Autopoiesis und Literatur: Die kurze Geschichte eines endlosen Verfahrens 9783839434420

Autopoiesis - the history of a successful concept that wanders between disciplines, from cognitive biology to literary s

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German Pages 250 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Verfertigen – Kleist
1.1 Anfangen
1.2 Adressieren
1.3 Unterbrechen
1.4 Wiederholen
1.5 Übersetzen
1.6 Wissen-„shiften“
1.7 Fazit
2. Verhandeln – Kafka
2.1 Das Verfahren, Benjamins Blüte und „Gott lachte“. Eine Einführung
2.2 Präambel
2.3 Verfahren zweiter Ordnung
2.4 Schrift
2.5 Fazit
3. Verfahren – Autopoiesis
3.1 City of Glass
3.2 Interdisziplinäre Autopoiesis
3.3 Populäre Autopoiesis
3.4 Autopoietische Autopoiesis: Fazit
4. Schluss – Antaporia practica
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Dank
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Autopoiesis und Literatur: Die kurze Geschichte eines endlosen Verfahrens
 9783839434420

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Marcel Schmid Autopoiesis und Literatur

Lettre

Marcel Schmid ist Stipendiant des Schweizerischen Nationalfonds und forscht als Gastwissenschaftler an der Yale University. Der Literaturwissenschaftler und Historiker studierte an der Universität Zürich, an der New York und der Yale University.

Marcel Schmid

Autopoiesis und Literatur Die kurze Geschichte eines endlosen Verfahrens

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2014 auf Antrag von Prof. Dr. Wolfram Groddeck (Zürich) und Prof. Dr. Rüdiger Campe (Yale) als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Christelle Serrano, Luzern Lektorat: Tanja Jentsch, Bottrop Satz: Tanja Jentsch, Bottrop Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3442-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3442-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung  | 9 1.

Verfertigen – Kleist  | 13

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Anfangen | 13 Adressieren | 23 Unterbrechen | 28 Wiederholen | 40 Übersetzen | 54 Wissen-„shiften“ | 68 Fazit | 73

2.

Verhandeln – Kafka  | 77 Das Verfahren, Benjamins Blüte und „Gott lachte“. Eine Einführung | 77 Präambel | 83 Verfahren zweiter Ordnung | 115 Schrift | 132 Fazit | 162

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Verfahren – Autopoiesis  | 165 City of Glass | 165 Interdisziplinäre Autopoiesis | 168 Populäre Autopoiesis | 202 Autopoietische Autopoiesis: Fazit | 213

4.

Schluss – Antaporia practica  | 217

Abbildungsverzeichnis  | 225 Literaturverzeichnis  | 227 Dank  | 245

Abbildung 1: Beim Facharzt für Sprechblasen-Leiden

Quelle: Egner, Eugen: Beim Facharzt für Sprechblasen-Leiden, in: Titanic. Das endgültige Satiremagazin, Heft Nr. 6, 2007, S. 41

Einleitung

Autopoiesis – ein der Kognitionsbiologie entlehnter Topos – hat sich mittlerweile in der literaturwissenschaftlichen Forschung etabliert, um Selbstthematisierungen in Texten zu bezeichnen. Dennoch gibt es keine einheitliche Vorstellung darüber, wie Autopoiesis zu verstehen wäre. Deswegen liefert diese Arbeit am Beispiel von Heinrich von Kleists kurzem Text „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und Franz Kafkas längerem Romanfragment Der Process erstmals den Versuch, Autopoiesis zu bestimmen. Wieso Kleist und Kafka? Selbstverständlich gibt es in der Geschichte der Literatur unzählige Beispiele, an denen Autopoiesis aufgezeigt werden könnte. Kleist und Kafka eignen sich aber gerade deshalb, weil sie Autopoiesis als konstituierenden Bestandteil in ausgewählten Texten ausstellen und weil sie eine beachtliche Bandbreite an semantischen Effekten vorführen, die direkt mit dem Autopoiesis-Theorem zusammenhängen. Das bedeutet nun nicht, dass in dieser Arbeit nur mit Kleist und Kafka argumentiert würde. Vergleichstexte werden ebenfalls hinzugezogen, wie zum Beispiel jene von Johann Georg Hamann, Walter Benjamin und Roland Barthes, doch dienen diese dazu, die Argumentation bei Kleist und Kafka zu stützen. Im ersten Teil der Arbeit wird am Beispiel von „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ gezeigt, dass die allmählige Verfertigung nicht nur als Prinzip beschrieben, sondern im Text gleich selbst vollführt wird. Die Reihung verschiedener Beispiele, verschiedener Sprachen, naturwissenschaftlicher und historischer Diskurse führt dazu, dass das Prinzip der Verfertigung nie als stabile und präzise beschreibbare Funktion erscheint, sondern als Funktionieren, das sich erst in der Lektüre preisgibt. Im zweiten Teil wird Franz Kafkas Der Process als autologische Verhandlung von Rechtsdiskursen und Schriftlichkeit gelesen. In dieser Lek-

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Autopoiesis und Literatur

türe wird die Türhüter-Legende im Romanfragment als kryptischer Beantwortungsversuch der Frage nach dem Sein des Gesetzes analysiert, wobei die Frage auf der „Dom“-Kapitelebene und auf der Ebene des gesamten Romans mehrmals wiederholt wird. Dabei erweist sich die Offenheit und Unabschließbarkeit der Frage als kreativer Motor für das Romanfragment. Ein Blick in die Handschrift bestätigt außerdem, dass selbst die Materialität der Schrift in ihrem unstabilen Charakter an der Verhandlung der Frage nach dem Gesetz beteiligt ist. Nach dieser Fundierung von Autopoiesis als textkonstitutives Paradigma verlässt die Arbeit im dritten Teil die rein literaturwissenschaftliche Perspektive und widmet sich der Geschichte von Autopoiesis. Sie rekonstruiert Autopoiesis auf dem Weg von der Gründung durch die beiden Kognitionsbiologen Humberto Maturana und Francisco Varela über den Einzug in die Systemtheorie Niklas Luhmanns bis zur Übernahme durch die systemtheoretische Literaturwissenschaft der 1990er Jahre. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den jeweiligen Kategorisierungs- und Definitionsverfahren. Diese Definitionen werden von den jeweiligen Disziplinen als wenig erklärungsbedürftig taxiert, obwohl sie mit höchst unterschiedlichen Konzepten verbunden sind. Somit lässt sich aus der Begriffsgeschichte auch eine wiederholende Neubesetzung des Autopoiesis-Begriffs lesen, die nach dem Muster einer wiederkehrenden Selbstsetzung funktioniert. Das Verfahren der jeweiligen Disziplinen, Autopoiesis als Begriff zu setzen, ohne die Begriffsgeschichte zu berücksichtigen, endet in der Paradoxie: Die Begriffsbildung von Autopoiesis wird selbst autopoietisch. Die Tatsache, dass die drei Teile dieser Arbeit „Verfertigen – Kleist“, „Verhandeln – Kafka“, „Verfahren – Autopoiesis“, in vielerlei Hinsicht autonom bleiben, liegt an der Bandbreite von Implikationen, die mit Autopoiesis verbunden sind: beispielsweise eine selbstaffizierende in der Begriffsgeschichte, da die Begriffsbildung selbst autopoietische Züge trägt. Auch wenn dadurch die einzelnen Teile eine spezifische Charakterisierung von Autopoiesis verfolgen, gibt es gemeinsame Merkmale, die mit folgenden Hypothesen und Fragen aufzuarbeiten sind: Erstens haben alle „Disziplinen“ Mühe, die beobachtete Selbster­zeu­ gung zu definieren. Dies ist durchaus selbstreferentiell gemeint, denn diese Arbeit verfolgt in der Frage nach der Definition nicht nur kognitionsbiologische, systemtheoretische und literaturwissenschaftliche Definitionsversuche, sondern auch den Versuch, an Kleist und Kafka aufzuzeigen, wie Autopoiesis avant la lettre zu bezeichnen wäre.

Einleitung

Zweitens steht Autopoiesis selten im Zentrum – ob als literaturwissenschaftlicher und systemtheoretischer Analysebegriff oder ob als literarisches Paradigma. Diese Arbeit verspricht Aufklärung darüber, wieso Autopoiesis meist nur sekundiert und im Zusammenhang anderer Paradigmen und Konzepte auftaucht. Drittens zeigt diese Arbeit auf, dass Autopoiesis grundsätzlich eine Bewegung markiert: Die in die Kapiteltitel gesetzten Verben verfertigen, verhandeln und verfahren deuten dies schon an. Es wird davon ausgegangen, dass Kleist „verfertigt“, indem die beschriebene Verfertigung der Gedanken beim Reden im Text selbst angelegt ist. Kafka „verhandelt“ in Der Process die rechtstheoretische Frage nach der autopoietischen Setzung von Rechtsgeltung. Autopoiesis „verfährt“ in der Begriffsgeschichte, so dass die unterschiedlichen Definitionen und ihre populärwissenschaftliche Ausbreitung die autopoietische Begriffsproduktion in den Disziplinen sichtbar machen. Viertens werden mit Autopoiesis in allen Disziplinen Grenzen überschritten. Autopoiesis steht nicht nur für neue Beschreibungsmuster, sondern bildet einen dankbaren Konnex über die Grenzen von wissenschaftlichen und literarischen Disziplinen hinweg. Deswegen wird der Begriff hier auch als Grenzüberschreitung zwischen den Autoren und ihren Jahrhunderten sowie zwischen den Disziplinen benutzt, ja sogar als „Entgrenzung“ des Begriffs „Disziplin“ und der inhärenten Trennung beispielsweise zwischen Literatur und Wissenschaft. Das heißt, Kleists und Kafkas Texte werden bezüglich Autopoiesis wie wissenschaftliche Texte gelesen, im Gegenzug werden kognitionsbiologische, systemtheoretische und literaturwissenschaftliche Schriften auch als Texte mit literarischen „Qualitäten“ betrachtet. Im Zuge der Grenzüberschreitung rückt aber auch die Darstellungsform dieser Einleitung in den Fokus. Autopoiesis ernst zu nehmen, hieße auch, Entgrenzungsbewegungen – zum Beispiel die Destabilisierung von End- und Anfangspunkten – darzustellen. Deswegen wird hier nochmals zurückgekehrt an den Anfang und zur Karikatur von Eugen Egner, jenem Karikaturisten und Literaten, der mit der Erzählung „Antaporia practica“ diese Arbeit beendet. Der Verweis auf die Karikatur Egners bekräftigt, dass hier Autopoiesis grundsätzlich eine semiotische Relevanz beigemessen wird, die sich nicht nur auf genuin sprachliche Zeichen begrenzen lässt. Denn die Karikatur arbeitet mit der sprachlich-materiellen Grundlage ihres Sprechens:

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Autopoiesis und Literatur

der Sprechblase. Sie ist gleichsam Thema und Basis dafür, dass sie überhaupt zum Thema wird. Während die wartenden „Sprechblasenfiguren“ die geringe Deformation ihrer Blase im Verhältnis zu jener in das Wartezimmer eintretenden „Sprechblasenfigur“ bemerken, fällt die eintretende Figur gleich doppelt aus dem Rahmen. Die Zeichen in ihrer Sprechblase sind nicht mehr als strukturierte Sprachzeichen zu lesen. Die Grenze zwischen verständlichen und unverständlichen Sprachzeichen fällt, weil sich die unverständliche Sprechblase als Realisierung der selbstreferentiellen Thematik zu lesen gibt. Zudem übertritt die Figur auf der Schwelle zum Wartezimmer die offiziöse Grenze zwischen gezeichneter Figur und Sprechblase, indem sich die Sprechblase gänzlich „inkontinent“ über die Figur verteilt. Mit diesem Beispiel ist erstens gezeigt, dass sich Autopoiesis im Sinne der Grenzüberschreitung nicht nur an Sprache feststellen lässt, sondern sich auch im Schriftmaterial manifestiert.1 Und zweitens geht mit der Darstellung von Autopoiesis meist auch der Versuch einher, in sich selbst ein Verfertigen/Verhandeln/Verfahren zum Sprechen zu bringen. Das zeigt sich schließlich in der Karikatur im kaum lesbaren aber dennoch bemerkenswerten Buchtitel auf dem Wartezimmertisch: „Sprich, Blase, sprich!“

1 | In Teil 2, „Verhandeln – Kafka“, wird darauf näher eingegangen.

1. Verfertigen – Kleist 1.1 A nfangen 1.1.1 ‚Herkunft der Rede‘ „Anfangen ist ein komplexer Vorgang –.“1 Bettine Menkes Reflexion zur ‚Herkunft der Rede‘ „verfertigt“, indem „Anfangen“, das erste Wort eines Aufsatzes über das Anfangen, den Vorgang gleich selbst vollführt. „Anfangen“ fängt an. Anfangen fängt mit sich selbst an. Was Menke in ihr eigenes Schrieben transferiert, lässt sich bereits in Heinrich von Kleists „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ finden – gleich am Anfang: „Denn schon in dessen Paratext, bevor er anfing, setzt(e) der Text mit der Anrede [...] ein: in seiner Rahmung, [...] in der den Anfang des Textes zurückverlegenden und ihn aufschiebenden untertitelgebenden Adressierung: ‚An R. v. L.‘.“2 Wo fängt der Text an? Am Anfang? Im Titel? In der Adressierung? Durch die Rückbindung an die Adressierung und durch die Unsicherheit, ob der Text nicht schon im Paratext begonnen hätte, ist Anfangen „ein paradoxal gespannter oder sogar aporetisch blockierter Vorgang“.3 Der Anfang ist kein Punkt, sondern wird mit Kleist als ein sich verfertigendes Anfangen beschrieben, ein Oszillieren zwischen Paratext und Text. Daraus ließe sich schließen, dass Anfangen unmöglich ist. Oder es ließe sich schließen, dass Anfangen schon zu Beginn eine Verfertigung anzeigt, welche den gesamten Text Kleists prägt, vielleicht auch Kleists gesamtes Schreiben.

1 | Menke, Bettine: Anfangen – zur ‚Herkunft der Rede‘, in: Thums, Barbara et al. (Hg.): Herkünfte. Historisch, ästhetisch, kulturell, Heidelberg: Winter 2004, S. 13. 2 | Menke, Anfangen – zur ‚Herkunft der Rede‘, S. 13. 3 | Ebd.

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Autopoiesis und Literatur

Wie ist mit einem Text umzugehen, dessen Anfang Probleme bereitet? Die Sekundärliteratur sucht zum Beispiel eine Lösung mit dem Hinweis auf die Rhetorizität des Kleist’schen Textes. So schreibt Andreas Gailus – er bezieht sich dabei auf David Wellbery: „Kleists Aufsatz ist selbst ein Beispiel für den Ereignischarakter der Rede, von dem er spricht. [...] [Und] jede der Anekdoten, ja beinahe jeder Satz [verwandelt] das theoretische Modell, das sie illustrieren sollen.“4 Das lässt sich – wie als Beispiel der Text von Menke zeigt – wiederum doppeln und in der Analyse selbst anwenden. So stützt sich die Sekundärliteratur oft auf rhetorische Beispiele als Gelingen oder Misslingen der Rede5, als selbstkonstitutive Rede6, als Inszenie-

4 | Gailus, Andreas: Über die plötzliche Verwandlung der Geschichte durchs Sprechen. Kleist und das Ereignis der Rede, in: Blamberger, Günter/Doering, Sabine/ Müller-Salget, Klaus (Hg.): Kleist-Jahrbuch 2002, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2002, S. 155. 5 | Zum Beispiel in Greiner, Bernhard: Kleists Dramen und Erzählungen, Tübingen/ Basel: Francke 2000, S. 37-51. Rüdiger Campe zeigt in seinem Aufsatz „Verfahren. Kleists Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ in der Fußnote 38, dass nicht nur „Rhetorik“ oder eine „Theorie der Sprache“ verhandelt wird: „[D]ie rahmenden Beispiele [zeigen], dass noch einmal etwas Allgemeineres verhandelt wird. In Kleists Beispielen kommen auch Fälle des Schreibens statt Redens vor; des nicht-agonalen Redens statt der Entscheidungsrede; von Situationen, die von sich aus gar nicht die von Reden oder Schreiben sind, sondern die Redemöglichkeit nur simulieren, um zur Verfertigung der Ideen zu kommen. [...] Alle genannten Situationen und Abläufe sind im Titel Die allmähligen Gedanken. Beim Reden mit bezeichnet: Entweder geht es um eine allgemeiner gefasste Erklärung für die Entstehung von Ideen im Laufe des Handelns, wofür Reden und Rhetorik ein wichtiges Beispielfeld wäre. Oder es geht in der Tat um das Reden beim Handeln, dann aber unter der Voraussetzung, dass dieses Reden beim Handeln aus systematischem Grund der Kern der allgemeinen Frage nach der Pragmatik der Gedankenproduktion bildet.“ In: Campe, Rüdiger: Verfahren. Kleists Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Sprache und Literatur, 43. Jahrgang, 2. Halbjahr, S. 13 Fußnote 38 (Herv.i.O.). 6 | „Ziel der schöpferischen Rede ist die autonome Selbstkonstitution“, schreibt Günter Blamberger in: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenuim est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne, Stuttgart: J.B. Metzler 1991, S. 20.

1. Ver fer tigen – Kleist

rung der Rede 7 und als Übersetzung der Rede (in die Schriftlichkeit)8. Vereinzelt steht auch Kommunikation9 oder das Verhältnis von Denken und Sprache10 im Vordergrund. In der Tendenz, die Verfertigung in Kleists Text rhetorisch und kommunikationstheoretisch zu verorten, erkennt Gabriele Kapp die Problematik, dass – zu Unrecht – von einem „theoretisch ausgeformten Text“ Kleists ausgegangen wird.11 Auch wenn diese Feststellung etwas unklar erscheint (was wäre zum Beispiel das Gegenteil eines theoretischen Textes? – ein „praktischer“ Text?), lässt sich an der Unterscheidung theoretisch/nicht-theoretisch zumindest formallogisch die Problematik ablesen: Kleists Text „redet“ sich in eine kategoriale Unentscheidbarkeit, da er beschreibt, was im Moment seines Schreibens passiert. Die zeitgleiche Umsetzung des „theoretisch“ Dargelegten im Text selbst macht eine eindeutige Kategorisierung schwierig. Dieser Vorgang der Selbstanwendung ist 7 | Weidmann, Heiner: Heinrich von Kleist – Glück und Aufbegehren. Eine Exposition des Redens, Bonn: Bouvier 1984. 8 | Siehe Kapitel „Setzen und Übersetzen: ‚Lautes Denken‘ statt ‚blosser Ausdrückung‘ in der Schrift (Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Re­ den)“ in Ekkehard Zeebs Publikation: Die Unlesbarkeit der Welt und die Lesbarkeit der Texte. Ausschreitungen des Rahmens der Literatur in den Schriften Heinrich von Kleists, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 75-79. 9 | Zum Beispiel in: Theisen, Joachim: ‚Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es gibt nichts anderes.‘ Kleists Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedan­ ken beim Reden, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs), 68/4, 1994, S. 717-744. 10 | Turk, Horst: Dramensprache als gesprochene Sprache, Bonn: Bouvier 1965. 11 | „Dabei wird man mit einer kleisttypischen Besonderheit konfrontiert, die methodisch berücksichtigt werden muß: Ebensowenig wie man von theoretisch ausgeformten Texten sprechen kann, die er erlauben, von einer Dichtungstheorie Kleists zu sprechen, ebensowenig findet man diskursiv durchgearbeitete, in sich konsistente, eine eigene Position begründende Überlegungen zur Sprache vor.“ (Kapp, Gabriele: „Des Gedankens Senkblei“. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799–1806, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2000, S. 14) Kapp verweist dabei auf die „Überhöhung“ von Gerhard Neumann in: Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists ­k ultureller­­A nthropologie, in: Gerhard Neumann (Hg.): Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i.Br.: Rombach 1994, S. 17.

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Autopoiesis und Literatur

in der Tat als eine Verfertigung zu bezeichnen – ein Begriff aus der Sprache der sich um 1800 formierenden Welt der Manufaktur.12 Verfertigung heißt, dass sich das Fehlen eines klaren Anfang- und Endpunktes, der Zusammenfall von Meta- und Objektsprache, das Aufschieben des „Eigentlichen“ und das unaufhörliche Wechseln der Beispiele zu einem perpetuierenden „Prozess“ kombinieren, der die unendliche Selbst­inauguration, die Performanz und die Mise-en-abyme-Struktur in sich „trägt“. Die Liste ließe sich problemlos verlängern und unter den jeweiligen Aspekten hätte jede Umschreibung und jeder Begriff seine Berechtigung. So wie die vielfältige Begrifflichkeit die begriffliche Unfassbarkeit von Autopoiesis widerspiegelt, so finden sich auch bei Kleist keine singulären Begriffe, welche die Verfertigung festmachen würden. Verfertigung scheint nicht eine klar beschreibbare Funktion zu sein, sondern ein „Funktionieren“, welches mehrdimensional angewendet, in der hypotaktischen Satzstruktur, im Wechsel der Beispiele, im Wechsel der Sprachen usw. angesiedelt wird. Es ist die begrifflich schwer fassbare Dynamik von der Verfertigung, welches Reiz und Problematik zugleich ausmacht. So wird hier nicht auf eine begriffliche Setzung fokussiert, sondern in den folgenden Kapiteln das „Funktionieren“ von der Verfertigung analysiert.

1.1.2 Brandenburger Ausgabe (BK A) Bevor im Folgenden eine kurze Vorschau geben wird, werden nun ein paar editionshistorische Worte zu „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ vorausgeschickt. Es wird die sogenannte Brandenburger Ausgabe (BKA) verwendet, eine Edition des Instituts für Textkritik in Heidelberg, seit 1988 herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle, wobei „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ im Band II/9 (Sonstige Prosa) 2007 im Stroemfeld Verlag erschienen ist.13 12 | Campe, Verfahren, S. 5. 13  |  Siehe  dazu  auch:  http://www.textkritik.de/kleist/bka.htm  (Abrufdatum: 06.04.2014),  http://www.textkritik.de/kleist/kleine_prosa.htm  (Abrufdatum: 06.04.2014) und Kleist, Heinrich von: Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: H. v. Kleist, Brandenburger Ausgabe (BKA), II/9: ­S onstige Prosa, hg. von Roland Reuß, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2007, S. 25-32.

1. Ver fer tigen – Kleist

Die Handschrift des Textes ist unbekannt und „den überlieferten Textausgaben lag eine Schreiberkopie zugrunde [...]“.14 Die Datierung „für das Originalmanuskript“ ist „unklar“.15 Wahrscheinlich ist es wohl auf die Zeit zwischen 1805 und 1806 in Königsberg, als auch die erste Fassung des Michael Kohlhaas entstand, zu datieren.16 In den editorischen Bemerkungen zum Text in der Brandenburger Ausgabe heißt es: „Für die Abschrift wahrscheinlich: Dresden 1807/8 – wenn Sembdners Befund stichhaltig ist, der Kopist sei identisch mit dem der ‚Penthesilea‘-Handschrift. Für diese Datierung spräche auch, daß man die redaktionellen Eingriffe – insbesondere die Zerstückelung des Textes in sehr kleine Absätze – mit Kleists Brief an Johann Friedrich Cotta vom 21.12.1807 in Verbindung bringen kann, dem dieser einen (namentlich nicht genannten) ‚Aufsatz für das Morgenblatt‘ beilegt [...]. Für das ‚Morgenblatt‘ waren kurze Absätze charakteristisch; [...].“17

Obwohl eine Absicht bestand, den Text zu publizieren18, wurde er erst 1878, siebzig Jahre nach Kleists Tod, veröffentlicht und „steht bis h ­ eute 14 | Editionshistorische Erklärungen zu „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 25. 15 | Ebd. 16 | Kapp, „Des Gedankens Senkblei“, S. 295; Itoda, Soichiro: Die Funktion des Paradoxons in Heinrich von Kleists Aufsatz ‚Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘, in: Kreutzer, Hans Joachim (Hg.): Kleist-Jahrbuch 1991, Stuttgart: J.B. Metzler 1991. S. 226; Gutterman, Julia/Breuer, Ingo: Zeittafel, in: Breuer, Ingo (Hg.): Kleist Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2009, S. 7-8. 17 | Editionshistorische Erklärungen zu „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 25 (Herv.i.O.). 18 | Laut Soichiro Itoda sprechen für eine beabsichtigte Veröffentlichung „sowohl Korrekturen als auch Bleistiftmarkierungen für eine Gliederung des Textes in Absätze sowie die von fremder Hand zweimal in Parenthese eingefügte Bemerkung ‚Fortsetzung folgt‘“. Weiter führt Itoda aus, dass Helmut Sembdner „eine Veröffentlichungsabsicht für den Phöbus vermutet“, während Hans Joachim Kreutzer davon ausgeht, dass der Text „als Beitrag für Cottas Morgenblatt für gebildete Stände bestimmt war“. (Itoda, Die Funktion des Paradoxons in Heinrich von Kleists

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Autopoiesis und Literatur

im Schatten der berühmten und vieldiskutierten Arbeit ‚Über das Marionettentheater‘“.19Auch heute wird meist auf die von Helmut Sembdner seit 1961 herausgegebene Gesamtausgabe zurückgegriffen. Ein vergleichender Blick in beide Ausgaben fördert nicht wirklich entscheidende Unterschiede zu Tage. Auffällig erscheinen die sprachlichen Anpassungen in der Sembdner-Ausgabe („Rat“ statt „Rath“, „andere“ statt „A n d e r e“, „Punkt“ statt „Punct“, „Ja“ statt „‚Ja‘“, „halbausgedrückten“ statt „halb ausgedrückten“ usw.)20, das heißt, Anpassungen in der Rechtschreibung und Interpunktion. Ein Unterschied liegt auch im Titel, und damit ist nicht nur die Schreibweise – von „allmählig“ zu „allmählich“ – gemeint. Durch die Brandenburger Ausgabe wird ersichtlich, dass der Titel ursprünglich hieß: „Ueber Die allmähligen Gedanken. Beim Reden.“ Von Verfertigung ist im Titel noch keine Spur, und die „Gedanken“ und das „Reden“ sind noch durch einen Punkt getrennt.

1.1.3 Vorgehen – (Verfahren) Am Anfang dieses Abschnitts wurde dargelegt, dass die Verfertigung keinen fixierbaren Anfangspunkt kennt. Wie Menke am Anfang verdeutlicht, ist bereits das Anfangen problematisch. Dasselbe gilt auch für das Aufsatz ‚Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘, S. 219-220 [Herv.i.O.]) Im Kleist Handbuch ist dazu zu lesen: „Kleist hat seinen Aufsatz wahrscheinlich in Königsberg 1805/06 und damit nach seiner ersten fundamentalen Schaffens- und Lebenskrise verfasst; er wollte ihn wohl in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlichen.“ (Riedl, Peter Philipp: Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. An R.v.L., in: Breuer, Kleist Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, S. 150 [Herv.i.O.]) 19 | Gailus, Über die plötzliche Verwandlung der Geschichte durchs Sprechen, S. 154 (Herv.i.O.). Siehe zur Entstehungsgeschichte auch: Groddeck, Wolfram: Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache. Zu Heinrich von Kleists Aufsatz „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: Schuller, Marianne/Müller-Schöll, Niklaus (Hg.): Kleist lesen, Bielefeld: transcript 2003, S. 101-102. 20 | Zum Vergleich: Kleist, Heinrich von: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, zweibändige Ausgabe in einem Band, 2. Aufl., München: DTV 2008, S. 319-324.

1. Ver fer tigen – Kleist

Enden, wie sich noch zeigen wird. Ohne Anfangen und ohne Enden gleitet der Text, das Anfangs- und End-Phantasma als begehrenswerte „Identität“ vor sich herschiebend, und entgleitet jeglicher Verfestigung: Der Text verfertigt, ohne je fertig zu sein. In Kapitel 2 („Adressieren“) geht es nicht um das Verfehlen einer Setzung, sondern um den Versuch der Verfertigung durch die Adressierung einen Anfang zu setzen. Die allmähliche Verfertigung benötigt Kommunikationspartner. Allerdings erscheint deren Leistung als fraglich, da sie grundsätzlich nicht kommunizierend, ja nicht einmal anwesend sein müssen. In ihrem hypothetischen Charakter erweist sich die Adressierung nur als scheinbare. Kleist beschreibt in der Verfertigung ein Gegenmodell zur kartesischen Herangehensweise, indem er René Descartes ironisiert und über die allmähliche Verfertigung „meditiert“. Kapitel 3 („Unterbrechen“) verfolgt die Übergänge der einzelnen Beispiele in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Im Fokus stehen dabei die Unterschiede in den Beispielen und die Abbrüche in der Plötzlichkeit der Beispielwechsel. Dabei wird zum besseren Verständnis auf einen weiteren, eher weniger bekannten Text Kleists zurückgegriffen: „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“. Hier werden in der Reihung dreier unterschiedlicher Beispiele die Abbrüche und Übergänge sehr explizit. Die Unterscheidung schleicht sich sogar in die Form des Erzählens ein: Auf dem Höhepunkt der dritten Anekdote, der Explosion, prallen Erzählen und Erzähltes aufeinander. Das 4. Kapitel („Wiederholen“) steht, was die Reihung betrifft, in engem Zusammenhang mit dem Kapitel „Unterbrechen“. Dabei geht es um die Serialität in den Kleist’schen Beispielreihen und den dadurch hervorgerufenen Wiederholungen. Dabei sind die Wiederholungen auf mehreren Ebenen angesiedelt. Einerseits sind sie in einzelnen Beispielen in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ zu finden, anderseits strukturiert die Wiederholung die gesamte Beispielserie in Kleists Texten. Der Plural „Texte“ kündigt es an: Es wird dargelegt, dass diese Wiederholungen nicht nur in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ angelegt sind, sondern beispielsweise auch in „Über das Marionettentheater“. Es macht Sinn „Über das Marionettentheater“ hinzuzuziehen, weil sich die Wiederholungsthematik einerseits besser erklären lässt und weil mit dem „Marionettentheater“ einer der meist rezipierten Texte Kleists auch eine Bühne erhalten soll. Das „Marionettentheater“ zeigt gerade in der Wiederho-

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Autopoiesis und Literatur

lungsthematik weitere Facetten des hier behandelten Autopoiesis-Theorems. Dazu soll in diesem Kapitel auch der divergente Forschungsstand zum Thema der Wiederholung kurz angesprochen werden. Hinzugezogen dabei werden beispielsweise Sigmund Freuds „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ und Gilles Deleuzes Differenz und Wiederholung. Im 5. Kapitel („Übersetzen“) steht die Überbrückung der in Kapitel 3 dargelegten Abbrüche im Zentrum. Die Unterbrüche zwischen den Beispielen finden sich plötzlich als Wechsel ins Französische, denn Kleists Text ist durchzogen mit französischer Sprache. „Über-setzen“ heißt nicht nur ein Wechsel der Sprache, sondern auch die damit verbundene (Selbst-)Thematisierung des „Es-anders-Sagen“. Jede „Über-setzung“ ist ein Sprung, der das „Eigentliche“ des „Ur-sprungs“ hinter sich lässt. Um dieses Argument zu bekräftigen, wird zudem auf einen älteren Text zurückgegriffen: Johan Georg Hamanns Text „Aesthetica in nuce“. Das mag nun überraschen, denn der Titel Verfertigen – Kleist, lässt eigentlich eine Kleist-immanente Deutung der Übersetzungs-Thematik erwarten. Doch „Aesthetica in nuce“ zeigt an einer faszinierend dichten Stelle überdeutlich, wie Übersetzen mit der Verfertigung verbunden ist. Zudem ist dies ein weiterer kleiner Hinweis darauf, dass hier – und das wurde schon in der Einleitung verdeutlicht – in keiner Weise davon ausgegangen wird, autopoietische Implikationen eines sich verfertigenden Texts seien nur an Kleist gebunden. Das 6. Kapitel („Wissen-shiften“) steht im Zeichen der (natur-)wissenschaftlichen Beispiele in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Es geht um die Kontextualisierung der Kleist’schen „Verfertigung“ innerhalb der zeitgenössischen Verfahrenstechniken. „Über­setzen“ zum Beispiel wird in ein mechanisch-physikalisches Problem übersetzt. Das Plötzliche bekommt eine elektromechanische Relevanz. Der „shift“ in die mathematischen Künste erlaubt den Blick in wissenschaftliche Verfahren um 1800. Alle diese in den einzelnen Kapiteln getätigten Beobachtungen kumulieren sich zu einer „Funktionsweise“, die sich mit dem Verfahrensbegriff beschreiben lässt. Es wird davon ausgegangen, dass Verfahren – meist institutionell gebunden – in der Moderne als formgebend zu bezeichnen sind, ohne selbst als bestimmte Form erkennbar zu sein. Typischerweise sind sie nur erkennbar in Rechtsprozeduren, in Verwaltungssystemen und in sozialen Institutionen. Verfahren sind in diesem

1. Ver fer tigen – Kleist

Sinne angelegt auf die Praxis, ohne dass es zwingend einen theoretischen „Überbau“ gäbe. Anders gesagt: das Verfahren ist immer schon Praxis gewesen, bevor es überhaupt theoretisiert werden könnte. Das Verfahren ist nicht beschreibbar als eine stabile Entität. Im Gegenteil, es ist nur im Verfahren beschreibbar. Das Verfahren verfährt. Dabei gilt bei der Bezeichnung des Verfahrens der Doppelsinn des Wortes: Verfahren als „Prozesshaftigkeit“ und Verfahren als „Sich-Verfahren“, so wie man sich beispielsweise mit dem Auto verfährt. Somit bezeichnet der Terminus „Verfahren“ immer auch die Problematik der eigenen Bezeichnung, denn man droht sich dabei zu „verfahren“. Deswegen wird der Verfahrensbegriff hier auch gebraucht, um mit der nötigen Distanz das eigene Verhältnis zu Begriffen wie Autopoiesis, Verfertigen und Verhandeln zu beschreiben – auf diesen Umgang mit Begriffen wird im dritten Teil, der gleich „Verfahren – Autopoiesis“ heißt, zurückzukommen sein. Dennoch sind an dieser Stelle noch ein paar Ausführungen zum Verfahrens-Begriff nötig, weil er bei der Analyse des Kleist-Textes eine Rolle spielt. Rüdiger Campe zum Beispiel sieht Verfahren mit „einer vorverstandenen Welt“ brechen und „mit der Autogenese von Prozessen auf die Auflösung prinzipiengesteuerter Weltordnungen“21 reagieren und spezifiziert Verfahren bezüglich Kleists „Verfertigung“, indem er sie als eine „regellose Regel“ taxiert, die sich erzeugt, „indem Kleist einen Topos anführt und parodiert“.22 Konkret auf den Text gewendet hieße dies: „Die Idee, dass die Idee beim Sprechen entsteht, entsteht, während Kleist spricht (oder schreibt).“23 Verfahren ist also keine Form, sondern kristallisiert Formen aus: „Formen der Kunst und des Politischen, der Kunst als Politik und des Politischen als Kunst – nach dem Ende der Normen und nach dem Ende der rhetorischen Regel.“24 Aus diesem Grund versucht Campe denn auch die „Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ nicht wie üblich einer kommunikationstheoretischen oder rhetorischen Lektüre zu unterziehen, sondern untersucht die Kleist’sche Verfertigung als Verfahren, als „regellose Regel“. Allerdings könnte man Rhetorik selbst als „regellose“ oder „selbst-entregelnde“ Regel beschreiben. Die von Campe 21 | Campe, Verfahren, S. 18. 22 | Ebd., S. 10. 23 | Ebd., S. 9. 24 | Ebd., S. 18.

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beschriebene Hysteron-Proteron-Struktur25 in einzelnen von Kleist vorgebrachten Beispielen kann als Beweis vorgeführt werden. Die schon im Begriff sichtbare Doppelung des Hysteron-Proteron vollführt sich auch im Text. Es braucht immer ein Zweites (zum Beispiel als Wort, Satz), um die rhetorische Figur – und somit ihre Regel – als solche erkennen zu können. Somit wird ein vorgängiges Erkennen jeglicher Regelhaftigkeit verhindert, da sie sich als Regel erst in der Lektüre zu erkennen gibt. Das gilt selbstverständlich bis zu einem gewissen Grad für alle Tropen und Figuren. Allerdings ist die Nachträglichkeit der Regelhaftigkeit in der Doppelstruktur des Hysteron-Proteron besonders augenfällig. Jedoch sei angemerkt, dass auch das Argument hier für die Rhetorik mit Schwächen behaftet ist, da laut Wolfram Groddecks Reden über Rhetorik das HysteronProteron ursprünglich nicht einmal ein „richtiger“ rhetorischer Begriff war.26 Damit soll nun nicht eine rhetorische Grundsatzdebatte ausgelöst werden. Es geht nur um die Erklärung, wieso bei allen – überaus sinnvollen – verfahrenstechnischen Fragen die Rhetorik nicht aus den Augen gelassen wird, da sie als „Umschlagplatz“ des Verfahrens eine gute „Figur“ macht. Zudem wird keinesfalls angenommen, dass es – gerade im Beispiel Kleists – eine zufriedenstellende Auseinanderdividierung von Rhetorik und Kommunikation, von Rede und Schrift sowie von Theorie und Anwendung gibt.

25 | Campe schreibt dazu: „Das Paradox des Hysteron-Proteron, das rhetorisch und strategisch mit der Überkreuzung von Zeit und Ziel spielt, zieht sich in die komplexere, temporale und finale Figur der unvermeidlichen Alterität zusammen. Sie ist die Figur des Startens (des einen) als ein (mit dem andern) Schon-Angefangen-Haben [...]. Sie ist eine weitere und verallgemeinerte Form der Regel ohne Regel [...].“ (Ebd., S. 10 [Herv.i.O.]) 26 | Vgl. Groddeck in Reden über Rhetorik: „Nicht auf die Rhetorik, sondern auf die Analytik des Aristoteles geht ein Begriff zurück, der überhaupt nicht als rhetorischer gemeint war, sondern schlicht zur Kennzeichnung eines logischen Beweisfehlers geschaffen wurde: das Hysteron proteron. In der Rhetorik bezeichnet man damit die Umkehrung der zeitlichen oder der logischen Folge, wobei man den Namen der Figur beim Wort nimmt: das Spätere [...] ist das Frühere [...].“ (Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, 2. Aufl., Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2008, S. 190 [Herv.i.O.])

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1.2 A dressieren 1.2.1 „R. v. L.“ Der „liebe, sinnreiche Freund“ ist „R. v. L.“, offensichtlich der Jugendfreund Otto August Rühle von Lilienstern, der zur Entstehungszeit des Textes Generalstabsoffizier war27. So hat „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ursprünglich „den Charakter einer privaten Kommunikation“.28 In der Lektüre selbst kann die Adressierung an Rühle von Lilienstern leicht vergessen werden. Denn im Text dominiert das Reden vor der (An-)Rede.29 So gibt es zum Beispiel das Reden mit dem Rücken zur Schwester, welches Kleist dazu dient, seine Gedanken im Studium des „Gesetzbuches“, des „Euler“ und des „Kästner“ verfertigen zu lassen. „Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne s a g t e; denn sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder den Kästner studirt.“30

Dieses verfertigende Reden drängt sich in gewisser Weise vor die (An-) Rede und schafft so eine reizvolle Doppelung: Kleist redet zu Rühle über 27 | Gabriele Kapp bemerkt, dass Rühle auch „Adressat von Kleists frühstem, ebenfalls Sprachreflexionen enthaltenden Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden [...]“ gewesen war. In: Kapp, „Des Gedankens Senkblei“, S. 296; siehe dazu auch: Itoda, Die Funktion des Paradoxons in Heinrich von Kleists Aufsatz ‚Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘, S. 218-219 (Herv.i.O.). 28 | Itoda, Die Funktion des Paradoxons in Heinrich von Kleists Aufsatz ‚Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘, S. 219. 29 | Campe, Verfahren, S. 11. 30 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 27 (Herv.i.O.). Bei sämtlichen in diesem Kapitel folgenden Kleist-Zitaten ­b leiben die Auszeichnungen und Hervorhebungen (zum Beispiel beim S p e r r s a t z und bei den kleiner gesetzten Schriften) sehr nahe an den Umschriften des Originals, hier der Brandenburger Kleist-Ausgabe (BKA).

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sein Reden zur Schwester. Doch niemand antwortet, weil nicht die mögliche Antwort wichtig ist, sondern der Anfang. „Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüth, während die Rede fortschreitet, in der Nothwendigkeit, dem Anfang nun auch – ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntniß, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.“31

Diese bemerkenswerte Hypotaxe32 zeigt, dass nur die mögliche Adressierung das verfertigende Reden initiiert. Was Kleist so „dreist“ braucht, ist ein Anfang. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Gegenüber präsent (die Schwester) oder absent (Rühle) ist. Sie sind schlicht redeauslösende Adres­saten.33 Zudem erweist sich die Hypotaxe als „Verfertigung“, derge31 | Ebd., S. 27-28. Erstaunlicherweise fiel in der Sembdner Ausgabe der Gedankenstrich („dem Anfang nun auch – ein Ende zu finden“) weg. Vgl.: Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, Sembdner Ausgabe, S. 319-320. 32 | In diesem Zusammenhang bemerkt Jochen Schmidt: „Schließlich verstärkt Kleists eigenwillige, von den heutigen Regeln der Zeichengebung abweichende Interpunktion diese dramatischen Stauungen und Spannungen, denn häufig setzt er seine Zeichen nicht nach syntaktisch-logischen, sondern nach rhytmisch-expressiven Kriterien – den authentischen Eindruck seiner Texte vermitteln daher nicht ältere Ausgaben mit normalisierter Interpunktion, sondern nur die modernen, welche die ursprüngliche Interpunktion bewahren.“ (Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 181) In einer Fußnote auf der gleichen Seite verweist J­ ochen Schmidt auf Sembdner, Helmut: Kleists Interpunktion. Zur Neuausgabe seiner Werke (1962), in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays (Wege der Forschung, Bd. 147), hg von Walter Müller-Seidel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967, S. 605-634. Vergleiche dazu auch die Kapitel I („Der ‚in der Not hingesetzte Anfang‘“) und Kapitel II („Die Aufsplitterung des Satzes“) in: Turk, Dramensprache als gesprochene Sprache. 33 | Allerdings würde ich nicht – wie Joachim Theisen in seinem Aufsatz zu diesem Text – von einem Dominanzverhältnis („die Dominanz des Sprechers über den Hörer“ [Theisen, ‚Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es gibt nichts ande-

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stalt, dass durch die Satzstruktur der Weg von der „dunklen Vorstellung“ bis zur „Erkenntniß“ nachgezeichnet wird. Die „Erkenntniß“ zeigt, dass sie nicht nur mit dem Ende der Rede, sondern am Ende des Satzes „fertig ist“. Deswegen bezeichnet Wolfram Groddeck gerade diesen Satz als performativ: „Er realisiert das, wovon er spricht – die Herstellung einer Erkenntnis beim Reden – dadurch, dass er davon spricht.“34 Somit bilden die Schachtelsätze in sich selbst die Verfertigung ab. Es werden aber auch immer wieder Beispiele, Spezifizierungen und Abweichungen eingebaut. Es scheint, als würde sich das Prinzip des Einschubs mit wechselnden Beispielen vom gesamten Text in die einzelnen Sätze verschieben. Auffallend oft beginnen die Sätze mit Konjunktionen, wohl damit der verfertigende Fluss begünstigt wird. Was auf der Satzebene Konjunktionen vollführen, erledigt auf der Ebene des Textes die Adressierung. Das Fehlen eines konkreten Anfangspunktes jeglicher gedanklichen Verfertigung umgeht Kleist mit der Initiierung von Adressaten, welche die Möglichkeit eines Kommunikationsanfangs bilden. Was Bettine Menke als „aporetisch blockierten Vorgang“ bezeichnet, erweist sich nun als „Inszenierung“ dieses Vorgangs. Die Unmöglichkeit des Anfangens wird mit der Möglichkeit des inszenierten Anfangs eines „vermeintlichen Dialogs“35 pariert. Dass dabei die Adressaten weder zuhören noch anwesend sein müssen, stört nicht.

res‘, S. 726]) sprechen. Das Verhältnis zwischen Sprecher und Zuhörer ist schlicht funktional. 34 | Groddeck, Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache, S. 110. 35 | Pass, Dominik: Die Beobachtung der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Eine systemtheoretische Lektüre, in: Blamberger, Günter/Doering, Sabine/Müller-Salget, Klaus (Hg.): Kleist Jahrbuch 2003, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2003, S. 112. Horst Turk schreibt zur Dialogizität: „Nicht im Rückzug auf die ‚sprachunfähige Subjektivität‘ und monologisch, sondern im voll ausgeformten Satz und im Dialog sucht Kleist die Unaussprechlichkeit zu überwinden.“ (Turk, Dramensprache als gesprochene Sprache, S. 47 [Herv.i.O.]) Turk hat nur insofern Recht, als dass Kleist vorgibt, dialogisch zu verfahren. Im Dialog steckt ein Monolog. Wie bei der Konstitution eines Anfangens braucht Kleist die dialogische Ordnung, um dann (monologisch) verfahren zu können.

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1.2.2 Imaginierte Kommunikation Was erstaunt, ist die Nicht-Präsenz der Adressaten in der Sekundärliteratur. Günter Blamberger zum Beispiel findet die ersten beiden Beispiele (Schwester und Molières Magd) im Vergleich zu den Folgenden (Mirabeaus ‚Donnerkeil‘ und Lafontaines Fabel) harmlos.36 Und Rühles Position wird in vielen Textanalysen sowieso nicht wahrgenommen.37 Dabei ist die Funktion von Rühle wichtig. Immerhin imaginiert sie den Anfangspunkt einer Kommunikation38, die zur Selbstkommunikation wird. So wie das Reden mit der stummen Schwester im Rücken als Beispiel genannt wird, so scheint der gesamte Text als das Reden mit dem abwesenden Rühle zu funktionieren.39 Rühle muss nicht „sinnreich“ sein, wie im ersten Satz erwähnt („Wenn du etwas wissen willst [...] mein lieber, sinnreicher Freund [...]“40). Vielmehr hat er in Kleists Verfertigung der Gedanken 36 | Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenuim est ineffabile?, S. 13. 37 | Ausnahmen finden sich zum Beispiel bei Kapp („Des Gedankens Senkblei“, S. 319-328), Campe (Verfahren, S. 11) oder Pass (Die Beobachtung der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden, S. 107-136). Interessant ist auch die Lektüre von Wolfram Groddeck, der in Rühle als „Adressat nur ein Stellvertreter für alle späteren Leserinnen und Leser des Textes“ sieht (Groddeck, Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache, S. 107). 38 | Zur Kommunikations-Funktion in Kleists Aufsatz siehe auch Benjamin Spechts Physik als Kunst: „[Das] Kommunikationsmuster gilt nicht nur für die rahmende Leseradresse, sondern ebenso für jede einzelne Episode des Textes. Jeder Redner im Essay ist auf einen Gegenpart angewiesen, von dem er sich absetzen kann, der über diese negative Vorgabe hinaus aber selbst keinen direkten Einfluss auf den Gedankengang nimmt.“ (Specht, Benjamin: Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800 [Studien zur Deutschen Literatur, Bd. 193], Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 352) 39 | Gabriele Kapp nennt dies auch „dialogisierter Monolog“ und sieht dabei – in Anspielung auf Wolfgang Iser – einen sich setzenden „implizite[n] Leser“ (Kapp, „Des Gedankens Senkblei“, S. 319-328) Dominic Pass spricht davon, dass „der Dialogpartner [...] zur Disziplinierung der Rede [zwingt]“ (Pass, Die Beobachtung der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden, S. 132). 40 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 27.

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eine unglückliche Position einer nützlichen, zuhörenden Person inne, die – eigentlich „hirnlos“, weil selbst nicht am Prozess der Verfertigung beteiligt – schlicht durch die Präsenz ihre Funktion erfüllt. Die Verfertigung scheint die Adressaten nur zu benötigen, um ihre eigene Systematik aufrechtzuerhalten.41 So erstaunt es nicht, wenn Kleist für Rühle antwortet: „Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in früheren Jahren den Rath gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber sprachst du wahrscheinlich mit dem Vorwitz, A n d e r e, ich will, daß du aus der verständigen Absicht sprechest, d i c h zu belehren, und so könnten, für verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut neben einander bestehen.“42

Die imaginierte Kommunikation ist dabei in sich selbst nicht konsistent, sie ist nochmals gedoppelt: So durchbricht der Verweis auf eine scheinbar reale, vergangene Kommunikation die imaginierte Kommunikation: „Damals aber sprachst du [...] wahrscheinlich.“ Der Verweis auf wohl tatsächlich Gesagtes als eine weitere Klugheitsregel wirkt nicht vereinfachend, weil es im Modus des „Wahrscheinlichen“ bleibt. Denn obwohl „beide Klugheitsregeln vielleicht gut neben einander bestehen“, fährt Kleist nur mit der eigenen fort, nämlich jener, bei der es schon einiges an Kleist’scher „Dreistigkeit“ braucht, um sie als „Klugheitsregel“ zu taxieren. Zur Erinnerung: Die Regel ist schlicht: Du sollst es ihm (Bekannten) „selber allererst erzählen“. Doch was erzählt Kleist? 41 | Andreas Gailus spricht hierbei von einer pervertierten Dialektik: „Der Andere betritt die dialektische Bühne lediglich als stummes Hindernis, als Hürde auf dem Weg des Sprechers zum Wissen, aber um diese untergeordnete Rolle zu spielen, muss er zunächst als ebenbürtig, als eigenständiger Sprecher anerkannt werden.“ (Gailus, Über die plötzliche Verwandlung der Geschichte durchs Sprechen, S. 156) Wiederum Bernhard Greiner erinnert diese Kommunikationskonstellation mit der Adressierung der Gedanken als „Festlegung von aussen“ an Kant: „In einer frappanten Weise entspricht diese Konstellation derjenigen des ästhetischen Urteils als eines ‚freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand‘ (vgl. KdU 28).“ (Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen, S. 39 [Herv.i.O.]) 42 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 27.

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Er fährt mit einer Aufreihung von Beispielen fort, exerziert die Adressierung an Molière mit seiner Magd, spricht über den Donnerkeil des Mirabeau, über eine Fabel Lafontaines, über das Reden in „Gesellschaft“ und zuletzt auch über die Examenssituation. Diese etwas beliebige Beispielsammlung erweist sich besonders in einem Punkt als interessant: in ihrem Unterbrechen.

1.3 U nterbrechen Von „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ zu „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“: Beiden Texten ist eine Aneinanderreihung von Beispielen gemeinsam. Dies wäre an sich nicht außergewöhnlich, doch das Erzählen der Beispiele interagiert mit ihrer Beispielform. Anders gesagt: Das, was erzählt wird, ist auch in der Form des Erzählens aktiv. In „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ist das Erzählen gerade ein Beispiel für das, wovon Kleist spricht. Er beschreibt, was in demselben Moment, dem Beschreiben, passiert. Die allmähliche Verfertigung ist in das Schreiben über die „allmählige Verfertigung“ integriert. Wieso nun der Wechsel zu „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“? Es geht um den Beweis, dass autopoietische Verfahren nicht exklusiv unter „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ veranschlagt werden können, sondern auch in anderen Texten Kleists vorzufinden sind. Zudem sind beide Texte zumindest prinzipiell in einem Punkt ähnlich, auch wenn nun der Fall in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ etwas anders gelagert ist: Die Beweisführung mit unterschiedlichen Beispielen führt nicht zu einem stabilen Resultat. Nur wird dies in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ noch deutlicher, denn der Wechsel der Beispiele bestätigt das problematisierte Prinzip. Jedes Beispiel zeigt das Unvermögen eines vorhersehbaren Kausalitätsgesetzes.43 Die anekdotischen Beispiele sind aber nicht nur Beispiele für Zufälle, die auch das Erzählen 43 | Siehe Carol Jacobs: „If a predictable law of causality fails to operate in the events of each anecdote, that breakdown has its crucial point, as we have just seen, in the language of its telling.“ (Jacobs, Carol: Uncontainable Romanticism. Shelley, Brontë, Kleist, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1989, S. 189)

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beeinflussen, sondern sie sind auch eine Auseinandersetzung (im wahrsten Sinne des Wortes eine „Auseinander–Setzung“) mit der Trennung von Dichtung und Geschichte. Und das ist ein weiterer beherzigenswerter Punkt in der Analyse einer autopoietischen Verfertigung; ein Punkt, der jedoch erst in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ gänzlich klar wird.

1.3.1 Stor y – Histor y Fritz Breithaupt schreibt: „‚Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten‘ handelt nicht nur von Geschichte, sondern lässt im Zerbrechen der institutionalisierten Trennung von Dichtung und Historie Geschichte selbst geschehen.“44 Die drei kurzen Anekdoten führen somit analog zu „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ die Differenzierungsproblematik vor. In den Übergängen von der Geschichte als story zur Geschichte als history verwischt die Unterscheidung. Um was geht es in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“? Ein „alter Offizier“ erzählt drei Anekdoten45 und warnt seine Zuhörer, die „Gesellschaft“, vor der Gefahr, dass diese die Anekdoten nicht als wahr empfinden werden. Allen drei Anekdoten ist eine plötzliche (unwahrscheinliche) Wendung gemein. In der ersten Anekdote erzählt der alte Offizier, wie er selbst auf einem „Marsch 1792 in der Rheinkampagne“ einen Soldaten strammstehen sah, „obschon er einen Schuß mitten durch die Brust hatte [...].“ Auf die Aufforderung von Offizieren hin, „hinter die Front zu treten und sich verbinden zu lassen“, versicherte der Soldat, „keine Schmerzen“ zu haben. Am Abend untersuchte dann der Arzt die Wunde und „fand, daß die Kugel“ den Brustknochen nicht durchschlagen hatte, sondern „zurückgeprellt, zwischen der Ribbe und der Haut [...] um den ganzen Leib herumgeglitscht, und hinten [...] aus der Haut“ wieder herausgetreten sei.46 44 | Breithaupt, Fritz: Kleists Anekdoten und die Möglichkeit von Geschichte, in: Wirth, Wolfgang/Wegner, Jörn (Hg.): Literarische Trans-Rationalität. Für Gunter Martens, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 347. 45 | Fritz Breithaupt verweist auf die Bedeutung, welche die Anekdote „noch in den Neunzigern des achtzehnten Jahrhunderts hatte: bemerkenswerte, wahre Geschichten, die wenig bekannt sind“ (Breithaupt, Kleists Anekdoten und die Möglichkeit von Geschichte, S. 345). 46 | Kleist, Heinrich von: Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten (Berliner Abendblätter, Berlin, den 10ten Januar 1811), in: H. v. Kleist, Brandenburger Ausgabe

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Die zweite Geschichte findet elf Jahre später statt. Der Offizier befindet sich in der Nähe eines Steinbruchs. Dort pflegten „[d]ie Arbeiter [...], bei großen Blöcken, wenn sie mit Werkzeugen nicht mehr hinzu kommen können, feste Körper, besonders Pfeifenstiele, in den Riß zu werfen, und überlassen der, keilförmig wirkenden, Gewalt dieser kleinen Körper das Geschäft, den Block völlig vom Felsen abzulösen“. 47

Man erwartete nun den Abbruch eines riesigen, „mehrere tausend Cubikfuß messende[n] Block[s]“. Der Offizier jedoch verpasste den Fall des Blocks, weil er gerade im Gasthof saß. Später begutachtete er die Wirkung des Falls. Der Block war nicht in die Elbe gefallen, sondern auf den „sandigen Erdstrich“ zwischen dem Steinbruch und der Elbe. Dennoch war durch den Luftdruck des Falls ein schwerer, mit Holz beladener Kahn auf die andere Seite der Elbe ans Land gesetzt worden dergestalt, dass die Arbeiter Mühe hatten, den Kahn wieder ins Wasser zu bringen.48 Von der ersten zur zweiten Anekdote geht der Weg von der story, welche der Offizier selbst miterlebt zu haben scheint, zum Experiment, wo der Offizier zwar nicht anwesend ist, allerdings die Wirkung des Ereignisses mit eigenen Augen nachvollziehen kann. In der dritten ­A nekdote sind alle Elemente der ersten und zweiten Anekdote wieder vorzufinden.49 Die Verschränkung von story und history, die plötzliche Wendung, das Ausagieren der Frage nach der (Un-)Wahrscheinlichkeit ist in der Anekdote selbst angelegt. Deshalb wird sie nachfolgend vollständig wiedergegeben:

(BKA), II/8: Berliner Abendblätter II, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Frank­f urt a.M./Basel: Stroemfeld 1997, S. 42-43. 47 | Ebd., S. 43-44. 48 | Die Nacherzählung der ersten beiden Anekdoten erscheint in leicht abgeänderter Form auch in folgendem Aufsatz: Schmid, Marcel: Verfahren schlägt Inhalt. Eine Auseinandersetzung(,) mit Heinrich von Kleists Unwahrscheinliche Wahr­ haftig­keiten, in: Alder, Daniel et al. (Hg.): Inhalt. Eine Perspektiven einer categoria non grata im philologischen Diskurs, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 96-97. 49 | Siehe Carol Jacobs: „The elements of the first and second – [...] – are all at play in the last anecdote.“ In: Jacobs, Uncontainable Romanticism, S. 189.

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„‚Die dritte Geschichte‘ fuhr der Officier fort, ‚trug sich zu, im Freiheitskriege der Niederländer, bei der Belagerung von Antwerpen durch den Herzog von Parma. Der Herzog hatte die Schelde, vermittelst einer Schiffsbrücke, gesperrt, und die Antwerpner arbeiteten ihrerseits, unter Anleitung eines geschickten Italieners, daran, dieselbe durch Brander, die sie gegen die Brücke losließen, in die Luft zu sprengen. In dem Augenblick, meine Herren, da die Fahrzeuge die Schelde herab, gegen die Brücke, anschwimmen, steht, das merken Sie wohl, ein Fahnenjunker, auf dem linken Ufer der Schelde, dicht neben dem Herzog von Parma; jetzt, verstehen Sie, jetzt geschieht die Explosion: und der Junker, Haut und Haar, sammt Fahne und Gepäck, und ohne daß ihm das Mindeste auf dieser Reise zugestoßen, steht auf dem rechten. Und die Schelde ist hier, wie Sie wissen werden, einen kleinen Kanonenschuß breit.‘ ‚Haben Sie verstanden?‘“50

„Verstehen will verstanden sein“51 – und das ist das Problem, denn die Anekdote gipfelt – zumindest teilweise – in der Frage nach ihrem „Verstanden-sein“. Verhandelt wird die Frage gleich durch zweierlei Exegeten: Die Zuhörenden der Männerrunde und die Lesenden. Zur Disposition steht dabei weniger die Form als das Formen der Anekdote . Die Frage „Haben Sie verstanden“, zielt in zwei Richtungen: Zur Verhandlung steht nicht nur die Frage nach dem Verständnis der Topik, sondern auch die Frage nach ihrem Verfahren. Um dieses doppelte Verständnis (Topik und Verfahren) geht es bei Werner Hamacher: „‚Verstehen will verstanden sein‘ – so könnte man sich diesem Satz nähern –, besagt zum einen, daß es mit dem Verstehen allein nicht getan ist und daß, wo immer etwas verstanden werden soll, auch noch das Verstehen selbst verstanden werden muss. Im Verstehen wird zwar etwas zugänglich, aber zugänglich wird es nur in ebendiesem Verstehen, unter seinen Bedingungen oder Voraussetzungen, auf seinem Weg.“52

Im Fall der Kleist’schen „Verfertigung“ geht es selbstverständlich nicht nur um die Frage des Verstehens. Die Frage des Offiziers beinhaltet ­jedoch 50 | Kleist, Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten, BKA, II/8, S. 45. 51 | Hamacher, Werner: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 7. 52 | Hamacher, Entferntes Verstehen, S. 7.

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jene Problematik, die auch Hamacher in der Frage nach dem Verstehen verortet. Diese ist an sich selbst gebunden, denn die (im Falle der Anekdote gedoppelten) Leser sind in die Verfertigung integriert. Verstanden werden muss die Tatsache, dass die Zuhörer Teil der Aushandlung der dritten Anekdote sind. So schwindet die Distanz zwischen Zuhörenden und Erzähler und beide werden „Zuhörer, Interpreten eines authentischeren Textes, dem Text der Geschichte (history)“.53 Denn einer der Zuhörenden bemerkt, dass „[...] die Geschichte [...] in dem Anhang zu Schillers Geschichte vom Abfall der vereinigten Niederlande [steht]; und der Verf. bemerkt ausdrücklich, daß ein Dichter von diesem Factum keinen Gebrauch machen könne, der Geschichtschreiber aber, wegen der Unverwerflichkeit der Quellen und der Übereinstimmung der Zeugnisse, genöthigt sei, dasselbe aufzunehmen“. 54

Die letzte Anekdote ist – wie Carol Jacobs schreibt – ein Triumph der „Geschichte“ als history, die sich deutlich von der „Geschichte“ als story unterscheiden lässt.55 Die Quelle macht den Unterschied. So scheint die An53 | Frei übersetzt nach Carol Jacobs. Im Original heißt es: „Both he and his audience have become listeners, interpreters of a more authenticated text, the text of history.“ Im Zusammenhang: „The distance between the two figures has, in a sense, collapsed. This is because of the sudden deflection from the improbable realm of storytelling to the surer ground of fact, or so it would seem. The narrating officer no longer maintains a privileged position with respect to the event: both he and his audience have become listeners, interpreters of a more authenticated text, the text of history.“ (Jacobs, Uncontainable Romanticism, S. 182) 54 | Kleist, Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten, BKA, II/8, S. 46. Im Übrigen sind auch hier in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ wie auch in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ keine relevanten Unterschiede zwischen den beiden verschiedenen Editionen (BKA, Sembdner Ausgabe) auszumachen. Die meisten Unterschiede finden sich bei Orthographie und Interpunktion (wie hier zum Beispiel in: „Factum“ statt „Faktum“, „Verf.“ statt „Verfasser“ oder „genöthigt“ statt „genötigt“). Vgl. Kleist, Heinrich von: Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten, in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, S. 281. 55 | „What we seem to witness is the triumph of history. It establishes itself as the ultimate interpretation of fabulation and thus proves itself ethically and philosophically superior. A more significant repair of epistemological uncertainty is

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ekdote wahrhaftig eine Geschichte im Sinne der Historie zu sein, was sie auch in die Nähe eines „Faktums“ rückt – ganz im Gegenteil zur ersten Anekdote.

1.3.2 Quellen Interessant ist bezüglich „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ ein Blick in die Quellen. Am letzten Beispiel, das auf Schiller referiert, zeigt sich, dass mit den Quellen Vorsicht geboten ist. Schiller wird nicht nur inkorrekt wiedergegeben56, sondern er scheint auch nicht wirklich der Autor der Quelle zu sein. Die dritte Anekdote entstammt „einem Werk, das als Fortsetzung zu Schillers Werk konzipiert war: Karl Curths Der niederländische Revolutionskrieg im 16ten und 17ten Jahrhundert: als Fortset­ zung der Schillerschen Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung erschien 1808 bis 1810 in drei Bänden in Leipzig.“57

Ob die Tatsache, dass die Quelle – die Kleist sehr wohl bekannt war – fälschlich dargelegt wurde, als Seitenhieb gegen die Schiller’sche Zeitschrift Die Horen gesehen werden kann oder „eventuell auch gegen Karl Curths, der zu dieser Zeit in Berlin eine neue Zeitung plante und damit eine Konkurrenz für Kleist darstellen konnte“58, sei dahingestellt. Doch nicht nur in der Quellenproblematik zeigen sich Unsicherheiten. Auch „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ als gesamte Anekdotenreihung verhüllt Autorschaft: Erschienen ist der Text „am 10. Januar 1811 in den Berliner Abendblätter anonym unter dem Kürzerl ‚vx‘“.59 Mit großer Sicherheit ist von Kleists Autorschaft auszugehen, da er dieses Kürzel oft verwendet und in Michael Kohlhaas folgende Parallelstelle zu finden ist: thus brought about in the name of history (Geschichte) precisely insofar as it can distinguish itself from the story (Geschichte).“ In: Jacobs, Uncontainable Romanticism, S. 185. Die gleiche Argumentation findet sich auch im Aufsatz: Schmid, Verfahren schlägt Inhalt, S. 97-98. 56 | Breithaupt, Kleists Anekdoten und die Möglichkeit von Geschichte, S. 349. 57 | Breuer, Ingo: Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten, in: Breuer, Kleist Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, S. 157 (Herv.i.O.). 58 | Ebd. 59 | Ebd., S. 156 (Herv.i.O.).

