinsichtlich des Religionsbegriffs zurück: "Auf der einen Seite wird die Predigt der Individualität des Christen zugeordnet und zwar so, daß sowohl ihr Sinn und ihre Ziele, wie die Predigtaufgabe selbst ganz unter dieser Perspektive behandelt werden. Auf der anderen Seite wird die Predigt aus der theologischen Prinzipienlehre entwickelt [...]. Auf der einen Seite repräsentiert sich daher in der Predigt die religiöse Subjektivität, auf der anderen der objektive Lehrzusammenhang der Religion. Die unterschiedlichen Fassungen des Pre9
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digt von Lange und vielen seiner Zeitgenossen als Ensemble individueller Situationen aufgefaßt, in denen die Predigt die konkrete Vermittlung von Wort Gottes und eigener Erfahrung als je neuen, kritischen Verstehensprozeß ermöglichen soll. Ebenso dürfte es Ausdruck einer allgemeinen theologischen Tendenz sein, daß nun die empirische Beschreibung jener Erfahrung an Bedeutung gewinnt. Wird die homiletische Situation als je spezifische Situation des Glaubens ins Auge gefaßt, so rücken zunächst die geschichtlichen Besonderheiten der Gegenwart in den Vordergrund. Hieraus erklärt sich das durchgehende Interesse, das die Homiletik der 60er Jahre an der sozialen und geistigen Eigenart der Moderne zeigt. Funktionale Differenzierung, Vereinzelung und Vermassung der Menschen sowie die Marginalisierung der Ortsgemeinde sind nicht zuletzt deswegen von Bedeutung, weil sie die zunehmende Individualität der homiletischen Situationen empirisch begründen und damit den kasuellen Charakter der Predigt legitimieren. Eine empirische Perspektive auf die Situation legt sich der Homiletik weiterhin durch die Aufnahme einer bestimmten Deutung der Neuzeit nahe, wonach der moderne Mensch seine Wirklichkeit zunehmend selbstverantwortlich, ohne traditionale Lenkung gestaltet und gestalten muß. Die Predigt steht dann gleichsam unter dem funktionalen Imperativ, sich angesichts der jeweiligen situativen Anforderungen bewähren zu müssen. Insofern muß sie die Auslegungen in den Blick nehmen, die die Hörenden selbst ihrer jeweiligen Lebenssituation geben. Denn es sind diese, der Predigt vorgegebenen und wiederum empirisch zu erhellenden Deutungen, die sie aufzunehmen und in das "Licht der Verheißung" (Lange) zu stellen hat. Der Rückblick auf die erfahrungswissenschaftlichen Kategorien und Ergebnisse, die die untersuchten Autoren zur Deutung der homiletischen Situation heranziehen, zeigt allerdings, daß diese Auswahl von theologischen Interessen geleitet ist. Die Deutung der Lebenswirklichkeit der Hörer als Verstehensprozeß (Otto), als vieldimensionale Kommunikation
digtbegriffs gehen also auf einen jeweils anders akzentuierten Begriff der christlichen Religion zurück, der seinerseits aus der Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Wirklichkeit folgt. Zugrunde liegt dabei die Frage, ob in der Erfahrungswirklichkeit als solcher die religiöse Wirklichkeit erschlossen werden kann, oder ob der Erfahrungswirklichkeit nicht vielmehr die andere religiöse Wirklichkeit entgegenzusetzen ist, um darin alle Erfahrung zu überbieten" (Rössler 1986, 321).
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(Bastian) oder als beständiges Gespräch (Jetter) ist stets Ausdruck eines gleichsam missionarischen Interesses, das auf die Relevanz des kirchlichen Handelns in der gegenwärtigen Situation zielt. Besonders evident ist die theologische Steuerung der empirischen Perspektive bei Langes Wirklichkeitsdeutung: Die sachlich-funktionale Struktur der modernen Gesellschaft, die auf Gestaltung durch verantwortliche Personen angewiesen ist, diese aber nicht selbst produzieren kann, resultiert für ihn in einer Ambivalenzerfahrung, die ihren sachgemäßen Ausdruck in der Anfechtung des Glaubens angesichts der Verheißungslosigkeit seiner Situation findet. Die Aufgabe der Predigt, jene widersprüchliche Wirklichkeit in einer klärenden und befreienden Weise zu deuten, ergibt sich auf diese Weise aus der spezifisch modernen Wirklichkeitserfahrung selbst. Auch die anderen "empirischen" Deutungen, die oben betrachtet wurden, laufen darauf heraus, den Eingriff der kirchlichen Predigt als möglich und notwendig zu erweisen. Die Deutung der homiletischen Situation als einer spezifischen Situation des Glaubens scheint allerdings zunächst das traditionelle Muster einer ausschließlich negativen Perspektive zu reproduzieren. In der Differenz von Kirche und Welt kommt, ungeachtet aller institutionellen Erwägungen, wiederum der Unglaube der Welt zum Ausdruck, dem durch kirchliches, missionarisches Handeln zu begegnen ist. Eine solche, ausschließlich kritische Situationseinschätzung ist bei Bastian, zunächst auch bei Jetter und Lange zu beobachten; am deutlichsten manifestiert sie sich in der ökumenischen Debatte, soweit sie von der "differenztheologischen" Sichtweise Hoekendijks geprägt ist (s.o. B.2). Zugleich hat die ökumenische Debatte jedoch auch den Boden für eine andere Interpretation der Wirklichkeit bereitet, indem sie die "Welt" gegenüber der Kirche theologisch aufwertet und detaillierter untersucht (s.o. B.4). Wird die Wirklichkeit als Ort des Handelns Gottes begriffen, so lassen sich theologische und erfahrungsorientierte Perspektiven auf die homiletische Situation vermitteln, wie etwa Jetters Rückgriff auf die Inkarnationstheologie dokumentiert. Die kommunikativ orientierte Sicht der homiletischen Situation muß auf theologische Kategorien nicht Verzicht leisten, sondern kann diese im Licht der neuzeitlichen Erfahrung neu interpretieren. Wiederum läßt sich dies an Lange zeigen. Gerade die empirische Perspektive führt ihn zur Aufnahme eines ganz traditionellen Deutungssche268
mas: Mittels der Dialektik von Verheißung und Anfechtung hat bereits Iwand die Situation des Glaubens als einen dialektischen Prozeß widersprüchlicher Erfahrungen bestimmt, der durch die Predigtarbeit in konstruktiver Weise zu erschließen ist11. Diese Sicht wird von Lange aufgenommen und durch die erfahrungsorientierte Deutung der neuzeitlichen Wirklichkeitserfahrung präzisiert. Auch die Situationsdeutung der anderen Beiträge bringt dort Gewinn, wo nicht mehr einseitig Fragen, Zweifel und Aponen den homiletischen Anknüpfungspunkt darstellen, sondern die faktische Vielfalt und Vielschichtigkeit der Erfahrungswirklichkeit eine entsprechend differenzierte theologische Deutung erhält. Angesichts dieser vermittelnden Tendenz der homiletischen Debatte ist allerdings an die Beobachtung zu erinnern, von der die Zusammenfassung ausgegangen ist: Auch für die Autoren der "Wende zur Erfahrungswelt" kommt die homiletische Situation als eine widerständige Wirklichkeit in den Blick. Theologische und empirisch orientierte Perspektiven stimmen darin überein, daß die Krise der Predigt jedenfalls auch im Anfechtungscharakter, der faktischen Unzugänglichkeit oder einer religiösen Selbstbezogenheit des Vorfindlichen gründet. Ebenso verrät die bleibende Beschreibung der Predigtarbeit als eines Konfliktgeschehens, daß die homiletische Situation auch unter den Bedingungen des kommunikativen Predigtbegriffs weniger eine Chance als vielmehr eine spezifische Schwierigkeit darstellt. Die Deutung der homiletischen Situation als eines kommunikativen Problems geht dann wohl nicht allein auf die theologische Behauptung eines fundamentalen Gegensatzes von Wirklichkeit und Glauben zurück. Vielmehr reflektiert jene vorwiegend kritische Qualifikation des Vorfindlichen nicht zuletzt die prinzipielle Stellung des Glaubens in der Neuzeit. Im pastoralen Umgang mit der Situation wiederholt sich die Erfahrung, daß die moderne Lebenswirklichkeit für den Glauben selbst zunächst als ein widerständiges, anfechtendes Phänomen erscheinen muß. Auf diese Weise bestätigen sich pastorale Predigterfahrung und theologische wie empirische Deutung der homiletischen Situation auch im oben betrachte-
11 Rössler findet das Motiv dieser theologischen Situationsdeutung bereits bei Luther: Luther hält "konsequent daran fest, daß die Erfahrungswirklichkeit selbst der Ort für den Glauben und seine Begründung bleibt. Die Wirklichkeit ist mehr als das, was jeweils zufällig oder oberflächlich von ihr erkennbar scheint [...]. Deshalb wäre es unsachgemäß, die Wirklichkeit Gottes jenseits der Erfahrungswirklichkeit zu vermuten" (1986, 316).
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ten Zeitraum gegenseitig: Es ist die Ambivalenz der neuzeitlichen Wirklichkeitserfahrung , die sich als Anfechtung des Glaubens sowie als kommunikatives und theologisches Problem der homiletischen Situation manifestiert12. Auch unter den Bedingungen einer neuen Aufmerksamkeit auf die Erfahrungswirklichkeit, so läßt sich zusammenfassen, behält die Thematik der homiletischen Situation ihren exemplarischen Charakter. Daß das Verfahren der Predigtarbeit eine ausdrückliche Bearbeitung der Situation einschließen muß, bringt zum Ausdruck, daß die Lebenswirklichkeit unter den Bedingungen neuzeitlicher Skepsis für den Glauben kein selbstverständliches Medium bildet, sondern je neu angeeignet werden muß. Und daß diese Wirklichkeit homiletisch als eine problematische, widerständige Situation erscheint, reflektiert nicht zuletzt die grundsätzliche Art und Weise, in der die individuelle Erfahrung der Moderne theologisch gedeutet wird. Die pastorale Predigtarbeit ist offenbar auch für Lange und seine Zeitgenossen der Ort, an dem die Anfechtungen und Zweifel des Glaubens exemplarisch zu bearbeiten sind.
12 W.Gräb hat darauf hingewiesen, daß bereits Barths homiletischer Neuansatz bei der aporetischen Situation des Predigers eine solche Deutung der Wirklichkeit voraussetzt: "Gekennzeichnet durch eine skeptische Erwartung, ist es die Situation des Gottesdienstes und seiner Predigt in der religiösen Krise der Moderne" (1988, 95).