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„[...] und wie denn die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist, so traf es sich, dass hier etwas geschehen war, das wir zwar berichten: die Freiheit aber, daran zu zweifeln, demjenigen, dem es wohlgefällt, zugestehen müssen: [...]“60

Die analoge Verhandlung der Wahrscheinlichkeit in Michael Kohlhaas ist kaum zufällig, weil Kleist sich zur gleichen Zeit immer noch mit Kohlhaas beschäftigt haben dürfte. Dennoch – um die Diskussion um Autorschaft zusammenzufassen – ist es bemerkenswert, dass ein Text, der Wahrhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit verhandelt, der „ungesicherte“ wie auch (scheinbar) durch Quellen belegte Anekdoten liefert, durch Anonymisierung seine Spur zur Quelle verwischt. Diese Quellenunsicherheit in der letzten Anekdote irritiert deswegen, weil diese in geradezu idealer Weise als Beispiel quellenbasierter Geschichte (history) fungiert und somit die Wandlung von der Geschichte (story) zur Geschichtsschreibung (history) untermauern könnte. So erweist sich die Logik der Anekdotenreihung von der Geschichte (story) zur Geschichte (history) als trügerisch. Die scheinbar quellengesicherte Geschichte (history) mutiert zur story. Durch die historische Kontextualisierung der letzten Anekdote – und im gesamten Text selbst – wird nicht nur nachträglich die klare Trennung zwischen history und story in Frage gestellt, sondern auch das gesamte Trennungsverfahren. Denn die Trennung zwischen history und story bleibt nichts weiter als eine story. Das „Zerbrechen der institutionalisierten Trennung von Dichtung und Historie lässt [in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“, Anmerkung M.S.] Geschichte selbst geschehen“.61 Die Aneinanderreihung von Beispielen bringt nicht den gewünschten Effekt. An ihren Übergängen, an der sich die Differenz zwischen history und story festmachen ließe, lässt sich nun zwar ihr Funktionieren ablesen, aber nicht mit Sicherheit die Kategorisierung in story und history. Wenn also die Reihung von Beispielen, wie sie auch in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ zu finden ist, nicht zur Klarheit des Verhandelten führt, weil ihre Logik gerade im scheinbar deutlichsten Beispiel – das wäre in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ die Quellennennung in der drit60 | Kleist, Heinrich von: Michael Kohlhaas (Aus einer alten Chronik), in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, S. 96. 61 | Breithaupt, Kleists Anekdoten und die Möglichkeit von Geschichte, S. 347.

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ten Anekdote – durchbrochen wird, dann wird ein Verfahren sichtbar, welches nur um seiner selbst willen verfährt. Verfertigung wäre demnach nicht als zielorientiertes Verfahren zu sehen, sondern als Verfahren, wie man sich mit dem Auto „verfährt“. Verfertigung ist – um es etwas gewagter zu formulieren – immer auch ein Sich-Verfahren, ein Sich-Verlieren im „Fahren“, im „Fahren“ als Lesen. Das Verfahren bildet keine klare „Form“, sondern ein „Formen“. Verfertigung ist in der letzten Anekdote das unabschließbare Formen der eigenen Form. Was ist nun diese Verfertigung als unabschließbares Formen in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“? Es basiert einerseits auf dem gemeinsamen Aushandeln der Form der Anekdote durch Erzähler, Zuhörer und Leser. Andererseits ist es auch in der Beispielreihung angelegt. Die Reihung ist ziellos, weil nichts bestimmt erklärt werden kann, außer der Tatsache, wie das Muster der Beispielreihung funktioniert. Das Ziel, einer Erklärung Stabilität zu verhelfen, wird so immer subvertiert. So ließe sich kalauern, dass eine dem Verstehen zuträgliche und zielorientierte Form in der Lektüre die „Schelde“ hinuntergespült wird und sich stattdessen eben ein Formen herauslesen lässt.62 Dieses Formen liest sich in all den mäandernden Anekdoten von „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“, wo es sich zum „Verfehlen“ zentriert: Ob der „Kern“ des Soldaten in der ersten Anekdote (und auch in der letzten Anekdote), ob die Anwesenheit des Offiziers in der zweiten Anekdote und trotz größtem Druck (Schuss in der ersten, Felsabbruch in der zweiten und Explosion in der dritten Anekdote) scheint das Ziel immer wieder verfehlt zu werden. Selbst die Quelle wird nicht erreicht: Kleist ist als Autor nicht zu finden und die „Brücke“ zu Schiller ist „gesprengt“.63 So scheint tatsächlich vieles „aus der Luft gegriffen“ zu sein.

1.3.3 E xplosion-Narration In der dritten Anekdote geht sogar die Narration „in die Luft“. In ihr prallen – wie noch zu zeigen sein wird – nicht nur Erzähler und Zuhörer aufeinander, sondern auch Erzählen und Erzähltes. Dies hat dramatische 62 | Dieselbe Argumentation findet sich auch in: Schmid, Verfahren schlägt Inhalt, S. 98. 63 | Siehe zur „bridge to Schiller’s text“: Jacobs, Uncontainable Romanticism, S. 185.

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Folgen für den erzählenden Offizier, denn ihm „geht die Luft aus“. Er „nahm Stock und Huth und ging weg“64 vielleicht im Bewusstsein – wie am Anfang befürchtet – für einen Windbeutel gehalten zu werden: „‚Drei Geschichten‘, sagte ein alter Officier in einer Gesellschaft, ‚sind von der Art, daß ich ihnen zwar selbst vollkommenen Glauben beimesse, gleichwohl aber Gefahr liefe, für einen Windbeutel gehalten zu werden, wenn ich sie erzählen wollte‘.“65

Die trügerische Rehabilitierung der letzten Anekdote als history in der Quellennennung durch einen Zuhörer geschieht in Abwesenheit des erzählenden Offiziers. Was bleibt, ist die prekäre Funktion der Narration. Dazu nochmals ein Auszug aus der dritten Anekdote: „‚In dem Augenblick, meine Herren, da die Fahrzeuge die Schelde herab, gegen die Brücke, anschwimmen, steht, das merken Sie wohl, ein Fahnenjunker, auf dem linken Ufer der Schelde, dicht neben dem Herzog von Parma; jetzt, verstehen Sie, jetzt geschieht die Explosion: und der Junker, Haut und Haar, sammt Fahne und Gepäck, und ohne daß ihm das Mindeste auf dieser Reise zugestoßen, steht auf dem rechten‘.“66

Es wird also die „Explosion“ in die Form der Erzählung eingeführt. Rüdiger Campe schreibt, dass das „‚jetzt‘ [...] den Zeitpunkt im historischen Präsens der Geschichte und in der Präsenz des Erzählens der Geschichte [bezeichnet]. In diesem ‚Ereignis selbst‘ trifft, scheint es, Erzähltes und Erzählen, kognitiver Inhalt und Performanz der erzählenden Rede zusammen.“67 Das „jetzt“ kennzeichnet den Einbruch des Erzählens in das Erzählte dergestalt, dass die Unterscheidung zwischen dem Erzählen und dem Erzählten im Moment des Erzählens nicht mehr möglich scheint. „Jetzt“ steht nicht nur an der Stelle der eigentlichen Explosion, sondern ist das „jetzt“ der Geschichte als Explosion. Sie ist, dem lateinischen Wortsinn nach, tatsächlich zunächst die explosio, das Auseinandertreiben ei64 | Kleist, Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten, BKA, II/8, S. 45. 65 | Ebd., S. 42. 66 | Kleist, Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten, BKA, II/8, S. 45. 67 | Campe, Rüdiger: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen: Wallstein 2002, S. 432 (Herv.i.O.).

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ner narrativen Sicherheit. Sie ist aber auch gerade das Gegenteil der Explosion: Sie ist die Implosion, das Ineinandertreiben als Zusammenfall von Erzähltem und Erzählen. Auf dem Höhepunkt der Anekdote verliert diese ihre narrative Klarheit.68 Der Effekt dieses Verlustes lässt sich in den Anekdoten in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ sowie in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ beobachten: Die Destabilisierung liegt – wie soeben gezeigt – in der Narration, in der Frage nach der Autorschaft, in der Unentscheidbarkeit der Kategorisierung (Geschichte als history und story) und in der Quellenlage. Sie liegt aber auch in der Beispielreihung selbst, wo jedes neue Beispiel die Verheißung einer logischen Auflösung des Verhandelten in einem klaren Statement nicht erfüllen kann. Die Reihung zeigt nur, dass sie sich selbst mit immer neuen Beispielen fortsetzt. Jedes Beispiel bedingt ein Neues. Wie beim Anfangen schon dargelegt wurde, ist die Offenlegung des Sachverhaltes aufgrund der sofortigen Selbstanwendung problematisch. Somit kann man am Anfang auch nicht von einer Einleitung oder einer Narratio ausgehen. Das gilt auch für das Ende: Der Text verstummt mit einem Hinweis auf eine Fortsetzung und liefert somit keine klare Lösung und keinen Höhepunkt.69 Das Beispiel der Anekdotenreihung passt aber in das Konzept der strukturellen Selbstanwendung in der Verfertigung. Der Aufschub in den Differenzen der Beispielordnung ist in der allmählichen Verfertigung angelegt. Die Verfertigung geschieht im Modus des „Funktionierens“. Das „Funktionieren“ scheint nur ein Ziel zu haben: Es zeigt das eigene „Funktionieren“ auf. Ein Teil dieses „Funktionierens“ liegt aber auch in den Übergängen der Beispiele, genauer, in der Plötzlichkeit der Beispielwechsel. Die Plötzlichkeit kennzeichnet in gewisser Weise einen Argumentationsabbruch. Dabei bleibt genau dieser Abbruch durch die Plötzlichkeit verdeckt. Gerade dort, wo die Klimax erwartet wird, 68 | Ähnlich formuliert findet sich diese Argumentation nach Campe auch in Schmid: Verfahren schlägt Inhalt, S. 98. 69 | Somit könnte man Groddecks Bemerkung betreffend der Modifikation des Phraseologismus „l’appétit vient en mangeant“ („Der Appetit der Rede ist offenbar so gross, dass sie – sich selbst beim Wort nehmend – ihr Gegenüber sobald als möglich verschlingt.“ [Groddeck, Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache, S. 109 (Herv.i.O.)]) radikalisieren: Kleists Text „frisst“ den Aufbau der klassischen Rede. Das Verfahren einer beim Reden kommenden Idee raubt die Logik der Rede. Es gibt keine Conclusio.

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kommt sie nicht in Form eines „inhaltlichen“ Höhepunkts, sondern in Form eines Wechsels, einer Wendung. Wie schon aufgezeigt, arbeitet „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ mit erstaunlichen Wendungen: Der am Knochenbau abprallende Schuss, der aus dem Wasser geschleuderte Lastkahn und der durch die Druckwelle an das andere Ufer transferierte Fähnrich. Dabei zeichnen sich alle „Wendepunkte“ durch ihre Plötzlichkeit in Form einer radikalen Zeitraffung aus. Der Schuss, der Fall und die Explosion ereignen sich in kürzester Zeit.

1.3.4 Plötzliche Wendungen Etwas anders gelagert, nämlich mehr auf der formalen Ebene, sind die plötzlichen Wendungen in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“. An der Aneinanderreihung von verschiedenen Erklärungsversuchen der allmählichen Verfertigung interessieren in diesem Zusammenhang vor allem die Übergänge. Zur Erinnerung: Nach einer kurzen Einleitung wird relativ unvermittelt die Modifikation des französischen Sprichworts „l’appétit vient en mangeant“70 ausgeführt, um dann mit dem Beispiel des Sprechens mit der Schwester weiterzufahren. Danach folgt der Vergleich mit Molière und dem Gespräch mit seiner Magd. Gewechselt wird dann zum „Donner­ keil“ des Mirabeau 71, anschließend zur elektrischen Aufladung von Körpern und zum „Zucken der Oberlippe [...] oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette“72, um mit der französischen Geschichte fortzufahren. Hiernach folgt eine kurze Nacherzählung von Lafontaines Fabel „Les animaux malades de la peste“73, dann eine kurze physikalische Analogie mit 70 | Kleist,     Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 27. 71 | Gabriele Kapp macht dazu die folgende interessante Beobachtung: „‚Mir fällt jener ‚Donnerkeil‘ des Mirabeau ein‘, ist eine Abschnittfuge, die ähnlich wirkt wie jener bereits angefügte leserlenkende Satz ‚Doch ich verlasse mein Gleichnis und kehre zur Sache zurück‘, wobei der Erzähler mitnichten auf die ‚Sache‘ zurückkommt, sondern mir einer neuen Anekdote aufwartet.“ (Kapp, „Des Gedankens Senkblei“, S. 326-327 [Herv.i.O.]).     Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, 72 | Kleist, II/9, S. 29. 73 | Ebd. (Herv.i.O.).

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den Rädern einer Übersetzung. Zuletzt wird das Beispiel des Redens in einer Gesellschaft ausgeführt, und schließlich die Problematik einer Prüfungssituation dargelegt.74 Auch wenn es zwischen den einzelnen Beispielen oft Konjunktionen gibt, sind die Abbrüche in der Argumentation augenfällig. Beispiele werden nicht bis zu einem zusammenfassenden Schluss durchexerziert. So handelt es sich eigentlich mehr um die Aneinanderreihung einer losen Beispielsammlung, in welcher die Beispiele zwar alle etwas miteinander zu tun haben, aber nicht zu einer konsistenten Argumentationsreihe führen. Die Reihung funktioniert nirgends im Sinne einer theoretischen Ableitung.75 Es gibt auch keinen Höhepunkt des Textes. In den meist abrupten Beispielwechseln vollführt sich dasjenige, was der Text zur Verfertigung propagiert: Ein etwas zielloses Schwatzen, eine „improvisierte Rede“, wie sie Groddeck nennt, ein Redefluss ohne Absatz, allerdings mit Argumentationsabbrüchen.76 Die Paradoxie des Kleist’schen Verfahrens liegt gerade in der Reihung dieser Abbrüche: Die Reihung „formt“ die Brüche zu einem „Fluss“. Die plötzlichen Wendungen sind nicht nur in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ und in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ zu beobachten. Die Plötzlichkeit auftretender Ereignisse scheint in vielen Texten Kleists angelegt zu sein.77 74 | Hinweise auf die Vielzahl von Beispielen finden sich auch in: Pass, Die Beobachtung der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden, S. 112, und in: Theisen, ‚Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es gibt nichts anderes‘, S. 720. 75 | Horst Turk geht sogar so weit, dass er der Sprunghaftigkeit im Aufsatz Kleists auch das Verhältnis von Denken und Sprache zuschreibt: „Der Übergang vom Denken zur Sprache erfolgt unvermittelt. Er gleicht dem Sprung in ein ganz anders, dem intendierten Wissen inkommensurables und inadäquates Medium.“ (Turk, Dramensprache als gesprochene Sprache, S. 43) 76 | „Der Text verläuft zunächst vom ersten bis zum letzten Wort ohne jeden Absatz und imitiert insofern selbst eine improvisierte Rede, die sich ihres Zieles noch nicht sicher ist und sich daher in keinem Moment unterbrechen lassen will.“ (Groddeck, Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache, S. 104) 77 | László F. Földényi hat in „Netz der Wörter“ aufgezeigt, wie in einigen Texten Kleists plötzlich viel geschieht: St. Jago in Das Erdbeben von Chili versinkt „plötzlich“, Michael Kohlhaas tritt sehr oft sehr plötzlich auf (Földényi: Heinrich von Kleist, S. 325), im Findling betrachtet Nicolo Elvires „unter dem Kuss des Todes plötzlich erblassende Gestalt“ (ebd.), Penthesilea verliebt sich „plötzlich“ in

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Somit ist „Verfertigung“ auch Unterbrechen, jedoch nicht im Sinne einer Zäsur. Natürlich gibt es zwischen den Beispielen immer eine Zäsur, doch handelt es sich um eine Reihung der Frakturen. Erst die Reihung ermöglicht den sich verfertigenden Redefluss. Die Beweisführung in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ führt nirgends zu einer klaren Konklusion. Weder die Quellenlage noch die Differenzierung zwischen history und story, weder das Ausagieren der Interpretation durch den Erzähler, den Zuhörenden und die Lesenden noch die Narration (Erzähltes/Erzählen): Keine Ausdifferenzierung führt zu einer klaren Argumentation. Es gibt keinen Höhepunkt, keine Konklusion und keine Peroratio. Doch das Fehlen der Logik ist zweifelsohne produktiv. Denn die Suche nach der Logik führt zu einer Verfertigung, welche die Suche am Laufen hält. Somit ist einer Lektüre Kleists immer auch die Logik der Wiederholung eingelassen.

1.4 W iederholen 1.4.1 „Donnerkeil“ des Mirabeau „Einmal ist keinmal – hinter dieser Weisheit verbirgt sich das Wissen der Lasterhaften, daß Sünde und Genuß erst mit der Wiederholung beginnen. Ohne Wiederholen keine Lust, keine Liebe, keine Form, keine Struktur, kein Leben. Nichts. Alles Einmalige ist langweilig – solange bis es wiederholt, wieder geholt wird.“78

Kleist Beispielreihungen wiederholen das Verfehlen des Ziels: Gerade dann, wenn bestimmt werden könnte, um was es eigentlich geht, wird ein weiteres Beispiel hinzugefügt. Somit kann das Versprechen einer logischen Auflösung des Verhandelten nicht erfüllt werden. Dass die Reihung wichtig ist, bestätigt Kleist gleich selbst in „Über die allmählige VerAchilles (ebd., S. 329.). Hinzugezogen werden könnte auch das Beispiel des Blitzes in der Anekdote „der Griffel Gottes“. In Sekundenbruchteilen wird die Semantik der Grabinschrift pervertiert. 78 | Groddeck, Wolfram: Wiederholen, in: Bosse, Heinrich/Renner, Ursula (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel (Rombach Grundkurs, Bd. 3), 2. Aufl., Freiburg i.Br./Berlin/Wien: Rombach 2010, S. 157.

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fertigung der Gedanken beim Reden“: „Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen neben einander fort, und die Gemüthsacten für Eins und das Andere, congruiren.“79 An der Stelle nach der Wiedergabe von Lafontaines Fabel „Les animaux malades de la peste“ wird sein Begriff der Reihe postuliert. Demgemäß werden Vorstellungs- und Bezeichnungs-„Reihen“ erst in ihrer Reihung kongruiert. Die eine Vorstellung und die eine Bezeichnung reichen nicht, um diese mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Es braucht – wie im Text von Kleist selbst geschehen – eine gesamte Reihe. An einer weiteren Stelle in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ wird diese Reihung besonders augenfällig. Die Reihung liest sich als Wiederholung: „Mir fällt jener ‚Donnerkeil‘ des Mirabeau ein, mit welchem er den Ceremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juny, in welcher dieser den Ständen auseinander zu gehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? ‚Ja‘, antwortete Mirabeau, ‚wir haben des Königs Befehl vernommen‘ – ich bin gewiß, daß er bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloß: ‚ja, mein Herr‘, wiederholte er, ‚wir haben ihn vernommen‘ – man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will. ‚Doch was berechtigt Sie‘ – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf – ‚uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.‘ – Das war es was er brauchte! ‚Die Nation giebt Befehle und empfängt keine‘ – um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen. ‚Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre‘ – und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: ‚so sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsre Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden‘.“80

Ziemlich genau in der Mitte des zitierten Beispiels schreibt Kleist das, was er im Beispiel zeigt: Wiederholen. Die Wiederholung zeigt sich als Möglichkeit der Verfertigung, das heißt, die Möglichkeit, einen unkonkreten Gedanken, eine geschuldete Antwort, in einen konkreten Gedanken, in eine tatsächliche Antwort zu bringen. Erst im wiederholenden 79 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 30. 80 | Ebd., S. 28-29.

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„Sagen“ des Gesagten entwickelt Mirabeau seine Antwort. Dabei zitiert der Text das Wiederholen Mirabeaus, nämlich in den Worten „wir haben des Königs Befehl vernommen“ und „wir haben ihn vernommen“. Allerdings wiederholen diese zitierten Wiederholungen selbst die indirekte Wiedergabe der Frage des Zeremonienmeisters, „ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten“. Die Frage wird somit gleich zweimal wiederholt. Zudem sind die vielen Einschübe auffällig. Zum Beispiel: „– ich bin gewiß, daß er bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchem er schloß: ‚ja, mein Herr‘, wiederholte er, ‚wir haben ihn vernommen‘ –“ oder „– Das war es was er brauchte! ‚Die Nation giebt Befehle und empfängt keine‘ –“. Diese Einschübe scheinen in diesem Beispiel als Kommentare zu funktionieren. Diese Funktion wird auch im gesamten Text wiederholt. Das serielle Einschieben gestaltet die frakturierte Schreibweise des Textes und steht sinnbildlich wiederum für die Verfertigung. Was im „Donnerkeil-Beispiel“ geschieht, ist auch auf der Ebene der Beispielreihe, wie schon dargelegt, festzustellen. Jedes Beispiel wiederholt dasselbe Argument. Selbst wenn diese Wiederholung nicht auf der Wortebene, oder anders gesagt, auf der Ebene der Signifikanten funktioniert, so scheint sie auf der „inhaltlichen“ Ebene, auf der Ebene des Bezeichneten zu funktionieren. Ob Schwester, Molière, Mirabeau oder Prüfungssituation: Der gesamte Text ist eine Wiederholung desselben Argumentes – der Verfertigung. ­ er­fertigung In diesem Sinne ist das Ende von „Über die allmählige V der Gedanken beim Reden“ konsequent. Es heißt „(Die Fortsetzung folgt.)“.81 Tatsächlich folgt keine Fortsetzung, und dennoch scheint beim Verfassen dieses Textes das Bestreben bestanden zu haben, diesen in einer Fortsetzung weiterzuführen. Somit verlässt die Argumentation den Text und nistet sich ein im Bereich zwischen Text und einer – vermutlich – paratextuellen Ebene: „(Die Fortsetzung folgt.)“. Ist dabei von einem Paratext zu sprechen, also dasjenige, was Gérard Genette als „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.“82 bezeichnet? Oder handelt es sich gar um ein Peritext, also das­ 81 | Ebd., S. 32. 82 | „Paratexte“ beschreibt Gérard Genette in Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 11-12) als: „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw. […], die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem

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jenige, was nach Genette angesiedelt ist „im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes, wie der Titel oder das Vorwort, mitunter in den Zwischenräumen des Textes, wie die Kapitelüberschriften oder manche Anmerkungen“83? Das ist aufgrund der Editionslage schwierig zu sagen. Fakt ist, dass durch den unsicheren Status von „(Die Fortsetzung folgt.)“ Raum für Spekulation bleibt. Wäre der Text tatsächlich als Fortsetzungstext geplant gewesen, würde die Beispielreihe systemlogisch weitergeführt in einer Textreihe.

1.4.2 „Geschichte“ der Wiederholung Was in den Wiederholungen und Reihungen in Kleists Text angedacht wurde, hat seine wissenschaftliche Relevanz auf ganz unterschiedlichen Gebieten. Auch wenn hier keine umfassende Geschichte der Wiederholung geschrieben werden kann – das wäre nur in einer umfangreichen Untersuchung möglich –, sollen zum besseren Verständnis ein paar Eckpunkte zur Geschichte der Wiederholung genannt werden. Es werden an dieser Stelle jedoch nur wenige wissenschaftliche Studien zur Wiederholung behandelt, damit später im Kapitel eine knappe aber prägnante Anbindung an Kleist gegeben ist. Die Wiederholung ist im 19. Jahrhundert Thema mehrerer theoretisch-philosophischer Schriften gewesen. Prominent vertreten ist sicherlich Søren Kirkegaard mit der Arbeit Die Wiederholung und Karl Marx mit der Analyse zu Hegels Bemerkung, „daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen“84, die er in offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen, dem sich auch der puristische und äußeren Informationen gegenüber skeptische Leser nicht so leicht entziehen kann, wie er möchte und es zu tun behauptet.“ In Paratexte definiert Genette: „Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“ (Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 10) 83 | Genette, Paratexte, S. 12-13. Genette trennt Peritext vom Epitext, der „zumindest ursprünglich außerhalb des Textes angesiedelt war“ (zum Beispiel in Interviews, Gesprächen, Briefen) (ebd.). 84 | Marx schreibt gleich zu Beginn des Textes: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie,

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seinem historisch-politischen Werk Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte ausführt. Einige Arbeiten zu Reihung, Wiederholung finden sich im 20. Jahrhundert vor allem im Bereich der Psychoanalyse und später in der Philosophie. Da es vermessen wäre, auf ein paar wenigen Seiten die Wissenschaftsgeschichte der Wiederholung zu erzählen, wird nur punktuell auf drei Beispiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert eingegangen, weil diese bezüglich einer Analyse der Wiederholung bei Kleist besonders relevant erscheinen.

Kierkegaard – Freud Ohne Kierkegaard namentlich zu erwähnen, offenbart 1914 Sigmund Freud mit Beispielen aus der psychoanalytischen Praxis das Prinzip des Wiederholens und des Erinnerns. Kierkegaard nennt seinen Text, den er unter dem Pseudonym „Constantin Constantius“ veröffentlichte, im Untertitel „Ein Versuch in der experimentellen Psychologie“, und er legt gleich am Anfang des Textes das Problem mit Hilfe der Terminologie der Griechen dar: „Man sage darüber, was man will, es wird in der neueren Philosophie noch eine sehr wichtige Rolle spielen; denn Wiederholung ist ein entscheidender Ausdruck für das, was bei den Griechen die ‚Erinnerung‘ war. Wie sie nämlich lehrten, daß alles Erkennen Erinnerung ist, so wird die neue Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist. [...]. Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn dasjenige, woran man sich erinnert, ist gewesen, wird rückwärts wiederholt, während die eigentliche Wiederholung eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung ist.“85

Wie später Freud denkt Kierkegaard Erinnern und Wiederholen zusammen. Außerdem schafft er mit der „Erinnerung in vorwärtiger Richtung“ eine Kategorie, die sehr viel mit dem Freud’schen Durcharbeiten zu tun hat. Doch Freud ist ja bekanntlich ein Freund konkreter Situationen der analytischen Praxis. Für ihn ist die Wiederholung dasjenige, das einsetzt, wenn sich PatientInnen nicht an ein Ereignis erinnern, weil es in früdas andre Mal als lumpige Farce.“ (Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 9) 85 | Kierkegaard, Søren: Die Wiederholung, Hamburg: Felix Meiner 2000, S. 3 (Herv.i.O.).

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hester Kindheit geschah und/oder verdrängt wurde.86 Im Gespräch mit dem „Arzt“, stellt Freud fest, werden verdrängte, vergessene Ereignisse nicht einfach so erinnert, sondern – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – wiederholt: „Er [der Patient, Anmerkung M.S.] reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er w i e d e r h o l t es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt.“87 Das geschieht zum Beispiel, wenn kindlicher Trotz gegen die Mutter sich nun als „modifizierter“ Trotz gegen den therapierenden Arzt richtet. Dabei ist „die Wiederholung [...] die Übertragung der vergessenen Vergangenheit“.88 In der Wiederholung wird – und so gelangt Freud in die Nähe von Kierkegaard – progressiv erinnert. Oder anders gesagt, die Erinnerung ist in die Wiederholungshandlung eingelassen, ohne dass sie zunächst als Erinnerung erkannt werden würde. Somit basiert die analytische Behandlung bis zu einem gewissen Grad auf dem Wiederholen-Lassen, um gegen die Widerstände des Erinnerns zu kämpfen. Diese „psychische“ Arbeit, das heißt, der Kampf gegen jene Widerstände, nennt Freud „Durcharbeiten“.89

Gilles Deleuze Die Frage der Wiederholung rückt in den philosophisch-philologischen Fokus durch Gilles Deleuzes Opus von 1968, Differenz und Wiederholung. Deleuze stellt es als ein Projekt zwischen „Kriminalroman“ und „eine Art science fiction“ vor90. Seine detektivische und mitunter auch prophetische 86 | Eine weitere Spur des Wiederholens bei Freud findet man im Fort/da-Spiel: Siehe auch: Rimmon-Kenan, Shlomith: The Paradoxical Status of Repetition, in: Poetics Today 1/4, Narratology II: The Fictional Text and the Reader, 1980, S. 154-155. 87 | Freud, Sigmund: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hg. von Anna Freud, Edward Bibring und William Hoffer, Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913-1917, 8. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 129 (Herv.i.O.). 88 | Ebd., S. 130. 89 | Siehe dazu auch: Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 123-124. 90 | Gilles Deleuze schreibt dazu: „Ein philosophisches Buch muss einesteils eine ganz besondere Sorte von Kriminalroman sein, anderenteils eine Art­­science ­f iction. Mit Kriminalroman meinen wir, dass sich die Begriffe mit einem gewissen Aktionsradius einschalten müssen, um einen lokalen Sachverhalt zu lösen.

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Herangehensweise stellt sich nicht als Schreiben über Philosophie heraus, sondern eher ein Schreiben mit Philosophie. Ähnlich wie Jacques Derrida adaptiert er die Schreibverfahren jener, über die er schreibt. Oder ­ illes in Friedrich Balkes und Joseph Vogls Worten in der Einleitung zu G Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie: Deleuze habe „in seinen großen Monografien nicht über Spinoza und Leibniz, nicht wie Nietzsche und Foucault geschrieben, er hat vielmehr mit ihnen und in ihnen geschrieben [...]“.91 Seine Arbeit an und in der Philosophie ist nicht im klassischen Sinne „historisch“, sondern eher als Genealogie beschreibbar. In Differenz und Wiederholung geht es – vereinfacht gesagt – auch um eine Genealogie des Anfangens in der Philosophie, oder um die Frage, wie in der Philosophie der Anfang zu machen ist.92 Die Philosophie ist – um mit Balke und Vogl zu sprechen – unfähig, „in sich selbst zu beginnen“.93 Das Anfangen ist laut Deleuze immer „schon Verspätung, Wiederholung und Differenz an sich [...]“.94 Somit arbeitet er sich einerseits durch die Philosophie, andererseits entwickelt er sie aber auch aus der Alltäglichkeit des „modernen Lebens“. Dazu schreibt Deleuze im Vorwort: „Unser modernes Leben ist so beschaffen, dass wir in ihm angesichts von vollendet mechanischen und stereotypen Wiederholungen in uns und auSie verändern sich selbst mit den Problemen.“ Und weiter auf derselben Seite zu science fiction: „Wie lässt sich anders schreiben als darüber, worüber man nicht oder nur ungenügend Bescheid weiss? Gerade darüber glaubt man unbedingt etwas zu sagen zu haben. Man schreibt nur auf dem vordersten Posten seines eigenen Wissens, auf jener äußersten Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwissen trennt und das eine ins andere übergehen lässt. Nur auf diese Weise wird man zum Schrieben getrieben.“ (Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, 3. Aufl., München: Fink 2007, S. 13-14 [Herv.i.O.]) Ein Blick in die Sekundärliteratur offenbart die Attraktivität dieses Vergleichs (Kriminalroman/science fiction): Siehe zum Beispiel: Jäger, Christian: Gilles Deleuze. Eine Einführung, München: Fink 1997, S. 82; Ott, Michaela: Gilles Deleuze zur Einführung, Hamburg: Junius 2005, S. 11; siehe zudem auch Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 26. 91 | Balke, Friedrich/Vogl, Joseph: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink 1996, S. 8. 92 | Balke, Friedrich: Gilles Deleuze, Frankfurt a.M./New York: Campus 1998, S. 28. 93 | Ebd., S. 7. 94 | Ebd.

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ßerhalb unaufhörlich kleine Differenzen, Varianten und Modifikationen abringen.“95 Was ist die Wiederholung? Die Wiederholung ist im Deleuze’schen Sinne „in jeder Hinsicht Überschreitung“.96 Sie überschreitet die Grenzen der Singularität, die Vorstellungen von festen Entitäten, und sie ist somit auch in ein Spiel unendlicher Maskierungen eingebunden: „Sie liegt nicht unter den Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen, [...]. Die Masken verdecken nichts, nur andere Masken.“97 Das Bild der Maske, das der Wiederholung zuteilwird, ist nicht insofern bestimmt, als dass die Maske das Bild für die Wiederholung wäre. Jede Maske verdeckt eine weitere und wird somit zum Subjekt ihrer eigenen Maskierung: „Die Maske ist das wahre Subjekt der Wiederholung. Weil die Wiederholung ihrer Natur nach von der Vorstellung abweicht, kann das Wiederholte nicht vorgestellt werden, sondern muss immer bedeutet werden, maskiert mit dem, wodurch es bedeutet wird, und selbst Maske dessen, was es bedeutet.“98 Die Wiederholung ist damit nicht setzbar als etwas Beständiges, sondern als „begriffslose Differenz, die sich der unbestimmt kontinuierlichen begrifflichen Differenz entzieht“.99 In diesem Sinne ist die Wiederholung anders gelagert als die Differenz, denn die Differenz ist, sie hat ihr Sein in ihrem Bestimmungsmechanismus. Die Differenz ermöglicht Bestimmung oder „jene[n] Zustand, in dem man von DER Bestimmung sprechen kann.“100

1.4.3 Wiederholen: Kleist Grundsätzlich findet sich bei Freud und Deleuze der gleiche Gedanke. Repetition ruft eine beschreibbare Systematik hervor. Bei Freud bezeichnet diese Systematik in der Wiederholung die Widerstände des Erinnerns. Deleuze ist Wiederholung, Überschreitung und Maskierung zugleich. 95 | Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 12. 96 | Ott, Gilles Deleuze zur Einführung, S. 11; siehe auch Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 16. 97 | Ebd., S. 34. 98 | Ebd., S. 35. 99 | Ebd., S. 30. 100 | Ebd., S. 49 (Herv.i.O.).

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Ganz im Sinne der Freud’schen Analysesituation ist die Beispielreihung bei Kleist eine Wiederholung auf der systemischen Ebene. Der Text vollführt das, was er sagt. Somit unterwirft Kleist viele seiner kürzeren Texte tatsächlich einem Gesetz der seriellen Wiederholungen, wobei die Wiederholungen „Überschreitung“ und „Maskierung“ zugleich sind. Es gibt im Verdecken etwas zu entdecken: Eine neue Verdeckung. Was heißt das? „Doch ich verlasse mein Gleichniß, und kehre zur Sache zurück. Auch Lafontaine giebt, in seiner Fabel: les animaux malades de la peste, wo der Fuchs dem Löwen eine Apologie zu halten gezwungen ist, ohne zu wissen, wo er den Stoff dazu hernehmen soll, ein merkwürdiges Beispiel von einer allmähligen Verfertigung des Gedankens aus einem in der Noth hingesetzten Anfang. Man kennt diese Fabel.“101

Ja, man kennt sie, möchte man hinzufügen, man kennt sie, die Fabel, nämlich diejenige des Zur-„Sache“-Zurückkehrens. Denn gerade dann, wenn er schreibt, zur Sache zurückzukehren und somit das „Gleichniß“ überschreitet, wird dieser Schritt „maskiert“, indem „zur Sache zurückkehren“ nicht zur Sache zurückkehren lässt. Wäre es tatsächlich eine Rückkehr zur Sache, dann würde diese lauten: „Auch Lafontaine giebt, in seiner Fabel [...]“: nämlich ein „Gleichniß“. Zur Sache zurückkehren hieße demnach im „Gleichniß“ zu bleiben. Das neue „Gleichniß“ ist zwar eine Überschreitung, aber maskiert zugleich die Tatsache, dass somit nicht zur eigentlichen Sache zurückgekehrt wird. Nach diesem Prinzip verfährt Kleist in vielen kürzeren Texten. Um diesen Punkt zu stärken, wird ein weiteres, weitaus klareres Beispiel aus dem Textfundus von Kleist hinzugezogen. Das Beispiel soll wiederum aufzeigen, dass ein autopoietisches Verfertigen kein singuläres Prinzip in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ bildet, sondern maßgeblich viele Texte von Kleist strukturiert. Die Wiederholung manifestiert sich auch in Kleists Text „Über das Marionettentheater“. Dabei ist er – und das ist der Grund, wieso das „Marionettentheater“ in diesem Zusammenhang wichtig ist – im Gegensatz zu „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und 101 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 29 (Herv.i.O.).

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„Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ als Fortsetzungstext in den Berliner Abendblättern abgedruckt worden. Die Serie umfasst fünf Teile, die zwischen dem 12. und 15. Dezember 1810 in den Abendblättern erschienen sind.102 Die Geschichte ist kurz erzählt und sie zeitigt ähnliche Effekte wie schon in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und in „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“. Im ersten Teil (12. Dezember) wird der Rahmen erklärt. Der Erzähler trifft in einem öffentlichen Park „Hrn. C“, „der seit Kurzem, in dieser Stadt, als erster Tänzer der Oper, angestellt war [...]“.103 Der Ich-Erzähler bekundet gegenüber dem Tänzer sein Erstaunen, „ihn schon mehrere Male in einem Marionettentheater zu finden, das auf dem Markte zusammengezimmert worden war, und den Pöbel, durch kleine dramatische Burlesken, mit Gesang und Tanz durchwebt, belustigte“.104 Daraufhin antwortet der Tänzer mit einer Frage: Ob der Erzähler nicht „einige Bewegungen der Puppen, besonders der kleineren, im Tanz sehr gratiös gefunden hätte“.105 Der Erzähler gibt zu, dass er die Grazie der Puppen selbst auch schon entdeckt habe. Daraufhin beginnt eine Diskussion über die Mechanik. Und dabei geht es auch um die Frage, wie geistvoll das Führen der Puppen sei. Der Tänzer verweist auf die Mathematik der Tanzbewegungen. In der ersten Fortsetzung ist der Erzähler immer noch verwirrt durch die Tatsache, dass ein berühmter Tänzer sich Banalitäten, wie dem Puppentheater, mit fast schon wissenschaftlicher Akribie nähert. Der Tänzer glaubt, dass eine lebensgroße Puppe problemlos graziöser tanzen würde als die besten Tänzer der Welt. Als Beispiel fügt er den Fall von Beinpro102 | Laut Ulrich Johannes Beil ist es unklar, ob die Schrift „schon einige Zeit vorher als Ganzes verfasst oder ob sie erst unmittelbar vor der Veröffentlichung – möglicherweise sogar am jeweiligen Vortag – zu Papier gebracht wurde“ (Beil, U ­ lrich Johannes: Über das Marionettentheater, in: Breuer, Kleist Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, S. 152). Zum „Marionettentheather“ siehe auch die­­i nteressante Analyse von Bianca Theisen im Kapitel „Simulierte Grazie“ in: Theisen, Bianca: Bogen-Schluss. Kleists Formalisierung des Lesens, Freiburg i.Br.: Rombach 1996, S. 48-76. 103 | Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater (I-IV), in: H. v. Kleist. Brandenburger Ausgabe (BKA), II/7: Berliner Abendblätter I, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Frankfurt a.M./Basel 1997: Stroemfeld S. 317. 104 | Ebd. 105 | Ebd.

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thesen an. Wenn „diese Unglücklichen damit tanzen, [...]. – Was sag ich, tanzen? Der Kreis ihrer Bewegungen ist zwar beschränkt; doch diejenigen, die ihnen zu Gebote stehen, vollziehen sich mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmuth, die jedes denkende Gemüth in Erstaunen setzen.“106 Die „mechanische“, durch artifizielle Hilfsmittel vollführte Bewegung ist – so das Argument des Tänzers – anmutiger, graziöser als die natürliche Tanzbewegung lebendiger Körper.107 Die zweite Fortsetzung beginnt mit dem Zweifel des Erzählers, dass der Tänzer „doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmuth enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers“.108 Dem widerspricht der Tänzer und wie zur Bestätigung seiner Einsicht erzählt nun der Erzähler die Anekdote des badenden Jünglings mit Referenz auf den „Dornauszieher“. Das Fazit der Anekdote eines sich nach dem Bad trocknenden Jünglings, dessen Bewegung der Motivik antiker „Dornauszieher“-Statuen gleicht, ist wie folgt: Natürliche Grazie besitzt der Mensch nur unbewusst. Dadurch dass der Jüngling die Grazie seiner Bewegung erkannt und so der Wiederholung des Statuenbildes gewahr wird, verschwindet jegliche Grazie109: „Er erröthete und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, misglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! Er war außer 106 | Ebd., S. 321. 107 | Gernot Müller bemerkt, dass somit die ästhetischen Überlegungen Kleists zu den handwerklichen Ausführungen der Kunst in der Nähe von Diderots „Essai sur la Peinture“ zu sehen seien (Müller, Gernot: Man müßte auf dem Gemälde selbst stehen. Kleist und die bildende Kunst, Tübingen/Basel: Francke 1995, S. 224-227). 108 | Kleist, Über das Marionettentheater, BKA, II/7, S. 325. 109 | Der Verlust der Grazie ist laut Francesca Michelini Kleists größtes ästhetisches Problem, in: Michelini, Francesca: Der Mensch als das ‚noch nicht festgestellte Tier‘? Plessner und Kleists Über das Marionettentheater, in: Nerurkar, Michael (Hg.): Kleists ‚Über das Marionettentheater‘. Welt- und Selbstbezüge: Zur Philosophie der drei Stadien, Bielefeld: transcript 2013, S. 44. Siehe dazu auch im gleichen Band: Halbig, Christoph: Erste und zweite Unmittelbarkeit oder: Wie viel Reflexion verträgt die Tugend? in: Nerurkar, Kleists ‚Über das Marionetten­ theater‘. Welt- und Selbstbezüge, S. 51.

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stand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag’ ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –.“110

Es wird nun versucht, die Wiederholung der Argumentation als Kleists Verfahren herauszustreichen. Verfolgt man die Argumentation in „Über das Marionettentheater“, dann ist die bewusste Wiederholung zwecklos. Der Zauber des graziösen Momentes bricht mit der bewussten Wiederholung zusammen. Daraus lassen sich drei Schlüsse ziehen: Erstens, Grazie oder „Anmuth“, wie Kleist sie auch nennt, ist reichlich instabil. Zweites beruht diese Instabilität auf der unmöglichen Selbsterkenntnis. Das Erkennen der graziösen oder „anmuthigen“ Situation zerstört diese Situation. Drittens definiert die Grenze zwischen bewusst und unbewusst die Wiederholungsfunktion. Die Wiederholung des Graziösen, des „Anmuthigen“, gelingt nur, wenn diese – und damit wären wir wieder bei Deleuze angelangt – „maskiert“ wird durch das fehlende Bewusstsein. Die Wiederholung darf keinesfalls als solche erkannt werden, sonst droht sie lächerlich zu werden.111 Im letzten Teil des Fortsetzungstexts geht der Tänzer nicht auf die Geschichte ein, sondern – wie man das bei Kleist kennt – antwortet mit einer weiteren Geschichte, die des fechtenden Bären. Der Tänzer befindet sich anlässlich einer Russlandreise auf dem Landgut eines Edelmannes, „dessen Söhne sich eben damals stark im Fechten übten“.112 Der ältere der Söhne fordert den Tänzer zum Gefecht, wobei der Tänzer gewinnt. Nach verlorenem Fechtspiel meint der Sohn, er werde den Tänzer nun zu einem unbezwingbaren Gegner führen: zum Bären. Im Kampf pariert der Bär jeden Fechtstoß. Der Tänzer hat keine Chance. „Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonst! Nicht bloß, daß der Bär, wie 110 | Kleist, Über das Marionettentheater, BKA, II/7, S. 326. 111 | Somit hat die Wiederholung auch eine andere Determination als bei Freud. Das, was Freud in der Therapiesituation erreichen will, sozusagen das „Durcharbeiten“ zur Erinnerung an einen vergangenen Moment, das heißt zum Bewusstsein dieses Momentes, wird hier umgedreht. Dieser Moment ist nicht erreichbar, weil er, wenn bis zum Erkennen „durchgearbeitet“ wird, längst verloren ist. 112 | Kleist, Über das Marionettentheater, BKA, II/7, S. 329.

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der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parirte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) gieng er gar nicht einmal ein; Aug‘ in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.“113

Zwischen Tanzbär und kartesischem „mechanical animal“: Nur das „unbewusste“ Tier erreicht die Perfektion der fechtenden Bewegung. Die animalischen Wiederholungen in den Fechtschritten sind den menschlichen überlegen, weil sich das Tier dieser Wiederholungen nicht bewusst ist.114 So schließt der Text mit der Bemerkung, dass die Grazie, „in demjenigen menschlichen Körperbau am Reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliederman [also in den Puppen, im verträumten Jüngling (vor der Entdeckung der eigenen Grazie) und im Bär, Anmerkung M.S.], oder in dem Gott“.115 Grazie ist nur dann vollständig rein, wenn sie nicht als solche erkannt wird.116 Somit wird die Paradoxalität der Bestimmung verhandelt: Das wahre Sein, der Kern der Anmut und die graziösen Bewegungen sind nur darstell- und bestimmbar in ihrer unbewussten Lokomotion; das heißt, sie ist eine rein tech­nische Angelegenheit und hat nichts mit „Seele“ und „Geist“ zu tun.117 Sie ge113 | Ebd., S. 330 (Herv.i.O.). 114 | Jan Söffner gibt in seiner Lektüre des „Marionettentheater“ den Fechtkampf als wechselseitige Hermeneutik zu lesen: „Damit scheint dem Fechtkampf eine Art wechselseitige Hermeneutik zu unterliegen, [...]: So gut C... auch seine Pläne in Finten zu verbergen sucht, der Bär beantwortet die Stöße passgenau. Umgekehrt aber versteht er im Kampf den Bären überhaupt nicht. Eigentlich scheint Herr C... sogar der kartesischen Ansicht verpflichtet zu sein, dass Tiere mechanische, geistlose Wesen seien.“ In: Söffner, Jan: Lüge – Finte – Fiktion. Die zwei Gesten des fechtenden Bären in Kleists ‚Marionettentheater‘, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Knüpling, Friederike (Hg.): Kleist revisited, München: Fink 2014, S. 135. 115 | Kleist, Über das Marionettentheater, BKA, II/7, S. 331. 116 | Dieser Gedanke lässt sich dahingehend weitertreiben, dass hier nicht nur ein Verständnis von Grazie verhandelt wird, sondern die Möglichkeit von Verstehen überhaupt. Siehe dazu: Mones, Andreas: Über das Marionettentheater oder: Warum das Paradies nur von hinten offen ist, in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, 8. Jahrgang, Nr. 24 (Kleist), 1993, S. 19-41. 117 | Karol Berger betont in seinem Aufsatz „Die unheimliche Grazie“, wie provokativ es ist, die Grazie dem Leblosen der Puppen zuzuordnen. Berger, K­ arol: Die un-

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schieht in der stupiden Wiederholung, im mechanischen Abspulen des Immergleichen. Dasselbe scheint sich auf der Textebene zu vollführen: Der Text ist unterbrochen und gibt sich als Fortsetzungsreihe zu lesen.118 Diese Systematik setzt sich inhaltlich fort: In der Beispielreihung, oder – um auf die vorhin gewählte Terminologie zurückzugreifen – in der „Mechanik“ des Textes wird ersichtlich, was mit der Grazie gemeint sein könnte. Die formalen Aspekte rücken in den Vordergrund, denn die inhaltliche Diskussion verliert fortwährend ihr Ziel, sie wird lächerlich. Im Text wird gelacht und gescherzt, auffällig oft zwischen den verschiedenen Beispielen: „Er lächelte“119, „Ich äußerte, scherzend“120, „Ich lachte.“121, „er lächelte“122, „das Gelächter zurückzuhalten“123, „scherzend“124, „lachten“125 usw. Das Lachen und Scherzen erscheint bei den Übergängen, als müssten sie die Lücke schließen oder über das Unbehagen hinwegtrösten, im vorangehenden Beispiel, in der vorangehenden Erklärung den Kern der Grazie verfehlt zu haben. Die Bestimmung liegt somit nicht im inhaltlichen Beispiel, sondern in der formalen Beispielreihung.126 Der Text gibt sich in heimliche Grazie: Eine Bemerkung über Kleists Marionetten, in: Gumbrecht/Knüpling, Kleist revisited, S. 114-115. 118 | Siehe dazu auch Bianca Theisen in Bogen-Schluss: „Der Aufsatz erschien in vier Fortsetzungen in den Berliner Abendblättern vom 12. bis 15.12.1810. Diese Unterbrechungen strukturieren den Text in 1) die Ausführungen des Tänzers über die Mechanik des Puppenspiels, 2) die von englischen Künstlern verfertigten Prothesen und die antigrave Bewegung der Marionetten, 3) die Anekdote vom Verlust der Anmut vor dem Spiegel und 4) die Geschichte vom fechtenden Bären und die geometrischen und theologischen Schlußüberlegungen.“ In: Theisen, Bogen-Schluss, S. 49. 119 | Kleist, Über das Marionettentheater, BKA, II/7, S. 321. 120 | Ebd. 121 | Ebd., S. 323. 122 | Ebd., S. 326. 123 | Ebd. 124 | Ebd., S. 329. 125 | Ebd. 126 | Die Inhalt- und Form-Diskussion wird, angelehnt an die Diskussion des Bären-Beispiels im Aufsatz „Kleists Insider-Witz“ angesprochen, wenn darin – vielleicht etwas ungelenk – von „innerer Bedeutung“ und „äusserer Bedeutung“ geschrieben wird: „Die Geschichte des fechtenden Bären, wie der Essay als Ganzes,

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seinen wiederholenden Argumentationsreihen zu lesen als derjenige, der, einem Tanz gleich, selbst die Argumentation vollführt. Das Graziöse verschiebt sich in die Form des Textes.

1.5 Ü berse t zen „... vom Einen zum Andern, hinüber, und wieder zurück, herüber, ohne abzustürzen über der Kluft, die jeder Überbrückungsversuch als Bedingung seiner Möglichkeit immer auch voraussetzt? [...] Alltägliche Übergänge, bewußtlos – daß sie stattgefunden haben, merkt man leichter erst hinterher, nachdem man sie schon übergangen, übersprungen hat. Solchen Sprüngen soll hier nachgefragt werden [...].“127

Wie im letzten Kapitel dargelegt, scheint Kleist in einigen seiner anekdotischen Texte eine Liebe zur Reihung, zur Wiederholung zu pflegen. Die aneinandergereihten Beispiele erscheinen als Serie, die einer Gesetzmäßigkeit der Verfertigung unterworfen sind. Außerdem zeitigen sie einen paradoxalen Effekt: Durch die unmittelbaren Abbrüche, durch die plötzlichen Übergänge in neue Beispiele, zeigen sie sich gerade nicht als frakturierte Textelemente. Vielmehr fügt sich das Beispielstakkato zur Verfertigung. Durch die Lektüre werden die einzelnen, teilweise höchst unterschiedlichen Beispiele „allmählig“ zusammengefügt. Doch was geschieht zwischen den Beispielen? Was ist mit dem Sprung in das neue Beispiel? Oder wie Christiaan L. Hart Nibbrig in Übergänge – einem philologisch-philosophisch und kunsthistorisch beachtenswerten Werk zur Problematik des Übergangs – fragt: „Wie kommt man von A nach B?“128 Wie kommt Kleist von Beispiel zu Beispiel? In diesem Kapitel werden die Übergänge zwischen den einzelnen Beispielen genauer betrachtet. Dabei wird auf den doppelten Sinn von Überhandelt von der Entzweiung der Sprache, die den Gedenken – die innere Bedeutung – und die äußere Bedeutung – die Geste – auseinander reißt.“ In: Platt, Kevin M.F./Rossomachin, Andrej: Kleists Insider-Witz: Über das Marionettentheater und der russische Bär, in: Gumbrecht/Knüpling, Kleist revisited, S. 134. 127 | Hart Nibbrig, Christiaan L.: Übergänge. Versuch in sechs Anläufen, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1995, S.9. 128 | Ebd.

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setzen fokussiert. Es geht dabei nicht nur um Übersetzung im Wortsinn, sondern auch um dasjenige, was im Wort „Über-setzen“ schon angelegt ist, das Hinübersetzen, das Überschreiten der Beispiele. Beide Übersetzungsdimensionen sind insofern gekoppelt, als ihnen die Motionsfunktion zukommt. Die schon ausführlich besprochene autopoietische Textdynamik, die mit dem Verfahrensbegriff oder – mit Kleist selbst – als Verfertigung zu bezeichnen wäre, findet ihren Antrieb in dem, was durch den Sprung, durch das Übersetzen verloren geht respektive hinzugewonnen wird. Jede Übersetzung, sei es von einer Sprache in die andere oder sei es von einem Beispiel in das andere, vollführt das, was in ihrem Wort schon angelegt ist. „Über-setzen“ erscheint als autopoietisches Wort. Somit könnte „Über-setzen“ „übersetzt“ auch heißen: Über die Setzung hinaus. Darum geht es bei Kleist. Seine „Verfertigung“ ist endlose „Über-setzung“, bar jeglicher Verfestigung. Darin verwickelt ist selbstverständlich auch die im letzten Kapitel besprochene Wiederholungsthematik: Es geht um die Frage der Ursprünglichkeit. Jede Übersetzung ist eine Wiederholung, welche das Wiederholte problematisch macht. Das Wiederholende ist dem Wiederholten ebenbürtig, weil es dem großen Projekt, hier der „Verfertigung“, untergeordnet ist. Es gibt in Kleists Beispielreihung nicht das Originalbeispiel und die Wiederholungsreihe. Denn die gesamte Beispielreihung, also alle Wiederholungen, dienen jenem Verfahren, das Sprache nicht als originale, als stabile und stabilisierte begreifen lässt.

1.5.1 Walter Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“ Um die Frage nach dem autopoietischen Verfahren Kleists und dem Zusammenhang zur Übersetzung zu beantworten, wird auf einen der bekanntesten Aufsätze zur Übersetzung – nämlich Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“ – zurückgegriffen. Wie es scheint, bedient sich (auch) Benjamin eines bestimmten Verfahrens, um die „Die Aufgabe des Übersetzers“ darzulegen. Benjamins Text, der zu Recht als der wichtigste deutschsprachige Beitrag zur Übersetzungstheorie gilt, entstand 1921 und erschien 1923 als Vorwort zur Übersetzung von Charles Baudelaires Tableaux Parisiens.129 129 | Hirsch, Alfred: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Lindner, Burkhardt (Hg.): Benjamin Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2006,

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„Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß, anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eine Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen.“130

Benjamin verfolgte schon lange vor dem „Übersetzer“-Text das Projekt einer „reinen transzendentalen Sprache“.131 Diese Sprache ist selbstverständlich keine natürliche, von Menschen ausschließlich zur Kommunikation gedachte Sprache. Doch darum geht es hier nicht. Es geht um die Analogie der „größeren Sprache“ als Gefäß und um die „Art des Meinens in der eigenen Sprache“, welche hier in einer schönen Analogie beschrieben wird. Denn Benjamin beschreibt in der Form einer analogisierenden Adaption. Ähnliches wird später bei Benjamins Kafka-Lektüre dargelegt. Das Besprochene führt sich als Beispiel wieder in das Besprechen ein. Hier ist es die Übersetzung, welche als Übersetzung in ein Bild wiederum in die Diskussion über Übersetzung eingeführt wird. Das heißt, das Bild des zerbrochenen Krugs ist selbst eine Übersetzung.132 Wie Kleist wendet Benjamin das Besprochene zugleich im Besprechen an, oder an-

S. 609; Opitz, Michael: Editorische Anmerkungen, in: Ders. (Hg.): Walter Benjamin. Ein Lesebuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 724. 130 | Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Opitz, Walter Benjamin. Ein Lesebuch, S. 54. 131 | Siehe dazu: Hamacher, Werner: Intensive Sprachen, in: Hart Nibbrig, Übersetzen: Walter Benjamin, S. 176. 132 | Zur internen Doppelung von Übersetzen siehe auch Timothy Bathis Aufsatz „Das Unvergeßliche geht auf...“: „Das Übersetzen ist nicht übersetzbar [...], und die Übersetzbarkeit wäre von Benjamin nur unter Bedingungen der radikalen Unübersetzbarkeit rigoros bestimmbar. Steht das Übersetzen unter dem Zeichen des Un-, so ist es die Aufgabe des Übersetzers, nicht zu übersetzen. Oder eher: falsch zu übersetzen: zu verstehen, zu übertragen, zu versetzen – versetzendes Übersetzen –: umzuwandeln und umzuschreiben. Die Überfahrt, das trans- der Benjaminischen Theorie des Übersetzens, ist eine innerhalb seiner Praxis des Schreibens, eine Übersetzung in ebendiese. Die Unmöglichkeit des Übersetzens schafft die Möglichkeit des Schreibens.“ (Bathi, Timothy: „Das Unvergeßliche geht auf...“.

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ders gesagt: Er verfährt, indem er gleichzeitig vollführt, was er schreibt. Und das sieht man auch im oben zitieren Satz. Der Satz selbst ist zerbrochen, in genau neun unterschiedliche Stücke, die sich nicht „zu gleichen haben“. Der Übersetzung nimmt Benjamin die Angst, weil er sagt, dass das Übersetzte nicht dem Original zu entsprechen habe. Zur Veranschaulichung wird – tropisch – gesprungen durch die Metapher des zerbrochenen Krugs und wieder zurück, um das Bild auf den Satzbau zu bringen. Nun heißt es auch, dass man statt die Übersetzung „dem Sinn des Originals“ „ähnlich zu machen“, die „Art des Meinens [des Originals, Anmerkung M.S.] in der eigenen Sprache sich anbilden“ soll. Was ist damit gemeint? Eine weitere Stelle im „Übersetzer“-Aufsatz gibt Aufschluss: „In ‚Brot‘ und ‚pain‘ ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben; am Gemeinten aber, daß sie, absolut das Selbe und Identische bedeuten.“133

Benjamin unterscheidet demnach zwischen der Art, „es zu meinen“ und dem Gemeinten. Diese Unterscheidung hat durchaus Ähnlichkeiten mit der Signifikant-Signifikat-Unterscheidung in der Zeichenlehre nach strukturalistischem Vorbild. Das Gemeinte wäre demnach das Signifikat, das Bezeichnete, die Inhalts-Seite des Zeichens. Und die Art, „es zu meinen“ wäre der Signifikant, das Bezeichnende – der Zeichenausdruck. Allerdings ist Vorsicht geboten: Erstens geht es bei Benjamin nicht zwingend um formalisierende Sprachzeichen. Zweitens verbindet Benjamin Bedeutung mit der „Art des Meinens“, was nach der semiotischen Lehre zu vage und daher schlicht unzulässig wäre. Und dennoch lohnt sich ein Blick in die paradoxale Bestimmung. Denn einerseits bedeuten die Worte „Brot“ und „pain“ „dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes“. Andererseits bedeuten sie „absolut das Selbe und Identische“; die Worte bedeuten zugleich dasselbe und nicht dasselbe. Es scheint – um nochmals auf die Analogie mit der Semiotik zurückzukommen –, als würde die Bedeutungsebene, das Signifikat, die Unterscheidung von Signifikat zu Signifikant nochmals Das Umschreiben des Übersetzens, in: Hart Nibbrig, Übersetzen: Walter Benjamin, S. 353 [Herv.i.O.]) 133 | Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, S. 50 (Herv.i.O.).

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in den Signifikanten einführen, als Differenz in sich. Das heißt, die „Art des Meinens“ ist wiederum in das „Gemeinte“ eingelassen qua Bedeutung. Wie auch immer, was feststeht, ist die Tatsache, dass mit Benjamins Übersetzungsbetrachtungen jegliche stabilisierende Identität der Sprachen aufgehoben wird. Peter Fenves bezeichnet diese identitätsraubende Bewegung in Benjamins Text als „Tautologie“: „Übersetzung ist Tautologie befreit von Urteil und folglich vom Identitätsprinzip.“134 Somit kann der Übersetzer nur „aufgeben“ – so wie es der doppeldeutige Aufsatztitel („Die Aufgabe des Übersetzers“ [Herv. M.S.]) schon sagt.

1.5.2 „l’idée vient en parlant“ Die identitätsraubende Bewegung der Fremdsprache zeigt sich auch bei Kleist: Er sagt dasselbe, jedoch in anderer Form. Nur wäre Kleists Schreiben nicht das Schreiben Kleists, wenn es den Effekt des Fremdsprachigen nicht sogar zu überbieten wüsste. Dies geschieht in der Modifikation: „Der Franzose sagt, l’appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodirt und sagt, l’idée vient en parlant.“135

Wie in den meisten Beispielen in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ übersetzt Kleist nicht von Sprache zu Sprache, vom Französischen ins Deutsche, sondern lässt einen Text entstehen, der doppelsprachig, Französisch-Deutsch, weitergeführt wird – wie zum Beispiel in der Fabel Lafontaines „Les animaux malades de la peste“136. Oder er „übersetzt“ – wie in diesem Beispiel mit dem „Erfahrungssatz“ – lediglich die Beispiele in eine andere Sprache. Das Beispiel beginnt unmittelbar nach dem imaginierten Anfangsgespräch mit Rühle von Lilienstern. Nach dem Beispiel setzt er ohne Unterbruch fort: „Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Acten, und erforsche [...].“137 Das Beispiel mit dem französischen „Erfahrungs134 | Fenves, Peter: Die Unterlassung der Übersetzung, in: Hart Nibbrig, Übersetzen: Walter Benjamin, S. 164. 135 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 27 (Herv.i.O.). 136 | Ebd., S. 29-30. 137 | Ebd., S. 27.

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satz“138 liegt zwischen zwei Beispielen, die selbstverständlich auch die „Verfertigung“ zu erklären versuchen. Doch fehlt hier jeglicher Übergang. Plötzlich steht da unvermittelt und ohne überleitendes Wort oder eine graphische Markierung: „Der Franzose sagt [...]“. Dieses kurze Beispiel mit dem „Erfahrungssatz“ ist auch deswegen bemerkenswert, weil „Über-setzen“ in diesem Fall – wie schon erwähnt – eine andere Funktion als die einer Sprachübersetzung hat. Zu Beginn dieses Kapitels wurde aus Übergänge von Hart Nibbrig zitiert. Auch dort lässt sich eine entsprechende Stelle zur Übersetzung finden: „Kurzum: Das Problem sprachlicher Übertragung ist zunächst und immer auch ein Übersetzungsproblem. Wie auch immer. Auf jeden Fall: [...] Es geht nicht ohne Sprung. Nicht ohne Über--Setzen. Nicht ohne Code--switch – [...].“139 Die gleichzeitige (sprachliche) Übertragung in einen thematisch geänderten Erklärungsversuch und in eine andere Sprache ist somit ein Über-Setzen (ins Französische) und ein Code-switch (in die Modifizierung des Phraseologismus – der „Erfahrungssatz“) und gipfelt in – und hier wären wir wieder bei Kleist angelangt –: „l’idée vient en parlant“. Kleist übersetzt an dieser Stelle nicht Sprache, sondern von einem Beispiel in das andere, als „Code-switch“. Die „allmählige Verfertigung“ liegt nicht nur im unaufhörlichen Beispielewechseln, sondern 138 | „Mit der Umverwandlung des ‚Erfahrungssatzes‘: ‚l’appétit vient en mangeant‘, einer Redensart aus Rabelais’ Gargantua und Pantagruel (I, 5), in ‚l’idée vient en parlant‘ greift der Aufsatzverfasser einen bekannten Topos der antiken Rhetorik auf [...] und führt mit dieser Adaption zugleich die Dimension des Sprechens ‚am Leitfaden des Leibes‘ (Nietzsche) ein: Indem die Vorstellung des Essens als Einverleibungsakt, der Zyklus von Vernichtung (von Hungergefühlen) und Wieder-Erzeugung (von Kraft und der Schaffung neuer Antriebe) mit dem Prozess des ideenhervorbringenden, zu sich selbst kommenden Redens parallel gesetzt wird – eine Idee übrigens, die bei Novalis auf frappierend ähnliche Weise und v.a. in verwandtem gedanklichen Kontext artikuliert wird [...] – werden drei Gedanken auf den Weg gebracht.“ (Kapp, „Des Gedankens Senkblei“, S. 324 ([Herv.i.O.]) 139 | Hart Nibbrig, Übergänge, S. 190. Nebenbei bemerkt: Wenn Autoreferenzialität explizite Stellen besitzt, dann sind es solche wie „wie auch immer“ und „auf jeden Fall“. Diese unscheinbaren Aussagen, die keine sind und in ihrer Beliebigkeit gerade im Kontext von „Übersetzungsproblemen“ ihren Kommentar zur eben gemachten Aussage setzen, vollführen wiederum genau das, was gesagt wurde: Ein Übersetzungsproblem „wie auch immer“ wird selbst zum Übersetzungsproblem.

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zumindest hier auch in der Modifikation eines Beispiels, das seine Beispielhaftigkeit im Sinne der „Verfertigung“ schon nur durch den Sprachwechsel bestätigt hätte. Was damit gesagt werden will: Kleist „s-/witches“ („hext“  –   wechselt) und „übersetzt“ gleich dreifach: Vom imaginierten Gespräch mit Rühle zum Sprichwort; von der deutschen in die französischen Sprache und vom korrekten Sprichwort zum modifizierten Sprichwort. Und das alles geschieht in zwei Zeilen.

1.5.3 Johann Georg Hamann: „Aesthetica in nuce“ Was Kleist also in der paranoischen Struktur eines imaginierten Dialoges, eines Themen- und Sprachenwechsels vollführt, ist eine Destabilisierung sprachlicher Fundierung. Um diese Destabilisierung noch deutlicher zu machen, wird auf ein weiteres, wahrscheinlich weitaus berühmteres Beispiel zurückgegriffen, das sich bestens in den Kontext der Übersetzungsthematik einfügt. Rund 55 Jahre vor „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ führt Johann Georg Hamann in „Aesthetica in nuce“ die Übersetzungsthematik in origineller Weise vor. Hamanns Schriften erreichten – wie schon Friedrich Schlegel bemerkte – trotz der schwierigen Schreibweise („hier und da dunkel“)140 sowie ihrer Vertriebsweise („meistens in einzelnen witzigen Flugschriften ohne Namen“)141 zumindest ein gelehrtes Publikum.142 Hier macht auch „Aesthetica in nuce“ (1762 erschienen in dem Sammelband Kreuzzüge eines Philologen), dem wohl zentralen Werk seiner ersten Schaffensphase, keine Ausnahme.143 Der Kant-Kritiker Hamann, der in der Sprache ein ästheti140 | Schlegel, Friedrich: Der Philosoph Hamann, in: Deutsches Museum, 3. Bd., Heft 1 (Reprint der Originalausgabe von 1813), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 34. 141 | Ebd. 142 | Baudler, Georges: ‚Im Worte sehen‘. Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn: H. Bouvier 1970, S. 92-93. 143 | Weiss, Helmut: Johann Georg Hamanns Ansichten zur Sprache. Versuch einer Rekonstruktion aus dem Frühwerk, Münster: Nodus 1990, S. 111; Lumpp, Hans-Martin: Philologia crucis. Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von der Dichtkunst. Mit einem Kommentar zur ‚Aesthetica in nuce‘ (1762), Tübingen: Max Niemeyer 1970, S. 19.

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sches Potenzial und nicht eine Verdunkelungsgefahr sieht,144 produziert einen äußerst schwierig zu interpretierenden Text.145 Dies liegt einerseits im bunten Satz mit vielen Hervorhebungen, Kursivierungen und Fettschriften,146 andererseits auch an den vielen, teilweise nur schwierig zu rekonstruierenden Anspielungen. Der Titel dürfte beispielsweise eine Anspielung auf den von Alexander Gottlieb Baumgarten geprägten Begriff der „philosophischen Ästhetik“ als Theorie sensitiver Erkenntnis sein. Der Untertitel „Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose“ enthält schon das Bruchstückhafte („Rhapsodie“147) des folgenden Textes und ei144 | Wohlfart, Günter: Denken der Sprache. Sprache und Kunst bei Vico, Humbolt und Hegel, Freiburg i.Br./München: Karl Alber 1984, S. 125: „Hamann denkt nicht gegen die Sprache wie Kant, sondern von der Sprache her.“ 145 | Helmut Weiss schreibt dazu: „Gleichgültig mit welchem Erkenntnisinteresse man sich dieser Schrift auch nähert, ob als Theologe oder als Literaturwissenschaftler, als Historiograph der Philosophie oder der Sprachwissenschaft, für jeden dieser Bereiche findet sich darin Relevantes. Die thematische und stilistische Komplexität und Komprimiertheit der Aesthetica, und die von Hamann demonstrierte Kunstfertigkeit sind beeindruckend. Hamann verknüpft in diesem Werk, das nur etwas mehr als 20 Seiten umfasst, mit fast spielerischer Leichtigkeit eine thematische Vielfalt, die fast sämtliche Teile des damaligen Geisteslebens abzudecken vermag.“ (Weiss, Johann Georg Hamanns Ansichten zur Sprache, S. 111 [Herv.i.O.]) Siehe auch: Weishoff, Axel: Wider den Purismus der Vernunft. J. G. Hamanns sakral-rhetorischer Ansatz zu einer Metakritik des Kantischen Kritizismus, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S.93-94. 146 | Siehe dazu den Kommentar von Sven-Aage Jørgensen in: Ders. (Hg.): Hamann, Georg Johann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, hg. von Sven-Aage Jørgensen, Stuttgart: Reclam 1979, S. 150. Sehr deutlich zu sehen ist dies auch in der historischen-kritischen Ausgabe von Joseph Nadler, welcher übrigens die Reclam-Ausgabe von Sven-Aage Jørgensen folgt: Hamann, Georg Johann: Aesthetica in nuce, in: Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, Bd. II: Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik (1758-1763), Wien: Herder 1950, S. 195-218. 147 | In Bezug zu Hamann wird die Rhapsodie wie folgt definiert: „Der Name ‚Rhapsodie‘ bezeichnet sehr genau den Aufbau der Schrift: Sie ist nicht eine abgeschlossene, in sich gerundete Dichtung, sondern besteht aus dichterischen Bruchstücken [...].“ (Baudler, ‚Im Worte sehen‘, S. 93) „Rhapsodie: (...) Zusammengefügte Bruchstücke besonders epischer Dichtung, wie sie von den griechischen Rhapsoden vorgetragen wurden. Rhapsodisch bekam deshalb den Sinn des

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nen Hinweis auf den polemischen Unterton (kabbalistische Exegese als Provokation gegen die rationalistische Exegese) der Schrift, die sich wohl in erster Linie gegen „Rationalisten“, wie zum Beispiel den Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis richtete.148 Das von Kleist angewandten Verfahren, fremdsprachige Sentenzen relativ unvermittelt auftreten zu lassen, durchzieht den gesamten Text von Hamann und wird an jener Stelle besonders augenfällig, wo von Übersetzung die Rede ist. Im Erstdruck fällt dieser Abschnitt durch Großdruck oder sogar doppeltem Großdruck auf.149 Bevor nun die genannte Textstelle zitiert wird, noch ein kurzer Hinweis zur Zitierweise: Der gesamte Text ist gespickt mit Fußnoten. Diese werden ebenfalls wiedergegeben, weil sie für die nachfolgende Interpretation wichtig erscheinen. „Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch150 , historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch151 seyn können. Diese Art der Übersetzung Fragmentarischen und Unzusammenhängenden, bzw. des enthusiastisch Stammelnden.“ (Sven-Aage Jørgensen [Kommentar] in: Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, S. 76) 148 | Siehe zur komplexen Titelgeschichte: Lumpp, Philologia crucis, S. 29-34. Den Hinweis, dass sich die Schrift besonders gegen Michaelis gerichtet hatte, sieht der Kommentator und Herausgeber Sven-Aage Jørgensen in einer Stelle am Anfang: „Heil dem Erzengel über die Reliquien der Sprache Kanaans.“ (Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, S. 81) Der „Erzengel Michael(is)“ wird „wegen seiner rationalistischen Haltung von Hamann scharf kritisiert“. (Sven-Aage Jørgensen [Kommentar], in: Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, S. 80) 149 | Lumpp, Philologia crucis, S. 56. 150 | „Zur Erläuterung kann nachgesehen werden Wachters Naturae & Scripturae Concordia. Commentatio de literis ac numeris primaeuis aliisque rebus memorabilibus cum ortu literarum coniunctis. Lips. & Hafn. 1752. im ersten Abschnitt.“ (Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, S. 89) 151 | „Von dieser letztern Gattung Zeichen ist folgende Stelle im Petron zu verstehen, die ich mich genöthigt sehe in ihrem Zusammenhange anzuführen, gesetzt dass man auch selbige für eine Satyre auf den Philologen selbst und seine Zeitverwandten ansehen solte: nuper ventosa isthaec & enormis loquacitas Athenas

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(verstehe Reden) kommt mehr, als irgend eine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein, And shews the stuff, but not the workman’s skill; oder mit einer Sonnenfinsternis, die in einem Gefäße voll Wassers in Augenschein genommen wird152.“153

Die Übersetzung ist ein Prozess, der in die vermeintliche konkrete Fassbarkeit führt. Vermeintlich konkret ist diese deswegen, weil die Beschreibung des Übersetzungsprozesses selbst nur bedingt fassbar bleibt. Die Übersetzung landet bei Zeichen, Namen und Worten, welche wiederum in wahrscheinlich alles abdeckende Kategorisierungen münden: poetisch, kyriologisch, historisch, symbolisch, hieroglyphisch, ­philosophisch und charakteristisch. Doch selbst die umfassende Kategorisierung scheint die Charakterisierung des Übersetzungsprozesses nicht genügend abgedeckt zu haben. Sie ist nur eine „Art der Übersetzung“ und bedarf der bildlichen Erklärung: „Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgend eine andere, mit der verkehrten Seite von Ta­ apeten führt die peten überein.“154 Das leicht enigmatische „Bild“ der T Übersetzungs­problematik in sich selbst vor. Es ist nicht entscheidbar, ob ex Asia commigrauit, animosque iuuenum ad magna surgentes veluti pestilenti quodam sidere afflauit, simulque corrupta eloquentiae regula stetit & obmutuit. Quis postea ad summam Thucydidis? (Man nennt ihn den Pindar der Geschichtschreiber) quis Hyperidis (der den Busen der Phryne entblösste, um die Richter von seiner guten Sache zu überzeugen) ad famam processit? Ac ne carmen quidem sani coloris enituit; sed omnia, quasi eodem cibo pasta, non potuerunt vsque ad senectutem canescere. PICTVRA quoque non alium exitum fecit, postquam AEGYPTIORVM AVDACIA tam magnae artis COMPENDIARIAM inuenit. [...].“ (Ebd., S. 89-91 [Herv.i.O.]) 152 | „Die eine Metapher ist aus des Grafen von Roscommon Essay on translated verse und Howel’s Lettres; beyde haben dies Gleichnis aus dem Saavedra entlehnt, wo ich nicht irre; die andere (Metapher – Anmerkung M.S.) aus einem der vorzüglichsten Wochenblätter (The Adventurer) entlehnt: Dort werden sie aber ad illus­t rationem (zur Verbrämung des Rockes); hier ad inuolucrum (zum Hemde auf blossem Leibe) gebraucht, wie Euthyphrons Muse unterscheiden lehrt.“ (Ebd., S. 91) 153 | Ebd., S. 87-89. 154 | Ebd., S. 89.

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mit der „verkehrten“ Seite der Tapeten die Rückseite gemeint ist, welche die ­Muster der Frontseite spiegelverkehrt durchscheinen lässt, oder ob die „verkehrte“ Seite als Palimpsest der abzudeckenden Wand fungiert. Wie auch immer, das (Zurück-)„Über-setzen“ von Zeichen in Bilder führt nicht unbedingt zur Klärung der Frage, was Übersetzen ist. Vielmehr scheint die „Tapete“ als „similitudo“ zu „kurz“155, um erhellend für einen Begriff der Übersetzung zu sein. Deshalb erscheint sie als eine Metametapher für das Problem der Übersetzungsbeschreibung, genauer, sie erscheint als ein (metonymisch156) angeordnetes Scheitern einer eindeutigen Antwort. Anstatt das Tapetenbeispiel zu verdeutlichen „setzt“ der Text ins Englische „über“. „And shews the stuff, but not the workman’s skill.“ Zusammengesetzt würde die Stelle auf Deutsch wie folgt klingen: „Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr [...] mit der verkehrten Seite von Tapeten überein,“ „[u]nd zeigt das Material, aber nicht des Handwerkers Kunst“157. Das englische Zitat stammt aus einem Gedicht des Earl of Roscommon und spricht – so die kommentierte Ausgabe von „Aesthetica in Nuce“ von Sven-Aage Jørgensen – über „eine Prosaübersetzung des Horaz“.158 Also doppelt Hamann fröhlich weiter: Vom Deutschen ins Englische und im gleichen Satz von der „Prosaübersetzung des Horaz“ zum „Gedicht des Earl of Roscommon“. Danach fährt er fort zum Bild der Sonnenfinsternis, die durch ein „Gefäss[...] voll Wassers“ verzerrt wird. Die „Über-setzung“ greift nicht nur in mehrfacher Weise auf die Satz- und Zeilenebene ein, sondern verdoppelt die bildliche Sprache. Die Sonnenfinsternis ist schon für sich ein starkes Bild. Dieses wird nun durch den Blick durch das Wasserglas verzerrt. Es scheint so, als führe Hamann die Sprünge über die Setzung – wie sie oft bei Kleist beobachtbar sind – in die komplette Unbestimmbarkeit.159 155 | Siehe zur Metapher als verkürzte „similitudo“: Groddeck, Reden über Rhetorik, S. 255. 156 | An dieser Stelle wäre zu überlegen, ob „Tapete“ nicht nur metaphorischen Charakter hat, sondern als „Metametapher“ auch metonymisch wäre. Die Metapher „Tapete“ führt gleich metonymisch (an sich selbst) das Problem der Übersetzung vor. Das heißt, „Tapete“ partizipiert wörtlich selbst an der Übertragung. 157 | Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, S. 88. 158 | Ebd. 159 | Siehe dazu auch Martin Seils Aufsatz „Wirklichkeit und Wort bei J. G. Hamann“: „Hamanns Auffassung erlaubt es also im Grunde nicht, nach einem ‚Ursprung‘ der Sprache zu fragen. Die Sprache entspringt ja ständig als die Gott-

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Was ist in dieser Zitat- und Beispielwechselsammlung das Original? Würde man mit dem diskursiven Feld in der Zeit und Umgebung Hamanns besser vertraut sein, wäre die Erklärung der Übersetzung vielleicht klarer. Doch so scheint es, als müsse endlos übersetzt werden, vom Paratext (Fußnoten) zum Text, zwischen den unterschiedlichen Drucksetzungen, vom Englischen ins Deutsche usw. Ähnlich wie bei Benjamin wird sich hier – durchaus intendiert – die Textidentität verflüchtigen. Dort wo der Text die Übersetzung anspricht, „performt“ er das Übersetzungsproblem. Gerade bei Hamann ist sich die Forschung dessen bewusst. So schreibt Andreas Kilcher in Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma: „Hamanns Sprache weist performativ vor, was sie thematisiert.“160

1.5.4 Kleist, „le renard“ Um nochmals auf das performative Moment bei Kleist zurückzukommen wird das bemerkenswerte Spiel mit Sprache kurz in der Wiedergabe der Fabel Lafontaines „Les animaux malades de la peste“161 aufgezeigt. Die Fabel geht wie folgt: Es herrscht die Pest im Tierreich und der Löwe fordert ein Opfer, damit der Himmel besänftigt werde. Der Löwe selbst habe viel Schuld durch Tötungen von Schafen, Schäfern und Hunden auf sich geladen, und deswegen sei er bereit zu sterben, falls sich kein größerer Sünder finden lasse. Nach der Wiedergabe in der indirekten Rede und ausschließlich auf Deutsch wechselt er plötzlich die Wiedergabesystematik und fährt wie folgt fort: essprache in der Menschensprache. Sie ist nicht, sie geschieht.“ (Seils, Martin: Wirklichkeit und Wort bei J. G. Hamann, in: Wild, Reiner (Hg.): Johann Georg Hamann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978, S. 314-339) 160 | Kilcher, Andreas: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1998, S. 267. Kilcher sieht Hamanns Projekt in „Aesthetica in nuce“ als ein Projekt der Rehabilitierung der Kabbala: „Die Rehabilitierung der Kabbala, die Hamann anlässlich der Sprachursprungsfrage vorgenommen hat, hat er bereits in der Aesthetica in nuce formuliert, wie schon aus dem Untertitel ersichtlich wird: Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose.“ (Ebd., S. 249 [Herv.i.O.]) 161 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 29-30.

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„‚Sire‘, sagt der Fuchs, der das Ungewitter von sich ableiten will, ‚Sie sind zu großmüthig. Ihr edler Eifer führt Sie zu weit. Was ist es, ein Schaaf erwürgen? Oder einen Hund, diese nichtswürdige Bestie? Und: quant au berger ‘, fährt er fort, denn dies ist der Hauptpunct: ‚on peut dire‘; obschon er noch nicht weiß was? ‚qu’il méritoit tout mal‘; auf gut Glück; und somit ist er verwickelt; ‚étant‘; eine schlechte Phrase, die ihm aber Zeit verschaft: ‚de ces gens là‘, und nun erst findet er den Gedanken, der ihn aus der Noth reißt: ‚qui sur les animaux se font un chimérique empire.‘ Und jetzt beweist er, daß der Esel, der blutdürstige! (der alle Kräuter auffrißt) das zweckmäßigste Opfer sei, worauf Alle über ihn herfallen, und ihn zerreißen. – Ein solches Reden ist ein wahrhaft lautes Denken.“162

Die Wiedergabe der Fabel ist mehrstufig. Stark verkürzt wird eingeleitet (Kleist gibt in vier verhältnismäßig kurzen Sätzen wieder, was im französischen Original 64 Zeilen braucht163) und das meist in der indirekten Rede und auf Deutsch. Dann folgt die hier zitierte Stelle, bei welcher einerseits die Gleichzeitigkeit des Französischen und Deutschen, anderseits die kommentierende Funktion des Deutschen auffällig ist. An folgenden Beispielen ist die jeweilige Funktion zu sehen: „‚[...] font un chimérique empire‘. Und jetzt beweist er, daß der Esel, der blutdürstige! (der alle Kräuter auffrißt)“

An dieser Stelle wird unvermittelt vom französischen Original in die deutsche Zusammenfassung gewechselt. Und es wird das französische Original auf Deutsch kommentiert: „,étant‘; eine schlechte Phrase“

Gerade letzteres Beispiel erscheint sehr gewagt. Es erschließt sich nicht, wieso „,étant‘“ als Füller dienen soll, um in der Verfertigung die Gedanken zu ordnen, da „,étant‘“ im Originaltext stimmig in den Zusammenhang passt. Berücksichtigt man Lafontaines Fabel im Original, fällt zudem die massive Verkürzung zum Schluss hin auf. „Und jetzt beweist 162 | Ebd., S. 30 (Herv.i.O.). 163 | Nach der Fassung von Marc Fumaroli von der Académie française: La Fontaine, Jean de: Les animaux malades de la peste, in: La Fontaine. Fables, hg. von Marc Fumaroli, Bd. 2, Paris: Le Livre de Poche 1985, S. 376.

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er“ ist eine bemerkenswerte Verkürzung des Geschehens, das ja eigentlich mit der Selbstbezeichnug des Esels endet.164 So kann darüber spekuliert werden, ob Kleist mit der Übersetzung, selbst ein „chimérique empire [...]“ baut. Die „Über-setzung“ der Fabel in seinen Text, in sein Prinzip der „Verfertigung“ ist wiederum ein „Trugbild“. Er erklärt, dem schlauen Fuchs gleich, mit einem fragwürdigen Beispiel einer stark verkürzt wiedergegebenen Fabel den Lesenden sein Prinzip. Doch um eine „hohe Wiedergabetreue“ geht es dabei ja nicht. „Verfertigung“ ist nicht nur Reihung und Wiederholung, sondern auch

164  |  Nach „un chimérique empire [...]“ lässt Kleist somit folgende Stelle weg, also jene Stelle die schlicht mit: „Und jetzt beweist er, daß der Esel, der blutdürstige! (der alle Kräuter auffrißt) das zweckmäßigste Opfer sei, worauf Alle über ihn herfallen, und ihn zerreißen [...]“ zusammengefasst wird. Die Stelle auf Französisch: „Ainsi dit le renard; et flatteurs d’applaudir.             On n’osa trop approfondir Du tigre, ni de l’ours, ni des autres puissances,             Les moins pardonnables offenses. Tous les gens querelleurs, jusqu’aux simples mâtins, Au dire de chacun, étaient de petits saints. L’âne vint à son tour, et dit: J’ai souvenance             Qu’en un pré de moines passant, La faim, l’occasion, l’herbe tendre, et, je pense             Quelque diable aussi me poussant, Je tondis de ce pré la largeur de ma langue. Je n’en avais nul droit, puisqu‘il faut parler net. À ces mots on cria haro sur le baudet. Un loup, quelque peu clerc prouva par sa harangue Qu’il fallait dévouer ce maudit animal, Ce pelé, ce galeux, d’où venait tout le mal. Sa peccadille fut jugée un cas pendable. Manger l’herbe d‘autrui ! quel crime abominable !             Rien que la mort n‘était capable D’expier son forfait: on le lui fit bien voir. Selon que vous serez puissant ou misérable, Les jugements de cour vous rendront blanc ou noir.“ (La Fontaine, Les animaux malades de la peste, S. 378-379)

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metaphorische Übertragung. Kleist springt von Beispiel zu Beispiel, von Bild zu Bild, wobei die einzelnen „Bilder“, wie dasjenige der erläuternden Fabel, doch recht „chimärenhaft“ bleiben. Somit ist Kleists Übersetzung ein endloses tropisches Springen.

1.6 W issen -„ shif ten “ Anfangen, Adressieren, Unterbrechen, Wiederholen und Übersetzen haben einen ähnlichen Effekt: Sie verhandeln sprachliche Verfahren. Nun eröffnet sich eine weitere Dimension. Kleist verfertigt im Beispielwechsel nicht nur Sprache, sondern auch naturwissenschaftliches Wissen. Die folgenden Beispiele aus „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ zeigen den naturwissenschaftlich interessierten Kleist. Das erste Beispiel gelangte bisher nicht in den Fokus der Kleist-Forschung: „Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen neben einander fort, und die Gemüthsacten für Eins und das Andere, congruiren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Axe.“165

1.6.1 Von der Translation zur Transmission Mit „Übersetzen“ bezeichnet die deutsche Sprache beides: Übertragung von Sprache zu Sprache und die beschriebene Getriebefunktion. Im Englischen gibt es die Unterscheidung zwischen „translation“ für die Sprachübersetzung und „transmission“ für die Getriebeübersetzung. Was Kleist in seiner „allmähligen“ Verfertigung vollführt, zieht nun auch in die Analyse ein: Erst durch die Übersetzung, beispielsweise in eine Fremdsprache, wird klar, welche Übersetzungsverhältnisse Kleist hier schafft. Mit „translation“ und „transmission“ wird nun das ultimative Übersetzungsgeschehen genauer betrachtet. Sprache und Geist verhalten sich zueinander wie zwei unterschied­ liche Räder an einer Achse. Beide drehen dadurch unterschiedlich schnell, jedoch immer in dieselbe Richtung. Es wird also das Sprache-Geist-Ver165 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 30.

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hältnis übersetzt (translation) in ein physikalisches Übersetzungsverhältnis (transmission). Das hieße nun, dass Kleist übersetzt – springt, um das Bild der Sprungtrope nochmals zu bemühen – in eine Übersetzung.166 Der Sprung geht nicht nur von Bild zu Bild, sondern auch vom Trivium zum Quadrivium: von der sprachlichen Logik zur Mathematik. Und das alles geschieht durch die Verfertigung in der Sprache. Doch damit nicht genug. Die Übertragung von der geistigen in die physikalische Welt ist nicht die einzige. So spricht Kleist auch von „Fessel“ und „Hemmschuh“. Die Sprache „reiht“ sich somit bildlich weiter: Sie ist keine „Fessel“, kein „Hemmschuh“, sondern ein „Rad“ an „seiner Axe“. Die Sprache ist nicht einfach Sprache (sondern ein „Rad“) und sie ist gleichzeitig jene, die beispielsweise dazu befähigt, das Übersetzungsbeispiel (übersetzend) zu vermitteln. Und darum geht es hier: Der Einbezug der Physik hat weitaus weniger mit Kleists naturwissenschaftlichen Interessen zu tun, sondern gibt sich nur als ein weiteres Beispiel der „Verfertigung“ zu lesen. Naturwissenschaftliche Beispiele als Basis für verschiedene textästhetische Argumentationslinien gibt es einige in Kleists Textkorpus. So das schon behandelte „Marionettentheater“, „Aëronautik“167 – als Fortsetzungstext in zwei Folgen in den Berliner Abendblättern –, „Nützliche Erfindungen [I]. Entwurf einer Bombenpost“168 und die Fortsetzungsgeschichte in fünf Folgen: „Allerneuster Erziehungsplan“169 – wiederum publiziert in den Berliner Abendblättern. Alle diese Texte handeln von mathematischen Berechnungen, physikalischen Entdeckungen, elektrischen Experimenten und kommunikationstechnischen Erfindungen. In „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ finden sich zwei relevante Stellen: Die genannte mit dem Getriebe und jene vielzitierte Stelle, in der Kleist die Rede mit elektrischer Ladung vergleicht. 166 | Siehe dazu auch: Theisen, ‚Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es gibt nichts anderes‘, S. 734-736. 167 | „Aëronautik“ ist eigentlich der Versuch einer (mathematisch-physikalisch fundierten) Verteidigungsschrift gegen die Kritik am Kleist’schen Text „Über die gestrige Luftschiffart des Herrn Claudius“ in den Berliner Abendblättern: Kleist, Heinrich von: Aëronautik (I-II), BKA, II/7, S. 129-135. 168 | Kleist, Heinrich von: Nützliche Erfindungen [I]. Entwurf einer Bombenpost, in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, S. 385-387. 169 | Kleist, Heinrich von: Allerneuster Erziehungsplan (I-V), BKA, II/7 (I. S. 128129, II. S. 133-134, III. S. 138-139, IV. S. 177-179, V. S. 182-185).

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1.6.2 Elektrotechnik Kleists Interesse an Naturwissenschaften ist bekannt. Er studierte Kameralistik, doch „de facto besuchte er jedoch v. a. natur- und geschichtswissenschaftliche Lehrveranstaltungen [...]“170, unter anderen die Experimentalphysik-Vorlesung von Christian Ernst Wünsch 1799 in Frankfurt Oder.171 Außerdem hatte er auch „im Zusammenhang mit amtlichen Geschäften mit physikalischen Fachfragen“172 zu tun. Dennoch war Kleist kein „Naturwissenschaftler im professionellen Sinne und im Gegensatz etwa zu Goethe auch kein forschender Autodidakt“.173 Seine Ausflüge in die Naturwissenschaften sind an einigen Stellen trotzdem bemerkenswert. So zum Beispiel dort, wo er auf die elektrische Ladung und die Leidener Flasche eingeht. Die Stelle ist verbunden mit dem „Donnerkeil“-Beispiel. „[...] nach einem ähnlichen Gesetz, nach welchem in einem Körper, der von dem electrischen Zustand Null ist, wenn er in eines electrisirten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich die entgegengesetzte Electricität erweckt wird. Und wie in dem electrisirten dadurch, nach einer Wechselwirkung, der ihm inwohnende Electricitäts-Grad wieder verstärkt wird, so gieng unseres Redners Muth, bei der Vernichtung seines Gegners zur verwegensten Begeisterung über. Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte. Man liest, daß Mirabeau, sobald der Ceremonienmeister sich entfernt hatte, aufstand, und vorschlug: 1) sich sogleich als Nationalversammlung, und 2) als unverletzlich, zu constituiren. Denn dadurch, daß er sich, einer Kleistischen Flasche gleich, entladen hatte, war er nun wieder neutral geworden, und gab, von 170 | Specht, Physik als Kunst, S. 314 (Herv.i.O.). 171 | Van Beek, Viola: Experimentelle Ästhetik bei Kleist? „Plötzliche Wendungen“, „drängende Umstände“ und „sonderbare Erscheinungen“ in Heinrich von Kleists Erzählungen, in: Gamper, Michael/Wernli, Martina/Zimmer, Jörg (Hg.): „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“ Experiment und Literatur II: 17901890, Göttingen: Wallstein 2010, S. 103; Gamper, Michael: Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870, Göttingen: Wallstein 2009, S. 203. 172 | Gamper, Elektropoetologie, S. 203. 173 | Specht, Physik als Kunst, S. 309; siehe auch: Van Beek, Experimentelle Ästhetik bei Kleist?, S. 103.

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der Verwegenheit zurückgekehrt, plötzlich der Furcht vor dem Chatelet, und der Vorsicht, Raum. –“174

Die Stelle schließt mit einem Gedankenstrich, gleich nach dem Wort „Raum“ – ein weiteres Beispiel von Verfertigung im Text: Nach „Raum“ markiert tatsächlich ein Gedankenstrich den Raum zwischen dem zitierten und dem nächsten Beispiel. Auffällig ist, dass Kleist die Übergänge der Beispiele kaum graphisch markiert, nur gerade hier, mit einem Gedankenstrich. Der Gedankenstrich selbst ist im gesamten Text nur selten anzutreffen und wird nur als Graphem zur Markierung der Rede des Grafen Mirabeaus verwendet. Des Weiteren fällt auf, dass im Beispiel selbst von der Elektrizität zur (unbewussten) Physiologie der „Oberlippe“ und zum „zweideutige[n] Spiel an der Manschette“ gewechselt wird. Danach wird zurückgewechselt zu Mirabeau und dann nochmals zurück zur Elektrizität, nämlich zum Kondensator, zur „Kleistischen Flasche“. Doch selbst danach wird nochmals verglichen, mit dem nun ängstlichen Mirabeau. Er will schließlich nicht im großen Kastell einsitzen. Gerade hier eröffnet sich noch eine weitere Verbindung von Sprache und Physik: Mit „Chatelet“ könnte nicht nur das berüchtigte Gefängnis von Paris gemeint sein, sondern womöglich auch Émilie du Châtelet, die sich in der Physik durch ihre Arbeiten zur Kinetik einen Namen gemacht hat. Auch wenn dies mangels Sekundärreferenzen zu genannter Stelle nicht abschließend zu klären ist, bleibt die „Spannung“ auffällig. Die Beispielwechsel und die damit intendierte Dynamik im Text entspricht laut Michael Gamper den „elektrischen Kausalitäten“175. Somit verschränkt Kleist mehrere Gleichungen in dieser kurzen Textpassage. Erstens, der verkürzte Vergleich: Kleist springt von der Redesituation Mirabeaus in die Bildlichkeit der Elektrizität („Körper“, „Flaschen“). Zweitens, die Ähnlichkeit: Das „Gesetz“ der Rede wird mit dem „ähnlichen Gesetz“ der Elek­ trizität in ein Verhältnis gesetzt. Dazu gehört sicherlich auch der Begriff des „Körpers“. Drittens, ein Pars-pro-toto-Verhältnis: Es ist „das Zucken einer Oberlippe [...], oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte“. Somit struk174 | Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 29. 175 | Gamper, Elektropoetologie, S. 208.

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turiert die physikalische Welt der Elektrizität weitaus weniger die Verfertigung, sondern die Rhetorizität der Beispielanwendung (Metapher, Metonymie, Synekdoche). Dieser Standpunkt wird – wenn auch in anderer Weise – durch die Untersuchung zu Kleists Elektrizität von Benjamin Specht in Physik als Kunst bestätigt: „Auch wenn Kleist die Elektrizitätsforschung somit in den identischen Kontexten aufgreift, differiert sein Interesse an diesem Naturphänomen sowohl im Status als auch im Gehalt deutlich von seinen Zeitgenossen [...]. Sein Rückgriff auf die Elektrizität verbleibt in der Metapher und hat seine metonymische Komponente weitgehend eingebüßt, auch wenn sie zuweilen noch angespielt wird.“176

Specht bleibt im „Bild“ der Rhetorik, indem er den metaphorischen Charakter des Vergleichs betont. Das ist sicherlich richtig, allerdings scheint der Zugang zur Verfertigung alleine über die Elektrizität fraglich. Die Integration eines naturwissenschaftlichen Diskurses könnte schlicht einzig der (rhetorischen) Strategie des Textes dienen. Das bedeutet wiederum nicht, dass der Zugang über die Naturwissenschaft gänzlich falsch ist. Denn Kleists Texte scheinen, wie Stefan Rieger in Kybernetische Anthropologie belegt, gerade Naturwissenschaftler beeindruckt zu haben. Rieger nennt als Beispiel die Arbeit des „Biologen, Neurologen und Psychologen Frederik J.J. Buytendijk über Die Anmut, die des Neurologen Paul Christian Vom Wertbewußtsein im Tun. Ein Beitrag zur Psychophysik der Willkürbewegung und die des Arztes und Phantomschmerzenforschers Herbert Plügge Grazie und Anmut. Ein biologischer Exkurs über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist.“177 Erstaunlicherweise begeistern sich die Naturwissenschaftler nicht so sehr für die Textbeispiele zur Elektrizität oder zu explosiven Erfindungen („Nütz­liche Erfindungen [I]. Entwurf einer Bombenpost“), sondern für das „Marionettentheater“. Dass Kleist die darin vorgebrachten mathematischen Grundlagen zu verstehen schien, zeigt schon Wolf Kittler in seinem Aufsatz „Falling after the Fall: The Analysis of the Infinite in Kleist’s Marionette Theater“. Darin wendet er sich gegen die – zum Beispiel von Paul de Man vorgebrachte – Meinung, dass Kleist ein „lousy ­mathematician“ 176 | Specht, Physik als Kunst, S. 310. 177 | Rieger, Stefan: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 384 (Herv.i.O.).

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war.178 Kittler führt danach die Argumentation Kleists über die Bewegungslinien und den Schwerpunkt der Marionetten mit Kästners mathematischen Berechnungen eng. Dabei entdeckt er nicht nur die Präzision in Kleists Aussagen über die Mathematik, sondern schließt auch mit der Empfehlung, sich statt um Kleists philosophische „Krisen“ sich besser um die – von der Mathematik her argumentierte – „Unendlichkeit“ zu kümmern: „So if you ask about Kleist’s ‚modernity‘, forget the legendary ‚Kant crisis‘, which I, for one, have always thought was being overrated, and study the ‚analysis of the infinite‘.“179 Auch wenn die Analyse der naturwissenschaftlichen Beispiele in Kleists Texten reizvoll ist, scheint es wenig sinnvoll, daraus grundsätzliche Erkenntnisse über die physikalische Forschung jener Zeit zu gewinnen. Dazu gibt es zu wenig konkrete Hinweise in Kleists Texten. Vielmehr droht die Gefahr, dass jene wissenschaftshistorisch orientierende Literaturwissenschaft die autorzentrierte Lektüre wieder einführt. Statt die Textverfahren unter die Lupe zu nehmen, wird Kleists Leben eine Vorlage für die Interpretation der Texte. Ein solches Vorgehen ist nicht zwingend falsch. Aber daraus lässt sich relativ wenig gewinnen, was die Verfertigung in Kleists Texten erklären würde. Die Beispiele aus der Elektrizität sind Beispiele unter anderen. Der Text funktioniert eben gerade nicht als Kondensator, als Verdichter, sondern – wenn man schon die elektrische Welt bemühen will – als Serienschaltung. Sein Inhalt „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ verdichtet zu keinem Ende, sondern verliert sich in der Serie. In diesem Sinne ist Verfertigung keine Bewegung, die Wissen schafft, sondern Wissen „shiftet“, indem sie ihre eigene Verfertigung aufzeigt.

1.7 F a zit Am Anfang wurde unter anderem die Frage diskutiert, ob Kleists Text als ein theoretischer oder literarischer Text zu beschreiben sei. Die Antwort lautet: Weder noch, denn Kleists Text „redet“ sich in eine kategoriale Un178 | Kittler, Wolf: Falling after the Fall: The Analysis of the Infinite in Kleist’s Marionette Theater, in: Fischer, Bernd/Mehigan, Tim (Hg.): Heinrich von Kleist and Modernity, Rochester (NY): Camden House 2011, S. 279. 179 | Ebd., S. 292 (Herv.i.O.).

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entscheidbarkeit, da er beschreibt, was im Moment seines Schreibens passiert. In diesem verfertigenden Verfahren wird auch das Anfangen problematisch, weil die „Verfertigung“ so arrangiert ist, dass sie schon vor dem ersten Wort begonnen hätte. Dasselbe gilt übrigens auch für den Schluss, der ironischerweise mit „(Die Fortsetzung folgt.)“ markiert wird; ein Versprechen, das nie eingelöst wird. Somit ist auch das Ende des Textes problematisch. Um jedoch das Prinzip der Verfertigung zugänglich zu machen, braucht es Kommunikationspartner. Die Verfertigung ist kein Monolog. Dennoch sind die meisten Kommunikationspartner imaginiert, oder sie bleiben zumindest stumm. Die Verfertigung sollte sie sich an jemanden wenden. Adressieren scheint also eine wichtige Funktion zu übernehmen, um die Verfertigung in Gang zu bringen und außerdem den Eindruck einer hermeneutischen Exegese zu erwecken. Dass dabei eigentlich nirgends wirklich kommuniziert wird, ist geschickt durch hypothetische Situationen und imaginierte Kommunikationspartner verdeckt. Kleists Texte sind auch ein Quell plötzlicher Begebenheiten. Plötz­ liche Wendungen werden nicht nur in den Beispielen wiedergegeben, sondern sie strukturieren auch die Beispielreihung. „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ – um ein weiteres und sehr offensichtliches Beispiel aus Kleists Schaffen hinzuzufügen – fällt einerseits in Bezug auf die unsichere Quellenlage auf, denn es wird nicht klar, ob nun Geschichte als history oder Geschichte als story wiedergegeben wird. Andererseits erweist sich „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ als offensichtliches Beispiel von plötzlichem Unterbrechen. Beispielerzählungen werden unvermittelt abgebrochen und auf der Ebene der Narration prallt Erzähltes und Erzählen ineinander. Dieser Zusammenprall führt zur narrativen Unsicherheit: Wer ist an der Erzählung im Moment des Erzählens beteiligt? Die Reihung zeigt es: Die Beispiele wiederholen in ihrer Anordnung als Serie, sozusagen als „syntaktischer Parallelismus“180, das i­mmergleiche Argument. Wiederholen dient dabei dazu, das Verfertigungs-Prinzip zu untermauern, weil sich das Wiederholende geschickt von Beispiel zu Beispiel maskiert. Effekt dieser Maskierung ist die Tatsache, dass die Wiederholung des immergleichen Arguments nicht wirklich auffällt. Denn gerade dann, wenn geschrieben steht, jetzt endlich zur eigentlichen Sache zurückzukehren, bleibt dieser Schritt aus. Mehr noch: Er wird zugleich 180 | Siehe dazu: Groddeck, Wiederholen, S. 159.

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„maskiert“, indem ein weiteres Beispiel folgt, was wiederum verdrängen lässt, dass eben gerade nicht zur Sache zurückgekehrt worden ist. Sehr gut lässt sich dieser Effekt auch in „Über das Marionettentheater“ beobachten, wo die Übergänge zwischen den argumentativen Wiederholungen durch Gelächter markiert sind. Wie kommt Kleist von Beispiel zu Beispiel? Sein Prinzip heißt Über­ setzen. Jede Übersetzung zeigt sich als Wiederholung, die das Wiederholte als ein Singuläres problematisch macht. Somit ist das Wiederholende dem Wiederholten ebenbürtig. Dabei greift Kleist auf ähnliche Verfahren wie Walter Benjamin in „Die Aufgabe des Übersetzers“ zurück. Die Metapher, um die Übersetzung zu klären – im Falle von Benjamin wäre dies die des zerbrochenen Krugs –, findet sich in der Satzstruktur wieder. Das heißt, das Bild – stellvertretend für die Übersetzung – wird im Satzbau wiederholt. Dasselbe Prinzip ist auch in der Geschichte der Literatur zu finden und vielleicht am prominentesten in Johann Georg Hamanns „Aesthetica in nuce“. Das enigmatische „Bild“ der Tapeten, welches für die Übersetzung steht, führt somit die Übersetzungsproblematik in sich selbst vor. Es ist keineswegs klar, wohin die selbstangewandte Übersetzung führt. „Verfertigung“ ist nicht nur Reihung und Wiederholung, sondern auch metaphorische Übertragung. Kleist springt von Beispiel zu Beispiel, von Bild zu Bild, wobei die einzelnen „Bilder“ doch recht „chimärenhaft“ bleiben. Auch wenn Kleists Bezüge zum naturwissenschaftlichen Diskurs je­ner Zeit anhand einiger Texte – insbesondere anhand „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und „Über das Marionettentheater“ – aufgezeigt werden können, tanzen die physikalischen Beispiele über Mechanik und Elektrizität in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ nicht aus der Reihe. Denn sie bilden keine Supertheorie der Verfertigung. Da sie selbst sprachlich verfasst sind, nehmen sie keinen Standpunkt außerhalb des Textes ein. Die naturwissenschaftlichen Beispiele stabilisieren nicht das Wissen jener Zeit. Vielmehr ordnet sich das Wissen der Verfertigung unter: Es entsteht ein Wissen-shiften, indem die eigene Verfertigung aufgezeigt wird.

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2. Verhandeln – Kafka 2.1 D as V erfahren , B enjamins B lüte und „G ot t l achte “. E ine E inführung I. Präambel Der Rechtswissenschaftler Gunther Teubner erzählt in Recht als autopoietisches System aus dem Traktat „Baba Mezi’a 59b“ des Babylonischen Talmuds: „Als die Rabbiner in der Synagoge über eine Rechtsfrage des Talmud keine Einigkeit erzielen konnten, berief sich Rabbi Eliezer, dessen umfassend und lege artis begründete Rechtsmeinung von der Mehrheit nicht geteilt wurde, darauf, daß zum Beweis der Richtigkeit seiner Auffassung der Baum draußen sich um ein Stück versetzen werde. Als der Baum sich tatsächlich versetzte, blieben die anderen Rabbiner unbeeindruckt. Daraufhin kündigte er an, daß das Wasser rückwärts fließen und die Mauern der Synagoge sich biegen werden. Doch auch als dies geschah, ließen sich die Rabbiner nicht beeindrucken. Schließlich berief er sich darauf, daß, wenn er recht habe, der Himmel es beweisen werde. Als tatsächlich die Himmlische Stimme Eliezers Rechtsstandpunkt bestätigte, schüttelten die Rabbiner den Kopf und sprachen: ‚Wir achten nicht auf eine Himmlische Stimme, denn Du selbst hast am Berg Sinai in die Thora geschrieben: ‚Der Mehrheit muß man sich beugen.‘ Und Gott lachte und sprach: ‚Meine Söhne haben mich geschlagen, meine Söhne haben mich geschlagen.‘“1

Was wie eine Präambel dem Kapitel voransteht, ist eine Form von Selbstverhandlung. Verhandelt wird dabei nicht ein Inhalt, denn der Inhalt 1 | Teubner, Gunther: Recht als autopoietisches System, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 7.

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der Rechtsmeinung ist unbekannt, sondern das Verfahren der Rechtsgeltung. Obwohl Rabbi Eliezer zur Bestätigung seines rechtlichen Standpunktes mächtige Beweise auf bietet, scheitert er. Die Rabbiner lassen sich nicht beirren, auch von Gottes Stimme nicht. Denn dieser habe selbst „in die Thora geschrieben: ‚Der Mehrheit muss man sich beugen.‘“ Die Gesetze sind so fundamental, dass sie selbst ihren Verfasser, Gottes Stimme, unterwerfen. Die Stimme gebietet nachträglich gegen sich selbst. Das heißt: Das göttliche Gesetz gilt auch für Gott. Oder nochmals anders gesagt: Das göttliche Gesetz ist umfassender als die göttliche Weisheit. Vielleicht ist es jedoch gerade die göttliche Weisheit, die besagt, dass das göttliche Gesetz umfassender ist als die göttliche Weisheit. Auch wenn dies abschließend nicht zu klären ist, weil – einer Möbiusschleife ähnlich – keinem Standpunkt eine basale Entscheidungskraft zukommt, gibt die Frage einen Einblick in die Problematik der Selbstverhandlung. Gott hat nicht recht, wenn er sagt: „Meine Söhne haben mich geschlagen, meine Söhne haben mich geschlagen.“ Die Söhne befolgen nur Gottes Gesetz. Sie schlugen ihn nicht, sondern Gott sich selbst. Das Gesetz hat keine externe Bestimmung, selbst die gesetzgründende Instanz hat sich den internen Bestimmungen zu unterwerfen. Das Recht entspringt, wie Teubner sagt, „der Willkür seiner eigenen Positivität [...]. Rechtsgeltung kann nicht von außen importiert werden, sie kann nur innerhalb des Rechts hergestellt werden.“2 Rechtsgeltung wird in den Rechtsschriften durch verschiedene Mittel abgesichert. Eines davon ist die Präambel, welche die Geltung des Rechts absichert. Dies geschieht meist durch eine Ursprungsfiktion. Die Präambeln erzählen das Recht und vor allem seine Geltung herbei. In Anlehnung an Jacques Derridas Text „Préjugés“, spricht Thomas Weitin von Präambeln als „Textschranken“: „Sie bezeichnen den Zugang zum Gesetz und verschließen ihn zugleich für das, was nur ihnen vorbehalten ist: das Erzählen vom Ursprung des Rechts. Kaf kas „Vor dem Gesetz“ nimmt den Platz einer solchen Präambel ein.“3

2 | Ebd., S. 8. 3 | Weitin, Thomas: Recht und Literatur, Münster: Aschendorff 2010, S. 73-74 (Herv.i.O.).

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II. Verfahren zweiter Ordnung Walter Benjamin schreibt in seinem Essay „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“ zu „Vor dem Gesetz“ Folgendes: „Man denke an die Parabel ‚Vor dem Gesetz‘. Der Leser, der ihr im ‚Landarzt‘ begegnete, stieß vielleicht auf die wolkige Stelle in ihrem Innern. Aber hätte er die nichtendenwollende Reihe von Erwägungen angestellt, die diesem Gleichnis dort entspringen, wo Kafka seine Auslegung unternimmt? Das geschieht durch den Geistlichen im ‚Prozeß‘ – und zwar an einer so ausgezeichneten Stelle, daß man vermuten könnte, der Roman sei nichts als die entfaltete Parabel. Das Wort ‚entfaltet‘ ist aber doppelsinnig. Entfaltet sich die Knospe zur Blüte, so entfaltet sich das aus Papier gekniffte Boot, das man Kindern zu machen beibringt, zum glatten Blatt. Und diese zweite Art ,Entfaltung‘ ist der Parabel eigentlich angemessen, des Lesers Vergnügen, sie zu glätten, so daß ihre Bedeutung auf der flachen Hand liegt. Kafkas Parabeln entfalten sich aber im ersten Sinne, nämlich wie die Knospe zur Blüte wird.“4

Was heißt „im ersten Sinne, [...] wie die Knospe zur Blüte wird“? So klar die erste Erklärung zur Parabel ist – eine Parabel, welche den Lesenden die Bedeutung zugänglich macht – so unklar ist die zweite Erklärung. Was bedeutet es für den Text Kafkas, wenn sich die Parabel für die Rezipienten entfaltet wie die Knospe zur Blüte? Der Verdacht kommt auf, dass es Benjamin nicht um eine Bedeutungserklärung, sondern um eine Erklärung des Verfahrens (zur Bedeutung) geht. Benjamin „glättet“ die Bedeutung der Parabel nicht. Er adaptiert das Verfahren der Parabel. Das Verfahren liegt in der Erklärung der Parabel durch eine weitere Parabel („Knospe zur Blüte“). In diesem Sinne doppelt Benjamin das Verfahren. Das heißt, er verhandelt Kafkas Verfahren und adaptiert es auf seine KafkaLektüre. Aber was ist Kafkas Verfahren? Ein Beispiel aus der historisch-kritischen Ausgabe von Franz Kafkas Romanfragment Der Process soll das Verfahren Kafkas erklären. Im Dom-Kapitel ist folgender Satz zu lesen:

4 | Benjamin, Walter: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: Ders.: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hg. von Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 20 (Herv.i.O.).

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Abbildung 2

Quelle: Kafka, Franz: Der Process, Historisch-kritische Ausgabe (FKA) (Heft „Im Dom“), hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1997, S. 38

„Das Verfahren“ ist gestrichen, stattdessen steht: „Urteil“. Doch diese Lesart wird sogleich durch den folgenden Satz widerlegt. Dieser liest sich im wahrsten Sinn des Wortes gegen den Strich. Was die Streichung verlauten könnte – „Urteil“ statt „Verfahren“ –, wird in diesem Satz korrigiert: „[D] as Verfahren geht allmählich ins Urteil über.“ Das weckt Erinnerungen an Kleist, denn auch sein verfertigendes Verfahren ist „allmählig“5. Zur Erinnerung: In „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ist das Erzählen ein Beispiel für das, wovon Kleist spricht. Er beschreibt, was im Moment des Beschreibens passiert. Kleists Verfertigen besitzt gerade in seiner Allmählich- und Unabschließbarkeit sowie in der Fokussierung auf das Funktionieren Charakteristika, die im 20. Jahrhundert und insbesondere bei Niklas Luhmann – darauf wird in Teil 3 dieser Studie zurückzukommen sein – mit dem Begriff des Verfahrens in Verbindung gebracht werden. „Allmählig“ stammt aus dem Mittelhochdeutschen von „almechlich“, „allgemächlich“ und betont die Langsamkeit.6 Und an diesem Punkt treffen sich Kleist und Kafka: in der Langsamkeit oder dem Sukzessiven des Verfertigens/Verfahrens in ihrem Schreiben. Weder hören die Gedanken in Kleists Essays auf sich zu verfertigen noch geht das Verfahren bei Kafka in ein Urteil über. Insofern liest sich der Satz aus Der Process geradezu tautologisch, denn der Satz ist selbst ein Teil des Verfahrens. Die Streichungen und Ergänzungen im Schreiben 5 | In der Brandenburger Ausgabe heißt es „allmählige Verfertigung“ mit dem Hinweis auf den früheren, von Kleist gestrichenen Titel: Ueber Die allmähligen Gedan­ ken. Beim Reden. In: Kleist, Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, BKA, II/9, S. 27. 6 | Kluge, Friedrich (Hg.): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl., Berlin/New York (NY): de Gruyter 2002, S. 432.

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Kafkas lassen kaum ein anderes Urteil zu. Es wird aufzuzeigen sein, dass sich an verschiedenen Stellen im Process das Verfahren doppelt, übrigens ähnlich wie bei Benjamin. Das heißt, was im Process als Verfahren angesprochen wird, ist selbst ein Teil des Schreibverfahrens Kafkas. Es entsteht ein Verfahren zweiter Ordnung.

III. Schrift Franz Kafka schreibt in dem Romanfragment Der Process im Dom-Kapitel Folgendes: Abbildung 3

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 49

Das Verfahren der Schrift wird dann sichtbar, wenn man die zitierte Textstelle in der historisch-kritischen Ausgabe liest. Hier erst wird die Dynamik des Textes erfassbar. Roland Reuß, Mitherausgeber der historisch-kritischen Ausgabe, schreibt: „Kaf kas Roman ist [...] in Mikro- und Makrostruktur Fragment geblieben – die Handschrift fügt sich nicht dem Leitbild eines linear fortlaufenden Prosatextes, wie es dem Medium und der Materialität des Buches entspräche.“7 Es eröffnen sich neue (Be-) Deutungsdimensionen, wenn die Schrift miteinbezogen wird. Als T. (als Türhüter) fungiert auch der redigierende Autor, der nicht ein „Pedant“ „ist“, sondern „die Genauigkeit zu lieben“ „scheint“. Zwischen „ist“ und „scheint“ besteht ein Unterschied – schließlich entstehen diese Sätze im Rahmen der Auslegung von „Vor dem Gesetz“ und dabei ist auf die „Ge7 | Reuß, Roland: Zur kritischen Edition von Der Process im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe, in: Kafka, Franz: Der Process, FKA (Heft 1), S. 10.

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nauigkeit“ zu achten. Außerdem verlieren sich Graphen gerade in der Mitte von „Genauigkeit“, so dass gerade „Genauigkeit“ nachträglich nicht mehr „genau“ rekonstruiert werden kann. Es scheint, als wäre das Verhandeln in der Schrift Der Process in die haptische Schrift eingeschrieben. Die „Kopräsenz verschiedener Schreibpfade“8 und das Schreibwerkzeug9 selbst sind beteiligt an der Process-Verhandlung. So schreibt der Stift am Process mit. Und Der Process ist in die Schrift integriert. Präambel, Verfahren zweiter Ordnung, Schrift: Es geht in diesem Kapitel einerseits um das Domkapitel in Kafkas Der Process, andererseits um eine Vervielfachung des Prozessverfahrens. Der Process beschreibt die Geschichte eines Verfahrens, welches in der Exekution K.s einen (vermeintlichen) Abschluss findet. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern Der Process auch ein Schriftverfahren beschreibt, welches beteiligt ist an der Verhandlung. Zudem stellt sich die Frage, ob nicht auch ein Narrationsverfahren im Spiel ist, welches im Sinne einer Mise en abyme verschiedene narrative Ebenen miteinander verstrickt, quasi als Verfahren zweiter Ordnung. Es gilt zu beweisen, dass sich die narrative Struktur verdoppelt oder sogar verdreifacht, denn auf der (Dom-)Kapitel­ebene und der Romanebene wird das narrative Muster der Parabel „Vor dem Gesetz“ wiederholt. Zuletzt stellt sich die Frage, ob diese narrativen Verstrickungen nicht auch gleich paradigmatisch die Problematik von Rechtsgeltung verhandeln. Wenn man davon ausgeht, dass das Recht ein autopoietisches System ist, dann ist die Selbstsetzung von Recht in der Struktur des Romanfragments angelegt. Sie zeigt sich konkret im Verhältnis von „Vor dem Gesetz“ und Der Process. Dabei funktioniert die Parabel, die sinnigerweise „Vor dem Gesetz“ heißt, wie eine Präambel für den gesamten Process. Diese Fragen und Feststellungen sollen folgend in den Kapiteln „Präambel“, „Verfahren zweiter Ordnung“ und „Schrift“ am Beispiel des Dom-Kapitels verhandelt werden. Dabei wird auch auf Literatur zurück8 | Ebd., S. 23. 9 | So könnte in Anlehnung an Rüdiger Campe und Martin Stingelin auch von Schreibszene gesprochen werden. Campe, Rüdiger: Die Schreibszene. Schreiben, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 759-772; Stingelin, Martin: ‚Schreiben‘. Einleitung, in: Ders. (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München: Fink 2004, S. 7-21.

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gegriffen, die sich in ihrer Fokussierung auf Recht und auf Schrift zumindest teilweise am Beispiel von Der Process orientiert.10

2.2 P r ä ambel 11 2.2.1 Rechtsver weigerungsverbot Bevor dem Gesetz eine alles umfassende Reichweite in Kafkas Text zugestanden werden kann, braucht es zunächst einige Erklärungen zu den Mechanismen des Rechts. Die 2008 verstorbene Rechtshistorikerin Marie Theres Fögen zeichnet in ihrem Aufsatz „Rechtsverweigerungsverbot. Anmerkungen über eine Selbstverständlichkeit“ die Geschichte des Rechtsverweigerungsverbots auf. Diese Geschichte ist zunächst an 10 | Wie zum Beispiel: Weitin, Recht und Literatur; Augsberg, Ino: Die Lesbarkeit des Rechts. Texttheoretische Lektionen für eine postmoderne juristische Methodologie, Weilerswist: Vielbrück Wissenschaft 2009; Kittler, Wolf: Heimlichkeit und Schriftlichkeit: Das österreichische Strafprozessrecht in Franz Kafas Roman Der Process, in: The Germanic Review 78/3: Kafka and the Theater, 2003, S. 194222; Agamben, Giorgio: Homo Sacer I: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 60-73; Teubner, Recht als autopoietisches System; Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M.: F­ ischer 2000; Derrida, Jacques: Préjugés. Vor dem Gesetz, hg. von Peter Engelmann, Wien: Passagen 1999, S. 31-56; Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, S. 9-39; Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M.; Suhrkamp 1976. 11 | Die Idee, das Recht als Fokus eines interpretativen Zusammenschlusses von Autopoiesis und Romanfragment zu wählen, liegt nicht einfach nur in der Tatsache begründet, dass Der Process das Recht verhandelt. Denn Rechts- und Literaturwissenschaft haben durchaus eine gemeinsame Basis, wie Rainer Nägle verdeutlicht: „Legal hermeneutics, the particular reading of the letter of the law, will literally decide over fates and lives of people. The philologist and the lawyer share a paradoxical position with regard to the letter: they are both supposed to be guardians of the firm, unchangeable letter, and they are also supposed to be good interpreters.“ (Nägele, Rainer: Kafka and the Interpretive Desire, in: Udoff, Alen [Hg.]: Kafka and the Contemporary Critical Performance, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1987, S. 17)

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eine Entscheidungsfrage gekoppelt. Grundsätzlich kann nicht nicht entschieden werden. Selbst das Nichtentscheiden ist eine Entscheidung, nämlich die, nicht zu entscheiden.12 Die Rechtssache aufzuschieben ist ein bekannter Trick, eine Entscheidung zu umgehen. Damit wird jedoch die Funktion der Justiz, zu entscheiden, ad absurdum geführt. Deswegen waren diese Umgehungsstrategien schon immer ein Dorn im Auge von rechtskonstitutiven Schriften.13 Fögen hat nun aufgezeigt, dass schon im 6. Jahrhundert nach Christus Kaiser Justinian „eine Konstitution gegen Richter, die einen Rechtsfall ignorieren“,14 erließ. Weiter führt Fögen Beispiele aus der Zeit der deutschen Einigung im 19. Jahrhundert an, wobei das Scheitern verschiedener Verfassungen auch dazu führte, dass ein Rechtverweigerungsverbot nie wirklich bindend eingeführt werden konnte.15 Im Code Napoléon, dem Meilenstein neuzeitlicher Rechtsschreibung, wird das Rechtsverweigerungsverbot zunächst durch Drohungen an die Adresse der Richter – sie sollen entscheiden, in jedem Fall – durchzusetzen versucht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelt sich das Rechtsverweigerungsverbot insofern, als Drohungen zu Hilfestellungen werden. Während der Code Napoléon auf die Autorität des Richters spielt, ist den neueren Gesetzestexten das Rechtsverweigerungsverbot inhärent.16 Die Herangehensweise Fögens, nicht eine einzige klare Rechtsgeschichte zu rekonstruieren, sondern verschiedene Rechtstexte synchron zu lesen, entspringt einem Textverständnis, mit welchem auch hier gearbeitet wird. Fögens bekannteste Publikation Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems deklariert gleich zu Beginn des Kapitels mit dem Titelzitat „Die Antike kennt uns nicht“ das Vorgehen. Rechtstexte sind keineswegs über die Jahrhunderte kongruent und 12 | Gut zu sehen – um kurz von Fögen zu Kafka (und zu Derrida) zu wechseln – ist dies in der Entscheidung des Mannes vom Lande nicht zu entscheiden. Derrida schreibt in „Préjugés“ dazu: „Er entscheidet, noch nicht zu entscheiden, er entscheidet sich, nicht zu entscheiden, er vertagt, er schiebt hinaus, indem er wartet.“ (Derrida: Préjugés, S. 51) 13 | Fögen, Marie Theres: Rechtsverweigerungsverbot. Anmerkungen zu einer Selbstverständlichkeit, in: Vismann, Cornelia/Weitin, Thomas (Hg.): Urteilen/Entscheiden, München: Fink 2006, S. 38. 14 | Ebd. 15 | Ebd., S. 39-40. 16 | Ebd., S. 47-50.

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bilden somit in keiner Form eine einzelne „große“ Rechtserzählung ab. Vielmehr müssen Rechtstexte analog archäologischer Arbeit wie Bruchstücke antiker Gebäude fein säuberlich ausgegraben – selbstverständlich klingt hier Michel Foucaults Diskursanalyse an17 – und als unterschiedliche, nur lose miteinander verbundene „Trümmerteile“ betrachtet werden.18 Diese „Archäologie der Texte“ ist auch bei Kafkas Der Process angebracht. Einerseits spielt die Tatsache eine Rolle, dass der Text nur fragmentarisch vorliegt. Die Historisch-kritische Ausgabe gewährt einen interessanten Einblick in den Process/Prozess: Die sichtbare Arbeit am Text ist beteiligt am Process – mehr dazu im Kapitel „Schrift“. Andererseits ist laut Deleuze/Guattari selbst der Process-Ablauf keineswegs klar, so wie er in den meisten Ausgaben zu finden ist. Vielmehr ist die Anordnung der Kapitel wohl nur das Produkt von Max Brods und Malcolm Pasleys „Arbeit“.19 17 | Was ist die Diskursanalyse? Es wäre ein seltsames Unterfangen, hier in einer Fußnote Foucaults Begriff der Diskursanalyse zu erklären, zumal Foucault auf eine abschließende Begriffserklärung verzichtet. Deswegen hier nur einige Bemerkungen: Dabei ist die Diskursanalyse mit Foucault ex negativo kurz zu erklären. Es geht Foucault nicht um das, was dem Diskurs immer vorauseilt, „das ihm hartnäckig unterhalb seiner selbst folgt, das er aber bedeckt und zum Schweigen bringt“ (Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 39). Die Ursprünglichkeit und die Vorstellung einer Transgression des „Wahren“ durch die Diskurse liegen nicht im Fokus von Foucaults Arbeit. Ihn interessiert also nicht „das halbverschwiegene Geschwätz“ (ebd., S. 43), welches die Diskurse hintergeht, sondern das „Feld der diskursiven Ereignisse“, jene „stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind“ (ebd., S. 42). Damit lässt er aber nicht die „Wahrheit und den Sinn“ verschwinden. Vielmehr versucht er Diskurse als Möglichkeit zur „Wahrheitsbildung“ zu rekonstruieren, also das, was sich „zwischen den Worten und den Dingen [bewegt], wo diese eine kompakte Materialität mit eigenen, beschreibbaren Regeln darstellen, um auf diese Weise die gesellschaftliche Konstruktion der Dinge ebenso zu steuern wie dem sprechenden Subjekt einen Ort zuzuweisen, an dem sich sein Sprechen und seine Sprache erst entfalten können“ (Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 34). 18 | Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 11-19. 19 | Deleuze/Guattari, Kafka, für eine kleine Literatur, S. 61; zur Kritik an Pasleys Arbeit siehe auch: Schuster, Matthias: Franz Kafkas Handschrift zum Schloss, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012; Reuß, Zur kritischen Edition von Der

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Die Diskussion um den Prozess zum Roman, um die Schreibszenen 20 und die Kapitelfolge führt wiederum das Recht in die Literatur ein. Schon Derrida fragte anlässlich seiner Lektüre von „Vor dem Gesetz“: „[W]er urteilt und mit welchem Recht [...]?“21 In Derridas „Préjugés“ ist diese Frage eine Frage nach der Zugehörigkeit des Textes. Derrida fragt, was den Text zur Literatur macht. Welches Recht macht Literatur zu Literatur? Wie wird die Vorstellung einer Identität des Textes gefestigt? Wie werden „Autor, Herausgeber, Kritiker“ etc. an diese Identität gekoppelt?22 Derrida beantwortet diese Frage, indem er die Legende in die „Realität“ des rechtlichen Umganges mit Literatur involviert: „Der Text [...], vor dem wir, die Leser, wie vor dem Gesetz erscheinen, dieser Text, den seine Wächter (Autor, Herausgeber, Kritiker, Universitätsangehörige, Archivare, Bibliothekare, Juristen et cetera) bewachen, kann nur gesetzgebend sein, wenn ein noch mächtigeres Rechtssystem (‚ein noch mächtigerer Wächter‘) ihn garantiert [...].“23

Laut Derrida sichert das „Rechtssystem“ den Literaturbetrieb mit seinen Beteiligten wie „Autor, Herausgeber, Kritiker, Universitätsangehörige, Archivare, Bibliothekare, Juristen et cetera“. Interessant ist, dass Derrida die Frage nach dem Recht an die Frage nach Literatur koppelt. Literatur kann nur als Literatur bestehen, wenn sie sich selbst als solche in ihrem Process im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe, S. 15. Zum Schaffensprozess bei Kafka siehe auch: Binder, Kafka. Der Schaffensprozess, S. 31 (Herv.i.O.): „Die im Process und im Schlussteil des Verschollenen angewandte Verfahrensweise ist die gleiche: Wenn der Autor an einen Punkt kam, wo sich ihm die Gestaltung einer bestimmten Erzähleinheit versagte, so dass die Gefahr bestand, dass durch Weiterschreiben alles verdorben wurde, wenn jedoch gleichwohl kein Anlass war, deswegen die Arbeit an dem sich augenblicklich verschließenden Text überhaupt abzubrechen, springt er weiter zum zeitlich nächstgelegenen Teil, dessen Formulierung er sich zutraut, und dieser Vorgang kann sich mehrmals hintereinander wiederholen.“ 20 | Siehe dazu: Campe, Die Schreibszene, S. 759–772; Stingelin: ‚Schreiben‘. Einleitung, S. 7–21. 21 | Derrida, Préjugés, S. 38. 22 | Ebd., S. 34. 23 | Ebd., S. 79 (Herv.i.O.).