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Systematischer Ertrag: Die homiletische Situation als Thema des pastoralen Berufs
Die vorliegende Studie hat die Bedeutung untersucht, die die konkrete Wirklichkeit der Predigthörerinnen und -hörer in der Homiletik der jüngeren Zeit erhält. Dabei hat sich die Annahme bestätigt, daß das Problem der homiletischen Erschließung der Wirklichkeit nicht erst für die "Wende zur Erfahrungswelt" konstitutiv ist, wie sie sich exemplarisch bei Lange vollzieht, sondern daß bereits die Autoren der 50er Jahre von diesem Interesse her zu interpretieren sind: Mit der homiletischen Situation besitzt die Predigtlehre von 1945 bis mindestens 1970 ein durchgehendes und zugleich charakteristisches Thema. Die zentrale Stellung des homiletischen Wirklichkeitsbegriffs erklärt die Vielfalt der Gesichtspunkte, die im genannten Zeitraum zu seiner Klärung herangezogen werden. Im folgenden wird nun eine systematische Bündelung der verschiedenen Perspektiven versucht, und zwar im Rekurs auf die bereits in der Einleitung genannte These, daß die homiletische Situation als Element einer bestimmten Praxis, nämlich der pastoralen Predigtarbeit zu thematisieren ist. Diese These hat sich bereits insofern bewährt, als bei nahezu jedem Autor der enge Zusammenhang zwischen der Sicht der Situation und der Beschreibung des homiletischen Verfahrens im ganzen deutlich geworden ist. Die eigentümliche Berufstätigkeit, in deren Rahmen jenes Verfahren gehört, soll nun abschließend bedacht werden. Daß die homiletische Situation ein pastorales Thema darstellt, dürfte im übrigen die Krisenerfahrung erklären, die sie durchgehend auslöst. Der problematische Charakter der homiletischen Situation legt sich zwar infolge ihrer Interpretation in den "dialektischen" Kategorien der Wort-Gottes-Theologie nahe; und ebenso spiegelt sich darin die generelle Erfahrung des Glaubens in der Neuzeit. Daß die Konfrontation mit der Wirklichkeit aber von allen Seiten als elementare Schwierigkeit der Predigt benannt wird, erklärt sich nur durch die Verbindung der beiden genannten 271
Aspekte mit der eigentümlichen Situation der pastoralen Arbeit. Denn es ist eine besondere, berufliche Erfahrung, daß die homiletische Situation "der Bemühung des Predigers [...] einen spezifischen Widerstand" leistet (Lange, ZTP 24). Eine Klärung der vielfältig benannten Krisenerfahrung muß sich an der Eigenart dieser professionellen Perspektive orientieren1. Im folgenden wird die Tragfähigkeit dieser Behauptung zunächst an den beiden Deutungsweisen zu erproben sein, die sich hinsichtlich der homiletischen Situation ergeben haben. Sowohl ihre dogmatische wie die empirisch-pragmatische Bestimmung haben sich zwar als notwendig erwiesen; beide sind jedoch zugleich durch bestimmte Einseitigkeiten gefährdet. Sinn und spezifische Grenzen beider Perspektiven lassen sich dadurch klären und vermitteln, daß sie auf die pastorale Predigtarbeit bezogen werden (1/2). Auf diesem Hintergrund läßt sich dann die Eigentümlichkeit der pastoralen Perspektive erläutern, und zwar anhand der literarischen Gattung der "Pastoraltheologie", zu der die oben untersuchten homiletischen Texte eine auffallende Affinität haben (3). Die hier zu beobachtende Form des pastoralen Umgangs mit der Wirklichkeit erlaubt eine Charakterisierung des Verfahrens, mittels dessen die homiletische Situation auszulegen ist. Dieses Verfahren ist, im Rückgriff auf die Einzelanalysen, als eine spezifische Vermittlungs- und zugleich Unterscheidungsleistung zu beschreiben (4/5). Schließlich ist zu fragen, ob die homiletische Situation ihre Bedeutung in der Diskussion der letzten Jahrzehnte nicht auch dem Umstand verdankt, daß sie mehr ist als ein Gegenstand pastoraler Arbeit unter anderen: Die historischen wie die systematischen Betrachtungen legen es nahe, in der homiletischen Situation diejenige Thematik zu sehen, an der die Möglichkeiten, aber auch die Probleme des pastoralen Selbstverständnisses in exemplarischer Weise zum Vorschein kommen (6).
1 Eine ähnliche Absicht scheint W.Jetter mit seiner "homiletischen Akupunktur" zu verbinden: "Wer die Schwierigkeiten der Predigt nur feststellen, aber nicht abstellen kann, versucht es mit einer Akupunktur: er steckt seine Nadeln in die empfindlichen Stellen. - Die Akupunktur will den Predigern ihre Schmerzen nicht nehmen, wohl aber die Lust, über sie zu klagen: sie rechnet sie zu den lohnenden Plagen ihres Berufes" (Jetter 1976, 191).
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1. Die Relativierung der dogmatischen Perspektive Es ist das Verständnis der homiletischen Situation als einer Situation des Glaubens, das die im Ersten Teil untersuchten Autoren verbindet. Die Wirklichkeit, auf die die Predigt des Wortes Gottes zielt, ist nichts als der ausgezeichnete Fall der generellen Situation des Menschen vor Gott. In der pastoralen Predigtarbeit kommt diese "kritische Situation [...] in ihrer ganzen Unerträglichkeit und Unüberwindbarkeit" darum exemplarisch zum Ausdruck (Barth 1922,102); und die Aufgabe des Predigers besteht eben darin, sich dieser Situation so auszusetzen, daß die Not und die Verheißung seiner Lage zugleich die Wirklichkeit des Glaubens der Hörenden betrifft. Die Beschäftigung mit Iwands und Mezgers Thesen hat ergeben, daß diese Perspektive zu einer widersprüchlichen Bewertung der homiletischen Situation führt. Denn als Gestalt des Wortes Gottes zielt die Predigt zwar notwendig auf die "wirkliche Welt", die individuellen, sozialen und nicht zuletzt politischen Verhältnisse. Die Deutung dieser Wirklichkeit als Situation des Glaubens verbindet sich mit einer hohen Erwartung an die Wirkung der Predigt. Zugleich jedoch stellt diese Situation, als Situation der Sünde und der Anfechtung, eine fundamentale Gefährdung der Predigtwirkung dar. Die Einschätzung der vorfindlichen Lebenswirklichkeit ist darum bei Iwand und seinen Zeitgenossen von Abwehr und steter Kritik bestimmt. Was dem Prediger bei sich und seinen Hörern gegenwärtig ist, kann als gegebene Situation nur negativ-widersprüchlich, und als vom Wort konstituierte Situation nur unverfügbar für alle menschlichen Eingriffe sein. Diese Ambivalenz läßt sich theologisch auf eine unzureichende Reflexion des Verhältnisses von Subjekt und dessen jeweiliger Wirklichkeit zurückführen. Iwands wie Mezgers Intention, das Wort Gottes stets auf die Wirklichkeit als ganze zu beziehen, rückt das glaubende Subjekt gleichsam ins Zwielicht: Als zwischen Wort und Wirklichkeit vermittelnde Größe ist es zwar unverzichtbar, steht aber zugleich stets in Gefahr, sich dem Anspruch des Wortes zu entziehen und damit dessen Wirkung zu gefährden. Die daraus resultierende Vernachlässigung der dem glaubenden Subjekt eigentümlichen Existenzform, seiner die Wirklichkeit
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deutenden und gestaltenden Leistung, kommt wiederum exemplarisch in der unzureichenden Beachtung des Predigers zum Ausdruck2. Die von der Wort-Gottes-Theologie geprägte Homiletik hat diese theologische Perspektive zwar durchaus als Orientierung des Predigthandelns formuliert, sie aber zugleich als exemplarisch für Erfahrung und Handeln jedes Christen verstanden. Faßt man die skizzierte Perspektive jedoch ausdrücklich als Element eines bestimmten methodischen Handelns auf, so werden Notwendigkeit und Grenze einer dogmatischen Sicht der homiletischen Situation einsichtiger. Das berufsbezogene Verständnis erläutert zunächst den exemplarischen Charakter jener Situation. Es ist gerade die rituell-liturgisch herausgehobene Stellung der Predigt, in der die Externität des Wortes Gottes, seine kritische, die Situation nicht nur deutende, sondern verändernde Kraft und sein umfassender Anspruch so klar zum Ausdruck kommen wie in keiner anderen Form pastoraler Kommunikation. Der für das theologische Wirklichkeitsverständnis konstitutive Konflikt verschiedener Ansprüche und Erwartungen spiegelt sich in dem beruflichen Problem, die eigene Wirklichkeitsdeutung mit derjenigen der Predigthörer zu vermitteln3. Die repräsentative Stellung der homiletischen Situation dürfte die bleibende Bedeutung ihrer dogmatischen Betrachtung auch über die "empirische Wende" hinaus zu einem guten Teil erklären. Des weiteren erscheint die Situation für die pastorale Arbeit als ein Gegenstand der Auslegung. Die Vorstellung, die Wirklichkeit des Glaubens würde sich in der Begegnung mit dem Wort je neu und unverfügbar konstituieren, erweist sich dann als eine zumindest ungenaue Redeweise. Die Predigt hat vielmehr eine bestimmte Deutung dieser Wirklichkeit zu vollziehen, die zugleich die Erfahrung der Hörenden aufnimmt. Sie zielt mithin stets auf die subjektive Perspektive der Glaubenden. Was diesen
2 In seiner Untersuchung zur Bedeutung des Predigers "in der Homiletik des 19. und 20. Jahrhunderts" hat E.Koch gezeigt, daß die von der dialektischen Theologie inspirierte Predigtlehre, im Gegensatz zu vorhergehenden Epochen, den Prediger nurmehr als Gefahr und als "Belastung für die Predigt" sieht (Koch 1982, 231). Die systematisch-theologische Vereinnahmung der homiletischen Situation findet ihr Pendant in der Reduktion der Person des Predigers auf einen "passiven Empfänger des an ihn ergehenden Wortes" (aaO. 228), dessen methodisches Handeln kein eigenständiges Interesse finden kann. 3 Ein eindrückliches Beispiel diese gleichsam "dialektischen" Interpretation der Predigtaufgabe und zugleich der homiletischen Situation findet sich in M.Josuttis' pastoraltheologischer Betrachtung der Predigt (Josuttis 1988, 37-58). Dieser Text ist durch die Reflexion der Konflikte strukturiert, die in der Situation beruflicher Predigt zutage treten.
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von der Predigt nahegelegt wird, ist die neue, individuelle wie gemeinschaftliche Wahrnehmung der jeweiligen Situation "als Ort der Erprobung von Glaube, Liebe und Hoffnung" (Wintzer 1987,186). Die pastorale Sicht der homiletischen Situation akzentuiert damit ein Moment des theologischen Wirklichkeitsbegriffs, das nicht nur bei den im Ersten Teil betrachteten Autoren in den Hintergrund getreten ist. Die homiletische Situation ist wie jede Situation des Glaubens nicht einfach "vorhanden", sondern stellt das Resultat einer subjektiven Deutung dar. Unter Rückgriff auf Ebelings Begriff der "Grundsituation" des Menschen, in der seine Verantwortung vor dem Grund der Wirklichkeit thematisch wird, kann diese Deutungsleistung erläutert werden: Sie besteht in der Auslegung der jeweiligen Situation als Ausprägung der Grundsituation. In der Konfrontation mit der "Offenbarung" werden die individuellen Lebenssituationen zum Material einer homiletischen Deutung, die sich auf das fundamentale Gottesverhältnis des Glaubenden bezieht4. Aus der pastoralen Zuspitzung der dogmatischen Perspektive ergibt sich schließlich eine differenzierte Interpretation des Anfechtungscharakters der homiletischen Situation. Iwand wie Lange haben gemeint, daß sich hier die Erfahrung des Glaubens konzentriert, der an seinen konkreten Lebensumständen zu scheitern und zu zerbrechen droht. Als pastorale Aufgabe verstanden, kann die Widerständigkeit der homiletischen Situation jedoch auch auf die pragmatische Schwierigkeit des Predigers zurückgeführt werden, eine komplexe Wirklichkeit in der skizzierten Weise zu deuten. Nicht alle Probleme, die sich angesichts dieser beruflichen Aufgabe ergeben, sollten dogmatisch auf die Eigenart der Glaubenssituation zurückgeführt werden. Vielmehr sind auch die faktischen Bedingungen zu reflektieren, denen die homiletische Situation als eine exemplarische Kommunikationssituation der Kirche unterliegt. Es ist diese Hinsicht, die in der "empirischen Wende" in den Vordergrund tritt. 4 Die Bestimmung der homiletischen Situation als einer Situation des Glaubens hat J.Tolk in seiner Untersuchung über "Predigtarbeit zwischen Text und Situation" (1972) nicht berücksichtigt. Er kann die von ihm untersuchten Varianten typologischer Predigt darum nur als Versuche äußerlicher "Situationsanalogien" (aaO. 58ff) mißverstehen und kritisieren: Stets "ist die Aktualität des Textes vom Bestehen einer Situationsanalogie abhängig" (80). Tolk bleibt hinsichtlich des Textes wie der homiletischen Situation in der Vielfalt von Einzelsituationen befangen, ohne nach der Deutungskraft zu fragen, die der Text in Bezug auf die Grundsituation des Glaubens haben könnte. Konsequenterweise bestreitet er die "Legitimität der Textpredigt" (aaO. 140 u.ö.), ohne jedoch eine praktikable Alternative anbieten zu können.