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„Betrieb“ sichert. Das heißt, jegliche Bereiche, welche die Literatur als „Betrieb“ sichern, sind wiederum gesichert durch das Recht. Dabei ist diese Sicherung durchaus autologisch, denn Derrida nennt die aufgezählten Teilhaber am Literaturbetrieb „Wächter“. Besonders die Justiz ist in die Doppelung von Text in Rechtstext und literarischen Text involviert. Sie ist diejenige, die garantiert, dass das Recht an und über Literatur nicht verweigert wird. Denn das Verbot, das Recht zu verweigern, ist sehr bedeutsam, wie – und damit wäre man wieder bei Fögen angelangt – im Folgenden zu sehen ist: „Die Autonomie des Rechts hat [...] glänzende Chancen, sich zu verwirklichen, wenn nicht der Kaiser oder der Gesetzgeber, sondern das Recht sich selbst befiehlt, was es tun muss: entscheiden! Und die Autopoiesis des Rechts gedeiht fraglos am besten, wenn das Recht sich autologisch zwingt, zu tun, was es zu seiner permanenten Reproduktion tun muss: entscheiden! Und so erscheint das Rechtsverweigerungsverbot als ein Evolutionsbeschleuniger par excellence und als eine Erfindung des modernen Rechts, die eine Bedingung der Möglichkeit der Schließung des Rechtssystems darstellte.“24

Entscheiden will entschieden sein. Dem Recht ist die Entscheidung zum Entscheiden durch das Rechtsverweigerungsverbot „eingeschrieben“. Die richterliche Entscheidung, nicht zu entscheiden, wird durch die „mächtigere“ Entscheidung der Rechtsschrift durchbrochen. Die Rechtsschrift entscheidet, dass die Entscheidung, nicht zu entscheiden, unzulässig ist. Es ist eine Entscheidung gegen die Entscheidung, nicht zu entscheiden. Dabei steht einiges auf dem Spiel: Durch den „autologischen“ Zwang zum Entscheiden wird die Gefahr gebannt, die durch die Rechtsverweigerung droht. Recht kann nur dort gelten, wo seine Geltung gesichert wird. Jene basale Funktion des Rechts, „entscheiden!“, wird durch den „Selbstbefehl“ zum Entscheiden fortlaufend gesichert. Seine Reichweite und Autonomie ist keine Frage eines außerrechtlichen Standpunktes. Recht definiert sich nicht mehr nach Kriterien einer außerrechtlichen Welt, sondern Recht ist Entscheiden, die Entscheidung zum Entscheiden. Somit sichert nach Fögen die „autopoietische“ Grundlegung moderner Rechtstexte die Reichweite des Rechts. Im Bereich der selbstgesetzten Geltung des Rechts ist alles unterworfen, was im Recht genannt wird. Das moderne Recht ver24 | Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, S. 49-50.

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hindert also in sich selbst die Subvertierung seiner Geltung. Das scheint auch Gunter Teubner in Recht als autopoietisches System gleich am Anfang auf den Punkt zu bringen: „Rechtsgeltung kann nicht von außen importiert werden, sie kann nur innerhalb des Rechts hergestellt werden.“25 Das Rechtsverweigerungsverbot ist eine Möglichkeit, (selbstreferentielle) Rechtsgeltung herzustellen. Kafkas Romanfragment Der Process nimmt die Frage nach der Rechtsgeltung auf, indem einerseits die Geltung für den Protagonisten K. (K.: „Sie können einwenden, dass es überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr Recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne.“26) thematisiert wird.27 Andererseits durchdringt das nicht näher definierte Recht den Roman, vertreten durch das Gericht und den scheinbar allgegenwärtigen Mitarbeitern. Das Recht gilt, und es rückt im Laufe des Romanfragments nicht nur immer mehr in das Zentrum von K.s Leben, sondern es wird am Schluss durch seine Handlanger auch K.s ­Leben nehmen. Und dies alles geschieht ohne ein Verdikt. Die Geltung des Rechts 25 | Teubner, Recht als autopoietisches System, S. 8. 26 | Kafka, Der Process (Pasley-Ausgabe), S. 51. Zur Anerkennung des Gerichts siehe auch: Campe, Rüdiger: Kafkas Institutionenroman. Der Process, Das Schloss, in: Ders./Niehaus, Michael (Hg.): Gesetz. Ironie, Heidelberg: Synchron-Verlag 2004, S. 197-208. 27 | Es kann hier nicht gesagt werden, inwiefern und mit welchen rechtstheoretischen Schriften sich Kafka auseinandergesetzt hatte. Siehe dazu Ulf Abrahams Beitrag „Kafka und Recht/Justiz“ im Kafka-Handbuch: „Über Kafkas Jurastudium, dem er auf Wunsch des Vaters bekanntlich andere Pläne opferte, ist nicht viel bekannt. Es gibt, da die Doktorprüfung an der Prager Ferdinand-Karls-Universität 1906 nur mündlich war, leider auch keine Dissertation. Besser sieht es mit der juristischen Berufspraxis aus: Nach einjährigem Rechtspraktikum ist er 1907 Aushilfskraft in der Versicherung Assecurazioni Generali und fängt 1908 als Aushilfsbeamter in der halbstaatlichen Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt an. Seine Fähigkeit, juristische Schriftsätze präzise und elegant zu formulieren, macht ihn bald unentbehrlich in der Betriebsabteilung des Hauses, die als schwierig gilt, weil die Einsprüche der Beteiligten (Unternehmer, Arbeiter) gegen die Festsetzung von Versicherungsbeiträgen nicht nur Fachverstand, sondern auch (technischen) Sachverstand erforderten.“ (Abraham, Ulf: Kafka und Recht/Justiz, in: Jahraus, Oliver/von Jagow, Bettina (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 212)

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ist zweifellos lebensbestimmend und lebensbedrohend, ohne dass die Mechanismen des Rechts klar werden.

2.2.2 Konsistenz des Gesetzes I Wenn die Rechtsgeltung in alle Lebensbereiche eindringt, stellt sich nun die Frage, wie denn dieses Gesetz beschaffen ist. Um welches Gesetz es sich handelt, wird, wie schon Derrida bemerkt, nirgends im Romanfragment gefragt.28 Allerdings werden zumindest indirekt unauf hörlich die Mechanismen der Justiz auf Basis der Konsistenz und der Position der Legende verhandelt.29 Das gesamte Domkapitel, welches folgend einer genaueren Lektüre unterzogen wird, scheint sich um die Positionierung und die Konsistenz des Gesetzes zu drehen. Dabei wird – unter rechtsphilosophischen Standpunkten: leider – die Trennung zwischen dem Recht als Regelsystem und dem Gesetz als verbindlicher Rechtsnorm nicht in das Romanfragment involviert. Im Process wird in erster Linie vom Gericht und vom Gesetz gesprochen und nicht von Recht und Gesetz. Es geht somit in der folgenden Analyse nicht so sehr um die Trennung von 28 | Derrida, Préjugé, S. 45. 29 | Die Positionsfrage ist immer auch verbunden mit der Binnen- und „Selbst“Thematisierung, wie sie zumindest bezüglich der Lese(r)situation auch schon Thema der frühen Kafka-Forschung gewesen zu sein scheint. Folgendes Zitat aus dem Kafka-Handbuch von Hartmut Binder von 1979 belegt dies: „Aber auch die Verstehensversuche des Lesers, der einzelne Aspekte des Romans unter Missachtung seiner gleitenden Paradoxien verabsolutiert, erscheinen angesichts der einander über Jahrzehnte widersprechenden Textdeutungen stets nur vorläufig gültig. Diese Situation ist gleichnishaft im Roman selbst, im Dom-Kapitel enthalten, in jener Szene, in der der Geistliche dem Angeklagten die Legende (Parabel) über den Mann vom Lande vor dem Gesetz erzählt. (I. Henel, 1963) Die Erzählung, in der Kafka-Literatur hervorgehoben als ‚innerer Fahrplan‘ des Romans (PO 266), als ‚Variation zu einem Thema‘ (G. Isermann, 1969, S. 14), als ‚eine Art Gelenkstelle im Handlungsablauf‘ (K II 41) oder als zentrales Paradigma für Kafkas Spiel mit der Lesererwartung, in der sich der Autor literarisch legitimiert (H. Turk, 1977), hat ihre Bedeutung in der perspektivischen Fliehkraft, mit der sie das Erkenntnisproblem des Romans potenziert.“ (Elm, Theo: Der Prozess, in: Kafka-Handbuch in zwei Bänden, hg. von Hartmut Binder, Bd. 2: Das Werk und seine Wirkung, Stuttgart: Kröner 1979, S. 428 [Herv.i.O.])

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Recht und Gesetz, sondern darum, wie diese Trennung formallogisch den Roman strukturiert. Denn es geht immer auch um Regelsysteme und verbindliche Normen, die aber nie direkt angesprochen werden. Das Verhältnis von Regelsystem und Gesetz führt zurück zur Frage nach der Position der Legende. Die Trennung erscheint zwischen dem Regelsystem und der verbindlichen Rechtsnorm, also jener Rechtsnorm, die als die Legende „Vor dem Gesetz“ in das Romanfragment eingelassen ist. Im Regelsystem des Romanfragments hat das Gesetz eine bestimmte Position, die gleichsam die Frage nach dem Recht (wieder) in den Text einführt. Die Legende funktioniert dabei wie eine Präambel.30 Was ist eine Präambel? Im Grimm’schen Wörterbuch steht zu Präambel: „f., n. einleitender oder entschuldigender eingang einer rede, ­umschweif, entlehnt aus franz. préambule m., vom lat. praeambulus (vorhergehend)“31. Die Legende „Vor dem Gesetz“ geht also „vorher“, denn sie wird strukturell als Schablone für das Domkapitel und das gesamte Romanfragment dienen, weil jegliche Muster, die in der Legende elaboriert werden, sich im Kapitel und im Fragment wiederholen. Die Legende als Präambel liefert – wie schon in der Einleitung dargelegt – die Ursprungsfiktion. Sie erzählt das Recht und vor allem seine Geltung herbei. Thomas Weitin spricht von Präambeln als „Textschranken“: „Sie bezeichnen den Zugang zum Gesetz und verschließen ihn zugleich für das, was nur ihnen vorbehalten ist: das Erzählen vom Ursprung des Rechts. Kafkas Vor dem Gesetz nimmt den Platz einer solchen Präambel ein.“32 Die Präambel ist – so liest Thomas Weitin Cornelia Vismann – „eine

30 | Zur Begrifflichkeit: Da im Romanfragment nur immer von der Legende gesprochen wird und nicht – wie teilweise in der Sekundärliteratur suggeriert – von der Parabel, wird hier auch mit „Legende“ operiert. Die Frage, ob die Legende als Parabel zu verstehen sei, eröffnet eine neue Diskussion, die für dieses Projekt nicht für sehr fruchtbar gehalten wird. Siehe dazu: Binder, Hartmut: ‚Vor dem Gesetz‘. Einführung in Kafkas Welt, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1993, S. 34-35. 31 | Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971 (DWB) (Hervi.O.), Online-Version: http://woerterbuchnetz.de/WBNetz/DWB/ biblInfos?width=550&height=700 (Abrufdatum: 02.12.2013). Außerdem umfasst die Legende auch die Bedeutung „entschuldigend“; es geht ja im gesamten Romanfragment auch um die Frage der Schuld. Siehe dazu: Elm, Der Prozess, S. 421. 32 | Weitin, Thomas: Recht und Literatur, S. 73-74.

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zentrale hermeneutische Schranke, die vor dem Gesetz steht und den Zugang zu ihm regelt [...]“.33 Wird dieser Zugang gewährt? Zunächst beginnt das Kapitel, in dem die Legende „Vor dem Gesetz“ erzählt wird, mit dem Auftrag, einem „italienischen Geschäftsfreund der Bank“ „einige Kunstdenkmäler“ in der Stadt zu zeigen. K. zeigt sich wenig erfreut, da er fürchtet, dass seine Arbeit im Büro in seiner Abwesenheit überprüft wird, denn man war auf der „Lauer“, um „Fehler“ in seiner Arbeit zu finden. Allerdings glaubt K. auch, dass die Weigerung, den Geschäftsfreund in der Stadt herumzuführen, wiederum als Eingeständnis, Fehler in seiner Arbeit begangen zu haben, verstanden werden könnte. Außerdem hat er Angst, nicht mehr an seine Arbeitsstelle in der Bank zurückgelassen zu werden; eine paranoische Angst, die er „sehr genau als übertrieben erkannte, die ihn aber doch beengte“.34 Nach dieser Skizzierung der Ängste beginnt die eigentliche Erzählung des Tagesablaufs. Die Vorzeichen für den Tag sind schlecht: K. ist stark erkältet und das Wetter verspricht kaum Linderung: Abbildung 4

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 10

K. kann seine Arbeit nicht beginnen, denn der Herr aus Italien ist schon da, und der Direktor lässt nach K. suchen. Das Treffen mit dem italienischen Geschäftsherrn erweist sich als problematisch, denn K. bemerkt „mit großem Unbehagen, dass er den Italiener nur bruchstückweise verst[eht]“.35 33 | Ebd., S. 72. 34 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 9. Bei sämtlichen in diesem Kapitel folgenden Kafka-Zitaten bleiben die Auszeichnungen und Hervorhebungen sehr nahe an den Umschriften des Originals, hier der Historisch-kritischen Ausgabe (FKA). 35 | Ebd., S. 13 (Herv.i.O.).

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2.2.3 Rechtshermeneutik „Verstehen“ ist im gesamten Romanfragment ein Problem. Es fehlt an Informationen und am Willen, Informationen verständlich zu vermitteln. Es scheint so, als wäre die gesamte Anordnung, als wären die Gespräche und die Beschreibung des grotesken Verhaltens der Gerichtsmitarbeitenden gegen die stabilisierenden Anfangs- und Schlusspunkte angelegt. Am Anfang wird K. verhaftet und am Schluss wird K. getötet. Allerdings ist damit nichts erklärt. Der Verhaftung scheint kein klarer Grund voranzugehen und die Hinrichtung folgt keinem Verdikt. Vielmehr sind beide Begebenheiten Versuche, die Narration, das Recht, das Gericht usw. zu „verhaften“ und in eine stabile Ordnung zu bringen. Der ganze Process scheint letztlich der Versuch des Protagonisten zu sein, so etwas wie eine Haftung in den Prozess einzubringen. Der Process ist K.s Suche nach den Prozessabläufen, nach der Frage nach dem Recht und nach dem Gericht. So geht es letztlich immer auch um die schon erwähnte Frage Derridas: „[W]er urteilt und mit welchem Recht [...]?“36 Die Frage nach Urteilen in „Vor dem Gesetz“ wird zu einer rechtshistorischen Frage nach dem allgemeinen Urteilen.37 Wolf Kittler zeigt in seinem Aufsatz „Heimlichkeit und Schriftlichkeit: Das österreichische Strafprozessrecht in Franz Kafkas Roman Der Process“, dass zu Kafkas Zeiten Geheimhaltung immer noch Bestandteil der zeitgenössischen österreichischen Strafprozessordnung war. Kittler warnt, den Process vorschnell als die Verhandlung „totalitären Gerichtsverfahren“38 zu lesen. Zwar trete mit dem Code Napoléon das „Anklageprinzip“ an die Stelle der in den „deutschsprachigen Ländern ‚gemein-rechtlicher‘ Prozess genannten [...] Inquisitionsverfahren[...]“, das 36 | Derrida, Préjugé, S. 38. 37 | Wolf Kittler erklärt in dem Aufsatz „Heimlichkeit und Schriftlichkeit“ die Funktion des österreichischen Strafprozessrechts mit der Frage nach dem Gesetz oder dem Urteilen. Er schreibt: „Die österreichische Strafprozessordnung stellt dem Beschuldigten keinerlei Rechtsmittel zur Verfügung, um den ungewissen und schmählichen Zustand der Voruntersuchung zu beeinflussen, es sei denn, er entschließt sich, diese Phase des Prozesses selbst zu beenden: durch Ablegen ‚eines reumüthigen Geständnisses‘.“ (Kittler, Heimlichkeit und Schriftlichkeit, S. 211 [Herv.i.O.]) 38 | Ebd., S. 195.

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„in ihrem Wesen nach schriftlich und geheim“ ist.39 Trotz „Anklageprinzip“ unterscheidet sich das: „Kriminalverfahren Kontinentaleuropas [...] in einem entscheidenden Punkt von dem angelsächsischer Länder. Denn in England und Amerika ist auch die Voruntersuchung nach dem Prinzip des Anklageprozesses organisiert und damit nicht geheim und schriftlich, sondern öffentlich und mündlich. Die Untersuchung wird von einem Coroner, Friedensrichter, Attorney General, oder District Attorney geführt, und die Erhebung in den Anklagezustand, welche die Hauptverhandlung einleitet, erfolgt durch eine Grand Jury. [...] Die beiden Funktionen des Untersuchens und des Richtens, die der kontinentaleuropäische Untersuchungs-Richter schon im Wortsinn seines Titels ver-eint, sind also auf zwei verschiedene Instanzen verteilt.“40

Auch wenn Kittlers Untersuchung schließlich eine andere Wendung nimmt und sich der Frage nach dem Gefängnis K.s widmet (das Gefängnis ist ein Zimmer und eine Frau – ein Frauenzimmer)41, ist der Hinweis auf das österreichische Rechtssystem eine mögliche Erklärung der Tatsache, dass im Process niemand, und am wenigsten K. selbst, etwas über den Prozess zu wissen scheint. Das hieße, dass vielleicht doch alles mit rechten, oder – besser gesagt – rechtlich korrekten Dingen zugeht. Nirgends ist vorgesehen, den Angeklagten über die Details der Voruntersuchung in Kenntnis zu setzen. Auch in Heinz Politzers detaillierter Analyse Franz Kaf ka. Der Künstler, welche schon 1962 unter dem Originaltitel Parable and Paradox auf Englisch erschien, wird die Heimlichkeit in der Voruntersuchung bemerkt. Allerdings stellt Politzer der Heimlichkeit – ganz im Sinne des Paradoxalen – das öffentliche Moment gegenüber: „Das Verfahren dieses Gesetzes ist zugleich öffentlich und geheim.“42 Gemeint ist damit, dass einerseits K. die Mechanismen „dieses Gesetzes“ verborgen bleiben, und dass andererseits im Roman ein Verhör öffentlich und unter 39 | Ebd. (Herv.i.O.). 40 | Ebd., S. 196. 41 | „Das Gefängnis ist ein Frauenzimmer im doppelten Sinn des Wortes, das Zimmer von und ‚Fräulein Bürstner‘ selbst.“ (Kittler, Heimlichkeit und Schriftlichkeit, S. 199 [Herv.i.O.]) 42 | Politzer, Heinz: Franz Kafka. Der Künstler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 294.

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großer Zuschauerzahl durchgeführt wird.43 Allerdings weiß man nicht, ob es sich bei den Zuschauern nicht doch um Beamte handelt.44 Es wäre möglich, dass K.s Bemühungen, sein Verfahren zu verstehen, der Unkenntnis des rechtlichen Systems oder dem Unwillen entspringt, dieses System zu akzeptieren. So versteht K. nicht: Seinen Verhaftungsgrund, das Gerichtsprozedere, die Aktanten und das Gesetz. Die vielen einzelnen Gespräche (Fräulein Elsa, Fräulein Bürstner, Advokat Huld, Leni, Onkel Albert, Maler Titorelli, Kaufmann Block, Kirchendiener45 und Gefängniskaplan)46 sind ziellos und erklären keinesfalls die Mechanismen der Gerichtsbarkeit. Wie in der Situation mit dem Direktor und dem italienischen Geschäftsfreund, fühlt sich K. ohnmächtig, weil er nicht übersetzen kann. Was im Roman zur Debatte steht, ist nicht nur das rechtliche System, welches Anleihen an das geheime Inquisitionsverfahren hat, sondern ein Übersetzungsproblem. Alle weiteren Gesprächspartner scheinen entweder zu verstehen ohne ihr Verstehen preiszugeben oder das Unverständnis spielt für sie keine schwerwiegende Rolle. Das gilt auch für die erwähnte Textstelle mit dem Direktor und dem italienischen Geschäftspartner: K. fühlt sich ausgeschlossen, weil der Direktor mit dem süditalienischen Dialekt des Geschäftsfreundes vertraut ist. Im Dom-Kapitel folgt nun eine genaue Analyse der Sprachschwierigkeiten. Grund sei nebst der dialektalen Prägung des Italienischen auch der Bart des Geschäftsfreundes, da dieser das Lippenlesen verhindere. So bleibt K. nur das Beobachten der Physiognomie „des Italieners“, bis ihn schließlich der Direktor erlöst, indem er für ihn übersetzt. Diese Situation erinnert wiederum an viele weitere Momente im Roman. K. versucht seinem Verfahren habhaft zu werden und sucht verzweifelt Übersetzer, 43 | Ebd., S. 297. 44 | Ebd., S. 299-300. 45 | „Sein Benehmen war fast unverständlich.“ (Kafka, Der Process, FKA [Im Dom], S. 26) 46 | Dazu schreibt Rüdiger Campe in dem Aufsatz „Kafkas Fürsprache“: „Im Proceß treten offenbar von Anfang an eine große Zahl von Fürsprecherfiguren auf, ohne dass das Wort ein einziges Mal fiele: K.s Vermieterin, Frau Grubach, und seine Zimmernachbarin Fräulein Bürstner sind bereitwillige oder erwünschte ­F ürsprecher im Sozialen. Leni und die Frau des Gerichtsdieners, wie in anderem Sinne auch der Maler Titorelli und der Kaufmann Block sind es im Umkreis des Gerichts.“ (Campe, Kafkas Fürsprache, S. 200 [Herv.i.O.])

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die erklären, um was es geht. Er findet diese zuhauf in Advokaten, Malern, Kaufmännern und Frauen, doch sind sie wenig von Nutzen. Deleuze und Guattari gehen sogar noch weiter und behaupten, dass die Ratgeber nicht nur nutzlos sind, sondern geradezu falsch: falsche Richter, falsche Advokaten, „Winkeladvokaten“, „pflichtvergessene und bestechliche Angestellte“.47 Doch das spielt keine Rolle, denn K. müsste eigentlich nirgends wirklich zuhören, zumindest nicht dem Geschäftsfreund. So sagt der Direktor, nachdem „der Italiener“ gegangen ist: Abbildung 5

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 17

Das Verstehen ist nicht sonderlich wichtig, und geredet wird, um zu reden. Das ist – auch wenn an dieser Stelle von Kafka wieder gestrichen – womöglich ein wichtiger Punkt in diesem handlungsarmen aber gesprächsreichen Romanfragment. Das Reden um des Redens Willen erinnert auch an Kleists Text „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Bei Kleist zeigt sich, dass dieses Reden durchaus produktiv sein kann, denn daraus entwickelt sich erst die allmähliche Verfertigung. Reden ist bei Kleist zugleich Entwicklung und Selbstanwendung. Die Rede entwirft sich dadurch selbst immer neu und erscheint als unaufhörlicher Prozess. Auch in Kafkas Process geht es – wie es der Titel schon sagt – um dieses Reden. Allerdings wird hier – aus naheliegenden Gründen – auf die Gerichtsrede als eigentliche Rede am Gericht (im Kapitel „Erste Untersuchung“) und als Rede über das Gericht fokussiert, wobei meist (mit Ausnahme des Kapitels „Erste Untersuchung“) die Unsicherheit besteht, 47 | Deleuze/Guattari, Kafka, für eine kleine Literatur, S. 68.

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welche Rede gemeint ist. Diese Unentscheidbarkeit spielt im folgenden Abschnitt eine entscheidende Rolle: K. ist wütend über seine Unfähigkeit, das Italienisch des Geschäftsfreundes zu verstehen und studiert das Wörterbuch, das heißt, er blättert eigentlich nur „sinnlos“ darin herum. Kurz bevor K. zum Dom eilt, erhält er einen Anruf von Leni, wobei K. mitteilt, dass er gleich zum Dom fahren müsse und nicht sprechen könne: „‚In den Dom?‘ fragt Leni. ‚Nun ja, in den Dom‘.“48 Abbildung 6

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 21

Die Zwischenwelt („halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen“) ist im gesamten Romanfragment angelegt, nämlich zwischen dem undurchdringlichen Gericht und der Arbeitswelt in der Bank. Genau an der genannten Stelle – zwischen Leni und sich selbst – steht K. auch zwischen der Arbeit und dem (wartenden) Gericht (in Form des Gefängniskaplans). Und wiederum gibt es Verständnisschwierigkeiten. Wer ist „sie“ in „sie hetzten mich“? Die Gerichtsbarkeit, die Firma? Die Frage bleibt an dieser Stelle ungeklärt. In der Folge eilt K. zum Dom und erwartet, dass sich seine Erkältung im nasskalten Wetter verschlimmern wird. Der Dom scheint leer zu sein, nur eine alte Frau betet. Der italienische Geschäftsfreund ist nirgends zu sehen. K. führt dies auf die Verständnisschwierigkeiten zurück: „Soll48 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 18-21 (Herv.i.O.).

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te der Direktor etwa die Zeitangabe missverstanden haben? Wie konnte man auch diesen Menschen richtig verstehen.“49 Die Verständnisschwierigkeiten führen folglich dazu, dass K. mutmaßlich zur falschen Zeit am falschen Ort ist – oder wie sich in der Logik des Romanfragments zeigen wird – genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

2.2.4 Die Legende Bevor nun an den Ort des Geschehens zurückgekehrt wird, vorab einige Angaben zur Legende und zum Roman: Der fragmentarisch gebliebene Roman Der Process, geschrieben zwischen 1914 und 1915, wurde kurz nach Kafkas Tod 1925 unter der Leitung von Max Brod in dem Verlag „Die Schmiede“ als „geschlossener Roman“ publiziert.50 Im Gegensatz dazu die Türhüter-Legende „Vor dem Gesetz“: Diese wurde zuerst in „Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift [...], Nr. 34 (7.9.1915, Neujahrs-Festnummer)“51, gedruckt. Im Folgenden sind nun zwei Versionen der Legende zu sehen: Zuerst jene in Selbstwehr und danach das Manuskript, in dem sich die Legende in jenem Kapitel befindet, das Kafka auf dem Deckblatt, das „die untere Hälfte von Blatt 13 des Typoskriptdurchschlags von ‚Der Heizer‘ ist, mit ‚Im Dom‘ betitelt hat“.52 Es folgt die Abbildung des Erstdrucks in Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift: 49 | Ebd., S. 22. 50 | Siehe dazu den Beitrag von Annette Steinich im Kafka-Handbuch (2008), in welchem sie die Arbeit von Max Brod „als Testamentsvollstrecker“ analysiert. Steinich, Annette: Kafka-Editionen: Nachlass und Editionspraxis, in: Jahraus/von Jagow, Kafka-Handbuch, S. 139-141. 51 | Kafka, Franz: Vor dem Gesetz, in: Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift, Siegmund Kaznelson (Hg.), Jahrgang 9, Nr. 34 (07.09.1915, NeujahrsFestnummer) (Herv.i.O.), in: http://www.textkritik.de/kafkazs/kafkadrucke.htm (Abrufdatum: 28.03.2014). 52 | Kafka: Der Process, FKA (Heft 1), S. 2. Zur Organisation der Process-Schrift siehe auch: Campe, Rüdiger: Schreiben im Process. Kafkas ausgesetzte Schreib-Szene, in: Giuriato, Davide/Stingelin, Martin/Zanetti, Sandro (Hg.): „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte (Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 2), München: Fink 2005, S. 127.

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Abbildung 7

Quelle: Kafka, Vor dem Gesetz, in: Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift, Jg. 9, Nr. 34 (07.09.1915, Neujahrs-Festnummer), in: Kafka, Vor dem Gesetz (Selbstwehr), http://www.textkritik.de/kafkazs/kafkadrucke. htm

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Abbildung 8

Quelle: Kafka, Vor dem Gesetz (Selbstwehr)

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Abbildung 9

Quelle: Kafka, Vor dem Gesetz

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Nachfolgend nun das Manuskript, abgebildet in der Historisch-­kritischen Kafka-Ausgabe. Die Legende beginnt in der drittuntersten Zeile: Abbildung 10

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 43

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Abbildung 11

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 44

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Das Ende ist auf dem folgenden Manuskriptblatt im unteren Drittel zu erkennen, gleich vor den massiven Streichungen: Abbildung 12

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 47

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Was zunächst auffällt, ist die Problematik einer Anfangsbestimmung der Manuskript- (und auch Transkript-)Version: Wo beginnt die Legende? Eingebunden in das Romanfragment ist diese Frage zunächst mit dem Blick in die Erstpublikation in Selbstwehr leicht zu beantworten. Die Legende beginnt offensichtlich mit „Vor dem Gesetz ...“. Soweit die Literatur dazu überblickt werden kann, bedienen sich die meisten Interpreten dieser Anfangsversion. Im Roman selbst ist die Legende sehr viel stärker in den Kontext eingebunden. Der Anfang ist optisch auch nicht vom Lauftext abgegrenzt. Wollte man die Legende deutlicher in den Kontext einer Rechtshermeneutik stellen, wäre ein möglicher Anfang auch dort, wo es heißt: „[I]n den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz...“53 Nur würde sich sofort die Frage stellen, um welche Täuschung es sich handelt. Diese Frage bleibt unbeantwortet. Das Ende wiederum gibt keine Rätsel auf, denn im Manuskript ist es optisch mit einem Zeilenumbruch deutlich markiert. Weitere Unterschiede liegen in der Interpunktion. Kafka legte in seinen Manuskriptblättern nicht wirklich viel Wert auf korrekte Orthographie und Interpunktion. Allerdings sind die unterschiedlichen Zeichensetzungen nicht sinnentstellend. Als Beispiele seien genannt: „‚[E]s ist möglich‘ sagt der Türhüter‘“54 In der Ausgabe des Erstdruckes steht nach „möglich“ und nach „Türhüter“ ein Komma. Außerdem fehlt im Manuskript ein Fragezeichen an folgender Stelle: „‚Was willst Du denn jetzt noch wissen‘ fragt der Türhüter“.55 Im Übrigen beschränken sich die Unterschiede in der Interpunktion vor allem auf den Beginn der Legende. Es gibt insgesamt nur drei Stellen, die sich signifikant unterscheiden, wobei es sich lohnt, kurz bei zwei der drei Stellen zu verweilen. Die erste relevante Stelle befindet sich auf der zweiten Seite in der unteren Hälfte in der Selbstwehr-Ausgabe. In der gedruckten Fassung heißt es: „Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin.“56 Im Manuskript fehlt diese Stelle. Nun lässt sich darüber streiten, ob diese Ergänzung relevant ist. Interessant erscheint jedoch die Tatsache, dass – wenn 53 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 42. 54 | Ebd., S. 45 (Herv. M.S.). 55 | Ebd., S. 46 (Herv. M.S.). 56 | Kafka, Vor dem Gesetz (Herv. M.S.), http://www.textkritik.de/kafkazs/kafkadrucke.htm.

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auch nur geringfügig – Kafka, oder vielleicht auch ein Lektor von Selbstwehr den Text redigierte. Eine weitere Stelle verdient kurze Beachtung, zitiert nach der transkribierten Fassung der historisch-kritischen Ausgabe: „Der Turhüter57 erkennt, dass der Mann schon a[n]m seinem Ende ist [...].“58 Durch die Selbstwehr-Fassung ist zu sehen, dass die Streichung („seinem“) wieder aufgehoben wurde. Auch das ist kein wirklich bedeutsamer Unterschied. Doch lässt sich in diesem Vergleich das ablesen, was in dieser Arbeit noch entscheidend sein wird. Der Einbezug der historisch-kritischen Ausgabe bringt den Vorteil, dass der Arbeitsprozess in die Überlegungen zum Thema Recht, Interpretation und vor allem zum Thema „Schrift“ eingeführt werden kann.

2.2.5 Recht als System Nach diesem kurzen Ausflug in die Editionsgeschichte der Legende geht es nun wieder zurück zur Handlung. Zur Erinnerung: K. sollte den „Italiener“ treffen. Dieser scheint (noch) nicht eingetroffen zu sein. So geht K. alleine durch den dunklen Dom und trifft nun den Gefängniskaplan. Im Gespräch offenbart K., dass er „mehr Vertrauen“ zum Kaplan habe „als zu irgend jemanden von ihnen.“59 Wer ist mit „ihnen“ gemeint? Eine Antwort wäre: Das „Gericht“ im weitesten Sinne. Darin liegt aber schon eine Schwierigkeit, denn „ihnen“ bezieht sich auf fast alle Akteure des Romanfragments. Alle Akteure stehen in irgendeiner Beziehung zum „Gericht“, selbst K., obwohl er mit „ihnen“ seinen Ausschluss markiert. Doch das angesprochene Vertrauen wird sogleich in Frage gestellt, denn der Kaplan antwortet nach der Feststellung60 mit „Täusche Dich nicht“. Zur erwarteten Lesart, dass sich K. nicht im Vertrauen zum Kaplan täuschen sollte, setzt der Kaplan eine weitere Lesart hinzu: „Über (In) d(as)em Gericht täuscht Du Dich.“61 An dieser Stelle geschieht, was symptomatisch für die Konzeption des Romanfragments ist. Es zeigt sich, dass K. das „Gericht“ immer als „System“ auszublenden scheint. K. sucht einen 57 | Im Manuskript fehlt das „ü“-Zeichen im „Türhüter“. 58 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 46 (Herv.i.O.). 59 | Ebd., S. 42. 60 | „Ich habe mehr Vertrauen zu Dir, als zu irgend jemanden von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit Dir kann ich offen reden.“ (Ebd.) 61 | Ebd. (Herv.i.O.).

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individuellen Zugang zu den Machenschaften des Gerichts. Wenn also K. im Kaplan einen vertrauensvollen individuellen Charakter gefunden hat, schlägt dieser mit dem „System“ zurück. Statt eines individuellen Rats folgt eine kryptische Abhandlung über die Systematik des Gerichts. Wo auch immer K. die singuläre Wahrheit sucht, findet er eine verworrene, systemische Erklärung. Das „System“ scheint keine Wahrheit zu kennen, eine Tatsache, die sich im folgenden, wohl berühmtesten Teil des Romanfragments deutlich bestätigt: Die oben schon angesprochene Legende, deren Auslegung im Romanfragment auf mehreren Ebenen angelegt ist. Das zeigt sich schon im „Verschreiben“: „‚Über (In) d(as)em Gericht täuscht Du Dich‘ sagte der Türhüte Geistliche.“62 Es geht hier nicht nur um die Frage, was das Gericht ist, sondern auch um den Modus der Beantwortung der Frage. Die Frage nach dem Gericht entwickelt sich zu einer Frage nach der Beantwortung der Frage nach dem Gericht. Genau gelesen, wird der Modus der Erklärung schon im ersten Satz der Erklärung verhandelt: „in den einleitenden Schriften zum Gesetz heisst es von dieser Täuschung“. Was ist „diese Täuschung“? Es scheint, als würde es in keiner Weise um eine allgemeine „Täuschung“ gehen, sondern spezifisch um K., der sich in diesem Punkt täuscht. Somit ist die Legende nur für K. bestimmt, so wie die Tür nur für den Mann vom Lande bestimmt ist. Abbildung 13

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 46

Es besteht demnach eine ähnliche Situation am Anfang der Legende, als einleitend über die „einleitenden Schriften zum Gesetz“ gesprochen wird, wie am Ende der Legende. So verbinden sich die Narrationen von Legende und Roman. An der Schwelle zur Legende wird K. zum Präzedenzfall für 62 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 42 (Kursivierung M.S., alle anderen Herv.i.O.).

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die Legende. Damit lässt sich die interpretative Situation umdrehen. Die Legende dient nicht zur allgemeinen Erklärung des Gerichts, deswegen lässt der Roman das Verhältnis von Rechtsnorm (Gesetz) und Regelsystem (Recht) auch unausgesprochen. Die Legende lässt sich nicht verallgemeinern, denn sie ist auf K.s Situation zugeschnitten und erfährt in den Erklärungsversuchen eine eigenartige Doppelung. Einerseits wird also K.s Situation zu erklären versucht, andererseits erklärt K. – zumindest im Gespräch mit dem Geistlichen – die Situation in der Legende. Der Geistliche, getreu dem „Verschreiber“ („Türhüte Geistliche“), wird dabei tatsächlich zum Türhüter. Er wird zum Türhüter, weil er die Legende erzählt. Er gewährt den „Blick“ in die Legende, auch wenn er – wie der Türhüter in der Legende – auch keinen Eintritt im Sinne einer allumfassenden Interpretation gewährt: Abbildung 14

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 45

2.2.6 Konsistenz des Gesetzes II Es lohnt sich nun nachzudenken darüber, was es heißt, die Erlaubnis zu haben in das Gesetz zu sehen, aber nicht eintreten zu dürfen. „Du darfst auch nicht hineinschauen.“: Die Streichung hebt das Verbot des Einblicks auf. Der Einblick in die historisch-kritische Ausgabe vermittelt somit auch einen Blick in die Streichung des Verbotes des Einblicks. Das Verbot bezieht sich „nur“ noch auf das Begehen. Welche Konsistenz hat das Gesetz? Ist das Gesetz ein Text? Vor dem Textabschnitt Vor dem Gesetz wird von Schriften gesprochen:

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Abbildung 15

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 42

Genau gelesen, heißt es, dass die Einleitung zum Gesetz schriftlich ist. Das bewahrheitet sich nur bedingt, da die Einleitung mündlich erzählt wird, was selbstverständlich wiederum im Text schriftlich umgesetzt ist. Somit bewegt sich die Wiedergabe zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Dies beantwortet allerdings nicht die Frage, welche Konsistenz das Gesetz hat, schließlich geht es ja um den „Eintritt“ in das Gesetz. Es scheint, als ob das Gesetz verräumlicht wird, da es ein „Tor“ gibt. Zugleich suggeriert „Eintreten“ die Vorstellung von Räumlichkeit. Die Frage nach der Räumlichkeit wird im Romanfragment nicht verhandelt.63 K. scheint sich mehr für die Täuschung des Mannes vom Lande zu interessieren und der Geistliche geht in der Wiedergabe der verschiedenen Meinungen nicht auf die Konsistenz des Gesetzes ein. Das Gesetz bleibt in gewisser Weise eine Black Box.64 Mit Ausnahme 63 | Das stimmt nur bezüglich der Räumlichkeit des Gesetzes. Weitere „Räume“ werden sehr wohl verhandelt. Ein Beispiel nennt Henry Sussman im Kafka-Handbuch, nämlich K.s Ausflug zum Gericht in den Vorort: „Es ist eine schäbige und baufällige Architektur, welche die ökonomisch Unbedeutenden beherbergt, von denen es in den späteren Jahren des Habsburger Reiches unendlich viele gab. Das schockierende Anzeichen dafür, dass die Bauwerke ihre Funktion der Beherbergung und des Schutzes ihrer Bewohner nicht erfüllen, ist die ekelhafte gelbe Flüssigkeit [...], welche aus den Häuserlücken strömt.“ (Sussman, Henry: Kafka und die Psychoanalyse, in: Jahraus/von Jagow, Kafka-Handbuch, S. 354335) 64 | Mit Black Box benutze ich einen Begriff aus der Kybernetik. Niklas Luhmann geht im Buch Die Wissenschaft der Gesellschaft (Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992) auf die Begriffsgeschichte ein, in der er die Begriffsverwendung von William Ashby, Heinz von Foerster und Ranulph Glanville zusammenfasst. Siehe auch die Begriffsverwendung für

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der Tatsache, dass das Gesetz verräumlicht zu sein scheint – der Eintritt und die Zugänglichkeit suggeriert ein Gebäude („das Gesetz soll doch jeden –und immer zugänglich sein“65) – bleibt die Frage nach der Konsistenz ungeklärt. Aber auch die Interpretation dreht sich (wortwörtlich) um das Gesetz, das heißt, die verschiedenen Interpretationen, die der Geistliche und K. auf bringen, verhandeln in erster Linie den alten Mann, den Türhüter und das Verhältnis der beiden. Die Interpretationen stellen nie die Konsistenz des Gesetzes in Frage, auch wenn das Gesetz der eigentliche Motor des Verhältnisses zwischen dem Geistlichen und K. ist. Das Gesetz als „Motor“ lässt nun die Idee der Black Box spezifizieren: Durch diese Black Box wird in der Narration eine Handlung veranlasst, ohne dass das Veranlassen je ein Rolle gespielt haben würde. Das Gesetz erinnert somit in gewisser Weise an den „eigentümlichen Apparat“ aus „In der Straf kolonie“.66 Beim Gesetz wie beim Apparat weiß man nicht genau, wie er/es funktioniert, doch er/es funktioniert. „In der Strafkolonie „ist ‚der wahre Held [...]‘ der ‚eigentümliche Apparat‘, [...] [der] seinen eigenen Untergang [überlebt], unbesiegt und unbesiegbar“.67 Im Process ist das Gesetz „unbesiegt und unbesiegbar“. „Unbesiegbar“ bezüglich seiner Funktion als Transformator, als Black Box. Oder anders formuliert: Am Gesetz kommt im Process niemand vorbei. K., die restlichen Figuren und – auf der strukturellen Ebene – auch die Kapitel: Alle scheinen sich auf das Gesetz zu beziehen, ohne dass die genaue Funktionsweise des Gesetzes preisgegeben würde. Die Umschreibung des Gesetzes als Black Box erscheint gerade deswegen so passend, weil in der Box die nicht zu verneinende Räumlichkeit des Gesetzes in der Legende anklingt und die Tatsache, dass die Konsistenz des Gesetzes „dunkel“ bleibt. Allerdings lässt sich diese Betrachtung der Black Box nun auch wieder relativieren, wenn man bedenkt, dass die Legende einer Hell-dunkel-­ Logik folgt, aber die Box eigentlich kein Licht hineinlässt. Denn auch in der Legende wird die Thematik der Helligkeit verhandelt: die radikalkonstruktivistische Kommunikationstheorie: Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation, Formen, Störungen, Paradoxien, 12. Aufl., Bern: Huber 2011, S. 45. 65 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 45 (Herv.i.O.). 66 | Politzer, Franz Kafka, S. 174. 67 | Ebd., S. 190 (Herv.i.O.).

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Abbildung 16

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 46

Die Legende thematisiert die Hell-Dunkel-Thematik beinahe als Sopho­klesZitat: Die Blinden werden zu den Sehern. Je schwächer sein Augenlicht ist, desto klarer „sieht“ der nun alte Mann vom Lande. In der früher schon erwähnten Analyse von Politzer findet sich dazu folgende Bemerkung: „Selbst die Quelle allen Lichtes, das durch den ‚Prozess‘-Roman fällt, der Glanz, der in der Parabel des Geistlichen ‚unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht‘, öffnet ihre Lichtflut erst, als das Augenlicht des Mannes vom Lande schwach wird und er nicht mehr weiß, ‚...ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur die Augen täuschen‘. Nur eines ist gewiß, nachdem er einen Abschein jenes Glanzes genossen hat: ‚Nun lebt er nicht mehr lange.‘ Auch K. wird nicht mehr lange leben, nachdem er in den Worten des Geistlichen des tödlichen Lichtes teilhaft geworden ist.“68

Unwissenheit würde K. schützen. Aber er will wissen und befindet sich somit auf einem lebensgefährlichen, hermeneutischen Kreuzzug. Er möchte verstehen, wieso er sich in der Situation als Angeklagter befindet. Doch jede hermeneutische Ausführung der Legende analog zu seiner Situation bringt keine eindeutige Klärung, sondern nur viele neue Erklärungsmöglichkeiten. Das Licht – um Politzers Analyse und die (hermeneutische) Metaphorik wieder aufzunehmen – ist gefährlich. So wie der Mann vom Lande wird auch K. bald sterben. Die Black Box ist der Motor dieser Bewegung. Jegliches Streben nach (seiner) Funktionsweise ist gefährlich, weil es vom Effekt seiner Funktion ablenkt. Die Black Box erhellt sozusagen den Effekt ihrer Funktion: durch die Dunkelheit ins 68 | Politzer, Franz Kafka, S. 289-290 (Herv.i.O.).

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Licht.69 Vor und während der Erzählung der Legende hält K. eine Lampe, die schließlich, nachdem K. die Parabel scheinbar missversteht, erlischt.70 Die Lichtmetaphorik betrifft nicht alleine die Legende und ihre Interpretation im Process, denn sie ist schon beim Betreten des Doms augenfällig. Aufblickend nimmt K. plötzlich gewahr, dass der Hauptaltar mit Kerzen beleuchtet ist. Obwohl K. nicht mehr an das Auftauchen des Italieners glaubt, will er, gewappnet mit einer Taschenlampe, die Möglichkeiten ausleuchten, was er dem italienischen Geschäftsfreund hätte zeigen können. Deshalb erkundet der Lichtstrahl aus K.s Taschenlampe nun das Altarbild. Das, was darauf zu sehen ist, nimmt schon einiges vorweg, was in der Legende folgen wird. Die Betrachtungsbewegung geht vom Ausschnitt in die Totale: Abbildung 17-18

69 | Man könnte allerdings auch – wie Werner Hamacher in seinem Aufsatz „Die Geste im Namen“ – hier ein anderes Paradox anfügen: Die Offenheit macht das Eintreten im Präsenz, im „Jetzt“ unmöglich. In den Worten Hamachers: „[...] Struktur des Gesetzes [...]: es ist definiert als das Unbetretbare, Unbesuchbare, Unsichtbare. Es steht offen und hört zu Lebzeiten seines einzigen Besuchers nicht auf, für ihn offenzustehen; doch gerade diese Offenheit macht es unmöglich, zu irgendeinem gegebenen Jetzt in es einzutreten [...]. Es ist die Offenheit des Gesetzes, die sich der Opposition von Außen und Innen entzieht, seine Offenheit selbst, die sich verschließt. Gesetz ist, dass es immer nur ein Vor dem Gesetz gibt.“ (Hamacher, Werner: Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka, in: Ders.: Entferntes Verstehen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 286) 70 | Politzer, Franz Kafka, S. 147.

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Quelle: Der Process, FKA (Im Dom), S. 25

Die Bildbetrachtung setzt beim Ritter ein und endet bei der „Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung“. K. beobachtet aufmerksam den Vorgang im Bildausschnitt, mit dem „grosse(n) gepanzerte(n) Ritter“, der „aufmerksam einen Vorgang zu beobachten“ scheint. Diese Beobachtung zweiter Ordnung 71 nimmt in gewisser Weise das Prinzip der Verhandlung der Legende in dreifacher Hinsicht vorweg. Erstens ist in beiden Textstellen von einem Wächter (als Ritter und als Türhüter) die Rede. Beide sind mit ihrer Tätigkeit in den Sachverhalt involviert. Der Wächter beobachtet die Grablegung und der Türhüter unterhält sich mit dem Mann vom Lande. Diese Beobachtung wird wiederum durch K. beobachtet und die Kommunikation mit dem Mann vom Lande wird K. mit dem Geistlichen (kommunikativ) ausführen. Zweitens geht es dabei nicht wirklich um den „Kern“ der Sache, die Grablegung Christi oder die Frage, was denn das Gesetz („eigentlich“) sei, sondern um die Bildausschnitte oder die Frage, ob der Mann vom Lande getäuscht wurde. Drittens spielt in dieser Hermeneutik das Licht eine entscheidende Rolle. Das Wetter draußen ist düster und im Dom ist es dunkel. Der Lichtkegel der Taschenlampe gibt die Interpretationsrichtung vor. Obwohl das 71 | Siehe dazu auch Ino Augsberg: „Indem es sich zugleich stets überschreitet und auf sich selbst bezieht und im Bezug das in Bezug Genommene verändert, ist das Recht als Text mit sich selbst nicht-identisch. Es beobachtet sich selbst und weiß zugleich, dass die Beobachtung das Beobachtete nicht unbeeinflusst lässt.“ (Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, S. 84-85)

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Licht erhellend wirkt, muss K. „immerfort mit den Augen zwinkern [...], da er das grüne Licht der Lampe nicht vertrug“. Das Licht, welches Aufklärung in das Bild bringen würde, wird nicht ertragen. Damit nicht genug: Das Dreieck von Kerzenlicht auf dem Altar funkelt 72, die Säulenkerzen reichen nicht zur genügenden Beleuchtung der Altarbilder 73, das Licht der Taschenlampe ist grünlich74, die Lampe macht K. auf die kleine Kanzel aufmerksam 75, der Geistliche schraubt das Licht auf 76, K. trägt die Lampe 77, das Licht brennt in der Sakristei (gestrichene Stelle)78. Damit lässt sich Politzers Beobachtung bestätigen: Je länger K. mit dem Geist­ lichen spricht, desto dunkler wird es im Domkapitel. Zuletzt muss K. sogar um die Hand des Gefängniskaplans bitten, da er ansonsten in der Dunkelheit den Ausgang nicht mehr finden würde. Thomas Weitin stellte zu Beginn (durch die Lektüre von Cornelia Vismanns Text) fest: Die Präambel funktioniert als „eine zentrale hermeneutische Schranke“79, die den Zugang regelt. Wird dieser Zugang gewährt? Ja und Nein. Ja, weil der Zugang zur Funktion des Gesetzes gewährt wird. Und nein, weil die Funktion des Gesetzes die Schließung des Gesetzes ist. Das Gesetz kann nicht festgelegt werden. Es scheint eher eine „Leerform, ohne jeden Inhalt und ohne erkennbaren Gegenstand“80 zu sein. Selbst das Gesetzbuch, so Deleuze und Guattari, ist eigentlich ein „Pornoheft“. „[...] die Bücher des Richters erhalten nur obszöne Bilder.“81 Und dennoch ist die Reichweite des Gesetzes – und das ist vielleicht die tatsächliche Obszönität – beträchtlich. So wie dem Mann vom Lande der Eingang versperrt bleibt, so hat K. Mühe, den Gesetzmäßigkeiten des scheinbar allumfassenden Gerichts zu entfliehen. Alleine findet K. sowieso keinen Weg, doch auch die helfenden Hände sind suspekt. Alle „Helfer“ befinden sich in einer Beziehung zum Gericht. Dadurch gibt es keine 72 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 22. 73 | Ebd. 74 | Ebd., S. 25. 75 | Ebd., S. 29. 76 | Ebd., S. 33. 77 | Ebd., S. 42. 78 | Ebd., S. 58. 79 | Weitin, Recht und Literatur, S. 72. 80 | Deleuze/Guattari, Kafka, für eine kleine Literatur (Im Dom), S. 60. 81 | Ebd., S. 68.

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Abstraktionsmöglichkeit, welche dazu befähigen würde, die Konsistenz des Gesetzes zu bestimmen. Weil die Konsistenz nicht bestimmbar ist, rückt das Verfahren in den Vordergrund. Das Gesetz des Gesetzes ist sein (autopoietisches) Verfahren. Genau diese Verdoppelung spricht auch Derrida an: „Ich sage hier noch einmal ‚das Gesetz der Gesetze‘, weil man in der Erzählung Kafkas nicht weiß, um welche Art von Gesetz es sich handelt, um das der Moral, des Rechts oder der Politik, ja sogar der Natur et cetera.“82

Es scheint in der Gesetzmäßigkeit des Gesetzes zu liegen, nichts zu klären und – wie es die Lichtmetaphorik im Kapitel zeigt – kein Licht ins Dunkel zu bringen. Das Gesetz erklärt sich selbst nicht.83 Es scheint nur da zu sein und sich umfassend um das Romanfragment zu spannen. ­Giorgio Agamben spricht in Homo Sacer I: Die souveräne Macht und das nackte Leben von einer „reinen Form des Gesetzes als „Geltung ohne Bedeutung“, was zum ersten Mal bei Kant erscheine. „Was er in der Kritik der praktischen Vernunft ‚bloße Form des Gesetzes‘ nennt (Kant I, S. i 38), ist in der Tat ein auf den Nullpunkt seines Gehalts reduziertes Gesetz, das gleichwohl als solches gilt.“84

Und er fährt bezüglich Kafka fort: „Und es ist genau ein Leben dieser Art, wie es Kafka beschreibt, in dem das Gesetz um so durchdringender ist, je mehr es ihm an jeglichem Gehalt mangelt, und ein zerstreutes Klopfen an ein Tor unkontrollierbare Prozesse in Gang setzen kann.“85 82 | Derrida, Préjugés, S. 45 (Herv.i.O.). 83 | Man könnte mit Werner Hamacher sogar radikalisieren und behaupten, das Gesetz ist nur, wenn es sich seiner Darstellung entzieht: „Wie der Mann vom Lande bleibt auch die Parabel Vor dem Gesetz vor dem Gesetz und spricht nur so seine Wahrheit, das Gesetz des Gesetzes und ihr eigenes aus: dass es verstellt ist. Gesetz ist, was sich der Darstellung entzieht.“ (Hamacher, Die Geste im Namen, S. 286 [Herv.i.O.]) 84 | Agamben, Homo Sacer, S. 62 (Herv.i.O.). 85 | Ebd., S. 63.

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Das Gesetz durchdringt auch das Subjekt. Es gibt kein externes Urteil, es gibt kein Verdikt, dass zu K.s Tod führt. K. wird am Schluss zum eigenen Richter. So steht am Schluss des Domkapitels: „Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf, wenn Du kommst und es entlässt Dich wenn Du gehst.“86 Versteht man dieses Kommen und Gehen als Allegorie auf das Leben, dann ist dem Leben das Gesetz inhärent. Das Gesetz des Gesetzes wäre folglich die fortwährende (Selbst-)Setzung durch das Rechtssubjekt. Und damit wäre der Weg zurück geschafft zu Gott: „Wir achten nicht auf eine Himmlische Stimme, denn Du selbst hast am Berg Sinai in die Thora geschrieben: ‚Der Mehrheit muss man sich beugen‘.“ Jener Gott, der da lacht und sagt: „Meine Söhne haben mich geschlagen, meine Söhne haben mich geschlagen“87 ist wahrlich selbstbewusst, denn mit dem Lachen erlischt gleichsam der göttliche Glanz. Auch wenn er Recht hat, hat er auf Erden kein Recht, Recht zu sprechen. Dem Gebot „Der Mehrheit muss man sich beugen“, „entrechtet“ den Anspruch auf eine göttliche Wahrheit. Die Wahrheit basiert nun auf einem irdischen Verfahren.

2.3 V erfahren z weiter O rdnung In den einleitenden Worten zu diesem Kapitel hieß es: Das Urteil steht nie fest, denn es geht ins Verfahren über: „Das Verfahren Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.“88 Dieses in das Urteil hinübergehende Verfahren soll in diesem Kapitel diskutiert werden. Dabei geht es zunächst um die Legende, das heißt die unmittelbare Interpretation der Legende und dann um die Interpretationen der Interpretation der Legende. Dabei interessiert insbesondere eine weitum bekannte Analyse, nämlich Walter Benjamins Interpretation in „Franz Kafka: Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“. Benjamin adaptiert das Interpretationsproblem. Er modelliert seine Interpretation so, dass das, was zu interpretieren wäre, in eigene Worte gefasst wird, die wiederum denjenigen des zu Interpretierenden ähnlich sind. Deshalb wird hier von Adaption gesprochen. 86 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 62. 87 | Teubner, Recht als autopoietisches System, S. 7. 88 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 38 (Herv.i.O.).

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Zunächst aber stellt sich die Frage, um welches Interpretationsproblem es bei Kafka geht. Bisher wurde über die Interpretation in Form der Rechtsauslegung gesprochen. K. scheitert in seinen Bemühungen, „sein“ Rechtsverfahren zu verstehen. Weder die rechtlichen Abläufe noch die eigentlich zur Klärung dienenden Gespräche scheint er zu verstehen. Konkret sind ihm seine Verhaftung, das Gerichtsprozedere, die Aktanten rund um das Gericht und das Gesetz völlig unklar. Hier wird nun nochmals auf die Thematik der Unklarheit zurückgekommen, diesmal jedoch weniger unter dem Aspekt des Rechts und der Rechtsauslegung, sondern unter dem Aspekt von Textauslegung. Kafkas Texte haben, wie schon Horst Turk bemerkt, „die Tendenz, das Problem ihrer Auslegung selbst zu thematisieren“.89 Und diese Selbstthematisierung findet sich im Romanfragment gleich nach der Wiedergabe der Legende.

2.3.1 Grammatik vs. Allegorik Der Legendenerzählung folgen zunächst Streichungen: So wird vom Passiv ins Aktiv („Der Mann hat sich also vom Türhüter täuschen lassen“ “Der Türhüter hat also den Mann getäuscht“ 90 ) „übersetzt“ und teilweise sogar doppelt oder dreifach „gestrichen“. Danach geht es direkt ins Interpretationsgespräch. K. bietet gleich einen Interpretationsansatz, denn er meint, dass der Türhüter den Mann getäuscht habe. Der Geistliche ermahnt ihn, nichts zu übereilen und nicht eine „fremde [U]Meinung ungeprüft“91 zu übernehmen. Welche „fremde Meinung“ ist gemeint? Die erste Interpretation erfolgt durch K., der die Legende vor ihrer Erzählung nicht kannte. Wie könnte er dabei eine „fremde Meinung“ übernehmen? Es scheint, als wäre das Votum gegen die „fremde Meinung“ eher Ausdruck einer Interpretationsqualität, für die der Geistliche einsteht: Genauigkeit. Der Geistliche sagt: „Ich habe Dir die Geschichte im Wortlaut der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts.“92 Dies ist

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89 | Turk, Horst: ‚betrügen... ohne Betrug‘. Das Problem der literarischen Legitimation am Beispiel Kafkas, in: Kittler, Friedrich A./Turk, Horst (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 403. 90 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 46 (Herv.i.O.). 91 | Ebd. (Herv.i.O.). 92 | Ebd.

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nicht die einzige Stelle, bei der der Geistliche auf Genauigkeit besteht. „Du hast nicht genug Achtung vor der Schrift und veränderst die Geschichte“93 und „Du musst nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber, dass dem darüber.“94 Der Geistliche fokussiert also auf die Schrift und besteht auf Genauigkeit. Diese Genauigkeit scheint ein Element des Interpretationsmodells zu sein, mit dem der Geistliche arbeitet. Und dieses Modell scheint sich klar von K.s Modell zu unterscheiden. Was hier verhandelt wird, ist demnach nicht einfach nur die Legende, sondern auch die Frage, wie die Legende zu verhandeln sei. Rainer Nägele beschreibt in seinem Aufsatz „Kafka and the Interpretive Desire“ diesen Umstand wie folgt: „It becomes clear that K. and the priest operate within two radically different and perhaps mutually exclusive interpretive models, which could be paralleled roughly with the two major hermeneutical traditions of ‚grammatical‘ vs. ‚allegorical‘ interpretation. If the grammatical interpretation primarily cares for the letter and the wording, the allegorical interpretation seeks to save the meaning of the text by making it accessible to ever-new horizons of historical and individual experiences.“95

Es geht laut Nägele nicht nur um eine Hermeneutik der Legende, sondern auch um eine Hermeneutik der Hermeneutik. Um diesen Umstand genauer zu beleuchten, sollen die verschiedenen Interpretationen unter die Lupe genommen werden. K. bietet gleich nach der Legendenerzählung einen Interpretationsansatz, indem er behauptet, dass der Türhüter den Mann getäuscht habe. Der Geistliche widerspricht: „Von Täuschung steht darin nichts.“ An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Legende erst wegen einer Täuschung erzählt wird („Über (In) d(as)em Gericht täuscht Du Dich“).96 Insofern stimmt die Aussage des Geistlichen nur im engen Sinne der Legende. Und genau das ist der Punkt, den auch Nägele stark macht. Der Geistliche interpretiert im engen Sinne der Legende, obwohl er diese ja nur erzählt, um K.s Situation zu klären. K. ver93 | Ebd., S. 49. 94 | Ebd., S. 53 (Herv.i.O.). 95 | Nägele, Kafka and the Interpretive Desire, S. 27 (Herv.i.O.). 96 | Ebd., S. 42 (Herv.i.O.).

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sucht nun, die Legende für sich verständlich zu machen. Der Geistliche scheint jedoch diesen Plan zu durchkreuzen, indem er die relativ freien Interpretationen von K. immer wieder korrigiert. Dabei sind die korrigierenden Worte des Geistlichen ziemlich unverständlich, denn es ist nicht erkennbar, welche „fremde Meinung“ K. „ungeprüft“ hätte übernehmen können. Doch rätselhafte Worte sind nicht nur von Seiten des Geistlichen zu vernehmen, denn K. fährt fort: „[...] Deine erste Deutung war ganz richtig.“97 Welche Deutung ist hier gemeint? Der Geistliche hat nach der Erzählung der Legende keine Deutung abgeliefert, sondern nur K.s Deutung korrigiert. Oder ist damit die Legende als die Deutung von K.s Frage nach dem Gericht gemeint? Ob „fremde Meinung“, „Täuschung“ oder „Deutung“, nur schon der Beginn der Interpretation ist unklar. So verwirrend die Legende mit ihrem Schluss ist, so verwirrend beginnt auch ihre Deutung. Nach dieser nicht abschließend zu klärenden Deutungsfrage fahren die beiden fort, indem sie über die Pflicht des Türhüters diskutieren. K. ist der Meinung, dass der Türhüter den Mann vom Lande hätte „e[r]inlassen müssen“.98 Daraufhin verweist der Geistliche auf zwei Stellen in der Legendenerzählung und bestätigt wiederum sein Bestehen auf der „Wiedergabentreue“. Der Geistliche führt sein Argument noch weiter aus und behauptet, dass der Türhüter vielleicht sogar über seine Pflicht hinausgegangen sei. Über seine Pflicht hinausgehen hieße auch, dass der Türhüter durchaus freundlich ist und zuletzt in den Worten „Du bist unersättlich“99 einen freundschaftlichen Ton anklingen lässt. Seine lange Erklärung fundiert er mit Hilfe von „Erklärer der Schrift“, was mehrfach wiederholt wird.100 Daraufhin gibt der Geistliche in einer längeren Erklärung die „Meinung“ wieder, dass der Türhüter dem Mann vom Lande unterstellt ist und nicht umgekehrt, weil der Mann vom Lande grundsätzlich freiwillig vor dem Gesetz ist:

97 | Ebd., S. 46. 98 | Ebd., S. 49. 99 | Ebd., S. 50. 100 | Zum Beispiel Ebd., S. 49, 50, 53.