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2. Die Relativierung der empirisch-pragmatischen Perspektive Die Untersuchungen des Zweiten Teils haben erwiesen, daß sich das Aufkommen einer erfahrungsorientierten Perspektive im wesentlichen dem verstärkten Interesse an der konkreten pastoralen Berufsarbeit verdankt. Auf der Suche nach einer Handlungsorientierung für die rundum problematische Praxis der Predigtarbeit gewinnt eine funktionale, am kommunikativen Effekt der Predigt orientierte Auffassung an Überzeugungskraft. In diesem Rahmen wird mit erfahrungswissenschaftlichen Mitteln nach den Bedingungen der homiletischen Kommunikation gefragt, und damit auch nach der Eigenart der Situation, in der sich diese Kommunikation vollzieht. Auch bei der neuen Fragestellung kommt die homiletische Situation als ein exemplarisches Phänomen in den Blick. Anhand der Predigt werden diejenigen kommunikativen Chancen und Probleme thematisiert, denen sich die kirchliche Institution grundsätzlich gegenüber sieht. Dabei kommen die Autoren der "empirischen Wende" größtenteils zu negativen Ergebnissen: Die fortschreitende Veränderung und Differenzierung unterschiedlicher Lebenswelten führt zur Marginalisierung der Parochie; und die herkömmlichen pastoralen Verständigungsbemühungen werden angesichts des institutionell bedingten Abstands zwischen Kirche und Alltag unwirksam. Die Lebenswirklichkeit des Glaubens erscheint unter den neuzeitlich säkularen Bedingungen für die Kirche kaum und für die gottesdienstliche Predigt im Grunde gar nicht mehr zugänglich. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der homiletischen Debatte, daß in dieser Einschätzung der Situation systematisch-theologische Denkformen wirksam sind, die von den empirisch-pragmatisch orientierten Autoren um Lange ausdrücklich zurückgewiesen wurden. So führt die Kritik am kommunikativen Versagen der Institution eine bestimmte Ekklesiologie fort, für die die "sichtbare" Kirche eine im wesentlichen auf Selbsterhaltung zielende Größe ist. Die Vernachlässigung der institutionellen Bedingtheit pastoraler Arbeit zeichnet darum nicht erst die funktionale Kirchentheorie aus, sondern resultiert bereits für Iwand und Mezger in einem Mißtrauen gegenüber der Eigenverantwortung der Prediger. Insbesondere die ökumenische Debatte läßt weiterhin erkennen, wie sehr die funktionale Sicht der Kirche, die Orientierung an der Wirkung ihrer Verkündigung in der jeweiligen "missionarischen Situation", sich 276
eben dem theologischen Interesse am Wirklichkeitsbezug des Wortes verdankt, das die Homiletik der Nachkriegszeit geprägt hat. Auch für die folgende Generation besteht das Ziel der Predigt zunächst in der Kritik der homiletischen Situation; auch sie bleibt am Gegensatz von Verkündigung und Wirklichkeit orientiert. Offenbar ist es wiederum eine vorwiegend kritische Sicht der Situation, zu der sich soziologische und kommunikationstheoretische Erwägungen und theologische Überzeugungen verbinden. Wie die Institutionskritik führt auch diese Sichtweise in den 60er Jahren wie in der Generation zuvor zu einer Verdeckung der pastoralen Perspektive, der sich die empirisch-pragmatische Wende verdankt. Werden die homiletische Situation und das Verfahren ihrer Erschließung jedoch ausdrücklich aus dieser Perspektive thematisiert, wie das Jetter und z.T. auch Lange getan haben, so zeigen sich die Grenzen einer empirisch-funktionalen Betrachtungsweise. Die pastorale Arbeit an der Wirklichkeit kann nicht allein durch ihre nachweisbare kommunikative Effizienz bestimmt werden, weil damit ihre besondere inhaltliche Ausrichtung vernachlässigt wird. Vielmehr muß die pastorale Praxis als eine theologisch verantwortete Auslegung der Wirklichkeit begriffen werden, die zugleich den Erfahrungen mit dieser Wirklichkeit gerecht wird. Als Beispiel für eine solche Deutung kann die von Iwand wie von Lange herangezogene Dialektik von Verheißung und Anfechtung gelten. Sie erfüllt hinsichtlich der homiletischen Aufgabe eine mehrfache Funktion. Zunächst kann die entsprechende Sicht der Lebenswirklichkeit deren prozessualen, dynamischen Charakter theologisch ebenso verständlich machen wie ihre widersprüchlichen und widerständigen Elemente. Werden diese Erfahrungen als "Anfechtungen" qualifiziert, so geraten sie in den Horizont der Dialektik des Glaubens, die im Anschluß an Luther so zu formulieren ist: "Durch Anfechtung ist der Glaube erst Glaube, wie umgekehrt der Glaube eine Voraussetzung für sie ist. [...] Die Anfechtung ist recht verstanden die Stunde, in der Gott mit den Menschen auf dem Weg ist" (Beintker 1978,705f).
Erst in der Auseinandersetzung mit den Anfechtungserfahrungen des Lebens wird der Glaube konkret und lebendig. Er erscheint dann selbst als eine dynamische, zwischen Hoffnung und Zweifel bewegte Erfahrung. Nur auf dem Hintergrund der Verheißungserfahrung jedoch vermag die Wirklichkeit als bedrängender Widerspruch und damit als An277
fechtung zu erscheinen. Diese stellt selbst eine Glaubenserfahrung dar, die sich der Wirklichkeitsdeutung "im Licht der Verheißung" verdankt. Die theologische Reformulierung der Vielfalt und Widersprüchlichkeit menschlicher Erfahrung hat nun hinsichtlich der Predigtarbeit noch eine zweite Funktion. Sowohl bei Iwand wie bei Lange hat die Untersuchung ein dreiteiliges Schema der Wirklichkeitserfahrung des Glaubens namhaft gemacht, das sich der genannten Dialektik bedient. Es setzt bei der fundamentalen Kritik am Gegebenen ein - Lange spricht von der "absolutio" gegenüber der als Anfechtung erfahrenen Wirklichkeit; auf diesem Hintergrund erscheint die Verheißung als Grund einer ganz neuen Erfahrung von Wirklichkeit ("promissio"); und eben diese Erfahrung muß sich "missionarisch" in der Lebenswirklichkeit bewähren und dabei neuer Anfechtungen gewärtig sein. Dieses Schema bringt nicht nur den prozessualen Charakter des Glaubens zum Ausdruck, sondern macht zugleich dessen Angewiesenheit auf ein bestimmtes pastorale Handeln einsichtig. Die dialektische Erfahrung der Wirklichkeit bedarf der Vermittlung des Verheißungswortes von außen; gegenüber der Erfahrung der Anfechtung kann die Verheißung nicht als selbstverständliches Implikat der Wirklichkeit erscheinen, sondern muß in einer eigentümlichen Auslegungsanstrengung, die selbst bei der Erfahrung der Anfechtung ansetzt, als plausibel für die jeweiligen Adressaten erwiesen werden. Dieses Beispiel macht zum einen klar, daß eine ausschließlich "kommunikationstheoretische" Interpretation der homiletischen Situation zu kurz greift, insofern sie die inhaltlichen Implikationen des theologischen Wirklichkeitsbegriffs nicht berücksichtigt. Zum anderen erhält diese zugleich theologische und erfahrungsorientierte Perspektive jedoch dadurch besondere Bedeutung, daß sie das pastorale Eingreifen in diese Situation legitimiert und orientiert. Auch das homiletische Verfahren stellt kein ausschließlich empirisch-pragmatisches Thema dar; sondern die pastorale Perspektive wird immer eine theologische Deutung der Erfahrung der Predigenden einschließen, denen die homiletische Situation zum kommunikativen Problem wird. Wiederum kann die Dialektik von Verheißung und Anfechtung als Beispiel einer solchen theologischen Beschreibung des pastoralen Handelns dienen. Denn die Entwürfe Iwands und Langes sind gerade insofern von verblüffender Parallelität, als jene Dialektik jeweils auch die Erfahrung 278
der Prediger bestimmen soll. In der Stellvertretung seiner Hörer, als ihr "Anwalt" (Lange), ist der Prediger einer fundamentalen Anfechtung ausgesetzt, die in der Begegnung mit dem Predigttext als Dokument der Verheißung sowohl eine Zuspitzung als auch eine Lösung erfährt. Diese gegenläufige Bewegung befähigt ihn allererst, auch die Wirklichkeit der Hörenden als Ort des Handelns Gottes auszulegen. Die Absicht, die Erfahrung der Prediger in einen theologischen und zugleich handlungsorientierten Horizont zu stellen, kommt auch in der Rezeption des aszetischen Schemas "oratio, meditatio, tentatio" zum Ausdruck. Während Luther damit die theologische Arbeit im ganzen deuten wollte 5 , haben verschiedene Autoren diese Trias als Bestimmung des "persönlichen Anteil des Predigers an seinem Zeugendienst" (vgl. Niebergall 1960, 74ff) oder der Predigtarbeit selbst verstanden (vgl. Möller 1982, 387ff). Neben persönlicher Glaubenserfahrung und intensiver Textarbeit stellt dann, wiederum mittels des Anfechtungsbegriffs, der Wirklichkeitsbezug einen konstitutiven Bestandteil des homiletischen Verfahrens dar. An eine solche Beschreibung läßt sich eine Sicht des Umgangs mit der Situation anschließen, derzufolge auch "rhetorische Regeln und empirische Kenntnisse der Gemeindesituation" dazu dienen, die "Entfaltung des Wortes zu den Wörtern zu fordern" (Möller 1982, 389).
3. Die Eigentümlichkeit der pastor alen Perspektive Sowohl eine dogmatische als auch eine empirisch-pragmatische Perspektive auf die homiletische Situation sind offenbar dadurch vor einer Verabsolutierung zu bewahren, daß ihr spezifischer Praxiskontext ausdrückliche Berücksichtigung findet. Die Behauptung eines notwendigen Rekurses auf die pastorale, berufliche Predigtarbeit ist nun dadurch weiter zu entwickeln, daß die strukturellen Eigentümlichkeiten benannt werden, die die spezifisch pastorale Sicht der Wirklichkeit auszeichnen. Diese Strukturmerkmale sind dann hinsichtlich der homiletischen Situationserschließung zu entfalten. Die bisher angestellten Überlegungen zur homiletischen Berufsarbeit haben bereits deutlich gemacht, daß der eigentümlichen Erfahrung der 5
Zu Luthers Deutung der Trias vgl. Bayer 1988.