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Abbildung 19

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 54

Den Punkt, dass der „T. [...] durch sein Amt an seinen Posten gebunden[.] [ist]“ führt Horst Turk in seiner Analyse „‚betrügen... ohne Betrug‘. Das Problem der literarischen Legitimation am Beispiel Kafkas“ aus, indem er darauf aufmerksam macht, dass der Mann vom Lande seine Unfreiheit aus der „Unentscheidbarkeit der Situation, die er (dadurch, dass er sich als „Unfreien“ sieht, selbst) heraufführt.“101 Außerdem sei zu beachten, dass der Mann vom Lande am Ende „den Glanz, der aus dem Eingang des Gesetzes bricht“102, sieht, im Gegensatz zum Türhüter. Doch die Erwiderung von K. lautet, dass er von seiner ursprünglichen „Meinung“ nicht abrücke. K. behauptet immer noch, dass der Mann vom Lande getäuscht worden sei. Der Geistliche entgegnet, es gäbe die Meinung, dass der Türhüter schlicht ein Diener des Gesetzes sei und „dem menschlichen Urteil entrückt“.103 Der Mann vom Lande komme freiwillig zum Gesetz, der 101 | Turk, ‚betrügen... ohne Betrug‘, S. 400. 102 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 57. 103 | Ebd.

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Türhüter wiederum müsse seine Dienstpflicht erfüllen. In einer etwas seltsamen Volte widerspricht K. und sagt, dass dadurch alles, was der Türhüter sage, für wahr gehalten werden müsse. Abbildung 20

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 58

Damit ist das Ende der Legendenauslegung eingeläutet. Denn daraufhin folgt eine lange, gestrichene Passage und danach das Ende des Dom-Kapitels. K. hat wiederum keine Ahnung, wo im Dom er sich befindet. Der Geistliche weist K. den Weg zum Ausgang und das Kapitel endet mit den denkwürdigen Worten des Gefängniskaplans: „‚Warum sollte ich also etwas von Dir wollen, Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf wenn Du kommst und es entlässt Dich wenn Du gehst.“104 Das Gericht erscheint am Schluss nochmals als die schon erwähnte Black Box, als jenes unfassbare Ding, welches zwar Veränderungen hervorbringt, dennoch nicht auf etwas festzulegen ist. Das Gericht hat keine aktive Funktion, sondern ist nur ein Transformator – wenn man so will – zwischen Leben und Tod. Denn es ist daran zu erinnern, dass sich die Erzählung von der Verhaftung bis zum Tode K.s über ein Jahr erstreckt. Dieselbe Transformationsleistung scheint auch in der Legendenauslegung angelegt zu sein. Für den Geistlichen ist die Legende eine Black Box, das heißt in ihrer Materialität, ihrer Schrift, unerschütterlich. Wiederum ist K.s Auslegungshorizont, wie schon Rainer Nägele erwähnt, „allegorisch“: „[T]he allegorical interpretation seeks to save the meaning of the text by making it accessible to ever-new horizons of historical and individual experiences.“105 K. bringt die Interpretation der Legende 104 | In Kafkas Handschrift fehlt das Schlusszeichen (Kafka, Der Process, FKA [Im Dom], S. 62). 105 | Nägele, Kafka and the Interpretive Desire, S. 27.

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auf den Horizont seiner Geschichte.106 Der Türhüter ist ein Lügner, weil er die Bemühungen des Mannes vom Lande zwecklos erscheinen lässt. So ist das Resultat der Legende eine ausgestellte Zwecklosigkeit jeglicher Hermeneutik. Und „zwecklos“ ist ganz im Sinne der grandiosen kurzen Erzählung Kafkas „Ein Kommentar“ gemeint, worin ein namenloses Ich im „Weg unsicher“ wird und einen „Schutzmann in der Nähe“ „nach dem Weg“ zum Bahnhof fragt. Die Antwort des lächelnden Schutzmannes ist: „Gibs auf, gibs auf!“107 Die Worte des Geistlichen sind für K. so wertvoll, wie jene des Schutzmannes. Der Wissenshunger wird zum Problem für K. Das Gespräch endet wie so viele Gespräche im Romanfragment ohne konkretes Ergebnis. „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“, so das frustrierte Fazit von K. bezüglich der grammatikalischen Interpretation des Geistlichen. Dabei übersieht er, dass der Geistliche gerade nicht mit den Kategorien „Lüge“ oder „Wahrheit“ operiert. K. braucht in seiner Interpretation jedoch diese Kategorien, um die Funktion des Gerichtes für seine Situation zu klären. Die Erklärung des Geistlichen zum Gericht ist 106 | Im „Horizont“ klingt schon bei Nägele die Horizontverschmelzung nach Hans Georg Gadamer an: Gadamer beschreibt in Wahrheit und Methode die ­H orizontverschmelzung als eine Begegnung der Vergangenheit mit (den Vorurteilen) der Gegenwart: „Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“ (Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Akademie 1990, S. 311) 107 | Die Erzählung verdient vollständig wiedergegeben zu werden: „Es war sehr früh am Morgen, die Strassen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich dass es schon viel später war als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst Du den Weg erfahren?‘ ‚Ja‘, sagte ich, ‚da ich ihn selbst nicht finden kann.‘ ‚Gibs auf, gibs auf‘, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“ (Kafka, Franz: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. von Roger Hermes, 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 1998, S. 462)

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insofern eine „Lüge“, weil sie nichts erläutert, sondern nur die verschiedenen Meinungen zur Legende wiedergibt. K. steht also vor verschiedenen Meinungen, die keine abschließenden Worte zulassen. Die Grammatik des Geistlichen ist nicht abschließend, sondern, wie schon Hans Hiebel im Kafka-Handbuch bemerkt, der „Motor“ eines „unabschliessbaren Auslegungsprozess[es]“.108 Somit ist K. so klug wie zuvor. Die von ihm propagierte Lüge des Türhüters ist der einzige Hoffnungsschimmer, denn nur sie kann einen letzten Funken an Stabilität in die Erklärungen bringen. Die Legende würde dann zumindest ein wenig Sinn machen. An dieser Stelle noch ein paar Worte zur Argumentationsstruktur: Die Argumentationen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Längen. Der Geistliche gibt sehr wortreich verschiedene „Meinungen“ wieder. In beinahe schon dialektischer Manier fügt er jeder Meinung von K. eine Gegenmeinung an. Außerdem verweist er auf den „Wortlaut“ der Schrift – an einigen Stellen zitiert der Geistliche direkt aus der Legende109 – und bewegt sich deshalb nicht nur in einer grammatischen Dimension der Genauigkeit, sondern beinahe schon in einer diskursanalytischen, in der 108 | „Wie die jüdische Tora bzw. Halacha scheint das ‚Gesetz‘ tabu zu sein, aber auch die zugängliche Einführung in dasselbe, eben die ‚Legende‘, ist gewissermaßen unantastbar und einem unabschließbaren Auslegungsprozess ausgesetzt.“ (Hiebel, Hans H.: Der Process/Vor dem Gesetz, in: Jahraus/von Jagow, Kafka-Handbuch, S. 470 [Herv.i.O.]) Des Weiteren bemerkt Hiebel ganz allgemein zu Kafkas Texten: „Erst im Durchgang durch die Assoziationen, die einzelnen, gleitenden Sinnbeziehungen, erschließen sich Kafkas Texte, und zwar prozessual, punktuell, immanent, auch wenn all die Deutungsreize am Ende der gleitenden Metaphorik und prozessualen Allegorese in die Leere und zu keinem Endresultat führen.“ (Ebd., S. 457) Mit Henry Sussmans Analyse The Trial. Kafka’s Unholy Tri­ nity könnte man noch weitergehen und im gesamten Roman oder zumindest in der Legende die Verzweiflung der interpretierenden Lesenden wiederfinden: „Like The Trial itself, the Parable of the Doorkeeper solicits and inspires a full range of its readers’ reactions and awareness. It must finally be inconclusive, like The Trial it­ self, but in its process it has achieved the reintegration that is literature’s response and defiance to the tragedy of human existence.“ (Sussman, Henry: The Trial. Kafka’s Unholy Trinity, New York [NY]: Twayne Publishers 1993, S. 137 [Herv.i.O.]) 109 | Zum Beispiel hier: „Die eine Stelle lautet: ‚dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne‘ und die andere: ‚dieser Eingang war nur für Dich bestimmt‘.“ (Kafka, Der Process, FKA [Im Dom], S. 49)

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die verschiedenen Meinungen wiedergegeben werden. K. hingegen bleibt wortkarg. Er unterbricht den Geistlichen bei seinen langen Erklärungen nur selten mit vorsichtigen Zwischenfragen und Bemerkungen, wie zum Beispiel: „Du glaubst also der Mann wurde nicht getäuscht?“ oder „Das ist gut begründet“.110 Bisher wurde von unterschiedlichen Interpretationsansätzen und unterschiedlichen Interpretationslängen gesprochen. Nun geht es um das Urteil. K.s Interpretation sucht, so scheint es, seine Erfüllung im Urteil. Denn sein Fazit, dass der Türhüter den Mann vom Lande anlüge, erscheint wie ein Urteil. Und das ist wiederum der Punkt, an welchem der Geistliche interveniert. Wo K. ein Urteil fordert, widerspricht er: Abbildung 21

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 57

Die Interpretation des Geistlichen führt nicht zu einem abschließenden Urteil. Mehr noch, sie betont die paradoxale Struktur in der Auslegung. Das Verstehen und das Missverstehen geschehen gleichzeitig: „Die Erklärer sagen hierzu: Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schliessen einander nicht vollständig aus.“111 K. will verstehen, will sich ein singuläres Urteil bilden, während der Geistliche auf die Problematik des Verstehens aufmerksam macht. Und so wird die Situation um Verstehen und Urteilen gedoppelt. Die Legendenauslegung wird selbst zu einer nachgespielten Legendensituation. Es wird nicht die Legende erklärt – das eigentliche Ziel von K., wie sein eigentliches Ziel auch dasjenige wäre, das Gericht, das Gesetz, seinen Prozess zu verste110 | Ebd., S. 53, 57. 111 | Ebd., S. 50.

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hen –, sondern die Legende wird in ihrer Auslegung repetiert. Wie schon gesagt, schlüpft K. in die Rolle des Mannes vom Lande und der Geistliche in die Rolle des Türhüters. Die Worte des Geistlichen/Türhüters sind unbestimmt, während der Wille zur Wahrheit K. und den Mann vom Lande treiben. Die Interpretation der Legende ist nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen einer „grammatikalischen“, genauen, dem Wortlaut folgenden Interpretation mit einer allegorischen, auf eine finale Erklärung hin zugewandten Interpretation, sondern eine Auseinandersetzung mit der Interpretation selbst. Diese Problematik der doppelten Interpretation wird in Walter Benjamins „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“112 vollführt.

2.3.2 Die Entfaltung der Parabel Es geht nun darum, dass die Interpretation der Legende bei Benjamin selbst zu einer Legende über die Interpretation wird. Oder in Henry Sussmans Worten: „Benjamin’s major tribute to Kafka, commemorating the tenth anniversary of his death (in 1934), is itself a folktale or enigma criticism at the same time that it surveys Kafka’s foundations in myth, legend, parable, and Rabbinic agadah.“113 Benjamins Text ist selbst gleich112 | Benjamin, Franz Kafka, 1981. 113 | Sussman, The Trial. Kafka’s Unholy Trinity, S. 22 (Herv.i.O.). Laut Sussman bewegt sich Kafka immer auf der Schwelle zwischen Medien- und Kulturtheorie. Er betrachtet einerseits die Effekte der Legende als medial Gemachtes, als eine Inszenierung als Parabel. Andererseits steht die Parabel kulturell auch in der Tradition der rabbinischen Erzählung. Es empfiehlt sich dazu das Fazit von Sigrid Weigel in Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder zu beachten, welches den Zusammenhang von Medien- und Kulturtheorie bei Walter Benjamin wie folgt erklärt: „Resümierend stellt sich der Zusammenhang von Medien- und Kulturtheorie in Benjamins Schriften als dialektische Figur dar. Während seine Kulturgeschichte der Moderne in einer Geschichte der Medien gründet, wurde diese zunächst über eine technische Reformulierung des Details, als Dispositiv optischer Medien entwickelt, aus dem einige kulturelle Effekte der Apparate ausgeblendet wurden. Mit der Einführung der Sprache der Psychoanalyse in die Medientheorie hat Benjamin im Optisch-Unbewußten eine Kategorie gefunden, die die Voraussetzung darstellt, um, über eine Verzeitlichung des Details im Chock und die Wirkung der Medien im Unbewußten, die Geschichte der Medien in die psychoanalytische Theo-

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sam Märchen, Rätsel und Analyse von Kafkas Verarbeitung von Mythen, Legenden, Parabeln und Rabbinischer Erzählung. Der Text über Kafka überschreitet Grenzen, weil er einerseits eine essayistische Interpretation der Legende ist und andererseits zugleich Legende wird. Doch zunächst ein paar Worte zur Rezeptionsgeschichte von Benjamins Kafka-Lektüre: Obwohl sich Benjamin ausführlich mit dem Werk von Kafka beschäftigt haben soll, gibt es nur wenige Zeugnisse dieser Arbeit. Zum einen wurde am 3. Juli 1931 der Vortrag „Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer“ beim Frankfurter Rundfunk ausgestrahlt, ein 1928 projektiertes Buch „ist nicht zustandegekommen“.114 Im Benjamin-Handbuch führt Sigrid Weigel aus, dass Benjamin „[n]ur zwei seiner Beiträge [...] gedruckt gesehen [hat]: den kurzen Artikel ‚Kavaliersmoral‘ in der Litera­ rischen Welt (25.10.1925), in dem er Brods Entscheidung, sich über Kafkas Aufforderung zur Vernichtung seiner nachgelassenen Schriften hinwegzusetzen, verteidigt [...]; und zwei der vier Kapitel seines Essays“, von dem die Rede ist („Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“) und das „Ende 1934 in der Jüdischen Rundschau erschienen“ ist, als Teilpublikation.115 Es wurden darin die Kapitel „Potemkin“ und „Das bucklicht Männlein“ publiziert. Erst „[...] fünfzehn Jahre nach Benjamins Tod wurde der Kafka-Essay durch Adornos zweibändige Edition der Schriften 1955 in vollem Umfang bekannt“.116 Dieser Essay ist das wohl wichtigste Zeugnis von Benjamins Auseinandersetzung mit Kafka geblieben. Er beinhaltet vier Kapitel: „Potemkin“, das mit einer Anekdote über Potemkin beginnt und die „wie ein Herold“ sei, „der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürmt“117, dann folgt „Ein Kinderbild“, welches die Prosaskizze Kafkas „Wunsch, Indianer zu werden“ verhandelt und welche außerdem die anfangs zitierte ­Stelle beinhaltet, dann folgt „Das bucklicht Männlein“, das die sonderbaren rie des Gedächtnisses einzutragen.“ (Weigel, Sigrid: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 332) 114 | Weigel, Sigrid: Zu Franz Kafka, in: Lindner, Benjamin Handbuch, S. 543. 115 | Ebd., S. 543 (Herv.i.O.). 116 | Ebd. (Herv.i.O.). Siehe zu der Geschichte der Kafka-Rezeption auch: Jennings, Michael: ‚Eine gewaltige Erschütterung des Tardierten‘: Walter Benjamin’s Political Recuperation of Franz Kafka, in: Taubeneck, Steven (Hg.): Fictions of Culture. Essays in Honor of Walter H. Sokel, New York (NY): Peter Lang 1991, S. 199-200. 117 | Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, S. 10.

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Gestalten in Kafkas Texten betrachtet, und der Text endet mit dem Kapitel „Sancho Pansa“. Ähnlich wie bei Kafkas Texten ist es schwierig, das Essay kurz und prägnant zusammenzufassen. Das liegt einerseits an der unlinearen Aufreihung von anekdotischen Beispielen, andererseits auch an der enigmatischen Sprache Benjamins, die gerade dort besonders rätselhaft wird, wo konkrete Kafka-Textstellen interpretiert werden. Eine solche Stelle ist die folgende: „Man denke an die Parabel ‚Vor dem Gesetz‘. Der Leser, der ihr im ‚Landarzt‘ begegnete, stieß vielleicht auf die wolkige Stelle in ihrem Innern. Aber hätte er die nichtendenwollende Reihe von Erwägungen angestellt, die diesem Gleichnis dort entspringen, wo Kafka seine Auslegung unternimmt? Das geschieht durch den Geistlichen im ‚Prozeß‘ – und zwar an einer so ausgezeichneten Stelle, daß man vermuten könnte, der Roman sei nichts als die entfaltete Parabel. Das Wort ‚entfaltet‘ ist aber doppelsinnig. Entfaltet sich die Knospe zur Blüte, so entfaltet sich das aus Papier gekniffte Boot, das man Kindern zu machen beibringt, zum glatten Blatt. Und diese zweite Art ‚Entfaltung‘ ist der Parabel eigentlich angemessen, des Lesers Vergnügen, sie zu glätten, so daß ihre Bedeutung auf der flachen Hand liegt. Kafkas Parabeln entfalten sich aber im ersten Sinne, nämlich wie die Knospe zur Blüte wird.“118

Zu Beginn wurde die Frage gestellt, was es für den Text Kafkas bedeutet, wenn sich die Parabel für die Rezipienten entfaltet wie die Knospe zur Blüte. In der Einleitung stand, dass es Benjamin nicht um eine Bedeutungserklärung gehe, sondern um eine Erklärung des Verfahrens zur Bedeutung. Benjamin „glättet“ die Bedeutung der Parabel nicht, er adaptiert das Verfahren der Parabel. Das Verfahren liegt in der Erklärung der Parabel durch eine weitere Parabel („Knospe zur Blüte“).119 Was also Benjamin in seiner 118 | Ebd., S. 20 (Herv.i.O.). 119 | Auch wenn der Aufsatz „Not, Bremse: Nichts wird je (wieder) so sein, wie es war“ von Carol Jacobs mit der Interpretation von „Die Aufgabe des Übersetzers“ einsetzt, ist darin eine Beschreibung von Benjamins Vorgehen zu finden, die auch zu diesem Text hier passen könnte. Es geht dabei um die Verfremdung. Eventuell ließe sich die Stelle bei Benjamin auch als eine solche Verfremdung sehen. Carol Jacobs schreibt: „Der Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers ist [...] exemplarisch, sofern er jeden seiner Ausdrücke bis zur Unverständlichkeit verfremdet, indem er

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Interpretation vollführt, stellt die Interpretation in Frage. Das heißt, anders als der Geistliche/Türhüter oder der K./Mann vom Lande, anders als eine „grammatikalische“ und „allegorische“ Auslegung der Legende, liefert Benjamin eine Interpretation, die nicht wirklich erklärend ist, weil sie von den Lesenden in anstrengender Arbeit interpretiert werden muss. Es scheint, als schraubte Benjamin weiter an der endlosen „Interpretations­ spirale“. Selbst diese „Spirale“ lässt sich fröhlich weiterschrauben: Werner Hamachers Interpretation im Aufsatz „Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka“ setzt dieses Interpretationsspiel fort. Auch er adaptiert: Sein Text dient nicht im klassischen Sinne zur Klärung der Benjamin’schen Kafka-Interpretation. Dabei legt er seinen Fokus auf die „wolkige Stelle“ bei Benjamin. Diese „wolkige Stelle“ erscheint laut Hamacher „[i]n dreien der insgesamt vier Teile von Benjamins Aufsatz“.120 „Die wolkige Stelle, von der Benjamin hier redet, ist im Text der Parabel die Trübung, die nicht auf die Lehre transparent ist. Die Wolke stellt nicht dar, sondern verdeckt, bestenfalls entstellt sie und desavouiert in jedem Fall die Aufgabe der beispielhaften, unterweisenden Erzählung, die Moral, der sie dient, unverzüglich und ungetrübt zur Kenntnis zu bringen. [...] Sowenig diese wolkige Stelle noch eine pädagogische und moralische, sowenig hat sie in der Ökonomie des Textes eine positive semantische Funktion. Diese wolkige Stelle, die nicht mehr darstellt, nicht vermittelt oder unterweist, betreibt in Benjamins Sicht die Transformation der literarischen Darstellung ins buchstäbliche und nur noch mystisch bewohnbare Leben.“121

Was ist die Trübung, die nicht auf die Lehre transparent ist? Vielleicht spricht Hamacher an dieser Stelle die Tatsache an, dass die Legende parabelhafte Züge trägt, jedoch nicht, wie bei einer Parabel üblich, zu einer gleichnishaften Allegorese führte. Die Lesenden verstehen die Parabel nicht, obwohl sich die Legende als Parabel zu lesen gibt. Oder spricht Hamacher die Aggada an, die Beschäftigung mit nicht-juristischen Texten in der Tradition der rabbinischen Literatur? Denn die Aggada folgt der uns Metaphern von sich entfaltenden und zur Reife gebrachten Samenkörnern bietet, nur um sie wieder zu entwurzeln.“ (Jacobs, Carol: Not, Bremse: Nichts wird je (wieder) so sein, wie es war. Zu Benjamins Lehre vom Ähnlichen und Über Sprache überhaupt, in: Hart Nibbrig, Übersetzen: Walter Benjamin, S. 394 [Herv.i.O.]) 120 | Hamacher, Die Geste im Namen, S. 284. 121 | Ebd., S. 284-285.

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zitierten Textstelle: „Das hindert nicht, dass seine Stücke nicht gänzlich in die Prosaformen des Abendlandes eingehen und zur Lehre ähnlich wie die Haggadah zur Halacha stehen.“122 Diese prominente Stelle, die das Verhältnis der Halacha, dem rechtlichen Teil der jüdischen Überlieferungen, und dem nicht-rechtlichen Teil, der Aggada aufzeigt, ist oft zitiert und analysiert worden, wie zum Beispiel von Henry Sussman oder – wie folgt – von Sigrid Weigel: „Den besonderen Charakter von Kafkas Literatur verortet Benjamin hier jenseits der Ausdifferenzierung von Gleichnis und Dichtung: zwischen Parabel und Prosa, der Dichtung nur ähnlich. Kafkas Parabeln entfalten sich ‚nämlich wie die Knospe zur Blüte wird‘; sie stünden ‚zur Lehre ähnlich wie die Haggadah zur Halacha‘ (420), d. h. wie die Erzählungen zu den Gesetzen der mündlichen jüdischen Überlieferung.“123

Das Verhältnis von der Parabelerzählung respektive Parabelentfaltung und (Parabel-)Lehre setzt Benjamin in ein Verhältnis von Erzählung und den Gesetzen in der jüdischen Überlieferungstradition. Die Lehre als „Gesetz“ und die Erzählung als Parabelentfaltung: Das eröffnet tatsächlich weitere Perspektiven auf die Auslegung der Legende. Die Lehre, das Gesetz: Sie eröffnen sich nicht in der Erzählung der Geschichte von K., sondern nur als Prozess, der eben diese Lehre und das Gesetz nie verfestigt. Und so kann, um wieder auf die Interpretation von Hamachers Benjamin-Interpretation zurückzukommen, auch die Stelle gelesen werden: „Die wolkige Stelle, von der Benjamin hier redet, ist im Text der Parabel die Trübung, die nicht auf die Lehre transparent ist.“ Nichts ist transparent, auch nicht Hamachers Erklärung. Denn auch seine Erzählung ist „trübe“, so dass sie nicht die Lehre transparent macht. Hamacher adaptiert Benjamin im Verfahren Benjamins. Insofern hat Hamacher recht, wenn er schreibt, dass die wolkige Stelle weder eine „pädagogische und moralische“ oder „in der Ökonomie des Textes eine positive semantische Funktion“ besitzt. Sie „stellt nicht dar“, sie „vermittelt“ oder „unterweist“ nicht. Sie ist vielmehr – und das ist die Doppelung dieser Sichtweise – eine Verdeckung der Verdeutlichung durch die Auslegung. Hamacher geht aber noch weiter. Er unterstellt selbst das Wort „wolkig“ dieser Verdeckung: 122 | Benjamin, Franz Kafka, S. 20. 123 | Weigel, Zu Franz Kafka, S. 549.

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„Nun muß aber das Gesetz der wolkigen Stelle auch für die Rede von der ‚Wolke‘ und die Struktur ihres Heißens gelten – anders wölkte sie sich nicht im Gesetz –, und also ‚heißt‘ wolkige Stelle, dass sie nicht heißen, nicht benennen und bedeuten kann.“124

Verdeckung meint im Sinne Hamachers auch die Unmöglichkeit einer präzisen Bezeichnung von „wolkig“. Und das ist wohl der Kern – es mutet ironisch an, hier von „Kern“ zu sprechen – von Hamachers dekonstruktiver Lektüre: Der erklärende Text ist derselben subversiven Bewegung unterworfen wie der erklärte Text. Allerdings ist nicht klar, ob und wie sich Hamacher auf die Historizität der „Wolke“ bezieht.125 Doch so weit muss man nicht gehen, denn die Auslegungsstruktur, die Art und Weise, wie die Auslegungen erfolgen, ist dekonstruktiven Prinzipien unterworfen. Man muss nicht zwingend die eigene Analysesprache der systemischen Bewegung angleichen, um zu sehen, dass die Auslegung der Legende von Kafka durch die Romanfiguren im Process selbst, also durch den Geistlichen und durch K., aber auch durch Benjamin und Hamacher, unangemessen im Sinne einer „klassischen“ Parabel ist, also so „unangemessen“, wie Benjamin in der zitierten Stelle verlauten lässt. Denn nur die „zweite Art ‚Entfaltung‘ ist der Parabel eigentlich angemessen, des Lesers Vergnügen, sie zu glätten, so daß ihre Bedeutung auf der flachen Hand liegt“.126 Eine Parabel verlangt im Sinne Benjamins nach einer Auslegung mit einer stabilisierbaren Bedeutung. Denn „Kafkas Parabeln entfalten sich aber im ersten Sinne, nämlich wie die Knospe zur Blüte wird“.127 Des124 | Hamacher, Die Geste im Namen, S. 287 (Herv.i.O.). 125 | Diese Geschichte der Wolke manifestiert sich beispielsweise in der griechischen Mythologie, als König Ixion mit dem von Zeus durch Wolken geformten Ebenenbild Heras Mischwesen, die Kentauren, zeugt. Von diesem Mythos erzählt zum Beispiel Ovid in den Metamorphosen. Ovid: Metamorphosen, Epos in 15 Büchern, Lateinisch-Deutsche Ausgabe, hg. und übersetzt von Hermann Breitenbach, 2. Aufl., Zürich: Artemis 1964, liber 12, 210 (S. 825). Die Wolke erscheint in den mythologischen Erzählungen Ovids auch als Schutzinstrument der Götter für schutzbedürftige Menschen. Ovid, Metamorphosen, liber 5, 621-624 (S. 351), liber 15, 804 (S. 1109). 126 | Benjamin, Franz Kafka, S. 20 (Herv.i.O.). 127 | Ebd.

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wegen macht es insbesondere im Zusammenhang mit dem Romanfragment Sinn, nicht von einer Parabel, sondern schlicht von der Legende zu sprechen. Oder es macht Sinn, zumindest von einer Parabel zu sprechen, die gerade ihr „Parabelsein“ in ihrer Auslegung immer mitverhandelt. Das rätselhafte Bild der Knospe, die zur Blüte wird, ist jenes Mitverhandeln der Auslegungsproblematik der Parabel selbst. Benjamin klärt somit nichts mit dem Bild der zur Knospe werdenden Blüte, genauso wie Hamacher in seiner Benjamin-Interpretation nichts erklärt. Beide setzen weitere gleichnishafte Worte und wiederholen somit die Problematik der Parabelerklärung. Mit Benjamin gedacht ist das Romanfragment tatsächlich die Entfaltung der Parabel, aber im Sinne der besprochenen Parabelaus­ legung. Das Romanfragment erklärt nicht die Parabel, es zeigt jedoch auf, wie die Systematik, die „Entfaltung“, funktioniert. Insofern zeigt sich im Roman vielleicht tatsächlich das Verhältnis von Aggada zu Halacha, von der Erzählung zum Gesetz. Dabei wird jedoch nicht das Gesetz fixiert, sondern nur seine Funktionsweise zugänglich gemacht. Um nochmals auf die Auslegung der Legende durch den Geistlichen und K. zurückzukommen: Der Glanz eines vollumfänglichen Verstehens des Gesetzes ist ungebrochen. Es bleibt jedoch nur ein Glanz, ein Schein. Das eigentliche Zentrum bleibt verwehrt: Abbildung 22

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 57

Der Glanz lässt den Mann vom Lande sein Leben lang warten. Der Türhüter wiederum ist systemimmanent. Denn er und der Geistliche sind

2. Verhandeln – Kafka

Teil des Systems. Sie kennen den Diskurs und können ihn, zumindest im Falle des Geistlichen, auch analysieren, während der Mann vom Lande und K. einer klassischen Interpretation verpflichtet zu sein scheinen. Sie suchen nach der Erleuchtung, nach dem inhaltlichen Kern des Gesetzes. Benjamin (und auch Hamacher) haben dieses Prinzip „verstanden“ und gleich in ihre Analyse einbezogen. Sie zeigen auf, dass es um Verhältnisse geht: vom Türhüter zum Mann vom Lande, vom Geistlichen zu K., von grammatikalisch zu allegorisch, von systemisch zu immanent, von der Lehre zu (Parabel-)Entfaltung, von Aggada zu Halacha. In diesem Sinne sind beide (post-)strukturalistische Leser, die nicht nach einem Kern suchen, sondern nach Verhältnissen, nach Signifikantenketten, zwischen denen sich Bedeutung zugleich eröffnet und schließt. Doch das Tor zur eigentlichen Bedeutung ist längst verschlossen. Das weiß Hamacher und das wusste Benjamin, wie eine weitere Textstelle – eine Notiz Benjamins im Zusammenhang zu den Vorarbeiten zum Essay, zitiert nach Bernd Müller – belegt: „Kafkas Schriftwerk war Umkehr. Er fühlte wieder das große Ansinnen, das der Hörer an den Erzähler stellt: Rat zu wissen. Aber er wusste den Rat nicht.“128 Kafka weiß keinen Rat. Er zeigt nur auf (Umkehr), was die Hörer von den Erzählern fordern: „Rat zu wissen.“ Deswegen bleibt das Prozessverfahren unabschließbar. Es lässt sich festhalten, dass weder die Gedanken in Kleists Essay aufhören, sich zu verfertigen, noch der Prozess Kafkas in ein Urteil übergeht. Das Prozessverfahren, das allmählich ins Urteil übergeht, ist selbst ein Verfahren. Ein Verfahren des Verfahrens, ein Verfahren zweiter Ordnung, oder sogar dritter Ordnung: Legende, Legendeninterpretation im Romanfragment, Benjamins Interpretation der Legendeninterpretation im Romanfragment, Hamachers Interpretation von Benjamins Interpretation der Legendeninterpretation im Romanfragment usw.

128 | Müller, Bernd: ‚Denn es ist noch nichts geschehen‘. Walter Benjamins Kafka-Deutung, Wien: Böhlau 1996, S. 115.

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2.4 S CHRIF T Abbildung 23

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 58

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Abbildung 24

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 59

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Abbildung 25

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 60

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Abbildung 26

Quelle: Kafka: Der Process, FKA (Im Dom), S. 61

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Die historisch-kritische Ausgabe gewährt äußerst interessante Einblicke in das Schreibverfahren Kafkas. So geht es in diesem Kapitel zuerst um die Frage, inwiefern die Schrift als Palimpsest gelesen werden kann, und nachfolgend um die Frage, ob mit dem Begriff der Schreibszene Der Process besser beschrieben werden kann. Nach „Palimpsest“ und „Schreibszene“ fokussiert dieses Kapitel auf die Unvollständigkeit (in) der Schrift. Dazu werden zwei Beispiele hinzugezogen, die Schrift nicht nur verhandeln, sondern – ganz ähnlich wie bei Kafka – diese performativ „vorführen“. Dabei wird Roland Barthes Variations sur l’écriture abwechselnd mit kurzen Passagen aus Jacques Derridas Grammatologie und dem Aufsatz „Die différance“ gelesen. Zugleich wird immer wieder Bezug genommen auf die Schrift bei Kafka, insbesondere auf die verschiedenen Änderungen in der Schrift, welche die Unvollständigkeit von Kafkas Process bestätigen. Als Beispiel zeigen die vier abgebildeten Seiten die Unvollständigkeit der Schrift, weil mehrfache Streichungen und Ergänzungen das Fragment Der Process teilweise bis zur Unlesbarkeit entstellen. Die Streichungen und Ergänzungen in der abgebildeten, radikalen, weil komplett gestrichenen Passage sind deswegen sehenswert, weil sie das „Gestammel“ der Handschrift zeigen. Mit „Gestammel“ wird ein Begriff von Roland Barthes adaptiert, der ihn in der Analyse mündlicher Kommunikation in „Das Rauschen der Sprache“ verwendet und ihn auf die schriftliche Situation anwendet.129 „Gestammel“ meint die Tatsache, dass durch Streichungen und Ergänzungen, die in der historisch-kritischen Ausgabe sichtbar bleiben, immer mehr Text produziert wird. Barthes nennt dies „Annullieren“130. Die Annullierung hat den paradoxen Effekt, dass das Annullierte immer 129 | Roland Barthes verweist mit „Gestammel“ auf die Unmöglichkeit, Gesagtes zu annullieren. Annullieren kann man nur, wenn man ergänzt: „Beim Sprechen kann ich nie löschen, wegstreichen, annullieren; ich kann nichts anderes tun und sagen ‚ich annulliere, ich lösche, ich berichtige‘, kurz, wieder sprechen. Dieses sehr eigenartige Annullieren durch Hinzufügen nenne ich ‚Gestammel‘. Das Gestammel ist eine zweifach misslungene Botschaft: einerseits versteht man es schlecht, andererseits versteht man es mit einiger Anstrengung dennoch; es ist weder wirklich innerhalb noch außerhalb der Sprache – es ist ein Sprachgeräusch, dem Klopfen vergleichbar, mit dem ein Motor meldet, dass er nicht rund läuft; [...].“ (Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache, in: Ders. [Hg.]: Das Rauschen der Sprache [Kritische Essays IV], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 88 [Herv.i.O.]) 130 | Ebd.

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noch zu lesen ist. Die Annullierung führt zumindest in der Handschrift nicht zu einer Auslöschung der Schrift, sondern zu einer Erweiterung. Was wird in der oben gezeigten Stelle annulliert respektive, was ist in der nachträglich hinzugefügten Version anders? Die nachträglich hinzugefügte Version, das heißt die ungestrichene Fassung – da die Nachträglichkeit nur vermutet werden kann –, schließt die Legendenerzählung ab. Dasselbe geschieht auch in der gestrichenen, etwas kürzeren Version. Die gestrichene Fassung bleibt länger beim Erlöschen der Kerze, die mehrstufig (Rauch, Regulierung der Flamme, Verlöschung) dargelegt wird. Das Erlöschen des Lichts evoziert den Tadel des Geistlichen. Er fragt, wieso K. die Lampe habe verlöschen lassen. Außerdem verweilt K. in der gestrichenen Fassung gedanklich noch etwas länger bei den abschließenden Überlegungen, welche die Frage nach dem Rahmen der Legende stellen: Abbildung 27

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 58

Was an dieser teilweise bis zur Unkenntlichkeit gestrichenen Stelle durchscheint, ist nicht nur der Zweifel am Geistlichen, sondern auch die Dynamik der Streichungen. Die Streichungen erscheinen mehrstufig: Mindestens zweimal wurde gestrichen und ergänzt. Doch die Ergänzungen sind teilweise schwer der richtigen Stelle in der Zeile zuzuordnen. Gestrichen wurde auf mehreren Ebenen: auf der Satzebene, wie gerade gesehen, und – wie mit den abgebildeten Seiten gezeigt – im größeren Rahmen, da auch der gesamte Abschnitt gestrichen ist. Streichen hat in diesem Fall jedoch nicht nur eine strukturelle Ebene, sondern auch eine temporale. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfolgte die Abschnittstreichung nach den Streichungen auf der Satzebene. Die ausgestellte, aber nicht mit abschließender Sicherheit bestimmbare Temporalität und

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Strukturiertheit führen zu der schon mehrfach erwähnten Instabilität der Schrift. Nicht nur die unklare Kapitellogik, sondern auch die Schrift ist am fragmentarischen Status von Der Process beteiligt. Aus der Schrift lässt sich jedoch nicht nur das Fragmentarisch-Instabile lesen. Die Schrift liest sich, zumindest in der vorliegenden historisch-kritischen Fassung131, auch als ihre Spur. Der Schrift ist immer auch ihre Geschichte eingeschrieben.

2.4.1 Palimpsest Durch die Streichungen, Einschübe, Überschreibungen liest sich das Manuskript wie ein Palimpsest 132 , das durch das Durchschimmern seines historischen „Gemachtseins“ einen Zugang zum Entwicklungsprozess des Textes liefert. Palimpsest wird hier im Sinne Sigmund Freuds und seinem „Wunderblock“ verstanden. Im kurzen Text „Notiz über den ‚Wunderblock‘“ beschreibt Freud mehrere Formen schriftlicher Speicherung als Analogie zum menschlichen „Wahrnehmungsapparat“. Die Speicherung in Form des Schreibens mit Tinte auf ein Blatt Papier sieht 131 | Zum komplexen Verhältnis von der Edition von Manuskripten und Drucken, siehe Wolf Kittler und Gerhard Neumann in „Kafkas ‚Drucke zu Lebzeiten‘“: „Kritische Ausgaben, die Autoren der ‚neueren‘ Literatur gelten, haben fast durchweg mit einem Doppelproblem zu tun: der Edition von Manuskripten, der Edition von Drucken, und dem nicht selten komplizierten Verhältnis beider zueinander. Der von den Herausgebern herzustellende Text steht im Spannungsfeld von Intimität des Schreibakts und Öffentlichkeit des Druckwerks und deren eben durch diese Spannung bedingter ‚doppelter‘ Autorisation, wie sie sich ja etwa seit der Goethezeit in einer neuen, durch gesetzliche Maßnahmen geregelten Situation ‚garantierter Eigentümlichkeit‘ des Subjekts herauszubilden beginnt.“ (Kittler, Wolf/ Neumann, Gerhard: Kafkas ‚Drucke zu Lebzeiten‘. Editorische Technik und hermeneutische Entscheidung, in: Dies. [Hg.]: Franz Kafka Schriftverkehr, Freiburg: Rombach 1990, S. 32 [Herv.i.O.]) 132 | Das „Bild“ des Palimpsest wird in der Sprachforschung gerne verwendet. Berühmtheit erlangte es als Titel des umfassenden, erzähltheoretischen Werks von Gérard Genette, wobei „Palimpseste“ nur am Rande verhandelt werden, sozusagen als Analogie auf den Kunstbegriff, der dargelegt wird als ein Basteln, das heißt, „aus Altem Neues zu machen“, wobei dadurch das „Alte“ immer sichtbar bleibt (siehe: Genette, Palimpseste, S. 532).

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Freud als „‚dauerhafte Erinnerungsspur‘“133, die allerdings nur begrenzten Speicherplatz aufweist, nämlich die Größe des Blatt Papiers. Außerdem hat diese Art der Speicherung den Nachteil, dass die Speicherung festgeschrieben ist und, falls das Speicher­volumen nicht mehr benötigt wird, nicht ohne weiteres löschbar ist. Die Tinte bleibt am Papier kleben. Freud braucht nun als Gegenbeispiel die mit Kreide beschriebene Schreibtafel. Auf dieser kann die Schrift zwar einfach gelöscht werden, sie bleibt aber dann auch definitiv gelöscht. Ein späterer Zugriff auf das Gespeicherte ist nicht möglich. Das mit Tinte beschriebene Papier ist bezüglich des Speichervolumens problematisch, während die Schreibtafel, keine langfristige Speicherung garantiert. Die Lösung, welche Volumen ­ underlock: und langfristige Speicherung kombiniert, sieht Freud im W „Vor einiger Zeit ist nun unter dem Namen Wunderblock ein kleines Gerät in den Handel gekommen, das mehr zu leisten verspricht als das Blatt Papier oder die Schiefertafel. Es will nicht mehr sein als eine Schreibtafel, von der man die Aufzeichnungen mit einer bequemen Hantierung entfernen kann. Untersucht man es aber näher, so findet man in seiner Konstruktion eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem von mir supponierten Bau unseres Wahrnehmungsapparats und überzeugt sich, daß es wirklich beides liefern kann, eine immer bereite Aufnahmefläche und Dauerspuren der aufgenommenen Aufzeichnungen.“134

Der Wunderblock kombiniert die Vorteile von Schreibtafel und des mit Tinte beschriebenen Blatt Papiers. Was Freud mit schriftlichen Speichermedien aufzeigt, ist eine Analogie zum menschlichen „Wahrnehmungsapparat“, selbst wenn sich Freud bewusst ist, dass die Analogie dem komplexen Auf bau des menschlichen Wahrnehmungsapparates nicht gerecht wird. Die Analogie ist eine „Versinnlichung der Art, wie ich mir die Funktion unseres seelischen Wahrnehmungsapparats vorstellen wollte“.135 Ein Blick in die Textrezeption zeigt zudem, dass sie eine wichtige Analogie bildet für Kulturtechniken des Schreibens136, Speicherns und die der 133 | Freud, Sigmund: Notiz über den ‚Wunderblock‘, In: Sigmund Freud. Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 3 (Herv.i.O.). 134 | Ebd., S. 5 (Herv.i.O.). 135 | Ebd., S. 8. 136 | Oder man könnte, wie Konstanze Fliedl mit Derrida auch von einer „Theorie des Archivs“ sprechen: „In der Konstruktion des Wunderblocks definierte Freud

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Speicherung eingeschriebenen Spur zur Speicherung. Der Wunderblock wird in seiner Rezeption somit weg von der Psychoanalyse hin zu historisch-philosophischen Überlegungen zur Schrift gewendet und findet zum Beispiel mit Jacques Derrida seine kritische Weiterführung.137 Der Wunderblock kann auch mit Kafkas Schreiben in Verbindung gebracht werden: Wolf Kittler und Gerhard Neumann resümieren in ihrem Aufsatz „Kafkas ‚Drucke zu Lebzeiten‘“, dass Kafka „für seine Schreibakte [...] jenes Material [einsetzt], das die Schule bei der Bildung des zivilisierten Menschen, in der der Erwerb der Schrift die entscheidende Rolle spielt [...]: Kladden, Vokabelhefte, Schulhefte, Konzeptblätter“.138 Kafka benutzt demzufolge Schreibgrundlagen, die in ihrem Auf bau nicht zur kreativen Arbeit gedacht waren, sondern zum Erlernen einer Sprache. Interessant ist dabei, dass immer auch die Spur des eigenen Schreibens zu lesen ist, denn Kafka scheint die „erziehende Darstellungslogik“ der „Kladden, Vokabelhefte, Schulhefte, Konzeptblätter“ zu hintertreiben. Dazu nochmals Kittler und Neumann: „[Er] durchbricht dieses erlernte Schreibritual auf geradezu anarchische Weise: durch gegenläufige Beschriftung, durch Überschreibungen (es wird so gut wie nie radiert), durch hektische Durchstreichung, konstante Verweigerung des freien Randes, Missachtung orthographischer wie kalligraphischer Grundregeln, Verzicht auf regelgerechte Zeichensetzung.“139 b­ ekanntlich gerade die Wachstafel als Archiv übereinandergeschriebener Spuren. In dem großen Essay Mal d’archive – dessen deutscher Titel kongenialerweise Dem Archiv verschrieben heißt – machte Jacques Derrida darauf aufmerksam, dass Freud mit diesem ‚Modell eines psychischen Apparats‘ die Theorie der Psychoanalyse zu einer ‚Theorie des Archivs’ weiterentwickle.“ (Fußnote: Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, aus dem Franzö­s ischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann, Berlin: Brinkmann & Bose 1997, S. 38f.) (Fliedl, Konstanze: Verschreibungen. Ingeborg Bachmanns ‚Todesraten‘, in: Giuriato, Davide/Stingelin, Martin/Zanetti, Sandro [Hg.]: „System ohne General“. Schreibszenen im digitalen Zeitalter [Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 3], München: Fink 2006, S.27 [Hervi.O.]) 137 | Siehe: Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. 138 | Kittler, Neumann, Kafkas ‚Drucke zu Lebzeiten‘, S. 33. 139 | Ebd. Siehe auch: Steinich, Kafka-Editionen: Nachlass und Editionspraxis, S. 137. Ein schönes Beispiel für den „Verzicht auf regelgerechte Zeichensetzung“

2. Verhandeln – Kafka

Auch wenn Kittler und Neumann diesen Behauptungen eher wenige Beweise nachliefern, genügt ein Blick in das Manuskript, um diese zu belegen. Abbildung 28

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 59

Dieser Ausschnitt zeigt die mehrfachen Durchstreichungen, die „Verweigerung des freien Randes“ und das Fehlen von Schlusspunkten. Außerdem zeigt sich etwas, was trotz der sorgfältigsten Transkription nie in die Drucklettern der historisch-kritischen Ausgabe übertragen werden kann: Das Durchschimmern der Schriftzeichen auf der Rückseite. All diese Effekte der Schrift lassen das Manuskript immer auch als Wunderblock erscheinen, als Speicherung, welche die Geschichte der Schrift, das heißt die Spur zum eigenen Entstehen, in sich trägt.

2.4.2 Schreibszene Spätestens seit Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme hält die Schrifttechno­ logie und die Historizität derselben Einzug in die moderne Germanistik. Kittlers Analyse geht einher mit der Kritik an der Literaturwissenschaft: „Denn die hergebrachte Literaturwissenschaft, wohl weil sie selber einer bestimmten Schrifttechnik entsprang, hat an Büchern alles andere als ihre Datenverarbeitung untersucht.“140 Kittler untersucht „Datenverarbeitung“ um 1800 und 1900, wobei er für die medientechnischen Erneuerungen um 1900 auch Kafka als Beispiel heranzieht. Dabei geht es darum, dass Kafkas „Erzählungen die Modalitäten technischer Nachrichtenkanäle – Durchsprechen und Verzögerung, Vernetzung und Rauschpegel – nicht findet sich auch in der schon erwähnten kurzen Erzählung „Ein Kommentar“ in: Franz Kafka. Die Erzählungen, S. 462. 140 | Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme. 1800-1900, 4. Aufl., München: Fink 2003, S. 501.

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umsonst zur Sache machen“.141 Paradigmatisch fügt er die Briefkorrespondenz mit Felice Bauer an: „Im Briefwechsel Kafka-Bauer gibt es von beiden Seiten her keine Möglichkeit, mit Wörtern Seelen zu erreichen.“142 Kittler nimmt dabei Bezug auf eine Analyse zu den Briefen an Felice Bauer von Michel Cournot, die er wie folgt zitiert: „Vierundzwanzig Wochen lang schickt er bis zu drei Briefen pro Tag, nimmt aber nicht den Zug, den ihn in ein paar Stunden nach Berlin brächte, und hebt das Telephon nicht ab. [...] Die Korrespondenz zeigt, wie einer eine andere berühren, anketten, foltern, unterwerfen und zerstören kann, einfach durch systematische und totale Benutzung von Post und Telephon.“143

Danach folgt eine Aufreihung von Beispielen, wie Kaf ka Kontrolle über Felice Bauer auszuüben versucht: Durch einen Zeitplan der Briefauslieferungen nach Berlin, durch einen rekonstruierten Plan von Bauers Tagesablauf, „um zu wissen, zu welchem Tagesaugenblick ein Brief sie erreicht“,144 durch Rekonstruktion jener Personen, durch deren Hände die Briefe gehen („Pförtner, Mutter und Schwester [...] Postdienst, Ordonnanzen, Sekretäre“145) und durch die Errechnung der Übermittlungszeit. Bezeichnend für Kittlers Herangehensweise ist seine Interpretation: Nicht eine psychologisierende Analyse von Kaf kas Kontrollwahn steht im Vordergrund, nicht der Inhalt seiner Briefe ist von Relevanz, sondern Kaf kas mediale Berechnungen: Wann bekommt die Empfängerin seine Botschaft, wie lange braucht die Übermittlung und wer ist dabei beteiligt. Kittler versteht Kaf ka als Medientheoretiker seiner eigenen Schriften. 141 | Ebd., S. 440. 142 | Ebd. 143 | Kittler zitiert auf S. 439: Cournot, Michel: „Toi qui as de si grandes dents ...“ (Franz Kafka, lettres à Félice. Le Nouvel Observateur, 17.4.1972, S. 59-61) Ich vermute, dass Kittler diesen Aufsatz selbst ins Deutsche übersetzt hat. Ausführ­l iches zu diesem doch recht seltsamen Briefwechsel findet sich auch in Peter-André Alts umfangreicher Kafka-Biographie im Kapitel „Briefverkehr zwischen Prag und Berlin“ in: Alt, Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München: C.H. Beck 2005, S. 265-275. 144 | Zitiert nach Kittler, Aufschreibesysteme, S. 439. 145 | Ebd.

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Dass diese Sichtweise – hier etwas knapp dargelegt – durchaus berechtigt ist, belegt zum Beispiel Rüdiger Campe in dem Aufsatz „Schreiben im Process. Kafkas ausgesetzte Schreib-Szene“, der gleich zu Beginn aufzeigt, dass Kafka ein äußerst moderndes Konzept von „Schreiben“ in seinen Tagebüchern entwirft. Kafkas „Schreiben“ nimmt Roland Barthes Begrifflichkeit – „Schreiben ohne Objekt“ – vorweg und bezeichnet eine dreifache Funktion: Erstens bezieht sich Schreiben „auf die Bedeutungssphäre“ der Sprache, zweitens „auf die materialen Unterlagen und Geräte des Schreibens“, und „es bezeichnet[...] drittens eine Lebensform, die Bedeutung und Instrument in einer gestischen, d.h. einer körperhaften Sinn unterstellenden, Weise aneinandersetzt“.146 Dabei bezieht sich Kafka nicht auf das Schreiben mit der Schreibmaschine, die er von seiner Berufsarbeit her sehr wohl kannte und die ihn auch interessierte, sondern auf „das Schreiben mit Stift und Federhalter“.147 Campe verbindet Kafkas „Schreiben“ auch mit dem Plan einer Autobiographie in Der Process und damit der einzigen internen Schreib-Szene. Mit Autobiographie ist dabei K.s Plan einer Verteidigungsschrift gemeint, die er statt der Eingabe durch den Advokaten beim Gericht einzureichen plant. Damit verbunden ist jedoch die Problematik, dass K. sich in keiner Weise nicht zum Prozess – im Sinne des Gerichts- und des Schreibverfahrens – verhalten kann. Er schreibt entweder eine „Lebensbeschreibung als Verteidigung“, und somit „unterwirft er gerade die Beschreibung seines eigenen Lebens der Logik des amtlichen Prozesses“, oder „er schreibt wirklich eine Autobiographie“, was wiederum „sein Leben als ganzes zum Fall“ macht, „der dann im Prozeß zur Verhandlung stünde“.148 Mit anderen Worten: Die geplante Autobiographie ist entweder formal als Verteidigungsschrift an den Gerichtsprozess gebunden oder inhaltlich zu betrachten; inhaltlich, indem K.s Leben im Verhältnis zum Gerichtsprozess dargelegt wird. Der Plan der Autobiographie ist eine „Figur des Wiedereintrags“, wie Campe schreibt, „ein Wiedereintrag in den Schriftverkehr des Prozesses, der mit den Eingabeversuchen des Anwalts ange146 | Campe, Schreiben im Process, S. 115. 147 | Ebd., S. 117. Zu Kafka und Schreibtechnologien siehe auch: Kittler, Wolf: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen. Effekte technischer Medien im Werk Franz Kafkas, in: Ders./Neumann, Gerhard (Hg.): Franz Kafka Schriftverkehr, Freiburg: Rombach 1990, S. 75-163. 148 | Ebd., S. 129 (Herv.i.O.).

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fangen hatte“.149 Dieser Wiedereintrag verläuft, wie auch die Verbindung von Autobiographie und Prozess, doppelt: „Wiedereintragen ist der Name für die Doppelsicht des Erzählten auf  Vor-der-Institution und In-der-Institution (in der Romanhandlung) bzw. für Schreibszene und Schreib-Szene (was die Institutionalität der Literatur selbst angeht, die Frage, ob und wie sich der Text des Process in die literarische Form des Romans bringen kann).“150 Es geht um das Schreiben, welches in jedem Fall im Verhältnis zum Gericht und zum Roman steht, jedoch unter verschiedenen Gesichtspunkten. Einerseits ist es ein Schreiben, welches mimetisch die Formalität der gesetzlichen Schrift adaptiert (Autobiographie als formale Eingabe) und damit die Schreibtechniken im Roman zum Thema macht (Schreibszene). Andererseits geht es um ein Schreiben, welches die verschiedenen Ebenen des Schreibens anspricht (Autobiographie als Wiederholung des Romaninhaltes und somit als eine Metareflexion des Processes) und damit den Selbstverweis auf das literarische Geschriebensein ausstellt (Schreib-Szene). Letzteres, die Schreib-Szene, erklärt Campe am Beispiel einer Stelle, wo K. im Büro seine Arbeit „plötzlich“ zur Seite schiebt, um eine Eingabe zu entwerfen, wobei „gerade in diesem Augenblick“ der Direktor-Stellvertreter lachend eintritt. Für K. ist die ganze Sache peinlich, obwohl der Direktor-Stellvertreter nicht über ihn lacht, sondern über einen Witz, für dessen „Verständnis“ er nun mit jenem Stift, der für das Schreiben der Eingabe gedacht war, auf ein Blatt Papier zeichnet.151 Diese Szene – das Aussetzen des Schreibens, eines privaten Schreibens mit der Hand, in einem professionellen Umfeld, welches von der Schreibmaschine geprägt ist – liest sich vor dem Hintergrund der historisch-kritischen Ausgabe als Selbstverweis auf das literarische Geschriebensein und zwar als tatsächliches Schreiben am Prozess/Process. Die kurz zusammengefasste Schreibszene beginnt, wie in Abbildung 29 zu sehen ist. Das Schreiben stockt beim Wort „plötzlich“. Somit unterstreicht das Beispiel die Argumentation Campes. Denn die Arbeit wird unterbrochen durch die Eingabe und diese „Eingabe“ scheint auch die Schrift zu „unterbrechen“: Es wird bis zur Unkenntlichkeit ergänzt, gestrichen und ver149 | Ebd., S. 130. 150 | Ebd. 151 | Ebd.

2. Verhandeln – Kafka

Abbildung 29

Quelle: Der Process (Advokat, Fabrikant, Maler), FKA, S. 41

schoben. An jener Stelle, wo die Arbeit zur Seite geschoben wird, ist auch die Klarheit der Schrift sistiert. Es scheinen sich viele Faktoren gegen das Verfassen der Eingabe zu richten. Darunter – ob nun zufällig oder nicht – auch die Schrift selbst. Jegliche am Schreiben beteiligte Technologie sperrt sich gegen das Schreiben der Eingabe. Als Beispiel eines Selbstverweises auf das Geschriebensein wäre so selbst Kafkas Schreiben am Process eine Schreib-Szene. Aber was heißt nun Schreibszene oder Schreib-Szene? Eine Definition der Schreibszene liefern Rüdiger Campe und Martin Stingelin:152 Campe 152 | Es gibt zudem einen weiteren, sehr komplexen Definitionsversuch von Rodolphe Gasché: Am Beispiel von Herman Melvilles Moby-Dick entdeckt Rodolphe Gasché in dem Aufsatz „The Scene of Writing: A Deferred Outset“ die Schreibszene als selbstreferentielles Verfahren in literarischen Texten. Die Schreibszene referiert auf sich selbst, weil sie zwar repräsentiert, jedoch sich selbst und daher nie die unmittelbare Szene des Schreibens sein kann. Die Schreibszene verdichtet den Schreib­a kt in eine „Figur“, welche das Resultat derselben Aktion ist („What is to follow is no theory of writing, and our assertion will show its foundations. For as a matter of fact the scene of writing incorporated in the text represents only this scene. The scene of writing condenses the act of writing into a figure which itself is a result of this same action.“ [Gasché, Rodolphe: The Scene of Writing: A Deferred Outset, in: Weber, Samuel/Sussman, Henry (Hg.): Glyph. Johns Hopkins Textual Studies, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1977, S. 150171 (Herv.i.O.)]). Außerdem findet sich auf Seite 168 folgende aufschlussreiche Bemerkung zur Schreibszene und ihrer (unmöglichen) Transformationsfähigkeit: „The derived scene of writing, rendered possible on the already always deflowered white leaf of paper, is consequently the scene of the transformation of the signifier

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definiert die Schreibszene als „einen Vorgang [...], in dem Körper sprachlich signiert werden oder Gerätschaften am Sinn, zu dem sie sich instrumental verhalten, mitwirken – es geht dann um die Arbeit der Zivilisation oder den Effekt von Techniken“.153 Damit bezeichnet die Schreibszene „ein nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“.154 Martin Stingelin präzisiert „Sprache“ als Semantik des Schreibens, „Instrumentalität“ als Technologie des Schreibens und „Geste“ als die Körperlichkeit des Schreibens. Alle drei spielen in einem „gemeinsam gebildeten Rahmen[...]“.155 Nun wurde vorher mit Campe von Schreibszene und von Schreib-Szene gesprochen. Worin liegen die Unterschiede? In einer Fußnote legt Campe im zuvor besprochenen Aufsatz „Schreiben im Process. Kafkas ausgesetzte Schreib-Szene“ dar, dass die Unterscheidung zwischen Schreibszene und Schreib-Szene auf einen Vorschlag von den Herausgebern des Bandes Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, erschienen in der Reihe „Zur Genealogie des Schreibens“, genauer auf einen Vorschlag von Martin Stingelin, Sandro Zanetti und Davide Giuriato zurückgehe: „Danach bezeichnet Schreibszene die Aspekte von Instrumentalität, Sinn und Gestik in ihrer historischen und faktischen Varianz, Schreib-Szene meint die literarische Darstellung und typischerweise den Selbstverweis der Literatur auf ihr Geschriebensein.“156 Die Schreibszene ist wohl eher als téchne im Sinne into the signified and conversely: a transformation however, whose effects are ­ ­c hreibszene schreialways undone again by the primary agency of writing.“ Die S ben ist schon immer das Resultat einer Schreibszene gewesen. Es geht es dabei aber nicht um eine hierarchische Ordnung, das heißt um eine ursprüngliche Schreibszene, die der geschriebenen Schreibszene übergeordnet wäre, sondern um die unendlichen Doppelungen im Schreiben: Das Schreiben schreiben ist eine Schreibszene, die Schreibszene schreiben ist eine Schreibszene der Schreibszene, die Schreibszene der Schreibszene schreiben ist eine Schreibszene der Schreibszene der Schreibszene usw. 153 | Campe, Die Schreibszene, S. 760. Eine prägnante Zusammenfassung zur Schreibszene (Schreib-Szene) findet sich in der Studie zu Robert Walsers Mikrogrammen von Walt, Christian: Improvisation und Interpretation. Robert Walsers Mikrogramme lesen, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2015. 154 | Campe, Die Schreibszene, S. 760. 155 | Stingelin, ‚Schreiben‘. Einleitung, S. 11-12. 156 | Siehe Campe, Schreiben im Process, S. 120 Fußnote 21 (Herv.i.O.).

2. Verhandeln – Kafka

einer Kulturtechnik zu verstehen, während die Schreib-Szene das selbstreferentielle Gemachtheit der Literatur bezeichnet.157

157 | Zum besseren Verständnis der beiden Formen der „Schreibszenen“ werden hier die „Trennungen“ angefügt, die Sandro Zanetti in dem Band „System ohne Ge­ neral.“ Schreibszenen im digitalen Zeitalter ausführt: „Führte die Schreibmaschine eine spürbare und ersichtliche Trennung zwischen der Bewegung der Hand (das heißt der Finger) und dem Produkt des Schreibens (den getippten Lettern – und nicht mehr den individualisierten Schriftzügen) ein, so eröffnet der Computer eine ganze Reihe weiterer solcher Trennungen.“ Der Hinweis auf die Trennung (Zanetti, Sandro: (Digitalisiertes) Schreiben, in: Giuriato/Stingelin/Zanetti (Hg.): „System ohne General“. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, S. 7-26, hier S. 13 [Herv.i.O.]) erscheint als Schreibszene im Sinne des „nicht-stabile[n] Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“, weil es sich auf die technologischen Koppelungen (oder in diesem Falle: Entkoppelungen) von Lettern und Finger bezieht. Dasselbe gilt auch zum Beispiel in der Analyse von Malte Kleinwort (Der späte Kafka) mit dem Hinweis, dass es bei Kafkas Spätwerk nicht um eine gesellschaftliche (also inhaltliche) Kritik handelt, sondern um ein (technisches) Verfahren der Literatur: „Die an den Texten zu beobachtende Schwerpunktverschiebung hin zu Techniken der Kontrollgesellschaften in Kafkas späten Texten folgt weder einem Programm der Affirmation noch der Kritik, sondern vielmehr einem Programm der literarischen Innovation (vgl. Kap. 4.5, 5.6 und 7).“ (Kleinwort, Malte: Der späte Kafka. Spätstil als Stilsuspension [Zur Genealogie des Schreibens, Bd. 16], München: Fink, S. 17.) Waren die zitierten Passagen von Zanetti und Kleinwort Beispiele für eine Schreib­ szene, finden sich wiederum in Zanettis Einleitung interessante ergänzende Gedanken zur Funktion des Computers, was wiederum (auch) für die Schreib-Szene stehen kann: „Wer einen Computer hat, kann auf diesem Texte verfassen, also Texte schreiben, er kann aber auch Programme schreiben, die wiederum das Konzept ‚Text‘ auf der entsprechenden Benutzeroberfläche unterschiedlich definieren. Zudem kann er auch weiterhin auf der Schreibmaschine oder von Hand schreiben, oder er kann hand- oder maschinengeschriebene Dokumente wiederum einlesen (scannen) und weiterbearbeiten.“ (Zanetti, Schreiben, S. 14 [Herv.i.O.]) Hier geht es nicht mehr einfach um die technologische Verknüpfung von Hand und Lettern, sondern auch um die Erweiterung des Begriffs des Schreibens, indem „Programme schreiben“ weitere (und durchaus selbstreferentielle) Möglichkeiten des Schreibens evoziert (siehe ebd., S. 17).

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In Kafkas Process sind, wie gezeigt wurde, beide Varianten der Schreibszenen beobachtbar: Schreiben als Kulturtechnik und als selbstreferentielles Ausstellen des eigenen Geschriebenseins. Beides ist in der Handschrift zu sehen. In dieser wird nicht nur die Semantik, Technologie und Körperlichkeit des Schreibens besser sichtbar, sondern auch die „Korrespondenzen [– wie Wolfram Groddeck bezüglich Hölderlin schreibt – Anmerkung M.S.] zwischen Formulierungen, die sich erst über den Einbezug der Medialität, der Handschrift selbst erschließen“.158 Die Schrift und insbesondere die Handschrift lassen im selbstreferentiellen Verweis auf das eigene mediale Gemachtsein immer auch Bezüge zur Semantik des Textes aufscheinen. Genauso in Der Process. Die Diskussion zwischen dem Geistlichen und K. ist nicht nur eine hermeneutische Auseinandersetzung, sondern auch eine Auseinandersetzung um und mit Schrift. So geht es, in den Worten des Geistlichen, um die „Achtung vor der Schrift“. Um diese Szene nochmals in Erinnerung zu rufen: K. entgegnet dem Geistlichen – der behauptet, der Türhüter hätte nur sein Pflicht getan – die Pflicht zu erfüllen hieße, allen Personen den Zugang zum Gesetz zu verweigern, jedoch gerade nicht jener einzelnen Person, nämlich dem Mann vom Lande, für den der Eingang zum Gesetz ja bestimmt war. Daraufhin entgegnet der Geistliche: „Du hast nicht genug Achtung vor der Schrift.“159 Auch wenn diese Auseinandersetzung mit Schrift noch keine Schreibszene generiert, führt sie ein in eine absurde Selbstthematisierung der Schrift. Der Geistliche verweist auf die Schrift, als hätte auch K. unmittelbaren Zugang zu ihr. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Schrift wird vom Geistlichen nacherzählt. Allerdings ist diese Erzählung der Schrift geschrieben, als Romanfragment. Es scheint so, als wäre nicht nur die Ebene der Erzählung, sondern auch die Ebene des Romanfragmentes als Selbstthematisierung angesprochen. Da es in der Erzählung keinen Referenzpunkt der Schrift gibt, zum Beispiel als präsentes Buch, scheint die Frage nach der Schrift und nach der Präzision der Schrift unweigerlich zum Romanfragment selbst zu führen, als einer Thematisierung der eigenen Schriftlichkeit. 158 | Groddeck, Wolfram: „Ebenbild“ und „Narben“. Poetische Revision beim späten Hölderlin und der Ort der Handschrift, in: Stingelin, „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“, S. 186. 159 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 49.

2. Verhandeln – Kafka

2.4.3 Variations sur l’écriture Zur Thematik passend und für eine Kafka-Lektüre sehr hilfreich findet sich ein paradigmatisches Stück gekonnter Selbstthematisierung in Roland Barthes 1973 verfassten, jedoch zu Lebzeiten nicht publizierten Variations sur l’écriture. Der Band wurde erst im Jahr 2006 in einer deutsch-französischen, von Hans-Horst Henschen übersetzten Ausgabe publiziert. Die Form dieses Buches – die linke Seite enthält den französischen und die rechte Seite den deutschen Text – macht es einfach, gleich auch die Übersetzungsthematik zu berücksichtigen. Barthes nähert sich in diesem kleinen Band auf verschiedene Weise dem Thema Schrift. Parallel zur Lektüre von Barthes Text zur Schrift können auch Jacques Derridas umfangreiche und gut dokumentierte Arbeiten zum Thema Schrift hinzugezogen werden. Die Erkenntnisse sind ähnlich, auch wenn sie Derrida mehr in den Zusammenhang der Geschichte der abendländischen Philosophie stellt.160 Im ersten Kapitel zeigt Barthes jene beiden „Illusionen“, deren sich seines Erachtens die Sprachforscher nicht bewusst sind: Es sind dies die Illusionen, dass die Schrift rein kommunikative Funktion habe und dass es eine kulturell bedingte Abwertung der Schrift gegenüber der Mündlichkeit gäbe. Das erste Unterkapitel „Verbergen“ greift jene an, welche die Sprache nur als kommunikatives System begreifen: „Manche Linguisten klammern sich geradezu aggressiv an die kommunikative Funktion der Sprache: die Sprache dient dazu zu kommunizieren. Dasselbe Vorurteil bei den Archäologen, den Historikern der Schrift: die Schrift dient dazu, zu überliefern. [...] Die Kryptographie ist die eigentliche Mission der Schrift. Die Unlesbarkeit des skripturalen Systems ist, weit davon entfernt, mangelhaft, abstoßend zu sein [...]. Die Gründe dieser Verdunkelung können ganz unterschiedlich sein, verschieden je nach den Orten, den Epochen: religiöse Gründe, [...]; soziale Gründe [...].“161 160 | So zum Beispiel in: Derrida, Jacques, Schibboleth. Für Paul Celan, Wien: Passagen 2002; ders.: „Die différance“, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelman, Wien: Passagen 1999, S. 31-56; ders.: Dissemination, Wien: Passagen 1995; ders.: Mémoires. Für Paul de Man, Wien: Passagen 1988; ders.: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983; ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. 161 | Barthes, Variations sur l’écriture, S. 23-25.

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Die Argumentation beginnt abenteuerlich (wer sind „manche Linguisten“?), und sie ist wohl schon ganz dem semilogischen Abenteuer verpflichtet, welches Barthes so gerne propagiert. Im semiologischen Abenteuer ist der Text nicht eine statische, sondern „eine signifikante Praxis“, „Arbeit und ein Spiel“. Der Text ist nicht „eine Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren [...]“.162 Der Text, das hat Barthes schon ­immer klargemacht,163 ist keine stabile Kategorie. Mit seiner Nennung von Sprache (langage) und Schrift (écriture) im gleichen Atemzug, scheint er auch in Variations sur l’écriture nicht um eine Kategorisierung bemüht zu sein. So spielt die Trennung von Sprache und Schrift denn auch im Band nicht wirklich eine wichtige Rolle.

162 | Die zitierten Stellen stammen aus Barthes einleitenden Bemerkungen zum Text, welche er in Das semiologische Abenteuer nicht als Definition sieht und welche er auch graphisch so anordnet, dass sie wie ein Bündel gleichwertiger Erklärungen wirken, die nicht auf die eine finale Erklärung, was denn ein Text sei, angelegt sind: „Was ist also ein Text? Ich werde nicht mit einer Definition antworten, das käme einem Rückfall in das Signifikat gleich. Der Text, im modernen Sinn, den wir diesem Wort zu geben versuchen, unterscheidet sich grundlegend vom literarischen Werk: er ist kein ästhetisches Produkt, sondern eine signifikante Praxis; er ist nicht eine Struktur, sondern eine Strukturierung; er ist nicht ein Objekt, sondern eine Arbeit und ein Spiel; er ist nicht eine Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren; die Instanz des Textes ist nicht die Bedeutung, sondern der Signifikant in der semiotischen und psychoanalytischen Verwendung dieses Terminus; der Text geht über das frühere literarische Werk hinaus; es gibt zum Beispiel einen Text des Lebens, in den ich durch das Schreiben über Japan Eingang zu finden suchte.“ (Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 10-11) 163 | Zum Beispiel der analytische wie auch praktische Umgang in: Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010; ders.: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; ders., Das semiologische Abenteuer.

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Er benutzt mehrere Begriffe wie Unlesbarkeit (illisibilité), Kryptographie (cryptographie), Verdunkelung (occultation), Nachtseite der Schrift (verité noir de l’écriture) und Hölle der Schrift (l’enfer de l’écriture) für das eine, wichtige Argument: Eine Schrift ist nicht lesbar, sie ist kryptographisch. Sie verdunkelt. Und genau das ist der Vorwurf an die „Linguisten“ und die „Historiker der Schrift“. Für diese sei Sprache reine Kommunikation oder Überlieferung. Für die „Linguisten“ und die „Historiker der Schrift“ ist die Schrift ein Übertragungsmedium von Sinn. Mit anderen Worten: Das Medium selbst wird vernachlässigt, denn im Fokus steht ein übertragener Sinn, den es zu analysieren gilt. Dass die Schrift dabei die Bedingung für die Sinnanalyse ist, würden die „Linguisten“ und die „Historiker der Schrift“ vergessen. Zu vergessen scheint jedoch auch Barthes selbst, dass Jacques Derrida diesen Punkt in der Grammatologie, seiner Lehre der Schrift und der Buchstaben,164 schon Jahre zuvor stark gemacht hatte: „Die Schrift ist Bedingung der episteme, ehe sie ihr Gegenstand sein kann; [...] dass die Geschichtlichkeit selbst an die Möglichkeit der Schrift gebunden ist: [...]. Ehe sie Gegenstand einer Historie – einer historischen Wissenschaft – ist, eröffnet die Schrift den Bereich der Geschichte – des geschichtlichen Werdens. Denn die Historie [i. Orig. dt.] setzt die Geschichte [i. Orig. dt.] voraus.“165

Das Votum Derridas wendet sich gegen die abendländische Vorstellung von der Schrift als „totem Buchstaben“166 und als Supplement, welche vertreten wird durch Jean-Jacques Rousseau und Ferdinand de Saussure.167 164 | So zumindest versteht Derrida das Wort Grammatologie: Derrida, Grammatologie, S. 13. 165 | Ebd., S. 50 (Herv.i.O.). 166 | „Die Schrift im geläufigen Sinn ist toter Buchstabe, sie trägt den Tod in sich. Sie benimmt dem Leben den Atem.“ (Ebd., S. 33) 167 | Obwohl viel ausdifferenzierter als Rousseau, verfolgte laut Derrida auch Saussure die Schrift als Derivat. Saussure erkenne „der Schrift nur eine be­ schränkte und abgeleitete Funktion zu und bleib[t] damit der abendländischen Tradition verpflichtet, welche das Verhältnis zwischen gesprochenem Wort und Schrift nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch (im Prinzip ihrer Praxis) regelt.“ (Derrida: Grammatologie, S. 53-54 [Herv.i.O.]) Geoffrey Bennington und Jacques Derrida bemerken, dass sich – und nicht nur im Falle Rousseaus – die

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Stattdessen wird eingetreten für eine fundamentale Rehabilitierung der Schrift; eine Schrift die nicht einfach repräsentiert168, welche die Frage nach dem Ursprung der Sprache an sich bindet169 und zum Fundament allen „geschichtlichen Werdens“ wird. Barthes argumentiert in seinem Text ähnlich, indem er die Schrift ins Zentrum stellt, allerdings mit unterschiedlichem Fokus. Geht es bei Derrida eher um die phonologisch-philosophische Grundsatzfrage nach der Unmöglichkeit eines ortbaren Sprachursprungs und einer fixierbaren Schrift, verweist Barthes auf die „Unlesbarkeit des skripturalen Systems“. Dabei verwendet er – ganz der abendländischen Tradition verpflichtet – das Hell-Dunkel-Bild, um sein Anliegen zu klären. Er interessiert sich für das subversive Moment, für die dunkle Seite der Schrift, oder anders gesagt, für die unverständliche Seite der Schrift. Die Verstehens- und Licht-Analogie ist auch bei Kafka zu finden, wie schon an anderer Stelle dargelegt wurde: Draußen, vor dem Dom, ist es dunkel. Die Säulenkerzen und der Lichtkegel der Taschenlampe reichen nicht, um das Altarbild in seiner Ganzheit zu betrachten. Das Licht in der Sakristei ist schwach, die Lampe, die K. während des Gespräches hält, erlischt und am Schluss findet K. wegen der Dunkelheit den Weg nicht alleine nach draußen. Salopp formuliert könnten die Umstände im Dom auf folgenden Nenner gebracht werden: Je mehr K. über das Gesetz in Erfahrung zu bringen versucht, desto dunkler wird es. Auch die Legende wirkt nicht erhellend, selbst wenn der Geistliche pedantisch auf die Stabilität der Schriftlichkeit verweist: Philosophie schriftlich gegen die Schrift verwahrt (Bennington, Geoffrey/Derrida, Jacques: Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 56). 168 | Die Wandlung der Beschreibung der Schrift vom Zeichen zur Spur bei Derrida wird durch das einführende Werk von Heinz Kimmerle treffend dargelegt in: Kimmerle, Heinz: Jacques Derrida zur Einführung, Hamburg: Junius 2000, S. 3942. 169 | Derrida schreibt dazu: „Die Frage nach dem Ursprung der Schrift und die Frage nach dem Ursprung der Sprache lassen sich nur schwer voneinander trennen.“ Und weiter geht es mit einem kleinen Seitenhieb gegen die „Historiker, Epigraphen oder Archäologen“ wie bei Barthes: „Aber die Grammatologen, die von ihrer Ausbildung her für gewöhnlich Historiker, Epigraphen oder Archäologen sind, bringen ihre Untersuchungen nur in den seltensten Fällen mit der modernen Linguistik in Verbindung.“ (Derrida, Grammatologie, S. 51)

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Abbildung 30

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 53

Wie schon aufgezeigt, erweist sich der Geistliche als Grammatiker und K. als Allegoriker. Die Position als Grammatiker ist dabei wohl die des „Historiker der Schrift“ (Barthes) und der „Historiker, Epigraphen oder Archäologen“ (Derrida), welche die Schrift als stabiles Mittel mit direktem Zugang zum Sinn der Kommunikation begreifen.170 Doch statt diese Schriftfixierung des Geistlichen zu hinterfragen, versteift sich K. auf eine einfache und klärende Interpretation (Türhüter als Lügner). Auch wenn für den Mann vom Lande wie auch für K. immer noch der Glanz aus der Tür des Gesetzes schimmert; es wird alles dunkler. K. sieht die Schrift gleich zweifach nicht. Er sieht sie tatsächlich nicht, weil sie nur im Kopf des Geistlichen gespeichert ist. Und er sieht sie nicht, weil der die verschiedenen Erklärungen dazu nicht verstehen will. Die Schrift 170 | Interessanterweise kehrt Derrida in einem Gespräch mit Le Monde die Argumentation um: In gewissen Wissenschaftsrichtungen, die sich als rechnende und berechnende, sich als einem naturwissenschaftlichen Gestus verpflichtet begreifen, werde die Frage nach der Verständlichkeit ihrer öffentlichen Statements nie in Frage gestellt. Bei den Philosophen der Schrift poche man auf größtmögliche Verständlichkeit, obwohl gerade diese die hermeneutische Problematik ihres eigenen (öffentlichen) Sprechens oft in ihre Voten integrieren: „Die Frage muss also anderswo liegen: Warum stellt man sie nicht gleich dem Genforscher oder dem Linguisten? Warum behält man den Argwohn oder die Ermahnung dem Philosophen vor? Warum gesteht man ihm nicht zu, was man allen zugesteht, allen voran dem Berufsjournalisten: das Recht und die Pflicht, in seinem Satz die chiffrierte Erinnerung an ein Problem, die formalisierte Anspielung auf Begriffssysteme zu überlagern?“ (Derrida, Jacques: Die Sprache [Le Monde am Telefon], in: Ders.: Jacques Derrida. Auslassungspunkte. Gespräche, hg. von Peter Engelmann, Wien: Passagen 1998, S. 188)

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bleibt im Dunkeln/ihm dunkel.171 Und das gilt in gewisser Weise auch für Barthes. Seine Argumentation, die etwas willkürlich Sprache und Schrift mischt, ist deswegen nicht präzise, weil durch die Begriffsvielfalt die Argumentation auf das eigene Schreiben angewandt wird. Schrift, auch Barthes beschreibende Schrift über die Schrift, ist nicht überliefernd. Schrift verweist nicht auf eine Referenz außerhalb der Schrift. Die Schrift ist „dunkel“: „[...] die Schrift hat Jahrtausende lang die wenigen, die damit vertraut waren, von den anderen geschieden, die es nicht waren (die große Masse der Menschen), sie ist (durch die Unterschrift) das Zeichen des Eigentums und der Unterscheidung gewesen (es gibt Urschriften, vulgäre und kultivierte Schriften); noch heute nimmt jedes Phänomen von Herrschaft, von Sezession und, wenn man so sagen darf, von Klandestinität seinen Weg über den Besitz einer Schrift (Algorithmen der Mathematik, der Chemie, der Botanik; symbolische, astrologische, Noten-Schrift; sobald eine Wissenschaft sich zu konstituieren bestrebt ist, erfinden ihre Initiatoren ihr eine graphische Hermetik: so heute die der narrativen Semiotik, in der die Erzählung in graphische Symbole übersetzt wird); [...].“172

Barthes betont einerseits die Historizität der Schriftlichkeit und reiht andererseits scheinbar konzeptlos verschiedene Bereiche wie Illetrismus, Unterschrift und Herrschaft aneinander. In diesem Sinne wird es tatsächlich immer „dunkler“, wie es schon die Reihe Verdunkelung (occultation), Nachtseite der Schrift (verité noir de l’écriture) und Hölle der Schrift (l’enfer de l’écriture) andeutet. Es scheint so, als müssten die Lesenden durch die Verschiebung von „Verbergen“ über „Verdunkelung“ in die „Hölle“. Was ist die „Hölle der Schrift“? Sie wäre wohl dort, wo sie nicht bezeichnet werden kann. Dies ist zum Beispiel in der Tatsache zu sehen, dass die Sprache Barthes (zu Beginn) „kommunikativ“ übermittelnd er171 | In diesem Sinne wäre auch zu begreifen, wieso K. an einfachen (ganz im Sinne der Hell/Dunkel-Muster) und absoluten Erklärungen interessiert ist. Es gibt in seinem Inventar interpretativer Begriffe scheinbar nur „Wahrheit“ und „Lüge“: „Nein [...] ‚man muss nicht alles was der[t]T [sagt, Anmerkung M.S.] für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten, und damit sich bescheiden.“ zufrieden geben.‘“ Daraufhin entgegnet K.: „‚Trübselige Meinung‘ [...] „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“ (Kafka, Der Process, FKA [Im Dom], S. 58 [Herv.i.O.]) 172 | Barthes, Variations sur l’écriture, S. 25-27.

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scheint, wo er über jene spricht, die eine bedingungslos kommunikative, rein vermittelnde Funktion der Sprache verteidigen würden. Geht man von diesem Anfang her weiter im Text, fällt auf, dass nicht nur in Klammer Geschriebenes häufiger, sondern auch die Syntax komplexer wird. Das Schreiben scheint seine klare Bestimmtheit zu verlieren, wie auch die Schrift selbst, liest man die Klammern, die Gedankenstriche, Semikola als diejenigen symbolischen Zeichen, die – nicht ganz Buchstabe aber dennoch Teil der Schrift – nicht der Verständlichkeit dienen, sondern subtil subvertieren. Es stellt sich beim Lesen dieses Textes sowieso die Frage, ob gerade auffällige Interpunktionszeichen wie Klammern, Gedankenstriche und Semikola nicht nur syntaktische Strukturen verdeut­ lichen, sondern – und dies scheint besonders evident zu werden – die schon vorhin gemachte Äußerung zu untermauern, dass Schrift immer auch auf das eigene Gemachtsein zurückverweist. Die optische Markierung in Form der Satzzeichen sagt etwas darüber aus, wie die Schrift zu lesen ist. Sie manifestiert sich aber immer auch als Anakoluth, als Abbruch und als fehlerhafte Syntax. Mit den gleichen Prinzipien verfährt auch Derrida im Text „Die différance“. Das Spiel der Differenz beginnt schon am Anfang: „Ich werde also von einem Buchstaben sprechen.“173 „Also“ klingt verdächtig nach Nachträglichkeit. Das „also“ kann sich auch nicht einfach so in die Übersetzung geschlichen haben, denn im französischen Original steht auch „donc“: „Je parlerai, donc, d’une lettre.“174 Es wurde „also“ schon vor dem ersten Satz gesprochen, über einen Buchstaben, genauer, über das damit verbundene Spiel mit lautlicher und schriftlicher Sprache, mit Aufschub und mit Spuren. Das Sprechen über den Buchstaben beginnt nicht einfach dort, wo er sagt, dass das Sprechen über den Buchstaben beginnt.175 Und so geht es weiter im Text, der zuerst als Vortrag „am 27. Januar 1968 vor der Société française de philosophie“176 gehalten wurde. 173 | Derrdia, Die différance, S. 31. 174 | Derrida, Jacques: la différance, in: Ders.: Marges de la philosophie, Éditions de minuit, Paris 1972, S. 3. 175 | Die Nachträglichkeit wird bezüglich Schreiben – das Schreiben hat schon immer begonnen – sehr schön im Kapitel „Die soufflierte Rede“ dargelegt in: Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 259-301. 176 | Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 358 (Herv.i.O.).

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Es geht im Text darum, „spielerisch“ die „Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt“177 aufzuzeigen. Die Weise, wie das geschieht, geschieht ähnlich, vielleicht sogar drastischer als in Barthes Text. Derrida führt différance ein als Kunstwort, wobei die Differenz in die différance als lautlich/schriftliches Problem bereits eingeschrieben ist: „Denn ich kann Sie durch meine Rede, mein derzeit an die Société française de philosophie gerichtetes Sprechen, in dem Augenblick, in dem ich davon spreche, nicht wissen lassen, von welcher différance ich rede. Ich kann von dieser graphischen différance nur sprechen, indem ich mich sehr gewunden über eine Schrift äußere und jedesmal genau angebe, ob ich auf die différence mit e oder mit a verweise.“178

Derrida nimmt auf die momentane Sprechsituation Bezug und damit auf die Koppelung von „différence“ (Differenz) und dem im Wort selbst vollführten Unterschied, dem Kunstwort „différance“. Der Unterschied ist im gesprochenen Französisch unmöglich erkennbar. Die Schrift triumphiert über das gesprochene Wort oder in den Worten von Geoffrey Bennington und seinem Porträt über und mit Derrida: „Das Wort ist eine glückliche Wendung [...]: unhörbar [...]. So übt die Schrift gleichsam Vergeltung an der Rede: sie zwingt sie, auf ihre eigene geschriebene Spur zu referieren, wenn anders sie [...] diese Differenz aussprechen möchte.“179 Die „différa/ ence“ zeigt (schriftlich) und verdeckt (mündlich) die Differenz im Wort selbst. Insofern manifest das Wort nicht nur die interne Differenz zwischen a/e, zwischen lexikalisiertem Wort „différence“ und dem Kunstwort „différance“, sondern zugleich die Differenz zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache. Und diese Differenz ist auch im Domkapitel in der Verhandlung der Legende durch K. und den Geistlichen angelegt. Denn gleich nach der Legendenerzählung, nachdem K. sagt, dass der Türhüter den Mann vom Lande getäuscht habe, steht Folgendes:

177 | Derrida, Die différance, S. 40. 178 | Ebd., S. 32-33 (Herv.i.O.). 179 | Bennington/Derrida, Jacques Derrida. Ein Portrait, S. 79.

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Abbildung 31

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 46

Was meint „Wortlaut der Schrift“? „Wortlaut“ steht bekanntlich für die präzise Wiedergabe der Schrift.180 Das klingt so, als wäre die präzise Wiedergabe der Schrift laut. Es fehlt hier ein entsprechender Begriff für die hohe Wiedergabetreue in der Schriftlichkeit. Und das würde wiederum Derridas Argument einer Priorisierung der Schrift stützen. Zudem zeigt sich an dieser Stelle im Domkapitel eine weitere Variation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Die verhandelte Legende ist eine Schrift, denn sie steht „in den einleitenden Schriften zum Gesetz“181 und funktioniert wie eine Präambel. Diese Tatsache wird vom Geistlichen in der Legendeninterpretation mehrmals wiederholt, meist mit dem Hinweis auf die Präzision der Schrift, wie das folgende Beispiel zeigt: „Die Schrift ist unverän180 | Wolfram Groddeck diskutiert in seinem Aufsatz „Der reine Wortlaut und die Schrift“ den „authentischen Wortlaut[...] in der Editionsphilologie [...]“ (Groddeck, Wolfram: Der reine Wortlaut und die Schrift. Gedanken zum Problem des authentischen Textes in der Editionsphilologie, in: Amrein, Ursula (Hg.): Das Authentische. Referenzen und Repräsentation, Zürich: Chronos 2009, S. 92). Dabei relativiert Groddeck die Idee der unproblematischen, weil „in einen einzigen Wortlaut“ übersetzbaren Schrift(-Zeichen): „Wenn man aber der Schrift selbst einen Eigensinn zutraut, der auch Zeichen produzieren kann, die nicht mehr in einen einzigen Wortlaut übersetzbar sind, dann entdeckt man eine dritte, vor der Hand noch etwas spekulativ anmutende Kategorie, die der Schriftintention. Die Schriftintention selbst – der ‚Eigensinn‘ der Schrift – produziert die Unifizierung des graphischen Zeichens und kann sich damit als sinnvoll erweisen und sogar als Ausdruck einer unerhörten poetischen Verdichtung begriffen werden; sie kann aber nicht mehr in der Rekonstruktion eines reinen Wortlauts aufgehoben werden.“ (Ebd., S. 102 [Herv.i.O.]) 181 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 42.

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derlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber, dass dem darüber.“182 Nun scheint K. ja nirgends wirklich Einsicht in die Schrift zu haben. Und als er an anderer Stelle Zugang zur Gesetzesschrift hat, dann scheint diese nichts weiter zu sein als ein „Pornoheft“, wie an anderer Stelle mit Deleuze und Guattari schon aufgezeigt wurde: „[...] die Bücher des Richters erhalten nur obszöne Bilder.“183 Die Schrift bleibt K. verwehrt. Deswegen kann er sich nur auf die mündliche Erzählung des Geistlichen stützen. Die Situation bleibt für K. so höchst paradox: Seine Interpretation erfolgt aus der mündlichen Überlieferung durch den Geistlichen, der aber immer wieder auf die Präzision der Schriftlichkeit verweist. Zudem wird die erzählte Schrift im mündlichen Gespräch von beiden verhandelt. Diese mündliche Verhandlung wiederum steht in einem fragmentarischen Manuskript geschrieben, welches die Stabilität des Schriftlichen gleich nochmals ad absurdum führt. Der Geistliche ist dabei ein Grammatiker, im Sinne eines Historikers der Schrift, der die Schriftlichkeit – das behauptet er zumindest – favorisiert. Er ist demnach nicht mit der Rousseau’schen oder Saussure’schen Sprachauffassung geprägt, dass die Schrift nur Supplement sei und den Weg zum wahren Kern der Sprache versperre. Die Schrift steht im Zentrum seiner Argumentation. Allerdings scheint seine Schrift unverrückbar und ohne Bruch zu sein. Dieser Glaube an die Stabilität der Schrift wird auf der Ebene des Manuskripts gleich wieder hintertrieben: Die ersten Worte nach der Erzählung der Legende und nach der ersten Interpretation durch K. lauten: „,Sei nicht vor übereilt‘.“ Danach folgt die schon zitierte Stelle („‚übernimm nicht die fremde [U]Meinung ungeprüft. Ich habe Dir die Geschichte im Wortlaut der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts‘.“184). Die Stabilität der Schrift wird im Votum für die Unverrückbarkeit der Schrift durch die einzelnen Änderungen und Streichungen subvertiert. „,Sei nicht vor übereilt‘.“ Schon das dritte Wort ist gestrichen. An dieser Stelle sei auch der Hinweis erlaubt, dass Kafkas Handschrift hier poetologisch wird: Offensichtlich wird „voreingenommen“ durch „übereilt“ ersetzt, als wäre „voreingenommen“ übereilt gesetzt worden. 182 | Ebd., S. 53 (Herv.i.O.). 183 | Deleuze/Guattari, Kafka, für eine kleine Literatur, S. 68. 184 | Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 46 (Herv.i.O.).

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Auch mit Derrida lassen sich Streichungen erklären. Diese sind in seinen Text integriert: „Wie fange ich es an, von dem a der différance zu sprechen? Selbstverständlich kann sie nicht exponiert werden. Man kann immer nur das exponieren, was in einem bestimmten Augenblick anwesend, offenbar werden kann, was sich zeigen kann, sich als ein Gegenwärtiges präsentieren kann, ein in seiner Wahrheit gegenwärtig Seiendes, in der Wahrheit eines Anwesenden oder des Anwesens des Anwesenden. Wenn aber die différance das ist (ich streiche auch das ‚ist‘ durch), was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche.“185

Weil das differierende a mündlich nicht exponiert werden kann, ist ihre Anwesenheit gefährdet. Nur als Anwesende ist sie. In anderen Worten, die différance entschwindet in dem Moment, wenn sie als solche bezeichnet werden kann. Die Streichung zeigt genau diese Problematik auf. Sie verweist auf eine Verdoppelung: auf „ist“ und die Streichung („ist“). Das heißt, in der Streichung selbst ist die Spur immer angelegt.186 Die Streichung streicht nicht den Ursprung, jenes Wort, das gestrichen wurde. Darauf scheint Derrida mit der Klammer „(ich streiche auch das ‚ist‘ durch)“ hinweisen zu wollen: Die Spur der Streichung. Diese zeigt somit die Instabilität des Seienden. Ähnliches, wenn auch in einer anderen Dimension, zeigt sich auch bei Barthes Variations sur l’écriture im Kapitel „Verbergen“. Die Spur in den Variations ist nicht durch Streichungen geprägt, sondern durch hypotaktische Sätze, Klammern, Einschübe. Die Sätze sind zu lange, um den Überblick über das Geschriebene zu behalten. Deswegen scheint die Benutzung von „Hilfsmitteln“ der Interpunktion unumgänglich. Zusatz oder Abschwächung durch die Klammer, Relativierung oder Hinzufügen durch die Gedankenstriche und die Gleichrangigkeit der Sätze durch die Semikola: All dies hat eine sichtbare Qualität. Um dieses Argument zu verdeutlichen, wird auf den Schluss des Kapitels „Verbergen“ verwiesen:

185 | Derrida, Die différance, S. 34 (Herv.i.O.). 186 | Zum Thema Derrida und die Spur siehe auch: Derrida, Grammatologie, S. 8081; Bennington/Derrida: Jacques Derrida, S. 83-86.

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„[...] im Bereich des Manuskripts (das allerdings an Boden verliert) gilt eine Schrift als um so ‚persönlicher‘, je schwieriger sie zu lesen ist, weil sie auf den unergründlichen Status des Individuums verweist. Folglich dürfen die graphischen Phantasien mancher Maler, sofern sie nur absolut, definitiv unentzifferbare Schriften hervorgebracht haben (und aus guten Gründen), so Masson und Réquichot, durchaus nicht für Verirrungen von Künstlern gehalten werden; es sind eher Manifestationen des Gegenteils – der Hölle – der Schrift (die Wahrheit liegt auf der anderen Seite).“187

Die Graphik im letzten Satz ist auffällig. Besonders in der letzte Zeile des Kapitels „Verbergen“ wird die Hinwendung zur Klammer und zum Gedankenstrich offensichtlich: „[E]s [gemeint sind die graphischen Phantasien, Anmerkung M.S.] sind eher Manifestationen des Gegenteils der Schrift.“ Genau so ist dieser Satz durchaus verständlich. Wie ist jedoch der Gedanke – „Hölle“ – zu verstehen? Auf was bezieht sich die Hölle? Auf das „Gegenteil“ oder auf das „Gegenteil der Schrift“; letzteres würde der Textlogik entsprechen. Wahrscheinlich ist gerade das Fragmentarische – dieser entstellende Anakoluth – die Selbstbezeichnung selbst: Es ist die Hölle – die Hölle der Lektüre. Ein solch pedantisches Verweilen bei der Hölle bestätigt ein Blick in den französischen Originaltext. Dabei fällt die Nähe der „l’enfer“ zur „l’envers“ auf. Gerade diese Nähe lässt die Hölle auch als poetologische Metapher lesen: die Texthölle oder genauer: die Schrifthölle. Es ist nicht anzunehmen, dass hier ein kryptisches Schreiben evident wird, sondern das „Verbergen“. Und das scheint das Prinzip von Barthes’ Schreiben zu sein. Es wird die Vorstellung einer klaren und funktionalen Sprache im Schreiben subvertiert. Was Derrida an der Frage nach der Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Differenz von différe/ ance aufzeigt, ist auch im Schreiben Barthes angelegt, allerdings nicht in einem einzelnen Wort, sondern in der gesamten Textstruktur.188 Die vie187 | Barthes, Variations sur l’écriture, S. 27 (Herv.i.O.). 188 | Das heißt nun nicht, dass sich Derrida nur um die Mikrostruktur des Textes kümmert. Das Kunstwort „différance“ mag der Ausgangspunkt seiner Überlegungen in seinem Aufsatz gewesen sein. Allerdings verbindet Derrida mit dem Konzept der Schrift auch die „großen“ philosophisch-philologischen Fragen, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit der Schrift, der Theologie und dem damit kombinierbaren Verschwinden von Gott und Mensch in Die Schrift und die Diffe­

2. Verhandeln – Kafka

len Klammern und Einschübe im Text eröffnen nicht so sehr die Frage nach der lautlichen Qualität der Schrift und somit nach den grundsätzlichen Fragen um Mündlich- und Schriftlichkeit. Vielmehr ist die Frage nach der Schrift geknüpft an das Lesen. Werden die Klammern und Einschübe gelesen, dann verschiebt sich der Sinn. Der exzessive Gebrauch dieser Klammern und Einschübe sowie die hypotaktische Schreibweise zeigen – weniger spezifisch und kompakt als bei Derridas „Wort“ différance, aber nicht minder eindrücklich –, dass der Text aufhört, eine stabile Entität zu sein. Die Wahrheit liegt nach Barthes in der Verdunkelung der Schrift, der anderen Seite, die sich durch Klammern und Einschübe auch in seinem Text zeigt. Der Text ist nicht fest, sondern ein Schriftverfahren. Gut zu sehen ist dies auch bei Kafka, wo sich das Argument des in die Schrift eingeschriebenen Verfahrens verfolgen lässt. Dazu soll nochmals zu folgender Stelle zurückgekehrt werden: Abbildung 32

Quelle: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 49

In der historisch-kritischen Ausgabe wird das Verfahren der Schrift sichtbar. „Kafkas Roman ist“, wie Roland Reuß schreibt, „[...] Fragment geblieben – die Handschrift fügt sich nicht dem Leitbild eines linear fortrenz zeigt: „Hier und dort haben wir die Schrift unterschieden: eine symmetrielose Aufteilung ließ einerseits die Geschlossenheit des Buches, andererseits die Öffnung des Textes hervortreten. Einerseits die Theologische Enzyklopädie und das nach ihrem Modell entworfene Buch des Menschen. Andererseits ein Gewebe von Spuren, welches das Verschwinden eines überstiegenen Gottes oder eines ausgelöschten Menschen kennzeichnete. Die Frage nach der Schrift konnte sich nur mit der Schließung des Buches eröffnen.“ (Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 443)

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laufenden Prosatextes [...]“.189 Und weil spätestens bei der Drucksetzung normalerweise so weit geglättet wird, dass das Fragmentarische, das Nicht-Lineare der Handschrift nicht weiter sichtbar bleibt, erweist sich die historisch-kritische Ausgabe in diesem Fall als wertvoll. Die zitierte Stelle zeigt auf, inwiefern ein „linear fortlaufende[r] Prosatext[...]“ an der Subversion des Schriftlichen beteiligt ist. Selbst der Einstieg in das Zitierte bereitet gerade dann ein solches subversives Moment, wenn die „[V]viele[n] Erklärer“ selbst fragmentiert erscheinen. Auch die Erklärer der Schrift irren oder „wundern“ sich. Aber sie wundern sich früher schon im Satz. Und dennoch ist das Wundern nicht an der ursprünglichen Stelle sichtbar, denn die Spur der Schrift ist in der historisch-kritischen Ausgabe problemloser nachzuzeichnen. Auch die Qualität des Türhüters ändert sich im genannten Zitat. Denn der Türhüter ist ein Pedant, – nein, doch nicht – er liebt die Genauigkeit, – nein, doch nicht – denn hier scheint selbst das Papier an der Subversion beteiligt zu sein: In der Mitte des Wortes „Genauig ○ keit“ verliert sich die Genauigkeit in einem Papierschaden. Kafkas Schreibverfahren mit den auffällig vielen Änderungen und Streichung, die lose, ungeordnete Kapitelanordnung, scheinen mimetisch an den dargelegten Unklarheiten und Instabilitäten des Textlichen beteiligt zu sein.

2.5 F a zit Das Kapitel „Präambel“ hat gezeigt, dass das Gesetz in Kafkas Process keinen inneren Kern hat. Jeder Versuch einer Beantwortung der Frage, was das Gesetz eigentlich sei, schlägt fehl. Vielmehr wird die Frage in Richtung der Funktion des Gesetzes verlagert. Denn das Gesetz funktioniert nur entäußert, außerhalb des Kerns. Die Legende lässt niemand zum Inneren des Gesetzes vordringen. Doch die Funktion des Gesetzes spannt sich über das gesamte Romanfragment. Das Gesetz funktioniert immer und überall. Bei allen Protagonisten und bei allen Handlungen, welche wiederum zur Autostabilisierung des Gesetzes beitragen. Das Gesetz – als wäre dies das Gesetz des Gesetzes – scheint sich immerzu autologisch selbst einzusetzen. 189 | Reuß, Zur kritischen Edition von Der Process im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe, S. 10.

2. Verhandeln – Kafka

Im Kapitel „Verfahren zweiter Ordnung“ wurde aufgezeigt, dass die Interpretation der Legende nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen einer „grammatikalischen“, genauen, dem Wortlaut folgenden und einer „allegorischen“, auf eine finale Erklärung hinstrebenden Interpretation ist, sondern eine Auseinandersetzung mit der Interpretation selbst. Verdeutlicht hat dies der Umweg über eine bekannte Kafka-­Interpretation – nämlich jener von Walter Benjamin – und über die Interpretation der Benjamin’schen Interpretation – nämlich jener von Werner Hamacher. Benjamin klärt in seiner Interpretation nicht auf. Das Bild mit der zur Knospe werdenden Blüte ist wenig verständlich, genauso wie Hamachers Benjamin-Interpretation. Beide setzen weitere gleichnishafte Worte und wiederholen somit die Problematik der Parabelerklärung. Sie zeigen auf, dass es um Verhältnisse geht: um das Verhältnis des Türhüters zum Mann vom Lande, des Geistlichen zu K., der grammatikalischen zur allegorischen Interpretation, der systemischen zur immanenten Lektüre, der Lehre zu der (Parabel-)Entfaltung und von der Aggada zu Halacha. Das letzte Kapitel, „Schrift“, geht genauer auf das Manuskript ein. Es erforscht die Streichungen, Fehler und Einschübe eines Textes, der als Wunderblock immer auch seine eigene Historizität zu lesen gibt. In der Handschrift werden nicht nur die Semantik, die Technologie und die Körperlichkeit des Schreibens besser sichtbar, sondern auch die selbstreferentiellen Verweise auf das eigene mediale „Gemachtsein“. Genauso in Der Process: Die Diskussion zwischen dem Geistlichen und K. ist nicht nur eine hermeneutische Auseinandersetzung, sondern auch eine Auseinandersetzung mit Schrift. Wie die rechtlichen und hermeneutischen Aspekte ist auch die Schrift beteiligt an der Unabschließbarkeit in Der Process. Und diese Unabschließbarkeit soll an dieser Stelle – bewiesen durch die Analysen zur Legende als „Präambel“, zum „Verfahren zweiter Ordnung“ und zu Kafkas „Schrift“ – nochmals betont werden. Denn jeglicher Versuch, Kafkas Romanfragment theologisch oder philosophisch klaren Aussagen unterzuordnen, schlägt fehl. Der Text ist ein Fragment und „arbeitet“– das wurde mit Benjamin, Politzer, Hamacher und Agamben klar – grundsätzlich gegen eine Verfestigung.

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3. Verfahren – Autopoiesis 3.1 C it y of G l ass Paul Auster, City of Glass: Ein Schriftsteller mit dem Namen Quinn wird mehrmals von einer unbekannten Person angerufen und fälschlicherweise für den Privatdetektiv „Paul Auster“ gehalten: „‚There is no Paul Auster here.‘ ‚You don’t understand‘, said the voice. ‚Time is running out.‘“1 Nach langem Zögern beschließt Quinn, den Job als „Paul Auster“ anzunehmen. Damit muss Quinn alias „Paul Auster“, beauftragt von einem Peter Stillman Junior, der unaufhörlich repetiert, dass dies nicht sein eigentlicher Name sei, den Vater, Peter Stillman Senior, überwachen. Stillman Senior wird nach langem Gefängnisaufenthalt entlassen und kehrt nach Manhattan zurück. Im Gefängnis war Vater Stillman, weil er seinen Sohn, Stillman Junior, neun Jahre lang in seiner New Yorker Wohnung eingesperrt hatte, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt und ohne mit ihm zu sprechen. Und das nur, um herauszufinden, ob der Junge so eine natürliche Sprache oder die Sprache Gottes – Stillman Senior war Religionswissenschaftler – erlernt. Quinn/„Auster“ beobachtet nun den freigelassenen Vater Stillman bei seinen seltsamen Spaziergängen. Eines Tages stellt er fest, dass die Spaziergänge, zeichnet man sie auf einer Karte nach, Buchstaben bilden. Stillman „erläuft“ nun jeden Tag einen weiteren Buchstaben in den Häuserschluchten Manhattans. Aus der Vogelperspektive wird sichtbar, dass Stillmans Worte zusammengesetzt „the tower of babel“2 bilden. Nach einer Weile spricht Quinn/„Auster“ den Wanderer, Stillman Senior, einige Male an. Die Gespräche drehen sich meist um Worte: „Most people don’t pay attention to such things. They think of words 1 | Auster, Paul: City of Glass (The New York Trilogy), London: Faber & Faber, 2004, S. 7. 2 | Ebd., S. 70.

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as stones, as great unmovable objects with no life, as monads that never change.“3 Oder sie drehen sich auch um die Wort-Objekt-Relationalität: „I invent new words that will correspond to the things.“4 Und so verfährt die Geschichte weiter: Quinn/„Auster“ trifft den „realen“ Schriftsteller Paul Auster. Zudem beobachtet Quinn/„Auster“ obsessiv Stillman Senior und auch seinen Auftraggeber, Stillman Junior. Trotz der beinahe lückenlosen Überwachung verpasst Quinn/„Auster“ alles: Den Selbstmord von Stillman Senior und das Verschwinden von Stillman Junior. Am Schluss verschwindet Quinn/„Auster“ auch, und der Autor Paul Auster, der nach ihm sucht, findet nur sein rotes Notizheft, in dem er seine detektivische Arbeit protokolliert hat, und der letzte Satz lautet: „What will happen when there are no more pages in the red notebook?“5 Diese rätselhafte Geschichte spielt mit Worten und Namen: Der Schriftsteller Quinn wird für den Privatdetektiv Paul Auster gehalten. Der Auftraggeber Stillman Junior sagt, dass dies nicht sein Name sei. Schließlich trifft Quinn, der den Privatdetektiv „Paul Auster“ spielt, den Schriftsteller Paul Auster, der wiederum der „reale“ Autor der Geschichte ist. Es scheint so, als unterliegen Eigennamen hier Verschiebungen, so dass keine Figur über Namen identifiziert werden kann. Die Geschichte spielt zudem mit der sprachlichen Entwicklungsge­ schichte. Stillmans grausames Experiment sollte der Erforschung menschlicher Sprachentwicklung dienen. Somit hat die Geschichte auch eine kognitionswissenschaftliche Dimension, die selbstreferentiell in der Geschichte angelegt ist als Namensverschiebung, Buchstabenerzeugung und Narrationsebenenerweiterung. Die Geschichte spielt schließlich auch mit der Schrift. Die Buchstaben, die Stillmann Senior erwandert, sind codiert, so dass sie erst im übertragenen Sinne als Wegstrecke auf einer Karte gelesen werden können. Einerseits kann die Schrift nur mit Hilfsmitteln gelesen werden, was bedeutet, dass sie sich erst im Nachhinein materialisiert. Sie ist nur noch ganz schwach durch eine zeitliche Kontiguität mit dem Ursprungsbereich verbunden. Andererseits transferiert sie die Stadt, die Häuserblocks von Manhattan, tatsächlich in eine „Stadt aus Glas“, weil die Wege, Gebäude und Parks teilhaben am Entstehen der Schrift. 3 | Ebd., S. 75. 4 | Ebd., S. 78. 5 | Ebd., S. 132.

3. Ver fahren – Autopoiesis

Namen, sprachliche Entwicklung und Schrift: Es scheint so, als wäre in City of Glass die detektivische Suche nach den basalen Elementen der Sprache beschrieben. Der Detektiv ist mit seinem Doppelnamen selbst Teil dessen, was gefunden werden soll. Doch wie der Detektiv am Auftrag scheitert, so scheitert auch die Leserschaft, die sich durch diesen babylonischen Stadtdschungel kämpft. Kein Weg bleibt sicher und kein Eigenname bleibt stabil, und somit mutet der Name der Geschichte an wie blanke Ironie: durchsichtig ist da nichts. Die Geschichte des Autopoiesis-Begriffs erscheint – um nun den Übergang von der story zur history zu schaffen – manchmal auch ziemlich undurchsichtig. Im Folgenden wird auf die Namen und Schriften fokussiert, auf die Verschiebungen in der Begrifflichkeit geachtet und in schnellen, kurzen Schritten die Geschichte von Autopoiesis „bewandert“. Im Zentrum des Interesses steht die Verwendung von Autopoiesis in der Literaturwissenschaft. Um ein besseres Verständnis für diese Verwendung zu erreichen, werden jedoch auch die kognitionsbiologischen und systemtheoretischen Herleitungen des Begriffs kurz dargelegt. Dabei interessieren die Wandlungen, welche der Begriff auf der Reise von der Naturwissenschaft über die Soziologie zur Literaturwissenschaft erfährt. In jedem dieser Bereiche gibt es verblüffend viel Literatur zum Autopoiesis-Begriff, und so kann hier selbstverständlich kein vollständigen Überblick über alle Werke geben werden. Ebenso selbstverständlich sollte sein, dass es nicht Thema dieser Arbeit ist, in aller Gründlichkeit darzulegen, was Autopoiesis in der Kognitionsbiologie und bei Niklas Luhmann tatsächlich bedeutet. Selbst wenn eine solche Darlegung möglich wäre – was zu bezweifeln ist –, dann würde dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deswegen wird versucht, mit folgenden drei Thesen einen Weg durch den Dschungel der AutopoiesisLiteratur zu bahnen und dabei den Fokus auf die Sprache nicht zu verlieren. 1. 1. Interdisziplinäre Autopoiesis: Ein Blick in die Kognitionsbiologie, Systemtheorie und systemtheoretische Literaturwissenschaft lässt Autopoiesis als ubiquitäres Verfahren erscheinen, das die disziplinären Grenzen überschreitet. Im ersten Kapitel geht es darum, sich einen Überblick über die Literatur zu verschaffen. Was bedeutet der Begriff bei Humberto Maturana, Francisco Varela, Niklas Luhmann und in der systemtheoretischen Literaturwissenschaft? Wie verändern sich die Begriffsdefinitionen und mit welchen literaturwissenschaftlichen Konzepten wird der Begriff in Verbindung gebracht?

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2. 2. Populäre Autopoiesis: Autopoiesis scheint nicht nur disziplinäre Grenzen zu überschreiten, sondern auch die Grenze zwischen Wissenschaft und Populärwissenschaft. Es sind im Zusammenhang mit Autopoiesis Werke entstanden, die offensichtlich nicht nur für ein Fachpublikum gedacht waren. Wieso bietet sich gerade Autopoesis an, Grenzen zwischen „Ernst und Unterhaltung“ zu überschreiten? Im Zentrum stehen im zweiten Kapitel Douglas R. Hofstadters populäres Buch Gödel, Escher, Bach: an Eternal Golden Braid und Maturanas und Varelas verständlich gehaltene Einführung in die Kognitionsbiologie: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. 3. Autopoietische Autopoiesis: Das dritte und letzte Kapitel ist als Zusam3. menfassung der ersten zwei Kapitel gedacht. Dabei wird am Schluss auch über die Frage spekuliert, ob in der Begriffsgeschichte selbst ein autopoietisches Verfahren sichtbar wird.

3.2 I nterdisziplinäre A utopoiesis Für die Prägung des Begriffs verantwortlich sind die beiden Chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Ihr populärwissenschaftliches Werk Der Baum der Erkenntnis beginnt mit einer Erklärung der eigenen Geschichte: „Ein Wort über die Geschichte der Ideen, die hier präsentiert werden, ist ebenfalls am Platz: Sie lassen sich bis auf das Jahr 1960 zurückverfolgen, als Humberto Maturana begann, von der gewohnten biologischen Tradition abzuweichen. Er versuchte nämlich, lebende Systeme als den Prozeß zu verstehen, der diese verwirklicht, und sie nicht durch die Beziehung zu ihrer Umwelt zu erklären. Dieser Ansatz beschäftigte ihn während des folgenden Jahrzehnts und fand 1969 seinen ersten klaren Ausdruck in dem Artikel ‚The neurophysiology of cognition‘[...], in dem einige seiner zentralen Vorstellungen über die zirkuläre Organisation lebender Systeme und das nicht-repräsentationale Funktionieren des Nervensystems dargelegt wurden. Mitte der sechziger Jahre studierte Francisco Varela bei Humberto Maturana, und seit den siebziger Jahren arbeiten wir beide als Kollegen an der Universität von Chile zusammen. Wir arbeiteten weiter an einer Neuformulierung der biologischen Phänomenologie, was in einem 1973 veröffentlichten Buch über ‚Autopoiesis und die Organisation des Lebendigen‘ seinen Niederschlag fand [...].

3. Ver fahren – Autopoiesis

Diese beiden grundlegenden Arbeiten sind heute in dem Buch Autopoiesis and Cognition [...] vereinigt.“6

Unbescheiden, als wüssten sie schon, welche Karriere der Begriff machen wird, erzählen Maturana und Varela in der dritten Person ihre eigene Geschichte des Begriffs. Dieser nonchalante Umgang wird durch Niklas Luhmanns anekdotische Erzählung der „Anfänge“ von Autopoiesis verstärkt: Es ist die Gründung der Autopoiesis aus dem Geiste eines Abendessens. „Aber warum ‚Autopoiesis‘? Maturana hat mir erzählt, wie er auf diesen Ausdruck gekommen ist. Er hatte ursprünglich mit zirkulären Strukturen gearbeitet, mit dem Begriff der zirkulären Reproduktion der Zelle. Das Wort ‚zirkulär‘ ist ein eingeführtes Wort, das keine weiteren Probleme aufwirft, aber für Maturana war es nicht genau genug. Da erteilte ihm ein Philosoph beim Abendessen oder bei einem anderen geselligen Anlass eine Aristoteleslektion. Er erklärte ihm den Unterschied zwischen ‚práxis‘ und ‚poiésis‘. ‚Práxis‘ ist eine Tätigkeit, die ihren Sinn in sich selber als Tätigkeit hat. Bei Aristoteles ist das Ethos des städtischen Lebens, die Tugend, die Tüchtigkeit, ‚areté‘ gemeint, die nicht wegen ihres Erfolges des Entstehens einer guten Stadt wichtig ist, sondern als solche sinnvoll ist. Andere Beispiele dafür wären das Schwimmen – das tut man nicht, weil man irgendwohin will – oder das Rauchen, das Schwatzen oder das Räsonieren in den Universitäten, das auch eine Tätigkeit ist, die als solche befriedigend ist, ohne dass etwas aus ihr folgt. Bei der ‚práxis‘ ist die Selbstreferenz schon im Begriff vorgesehen, und die ‚poiésis‘ wurde Maturana als etwas erklärt, was etwas außerhalb von sich selber herstellt, nämlich ein Werk. In der ‚poiésis‘ tut man etwas, man handelt, aber nicht, weil das Handeln Freude macht oder tugendhaft ist, sondern weil man etwas produzieren will. Maturana hat dann die Brücke gefunden und von ‚autopoiesis‘ gesprochen, von einer Poiesis als ihrem eigenen Werk, und zwar bewusst ‚Werk‘. ‚Autopráxis‘ wäre demgegenüber ein sinnloser Ausdruck, denn er würde das, was mit ‚práxis‘ schon gemeint ist, nur wiederholen. Nein, es geht um das System, das sein eigenes Werk ist. Die Operation ist die Bedingung für die Produktion von Operationen.“7 6 | Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern/München/Wien: Scherz 1987, S. 9 (Herv.i.O.). 7 | Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie, hg. von Dirk Baecker, 5. Aufl., Heidelberg: Carl Auer 2009, S. 110-111 (Herv.i.O.).

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Weder wird klar, wieso das Wort „zirkulär“ für Maturana nicht genau genug war, noch wird bekannt, wer der besagte Philosoph sein könnte, der dem jungen Maturana eine Aristoteleslektion erteilte. Außerdem fehlt jegliche Quellenangabe. Dennoch ist die Geschichte amüsant, weil Luhmann vermutlich mit einem Augenzwinkern selbst „práxis“ betreibt. Bei der Einführung in die Systemtheorie handelt es sich um eine „Transkription der im Wintersemester 1991/92 an der Universität Bielefeld [...] gehaltenen Vorlesung Einführung in die Systemtheorie“8. Dabei scheint sich das ziellose „Räsonieren in den Universitäten“ gerade im Anekdotischen des Vortrags zu bestätigen. Luhmann „räsoniert“ in einer Vorlesung mit einer (quellen-)ungesicherten Anekdote über den Ursprung des Begriffs und vollführt in demselben Augenblick das, was in der „práxis“ schon angelegt ist: Das „Räsonieren in den Universitäten“. Selbstverständlich bleibt die Begriffsherleitung so reichlich spekulativ, denn es gibt keine schrift­liche Aussage von Maturana selbst über diese Ursprungsanekdote. So startet die Begriffsgeschichte: Zwar stecken hinter dem Begriff Namen, und die Geschichte ist außerdem grosso modo bekannt Dennoch, trotz der klaren Referenz, bleiben die „eigentliche“ BegriffsBedeutung und die bedeutungsprägenden Verbindungen zu „Konzepten“ wie System, Netzwerk und Kognition erstaunlich vage. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – verbreitete sich der Begriff nach seiner Geburtsstunde um 1960 überraschend schnell in verschiedenen natur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen. Der Begriff ­ athematik10, der Rechtswissenfindet sich in der Kognitionsbiologie9, der M 8 | Dirk Baecker im Vorwort zu: Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, S. 7 (Herv.i.O.). 9 | Zum Beispiel in: Mingers, John: Self-Producing Systems. Implications and Applications of Autopoiesis (Contemporary Systems Thinking), New York (NY)/London: Plenum Press 1995; Maturana, Varela, Der Baum der Erkenntnis; Guiloff, Gloria D.: Autopoiesis and Neobiogenesis, in: Zeleny, Milan (Hg.): Autopoiesis. A Theory of Living Organization (General Systems Research, Bd. 3), New York (NY): North Holland 1981, S. 118-125; Zeleny, Milan: Autogenesis, in: Zeleny, Autopoiesis, S. 91115; Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J.: Autopoiesis and Cogniton. The Realization of the Living, Reidel (Boston Studies in the Philosophy of Science, Bd. 42), London: Dordrecht 1980. 10 | Zum Beispiel in: Mingers, Self-Producing Systems; Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach: an Eternal Golden Braid, New York (NY): Basic Books 1999.

3. Ver fahren – Autopoiesis

schaft11, der Informatik, der Kommunikationstheorie12, der Systemtheorie13, der Philosophie14, der Kunst- und Theaterwissenschaft15 sowie in der Literaturwissenschaft16. Diese Liste ist nicht umfassend, und dennoch 11 | Zum Beispiel in: Teubner, Recht als autopoietisches System; Mingers, SelfProducing Systems. 12 | Zum Beispiel in: Fischer, Hans R.: Information, Kommunikation und Sprache. Fragen eines Beobachters, in: Ders. (Hg.): Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik, Heidelberg: Carl Auer 1991, S. 67-97; Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft; Kirsch, Werner: Kommunikatives Handeln, Autopoiese, Rationalität. Sondierungen zu einer evolutionären Führungslehre (Münchener Schriften zur angewandten Führungslehre, Bd. 66), München: Barbara Kirsch 1992. 13 | Zum Beispiel in: Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992; Beermann, Wilhelm: Luhmanns Autopoiesisbegriff – „order from noise“?, in: Fischer, Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik, S. 243-261; Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. 14 | Zum Beispiel: Mingers, Self-Producing Systems; Bendel, Klaus: Selbstreferenz, Koordination und gesellschaftliche Steuerung. Zur Theorie der Autopoiesis sozialer Systeme bei Niklas Luhmann, Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft 1993; Wallner, Friedrich: Selbstorganisation – Zirkularität als Erklärungsprinzip?, in: Fischer, Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik, S. 41-52; Zelger, Josef: Das Verfahren der kreativen Selbstorganisation als Modell einer autopoietischen Organisation, in: Fischer, Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik, S. 99-119. 15 | Zum Beispiel in: Weltzien, Friedrich (Hg.): von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin: Reimer 2006 (als Beispiele aus dem Band wären zu nennen: Gamboni, Dario: Acheiropoiesis, Autopoiesis und potentielle Bilder im 19. Jahrhundert, S. 63-74; Stückelberger, Johannes: Skying. Wolkenmalerei als Übungsfeld einer autopoietischen Ästhetik nach 1800, S. 109124.); Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 16 | Wie auch in den anderen Disziplinen ist die Liste hier selbstverständlich nicht umfassend. Dass sie an dieser Stelle aber ausführlicher ausfällt, liegt im Thema dieser Arbeit begründet. Außerdem beschäftigen sich die meisten der nachfolgend aufgeführten Texte mit deutscher Literatur. Beispiele finden sich in: Lippert, ­Florian: Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft. Kronauer,

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zeigt sie die Bandbreite von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Daher kurz ein paar Feststellungen zu vier Sachverhalten: Grünbein, ­M aturana, Luhmann, München: Fink 2013; Rzeszotnik Jacek (Hg.): Schriftstellerische Autopoiesis. Beiträge zur literarischen Selbstreferenzialität, Darmstadt: Büchner-Verlag 2011 (als Beispiele aus dem Band seien genannt: Michta, Ewelina: „[M]ein physiologischer locus minoris resistentiae, von dem alles ausgeht, [ist] der Magen“ – Zum Problem der kulinarischen Selbstreferenzia´ Boris: Wo beginnt die Gelität in Texten von Thomas Mann, S. 139-152; Previšic, schichte? Der Zerfall Jugoslawiens und Peter Handkes permanente Metalepsen, S. 79-96; Virant, Špela: Die uneinholbare Fiktion – Zu den Romanen Das Wetter vor 15 Jahren von Wolf Haas und Das bin doch ich von Thomas Glavinic, S. 63-78); Groß, Nathalie: Autopoiesis: Theorie und Praxis autobiographischen Schreibens bei Alain Robbe-Grillet (Studienreihe Romania 24), Berlin: Erich Schmidt 2008; Seelhorst, Jörg: Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und Heinrich Seuse (Bibliotheca Germanica 46), Tübingen/Basel: Francke 2003; Burkhart, Maximilian G.: Dekonstruktive Autopoiesis – Paradoxe Strukturen in Kleists Trauerspiel Penthesilea (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 33), Frankfurt a.M./Berlin/Bern: Peter Lang 2000; Homann, Renate: Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999; Theisen, Bianca: Romantic Myths of Myth: Myth as Autopoiesis, in: Bell, Michael/Poellner, Peter (Hg.): Myth and the Making of Modernity. The Problem of Grounding in Early Twentieth-Century Literature, Rodopi (TextxeT. Studies in comparative literatures, Bd. 16), Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1998, S. 9-23. Und dann gibt es selbstverständlich noch die gesamte systemtheoretische Literaturwissenschaft. Als Beispiele seien hier genannt: Klinkert, Thomas: Autopoiesis – Chrétien de Troyes, in: Werber, Niels (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen, Berlin/New York: de Gruyter 2011, S. 59-76; Lickhardt, Maren: Selbstreferenz/Fremdreferenz – Joseph Roth, in: Werber, Systemtheoretische Literaturwissenschaft, S. 363-372; Wellbery, David E.: Das Gedicht: Zwischen Literatursemiotik und Systemtheorie, in: Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hg.): Systemtheorie der Literatur, München: Fink 1996, S. 366-383; Hühn, Peter: Lyrik und Systemtheorie, in: de Berg, Henk/Pragel, Matthias (Hg.): Kommunikation und Differenz. Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 114-136; Schwanitz, Dietrich: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990.

3. Ver fahren – Autopoiesis

Erstens: Der Autopoiesis-Begriff findet gerade im Zusammenhang mit interdisziplinären Arbeiten seine Verbreitung. Zum Beispiel tangiert die Arbeit Self-Producing Systems von John Mingers die Zell-Biologie17, die Chemie18, die Mathematik19, die Kognitionstheorie (aufgeteilt in Neurologie20 und Linguistik 21), die Philosophie22, die Rechtswissenschaft 23, die Psychologie (mit Betonung auf Familientherapie24) und die Informationstheorie25. Ein ähnliches Bild liefert ein neues, literaturwissenschaftlich orientiertes Werk von Florian Lippert, Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft, auf das später noch genauer eingegangen wird. Diese Arbeit geht von der Kognitions- und Neurobiologie (Lippert nennt diese „Lebenswissenschaften“26) über die Systemtheorie Niklas Luhmanns27 zu literaturwissenschaftlichen Betrachtungen28. Zweitens: Der Autopoiesis-Begriff hatte in den Natur- und Sozialwissenschaften ihren Höhepunkt zwischen 1980 und 1990. In den Geisteswissenschaften scheint dieser Höhepunkt tendenziell etwas später, und zwar Mitte der 1990er Jahre zu liegen. Doch auch hierbei ist Vorsicht geboten. Selbst wenn die systemtheoretische Literaturwissenschaft ihren Zenit längst überschritten hat, ist noch 2011 das umfassende Werk Systemtheoretische Literaturwissenschaft, herausgegeben von Niels Werber, erschienen, in dem Autopoiesis durchaus prominent vertreten ist.29 ­Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Luhmann-Forschung, die, wenn auch 17 | Mingers, Self-Producing Systems, S. 18-28, 37-48. 18 | Ebd., S. 24-28. 19 | Ebd., S. 49-63. 20 | Ebd., S. 67-71. 21 | Ebd., S. 73-80. 22 | Ebd., S. 85-116. 23 | Ebd., S. 153-169. 24 | Ebd., S. 171-183. 25 | Ebd., S. 185-201. 26 | Lippert, Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft, S. 45-75. 27 | Ebd., S. 76-108. 28 | Ebd., S. 113-193. 29 | Werber, Systemtheoretische Literaturwissenschaft, 2011. Als Beispiel zum Thema Autopoiesis in diesem Band sind folgende Beiträge zu nennen: Klinkert, Autopoiesis – Chrétien de Troyes, S. 59-76; Lickhardt, Selbstreferenz/Fremdreferenz – Joseph Roth, S. 363-372.

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nicht mehr mit demselben Elan wie in den 1990er Jahren, ihre Arbeit auch bis weit in das neue Jahrtausend fortsetzt.30 Drittens: Jeglicher Umgang mit Autopoiesis ist mehr oder weniger im Zusammenhang mit einem konstruktivistischen Wissenschaftsbild entstanden. Das gilt insbesondere für die Natur- und Sozialwissenschaften. In den Geisteswissenschaften wäre korrekterweise wohl weniger von konstruktivistischer, sondern eher von poststrukturalistischer Prägung zu sprechen. Gerade in dem Band Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus, 1995 herausgegeben von Henk de Berg und Matthias Prangel, wurde über die Verbindung der konstruktivistisch orientierten Systemtheorie und einer dekonstruktivistisch orientierten Literaturwissenschaft geschrieben. Als Beispiele aus diesem Band seien hier die Beiträge von Gerhard Plumpe und Niels Werber („Différance, Differenz, Literatur. Systemtheorie und dekonstruktivistische Lektüren“31) sowie von Dietrich Schwanitz („Zur wechselseitigen Beobachtung von Systemtheorie und Dekonstruktion“32) genannt. Ein weiterer Aufsatz zur Verbindung von Konstruktivismus und Dekonstruktion findet sich in dem Band Kommunikation und Differenz von Matthias Prangel („Zwischen Dekonstruktionismus und Konstruktivismus. Zu einem systemtheoretisch fundierten Ansatz von Textverstehen“33). Doch es gilt, mit Vorsicht zu urteilen. Was sich bei den Soziologen als konstruktivistischer Ansatz zu lesen gibt, hat nicht zwingend etwas mit Postrukturalismus in der Literaturwissenschaft zu tun. Und das führt schließlich zu: 30 | Siehe dazu zum Beispiel die Arbeitsgruppe „Texttheorie nach Luhmann“, die bis 2012 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster bestand, https:// www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/forschung/ags/Texttheorie_nach_ Luhmann.html (Abrufdatum: 01.05.2014). 31 | Plumpe, Gerhard/Werber, Niels: Différance, Differenz, Literatur. Systemtheorie und dekonstruktivistische Lektüren, in: de Berg, Henk/Prangel, Matthias (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus, Tübingen/Basel: Francke 1995, S. 91-112. 32 | Schwanitz, Dietrich: Zur wechselseitigen Beobachtung von Systemtheorie und Dekonstruktion, in: de Berg/Prangel, Differenzen, S. 113-129. 33 | Prangel, Matthias: Zwischen Dekonstruktionismus und Konstruktivismus. Zu einem systemtheoretisch fundierten Ansatz von Textverstehen, in: de Berg/Prangel, Kommunikation und Differenz, S. 9-31.

3. Ver fahren – Autopoiesis

Viertens: Trotz des Ordnungsversuchs in drei Punkten, erscheint jegliche „Disziplinierung“ von Autopoiesis als schwierig.

3.2.1 Autopoiesis bei Maturana und Varela Im Folgenden wird versucht, die Definitionsgeschichte möglichst präzise nachzuzeichnen. Dabei wird auf die Prägung des Begriffs durch Maturana und Varela, auf die Übernahme des Begriffs durch Niklas Luhmann und auf die Verwendung des Begriffs in der Literaturwissenschaft fokussiert. Wie verwenden Maturana und Varela den Begriff, den sie in den 1960er Jahren geprägt haben? Es gibt verschiedene Zugänge zur Begriffsbeschreibung. Zum Beispiel wird der Begriff in dem 1972 erstmals auf Spanisch erschienenen und 1980 ins Englische übersetzen Werk Autopoiesis and Cognition, das sich zweiteilig um Kognitionsbiologie und Autopoiesis als „the organization of the living“ kümmert, in Verbindung mit Maschinenmetaphern gebracht. Der Begriff wird also durch die Beschreibung von „living machines“ – das können Einzeller aber auch Menschen sein – hergeleitet, die sich besonders eignen, die „nature of the living organization“ zu erkunden.34 Dabei definieren sie die autopoietischen, lebendigen Maschinen wie folgt: „Autopoietic machines are homeostatic machines. [...] An autopoietic machine is a machine organized (defined as a unity) as a network of processes of production (transformation and destruction) of components that produces the components which: (i) through their interactions and transformations continuously regener­ ate and realize the network of processes (relations) that produced them; and (ii) constitute it (the machine) as a concrete unity in the space in which they (the components) exist by specifying the topological domain of its realization as such a network.“35

Lebewesen als Maschinen zu bezeichnen greift zurück auf einen körperhistorischen Diskurs, der seinen wissenschaftlichen Ursprung hauptsächlich in der Entdeckung der Thermodynamik hatte, welche „den Ar­beitsbegriff ganz entscheidend“ veränderte.36 Anfang bis Mitte des 19. Jahr34 | Maturana/Varela: Autopiesis and Cogniton, S. 75-78. 35 | Ebd., S. 78-79 (Herv.i.O.). 36 | Rabinbach, Anson: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, in: Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. ­S tudien

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hunderts wurden durch die Forschung von Hermann von Helmholtz die menschlichen Arbeitsabläufe als Kraft messbar.37 Dabei stieß ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Dampfmaschine als analoges Modell zum Körper auf großes Forschungsinteresse, weil durch sie körperliche Wärme und Arbeitsleistung auf Grundlagen der Thermodynamik systematisch messbar wurden.38 Der Begriff der Homöostase geht zurück auf die Arbeit des Physiologen Walter B. Cannon von 1929. Homöostase bezeichnet die Fähigkeit des menschlichen Organismus, den körperinneren, konstanten Zu­stand trotz „wechselnde[r] Umweltbedingungen“ ausgleichend zu erhalten.39 Nun gibt es eine Verbindung zwischen der Dampfmaschine und dem Begriff der Homöostase. Bevor der Begriff der Homöostase geprägt wurde, findet sich ihr Effekt in der Regelungstechnik der Dampfmaschine. Durch sogenannte Fliehkraftregler reguliert die Maschine ihre Drehzahl selbst.40 Somit findet sich das erklärende Bild der homöostatischen Maschine, das in eigenartiger Weise das 19. und das frühe 20.  Jahrhundert verbindet, in Maturanas und Varelas Definition von Autopoiesis wieder. Autopoiesis ist bei ihnen zunächst definiert als autopoietische Maschine, welche als Netzwerk von Prozessen organisiert ist, wobei die Komponenten des Prozesses sich selbst produzieren. Als Netzwerk von selbstproduzierenden Produktionsprozessen bilden die zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 292; siehe zu dieser Thematik auch Rabinbachs wegweisende Studie: The Human Motor: Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley (CA): University of Califonia Press 1992. 37 | Rabinbach, Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, S. 293-295; Osietzki, Maria: Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik, in: Sarasin/Tanner, Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 322323. 38 | Osietzki, Körpermaschinen und Dampfmaschinen, S. 313, 315. 39 | Tanner, Jakob: „Weisheit des Körpers“ und soziale Homöostase. Physiologie und das Konzept der Selbstregulierung, in: Sarasin/Tanner, Physiologie und industrielle Gesellschaft, S. 131. 40 | Den Hinweis zum Fliehkraftregler, graphisch belegt durch zahlreiche Skizzen von Dampfmaschinen, verdanke ich Wolf Kittler anlässlich eines Gesprächs in Santa Barbara im April 2013.

3. Ver fahren – Autopoiesis

Komponenten eine Einheit. Es geht folglich um einen selbsterhaltenden Prozess, der nur im Verbund verschiedener, zusammenwirkender Teile, das heißt als Netzwerk, eine beobachtbare Einheit bilden kann. Es geht somit um Teile, die in ihrer selbstreproduzierbaren Produktion ein Ganzes bilden. Wiederum eine etwas andere Definition findet sich im Aufsatz „Autopoiesis“ von Maturana in dem Sammelband Autopoiesis. A Theory of Living Organization, 1981 herausgegeben von Milan­ Zeleny: „We maintain that there are systems that are defined as unities as networks of productions of components that (1) recursively, through their interactions, generate and realize the network that produces them; and (2) constitute, in the space in which they exist, the boundaries of this network as components that participate in the realization of the network. Such systems we have called autopoietic systems, and the organization that defines them as unities in the space of their components, the autopoietic organization.“41

Systeme definieren sich als Einheiten von Produktionsnetzwerken, von welchen ihre einzelnen Komponenten wiederum das Netzwerk erzeugen. Das klingt sehr nach der erstgenannten Definition. Allerdings kommen hier die Grenzen der Netzwerke ins Spiel die dadurch bestimmt werden, dass sie in den selbstgenerierenden Komponenten, die dann das System bilden, sichtbar werden. Es geht somit nicht mehr um Maschinen, sondern um selbstgenerierende Systeme, die als solche nur durch die beteiligten, selbstgenerierenden Komponenten sichtbar werden. „Einfacher“ wird die Definition in der ­populärwissenschaftlichen Publikation Der Baum der Erkenntnis aus dem Jahr 1982. Zunächst fällt auf, dass anders als bei den nicht-populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen von Maturana und Varela keine ausführliche Definition enthalten ist, obwohl die Autoren bemüht sind, verschiedene Begriffe einfach und klar darzulegen; darauf wird im Unterkapitel „Populäre Autopoiesis“ noch näher eingegangen. Diese „Definition“ steht ganz im Zeichen der Autonomie von Lebewesen: 41 | Maturana, Autopoiesis, S. 21-22. Es scheint nicht ganz klar, was mit „as networks of productions of components“ gemeint ist. Es macht wenig Sinn, das Zitierte als „Netzwerkproduktion von Teilen“ zu übersetzen. Vielleicht liegt hier ein Fehler im Text von Maturana vor.

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„Nach unserer Ansicht ist [...] der Mechanismus, der Lebewesen zu autonomen Systemen macht, die Autopoiese; sie kennzeichnet Lebewesen als autonom.“42

Von 1972 bis 1982 sind somit mehrere Definitionen aus der Feder von Maturana und Varela entstanden, ohne dass diese sich auf einen Nenner bringen lassen würden. Dabei steht der Begriff der Autopoiesis einerseits im Zentrum, da er Mensch und Gesellschaft als System erst erklärbar macht. Andererseits steht der Begriff gerade deswegen nicht im Zentrum, weil er nur als Mittel dient, (menschliche) Organismen als autonome Systeme ins Zentrum zu rücken. Der Begriff entfaltet sich bei Maturana und Varela an einer seltsamen Grenze zwischen Unabdingbarkeit und Dezentrierung. Die Definition von Autopoiesis ist insofern nicht zentral, weil es nicht um Autopoiesis an sich geht. Sie ist aber wiederum unabdingbar, weil erst durch sie der menschliche Organismus als autonomes System definiert werden kann. Der Grund für die Dezentrierung könnte allerdings darin liegen, dass Autopoiesis für Maturana und Varela unproblematisch, weil selbsterklärend erscheint. Rein begriffstheoretisch gäbe es zudem noch eine weitere Erklärung. Die Vagheit der Begrifflichkeit ist der Neuheit geschuldet, lebende Systeme durch den Autopoiesis-Begriff zu definieren. Die Vagheit des Begriffs hat eine Verbindung zum vagen „Objekt“, das es bezeichnet. Auch wenn der Fall hier anders gelagert ist, sind einige Parallelen zu den Bemerkungen zur Begriffsgeschichte des „Gens“ zu ziehen. HansJörg Rheinberger schreibt im Aufsatz „Begriffsgeschichte epistemischer Objekte“43, dass das Gen nach der Entdeckung nur unscharf definiert gewesen sei: „Wie ich in meiner Studie zur Evolution des Genbegriffs ausgeführt habe 44, führen die konkreten experimentellen Praktiken der modernen Forschung, […] zu Begriffen, die eng mit den Objekten dieser Forschung verflochten sind. Als solche stellen 42 | Maturana, Der Baum der Erkenntnis, S. 55. 43 | Rheinberger, Hans-Jörg: Begriffsgeschichte epistemischer Objekte, in: Müller, Ernst/Schmieder, Falko (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 1-12. 44 | Rheinberger bezieht sich hier auf seine Ausführungen in Kapitel 8, „Die Evolution des Genbegriffs – Perspektiven der Molekularbiologie“ seiner Publikation Epis-

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sie Attraktoren dar, die trotz – und vermutlich sogar genau wegen – der ihnen eigenen Unschärfe eine mehr oder weniger ausgeprägte Orientierungsfunktion entfalten und gerade deshalb auch die Forschung vorantreiben.“45

Die Unschärfe im Begriff hat in den Naturwissenschaften eine direkte Verbindung zum Stand der Forschung. Je offener der Begriff, desto „offener“ ist auch das zu beforschende und letztlich zu definierende Objekt. Dazu nochmals Rheinberger: „Mitunter bilden sich ganze Disziplinen um eines oder wenige dieser unscharf definierten und selbst ebenso unscharfen epistemischen Objekte. In der Physik war das Atom lange Zeit ein solches Objekt/Begriffs-Paar; in der Chemie das Molekül; in der Evolutionsbiologie die Art; und in der Genetik des frühen 20. Jahrhunderts übernahm bekanntlich das Gen diese Funktion.“46

Die Unschärfe wird jedoch von Rheinberger nicht als Nachteil beschrieben. Die Unschärfe erscheint fast schon als eine Bedingung der Möglichkeit für die Entwicklung neuer Forschungsfelder. Die begriffliche Unschärfe adaptiert nicht nur die Unklarheit im neu zu erforschenden Objekt, sondern lässt durch die Offenheit in der Objektbeschreibung Innovation zu. Nochmals Rheinberger: „Unscharfe Begriffe und vage Objekte hängen zusammen. Ihre Fruchtbarkeit steckt in ihrem nach vorne offenen operationalen Potenzial.“47 Selbst wenn Maturana und Varela mit dem lebenden Organismus nicht wirklich ein neues Objekt vermessen, scheint dennoch eine Parallele zu bestehen. In den 1960er bis 1980er Jahre war es durchaus neu, lebendige Organismen als rein autonome, autopoietisch strukturierte Systeme zu betrachten, die als Netzwerke fungieren. Entscheidend ist weniger die Frage, ob das Untersuchungsobjekt schon vor ihrer Entdeckung existiert, oder ob das Objekt schon beschrieben worden ist. Entscheidend sind vielmehr die Möglichkeiten, die eine Neubeschreibung unter anderen Parametern schaffen. Sie schaffen Innovation und erweitern das Objekt. Dass dabei der Begriff nicht zwingend gleich zu Beginn stabilisiert wertemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 221–244. 45 | Rheinberger, Begriffsgeschichte epistemischer Objekte, S. 1. 46 | Ebd., S. 1-2. 47 | Ebd., S. 3.

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den kann, erscheint logisch. Und das ist eine Erklärungsmöglichkeit, wieso Autopoiesis bei Maturana und Varela nicht gänzlich klar definiert wird. Autopoiesis ist bei ihnen kein Begriff, der spezifisch ein Objekt beschreibt, sondern – wenn man ihn so nennen will – ein Hilfsbegriff, um Organismen als selbstgenerierende Systeme zu betrachten.

3.2.2 Autopoiesis bei Luhmann Der Begriff der Autopoiesis hält ein paar Jahre später Einzug in die Systemtheorie Niklas Luhmanns.48 Die erste theoretische Auseinandersetzung mit Autopoiesis erfolgt 1984 in Soziale Systeme. Dabei nimmt Luhmann direkt Bezug auf Maturana:49 „Die Autopoiesis ist Quelle einer für das System unbestimmbaren Komplexität. [...] Oder mit einer Formulierung von Maturana: ‚An autopoietic system is a system with a changing structure that follows a course of change that is continuously being selected through its interaction in the medium in which it realized its autopoiesis‘ [...].“50

Hier zitiert Luhmann Maturanas Aufsatz „Man and Society“ in ­Autopoiesis, Communication, and Society, einem 1980 herausgegebenen Sammelband von Frank Benseler, Peter M. Hejl und Wolfram K. Köck. Interessant ist die Tatsache, dass Maturana in diesem Fall – verglichen mit den schon ge48 | Luhmann erwähnt auffallend oft Selbstreferenz und Autopoiesis im selben Satz und manchmal scheint es, als würde er beide synonym verwenden (beispielsweise in: Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, S. 78). Allerdings erscheint Autopoiesis umfassender, das heißt, basaler, weil es sozusagen Systeme erst als solche abgrenzbar – und vielleicht auch: beschreibbar – macht. Selbstreferenz beschreibt mehr die „basale“ und systeminterne „Verweisung“. Siehe dazu auch: Lickhardt, Selbstreferenz/Fremdreferenz – Joseph Roth, S. 368-369. 49 | Luhmann nimmt in Soziale Systeme mehrmals direkt Bezug auf Maturana und Varela, wie beispielsweise in der Erzählung der Herleitung des Begriffs bei Maturana und Varela auf S. 60: „Um deutlich zu machen, wie sehr dieser Begriff von basaler Selbstreferenz sich von einer älteren Diskussion über ‚Selbstorganisation‘ unterscheidet, haben Maturana und Varela dafür die Bezeichnung ‚Autopoiesis‘ vorgeschlagen.“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 60 [Herv.i.O.]) 50 | Ebd., S. 298.

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nannten – eine leicht andere Definition ins Spiel bringt.51 An dieser Stelle scheint der Strukturwechsel im autopoietischen System im Vordergrund zu stehen. Ein weiterer Definitionsversuch findet sich in dem 1998 erstmals herausgegebenen, zweibändigen Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft: „In diesen Diskussionsstand [über selbstorganisierende Systeme nach Heinz von Foerster, Anmerkung M.S.] hat Humberto Maturana mit dem Begriff der Autopoiesis ein neues Moment eingeführt [...]. Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen. [...] Sie werden [...] im System erst erzeugt, und zwar dadurch, daß sie [...] als Unterschiede in Anspruch genom­ men werden. [...] Angesichts einer umfangreichen und recht kritischen Diskussion muß vor allem auf den geringen Erklärungswert des Begriffs der Autopoiesis hingewiesen werden. [...] Er sagt [...] nichts darüber, welche spezifischen Strukturen sich in solchen Systemen auf Grund von strukturellen Koppelungen zwischen System und Umwelt entwickelt haben. Er erklärt also nicht die historischen Systemzustände, von denen die weitere Autopoiesis ausgeht. [...] Die autopoietische Operation der Kommunikation voraussetzende Kommunikation erzeugt Gesellschaft, aber daraus ergibt sich noch nicht: was für eine Gesellschaft. Autopoiesis ist demnach ein für das jeweilige System invariantes Prinzip [...]. Autopoiesis ist deshalb nicht als Produktion einer bestimmten ‚Gestalt‘ zu begreifen.“ 52

Die Definition, dass Systeme „die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst“ erzeugen, erinnert an die Definitionen in Autopoiesis and Cognition und an die Definitionen im Aufsatz „Autopoiesis“ (in dem Sammelband Autopoiesis. A Theory of Living Organi51 | Bezüglich der Übernahme von Autopoiesis erscheint auch die Verehrung, die Luhmann besonders Maturana in Soziale Systeme zukommen lässt, bemerkenswert, selbst wenn er ihn kritisiert. In folgender Fußnote zum soeben zitierten Auszug betitelt Luhmann Maturana als „Meister“: „[...] Im übrigen sind jedoch die Ausführungen des Meisters über soziale Systeme und deren eigene Autopoiesis dadurch beeinträchtigt, daß er als Biologe auch soziale Systeme für lebende Systeme hält und sie als ‚collection (!) of interacting living systems‘ (S. 11) unzureichend erfaßt. Somit fehlt denn auch eine ausreichende Analyse des Sachverhalts, den wir hier als Interpenetration zu begreifen versuchen.“ (Ebd.) 52 | Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 65-66 (Herv.i.O.).

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zation von Milan Zeleny). Doch weitaus interessanter erscheint die Tatsache, dass Luhmann hier formuliert, was in Anlehnung an Rheinberger zu formulieren versucht wurde. Autopoiesis erscheint bei Maturana und Varela als vager Begriff. Oder in Luhmanns Worten: Autopoiesis hat nur einen „geringen Erklärungswert“. Der Begriff sagt demnach weder etwas über die Struktur der Systeme noch über die historischen Bedingungen der Systeme aus. Autopoiesis besteht schlicht als ein „invariantes“ Prinzip. Insofern beschreibt Luhmann keine statischen Zustände, sondern ein Verfahren, nämlich dasjenige des seine eigenen Strukturen und Elemente erzeugenden Systems. Und dieses Verfahren ist entscheidend – um nochmals auf Soziale Systeme zurückzugreifen –, um die Existenz und letztlich die Evolution zu sichern: „Dieser Begriff [Autopoiesis, Anmerkung M.S.] sagt nur, daß Selbstreproduktion auf der Basis instabiler Elemente notwendig ist, wenn nicht das System schlicht aufhören soll zu existieren. Selbstreproduktion ist dann ihrerseits Voraussetzung für Evolution. [...] Autopoiesis ist nicht einfach ein neues Wort für Existenz oder Leben.“53

Autopoiesis ist existenzsichernd, aber nicht die Existenz selbst. So wird auch hier die Definition von Autopoiesis als „Prinzip“ aufrecht erhalten. Nun stellt sich die Frage, wie dieses „Prinzip“ organisiert ist. Hierbei fallen die Definitionen ex negativo auf.54 Erstens ist Autopoiesis ein „nichthierarchisches Geschehen“: „Autopoiesis ist ein rekursives, daher symmetrisches, daher nichthierarchisches Geschehen [...]. Alle Regulierungen werden selbst reguliert, alle Kontrollen wer53 | Luhmann, Soziale Systeme, S. 503. 54 | Hier wird in erster Linie die Autopoiesis-Definition in Soziale Systeme, Die Wissenschaft der Gesellschaft und in dem zweibändigen Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft berücksichtigt. Soziale Systeme wird als maßgebliches Grundlagenwerk zur Systemtheorie erachtet, wo der Autopoiesis-Begriff zum ersten Mal grundlegend dargelegt wurde. Dasselbe gilt, was das Grundlegende betrifft, auch für Die Gesellschaft der Gesellschaft. Außerdem decken alle drei Werke mit den Erscheinungsjahren 1984 (Soziale Systeme), 1990 (Die Wissenschaft der Gesell­ schaft) und 1997 (Die Gesellschaft der Gesellschaft) eine umfassende zeitliche Bandbreite von Luhmanns Arbeit ab.

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den selbst kontrolliert. Nichts kann im geschlossenen System reproduziert werden, wenn es nicht diesen Bedingungen genügt.“55

Zweitens zeigt Luhmann im ersten Band von Die Gesellschaft der Gesellschaft, dass ein autopoietisches System nur verantwortlich für die Grenzziehung und Formbildung ist und damit keine weiterreichenden Funktionen hat: „Indem das System autopoietisch operiert, tut es, was es tut, und nichts anderes. Es zieht also eine Grenze, bildet eine Form und läßt alles andere beiseite.“56

In der etwas saloppen Erklärung („tut es, was es tut“) findet das Autopoietische Eingang in die Erklärung, weil sich in der Erklärung des Begriffs nichts klärt. So verstanden, würde sich der Begriff formal von anderen Begriffen abgrenzen, indem er autologisch und somit schwierig erklärbar ist. Aber auch gekoppelt an das System scheint der Begriff seine Stabilität zu verlieren, wie, drittens, Luhmann im zweiten Band von Die Gesellschaft der Gesellschaft bezüglich des Fehlens eines Anfangs und eines Endes darlegt: „Im autopoietischen System gibt es keinen Abschluß, weder Anfang noch Ende. Jedes Ende ist Anfang. Das Paradox löst sich damit in Zeit auf.“57

Damit rückt Luhmann Autopoiesis in ein temporales Verhältnis, ähnlich wie Douglas Hofstadter in Gödel, Escher, Bach, wie nachfolgend noch dargelegt wird. Dabei scheint nun aber Autopoiesis nicht richtig verstanden zu haben, wer nur auf das volatile, instabile Moment fokussiert. Und hierbei liegt das paradoxe oder – verfolgt man die Begriffsgeschichte von Autopoiesis – vielleicht auch nur konsequente Muster in der Begriffsdefinition. Statt der Betonung des Nichthierarchischen, des (Anfang und Ende) Aufschiebenden, stehen in Die Wissenschaft der Gesellschaft nun plötzlich die Grenzen und die Einheit des Systems im Vordergrund: „Je strenger man Begriffe wie Leben, Bewußtsein und Kommunikation an die feststellbare Reichweite der damit bezeichneten Operationen bindet [...], desto deutlicher kommen unüberschreitbare Grenzen in den Blick. [...] In systemtheoretischer 55 | Luhmann, Soziale Systeme, S. 654. 56 | Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 183. 57 | Ebd., Bd. 2, S. 1081.

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Sicht sind lebende Systeme, Bewußtseinssysteme und Kommunikationssysteme deshalb verschiedenartige, getrennt operierende selbstreferentielle Systeme [...]. Jedes dieser Systeme reproduziert sich selbst autopoietisch nach Maßgabe der eigenen Struktur. Die autopoietische Reproduktion erzeugt die Einheit des Systems und dessen Grenzen.“58

Wenn nun die vorher genannten Autopoiesis-Definitionen als systemorientierte Beschreibungen instabiler Verhältnisse gelesen werden könnten, verschiebt sich die Erklärung nun auf die Einheit. Die „autopoietische Reproduktion“ bildet die Einheit des Systems. Einheit wäre in diesem Falle nicht eine begrenzbare Identität des Systems, sondern nur die Einheit im Verfahren, um sich von anderen Verfahren und letztlich von anderen „verfahrenden“ Systemen abzugrenzen. Interessant ist bei dem zitierten Text zudem auch die dazugehörige Fußnote 32: „Die für die folgenden Ausführungen wichtige Literatur sei hier nochmals angegeben: Humberto Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit: Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig 1982; Humberto Maturana/Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, München 1987; Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984; ders., Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Alois Hahn/Volker Kapp (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt 1987, S. 25-94. Als Brücke zur Literatur vgl. auch Alois Hahn, Das andere Ich: Selbstthematisierung bei Proust, in Volker Kapp (Hrsg.), Marcel Proust: Geschmack und Neigung, Tübingen 1989, S. 127-141.“59

Die Fußnote dient als referentielle Absicherung. Ungleich den älteren Werken verweist Luhmann hier nicht nur in erster Linie auf die Arbeiten von Maturana und Varela, sondern auch auf sich selbst. Die referentielle Absicherung von Autopoiesis geschieht am Rande des Texts auch im Selbstverweis. Was ist nun Autopoiesis nach Luhmann? Das ist schwierig zu sagen, da Autopoiesis im Universum der Systemtheorie einerseits eine beachtliche Bedeutung zukommt und andererseits hier nicht die gesamte Band58 | Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 28-29. 59 | Ebd.

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breite von Implikationen bei Luhmann berücksichtigt werden konnte. Das würde über das Ziel dieses Buches hinausgehen, das eng am Begriff der Autopoiesis gebunden ist. Doch immerhin lässt ein kurzer Blick in Luhmanns Erklärungen zu Autopoiesis folgende Schlüsse zu: Einerseits ist Autopoiesis dasjenige, was schon Maturana und Varela dargelegt haben und was – zumindest in Bezug auf die beiden Biologen – Luhmann oft und in zahlreichen Werken repetiert: Autopoiesis ist kein Begriff, der spezifisch eine Entität beschreibt, sondern ein Begriff mit „geringem Erklärungswert“, quasi ein begriffloser Begriff, der als Steigbügelhalter für die Erklärung von Systemen herhalten muss. Andererseits erscheint der Begriff im umfassenden Werk Luhmanns noch weitaus weniger indifferent als bei Maturana und Varela. Der Autopoiesis-Begriff ist eine Conditio sine qua non von äußerst komplexer Einheitsbildung von Systemen. Oder radikaler gesagt: Ohne Autopoiesis kein System. So oder so, Autopoiesis bleibt auch in der Zeitreise durch Luhmanns Werk ziemlich diffus. Und das scheint wiederum die beste Bedingung zu sein, um den Begriff in eine Wissenschaft einzuführen, die zumindest nach zahllosen „turns“ seit Mitte des 20. Jahrhunderts sehr empfänglich für diffuse Begriffe geworden ist. Und das ist gut so.

3.2.3 Autopoiesis in der Literatur wissenschaft Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literaturwissenschaft Der Pionier einer systemtheoretischen Germanistik war eigentlich Anglist. Dietrich Schwanitz veröffentlichte 1990 Systemtheorie und Literatur, eines der ersten Werke, in dem Systemtheorie mit Literaturwissenschaft verknüpft wurde; Ein neues Paradigma, wie es im Untertitel heißt. Am Beispiel englischer, französischer, spanischer und deutscher Literatur führt er vor, was eine systemtheoretische Lektüre heißen könnte. Dabei geht Schwanitz in dem Kapitel „Systemtheorie“ auch auf Autopoiesis ein. Er erwähnt kurz Maturana und Varela und fährt fort mit der Neuerung, welche der Begriff Autopoiesis in der Systemtheorie Luhmanns brachte. Dabei wird die Autopoiesis-Definition in einer kurzen Geschichte wiedergegeben: „Organische Systeme, Bewußtseinssysteme, und die Gesellschaft sind autopoietische Systeme, weil sie sich zusammen mit ihren Elementen selbst herstellen. Bei diesem einigermaßen exzentrisch wirkenden Gedanken ist gleich zu Anfang wichtig, naheliegende Abwege zu vermeiden. Einer dieser Abwege wäre, sich vor-

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zustellen, es gäbe irgendwo einen Haufen unordentlicher Elemente, die sich dann zu einem System ordnen, oder irgendein herumstreunendes System würde sich herrenlose Elemente einverleiben. Ein System entsteht jedoch zusammen mit den durch es selbst konstituierten Elementen durch einen göttlichen Blitzschlag der Schöpfung. Dieser göttliche Schöpfungsfunke, der ein System zum Leben erweckt, geht aus von der im ersten Kapitel beschworenen Selbstbezüglichkeit.“60

Anzufügen wäre dieser Beschreibung, dass einer „dieser Abwege“ auch das Verfahren ist, Autopoiesis, so wie hier, zu „erzählen“. „Systeme“ werden in Schwanitz’ Welt plötzlich lebendig, was zur Popularisierung des Themas beiträgt.61 Nach dieser Erklärung von Autopoiesis stellt sich nun die Frage, wie Schwanitz Autopoiesis in der Literaturanalyse verwendet. Er gibt nach einem Exkurs in die Mathematik, Biologie und Informatik, der teilweise sehr an Douglas Hofstadters Buch Gödel, Escher, Bach erinnert (das er an anderer Stelle auch erwähnt), ein Beispiel des britischen Dramatikers Tom Stoppard. Dieses Beispiel wird allerdings nur kurz skizziert, und er fasst dieses und auch weitere Beispiele aus der Mathematik, der Biologie und der Informatik wie folgt zusammen: „Ich glaube, an vielen dieser Beispielen ist deutlich geworden, wie die selbstreferentielle Schleife die Selbstherstellung eines Systems dadurch sichert, daß die Lösung eines Problems das Problem reproduziert. Das dann wieder seine eigene Lösung produziert.“62 In Schwanitz’ Kapitel zu „Systemtheorie“ wird Autopoiesis nicht als literarisches Verfahren eingeführt. Vielmehr dienen literarische Beispiele zur Verdeutlichung von autopoietischen Systemen im Sinne von Luhmanns Systemtheorie. Das gilt bis zum Kapitelschluss, wo Schwanitz allerdings seine Taktik ändert und eine Modifikation des ersten Aktes von 60 | Schwanitz, Dietrich: Systemtheorie und Literatur, S. 54. 61 | Somit wäre Systemtheorie und Literatur eigentlich ein Kandidat für das nächste Kapitel zur populären Autopoiesis. Es wird jedoch davon abgesehen, dieses Werk dort zu verhandeln, weil es einerseits – eingegrenzt im relativ engen Rahmen der Literaturwissenschaft – für die sehr umfassende Begriffsgeschichte von Autopoiesis nicht wichtig genug erscheint, und weil es andererseits – wenn man schon von Popularisierung spricht – zu sehr im Schatten von Schwanitz’ berühmtem Roman Der Campus (Frankfurt a.M.: Eichborn 1995) und dem populären sowie umstrittenen Sachbuch Bildung: Alles, was man wissen muß (München: Goldmann 2002) steht. 62 | Schwanitz, Systemtheorie und Literatur, S. 66.

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Shakespeares Hamlet mit dem Gadamer parodierenden Titel Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode wiedergibt. Um zu verstehen, was Schwanitz „vorspielt“, wird nachfolgend die Regieanweisung zitiert: „(Die Bühne des Stadttheaters von Bielefeld, kurz vor Mitternacht. Die Premiere des Hamlet ist gerade mit großem Beifall zu Ende gegangen, und die Schauspieler haben sich alle in den ‚Ratskeller‘ zur Premierenfeier begeben. Doch die Geister von Shakespeares Figuren sind noch im Theater. Auftritt Hamlet, der Luhmanns ‚Soziale Systeme‘ liest.)“63

Nach dem Muster des Shakespeare-Dramas lässt Schwanitz Soziale Systeme spielen. Dabei werden systemtheoretische Begriffe wie „Differenz“, „Einheit“, „Kommunikation“, usw. „vorgeführt“, das heißt, aus Luhmanns Soziale Systeme wird nicht direkt zitiert, sondern es wird offensichtlich im Versuch, die Sprache Shakespeares zu adaptieren, paraphrasiert. Als Geist erscheint nun nicht der Vater, sondern Shakespeare selbst: „(Shakespeare erscheint) HAMLET: Engel und Boten Gottes, steht uns bei! Wer bist Du? SHAKESPEARE: Hamlet, ich bin Deines Schöpfers Geist. Der Geist, der Dich gebar, William Shakespeare. HAMLET: Ich erkenne Dich nicht. SHAKESPEARE: Niemand erkennt mich, denn ich bin der Geist der Schöpfung selbst. Ich verkörpere die creatio continua der sozio-kulturellen Evolution, in der sich alles laufend wandelt. Denn alles, was vergeht, ist wert, daß es zugrunde geht. HORATIO: Das stammt nicht von Euch, sondern von Goethe. SHAKESPEARE: Als es Zeit war, den Evolutionsgedanken zu entwickeln, verwandelte ich mich eben in Goethe. HAMLET: Deshalb besteht der Faust aus lauter Macbeth- und Hamlet-Zitaten, und Gretchen singt Ophelias Lieder? SHAKESPEARE: Ganz recht! Und wenn es Zeit ist, den Bewußtseinsroman zu erfinden oder das absurde Drama, verwandle ich mich in Joyce oder Beckett. Ich bin Prospero mit dem Zauberstab, der schöpferische Blitzstrahl der Emergenz. Paßt auf! (er klatscht in die Hände und es erscheinen Rosencrantz und Guildenstern.)“64 63 | Ebd., S. 83 (Herv.i.O.). 64 | Ebd., S. 89-90.

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Es braucht schon eine gewisse Dreistigkeit, um die Emergenz und somit performativ Luhmanns Begriff für spontane Herausbildung in Form von Rosencrantz und Guildenstern zu realisieren. Und es braucht auch einige Dreistigkeit, den Geist Shakespeares anstelle vom Geist des Vaters erscheinen zu lassen, als performative Realisierung des Phraseologismus des „geistigen Vaters“, der als solcher wiederum Goethe zitiert, jenen Goethe, der sich im Faust ziemlich frei bei Shakespeare bedient hat und somit auch in seinem „Geiste“ schrieb. Danach verschiebt sich die Diskussion in die Literatur, die wiederum am Beispiel der Systemtheorie erörtert wird. Dabei wird das Modifikationsspiel in der Shakespeare-Modifikation gleich nochmals gedoppelt, indem es am Beispiel des systemtheoretischen Begriffs der „Reduplikation“ wie folgt verhandelt wird: „SHAKESPEARE: Sie [Selbstreduplikationsformel, Anmerkung M.S.] ist ganz einfach; wir gehen von der Situation von Gertrude, Deiner Mutter, aus. Ihre Konstellation behalten wir bei, also daß sie ein Kind hat, daß Ihr Mann ermordet wurde und ein Nachfolger zur Stelle ist, drehen aber alle Bewertungen um. Dann erhalten wir folgende Verdoppelung, wobei links das Original steht und rechts die Transformation. Original

Die Reduplikation

Eine Witwe hat einen Sohn. Sie vergißt das Andenken ihres Mannes. Es taucht ein Nachfolger des Mannes auf, der als sein Bruder ihm zwar im Fleisch verwandt ist, sich in Geist und Charakter jedoch negativ von ihm abhebt. Die Witwe wendet sich ihm zu.

Eine Witwe hat eine Tochter. Sie pflegt das Andenken ihres Mannes. Es taucht ein Nachfolger des Mannes auf, dessen Körper dem des Mannes fast völlig gleicht, dessen Kopf aber sehr minderwertig ist. Die Witwe wehrt ihn ab.

[...].“65

Weil es schwierig sein dürfte, dies im Theater darzustellen („links das Original [...] und rechts die Transformation“), wird es wohl wiederum ein Beispiel gewesen sein, dass die Problematik des Performativen per65 | Ebd., S. 95.

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formativ darstellt.66 Und so ist diese modifizierte Hamlet-„Darstellung“, die übrigens mit Hinweisen auf autopoietische Verfahren in James ­Joyces Ulysses schließt, paradigmatisch für das Vorgehen von Schwanitz. Autopoiesis wird nicht in eine literaturwissenschaftliche Theoriesprache integriert. Das heißt, es werden keine literaturwissenschaftlichen Parameter entworfen – zum Beispiel gestützt auf die Erzähltheorie67 –, um autopoietische Aspekte in literarischen Texten darzulegen. Entweder sind literarische Texte nur Beispiele zur Erklärung der systemtheoretischen Begrifflichkeit oder die literarischen Beispiele sind – wie hier im Theater – so weit modifiziert, dass sie selbsterklärend werden. Auf der Theaterbühne – in diesem Fall wäre es der erste Akt von Hamlet – wird die systemtheoretische Begrifflichkeit aufgeführt.

3.2.4 Literatur wissenschaft und Systemtheorie: Ein Überblick Nach diesem fulminanten Start in die literarische Verwendung systemtheoretischer Begrifflichkeit, wird es mit den Arbeiten einerseits um Niels Werber und Gerhard Plumpe68, andererseits um Henk de Berg und Matthias Prangel69 wieder etwas nüchterner. Erwähnt sei an dieser Stelle, da es sich um eine grundlegende Einführung von Systemtheorie in die Literaturwissenschaft handelt, die Dissertation von Niels Werber ­Literatur 66 | Der Begriff des Performativen im Zusammenhang mit Autopoiesis wird später in diesem Kapitel verhandelt. 67 | Bisher wurde der Autopoiesis-Begriff nicht mit der Erzähltheorie in Verbindung gebracht. Michael Scheffels Formen selbstreflexiven Erzählens ist zwar eine narratologische Analyse, doch der Begriff des „Selbstreflexiven“ hat nur sehr wenig mit Autopoiesis zu tun, da Autopoiesis nicht nur eine Reflexion des eigenen Schreibens bedeutet, sondern das Entstehen des Textes aus dieser Reflexion charakterisiert. Siehe: Scheffel, Michael: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 145), Tübingen: Niemeyer 1997. 68 | Beispielsweise in: Plumpe, Gerhard/Werber, Niels (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995; deutlich später, nämlich 2011, ist erschienen: Werber, Systemtheoretische Literaturwissenschaft. 69 | Beispielsweise in: de Berg/Prangel, Differenzen; dies., Kommunikation und Differenz.

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als System (1992)70. Da das Konzept von Autopoiesis dort jedoch kaum thematisiert wird, wird diese nachfolgend nicht weiter herangezogen. In die Zeit von Anfang bis Mitte der 1990er Jahre fallen auch zwei weitere wichtige und nicht von Werber/Plumpe oder Berg/Prangel herausgegebene Sammelbände zur literaturwissenschaftlichen Systemtheorie, wie beispielsweise der 1993 von Siegfried Schmidt publizierte Band Literaturwissenschaft und Systemtheorie 71 (mit einem Beitrag von Plumpe und Werber) und der 1996 herausgegebene Sammelband Systemtheorie der Literatur 72 von Jürgen Fohrmann und Harro Müller (wiederum mit einem Beitrag von Plumpe und Werber). Interessant erscheint dabei die Herleitung von Autopoiesis in den Beiträgen. Nahezu alle Arbeiten führen die Begrifflichkeit auf Luhmann zurück. Nur selten findet sich der Hinweis auf die Prägungsgeschichte durch Maturana und Varela. Eine Ausnahme bildet Matthias Prangels Aufsatz „Zwischen Dekonstruktionismus und Konstruktivismus. Zu einem systemtheoretisch fundierten Ansatz von Textverstehen“73, weil er die Herleitung durch Maturana und Varela zumindest thematisiert. Was die meisten dieser Sammelbände der 1990er Jahre mit ihren zahlreichen Beiträge eint, ist die Tatsache, dass Autopoeisis nicht weiter am Beispiel von Literatur ausgeführt wird. Auch wenn dies etwas pauschalisierend klingt und es durchaus Ausnahmen gibt, wie zum Beispiel die Beiträge von Reinhold Viehoff in Literaturwissenschaft und System­theorie (herausgegeben von Siegfried Schmidt)74 und von Peter Hühn zur Lyrik in Kommunikation und Differenz (herausgegeben von Henk de Berg und Matthias Prangel)75, so scheint Autopoiesis tendenziell eher nicht so sehr im Zentrum zu stehen. Der Blick in die aufstrebende systemtheoretische Literaturwissenschaft ist selbstverständlich nicht 70 | Werber, Niels: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen: Westdeutscher Verlag 1992. 71 | Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. 72 | Fohrmann/Müller, Systemtheorie der Literatur. 73 | Prangel, Zwischen Dekonstruktionismus und Konstruktivismus, S. 11. 74 | Viehoff, Reinhold: Selbstbezügliches Handeln? Überlegungen zu innerliterarischen Sozialisationsmodellen im Roman seit dem 18. Jahrhundert, in: Schmidt, Literaturwissenschaft und Systemtheorie, S. 194-268. 75 | Hühn, Lyrik und Systemtheorie, S. 114-136.

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umfassend, aber es scheint keinen Beitrag aus dem Umfeld der Sammelbände der 1990er Jahre zu geben, der Autopoiesis zentral behandelt.76 Das erscheint wiederum nur logisch, da nach Luhmann Autopoiesis unweigerlich an das System geknüpft ist. Und die meisten Beiträge versuchen, Literatur als System zu begreifen, so beispielsweise Hetty Burgers in dem Text „Ästhetische Debatten im Literatursystem der Nachkriegszeit“ in Kommunikation und Differenz 77. Systemtheoretische Literaturwissenschaft heißt also nicht, automatisch auf Autopoiesis zu fokussieren. So dreht sich zum Beispiel der Sammelband Beobachtungen der Literatur von Gerhard Plumpe und ­Niels Werber eher um Autonomie, auch wenn dessen Effekt in der Beobachtung von philosophischen und literarischen Texten auch als Autopoiesis bezeichnet werden könnte, wie zum Beispiel der Beitrag von Gerhard ­Plumpe („Die Literatur der Philosophie“) zeigt.78

76 | Es wird hier nochmals betont: Es gibt einige Beiträge und Sammelbände, welche die Verbindung systemtheoretischer Theoreme und der Dekonstruktion aufzeigen, beispielsweise in: Prangel, Zwischen Dekonstruktionismus und Konstruktivismus, S. 9-31, oder im Sammelband Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus von Henk de Berg und Matthias Prangel. Oder die „Geschichte“ kehrt sich um und in einem Sammelband über Poststrukturalismus ist ein systemtheoretisch orientierter Beitrag zu finden, wie zum Beispiel: Wellbery, David E.: Retrait/Re-entry: Zur poststrukturalistischen Metapherndiskussion, in: Neumann, Gerhard (Hg.): Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, DFG-Symposium 1995, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1997, S. 194-207. 77 | Burgers, Hetty: Ästhetische Debatten im Literatursystem der Nachkriegszeit, in: de Berg/Prangel, Kommunikation und Differenz, S. 82-100. 78 | Siehe dazu: Plumpe, Gerhard: Die Literatur der Philosophie, in: Ders./Werber, Beobachtungen der Literatur, zum Beispiel auf den Seiten 172-173. Ein weiteres Beispiel ist der Sammelband Literaturwissenschaft und Systemtheorie von Siegfried J. Schmidt. Innerhalb des Bandes wäre beispielsweise der Beitrag von Reinhold Viehoff mit dem Titel „Selbstbezügliches Handeln?“ zu nennen, der die Selbstthematisierung in Literatur genauer unter die Lupe nimmt (Viehoff, Selbstbezügliches Handeln?, zum Beispiel auf den Seiten 217-218).

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David Wellber y: „Retrait/Re-entr y“ Was heißt dies nun für den Autopoiesis-Begriff in den Beiträgen der 1990er Jahre? Wie schwierig diese Frage zu beantworten ist, zeigt ein Beitrag von David Wellbery, „Retrait/Re-entry: Zur postrukturalis­tischen Metapherndiskussion“ in dem Sammelband Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, welcher von Gerhard Neumann herausgegeben wurde, auf einem Symposium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 1995 basiert und eigentlich nicht viel mit Systemtheorie zu tun hat. Auch der Beitrag von Wellbery orientiert sich, wie der Titel schon verrät, in erster Linie an der Metapherndiskussion von Donald Davidson, Paul de Man und Jacques Derrida. Es geht dabei nicht darum, „den Metaphernbegriff neu zu formulieren, sondern ihn durch die Entfaltung der Lektüre zu überschreiten“.79 Dabei wird Derrida beobachtet, wie er darauf „aufmerksam macht“, „daß die Rede über die Metapher zumindest einer zusätzlichen Metapher bedarf, um ihre Gegenstandsdomäne zu bestimmen.“80 Diese „selbstreferentiellen Verstrickungen“ interessieren Wellbery. Er attestiert der poststrukturalistischen Metapherntheorie eine neue Logik: Statt einer „revidierten“ „Bestimmung der Metapher [...], [‚wird‘] die paradoxe Logik eines jeden Bestimmungsversuchs“81 offengelegt. Das sei der Reiz der postmodernen Metapherntheorie, doch der Formalisierungsgrad in Derridas Erklärung gefällt Wellbery nicht. So versucht er selbst eine solche: „Daraus [Der Beispielsatz ‚Der Mensch ist ein Wolf‘ funktioniert nicht ‚als schlichte Behauptung eines tatsächlichen Sachverhalts‘. Auf Wellbery basierte Anmerkung M.S.] [...] kann man schlußfolgern, daß die Metapher eine intensionale Ausrichtung hat; daß sie sich, anstatt etwas über die Welt auszusagen, auf die Aussage selber und die ihr zugrundeliegende konzeptuelle Konfiguration zurückbiegt. Man könnte das so formulieren: anstatt zu behaupten, daß der Mensch ein Wolf ist, zitiert die Metapher die so (mit just diesen Worten) geformte Aussage herbei. [...] die Metapher ist durch die Momente der Wiederholung und Selbstreferenz gekennzeichnet.“82

79 | Wellbery, Retrait/Re-entry, S. 194. 80 | Ebd., S. 200. 81 | Ebd. 82 | Ebd., S. 201 (Herv.i.O.).

3. Ver fahren – Autopoiesis

Die Metapher bezieht sich nicht (nur) auf eine Referenz außerhalb ihres Verweissystems, sondern (auch) auf sich selbst. „Der Mensch ist ein Wolf“, ist an ein internes Verweissystem gekoppelt, das zum Beispiel auf die Ursprünglichkeit („homo homini lupus“) verweist, jedoch auch – und darauf will Wellbery hinaus – auf sich selbst, auf die einzelnen, Buchstaben bildenden Worte, Sätze bildende Worte, oder schlicht auf das, was „Der Mensch ist ein Wolf“ sagt: nämlich die Wiederholung, die Wiederholung der Buchstaben- und Wortfolge „Der Mensch ist ein Wolf“. Auf der Suche nach der Formalisierung dieser Beobachtung, findet Wellbery bei Derrida die „Konzeption“ von trait/retrait, welche ein Agieren als „Riß, als Grenzziehung, als Differenz [„bezeichnet“, Anmerkung M.S.], die [„die Differenz“, Anmerkung M.S.] das durch sie Getrennte – die signifikante Einheiten – allererst hervorbringt“83. Mit anderen Worten vollführt sich die Formalisierung nun mit anderen Worten. Das heißt, Wellbery zeigt auf, dass sich seine Formalisierung der Metapher nicht nur auf eine, sprich Derridas, Erklärung „hinunterbrechen“ lässt, sondern sie eröffnet sich erst in der Darlegung einer weiteren, disziplinfremden, aber dennoch homologen Formalisierung. Und diese Formalisierung heißt reentry und lässt sich herleiten aus George Spencer Browns Protologik und der späteren Verwendung durch Luhmann. „Dieses Moment des In-Sich-Enthaltenseins – diese notwendige Komplikation der Unterscheidung – wird bei Spencer Brown als re-entry, als paradoxer Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene thematisiert. Meiner Konstruktion von Derridas Lektüre und Reformulierung des Metaphernbegriffs liegt also die These zugrunde, daß die Figuren des retrait und des re-entry insofern als äquivalent zu betrachten sind, als sie die Gesetzmäßigkeit der Grenze als deren paradoxe Auto-Komplikation darstellen.“84

Wellbery stellt somit an zwei äquivalenten Formalisierungen das Problem der Formalisierung aus. retrait und re-entry gerieren sich als unendliches gegenseitiges Wiedereintreten der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene. Der Schrägstrich im Aufsatztitel „Retrait/Re-entry“ gibt formallogisch die äquivalenten Formalisierungen wieder, bezeichnet durch 83 | Ebd., S. 203. 84 | Ebd. (Herv.i.O.).

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retrait und re-entry. Das heißt, das Problem der Metapherntheorie ist in ihrer Darlegung als Darlegung des Problems der Metapherntheorie angelegt. Nun kann dies als gutes – weil selbstreferentielles – Beispiel poststrukturalistischen Arbeitens betrachtet werden. Die Verweise auf Luhmann sind nicht sehr ausgeprägt und der Autopoiesis-Begriff als solcher kommt nicht vor. Und dennoch hat diese Arbeit in der Formalisierungslogik weit mehr mit Autopoiesis als zentralem Begriff zu tun als die Erklärungen der meisten Beiträge aus jener Zeit. Diese besitzen Autopoiesis zwar vielleicht im Begriffsinventar, jedoch trotz oder gerade wegen der starken Fokussierung auf Luhmanns Systemtheorie vergessen sie, Autopoiesis an die Literaturanalyse zu koppeln.85 Wellberys Aufsatz ist quasi ein Beleg dafür, wie Selbstreferentialität auch außerhalb eines spezifischen systemtheoretischen Diskurses zumindest formallogisch in eine theoretisch ambitionierte Literaturanalyse Einzug findet. In der Kombination von System- und der wesentlich älteren Metapherntheorie liegt hier ein gelungenes Beispiel vor, wie Systemtheorie in die Literaturwissenschaft integriert werden kann, ohne diese quasi als Alibi zu sehen und nur als Erklärungsmuster den Luhmann’schen Systemapparat zu benutzen.

Winfried Menninghaus: Unendliche Verdoppelung Nachdem nun Wellberys Aufsatz, der – nur am Rande systemtheoretisch orientiert und ohne Autopoiesis zu erwähnen – das formalisiert, was Autopoiesis bezüglich Literatur sein könnte, wird an dieser Stelle eine weitere Analyse herangezogen, die ähnlich verfährt. Im Unterschied zu Wellberys Text gab es 1987, als Unendliche Verdoppelung von Winfried Menninghaus erschien, noch keine systemtheoretische Literaturwissenschaft im eigentlichen Sinne. Menninghaus verfolgt die „romantischen Theoreme des sich selbst bildenden Kunstwerks“, welche wiederum die (romantische) Idee der genialen „Produktionskraft“ dezentrieren.86 Das 85 | Übrigens wendet Wellbery ein ähnliches Verfahren in seinem Aufsatz „Das Gedicht: zwischen Literatursemiotik und Systemtheorie“ an, vor allem dort, wo er wiederum über Systemtheorie und Selbstreferentialität schreibt: Das Gedicht: zwischen Literatursemiotik und Systemtheorie, in: Fohrmann/Müller, Systemtheorie der Literatur, S. 380-383. 86 | Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 226.

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heißt, Selbstreflexion wird mit und gegen das Genialitätskonzept gelesen. So wird nach Menninghaus „das Re- der Reflexion“ zum „Gegenpol zu einer völlig selbstherrlichen auktorialen Produktionskraft“87. Obwohl die Theorie der absoluten poetischen Selbstreflexion, wie sie die Frühromantiker um Novalis und Schlegel bilden, durchaus mit dem Autopoiesis-Konzept in Verbindung gebracht werden könnte, geht Menninghaus nur am Rande auf Autopoiesis88 und die systemtheoretischen Implikationen in der Theorie der absoluten Selbstreflexion ein, und zwar in dem kurzen Kapitel „Systemtheoretische und geschichtsphilosophische Fluchtpunkte der romantischen Theorie absoluter Selbstreflexion“. Die Begründung, wieso in diesem Kapitel auf die Systemtheorie eingegangen wird, liest sich – sozusagen avant la lettre – wie die meist ungeschriebene Begründung späterer Literaturwissenschaft, sich vom Kern der systemtheoretischen Literaturwissenschaft der 1990er Jahre abzugrenzen: „Der Vergleich mit der Systemtheorie tritt nicht als ein beliebiges drittes Aktualisierungsangebot zu den Vergleichen mit strukturalistischer Poetik und poststrukturalistischer Semontologie hinzu. Vielmehr berührt sich die Systemtheorie nur deshalb und insofern mit der dargestellten ‚Lehre‘ Schlegels und Novalis’, als sie ihrerseits – teilweise unfreiwillig – grundlegende Erkenntnisse des Strukturalismus und des Poststrukturalismus sich zu eigen macht. Als Vergleichsobjekt wird hier die Summa von Niklas Luhmanns systemtheoretischen Arbeiten gewählt, als das Buch Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie – und zwar vor allem deshalb, weil Luhmann selbst die philosophischen Traditionen und Implikationen systemtheoretischer Grundprobleme und – Begriffe ausdrücklich mitdenkt.“89

Menninghaus dient die Systemtheorie dabei nicht als eine auf die Literatur der Romantik applizierbare Theorie, sondern als Vergleichsmodell eines frühromantischen Reflexionsmodells. Luhmann selbst, und das ist dabei entscheidend, involviert in der Ausbreitung seiner „Summa“ immer auch die Historizität seiner Theorie. Die wissenschaftsgeschichtliche Herleitung ist in Soziale Systeme – und das haben wir schon bei der ­Beobachtung von Luhmanns Beobachtung der Kognitionsbiologie gese87 | Ebd. (Herv.i.O.). 88 | Der Autopoiesis-Begriff findet dabei durchaus Verwendung, beispielsweise in der Nachbemerkung (siehe ebd.). 89 | Ebd., S. 208-209 (Herv.i.O.).

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hen – eingebettet in die theoretische Darlegung sozialer Systeme. So fährt nun Menninghaus mit der Luhmann’schen Verwendung von Autopoiesis fort und entdeckt dabei die Romantik in Luhmanns Werk: „Wie die Romantiker das autonome Kunstwerk als ein ‚sich selbst bildendes‘, ja, ‚sich selbst beurteilendes‘ apostrophieren, so spricht Luhmann vom System als ‚einer freischwebend konsolidierten Realität, einem sich selbst gründenden Unternehmen‘[...] – fast schon eine romantische Formel.“90

Die Analogie ist, wie Menninghaus nun auf den folgenden Seiten ausbreitet, tatsächlich bestechend: „Wie bei den Romantikern, so liefern auch bei Luhmann die Theoreme vom Selbsttranszendieren, vom Aus-sich-Herausgehen und Stören der Geschlossenheit die Argumente für die ‚welthafte Erfülltheit‘ selbstreferentieller Strukturen. Die Probleme sind analog, die Antworten sind analog.“91

Es geht dabei weniger um die begriffliche Analogie, denn diese kann nur schon aufgrund der zeitlich-historischen Differenz nicht so bestehen. Menninghaus betont in seinen Ausführungen tatsächlich mehr die strukturdeterminierenden Analogien. Das heißt, beiden „Theorien“ ist die Tatsache gleich, dass das autopoietische Prinzip fundamental ist. Autopoiesis ist nicht nur grundsätzlich, sondern selbst auch an der Ausarbeitung jener Theorien beteiligt. Trotz dieser Analogien wird am Schluss des Kapitels gewarnt, daraus keine voreiligen Schlüsse zu ziehen: „Elemente der systemtheoretischen Fassung von Selbstreferenz und der romantischen Theorie ‚absolutierter‘ Selbstreflexion können bei Abstraktion von ihren Kontexten mithin offenkundig bis zu weitgehender Deckungsgleichheit übereinandergeschoben werden. Aber was leistet ein solches Arrangement der Begriffe? Ist es mehr als ein bestenfalls frappierendes Spiel mit zufällig ähnlichen Marken? Die Grenzen des Vergleichs sind offenkundig: beide Vergleichsgrößen können kaum etwas voneinander lernen. Weder erreicht die systemtheoretische Fassung von Selbstreferenz das philosophische Fundierungsniveau oder gar die poeto­logische Differenziertheit der frühromantischen, noch scheinen beide wechsel­s eitig 90 | Ebd., S. 209 (Herv.i.O.). 91 | Ebd., S. 213 (Herv.i.O.).

3. Ver fahren – Autopoiesis

ihr Beschreibungsinstrumentarium für ihre verschiedenen ‚Gegenstände‘ schärfen zu können.“92

Auch wenn Menninghaus die „systemtheoretische Fassung von Selbstreferenz“ bezüglich ihrer philosophischen Fundierung unterschätzt – die Lektüre von Soziale Systeme alleine erlaubt eigentlich keine abschließende Beurteilung –, und auch wenn Menninghaus die Antwort schuldig bleibt, wieso frühromantische Theorie und Systemtheorie nicht „beide wechselseitig ihr Beschreibungsinstrumentarium für ihre verschiedenen ‚Gegenstände‘ schärfen“ können, wird ein wichtiger Punkt angesprochen. Und dieser Punkt ist die Kritik, die auf jegliche systemtheoretische Literaturwissenschaft im Allgemeinen und auf jegliche literaturwissenschaftliche Arbeit mit dem Autopoiesis-Begriff im Besonderen trifft. Autopoiesis lässt sich nicht einfach, wie so oft suggeriert, zwischen den Disziplinen transferieren. Wie Menninghaus darlegt, hat das, was Luhmann als Autopoiesis bezeichnet, durchaus Anleihen in der Theorie der absoluten Selbstreflexion und – um die Argumentation diese Arbeit hier zu biegen – auch beispielsweise in Kleists Verfertigen. Und dennoch bezeichnen beide insofern nicht das gleiche, als einerseits die Voraussetzungen nur schon durch die historische Distanz nicht gegeben und andererseits die wissenschaftlichen Hintergründe grundsätzlich verschieden sind. Und nun kommt die Doppelung des Problems, das sich gerade so schön am Autopoiesis-Begriff ablesen lässt, und auf das Menninghaus – obwohl es seine Argumentation stützen könnte – in keiner Weise eingeht: Die Luhmann’sche Systemtheorie verhält sich wie ein Leihbüro für Begriffe. Autopoiesis ist von den Kognitionsbiologen Maturana und Varela entlehnt. Das ist nun keineswegs verwerflich, im Gegenteil. Es lässt sich vermuten, dass Begriffe gerade an den disziplinären Übergängen besonders kreativ mit Be- und Umdeutungen aufgeladen werden. Grundsätzlich basieren viele wissenschaftliche Theorien auf entlehnten Begriffen. Allerdings sind die Erkenntnisinteressen der Kognitionswissenschaft anders als diejenigen der System- oder Literaturtheorie. Somit kann es tatsächlich problematisch sein, systemtheoretische Autopoiesis gleichzusetzen mit dem Kleist’schen Verfahren, mit romantischer Selbstreflexion oder auch mit der Zellteilung.

92 | Ebd., S. 214 (Herv.i.O.).

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Performanz-Bergriff Die Situation wird nun noch komplexer, zieht man die um das Jahr 2000 herum aufgeflammte Diskussion über den Performanz-Begriff in der Literaturwissenschaft hinzu. Auch hier – zum Beispiel in diesem Kapitel – wird der Performanz-Begriff verwendet, um das theatralische Aufführen von Autopoiesis in Schwanitz’ Werk darzulegen. Was hat es mit dem Performanz-Begriff auf sich? Eine Begriffsherleitung findet sich in Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen.93 Der Begriff wurde in der Vorlesung How to Do Things with Words von John L. Austin geprägt, obwohl er parallel dazu auch aus der Theaterwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu kommen scheint.94 Bei Austin bezeichnet er den Umstand, „daß sprachliche Äußerungen nicht nur dem Zweck dienen, einen Sachverhalt zu beschreiben oder eine Tatsache zu behaupten, sondern daß mit ihnen auch Handlungen vollzogen werden, daß es also außer konstativen auch performative Äußerungen gibt“.95 Allerdings bleibt es nicht bei der Aufteilung von konstativen und performativen Äußerungen, da nach Austin „Sprechen immer Handeln“96 ist. Somit erklärt er diese Aufteilung im Verlauf seiner Vorlesung als gescheitert. Die Nullstunde des Begriffs ist seine Charakterisierung als sprachliches Handeln durch die Sprechakttheorie. In den 1990er Jahren wurde der Begriff in die Kulturtheorie eingeführt. Maßgeblich beteiligt an dieser Einführung war 1988 Judith Butler mit ihrem Aufsatz „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in dem sie die Instabilität von Geschlechtsidentität darlegt. Durch die Verschiebung des performativen Akts auf die Gender-Kategorie wendet Butler den Begriff „nicht auf Sprechakte, sondern insbesondere auf körperliche Handlungen“97 an. Was jedoch Austin und Butler in der Verwendung 93 | In dem Sammelband Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kultur­ wissenschaften, herausgegeben von Uwe Wirth, finden sich zu dieser Geschichte des Performanz-Begriffs die entsprechenden Texte von Austin, Searle, Derrida, Butler bis zu Fischer-Lichte und Wirth selbst (Wirth, Uwe [Hg.]: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002). 94 | Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 42-43. 95 | Ebd., S. 31. 96 | Ebd., S. 33. 97 | Ebd., S. 37.

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des Begriffs eint, ist „die von Austin zur Erscheinung gebrachte Fähigkeit des Performativen [...] Dichotomien zum Einsturz zu bringen.“98 Wie bei Austin im Verlaufe der Vorlesung „performativ“ die Dichotomie von konstativen und perfomativen Äußerungen scheitert, so scheitert bei Butler die Vorstellung einer naturalisierten Identität, die einerseits die Kategorie gender stabilisiert und andererseits die Trennschärfe zwischen sex und gender aufrecht erhält. Danach weist Fischer-Lichte nur sehr kurz auf die soziologische und ethnologische Verwendung des Begriffs hin, wo er „zu einer Art umbrella term geworden“99 ist. Kulturelle Dynamiken jeglicher Art werden nun unter der nicht wirklich trennscharfen Begrifflichkeit subsumiert. Fischer-Lichte benutzt Autopoiesis im Zusammenhang mit Performativität für die Beschreibung plötzlicher selbstbezüglicher Ereignisse in Theateraufführungen, ohne dabei auf Luhmann zu verweisen. Und genau darin wird die Performanz-Schiene zur Sackgasse für dieses Buch hier. Losgelöst von den sprachphilosophischen Ursprüngen – die leider auch nur wenig mit einem Autopoiesis-Begriff nach Maturana, Varela und Luhmann zu tun haben – wird Performanz als „Theatermetapher“ ohne jegliche Verbindung zur Geschichte von Autopoiesis verwendet. Selbst wenn – wie im Falle von Fischer-Lichtes Analyse – der Begriff fällt, scheint er sich nur der „Aufführung“ unterzuordnen.100 Doch damit ließe sich umgekehrt wiederum die Verwendung des Performanz-Begriffs bezüglich Autopoiesis begründen. Auch wenn Autopoiesis als Abstraktion verstanden werden will, gibt es in den Erklärungszusammenhängen immer wieder die Situation, Autopoiesis als „Handlung“, sei es auch nur im übertragenen Sinn, „aufzuführen“. Doch zurück zur Literaturwissenschaft: Nachdem die Systemtheorie in den 1990er Jahren Einzug in die Literaturwissenschaft hielt, zeichnet sich ab 2000 eine interessante Diversifizierung ab. Dies zeigt sich erstens dadurch, dass literaturwissenschaftliche Forschungsbeiträge, die sich des Autopoiesis-Begriffs bedienen, nicht mehr zwingend unter dem Lemma 98 | Ebd., S. 38. 99 | Ebd., S. 41 (Herv.i.O.). 100 | Selbst in völlig anders gewichteten und sich eher wenig an der „Theatermetapher“ orientierenden Arbeiten, wie Dieter Merschs Ereignis und Aura, wird kaum auf Autopoiesis oder zumindest auf die Systemtheorie Luhmanns verwiesen (Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen [Aesthetica], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002).

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einer systemtheoretisch orientierten Wissenschaft zu verbuchen wären. Als Beispiele seien genannt: Bianca Theisens Aufsatz „Romantic Myths of Myth: Myth as Autopoiesis“ in dem Sammelband Myth and the Making of Modernity, herausgegeben 1998 von Michael Bell und Peter Poellner. Theisen geht am Beispiel von Schlegels Gespräch über Poesie, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels der Frage nach der selbstreferentiellen Logik des Mythos in der Romantik nach.101 Als weiteres Werk wäre zu nennen Renate Homanns Versuch, 1999 in Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne die moderne Lyrik unter anderem am Beispiel von Paul Celan durch eine theoretische Herleitung zu fundieren.102 Es gibt in der Folge zwar immer wieder interessante Arbeiten dazu, wie zum Beispiel der Sammelband Schriftstellerische Autopoiesis, 2011 herausgegeben von Jacek Rzeszotnik, doch die große Autopoiesis-Forschung bleibt aus. Das heißt, es hat sie eigentlich nie wirklich gegeben. So erstaunt es, dass 2013 eine Arbeit erscheint, die ganz im Sinne dieses Kapitels Autopoiesis und Literatur grundlegend koppelt:

Florian Lippert: Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft Es geht Lippert weder darum, eine umfassende wissenschaftshistorische Begriffsstudie vorzulegen noch darum, mit den theoretischen Ansätzen von Selbstreferenz ein Theoriegebäude über die Literatur zu stülpen.103 Lippert betont, „dass die hier vorgenommene Gegenüberstellung gerade keine Vermischung der Bereiche impliziert“.104 In der zweigeteilten Arbeit werden zunächst die Konzepte der Begrifflichkeit von Selbstreferentialität hergeleitet, danach wird Selbstreferentialität als relevantes Merkmal 101 | Siehe dazu als einleitende Erklärung: „As the pivotal point of poesy, mythology seems to represent the very juncture which allows for the differentiation of levels implied in the romantic notion of poesy, where representation always also represents itself in its representations, thus referring back to itself as form.“ (Theisen, Romantic Myths of Myth, S. 10) 102 | Homann, Theorie der Lyrik. 103 | Die Argumentation folgt hier in weiten Teilen der englischsprachigen Rezension von Lippert in: Schmid, Marcel: Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft. Kronauer, Grünbein, Maturana, Luhmann, Buchbesprechung in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 106.4, Winter 2014/15, S. 724-726. 104 | Lippert, Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft, S. 14.

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­ oderner Lyrik besprochen. Im ersten Teil stehen die A m ­ utopoiesismodelle von Maturana und Varela sowie die systemtheoretische Adaption des Modells durch Niklas Luhmann im Zentrum. Lippert fokussiert bei der Analyse von Maturana und Varela die Relationalität. So werden „Körper und Gesellschaft nicht mehr substantialistisch, sondern relational“105 bestimmt, und die „kategoriale Trennung zwischen Inhalt und Form“106 wird aufgehoben. Dabei interessiert Lippert bei der Herleitung weniger die begriffliche Diffusion in Autopoiesis und Selbstreferenz, sondern vielmehr die konstruktivistische „Stossrichtung“ hinter der Begrifflichkeit: „Realität wird nicht durch die Sinne vermittelt (...), sondern vom System hergestellt.“107 In einem weiteren Schritt verfolgt Lippert die Aufnahme der Begrifflichkeit in Soziale Systeme von Luhmann. Während es bei Maturana und Varela um „lebende Systeme“ gehe, sieht Luhmann Autopoiesis als „formale Theorievorgabe, die grundsätzlich hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf verschiedene Systemarten geprüft werden kann“.108 Laut Lippert formalisiert Luhmann, ohne eine „Rückbindung“ auf die Empirie zu schaffen.109 Im zweiten Teil der Analyse wird aufgezeigt, wie das lebens- und sozialwissenschaftliche Autopoiesistheorem in der zeitgenössischen Literatur auftritt. Dabei wählt Lippert paradigmatisch die neuste deutsche Literatur: „Mit der Prosa Brigitte Kronauers und der Lyrik Durs Grünbeins werden zwei Ansätze verhandelt, die Selbstreferenz [...] rekonstruktiv zu nutzen suchen [...].“110 Grünbein versucht dabei laut Lippert, „die Rolle des Autorsubjekts diskursiv zu rehabilitieren und wissenschaftliche Sys­ tematizität zu zerschlagen“, während Kronauer die „Idee des Metapoetischen  [...] als anti-hierarchische, performative Selbstverortung zwischen ihren Gegenständen zu begreifen [...]“ sucht.111

105 | Ebd., S. 195. 106 | Ebd., S. 196. 107 | Ebd., S. 57. 108 | Ebd., S. 79. 109 | Ebd., S. 80. 110 | Ebd., S. 12. 111 | Ebd., S. 198.

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3.3 P opul äre A utopoiesis Eine Beschäftigung mit Autopoiesis führt, wie dargelegt wurde, nicht an Maturana und Varela vorbei. Neben all den wissenschaftlichen Aufsätzen fällt ein Buch besonders auf, nämlich die populärwissenschaftliche Publikation:

3.3.1 Der Baum der Erkenntnis Das 1984 unter dem Titel El árbol del conocimiento in Chile publizierte Werk wurde in viele Sprachen übersetzt und stellt im Titel einen Bezug zur berühmten Genesis-Geschichte im ersten Buch Mose und ihrer kulturgeschichtlichen Rezeption in Schrift und Bild her. Der Bezug zur Genesis wird jedoch nur am Schluss kurz angesprochen. Die Arbeiten zur menschlichen Erkenntnis wird von den Autoren unbescheiden als „grundlegend“ bezeichnet, allerdings gibt ihnen zumindest bezüglich des Autopoiesis-Theorems der systemtheoretische und literaturwissenschaftliche Diskurs recht. Autopoiesis erweist sich aufgrund der inhärenten Unbestimmbarkeit als idealer interdisziplinärer Konnektor. Das zeigt sich in Der Baum der Erkenntnis selbst. Es geht, folgt man den Kapiteln, zunächst um das Erkennen, um die Entstehung und Organisation der Lebewesen, um die Vererbungsgeschichte, die Ontogenese, die Verhaltensbiologie, das Nervensystem, um soziale Phänomene und um die Verbindung der Sprache mit dem menschlichen Bewusstsein. Es ist durchaus nicht so, dass Maturana und Varela ein Buch nur über Autopoiesis geschrieben hätten. Denn es geht um menschliche Erkenntnismöglichkeiten in Zusammenhang mit Betrachtungen onto- und systemgenetischer Bereiche. Diese Bereiche sind alle vernetzt, verbunden, rhizomatisch verwachsen, wie schon der Titel Der Baum der Erkenntnis vermuten lässt. Auch wenn die Kapitel nur kurz sind und alle Ausführungen zumindest in der deutschen Übersetzung und vermutlich auch im spanischen Original in einfacher Sprache geschrieben sind, funktionieren sie nicht reduktionistisch im Sinne einer einfachen, definitorischen Erklärung. Daher beginnt das Buch auch mit einer Warnung: „Wir werden nämlich eine Sicht vortragen, die das Erkennen nicht als eine Repräsentation der ‚Welt da draußen‘ versteht, sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst. Um dieses Ziel zu er-

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reichen, werden wir einer an streng logischem Vorgehen orientierten Route der Entwicklung von Konzepten und Ideen folgen, auf der jedes Konzept auf vorangegangenen Konzepten aufbaut, bis das Ganze zu einem unzerteilbaren Netzwerk geworden ist.“112

Maturana und Varela verfolgen also einen konstruktivistischen Ansatz, der auch das Buch als Netzwerk strukturiert. Dieses Netzwerk kann nicht nur in der Thematisierung verschiedener Disziplinen und Bereiche gesehen werden, sondern auch in der Tatsache, dass mit verschiedenen Dar­ hotographien, stellungsformen gearbeitet wird. So finden sich Statistiken, P Karikaturen, Skizzen, Zeichnungen, Diagramme, wobei die beiden Autoren in graphisch abgegrenzten Bereichen selbst als karikierte Figuren erscheinen, die verschiedene angesprochene Theoreme genauer erklären. Das selbstreferentielle Verfahren in Der Baum der Erkenntnis wird auch in den abschließenden Worten bestätigt. Das Buch sei „einem kreisförmigen Weg gefolgt“113: „Wir sind von den Qualitäten unserer Erfahrung ausgegangen, die uns in unserem sozialen Zusammenleben gemeinsam sind. Von diesem Ausgangspunkt unternahmen wir einen Gang durch die zelluläre Autopoiese, durch die Organisation der Metazeller und deren Verhaltensbereiche, durch die operationale Geschlossenheit des Nervensystems, durch die sprachlichen Bereiche und die Sprache. Im Verlauf dieses Weges bauten wir Schritt für Schritt ein Erklärungssystem auf, das in der Lage ist aufzuzeigen, wie die den Lebewesen eigentümlichen Phänomene entstehen. So haben wir gesehen, wie die in einer sprachlichen Koppelung begründeten sozialen Phänomene die Sprache entstehen lassen und wie eben diese Sprache und damit unsere alltägliche Erfahrung des Erkennens mit ihr uns zugleich erlaubt, eine Erklärung ihres Ursprungs zu erzeugen. Der Anfang ist das Ende.“114

Das aufgebaute „Erklärungssystem“ ist, wie hier am Schluss, immer auch ein Selbsterklärungssystem, das zeigen sollte, dass sich das menschliche Erkennen nicht auf eine einzige Erklärung bringen lässt. Das menschliche Erkennen ist von den Möglichkeiten zur Erklärung abhängig, das heißt: Es ist ein sprachliches Problem. Und am Beispiel des Sprachkapitels „Sprach112 | Maturana/Varela, Der Baum der Erkenntnis, S. 7 (Herv.i.O.). 113 | Ebd., S. 257. 114 | Ebd.

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liche Bereiche und menschliches Bewußtsein“ wird die Adaption des Erkenntnisverfahrens auf die Kapitelstrukturierung im Buch dokumentiert. Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen veranschaulichenden Anekdote. Im Kapitel „Sprachliche Bereiche und menschliches Bewußtsein“ heißt diese „Kommunikation mit einer Katze?“ und erzählt die kurze Geschichte eines morgendlichen Weckrituals. Ein „Freund“ wird jeden Morgen von seiner Katze geweckt, die auf der „Klaviertastatur herumspazierte“115. Steht er nicht auf, springt die Katze wiederholt auf die Tastatur. Die Katze „signalisiere“ somit ihr Bedürfnis, nach draußen zu gehen. „Das wäre eine semantische Beschreibung“ der Situation, welche in der Folge – durch Katzenmusik – eine gegenseitig ausgelöste „Zustandsveränderung“ bewirkt.116 Maturana und Varela wollen nun in der Folge genau „unterscheiden zwischen dem Operieren eines Organismus und der Beschreibung seiner Verhaltensweisen.“117 Nach dieser sehr kurzen Einleitung wird der Begriff des „Sprach­lichen Bereichs“ – der den Bereich umfassender sprachlicher Verhaltensweisen von Organismen abdeckt – im Text eingeführt. Eingeführt wird er zudem in einem graphisch abgegrenzten, definitorischen Sondertext, wo die Begrifflichkeit in einem Schema erscheint, und wo eine Figur – mutmaßlich Francisco Varela – mit erhobenem Zeigfinger skizziert ist.118 Dieses Muster wird weitergeführt, denn zwei Seiten später erscheint wiederum ein Definitionsraum, diesmal über „Sprache“ und daneben befindet sich eine Karikatur, die mutmaßlich Maturana darstellt.119 Die karikierten Autoren erscheinen in der Folge oft in gesonderten Definitionsbereichen und scheinen wie Ankerpunkte im Darlegungsverfahren zu fungieren. Das heißt, die Autoren treten bei Definitionen auf, als müssten beide – graphisch markiert – das selbstreferentielle Verfertigen im Buch für kurze Zeit unterbrechen. Es gibt im Werk über absolute Zirkularität immer noch so etwas wie Autorität. Zwischen diesen definitorischen Einschüben wird das sprachliche Verhalten beschrieben, mit Hinweisen auf mangelnde „Ähnlichkeit zwischen einem bestimmten sprachlichen Verhalten und der Aktivität, 115 | Ebd., S. 222. 116 | Ebd. (Herv.i.O.). 117 | Ebd. 118 | Ebd., S. 224. 119 | Ebd., S. 226.

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die dadurch koordiniert wird (gibt es irgendeine Ähnlichkeit zwischen dem Wort ‚Tisch‘ und dem, was wir tun, wenn wir einen Tisch kennzeichnen?)“120, ohne das Beispiel mit Hinweisen auf die linguistische und sprachphilosophische Forschung zu belegen. Danach werden die Autoren ihrer eigenen Sprache bewusst: „Der Begriff ‚Tisch‘ verschleiert uns [...] jedoch die Handlung, die (als Handlungen des Unterscheidens) einen Tisch konstituieren, indem sie ihn hervorbringen. Mit anderen Worten: Wir sind in der Sprache, oder – noch besser – wir ‚sprachen‘ nur dann, wenn wir durch eine reflexive Handlung eine sprachliche Unterscheidung einer sprachlichen Unterscheidung treffen. In der Sprache zu operieren, bedeutet also in einem Bereich kongruenter, ko-ontogenetischer Strukturkoppelung zu operieren.“121

Das heißt, die Welt ist konstituiert durch Sprache und jedes Sprechen über diese Konstituierung kann nicht außerhalb dieser Konstitutionsbewegung erfolgen. Dabei kreuzen sich in der Argumentation zwei Strategien. Einerseits erfolgt die Markierung des „in der Sprache seins“ durch „sprachen“. Andererseits verfolgt der Text an dieser Stelle eine beinahe Kleist’sche Strategie: „Mit anderen Worten“ und „oder – noch besser –“: Die Verschiebung in immer andere Beispiele verdeutlicht die sprach­liche Doppelung. Sprechen über Sprechen ist nie komprimierbar in eine Sprache, die abschließend das Sprechen über Sprechen bestimmen könnte. Diese konstruktivistische Sicht der Dinge wird im weiteren Verlauf dieser Passage dargelegt: „Wenn die Sprache entsteht, dann entstehen auch Objekte als sprachliche Unterscheidungen, die die Handlungen verschleiern, die sie koordinieren.“ Diese Darlegungen erfolgen übrigens wiederum ohne Referenznennung. Danach wird in einer weiteren Volte nochmals erinnert, um was es in dem Kapitel tatsächlich gehen soll – um die menschliche Selbstbeschreibung als „sprachliche Unterscheidung einer sprachlichen Unterscheidung“122 –, obwohl das nicht so in den einleitenden Worten beschrieben wurde. Die Doppelung in der Sprache bleibt weiterhin Thema und mündet wiederum in eine Erklärung, die sowohl grundlegend als auch selbstreferentiell ist: 120 | Ebd., S. 225 (Herv.i.O.). 121 | Ebd., S. 227 (Herv.i.O.). 122 | Ebd.

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„All das ist es, was das Menschsein beinhaltet. Wir machen Beschreibungen der Beschreibungen, die wir machen (wie es auch dieser Satz tut). Ja, in der Tat, wir sind Beobachter und existieren in einem sprachlichen Bereich, der durch unser Operieren in der Sprache unter Erhaltung der Anpassung erzeugt wird.“123

Diese Aussage, gemacht Anfang der 1980er Jahre, ist eine konstruktivistische Fundierung postmoderner Sprachvorstellungen. Die sogenannten exakten Biologen und Kognitionswissenschaftler bestätigen die fundamentale Funktion der Sprache. Erst „durch unser Operieren in der Sprache“ wird der „sprachliche Bereich“ der Lebewesen umfassend strukturiert. Mehr noch, es wird ein Unterscheidungsmerkmal für menschliches Leben eingeführt: „Wir menschliche Wesen sind nur in der Sprache menschliche Wesen, und weil wir über die Sprache verfügen, gibt es keine Grenzen dafür, was beschrieben, vorgestellt und miteinander in Zusammenhang gebracht werden kann.“124

„Entgrenzung“ durch Beschreibung und Vorstellung durch Sprache sind für Maturana und Varela maßgebliche Faktoren zur Bestimmung des Menschlichen. Deswegen erscheint es nur konsequent, wenn sie daraufhin die Sprache historisierend als „Naturgeschichte der menschlichen Sprache“ unter die Lupe nehmen. Allerdings beginnen sie gleich mit der Feststellung, dass Kommunikation keineswegs nur auf Menschen bezogen werden kann, indem sie auf die Experimente mit Schimpansen (Kellogg/ Gardner) hinweisen, deren Ziel es war, den Affen, die bei Menschen aufwuchsen, die menschliche Sprache zu lehren. Dabei geht es um die Frage, ob die erlernte Gebärdensprache der Affen aufgrund der Konditionierung tatsächlich als Sprache, die zum Beispiel von Taubstummen benutzt wird, betrachtet werden kann. Es geht somit auch um die Frage, was die Sprache zur Sprache macht. Und hierbei werden die Biologen nun sehr präzise, belegen ihre Aussagen und stellen folgende Frage: „Können diese Primaten mit Hilfe der Zeichensprache in einem sprachlichen Bereich mit andern interagieren, indem sie sprachliche Unterscheidungen sprachlicher Unterscheidungen machen?“125 Es geht folglich im Grunde 123 | Ebd., S. 228. 124 | Ebd., S. 229. 125 | Ebd., S. 232.

3. Ver fahren – Autopoiesis

genommen auch um die Frage, ob die Primaten bewusst kommunizieren können, da das genetische Material zu einer hohen Prozentzahl „mit dem des Menschen deckungsgleich“ ist.126 Das Resultat vieler Studien ist laut Maturana und Varela ähnlich. Die Primaten sind tatsächlich in der Lage, „bewusst“ an „einer reichen sprachlichen Koppelung“ teilzunehmen.127 Allerdings geschieht dies in engen Grenzen. Komplexe Kommunikation scheint nicht möglich zu sein. Danach folgt eine diagrammreiche Wiedergabe der Sprachentwicklung vom Primaten zum Homo sapiens. Die Sprachentwicklung wird dabei eng an die Lebensweise der frühen Homo sapiens gekoppelt, weil nur dadurch gesicherte Aussagen über die Sprachentwicklung gemacht werden könne. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Entwicklung der sprachlichen Rekursion, „[...] also wenn sprachliches Verhalten ein Objekt in der sprachlichen Verhaltenskoordination wird [...]“.128 Daraufhin wird wiederum kurz in die Hirnforschung gewechselt, wo die Funktion der beiden Hirnhälften beim Sprechen thematisiert wird. Das Kapitel endet mit Überlegungen zu „Geist und Bewusstsein“, wobei die Leserschaft direkt angesprochen wird: „Haben Sie, werter Leser, jemals den Prozessen Aufmerksamkeit geschenkt, die selbst in der trivialsten Konversation enthalten sind [...]?“129

Außerdem wird die komplexe Funktion der Sprache bildhaft beschrieben: „Es ist [...] ein unglaublich raffinierter Tanz von Koordinationen des Verhaltens.“130

Die abschließenden Überlegungen werden wiederum veranschaulicht mit einem literarischen Beispiel, Daniel Defoes Robinson Crusoe, wobei das Beispiel so wiedergegeben wird, als wäre es ein zitierfähiges Experiment, das tatsächlich so geschah. Vielleicht geht es aber genau darum: Die Geschichte der Sprache und – auf den Kapitelrahmen bezogen – die Geschichte der Erkenntnis ist auch eine Geschichte der Darlegung der 126 | Ebd., S. 235. 127 | Ebd. 128 | Ebd., S. 240. 129 | Ebd., S. 252. 130 | Ebd.

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Erkenntnis in Der Baum der Erkenntnis. Die Sprache wird schließlich in einem autopoietischen Prozess – Maturana und Varela sprechen von Rekursion – stabilisiert und bringt die „Welt durch das In-der-SpracheSein“131 hervor. Es liegt hier also eine seltsame Mischung vor von komplexer Wissenschaftsgeschichte, von selbstreferentiellen Verweisen und von schulbuchmäßiger, graphischer Visualisierung.

3.3.2 Gödel, Escher, Bach Autopoiesis ist, wenn auch nicht als Begriff so genannt, ein zentrales Konzept in Douglas R. Hofstadters Werk: Gödel, Escher, Bach: an Eternal Golden Braid. Der Bestseller aus dem Jahr 1979 wurde unter anderem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet und ist sehr bemüht darum, das mathematische und kognitionswissenschaftliche Paradigma der „seltsamen Schleifen“, die Verlinkung von Selbstreferentialität und formalen Regeln bezüglich mentaler Aktivitäten am Beispiel von Johann Sebastian Bach, Kurt Gödel und M.C. Escher verständlich darzulegen. Hofstadter schreibt, wie Henry Sussman in in seiner spielerisch-intelligenten Analyse Playful Intelligence aufzeigt, „as a scientist and as a public representative of science“.132 Der Physiker, Informatiker und Kognitionswissenschaftler Hofstadter verbindet wissenschaftlich komplexe Phänomene mit einer verständlichen Narration. Er erzählt Geschichten am Beispiel der Musik, Mathematik und Malerei und zeigt auf, wie Selbstreferentialität ein umfassendes Paradigma für die mentalen Aktivitäten bildet. Dazu findet sich beispielsweise zu Beginn jeden Kapitels die dialektische Darlegung des Problems hauptsächlich durch die Figuren des bekannten griechischen Paradoxons: dem (Läufer) Achilles und der Schildkröte. Damit wendet Hofstadter ein bekanntes Erklärungsmuster an: Das zu besprechende Problem wird aus dem spezialisierten Wissenschaftsbereich herausgebrochen und in eine anschauliche Umgebung integriert. Wobei sich diese anschauliche Umgebung durch die Referenz an das Paradoxon wiederum in einem Spezialdiskurs befindet, denn die Leserschaft muss das Paradoxon kennen. Um was geht es, und wieso spielen in einem kognitionswissenschaftlichen Buch Gödel, Escher und Bach eine Rolle? Schon der Anfang zeigt, 131 | Ebd., S. 253. 132 | Sussman, Henry: Playful Intelligence. Digitizing Tradition, London/New York (NY): Bloomsbury Academic 2014, S. 280.

3. Ver fahren – Autopoiesis

dass die drei genannten Exponenten als Beispielspender von selbstreferentiellen Bewegungen dienen. Auch wenn sie aus äußerst inkohärenten „Gebieten“ und Zeitaltern kommen, sind sie im Darlegungsverfahren der „Seltsamen Schleifen“ nützlich. Das Beispiel von Johann Sebastian Bach wird eingebettet in eine Geschichte. Friedrich der Große, ein Förderer des Geisteslebens, insbesondere der Musik, veranlasste 1747 einen Besuch von Bach an seinen Hof. Am Hof improvisierte Bach in mehreren Zimmern des Schlosses. Dabei ging dieses (Vor-)Spiel so weit, dass Friedrich ein Thema vorgab und Bach dazu eine Fuge improvisierte. Zurück in Leipzig schrieb Bach diese „Fugenarbeit“ nieder und schickte sie unter dem Titel des Musikalischen Opfers an den Hof Friedrichs. Hofstädter weist nun auf einen Kanon im Opfer hin133: „There is one canon in the Musical Offering which is particularly unusual. Labeled simply ‚Canon per Tonos‘, it has three voices. The uppermost voice sings a variant of the Royal Theme, while underneath it, two voices provide a canonic harmonization based on a second theme. The lower of this pair sings its theme in C minor (which is the key of the canon as a whole), and the upper of the pair sings the same theme displaced upwards in pitch by an interval of a fifth. What makes this canon different from any other, however, is that when it concludes—or, rather, seems to conclude—it is no longer in the key of C minor, but now is in D minor. Somehow Bach has contrived to modulate (change keys) right under the listener’s nose. And it is so constructed that this ‚ending‘ ties smoothly onto the beginning again; […].“134

Der Kanon landet immer wieder an seinem Ausgangspunkt und ist somit „reduplizierend“.135 Deshalb benutzt ihn Hofstadter prominent, am Anfang des Buches, als Beispiel für eine „seltsame Schleife“. Denn im Kanon wird das vollführt, was eine „seltsame Schleife“ auszeichnet: „The ‚Strange Loop‘ phenomenon occurs whenever, by moving upwards (or downwards) through the levels of some hierarchical system, we unexpectedly find ourselves right back where we started.“136 Es geht also um 133 | Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach: an Eternal Golden Braid, New York (NY): Basic Books 1999, S. 3-10. 134 | Ebd., S. 10 (Herv.i.O.). 135 | Ebd. 136 | Ebd. (Herv.i.O.).

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Autopoiesis und Literatur

ein hierarchisches Verhältnis, das am Ende in den Anfang mündet und somit die Hierarchie wiederum nivelliert. Insofern findet sich die Struktur des Hysteron-Proteron, jedoch nun horizontal (statt temporal) gewendet137, im Sinne von: Das Höhere ist das Tiefere. Dieser Gedanke treibt Hofstadter weiter, indem er unvermittelt in die Malerei wechselt. Am Beispiel der Lithographien von M.C. Escher wird das Unendlichkeitsparadigma der „seltsamen Schleifen“ verdeutlicht: „Implicit in the concept of Strange Loops is the concept of infinity, since what else is a loop but a way of representing an endless process in a finite way?“138 Was Bach im Kanon vollführt, geschieht in den Bildern Eschers: Das Unmögliche/Unendliche wird mit möglichen/endlichen Mitteln dargestellt. Bei Escher ist es meist die Subvertierung physikalischer Hierarchien. So wird zum Beispiel Wasser, das zwar gemäß den physikalischen Gesetzen abwärts fließt, immer wieder beim Ursprung landen, von wo es wiederum abwärts zu fließen beginnt. Hier versagt die Bestimmung des Wasserflusses nach physikalischen Gesetzen. Das Wasser fließt abwärts und bewegt sich gleichsam aufwärts. Damit landen die Beispiele in der Paradoxie, der sich Hofstadter in der Folge unter den Prämissen der Mathematik annimmt. Dazu wechselt er – wiederum unvermittelt – zum Mathematiker Kurt Gödel, der die mathematischen Grundlagen zu den „seltsamen Schleifen“ in Form des Unvollständigkeitssatzes herleitet: „All consistent axiomatic formulations of number theory include undecidable propositions.“139 Das Paradox liegt zwischen „consistent“ und „undecidable“. Wenn die axiomatischen Formulierungen tatsächlich widerspruchsfrei sind, können sie eigentlich keine unentscheidbaren Aussagen enthalten. Wenn sie aber keine unentscheidbaren Aussagen enthal137 | Die Analogie klingt vielleicht etwas seltsam, da die Temporalität schon in den Begriff Hysteron-Proteron eingelassen ist. Allerdings geht es laut Groddeck nicht nur um eine Umkehrung der temporalen, sondern auch der logischen Kausalität: „In der Rhetorik bezeichnet man damit die Umkehrung der zeitlichen oder der logischen Folge, wobei man den Namen der Figur beim Wort nimmt: das Spätere [...] ist das Frühere [...].“ (Groddeck, Reden über Rhetorik, S. 190) 138 | Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, S. 15. 139 | Ebd., S. 17. In der deutschen Übersetzung von Gödel, Escher, Bach findet sich dann tatsächlich die „Originalversion“ von Gödel als Zitat: „Zu jeder ω-widerspruchsfreien rekursiven Klasse K von Formeln gibt es rekursive Klassenzeichen r, so daß weder vGen r noch Neg (vGen r) zu Flg (K) gehört (wobei v die freie Variable aus r ist).“ (Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, S. 19 [Herv.i.O.])

3. Ver fahren – Autopoiesis

ten, sind sie nach Gödel nicht mehr widerspruchsfrei. Doch dieser Satz ist nur eine Folge des Versuchs, Zahlentheorie mit Mitteln der Mathematik darzulegen, sozusagen „as statements of number theory, and also as statements about statements of number theory“.140 Insofern gründet der Unvollständigkeitssatz die unendliche Doppelung im eigenen Satz. Das heißt, das Problem mathematischer Unvollständigkeit verschiebt sich ins Axiom. Somit geschieht nun dargestellt in mathematischen Formeln, was in der Musik Bachs und in der Malerei Eschers schon angelegt ist. Die Erklärung der Selbstreferentialität wird selbstreferentiell. Und nach diesen Prinzipien verfährt Hofstadter auch in seinem Buch. Er wendet jenes Beispiel vom Anfang des Buches an: Das Thema ist durch die Arbeit von Escher, Gödel und Bach vorgegeben. Hofstadter improvisiert wie der alte Bach am Hofe Friedrichs das Thema durch und zeigt Selbstreferentialität als „seltsame Schleifen“ an unzähligen Beispielen. Das heißt, die Beispiele vom Anfang des Buches geben nicht nur das Thema vor, sie strukturieren auch die Variationen im Buch. Dass dabei das Verfahren innerhalb der Kapitel gedoppelt wird, soll eine kurze Analyse des Kapitels „Self-Ref and Self-Rep“ zeigen. In diesem Kapitel erklärt Hofstadter die kognitiven Prozesse, die für das Verständnis von Paradoxien – wie das Paradoxon des Epimenides („This sentence is false.“) – wichtig sind. Dabei werden die kognitiven Prozesse beim Verstehen von paradoxen Sätzen mit Eisbergen verglichen: „They can be compared to icebergs, whose tips only are visible. The word sequences are the tips of the icebergs, and the processing which must be done to understand them is the hidden part.“141 Doch das Bild wird nicht nur erklärt, sondern auch visualisiert, als schwimmender Eisberg. Danach wechselt er in die Informatik, wo er das Quinieren an einer selbstreproduktiven Programmstruktur erklärt, um dann zur vereinfachenden Veranschaulichung zur Musikbox zu wechseln, die ein Lied spielt, das den Prozess der Bespielung der Musikbox beschreibt. Zwischendurch wird die Frage diskutiert, was das Original und was die Wiederholung sei. Und dann wird in die Genetik gewechselt, wobei selbstreferentielle Prozesse am Beispiel der DNS ausführlich dargelegt werden. Schließlich folgt noch ein kurzer Abstecher in die Virologie. Das Kapitel schließt mit der ganz großen Frage nach dem Anfang. Nach dem Anfang des Lebens: 140 | Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, S. 18 (Herv.i.O.). 141 | Ebd., S. 495.

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„‚How did they ever get started in the first place?‘ It is truly a baffling thing. One has to imagine some sort of a bootstrap process occurring, somewhat like that which is used in the development of new computer languages—but a bootstrap from simple molecules to entire cells is almost beyond one’s power to imagine. There are various theories on the origin of life. They all run aground on this most central of all central questions: ‚How did the Genetic Code, along with the mechanisms for its translation (ribosomes and tRNA molecules), originate?‘ For the moment, we will have to content ourselves with a sense of wonder and awe, rather than with an answer. And perhaps experiencing that sense of wonder and awe is more satisfying than having an answer—at least for a while.“142

Auch in den abschließenden Bemerkungen selbst werden noch einmal die Register gewechselt: Die Frage nach dem Anfangen wird mit der Implementierung von Computersprachen verglichen und dann geht es zurück zum genetischen Code. Doch eine klare Antwort fehlt. Es scheint, als wiederhole sich am Ende des Kapitels das Verfahren in der Nicht-Beantwortung der grundlegenden Frage: Wo fängt es an? Nirgends, weil alle Beispiele im Kapitel und das Kapitel als Beispiel selbst daraufhin angelegt sind, immer begonnen zu haben. Das anfänglich formulierte Ziel, die kognitiven Prozesse beim Verstehen der „seltsamen Schleife“ zu erklären, gerät am Schluss in den Verdacht, die kognitiven Prozesse beim Lesen des Kapitels zu veranschaulichen. Auch wenn Gödel, Escher, Bach: an Eternal Golden Braid „seltsame Schleifen“ allgemein verständlich machen will, gibt es keine singulären Antworten. Das hieße demnach, dass Popularisierung von Wissen nicht, wie man vermuten könnte, einfach auf einem „Herunterbrechen“ schwieriger Fragen auf simple Antworten beruht. Es gibt weder bei Hofstadter noch bei Maturana/Varela simple Antworten. Die Popularisierung liegt in der Veranschaulichung. Beide Werke sind angefüllt mit Bildern, Grafiken und bekannten Beispielen. Das führt, wie schon bei Kleist, zu einem Verfahren, das sich erst beim Lesen der Texte preisgibt. Beide Bücher erscheinen als Beispielreihung, wobei kein einzelnes Beispiel zu einer abschließenden Erklärung führen würde. Die Popularisierung liegt nicht einfach in einer Vereinfachung in der Sprache, sondern auch in dem Verfahren, Beispiele aus möglichst unterschiedlichen Lebens- und Wissenschaftsdisziplinen aneinanderzureihen. Das scheint nicht nur attraktiv 142 | Ebd., S. 548.

3. Ver fahren – Autopoiesis

für die Lesenden zu sein, sondern gibt auch ohne singuläre und simplifizierende Antworten eine dynamische Begriffsdefinition.

3.4 A utopoie tische A utopoiesis : F a zit Müsste die Begriffsgeschichte von Autopoiesis in einem verkürzten Vergleich erklärt werden, dann wäre sie als Rhizom, als Geflecht mit zahllosen Armen zu beschreiben. Die „Wurzel“ des Begriffs ist bekannt: Maturana und Varela haben den Begriff geprägt. Allerdings scheint der Begriff in der Folge in verschiedene Disziplinen zu „wuchern“. Drei davon wurden in den beiden Kapiteln verhandelt: Kognitionsbiologie, Systemtheorie und Literaturwissenschaft.143 Auffällig ist, dass a) keine einheitliche Definition existiert und b) dass sich – was wenig verwundert – jede Disziplin ihren eigenen Autopoiesis-Begriff schmiedet. Das betrifft auch die innerdisziplinäre Begriffsverwendung. In der hier zentral behandelten Literaturwissenschaft wird der Begriff unterschiedlich verwendet. Interessant erscheint dabei die Tatsache, dass vor allem die systemtheoretische Literaturwissenschaft, also jener Bereich dieser Fachrichtung, der für den Begriffstransfer ursprünglich verantwortlich ist, Autopoiesis als Mittel zum Zweck behandelt. Wenn überhaupt von Autopoiesis gesprochen wird, dann nur, um eine literarische Begebenheit auf die systemtheoretische Betrachtung zu biegen. Jene Literaturwissenschaft, die sich wiederum nicht so sehr unter dem Lemma der systemtheoretischen Orientierung subsumieren lässt, neigt dazu, Konzeptvergleiche zum Beispiel mit der absoluten romantischen Selbstreflexion, der postmodernen Metapherntheorie oder dem Verfahren moderner Lyrik zu machen. Schließlich gibt es in der Literaturwissenschaft keine einheitliche Verwendung des Begriffs. Oftmals wird dieser nur unzulänglich definiert und kaum je in Abgrenzung zum Beispiel zu Selbstreferenzialität und Selbstreflexion verwendet. Vielleicht verhält sich hier der Begriff mimetisch zu demjenigen, was er zu definieren hätte. Er ist schlicht ein dankbarer sprachlicher Konden143 | Selbstverständlich wäre dasjenige, was der Autopoieis-Begriff beschreibt, auch in der Chaostheorie oder Kybernetik anzutreffen. Doch das würde hier zu weit oder zumindest zu weit weg von der Literatur führen, deshalb beschränkt sich die Arbeit auf die drei genannten Disziplinen.

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Autopoiesis und Literatur

sator – um an dieser Stelle die Sprache im Sinne Kleists zu bemühen –, um die schwierig auf eine Definition zu bringende Beobachtung selbstgenerativer Verfahren in Sprache und Literatur zu beschreiben. Und dies ist auch jenseits der Literaturwissenschaft ein Grund, wieso der Begriff so populär geworden ist. Er ist kein geeignetes Mittel, groß angelegte Fundierungen der jeweiligen Fachrichtungen, ausgeprägt beispielsweise in Spracherwerb, System oder Metapher, zu vereinfachen. Vielmehr macht der Begriff scheinbar das eigene Verfahren als Wiedereintritt des Verhandelten in die Beschreibung attraktiv. In den Fugen Bachs, in Gödels Mathematik, in Luhmanns Systemtheorie, in vielen literarischen Texten und in den Bildern Eschers scheint ein Verfahren eingelassen, welches zu faszinieren vermag und in Autopoiesis den entsprechend gleichsam ubiquitären und diffusen Begriff gefunden hat. Es geht somit nicht so sehr um einen stabilen Begriff. Vielmehr lässt sich durch Autopoiesis ein Verfahren aufzeigen, wie sprachliche (und auch mathematische und kognitive) Instabilität zu denken wäre. Und deswegen ist nun zwingend nochmals auf den Verfahrensbegriff zurückzukommen. Der Verfahrensbegriff wurde prominent verwendet von Viktor Šklovskij in dem Aufsatz „Iskusstvo kak priem“. Doch schon beim Titel ist Vorsicht geboten. Der Aufsatztitel heißt übersetzt „Die Kunst als ... [priem]“. „Priem“ erscheint in den meisten Übersetzungen als „Technik“, „Kunstgriff“, „Kunstmittel“ oder „Verfahren“.144 Schon in der Übersetzung des Titels setzt ein Verfahren ein, welches genau das, was zu verhandeln wäre, destabilisiert, weil es eben nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Dazu kommt, dass Šklovskijs Erklärungen zum Begriff nicht vereinfachend wirken. Denn Verfahren ist nicht einfach Verfahren, sondern Verfremdung. Die Verfremdung ist „ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozess 144 | Vgl. Campe, Verfahren, S. 3; Lachmann, Renate: Die ‚Verfremdung‘ und das ,Neue Sehen‘ bei Viktor Šklovskij, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 3, Heft 1-2, 1970, S. 227; Pudelek, Jan-Peter: Der Begriff der Technikästhetik und ihr Ursprung in der Poetik des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 65; Striedter, Jurij: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution, in: Ders. (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink 1969, S. XXII.

3. Ver fahren – Autopoiesis

ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig“.145 In der Einführung der Unterscheidung von Machen und das Gemachte, scheint Verfremdung und somit auch Verfahren erklärt. Es geht nicht um einen Prozess und nicht um das Resultat. Es geht um Dynamik und nicht um Statik. Es gibt keine Festlegung von Gesetzen146, „nach denen das Verfahren (im Modus des ‚Machens‘) zu funktionieren habe“.147 Dabei erreicht Verfremden/Verfahren eine „Komplizierung der Form“148, das heißt, Form wird nicht mehr als statische Kategorie gesehen. Somit wollte Sklovskij mit priem „der symbolistischen Philosophie des Verstehens im poetischen Bild das basale Verfahren der Gegenstandskonstruktion in der Wahrnehmung entgegenhalten.“149 Über 50 Jahre später, 1969, nimmt sich Niklas Luhmann in Legitimation durch Verfahren der Begrifflichkeit an. Er untersucht „die Legitimation staatlicher, rechtlicher und sozialer Einrichtungen“.150 Seine Theorie kann beschrieben werden als Versuch, „von der Geltung rechtlicher Normen zurückzugehen und auf die Selbststrukturierung von Handlungsabfolgen zuzugreifen“.151 Rechtliche Abläufe setzen sich dabei selbst ein. Somit stellt Luhmann dem „alternativlosen Ablauf des Rituals“ das Verfahren gegenüber, in welchem die „Ungewissheit des Ausgangs und seiner Folgen und die Offenheit von Verhandlungsalternativen in den Handlungszusammenhang [...] hineingenommen [...] werden“.152 Das bedeutet, 145 | Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren, in: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink 1969, S. 15. 146 | Siehe: Lachmann, Die ‚Verfremdung‘ und das ,Neue Sehen‘, S. 237. 147 | Siehe dazu: Schmid, Verfahren schlägt Inhalt, S. 91-92. Die gesamte Argumentation hier folgt diesem Aufsatz. 148 | Höcker, Arne: Literatur durch Verfahren. Beschreibung eines Kampfes, in: Ders./Simons, Oliver (Hg.): Kafkas Institutionen, Bielefeld: transcript 2007, S. 247. 149 | Campe: Verfahren, S. 3. 150 | Höcker: Literatur durch Verfahren, S. 248. 151 | Campe: Verfahren, S. 4. 152 | Die Argumentation folgt hier präzise: Schmid, Verfahren schlägt Inhalt, S. 92-93; Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Neuweid am Rhein/ Berlin: Luchterhand 1969, S. 40.

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Autopoiesis und Literatur

das Ritual ist immer denselben Regeln unterworfen und das Verfahren als ein (soziales) System153 ist fähig, seine Regeln im „Handlungszusammenhang“ zu modifizieren. „Das Verfahren ist dynamisch, offen und kann im Austausch mit andern sozialen Systemen seine Systematik den Handlungsbegebenheiten anpassen. In diesem Sinne ist das Verfahren fähig, seine ‚Form prozessual aus sich selbst heraus‘154 zu generieren.“155 Und hiermit wäre nun auch der Zusammenhang mit Autopoiesis deutlich geworden. Die Form des Verfahrens ist Autopoiese. Das bestätigt sich auch in der Begriffsgeschichte. Sie geriert sich selbst als autopoietisches Verfahren. Denn entweder versucht jede Disziplin, die auf Autopoiesis Bezug nimmt, eine neue Definition zu generieren, oder sie lässt den Begriff gänzlich undefiniert, als wäre er fähig, sich aus sich selbst zu definieren. Orientiert man sich an einer poststrukturalistischen Literatur- und Sprachwissenschaft, dann gilt das selbstverständlich für alle Begriffe. Sie verlieren im Bedeutungsprozess – wie schon im Formalisierungsversuch dargelegt – ihren Bezug zu Referenzen außerhalb von sich selbst. Und dennoch scheint diese Selbstreferenzierung besonders interessant bei einem Begriff, der eine „Selbstgenerierung“ bezeichnen soll und dadurch selbst seine formale Definition als „Begriff“ problematisch macht. Insofern ist die Situation am Schluss dieses Kapitels verfahren, im Sinne des „Verfahrens“ mit dem Auto; in den Straßenschluchten einer Stadt aus Glas. Man kann den Begriff, der sich scheinbar transparent gibt und dennoch sich seiner begrifflichen Fassung entäußert, nicht auf einen definitorischen Nenner bringen. Denn ein Versuch einer solchen Findung lässt immer zurückfallen zum Anfang.

153 | Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 41. 154 | Höcker: Literatur durch Verfahren, S. 247 (Herv.i.O.). 155 | Siehe dazu wiederum: Schmid, Verfahren schlägt Inhalt, S. 92-93.

4. Schluss – Antaporia practica

Autopoiesis lässt sich – so das Fazit dieser Arbeit – nicht rekonstruieren als ein Begriff, der eine bestimmte, singuläre Funktion kennzeichnet. Entscheidend ist, wer nach dem Begriff fragt: Kognitionsbiologie, Systemtheorie, Literaturwissenschaft, Rechtstheorie, Kybernetik, Mathematik usw. Alle Disziplinen haben Erklärungsversuche, die an die jeweiligen Erkenntnisinteressen gebunden sind. Daraus ergibt sich ein überaus komplexes Arrangement aus verschiedenen Paradigmen und Konzepten, das keine stabile und singuläre Definition zulässt, sondern auf das Verfahren verweist, wie Autopoiesis (re-)konstruiert und den jeweiligen wissenschaftlichen Topoi einverleibt wird. Autopoiesis – das ist sehr deutlich geworden – richtet sich immer auch an die eigene Konstitutivität. Selbstverständlich gibt es kaum je Begriffe, die ohne ihre Geschichte, ohne den jeweiligen disziplinären und institutionellen Kontext Bedeutung stiften. Jedoch erscheint diese Tatsache selten so deutlich wie beim „Terminus“ Autopoiesis. Deswegen wurden in den drei relativ autonomen Teilen Verfertigen, Verhandeln und Verfahren die verschieden Implikationen von Autopoiesis durchgespielt. Verfertigen: Bei Kleist stellt sich heraus, dass „Verfertigen“ in „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ nicht eine Funktion benennt, sondern „Verfertigung“ als Funktionieren zur Schau trägt. Der Text ist daraufhin angelegt, jegliche Konkretisierung und jegliche stabile Anfangs- und Endpunkte zu verschleiern. Dienlich dazu sind beispielsweise Unterbrechungen, Wiederholungen und die sowohl sprunghafte als bisweilen auch abenteuerliche Reise durch die „Disziplinen“: von der Historie zur Literatur, von der Physik in die Politik usw. Auf der Strecke bleibt dabei die konkrete und im Titel versprochene Abhandlung über die Verfertigung. Stattdessen wird – und das ist das autopoietische Moment, dem der Text zugrunde liegt – unter dem Schein einer Exegese mit hypothetischen Kommunikationspartnern und zweifelhaften Adressaten die Verfertigung in verschiedenen Varianten durchgespielt. Kleist zeigt ein

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Autopoiesis und Literatur

grundlegendes Dilemma auf, das sich in Bezug auf Definitionen jeglicher textkonstitutiver Termini stellt: Wie soll eine Funktion beschrieben werden, die selbst das Beschreiben infiltriert? Verhandeln: Der Process verhandelt verschiedene Ebenen. Die Frage nach dem Gesetz wird nicht nur in der Türhüter-Legende diskutiert, sie wird auch auf der Ebene des Domkapitels und im gesamten Romanfragment performativ durchgespielt. Dabei kommt dem autopoietischen Moment eine andere Bedeutung zu als bei Kleist: Die autologische Selbstsetzung des Gesetzes ist eine Funktion, die auch nahezu alle Ver(-)handlungen „einsetzt“. Obwohl die Konsistenz des Gesetzes gänzlich unklar bleibt, finden jegliche Handlungen und Verhandlungen im Fragment innerhalb einer eigenen undurchschaubaren „Gesetzmäßigkeit“ statt. Wenn es so etwas wie ein Gesetz des Gesetzes gäbe, dann wäre dies die fortwährende, sinnlose und destabilisierende Selbstsetzung des Rechtssubjekts. K. als jenes Rechtssubjekt kann sich nur im Verhältnis zum unerreichbaren und unbeschreibbaren Gesetz verhalten und muss sich immer wieder von neuem und letztlich erfolglos gegenüber dem Gesetz einordnen. Unterstützt wird diese destabilisierende Funktion im Romanfragment durch ein offensichtliches Spiel von Differenzen: zwischen Türhüter und Mann vom Lande, zwischen dem Geistlichen und K., zwischen der grammatikalischen und der allegorischen Interpretation, zwischen der systemischen und der immanenten Lektüre, zwischen der Lehre und der (Parabel-)Entfaltung und zwischen der Aggada und der Halacha. Selbst die Schrift, deren Status alles andere als klar scheint, ist an diesem Spiel beteiligt. Wie die rechtshermeneutischen Aspekte ist auch die Schrift Teil des Spiels der Differenzen, welche die Unabschließbarkeit des Romans verdeutlichen. Verfahren: Die Begriffsgeschichte zeigt auf, wie mit Autopoiesis verfahren wird. Dabei stellt sich schon bald heraus, dass sich aus diesem Verfahren in verschiedenen Disziplinen nicht eine Definition von Autopoiesis extrahieren lässt. Autopoiesis wird meist als ein bestimmtes Paradigma (Kognitionsentwicklung, Soziale Systeme etc.) unterstützender Begriff eingeführt, der nie wirklich ganz im Zentrum der jeweiligen Disziplin steht. Dabei wuchern in unübersichtlicher Zahl verschiedene Vorstellungen von Autopoiesis seit der „Erfindung“ des Begriffs 1960. In­teressant ist insbesondere die Tatsache, dass sich die Definitionsversuche teilweise mimetisch zu dem verhalten, was sie zu definieren versuchen: Sie sind selbst autopoietisch, weil sie oft und ohne Rückgriff auf die Geschichte den Begriff ex nihilo zu erklären versuchen. Das Definierte tritt somit immer

4. Schluss – Antaporia practica

wieder selbst in die Definition ein. In den Fugen Bachs, in Gödels Mathematik, in Luhmanns Systemtheorie, in den Bildern Eschers und in vielen literarischen und literaturwissenschaftlichen Texten zeigt sich ein Verfahren, das in Autopoiesis nicht nur den entsprechend ubiquitären und diffusen Begriff gefunden hat, sondern gleichsam auch einen Begriff, der das Verfahren zur Begriffsbildung bezeichnet. Nebst diesen unterschiedlichen Herangehensweisen in den Teilen Verfertigen, Verhandeln und Verfahren zeigen sich aber auch Gemeinsamkeiten, die in der Rekonstruktion von Autopoiesis zu finden sind: Autopoiesis charakterisiert immer eine Bewegung. Dies gilt für die Verwendung des Begriffs zur Analyse von Kleists und Kafkas Texten, dies gilt aber auch für die Verwendung in der Kognitionsbiologie, in der Systemtheorie und in der Literaturwissenschaft. Wenn also mit Autopoiesis operiert wird, dann kann nie eine stabile Entität gemeint sein. Mit dem Begriff werden Grenzen überschritten, seien es die der Disziplinen oder sei es im Erkennen ähnlicher Muster bei Kleist und bei Kafka. Kleists „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ verfertigt sich, indem er grenzüberschreitende Beispiele aneinanderreiht: von der Literatur zur Naturwissenschaft, von der Politik zur Fabel. Wiederum Kafka verhandelt nicht einfach eine Geschichte über ein Rechtsverfahren, sondern thematisiert in der Geschichte des Rechtsverfahrens Fragen der Rechtshermeneutik und der Rechtsgeltung. Was die Schwierigkeiten in der Definition mit der Charakterisierung von Autopoiesis als Bewegung und als grenzüberschreitenden Begriff verbindet, ist der Modus des jeweiligen Sprechens über den Begriff. Es ist ein Modus des Aufschubs, des fortwährend „es anders sagen“ und des Beispielwechselns. Ob Kleists Reihung von Beispielen, ob Kafkas Argumentationsreihe in der Auslegung des Gesetzes oder ob in der Beispielsammlung in den Werken Maturanas, Varelas, Hofstadters und Schwanitz’: Sie kommen nicht zum definitiven Schluss. Es findet sich immer noch ein besseres, noch ein klareres Beispiel. Und so endet diese Arbeit an dieser Stelle mit einem weiteren Beispiel. Sie wurde begonnen mit einer Karikatur von Eugen Egner, und sie wird beendet mit der kommentierten Zusammenfassung einer seiner phantastischen Erzählungen.1 Dies zeigt, dass Autopoiesis nicht nur in 1 | Das literarische Werk Eugen Egners lässt sich dreiteilen in Tagebücher (Egner, Eugen: Die Tagebücher des W.A. Mozart. Illustriert von ihm selbst, hg. mit bis-

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Autopoiesis und Literatur

der Literatur um 1800 und 1900 zu finden ist, sondern auch in der Gegenwartsliteratur. Außerdem wird nach der zusammenfassenden Wiedergabe der Begriffsgeschichte das letzte Wort der Literatur gegeben. Und diese Literatur ist bisher – leider – noch weitgehend unerforscht. Aber gerade deswegen erscheint es reizvoll, einen Text von Eugen Egner als Gegenstück zu den tausendfach analysierten Texten von Kleist und Kaf ka zu lesen. „Antaporia practica“ ist die zweite Erzählung in dem Band Die Eisenberg-Konstante; in ihr werden zwei ineinander überlaufende Geschichten erzählt. Die Rahmenerzählung beginnt mit der Beschreibung des „Staatlichen Amtes für Grapheologie“: „Das Staatliche Amt für Grapheologie war in einem sehr großen Geschäftsgebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert untergebracht. Von außen war dieses mit Planen verhangen, drinnen war alles voller Bauschutt und -lärm. Niemand wußte, ob das Haus gründlich renoviert oder abgerissen wurde.“2

Vor diesem kafkaesk anmutenden Hintergrund sind die Mitarbeiter des Amts auf der Suche nach Strom und Toiletten. Dabei werden sie gezwungen, immer wieder innerhalb des Gebäudes umzuziehen. Die Protagonistin der Rahmen- und der Binnenerzählung, Wendy Schulz, ist seit fünf Jahren im Amt, wo sie genügsam und fleißig ihrer Arbeit nachgeht: „Ihr Spezialgebiet war die Stärkung der auf -ten endenden schwachen Verben, bei denen das Präteritum und Partizip Perfekt bekanntlich inakzeptabel [...] klingen, wie zum Beispiel gestattete, kostete, antwortete, geglättete, verheiratete usw. – eine Schande für die deutsche Sprache, eine Zumutung für Hirn, Zunge und Ohr!“3 her unveröffentlichtem historischen Bild- und Textmaterial sowie einem Vorwort von Eugen Egner, Zürich: Haffmans 1998; ders.: Aus dem Tagebuch eines Trinkers. Das letzte Jahr, aufgeschrieben und gezeichnet von Eugen Egner, Zürich: Haffmans 1999), in die Erzähl- und Sammelbände mit kurzen Texten (Ders.: Die Eisenberg-Konstante. Fünf phantastische Erzählungen, Zürich: Haffmans 2001; ders.: Die Traumdüse. Kurze Texte und Kolumnen mit vielen Zeichnungen des Autors, Bellheim: kuk 2009) und in die Romane (zum Beispiel: Ders.: Androiden auf Milchbasis, Zürich: Haffmans 1999). 2 | Egner, Antaporia practica (Die Eisenberg-Konstante), S. 36. 3 | Ebd. (Herv.i.O.).

4. Schluss – Antaporia practica

„Überraschend“, wie es heißt, soll nun das Amt gemäß Regierungsauftrag „ein Werk wider die allgemeine große Ratlosigkeit der Bevölkerung“ verfassen, eine „Antaporia practica, also ein ‚Praktischer Ratgeber in allen auswegslosen Lebenslagen‘ [...]“.4 Doch damit beginnen die Probleme, denn dieser Ratgeber scheint in keiner Weise zu gelingen. „Überall wucherten Verweise, Fußnoten und Fortsetzungen. Schon der Haupttitel geriet so lang, daß er auf einer späteren Seite fortgesetzt werden mußte. Das Impressum paßte auch nicht auf die ihm zugedachte Seite. Daher mußte der nachfolgende laufende Text unterbrochen werden, um auf Seite achtundzwanzig den Schluß des Impressums nachzureichen. Die Ausführlichkeit sowohl der Widmung als auch ihrer Begründung und das fünfzigseitige Register machten weitere Unterbrechungen, Einschübe und Anmerkungen unumgänglich. Nicht wenige Quer- und Mehrfachverweise waren darunter.“5

Fußnoten, Fortsetzungen, Impressum, Widmungen, Begründungen, Re­gister, Quer- und Mehrfachverweise: Das Vorhaben einer Antaporia practica erscheint aporetisch, denn der wuchernde Paratext steht dem Text im Weg; dem Amt droht deshalb die Schließung. Hier unterbricht die Rahmenerzählung und die Binnenerzählung setzt ein. Wendys Patenonkel, ein Gitarrist, der seit zwei Jahren bei ihr wohnt, ist verschwunden, und sie glaubt, ihn auf einem Konzert wiedererkannt zu haben als apathischen, aber virtuosen Musiker, der unter dem Künstlernamen „Der Enorme Mann“ „Neue Oldies aus dem Jenseits“ spielt.6 „Wie in Trance hob der Mann, der Enorme Mann, die Unterarme. Seine Hände berührten die Manuale, gleichzeitig tasteten seine Füße nach der Gitarre. [...] Gut neunzig Minuten lang gab es täuschend echt klingende, neue Titel von längst verstorbenen Musikern und nicht mehr existenten Bands. Dabei handelte es sich keineswegs um bloße Pastiches, was in Anbetracht der musikalischen Qualität schon eindrucksvoll genug gewesen wäre, sondern um für jedermann erkennbare Neuschöpfungen und Weiterentwicklungen der jeweiligen Interpreten. Hätten diese länger gelebt beziehungsweise in den betreffenden Besetzungen weiter zusammengespielt, hätte die hier erklingende Musik entstehen können, ja müssen. Dem 4 | Ebd., S. 37 (Herv.i.O.). 5 | Ebd. 6 | Ebd., S. 39.

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erstaunten Auditorium wurden akustische Dokumente aus einer alternativen Welt übermittelt, in der die Geschichte der Rockmusik anders verlaufen war als in der vom Publikum erfahrenen Realität.“7

Damit dringt nun die Aporie in die Binnenerzählung ein. Es scheint zwar unmöglich, eine Antaporia practica zu schreiben, aber die musikalische Darstellung der Aporie, das heißt, „täuschend echt klingende, neue Titel von längst verstorbenen Musikern“ zu spielen, ist möglich. So wirkt die Binnenerzählung nicht nur als struktureller Pastiche, als die Wiederholung jener Problematik der Rahmenerzählung, sondern auch als für „jedermann erkennbare Neuschöpfung und Weiterentwicklung“ der Rahmenerzählung. Da der enorme Mann an den Patenonkel erinnert, versucht Wendy die Managerin, die den seltsamen Musiker in einem Koffer transportiert, zu erreichen. Eine direkte Kontaktaufnahme gelingt nicht, und so träumt sich Wendy nachts in die Wohnung der Managerin hinein, um nach der Identität von dem enormen Mann zu forschen. Nach einem nutzlosen Gespräch öffnet die Managerin den Koffer, und Wendy blickt auf den blassen Mann. „Sie wunderte sich darüber, daß es ihr unmöglich war, selbst aus dieser geringen Entfernung eindeutig zu bestimmen, ob der Mann ihr Patenonkel war. Er war es, und er war es gleichzeitig nicht [...].“8 Die Identität des enormen Mannes bleibt letztlich ungeklärt. Die „Antaporie“, die nicht nur Titel, sondern auch Thema der Rahmen- und Binnenerzählung ist, findet sich realisiert in der Aporie am Schluss, nämlich in der Niederschrift – und hier trifft die Rahmen- auf die Binnenerzählung – der Antaporia practica. Noch in der Wohnung der Managerin „halluziniert“ Wendy die Antaporia. „Wie in Trance setzte sie sich an den Tisch und projizierte die halluzinierten Texte auf das Papier. Als sie mit dem Kugelschreiber Wort für Wort nachzog und Blatt um Blatt damit füllte, erkannte sie: Es war die Antaporia practica! Wohlgeordnet, sogar linear lesbar, mit probaten Ratschlägen zur Lösung aller Probleme der Welt, einschließlich der Stärkung sämtlicher auf -ten endenden schwachen Verben.“9 7 | Ebd., S. 41-42. 8 | Ebd., S. 47. 9 | Ebd., S. 48 (Herv.i.O.).

4. Schluss – Antaporia practica

Die Erzählung endet in einem – um Bettine Menkes Worte zum Anfangen nochmals aufzunehmen – „aporetisch blockierten“ Vorgang, der wiederum das Ende, die Auflösung der Aporie – die Antaporia practica – ermöglicht. „Halluzination“, „Projektion“ und „Bleistift“ bilden eine rational unlösbare Schreibszene, die das Unmögliche schafft, nämlich die Antaporia practica. Und hier steckt Autopoiesis: Das Thema, die Antaporia, wird auf das Schreibverfahren gebogen, indem das Schreiben ein nicht lösbares Verfahren beschreibt, das dennoch die Aporie in Schrift auflöst. Die Selbstanwendung generiert das unlösbare Ende einer Geschichte. Dasselbe gilt für den Autopoiesis-Begriff. Die fortlaufende Neuerzählung von begriffs(er)klärenden Geschichten führt niemals zur einen stabilen Definition, sondern generiert einen Begriff, der seinen Status als Begriff selbst immer wieder von neuem erschüttert.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Egner, Eugen: Beim Facharzt für Sprechblasen-Leiden, in: Titanic. Das endgültige Satiremagazin, Heft Nr. 6, 2007, S. 41. Abb. 2-6: Kafka, Franz: Der Process, Historisch-kritische Ausgabe (FKA), hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1997, S. 10, 17, 21, 38, 49. Abb. 7-9: Kafka, Franz: Vor dem Gesetz, in: Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift, Jg. 9, Nr. 34 (07.09.1915, Neujahrs-Festnummer),  in:  http://www.textkritik.de/kaf kazs/kaf kadrucke.htm  (Abrufdatum: 28.03.2014). Abb. 10-28: Kafka, Der Process, FKA (Im Dom), S. 25, 42-47, 54, 57-61. Abb. 29: Kafka, Franz: Der Process, FKA (Advokat, Fabrikant, Maler), S. 41. Abb. 30-32: Kafka, Franz: Der Process, FKA (Im Dom), S. 46, 49, 53.

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Autopoiesis und Literatur

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Autopoiesis und Literatur

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Literatur verzeichnis

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Autopoiesis und Literatur

Kafka, Franz: Vor dem Gesetz, in: Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift, Siegmund Kaznelson (Hg.), Jahrgang 9, Nr. 34 (07.09.1915, Neujahrs-Festnummer), in: http://www.textkritik.de/kafkazs/kafkad rucke.htm (Abrufdatum: 28.03.2014). https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/forschung/ags/Texttheorie_nach_Luhmann.html (Abrufdatum: 01.05. 2014). http://www.textkritik.de/kleist/bka.htm (Abrufdatum: 06.04.2014). http://www.textkritik.de/kleist/kleine_prosa.htm (06.04.2014).

Dank

Dieses Buch ist an drei Orten entstanden: Zürich, New York NY und New Haven CT. Zu verdanken ist diese divergierende „Verortung“ der großzügigen finanziellen Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds. Sie hat einen zweijährigen, fruchtbaren Forschungsaufenthalt an der New York und der Yale University ermöglicht. Ein zusätzliches, fünftes Semester in New York wurde durch die Kooperation zwischen dem Doktoratsprogramm des Deutschen Seminars der Universität Zürich und dem German Department New York University gewährt. Auf diese Weise haben sehr viele Personen an verschiedenen Orten zum Gelingen dieses Buches beigetragen. Kolleginnen und Kollegen, Betreuer, Eltern und Bruder: Alle standen mit Tat und Rat zur Seite, und ihnen sei hier ganz herzlich gedankt. Namentlich nennen möchte ich: Meine Betreuer Wolfram Groddeck und Rüdiger Campe sowie jene, welche diese Arbeit intensiv gegengelesen haben: Christine Feller, Demian Berger, Thorsten Carstensen, Christoph Steier und Yves Schumacher. Außerdem bedanke ich mich herzlich bei der Grafikerin Christelle Serrano für das Cover, beim Autoren und Cartoonisten Eugen Egner und den Herausgebern der Kritischen Franz Kafka Ausgabe, Roland Reuß und Peter Staengle sowie KD Wolff vom Stroemfeld Verlag für die Abdruckgenehmigungen.

Lettre Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns Januar 2017, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Anne Bertheau »Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung Rezeption – Reflexion – Produktion August 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3268-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.) Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt Juni 2016, ca. 290 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-3266-8

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7

Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3179-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Lettre Metin Genç Ereigniszeit und Eigenzeit Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit Juli 2016, ca. 326 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3372-6

Svenja Frank, Julia Ilgner (Hg.) Ehrliche Erfindungen Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne

Jenny Bauer Geschlechterdiskurse um 1900 Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion April 2016, 316 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3208-8

Csongor Lörincz Zeugnisgaben der Literatur Zeugenschaft und Fiktion als sprachliche Ereignisse

Juni 2016, ca. 440 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3319-1

März 2016, 384 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3098-5

Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.) Die Literatur der Lebensreform Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900

Torsten Voß Körper, Uniformen und Offiziere Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch

Juni 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3334-4

Raluca Radulescu, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Pluralität als Existenzmuster Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur

Februar 2016, 430 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3322-1

Jennifer Clare Protexte Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968

Mai 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3445-7

Januar 2016, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3283-5

Nicola Mitterer Das Fremde in der Literatur Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik

Robert Walter-Jochum Autobiografietheorie in der Postmoderne Subjektivität in Texten von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster

Mai 2016, ca. 340 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3422-8

Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881

Januar 2016, 362 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3339-9

April 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1

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