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Pfarrerinnen und Pfarrer weder eine ausschließlich systematisch-theologische noch eine lediglich pragmatische, gleichsam kommunikationstechnische Reflexion gerecht werden kann. Es ist eben diese Einsicht in die Notwendigkeit einer im engeren Sinne berufsbezogenen Perspektive gewesen, die zunächst die Praktische Theologie als eine eigenständige theologische Reflexionsform begründet hat6. Dementsprechend hat D.Rössler sie als eine "systematische Disziplin im Verband der Theologie" charakterisiert, die die "Verbindung von Grundsätzen der christlichen Überlieferung mit Einsichten der gegenwärtigen Erfahrung zu der wissenschaftlichen Theorie" darstellt, "die die Grundlage der Verantwortung für die geschichtliche Gestalt der Kirche [...] bildet" (Rössler 1986, 3). Zielt die Praktische Theologie auf die Verantwortung für die Kirche, so muß sie sich in erster Linie auf die Tätigkeit beziehen, die "im Auftrag der Kirche - exemplarisch durch den Inhaber eines kirchlichen Amtes - ausgeübt wird" (aaO. 14). Sie will das für den pastoralen Beruf notwendige Wissen repräsentieren und kann in diesem Sinne als die Berufstheorie des Pfarrers bezeichnet werden. Eine praktisch-theologische Homiletik wird also die Einsichten der kirchlichen Lehrüberlieferung mit den Erfahrungen verbinden, die die Prediger in einer bestimmten historischen Situation machen. Durch die "wissenschaftliche", generalisierende Vermittlung dogmatischer und erfahrungsorientierter Perspektiven soll die berufliche Orientierung, die kritische "Urteilsfähigkeit" (aaO. 1) hinsichtlich der je eigenen Predigtarbeit gefördert werden. Die faktische Reflexion der homiletischen Praxis, sei es in der Ausbildung oder in der pastoralen Berufstätigkeit selbst, erschöpft sich allerdings nicht in solchen relativ grundsätzlichen Überlegungen. Gerade die hier untersuchten Texte zeigen vielmehr, daß zu dieser Reflexion stets auch konkretere Deutungen und auch konkretere Handlungsanweisungen gehören, nicht zuletzt bezüglich des Umgangs mit der jeweiligen homiletischen Situation. Seit Anfang der 70er Jahre ist nun von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen worden, daß die Praktische Theologie nicht als die einzige 6 Historisch ist die Praktische Theologie eben dort zu einem eigenen Thema geworden, wo wissenschaftliche Theologie und religiöse Praxis auseinander treten und damit ein eigenes, auf diese Praxis bezogenes und zugleich theoretisch zu verantwortendes Berufsbild entsteht; vgl. dazu Rössler 1986, 23ff; Drehsen 1988, 73ff.
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Form pastoraler Berufstheorie angesehen werden kann. Neben und historisch vor dieser wissenschaftlichen Theoriebildung findet sich eine vorwissenschaftliche, stärker der jeweiligen Erfahrung der Pfarrer verpflichtete Reflexionsform, die sich in einer reichen literarischen Überlieferung als "Pastoraltheologie" verstanden hat7. In dieser Tradition, die am Beginn des 20 Jahrhunderts zunächst an ein Ende kam, wurde "Pastoraltheologie" also nicht als ein Teilthema der Praktischen Theologie verstanden, etwa als Lehre von der Seelsorge oder als Betrachtung der persönlichen Amtsführung und Amtsethik8. Die pastoraltheologische Literatur stellt vielmehr "eine eigene, von der wissenschaftlichen Praktischen Theologie unterschiedene Explikation der theologischen Theorie-PraxisRelation" dar (Steck 1981, 19) und weist damit auf eine eigentümliche, der konkreten Praxis nähere Reflexionsform der pastoralen Probleme zurück, deren bleibende Bedeutung insbesondere von W.Steck sowie von G.Krause und G.Rau hervorgehoben worden ist. Im Rückgriff auf die genannten Autoren sei diese pastoraltheologische Betrachtung des pastoralen Berufs, die auch für die homiletische Situation den angemessenen Deutungshorizont darstellen dürfte, näher skizziert. Die Pastoraltheologie versucht, "die Welt des Pfarrers zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Bedingungen darzustellen, zu strukturieren und damit [...] verstehbar zu machen" (Steck 1974a, 30). Sie ist darum, wie C.Palmer 1859 ausführte, an dem "Wissen um all das Einzelne, Kleine, von lokalen, provinziellen und anderen zufalligen Umständen Abhängige" interessiert9. Die Pastoraltheologie tradiert und reflektiert insbesondere diejenigen pastoralen Berufserfahrungen, die nicht wissenschaftlich zu generalisieren sind, sondern sich jeweils wechselnden Bedingungen verdanken. Es ist die "ständige Beziehung [...] auf die nicht nur kirchliche, sondern auf die weltliche Gegenwartssituation" (Krause 1970, 729), die die pastoraltheologische Reflexion nicht zuletzt von der wissenschaftlichen Praktischen Theologie unterscheidet. Die Wirklich-
7 Vgl. zur Geschichte der Pastoraltheologie Rau 1970; Krause 1970; Steck 1974a und Rössler 1986, 113ff. 8 W.Trillhaas hat 1950 seine Seelsorgelehre unter den Titel "Pastoraltheologie" gestellt; im zuletzt genannten Sinn haben etwa W.Tebbe (1960) und zuletzt E.Lohse (1985) ihr Thema verstanden. 9 Zitiert nach Steck 1981, 25; vgl. ähnliche Zitate und Überlegungen bei Krause 1970, 727; Rössler 1986, 120f.
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keit, deren Deutung und Gestaltung dem Pfarrer aufgegeben ist, kommt hier ausdrücklich in den Blick. Die jeweils besondere Gegenwart hat in der Pastoraltheologie deswegen einen größeren Stellenwert, weil sie durchgängig an der Person des Pfarrers, an seiner individuellen Erfahrung interessiert ist. Steck entnimmt den Pastoraltheologien des 19.Jahrhunderts, daß "die beruflichen Pflichten und Rollen nicht selten hinter der Darstellung der privaten, der persönlichen, der 'inneren' Seite der pastoralen Existenz" zurücktreten (1974a, 31). Dieser "subjektive Faktor", der das spezifische Anliegen der Pastoraltheologie ausmacht10, resultiert nicht zuletzt in einer pointierten Berücksichtigung der Frömmigkeit des Pfarrers, die ihn mit seiner Gemeinde verbindet. Die Anfechtungen und Zweifel, aber auch die Gewißheitserfahrungen des Pfarrers werden als integrierender Teil seiner beruflichen Welt entfaltet. Das Interesse an der pastoralen "Persönlichkeit" (aaO. 34ff) führt nun nicht nur dazu, daß die personabhängigen, nicht durch objektive Ordnungen bestimmten Berufsaspekte in den Vordergrund treten, darunter insbesondere die seelsorgerliche Tätigkeit. Sondern in der pastoraltheologischen Reflexion wird die Frage nach der "Handlungsgewißheit" des pastoralen Subjekts ausdrücklich gestellt (Krause 1970, 730). Es sind diese Fragen nach der Motivation des beruflichen Handelns und nach seiner unmittelbaren Anleitung, die die Praktische Theologie als eine wissenschaftliche Theorie nicht zu beantworten imstande ist: "Der theoretische Charakter der Praktischen Theologie macht ihre möglichen handlungsleitenden Funktionen zu einer Aufgabe, die mit der Ausarbeitung der Theorie selbst nicht schon erledigt ist, sondern dann erst und als Leistung der handelnden Subjektivität zu ihr hinzutritt" (Rössler 1986, 21).
Mehr als eine Orientierung des handelnden Subjekts, die Stärkung seiner Urteilsfähigkeit, kann von der praktisch-theologischen Reflexion nicht erwartet werden. Dagegen ist die pastoraltheologische Literatur an "einer persönlich gewissen Bejahung des Berufes" interessiert, an einer "Entwicklung religiöser Identität"11. Mit dieser Absicht formuliert sie immer wieder auch normative Anleitungen für das pastorale Handeln.
10 11
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Vgl. Luther 1984, 42. Krause 1970, 729; Steck 1981, 21.
Das Interesse an den je besonderen Umständen pastoraler Erfahrung und an deren subjektiver Fassung macht sich auch in den Darstellungsformen der Pastoraltheologie geltend. Ähnlich wie die alttestamentliche Weisheitsliteratur rekurriert die Pastoraltheologie, insbesondere im 19. Jahrhundert, auf die Vielfalt, das Detail der Lebenserfahrung und darin auf die unmittelbare Evidenz der Darstellung12. Stärker als in der praktisch-theologischen Literatur kommt hier die Individualität des pastoralen Lehrmeisters zum Ausdruck, seine besondere Erfahrung, auch seine persönliche Frömmigkeit. Den Berufsanfängern werden von einem Älteren nicht nur bewährte Einsichten und Klugheitsregeln weitergegeben, sondern sie werden zu einer besseren Praxis ermuntert und aufgefordert. Die Lehrmethode der Pastoraltheologie nähert sich damit nicht ohne Absicht dem Genus der Predigt; "ihr anredender und persönlich beteiligender Charakter [...] vermittelt also dem Studenten schon etwas von der für sein späteres verkündigendes Handeln angemessenen Methode" (Krause 1970, 728). Auch in ihrer Darstellungsweise zielt die Pastoraltheologie auf den persönlichen Glauben der Leser13. 1982 hat MJosuttis einen pastoraltheologischen Entwurf vorgelegt, der die skizzierten Strukturmerkmale aufnimmt und zugleich das Interesse an der Person des Pfarrers in aufschlußreicher Weise präzisiert14. Gerade weil der pastorale Beruf mit der jeweiligen sozialen Wirklichkeit verflochten ist, gilt der programmatische Satz: "Der Pfarrer ist anders." Denn er soll "so leben wie alle und zugleich besser als sie, solidarisch mit den anderen und in Distanz zu ihnen" (aaO. 11). Es ist die exemplarische Existenz des Pfarrers, die ihn mit der jeweiligen Gegenwart, der besonderen Situation seiner Gemeinde aufs engste verbindet und zugleich von ihr unterscheidet15. Auf diese exemplarische Existenz beziehen sich die verschiedensten Erwartungen und Normen, so daß jener Satz als kirchen-
12
Vgl. Krause 1970, 726.728; Steck 1974a, 30f. Für Rössler "rücken diese pastoraltheologischen Absichten deshalb in die Nähe der Aufgaben und der Literatur, die als 'Seelsorge an Seelsorgern' bezeichnet wird" (1986, 125). Ahnlich verweist Steck auf die "ethische Intention", die die Pastoraltheologie von einer rein "technischen Betrachtung der Berufsaufgaben" unterscheidet (1974a, 54.55). 14 Zu Josuttis' Aufnahme und Modifikation der pastoraltheologischen Problemstellungen vgl. Rau 1985. 15 Vgl. aaO. 191: "Der Pfarrer ist anders. Er soll nicht nur Theologe sein, nicht nur studierter Experte in Sachen Religion, auch nicht nur ein erfahrener Seelsorger und ein guter Prediger. Der Pfarrer soll mit seinem ganzen Leben und mit seiner ganzen Person die lebensgestaltende Kraft der biblischen Tradition repräsentieren." 13
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soziologische Feststellung, als theologische Absichtserklärung oder auch als Vorwurf verstanden werden kann (vgl. aaO. 12ff). Aus diesen Einsichten resultiert Josuttis' pastoraltheologisches Programm: "Eine zeitgenössische Pastoraltheologie hat die Konfliktzonen, die an den Schnittpunkten zwischen der beruflichen, der religiösen und der personalen Dimension pastoraler Existenz lokalisiert sind, wissenschaftlich zu reflektieren" (aaO. 20).
Im Blick auf das Folgende sind hier nur zwei Besonderheiten hervorzuheben. Zum einen markiert Josuttis die vermittelnde Methode der Pastoraltheologie: Nur in der Berücksichtigung beruflicher, religiöser und psychischer Perspektiven zugleich kann sie die pastorale Wirklichkeit erschließen. Zum anderen impliziert diese Vielzahl von Perspektiven auch eine Vielzahl von Konflikten, die vom einzelnen Pfarrer stets aufs neue zu bearbeiten sind. Wenn Josuttis diese Konflikte in dem Satz "Der Pfarrer ist anders" bündelt, so ist damit nicht zuletzt ihr prinzipiell-theologisches Verständnis angezeigt: Es ist die "Andersartigkeit Gottes", die "doxologische Differenz" zwischen Mensch und Gott, von der die Person des Pfarrers wie seine berufliche Erfahrung im Grunde bestimmt sind16. Die These, daß der adäquate Umgang mit der homiletischen Situation als ein pastoraltheologischer zu kennzeichnen ist, soll nun in zweierlei Hinsicht entfaltet werden, und zwar nochmals im Rekurs auf die untersuchten Autoren. Dabei ist auch nach der Eigenart der Texte zu fragen, in denen jene Situation thematisch wird: Insbesondere die Gattung der Predigtmeditationen läßt sich nicht nur faktisch, sondern auch nach ihrem Selbstverständnis als pastoraltheologische Literatur begreifen.
4. Die pastorale Perspektive als Vermittlungsleistung Die pastoraltheologische Literatur erhält ihre Legitimität dadurch, daß sie eine bestimmte Vermittlungsleistung erbringt. Sie soll die "Kluft zwischen wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis" überbrükken17, so daß "die gegenseitige Durchdringung der institutionalen, funk-
16 Vgl. Josuttis 1982, 16. Im zweiten Band seiner Pastoraltheologie hat Josuttis die den Pfairberuf prägende "doxologische Differenz" noch deutlicher herausgearbeitet (vgl. Josuttis 1988, 215.223ff). 17 Steck 1974a, 29; vgl. aaO. 39ff; Steck 1981, 25f.
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tìonalen und personalen Elemente des kirchlichen Handelns" anschaulich wird (Rau 1970, 325). Wenn Josuttis seine Bemühungen auf die "Konfliktzonen [...] zwischen der beruflichen, der religiösen und der personalen Dimension pastoraler Existenz" konzentriert, so versucht er ebenfalls eine Integration verschiedener Perspektiven, die der beruflichen Praxis in einer bestimmten geistigen und sozialen Situation zugute kommen soll (1982, 20). Gerade angesichts zunehmender Orientierungslosigkeit sind die besonderen Konturen der Profession und ihres Umgangs mit der Lebenswirklichkeit pastoraltheologisch herauszuarbeiten. Dieser methodische Ansatz zeigt bezüglich der pastoralen Berufstätigkeit selbst zweierlei: Zum einen muß die Vermittlung unterschiedlicher Perspektiven auf die Wirklichkeit als eine persönliche Aufgabe und Leistung des Pfarrers angesehen werden. Die jeweils angemessenen Kategorien, mit denen die einzelnen beruflichen Anforderungen zu erschließen und zu bearbeiten sind, können nur vom einzelnen ausgewählt und sinnvoll verbunden werden. Soll er jedoch nicht in der Vielfalt konkreter Einzelfalle untergehen, so ist er zum anderen auf eine Anleitung von außen angewiesen, die ihm "die ständige Beziehung [...] auf die nicht nur kirchliche, sondern auf die weltliche Gegenwartssituation" (Krause 1970, 729) ermöglicht. Erst in der Verbindung von individueller Erfahrung und theoretischer, eben pastoraltheologischer Reflexion formt sich ein pastorales Bild der Wirklichkeit, das die einzelnen Tätigkeiten zu orientieren imstande ist. Offensichtlich ist es in besonderer Weise die Predigt, die den integrativen Charakter pastoraler Arbeit anschaulich macht: Die konkrete Predigt "empfängt ihren Inhalt durch die persönliche Leistung des Predigers, durch die die Vermittlung zwischen Text und Gegenwart einen eigenen Ausdruck gewinnt"18. Langes Formulierung der Predigtaufgabe, einen "Lichtbogen [...] zwischen Tradition und Situation" zu spannen (ZTP 49), ist dahingehend zu akzentuieren, daß dies als jeweils eigentümliche Leistung des Predigers zu begreifen ist. Insbesondere die homiletische Situation stellt allerdings nicht nur ein konstitutives Element jener pastoralen Vermittlungsbemühung dar, son-
18 Rössler 1986, 351. Diese Zusammenfassung der materialen Homiletik in einer Vermittlungsaufgabe zwischen drei Größen geht der Sache nach auf Schleiermacher zurück; vgl. Wintzer 1969, 20f; Steck 1974, 220.
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dem ihre Auslegung ist auch selbst als eine Integration unterschiedlicher Perspektiven zu beschreiben. Hier konzentriert sich offenbar das von Wintzer benannte "Grundproblem der Homiletik [...], empirische Wahrnehmungen und dogmatische Einsichten kritisch aufeinander zu beziehen, damit der Dialog und der Streit über Deutung, Interpretation und Mitgestaltung der Wirklichkeit geführt werden können" (Wintzer 1987, 186): Es genügt weder, die homiletische Situation dogmatisch als eine exemplarische Situation des Glaubens zu beschreiben, noch handelt es sich lediglich um eine empirisch analysierbare Kommunikationssituation der Institution Kirche. Erst im Rekurs auf die konkrete pastorale Berufstätigkeit erhalten beide Perspektiven ihr begrenztes Recht; und erst in der individuellen Erarbeitung einer Predigt kann es zur Vermittlung - und gegebenenfalls auch zum produktiven Streit - dieser Hinsichten kommen. Dazu kommt, wie besonders Lange geltend gemacht hat, daß das Gegenüber der Predigt in der Gegenwart nicht mehr eine einheitliche, kirchlich geprägte Lebenswelt darstellt, sondern in eine Vielzahl individueller Wirklichkeitserfahrungen zerfällt, die beständiger Differenzierung und beständigem Wandel unterliegen. Die mit der homiletischen Situation gegebene pastorale Aufgabe besteht dann nicht zuletzt in der Aufnahme und Vermittlung der ganz unterschiedlichen Deutungen und Akzentsetzungen, die die Predigthörer aus dem "Alltag der Welt" mitbringen. In diesem Zusammenhang haben Lange, Jetter und andere erneut hervorgehoben, daß die Erschließung der homiletischen Situation die Frucht der pastoralen Berufstätigkeit im ganzen sein wird. Die Haltung "vorbehaltloser Partizipation, vorbehaltloser Teilhabe am Geschick des Hörers" kann sich nicht auf die spezielle Predigtvorbereitung beschränken, sondern umfaßt den gesamten, differenzierten Prozeß der "Kommunikation des Evangeliums"19. Die notwendige Vermittlung "zwischen dem allgemeinen neuzeitlichen Wahrheitsbewußtsein und den christlichen Überzeugungen" (Rössler 1986, 345) betrifft nicht allein die homiletische Situation, sondern gehört zu den Grundaufgaben des pastoralen Berufs in der Gegenwart. Die pastoraltheologische Tradition hat betont, daß diese Vermittlungen dem Pfarrer nur unter Rekurs auf die eigene Subjektivität, genauer: auf seine eigenen Glaubenserfahrungen möglich sind. In die gleiche Rich19
Lange, ZTP 30; vgl. PaB U 3 f f ; Jetter 1962.
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tung geht die von Iwand und Mezger, aber auch von Lange geteilte Überzeugung, daß der Prediger die Situation seiner Hörer an sich selbst exemplarisch erfahrt und durchleidet: Es ist die eigene Erfahrung des Glaubens zwischen Anfechtung und Verheißung, die dem Prediger eine relevante Predigt in der jeweiligen Situation ermöglicht. Die Reflexion der eigenen Frömmigkeit gehört offenbar zu den unerläßlichen Voraussetzungen des pastoralen Umgangs mit der homiletischen Situation. Daß die homiletische Arbeit an der Situation eine vielschichtige individuelle Vermittlungsleistung darstellt, kommt gerade in der Gattung der Predigtmeditationen zum Ausdruck, die diese Arbeit unterstützen sollen. Mit den GPM hat Iwand die Hoffnung auf eine Restitution der Einheit von Wissenschaft und Praxis, von theologischer Lehre und persönlichem Glauben verbunden (s.o. Erster Teil A.V.); und unter neuen Prämissen zielt auch Langes Meditationskonzept auf eine Verbindung von exegetischer Forschung, "Einweisung" in die gegenwärtige Wirklichkeit und persönlicher Kompetenz des Predigers (vgl. ZTP 49ff). In jedem Fall zielen die Predigtmeditationen auf eine Vermittlung zwischen prinzipiellhomiletischer Reflexion und individueller Predigtpraxis. Auch hinsichtlich der homiletischen Situation selbst wollen die Meditationen zu einer Integration unterschiedlicher Perspektiven anleiten: Mittels verschiedener theologischer und empirischer Zugänge, als Verbindung von "Großwetterlage und "Lage vor Ort", und nicht zuletzt durch die Konfrontation mit dem biblischen Text wird die Wirklichkeit der Hörenden so erschlossen, daß die Predigenden ihre eigenen Einsichten zugleich relativieren und bereichern können.
5. Die pastorale Perspektive als Unterscheidungsleistung Die Wirklichkeit der Predigthörer erschließt sich dem Prediger zunächst durch eine vielschichtige Vermittlungsleistung. Darin spiegelt sich nicht zuletzt der exemplarische Charakter, den die homiletische Situation für die untersuchten Autoren hat: Mit der homiletischen Situation wird in der Predigt die exemplarische Situation des Glaubens thematisch; und sie wird zugänglich durch die eigene, wiederum exemplarische Erfahrung des Predigers. Damit kommt die pastoraltheologische Einsicht zum Tragen, daß die berufliche Arbeit wesentlich durch die Reflexion der eigenen 287
Wirklichkeitserfahrung in einem bestimmten sozialen und kulturellen Umfeld geprägt ist. Zum Grundbestand pastoraltheologischer Überzeugungen gehört allerdings zugleich das Wissen um eine notwendige Unterscheidung, wie sie Josuttis in der Formel "Der Pfarrer ist anders" zum Ausdruck gebracht hat. Gerade durch die Aufgabe, "mit seiner ganzen Person die lebensgestaltende Kraft der biblischen Tradition [zu] repräsentieren", unterscheidet der Pfarrer sich von seinen Gemeindegliedern, deren Lebensgestaltung diesen exemplarischen Charakter nicht aufweist (Josuttis 1982, 191). Entsprechend muß auch in Bezug auf die Predigtaufgabe nicht nur von einer Vermittlung, sondern zugleich von einer Unterscheidung zwischen der Situation der Hörer und der Situation des Pfarrers gesprochen werden. Im folgenden seien zwei Aspekte dieser Unterscheidung skizziert, die bei der homiletischen Situationserschließung zu bedenken sind. Die im Zweiten Teil untersuchten Texte haben jene Differenz zunächst in der Unterscheidung von Alltag und Gottesdienst thematisiert, im Abstand zwischen moderner Lebenswirklichkeit und parochialem Milieu. Die Situation der Hörenden im Gottesdienst ist eine andere als die alltägliche Situation ihres Glaubens; und diese Differenz, die sich durch die Vielfalt individueller Erfahrungswelten noch vergrößert, erscheint den meisten Autoren als das zentrale kommunikative Problem der gegenwärtigen Predigt. Besonders Lange hat aber darauf hingewiesen, daß die Distanz von alltäglicher und gottesdienstlicher Situation eine theologische Notwendigkeit darstellt. Das Schema von "absolutio/promissio/missio", in dem er die Funktionen des Gottesdienstes beschreibt, verweist auf den liturgischen "Abstand des getrösteten Glaubens" von seiner alltäglichen Lebenssituation (CdA 211), der die Wahrnehmung dieses Alltags "im Licht der Verheißung" allererst ermöglicht. Ähnlich kann vielleicht die kritische Perspektive der Wort-Gottes-Homiletiker auf die gegebene Wirklichkeit verstanden werden: Nur in der Distanz, die die Predigt des Wortes zu dieser Wirklichkeit schafft, kann sie auch als Ort der Bewährung des Glaubens erscheinen (s.o. Erster Teil, A.II.4; IV. 1). Iwand und Lange stimmen darin überein, daß die Predigt der Wirklichkeit ihrer Hörerinnen und Hörer nur dann gerecht wird, wenn sie ihnen eine Distanzierung von der unmittelbaren Alltagserfahrung ermöglicht: Die Predigt soll die individuellen Erfahrungen in den Kontext der biblischen Überlieferung stellen und sie damit auf ihren Gottesbezug hin aus288
legen. Im Anschluß an Ebeling kann die Predigtarbeit so beschrieben werden, daß sie individuelle menschliche Existenz als Ausprägung der Grundsituation "coram Deo" deutet20. Es gehört dann zur Aufgabe des Predigers, die Hörenden zu dieser Unterscheidung ihrer eigenen Lebenssituation von der Grundsituation des Glaubens anzuleiten. Die Untersuchungen des Ersten Teils haben deutlich gemacht, worin die Bedeutung einer solchen Unterscheidung liegt (vgl. C.III). Wird die Wirklichkeitserfahrung des glaubenden Subjekts nämlich unmittelbar theologisch interpretiert, so wird sie stets als Ausdruck menschlicher Sünde bzw. Versagens und damit ausschließlich negativ erscheinen: Die "theologia crucis" in einer bestimmten inhaltlichen Ausprägung erscheint als einziger Zugang zur Erfahrungswirklichkeit (vgl. Erster Teil, A.II. 2/4). Erst in einer Perspektive, die die homiletische Situation nicht in der alltäglichen Erfahrung aufgehen läßt, lassen sich Subjekt und Lebenswirklichkeit so unterscheiden, daß jene Wirklichkeit in ihrer faktischen Vielfalt und Widersprüchlichkeit zum Gegenstand der Auslegung werden kann. Die gleichsam liturgische Distanz zwischen gottesdienstlicher und alltäglicher Situation ist dann nicht zuletzt als ein sachgemäßer Rahmen der homiletischen Arbeit zu begreifen, in dem sich Unterscheidungen zur Geltung bringen lassen, die für das Wirklichkeitsverständnis des Glaubens fundamental sind. Neben der Unterscheidung zwischen alltäglicher, unmittelbarer Situation der Hörenden und der homiletischen Situation als liturgischer Situation haben die einzelnen Analysen noch eine zweite Dimension pastoraler Unterscheidungsarbeit deutlich werden lassen: Die homiletische Situation ist auch insofern mehr als eine exemplarische Situation des Glaubens, als sie für den Prediger eine berufliche Herausforderung darstellt. Damit aber steht er nicht zuletzt vor der Schwierigkeit, zwischen seiner eigenen Glaubenserfahrung und der besonderen Aufgabe zu unterscheiden, die ihm mit der Situation seiner Hörer gestellt ist. Wiederum ist es die Pastoraltheologie, die zwar den beispielhaften Charakter der pastoralen Erfahrung betont, sie aber zugleich als eine bestimmte berufliche Erfahrung versteht, die eigentümlichen Traditionen und Regeln unterliegt. Daß die pastorale Arbeit professionellen Charakter hat, ist zuletzt von W.Steck erläutert worden. Der Pfarrberuf kann nicht darin aufgehen, daß 20
Vgl. Rössler 1986, 351; Ebeling 1975, 570f.
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der Pfarrer "als eine lebendige Repräsentanz der individuell verwirklichten Religion" erscheint, als ein exemplarisch Glaubender: "Seine Tätigkeit besteht dann in der Expression seiner selbst. Was er tut, ist ein Ensemble von Symptomen, in denen sich nichts anderes zum Ausdruck bringt als seine Persönlichkeit."21 In einer solchen Deutung des pastoralen Berufs geht die Einsicht verloren, daß er - wie alle "bürgerlichen Berufe" - an Arbeitsleistungen anknüpft, "die in nichtprofessioneller Gestalt von allen Mitgliedern der Gesellschaft erbracht werden" (aaO. 318). Auch die Leistung, die Wirklichkeit des Glaubens auszulegen und zur Sprache zu bringen, wird zunächst von allen Glaubenden in ihrer jeweiligen Lebenssituation erbracht22. Die eigentümliche Aufgabe des Pfarrers kann darum nicht darin bestehen, diesen Deutungen eine weitere, exemplarische hinzuzufügen, sondern mit der Vielzahl von Wirklichkeitsauslegungen reflektiert und vermittelnd umzugehen. Daß die eigene pastorale Glaubenserfahrung hierzu unerläßlich ist, bestreitet Steck nicht. Die "subjektive Gesinnung" und "gänzlich individuelle Wirklichkeitswahrnehmung" des Pfarrers können aber nicht unmittelbar zur Grundlage der Berufsarbeit werden, sondern nur als eine Orientierung für seine "im Leben gewonnene und am Leben eiprobte praktische Vernunft" im Umgang mit der religiösen Wirklichkeit (321). Daraus resultiert: "[B]erufliche Kunstfertigkeit verdankt sich nicht vorwiegend der Harmonie von Gesinnung und Lebenspraxis, sondern eher der Fähigkeit, zwischen sich selbst und seinem Beruf, vor allem aber zwischen der eigenen Lebenspraxis und der anderer unterscheiden zu können" (322).
Die historischen Untersuchungen haben nun gezeigt, daß auch der Umgang mit der homiletischen Situation in diesem Spannungsfeld von Situation des Glaubens und professioneller Situation des Predigers begriffen werden muß. Zwar erscheint die Wirklichkeit der Hörenden mindestens implizit stets als ein Problem der Prediger, also als eine berufli-
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Steck 1991, 316. Mit diesem Aufsatz hat Steck implizit sein eigenes "Plädoyer für die Erneuerung der Pastoraltheologie" (Steck 1974a) korrigiert, in dem er noch größtes Gewicht auf die subjektive, expressive Sichtweise des Berufes gelegt hatte. In ähnliche Richtung dürfte Rösslers Kritik der neueren pastoraltheologischen Literatur gehen: Gegenüber dem "älteren Schrifttum" verlagere sich das Interesse allzusehr "von der Gemeinde und den durch sie gestellten Aufgaben auf die innere Situation des Pfarrers selbst" (Rössler 1986, 124). 22 Vgl. Steck 1991, 320: "Jeder ist in seiner natürlichen Lebens weit Seelsorger und Seelsorgesuchender, Prediger und Hörer, Erziehender und Erzogener."
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che Aufgabe. Zugleich aber tendieren nicht nur die Homiletiker der WortGottes-Theologie, sondern auch Lange, Jetter und Otto dazu, die Predigtarbeit als einen Glaubensprozess zu beschreiben. In der Folge gerät, wie immer wieder deutlich wurde, die eigenverantwortliche berufliche Arbeit des Predigers aus dem Blick: Auch die Erschließung der homiletischen Situation erscheint ausschließlich als ein Problem der "subjektiven Gesinnung", nämlich des pastoralen Glaubens und Unglaubens. Durch die mangelnde Unterscheidung von der Situation des Predigers wird im übrigen die Wirklichkeit der Hörenden fast mit Notwendigkeit negativ qualifiziert. Denn ihr widerständiger Charakter, der in der beruflichen Arbeit zu überwinden ist, erscheint nun als ein individuelles Glaubensproblem. Die Wirklichkeit des Hörers wird dann analog zur Predigersituation im wesentlichen als Aufgabensituation verstanden, als permanente Anfechtung, die wiederum die beständige Kritik des Vorfindlichen impliziert. "Der Anfechtungsbegriff erhält Züge abstrakter Allgemeinheit" (Cornehl 1983, 355), denn die Vielfalt möglicher Glaubenssituationen geht tendenziell in der Krisensituation der Predigtarbeit auf23. Wird die homiletische Situation jedoch in der von Steck vorgetragenen pastoraltheologischen Perspektive begriffen, so gehört zu ihrer Erschließung nicht zuletzt die Unterscheidung zwischen der pastoralen Subjektivität und ihrer beruflichen Praxis. Mag die pastorale Glaubenserfahrung auch exemplarisch sein, so ist doch zu unterscheiden zwischen dem Ziel der Predigt, diesen Glauben in der homiletischen Situation zu formulie-
23 Der Zusammenhang einer Identifikation von Prediger- und Hörersituation mit einer Abbiendung beruflicher Arbeit einerseits und mit einer einseitig negativen Perspektive auf die homiletische Situation andererseits läßt sich noch in einem neueren Beitrag erkennen, den K.P.Jörns unter dem Titel "Der Gang in die Wüste als Weg zur Predigt" vorgelegt hat (Jörns 1982). Das homiletische Problem der "tiefsten Kenntnis der Welt" (Bonhoeffer), welche die Vollmacht bzw. Relevanz der Predigt verbürgt, will Jörns im Rekurs auf das biblische Bild der Wüste bearbeiten: Sie erscheint als Ort der Not und Anfechtung wie als Ort des Heils (aaO. 154), und in der Geschichte Jesu (vgl. Mk 1, 12p) zeigt sich: "In der Wüste werden Erfahrungen gesammelt, die reden machen hinterher" (155). Im Symbol der "Wüste" verbindet sich die Erfahrung Jesu mit der Erfahrung des Glaubens generell sowie mit der Erfahrung des Predigers im speziellen. Wenn Jörns darum den "Gang in die Wüste" als Modell der Predigtarbeit empfiehlt, so tritt wiederum die Erfahrung der Anfechtung durch die eigene Schuldverflochtenheit für Hörer und Prediger in den Vordergrund (vgl. aaO. 150ff); und zugleich wird auf eine Beschreibung des methodischen Handelns gegenüber der homiletischen Situation verzichtet: Ein "homiletisches Verfahren für die Studierstube am Samstagnachmittag" (159) möchte Jörns aus dem "Gang in die Wüste" gerade nicht machen, sondern die Predigtarbeit erscheint lediglich als Paradigma der in diesem Symbol verdichteten Erfahrung des Glaubens.
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ren, und dem Vorgang der Predigtarbeit, in der diese Formulierung als eine berufliche Leistung zustande kommt. Die dazu erforderlichen Fähigkeiten wurden in den vorhergehenden Abschnitten skizziert: Sie umfassen eine systematisch-theologische wie eine empirisch-pragmatische Deutung der gegenwärtigen Wirklichkeit sowie die Kompetenz, verschiedene Perspektiven im Blick auf die konkrete Predigtsituation zu vermitteln. Die Glaubenserfahrung des Predigers ist nicht mehr und nicht weniger als ein konstitutives Element dieses Deutungsprozesses. Es ist schließlich wiederum die Gattung der Predigtmeditationen, in der die Notwendigkeit pastoraler Unterscheidungsarbeit gegenüber der homiletischen Situation zum Ausdruck kommt. Bereits in der Konzeption der GPM wird deutlich, daß die pastorale Glaubenserfahrung stets im Blick auf die spezielle Wirklichkeit reflektiert werden muß, in der das Wort Gottes ergehen soll. Die hier angelegte Unterscheidung von Wirklichkeitserfahrung des Glaubens und beruflicher Aufgabenstellung24 hat Lange noch deutlicher formuliert, indem er den Sinn der "Predigtstudien" mit der Differenz zwischen alltäglichem Leben und gottesdienstlich-parochialem Milieu begründet: Es ist die pastorale Erfahrung der zunehmenden Unzugänglichkeit der homiletischen Situation, die eine neuartige publizistische Predigthilfe erfordert. In jedem Fall erscheint die literarische Unterstützung der Predigtarbeit als ein Instrument des beruflichen Handelns, mittels dessen die pastorale Deutung der Wirklichkeit erweitert und präzisiert wird. Auf diese Weise schärfen die Predigtmeditationen die Unterscheidung der homiletischen Situation von der alltäglichen Situation der Hörenden wie von der konkreten Lage der Prediger ein.
24 In einer Untersuchung zur Bedeutungsgeschichte von "Predigtmeditation" hat auch J.Henkys darauf aufmerksam gemacht, daß sich in diesem Verfahren christliche Erfahrung und berufliches Spezialwissen verbinden: Der Begriff der "Meditation" geht zum einen auf die antik-rhetorische Bezeichnung für die gezielte Vorbereitung einer Rede zurück; zum anderen enthält er eine "aszetische", insbesondere von Luther reflektierte Komponente, die der Psalmenfrömmigkeit und derem beständigen Umgang mit dem "äußeren Wort" entspringt (Henkys 1980, bes. 6f.8ff).
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6. Die homiletische Situation als pastorale Not und Verheißung Die Untersuchung einzelner Entwürfe wie die Überlegungen im Schlußteil haben gezeigt, daß die homiletische Situation zureichend nur als Element pastoraler Berufstätigkeit gedeutet werden kann. Die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen dieses Berufs stellen den Rahmen dar, in dem die Situation der Predigthörerinnen und -hörer thematisch wird. Mindestens hinsichtlich des Wirklichkeitsverständnisses besteht mithin ein ausgesprochen enger Zusammenhang zwischen homiletischer und. pastoraltheologischer Reflexion. Abschließend sind die Konsequenzen zu skizzieren, die sich aus dieser thematischen Beziehung für die Homiletik sowie für die Deutung des pastoralen Berufs im ganzen ergeben. (1) Die Predigtarbeit enthält mit der Auslegungsaufgabe, die durch die homiletische Situation gestellt ist, mit Notwendigkeit eine pastoraltheologische Komponente. Das Gegenüber der pastoralen Predigtarbeit, darin sind sich die untersuchten Autoren einig, ist nur im Kontext der jeweiligen beruflichen Wirklichkeit, der konkreten Gemeinde und der durch sie bestimmten Aufgaben zu erschließen25. Diese Einsicht hat sich besonders in den Predigtmeditationen niedergeschlagen. Es ist zunächst der Bezug auf die pastorale Erfahrung im ganzen, worin die unterschiedlichen Konzepte der Meditation übereinstimmen. Iwand rückt die homiletische Auslegungsarbeit der GPM praktisch in den Horizont der gesamten kirchlichen wie politisch-gesellschaftlichen Gegenwart, die damit zugleich als pastorale Berufsaufgabe erscheint. Und es ist gerade der Bezug auf die besonderen Umstände pastoraler Erfahrung, den Lange in den "Predigtstudien" zum ausdrücklichen Programm erhebt: Die "Großwetterlage" wie die "Lage vor Ort" sind der Rahmen, in dem sich nicht nur die pastorale Predigtarbeit, sondern die Kommunikation des Evangeliums im ganzen vollzieht. In den Predigtmeditationen wird ausdrücklich, daß der Prediger sich als Pfarrer verstehen und betätigen muß, um die homiletische Situation zu erschließen. Die pastorale Orientierung der Predigtmeditationen macht eine weitere, zunächst überraschende These plausibel. Indem die Meditationen die ge-
25 In die gleiche Richtung zielen die Erwägungen zur homiletischen Kompetenz der Gemeinde, die in letzter Zeit von verschiedenen Seiten vorgetragen worden sind; vgl. Zerfaß 1982, 30-58; Dannowski 1983; 1985, 44-50; Jörns 1988, 36ff.l68ff.
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samte Breite der konkreten pastoralen Berufserfahrung heranziehen, verdeutlichen sie auch, daß die Predigtarbeit sich nicht allein zwischen dem biblischen Text und der exemplarischen Subjektivität des Predigers bewegt, sondern ebenso konstitutiv auf die Situation des Predigers bzw. seiner Hörer bezogen ist. Als besondere Gattung sind die Predigtmeditationen denn auch in einer historischen Konstellation entstanden, in der diese Wirklichkeit sich als ein Problem, als eine berufliche Krisenerfahrung präsentiert (vgl. Erster Teil C). Es dürfte dann gerade die homiletischen Situation sein, ihre zunehmende Ausdifferenzierung und Unzugänglichkeit, auf die die Predigtmeditationen faktisch und konzeptionell in erster Linie zielen26. Der pastorale Horizont und der pastoraltheologische Charakter der Predigtmeditationen machen weiterhin hinsichtlich der homiletischen Theoriebildung auf die Bedeutung eines spezifischen Zwischenbereichs aufmerksam. Die praktisch-theologische, auf die grundsätzliche Vermittlung von Überlieferung und Erfahrung beschränkte Reflexion der Predigtarbeit erscheint als homiletische Denkform ebensowenig ausreichend wie eine ausschließlich praktisch begründete Sammlung homiletischer "Klugheitsregeln". Jedenfalls hinsichtlich der homiletischen Situation kann auf eine pastoraltheologische, zwischen allgemein-wissenschaftlicher und individuell-pragmatischer Reflexion vermittelnde Ebene der Theoriebildung nicht verzichtet werden27: Es ist gerade die jeweils neu zu bestimmende Verbindung von subjektiver Erfahrung und ihren allgemeinen gesellschaftlichen und kirchlichen Bedingungen, die in den Predigtmeditationen zum Ausdruck kommt. Auch die "homiletische Gesamttheorie", die in jüngster Zeit verschiedentlich eingefordert worden ist28, wird nicht
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Diese These über den Ursprung der Predigtmeditationen wäre anhand der verschiedenen Vorworte und Selbstverständigungen in der Meditationsliteratur weiter zu überprüfen; vgl. vorerst Hasselmann 1977. 27 Demgegenüber hat V.Drehsen, im Blick auf die Homiletikgeschichte der letzten Jahrzehnte, die "vorwiegend am Berufsvollzug des Predigers orientierte[n]" pastoraltheologische Homiletik eo ipso mit der Gefahr einer "pragmatischen Unterbestimmung des Predigtverständnisses" identifiziert, der dann die praktisch-theologische Homiletik als wissenschaftliche Theorieebene gegenübertreten müßte (vgl. Beutel u.a. 1986, 9). Pastoraltheologische Homiletik stellt jedoch selbst eine Vermittlung individueller Erfahrungen, empirischer Theorien und dogmatischer Predigtauffassung dar, die die von Drehsen (ebd.) befürchtete Reduktion auf "technische Kunstfertigkeiten" ebenso vermeidet wie die "dogmatische Überbestimmung" der Predigt, wie sie sich in der prinzipiellen Homiletik der Wort-GottesTheologie findet. 28 Vgl. etwa Gräb 1988, 45ff; Wintzer 1989, 43f; Schröer 1990, 12f.
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zuletzt die besondere pastorale Erfahrung mit der Predigtarbeit ausdrücklich zum Thema machen müssen29. (2) In den Predigtmeditationen, aber auch in zahlreichen anderen homiletischen Texten wird die Predigtarbeit in pastoraltheologischer Weise reflektiert. Dieser Befund läßt sich nun schließlich auch als Hinweis auf den tendenziell homiletischen Charakter der Pastoraltheologie verstehen. Die homiletische Situation dürfte, wie abschließend zu zeigen ist, auch darin exemplarischen Charakter haben, daß die pastoraltheologische Reflexion, die Artikulation des beruflichen Selbstverständnisses für eine bestimmte historische Situation, sich besonders in der Auslegung der homiletischen Situation vollzieht. Historisch ist es auffällig, daß die Gattung der pastoraltheologischen Betrachtung mit dem Aufkommen der Wort-Gottes-Theologie in den Hintergrund tritt30. Dafür dürfte nicht nur die Betonung theologischer Grundfragen auf Kosten der "konkreten Fragen der Gemeinde und des Pfarrerberufes" ausschlaggebend gewesen sein (Rössler 1986, 122). Sondern die Entwürfe der "dialektischen" Theologie akzentuieren zugleich eine - durchaus traditionelle - Auffassung des Pfarramtes, wonach dessen integrierendes Zentrum die Predigtaufgabe darstellt. Schon die frühen Texte Barths lassen die Probleme des Pfarramts bekanntlich in der Frage zusammenlaufen: "was heißt predigen? und - nicht: wie macht man das? sondern: wie kann man das?" (Barth 1922, 103) In dieser theologischen Tradition wird nicht allein der Prediger als Pfarrer, sondern zugleich der Pfarrer als Prediger begriffen31. Die pastoraltheologische Tra-
29 In jüngster Zeit hat besonders H.Hirschler dieser Forderung Rechnung getragen, indem er seine individuelle Erfahrung mit der Predigtarbeit ebenso ausführlich thematisiert wie die Bedeutung der Gemeinde und ihres jeweiligen geschichtlichen und politischen Umfelds (vgl. Hirschler 1988). Seine Homiletik zielt offensichtlich nicht zuletzt auf die Subjektivität des Predigers und auf seinen persönlichen Glauben und nimmt damit im Grunde "das Genus pastoraltheologischer Literatur wieder auf' (Hauschildt 1988, 559). 30 Vgl. Rau 1970, 317f; Rössler 1986, 122. 31 Noch A.Niebergall vertritt in seiner Untersuchung über den "Prediger als Zeuge" (1960) die Auffassung, daß die Zeugenaufgabe im Grunde den gesamten pastoralen Beruf einschließt. Ebenso stellt M.Fischers Vortrag über die "Anfechtung des Predigers heute" eine umfassende Bestandsaufnahme der pastoralen Situation in der DDR des Jahres 1953 dar, und zwar unter Einschluß der politisch-gesellschaftlichen "Anfechtung durch die Not von außen" (Fischer 1953, 31ff) und der "Fragen zwischen Kirche und Staat" (aaO. 39ff): In der Beschreibung der Existenz des Predigers kommen die jeweiligen Umstände des pastoralen Berufs im ganzen zur Sprache.
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dition des 19.Jahrhunderts findet eine faktische Fortsetzung in den Erwägungen zur Situation des Predigers. Diese These bestätigt sich im Blick auf die homiletischen Texte der 50er Jahre. Die Aufarbeitung der vielschichtigen pastoralen Erfahrung zwischen Glauben, Beruf und Wissenschaft, deren explizite Reflexion von der Konzentration auf theologische Grundfragen erschwert wird, findet de facto in der homiletischen Reflexion der Wirklichkeit statt, die dem Prediger als Aufgabe gegenübertritt. Die Homiletik der 50er Jahre erscheint, insbesondere in den Predigtmeditationen und verwandten Texten, als eine implizite Pastoraltheologie32. Es dürfte diese Transparenz für Grundzüge beruflicher Erfahrung sein, die für das bleibende Interesse an jener gleichsam meditativen Variante der Homiletik gesorgt hat. In den 60er Jahren wird die paradigmatische Bedeutung der Homiletik für die Reflexion des pastoralen Selbstverständnisses noch deutlicher, insofern die beruflichen Probleme der Prediger nun ausdrücklich in die homiletische Reflexion einbezogen werden. So wird etwa Bastians Bestimmung der Predigt nur als ein Unterfall seiner "kybernetischen" Fassung des kirchlichen Auftrags insgesamt verständlich: Die Wirklichkeit der gegenüber dem "sendenden" Prediger passiv "empfangenden" Gemeinde bzw. Öffentlichkeit stellt den Horizont dar, in dem das Pfarramt wirkt. Die Verbindung pastoraltheologischer und homiletischer Situationsdeutung ist jedoch besonders an Langes Arbeiten deutlich geworden. Die homiletischen Skizzen von 1967/68 stellen im wesentlichen eine Zuspitzung der Perspektiven dar, die Lange für die pastoralen Probleme und Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart entwickelt hat. Gerade im Begriff der homiletischen Situation kommt die pastoraltheologische Einbettung der Homiletik zu ihrem klarsten Ausdruck (vgl. Zweiter Teil C.V. 1-3). Daß es Lange mittels einer Deutung der Predigtarbeit gelungen ist, die pastorale Wirklichkeitserfahrung in der modernen Gesellschaft nicht nur neu zu formulieren, sondern auch ihre methodische Bewältigung an einem maßgeblichen Punkt zu skizzieren, stellt seine wirkungsgeschichtlich entscheidende Leistung dar.
32 Die weitere, hier nicht zu leistende Entfaltung dieser These hätte auch die Arbeiten von W.Trillhaas (vgl. dazu Wintzer 1969, 207ff und Müller 1986, 545f) sowie von H.Diem heranzuziehen, der seinen Entwurf der Praktischen Theologie (1963) zwar explizit auf das Thema der "Verkündigung" beschränkt, in diesem Rahmen aber die pastorale Situation gleichwohl sehr differenziert thematisiert; vgl. auch Diem 1949/50; 1952.
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Die Bedeutung der Predigtarbeit und Predigtlehre für die Reflexion des Pfarrberufes läßt sich schließlich auch an den pastoraltheologischen Arbeiten belegen, mit denen M Josuttis die Thematik neu aufgenommen hat. So liest sich das Inhaltsverzeichnis von "Der Pfarrer ist anders" (Josuttis 1982) über weite Strecken als Aufzählung homiletischer Themen, wenn "das Wort", "das Amt", "die Gemeinde", "die Macht" oder "die Frömmigkeit" behandelt werden. Und der "Traum des Theologen", den Josuttis dem zweiten Band der Pastoraltheologie zugrunde legt (1988), hat die Erfahrung einer Predigt und deren überwältigender Wirkung zum Gegenstand (aaO. 11): Die pastorale Berufstätigkeit zentriert sich in der Predigtarbeit. Das zeigt sich auch in dem Kapitel, das jene Predigterfahrung pastoraltheologisch auslegt (aaO. 37-58). Josuttis thematisiert die individuellen, religiösen und sozialen Konflikte, die das Gegenüber von Prediger und Hörenden prägen, das Problem der Routine, des persönlichen Glaubens des Predigers und schließlich des von der Predigt erwarteten Gemeindeaufbaus. Wiederum spiegeln sich in der Reflexion der Predigtarbeit grundlegende Bedingungen des pastoralen Berufs. In der Predigtarbeit, und insbesondere in der Bearbeitung der homiletischen Situation kommt die vielschichtige Beziehung des Pfarrers zu seiner beruflichen Wirklichkeit offenbar in exemplarischer Weise zum Ausdruck33. Dies gilt, wie die historischen Untersuchungen gezeigt haben, zunächst in Hinsicht auf die pastoralen Krisenerfahrungen. Daß die homiletische Situation als ein widerspruchsvoller Prozeß erscheint, der das Zeugnis des Glaubens tendenziell bedroht und verdunkelt und damit zu einer besonderen Herausforderung wird - das alles kann als Reflex pastoraler Erfahrung angesichts der beruflichen Aufgabe verstanden werden, die Wirklichkeit der Gemeinde wahrzunehmen und auszulegen. Und ebenso hat das spezifisch neuzeitliche Problem des pastoralen Berufes, die unübersichtliche Vielfalt alltäglicher Lebenserfahrung und die damit einhergehende Individualisierung des Glaubens, seinen deutlichsten Ausdruck in der Klage über die Wirkungslosigkeit der Predigt gefunden: Die
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Es dürfte mit der Einsicht in diese paradigmatische Bedeutung der Predigtlehre zusammenhängen, daß die erneute Wendung der Homiletik zu Prinzipienfragen, wie sie etwa Wintzer (1987, 210f) und Schröer (1990) beobachten, in der gegenwärtig wieder zunehmenden Bedeutung der Homiletik als praktisch-theologischer Leitdisziplin aufgenommen wird (vgl. Rössler 1986, 48).
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Erfahrung der homiletischen Situation als Krisen- und Konfliktphänomen ist als Auskunft über die Lage des Pfarramts im ganzen zu verstehen. Diese paradigmatische Bedeutung kommt der homiletischen Situation jedoch auch im Blick auf die Chancen der pastoralen Arbeit zu: In der Erschließung der Lebenswirklichkeit von Predigthörerinnen und -hörern, wie sie sich in der regelmäßigen Predigtarbeit vollzieht, werden die Pfarrer in konzentrierter Weise der Wirklichkeit ansichtig, denen ihre Berufstätigkeit gilt. Mittels der Konzentration auf einen biblischen Text und auf eine zeitlich und sachlich begrenzte Auslegungsaufgabe kann die Vermittlung unterschiedlicher Erfahrungen des Glaubens ebenso eingeübt werden wie die notwendige Unterscheidung zwischen der pastoralen und der allgemein-christlichen Perspektive. Und auch die Verbindung dogmatischer und empirisch-pragmatischer Sichtweisen des Berufs läßt sich an der homiletischen Situation offenbar beispielhaft vollziehen. Aus dem pastoraltheologischen Rang der homiletischen Situation dürfte sich der programmatische Charakter dieser Fragestellung erklären, auf den die Untersuchung immer wieder gestoßen ist. Die Debatte um die homiletische Situation repräsentiert nicht nur die Not, sondern auch die spezifischen Verheißungen des pastoralen Berufs in der Gegenwart. Wenn darum die Erfahrungen mit dem Pfarramt sich erneut ändern, so wie sich dies augenblicklich andeutet, wenn also die gesellschaftlichen und religiösen Umstände eine neue Gestalt des pastoralen Berufes erfordern, dann wird auch die Aufgabe, die mit dem Begriff der homiletischen Situation umschrieben worden ist, neu zu bedenken sein.
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Literaturverzeichnis
Im Text der Arbeit und in den Anmerkungen wird auf die hier genannten Werke mit dem Namen des Autors (bei Verwechslungsmöglichkeit auch mit Vornamen) und dem Erscheinungsjahr (gegebenenfalls mit zusätzlichen unterscheidenden Buchstaben) verwiesen; nur bei sehr häufig zitierten Texten H.J.Iwands und E.Langes werden eigene Abkürzungen verwendet. D i e dadurch bezeichneten Werke sind hier in alphabetischer Reihenfolge der Sigel vor den nach Jahreszahl zitierten aufgeführt. D i e Abkürzungen folgen dem von S.Schwertner zusammengestellten Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie, Berlin/ N e w York 1976. Zusätzliche Abkürzungen: PrSt: Predigtstudien, Berlin/ Stuttgart 1968ff; ZGP: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt, Gütersloh 1983ff.
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Piper, Hans-Christoph: Apostolatstheologie und Gemeindeaufbau; MPTh 45/1956, 145-153 - : Predigtanalysen. Kommunikation und Kommunikationsstörungen in der Predigt, Göttingen 1976 Raiser, Konrad: Bürge für die Kirche - im Licht ihrer ökumenischen Möglichkeit. Zum Gedenken an Ernst Lange; ÖR 3611987,277-288 Ratzmann, Wolfgang: Missionarische Gemeinde. Ökumenische Impulse für Strukturreformen, Berlin (DDR) 1980 Rau, Gerhard: Pastoraltheologie. Untersuchungen zur Geschichte und zur Struktur einer Gattung praktischer Theologie, München 1970 (SPTh 8) - : Das Pfarramt: Produkt eigener Theoriebildung; ThPr 20/1985,129-141 Rein, Gerhard: Fragmentarisches Leben. Dietrich Bonhoeffer - Ernst Lange; in: H.Pfeiffer (Hg.), Genf '76. Ein Bonhoeffer-Symposion, München 1976,111 -125 - : Das Fremde soll nicht mehr fremd sein. Auf den Spuren Ernst Langes (RundfunkMs.1975); PTh 16/1987, 534-556 Rendtorff, Trutz: Die soziale Struktur der Gemeinde. Die kirchlichen Lebensformen im gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart. Eine kirchensoziologische Untersuchung, Hamburg 1958 - : Säkularisierung als theologisches Problem; NZSTh 4/1962, 318-339 - : Von der Kirchensoziologie zur Soziologie des Christentums. Über die soziologische Funktion der "Säkularisierung"; URS 2/1966, 51-72 Rössler, Dietrich: Das Problem der Homiletik; ThPr 1/1966, 14-28; hier zit. nach: Beutel u.a. 1986,23-38 - : Predigtbesprechung; in: Lange 1968b, 71-77 [zit.: 1968] • : Die praktische Theologie; in: W.Lohff/F.Hahn (Hgg.), Wissenschaftliche Theologie im Überblick, Göttingen 1974, 56-61 - : Beispiel und Erfahrung. Zu Luthers Homiletik; in: H.M.Müller/D.Rössler (Hgg.), Reformation und Praktische Theologie. FS WJetter, Göttingen 1983, 202-215 - : Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986 Rothermundt, Jörg: Der Heilige Geist und die Rhetorik. Theologische Grundlinien einer empirischen Homiletik, Gütersloh 1984 Sänger, Peter-Paul: Hans Joachim Iwand; ZdZ 39/1979,297-300 - (Hg.): HJ.Iwand: Briefe, Vorträge, Predigtmeditationen. Eine Auswahl, Berlin (DDR) 1979a - : Enttäuschung und Erfüllung. Hans Joachim Iwand zu Jesaja 62, 10-12; ThV XIII/ 1983,69-82 - : Anfange und Herkunft Iwands - seine theologischen Lehrer; in: Seim/Stöhr 1988, 3-60 Schellong, Dieter: Zur politischen Predigt, München 1959 (TEH 72) - : Hans Joachim Iwand - Die Aktualität eines Lebenswerks; Ref 28¡1979,390-401 Schloz, Rüdiger: Vorwort des Herausgebers (zur Erstaufl. 1976); in: Lange 1982,7-8 - : Einleitung; in: Lange 1980, 7-16 - : Einleitung; in: Lange 1981, 7-15 - : Nachwort; in: Lange 1982, 192-196 - : Art. "Kirchenreform"; in: TRE 19,1990, 51-58 Schmidt, Hans-Peter: Kirchliche Erneuerung im ökumenischen Horizont. Eine Einführung in das Denken von Ernst Lange; WPKG 64/1975,492-511 Schmidt, Joachim: Parteilichkeit in der Volkskirche. Ein Beitrag zum Kirchenverständnis Ernst Langes; PTh 76/1987, 503-520 Scholder, Klaus (Hg.): Dem Wort vertrauen. Gedenkreden für Hermann Diem, München 1976 (TEH 193)
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Arbeiten zur Pastoraltheologie Hrsg. von Martin Fischer und Robert Frick, ab Band 20 von Peter Cornehl und Friedrich Wintzen
2 Heinrich Wittram * Die Kirche bei Theodosius Harnack Ekklesiologie und Praktische Theologie. 189 Seiten, br. ISBN 3-525-57104-6
6 Friedrich Wintzer * Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfange der dialektischen Theologie' in Grundzügen 231 Seiten, kart. ISBN 3-525-57109-7
8 Bjarne Hareide * Die Konfirmation in der Reformationszeit Eine Untersuchung der luth. Konfirmation in Deutschland 1520-1585. 317 Seiten, kart. ISBN 3-525-57110-0
11 Hans Mohr · Predigt in der Zeit Dargestellt an der Geschichte der evang. Predigt über Lukas 5,1-11. XXXII, 416 Seiten, kart. ISBN 3-525-57114-3
12 Olaf Meyer * „Politische" und „Gesellschaftliche Diakonie" in der neueren theologischen Diskussion IV, 479 Seiten, kart. ISBN 3-525-57117-8
16 Christian-Erdmann Schott Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärungspredigt Dargestellt am Beispiel Franz Volkmar Reinhardts. 368 Seiten, kart. ISBN 3-525-57119-4
17 Friedemann Oettinger · Gottesbild und Gottesdienst Gedanken zur Gottesfrage in der Versammlung des Leibes Christi. 251 Seiten, kart. ISBN 3-525-57120-8
18 Hans-Christoph Piper Kommunizieren lernen in Seelsorge und Predigt Ein pastoraltheologisches Modell. 130 Seiten, kart. ISBN 3-525-62191-4
21 Peter Brandt * Die evangelische Strafgefangenenseelsorge Geschichte - Theorie - Praxis. 422 Seiten, kart. ISBN 3-525-62309-7
22 Reinhard Schmidt-Rost * Seelsorge zwischen Amt und Beruf Studien zur Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert. 144 Seiten, kart. ISBN 3-525-62318-6
23 Martin Dutzmann Gleichniserzählungen Jesu als Texte evangelischer Predigt 232 Seiten, kart. ISBN 3-525-62323-2
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich