Die Rückkehr der Ideologie Zur Gegenwart eines Schlüsselbegriffs 9783593511702, 9783593443461


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Die Rückkehr der Ideologie Zur Gegenwart eines Schlüsselbegriffs
 9783593511702, 9783593443461

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Die Rückkehr der Ideologie

Heiko Beyer ist Heisenberg-Professor für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Alexandra Schauer ist Gastprofessorin für Kritische Gesellschaftstheorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Heiko Beyer, Alexandra Schauer (Hg.)

Die Rückkehr der Ideologie Zur Gegenwart eines Schlüsselbegriffs

Campus Verlag Frankfurt/New York

ISBN 978-3-593-51170-2 Print ISBN 978-3-593-44346-1 E-Book (PDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich. Copyright © 2021 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Gesetzt aus der Garamond Druck und Bindung: CPI buchbücher.de, Birkach Gedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC). Printed in Germany www.campus.de

Inhalt

Einleitung: Zum Problem der Ideologie in der Spätmoderne ........................ 9 Heiko Beyer und Alexandra Schauer

I.

Begriffe und Theorien

Ideologiekritik – oder die Veränderung dessen, was als objektiv gilt ..........25 Alex Demirović Die Wissenssoziologie und das Problem der Ideologie ................................. 61 Jan Weyand »Ein Grundbegriff, den man nicht verwenden kann, ohne Vorkehrungen zu treffen«. Michel Foucaults Beitrag zur Analyse und Kritik von Ideologien ..................................................................................85 Christian Schmidt Systemtheorie und Ideologie. Eine Spurensuche..........................................111 Isabel Kusche Haben Ideologien gute Gründe? Ideologien und die Theorien der Rationalen Handlungswahl ...............................................................................141 Annette Schnabel

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DIE RÜCKKEHR DER IDEOLOGIE

II. Methodische Zugänge und empirische Anwendungen Mixed Methods und Multimethod Research – Ideologiekritik und methodenintegrative Forschung ......................................................................171 Felix Knappertsbusch Ein Vierteljahrhundert Theorie der Systemrechtfertigung: Fragen, Antworten, Kritik und gesellschaftliche Anwendungsmöglichkeiten........211 John T. Jost Das »halbgewusste Wissen« über uns selbst – Der ideologische Alltagsverstand und die Methode der Erinnerungsarbeit ............................263 Virginia Kimey Pflücke Bilder über Obdachlosigkeit in Zeiten der Wohnungskrise – Eine tiefenhermeneutische Fallanalyse ....................................................................295 Saskia Gränitz

III. Aktuelle Phänomene und Diagnosen Böse knurrend, teuflisch schnurrend: Automobil, Alltag, Ideologie .........337 Robert Zwarg (Rechts-)Populismus als Ideologie? Überlegungen zu einem wiederkehrenden Strukturdefekt der Demokratie ........................................369 Oliver Hidalgo »Das waren noch gute Zeiten …« Zur Bedeutung der Ideologiekritik Kritischer Theorie für Rassismuskritik heute ................................................401 Ulrike Marz Intersektionalität zwischen Ideologie und Kritik ..........................................431 Karin Stögner Die Ideologie des Antisemitismus: Zur Gegenwart der Judenfeindschaft als Ressentiment und Weltdeutung ..................................467 Lars Rensmann

INHALT

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Politischer Islam als globale Ideologie: Über »The Return of Islam« als Islamismus in einem »Global Jihad« für die Verwirklichung des »Dream of Former Glory«. ...............................................................................505 Bassam Tibi Selbsterfüllendes Schicksal. Zur Kritik der esoterischen Ideologie ...........547 Jérôme Seeburger

Personenverzeichnis ..........................................................................................581

Einleitung: Zum Problem der Ideologie in der Spätmoderne Heiko Beyer und Alexandra Schauer

Die Sozialwissenschaften und ihre Gegenwartdiagnosen geben heute häufig das bekannte Bild des Hasen aus dem Grimm-Schwank ab, der im Wettrennen gegen den Igel, dessen List er nicht bemerkt, weil er sich überlegen wähnt, immer zu spät kommt. In der spätmodernen Informationsgesellschaft, in der thematische Trends und politische Bewegungen kaum länger als ein paar Wochen mediale Aufmerksamkeit generieren können und von der sozialwissenschaftlichen Forschung gleichzeitig immer nachdrücklicher verlangt wird, auf Tuchfühlung mit der politisch interessierten Öffentlichkeit zu gehen, hat der Versuch, Anschluss an den Zeitgeist zu halten, zunehmend etwas Verzweifeltes. Es ist dabei weniger das Tempo einer scheinbar flüchtigen Wirklichkeit als deren Fähigkeit, beständig ihre Gestalt zu wandeln, sobald sie den urteilenden Blick des Forscherinnenauges spürt, die Schwierigkeiten bereitet. Nicht selten reicht es dafür schon, dass die Untersuchungsobjekte einfach die Forschenden selbst beim Wort nehmen und die alten Begriffe, Typologien und Theorien anzweifeln. So gibt es heute nicht nur »keine Antisemiten mehr« (Horkheimer/Adorno 1997 [1944/47]: 226), sondern generell keine selbsterklärten idéologues. Der vorliegende Sammelband dürfte deshalb auf den ersten Blick sonderbar antiquiert wirken. Der Begriff der Ideologie erinnert an längst vergangene Zeiten politischer Grabenkämpfe, Revolten und charismatischer Führer. Wenn inzwischen Begriffe wie der des Populismus jenen der Ideologie ersetzt zu haben scheinen, so dürfte dies sinnbildlich für die Verlegenheit stehen, in die sozialwissenschaftliche Forschung gerät, wenn sie heute mit jenen altmodischen Phänomenen konfrontiert wird. Sollten nun aber die jüngeren Wahlerfolge fremdenfeindlicher Parteien, das globale Erstarken des Islamismus oder die zunehmende Polarisierung in weltanschauliche Lager wirklich Anzeichen einer »Rückkehr der Ideologie« sein? Circa 60 Jahre ist es her, dass Daniel Bells Aufsatzsammlung The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties erschien. Aus heutiger

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Sicht mag sein Urteil reichlich verfrüht erscheinen, doch Bell hatte seine Gründe. Der Hitler-Stalin-Pakt, die Niederschlagung des Arbeiteraufstands in Ungarn, die einsetzende Entstalinisierung unter Chruschtschow, aber auch der gleichzeitige Ausbau des Wohlfahrtsstaats im Westen – all das schien zu beweisen, dass die alten Ideologien ihre Attraktivität für die Intellektuellen verloren hatten (vgl. Bell 1988 [1960]: 402). Nach dem Bekanntwerden der Verbrechen des real existierenden Sozialismus konnte angesichts der vergleichsweise heilen Welt des Westens niemand mehr naiv die bestehenden Verhältnisse aus den Angeln heben wollen. Vielmehr hatten sich die alten Utopien als Werkzeug der Unterdrückung herausgestellt und damit ihre historische Wahrheit verloren. Das einleitende Machiavelli-Zitat des Epiloges zu End of Ideology fasst denn auch die Stimmung des Buches unnachahmlich zusammen: »Men commit the error of not knowing when to limit their hopes« (Bell 1988 [1960]: 393). Das Ende der Ideologie ist das Ende eines Traums, den die Intellektuellen seit der Aufklärung geträumt hatten: die Hoffnung, dass die praktische Verwirklichung großer Ideen die Welt zum Besseren verändern könne. Ein Ende der klassischen Form von Ideologie wurde zu jener Zeit aber auch von ganz anderer Seite verkündet, und zwar von Denkern, von denen man es vielleicht nicht gleichermaßen erwarten würde wie vom »konservativen Sozialdemokraten« Bell (Schmid 2011). Skepsis, dass der alte Ideologiebegriff die gesellschaftlichen Zustände noch angemessen beschreibt, regten sich in den 1950er und 1960er Jahren auch bei Kritischen Theoretikern wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Mit zunehmender Irrationalität der Verhältnisse und der totalen Durchdringung aller Lebensbereiche durch das Tausch- bzw. Identitätsprinzip verschwinde das letzte Residuum von Wahrheit, das die alte bürgerliche Gesellschaft mit ihren Idealen der Freiheit und Gleichheit noch gekannt habe. »Kein Standort außerhalb des Getriebes lässt sich mehr beziehen, von dem der Spuk mit Namen zu nennen wäre«, konstatiert Adorno in seinem Vortrag zur Frage »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft« (1997 [1968]: 369) auf dem Deutschen Soziologentag von 1968. Mit der Strukturveränderung der Gesellschaft gehe ein Funktionswandel des Ideologischen einher: Die allgemeine gesellschaftliche Durchdringung des Tauschprinzips führe zur Wahrnehmung einer »trügerische[n] Unmittelbarkeit«, bei der »[a]lles […] Eins« zu sein scheine (ebd.). Gleichzeitig verbreitere sich die Kluft zwischen liberalem Überlegenheitsgestus auf der einen Seite und dem Kontrollverlust der einzelnen Akteure auf der

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anderen. Damit eröffne sich der Ideologiekritik die Möglichkeit, die Irrationalität des Gesamtsystems aufzuzeigen. Sowohl Bell als auch Adorno nehmen, wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen, prophetisch jenes »Ende der Geschichte« vorweg, das Francis Fukuyama (1989) dann im Zuge des Zusammenbruchs des Sowjetsozialismus mit dem Recht des Siegers der Geschichte ausrief. Die westliche liberale Demokratie hatte alle alternativen Gesellschaftmodelle überdauert und sich im historischen Wettkampf durchgesetzt. Bei Fukuyama ging es ebenfalls wie schon bei Bell darum, sicher zu gehen, dass Marx wirklich tot ist (vgl. Derrida 1994). Es ist denn auch bezeichnend, dass das Verschwinden der Ideologie, das seit den 1950er Jahren verkündet wird, sich sowohl bei Fukuyama als auch bei Bell vor allem auf den Marxismus bezieht. Bis heute porträtieren sich der politische Liberalismus und die soziale Marktwirtschaft als alternativlos und als Wahl der Vernunft, die den Kinderphantasien von der versöhnten Welt entwachsen ist. Die Ironie dieser sowohl in den Sozialwissenschaften als auch der Öffentlichkeit verbreiteten Selbsterzählung einer vorgeblich natürlichen liberal-kapitalistischen Ordnung besteht darin, dass Marx gerade eine solche Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die klassische Nationalökonomie vor Augen hatte, als er seine Ideologiekritik am Gegenstand der Politischen Ökonomie entwarf bzw. präzisierte. In der Waren produzierenden Gesellschaft würden, so Marx, die gesellschaftlichen Verhältnisse als sachliche (vgl. Marx 1968 [1867]: 87 ff.), und die gesellschaftlichen Prozesse als Naturgesetze (vgl. Marx 1972 [1846–47/1885]: 139 ff.) erscheinen. Es gehört demnach zum grundlegenden Moment von Ideologie, Gewordenes als Faktisches und Lebendiges als Dinghaftes zu verschleiern. In ähnlichem Sinn wie Bells Verdikt des Endes der Ideologie einen wunden Punkt getroffen hatte, enthielt auch Fukuyamas These ein Wahrheitsmoment. Das Projekt einer befreiten Gesellschaft, in der der Mensch zum autonomen Subjekt und Herr seines Handelns wird, war nicht im Kommunismus, sondern in den westlichen liberalen Demokratien verwirklicht worden, wenngleich dies nur die »politische Emanzipation« und nicht die »menschliche Emanzipation« (Marx 1976a [1843]: 350) betraf – angesichts der praktizierten Unfreiheit im Ostblock nicht gerade wenig. Unmittelbar nach dessen Zusammenbruch und dem Sieg des Liberalismus wurden nun aber dessen alte, längst gebändigt geglaubte Begleiter entfesselt: Die neue Alternativlosigkeit der Systemfrage wurde konterkariert durch die Multiplizierung ethnischer Identitäten, die binnen kürzester Zeit in Europa

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zu einem neuen Nationalismus inklusive Territorialkriegen wie jenem auf dem Balkan führte. Die ideologische Form dieser postsozialistischen Weltgesellschaft ist laut Detlev Claussen die »Alltagsreligion«, eine Bewusstseinsform, deren »[Elemente] Xenophobie, Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Antiintellektualismus heißen« (Claussen 1994: 22). Obwohl sich so bereits Anfang der 1990er Jahre die Ideologie-Frage wieder aufzudrängen schien, blieben innerhalb der Sozialwissenschaften Versuche wie jener Claussens, die Ideologiekritik zu aktualisieren und wieder in das Zentrum soziologischer Forschung zu rücken, die Ausnahme. Dies dürfte vor allem mit dem Erfolg eines konkurrierenden Programms kritischer Theorie zu tun haben, nämlich jenem des französischen Poststrukturalismus. Dort war bekanntermaßen gerade jener für die Ideologieanalyse so grundlegende Begriff der Wahrheit weitestgehend desavouiert worden. Verbunden damit verkündete auch der Poststrukturalismus das Ende der Ideologie, wenn auch in diametral gegensätzlicher Bedeutung als Bell dies getan hatte: »If the ›end of ideology‹ argument in the 1950s was made on the basis of a celebration of a presumably achieved, normatively regulated, consensual society, the new critique of ideology during the 1980s has been based on the exact opposite: a celebration of differences and the heterogeneity of discursive positions« (Zhao 1993: 71). Es mag etwas verkürzt, deshalb aber nicht vollkommen unbegründet sein, dem Poststrukturalismus die Mitschuld für den jüngsten Skeptizismus gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen, medialer Berichterstattung und politischen Entscheidungen zu geben. Der Zusammenhang zwischen dem postmodernen Fluiditäts- und Diversitätsdenken auf der einen und der »fake news«- und »alternative facts«-Rhetorik der neuen Rechten auf der anderen Seite ist kein Zufall, geht aber nicht auf ein direktes kausales Verhältnis zwischen beiden Bewusstseinsformen zurück. Die Neue Rechte steht nicht etwa einfach unter dem Einfluss postmodernen Denkens, sondern ist wie dieses Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation, in der gleichermaßen alles mit allem zusammenzuhängen scheint wie niemand mit irgendjemandem. Die Rhetorik vom Ende der Ideologie hat, beabsichtigt oder nicht, dabei mitgewirkt, ein Konzept zu desavouieren, das die Erfolgserzählung der kapitalistischen Moderne irritieren könnte. Damit hat die Sozialwissenschaft sich gleichzeitig eines Begriffes beraubt, der die Ursachen des heutigen Autoritarismus genauer zu ergründen im Stande wäre – natürlich auf die Gefahr hin, dass er sie wie schon der Begründer der Ideologiekritik in den

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bestehenden, siegreichen ökonomischen Verhältnissen findet und die Dialektik des gegenwärtigen Wohl- und Stillstands ausspricht. Angesichts der letzten großen Finanzkrise und deren Folgen für die politische Kultur in weiten Teilen der Welt dürfte die Diagnose Adornos, dass die Ohnmacht des Wirtschaftssystems sich selbst entlarvt, in den letzten Jahren neue Anhänger gewonnen haben. Wenn heute sogar liberale Ökonomietheorien unumwunden die psychologische Kontingenz des Systems, in anderen Worten: dessen Irrationalität, zugestehen, wer glaubt dann überhaupt noch an die ideologischen Leitbilder der Marktgesellschaft? Gleichwohl fehlen wirkliche Alternativen. Nicht Wille zur politischen Veränderung stellt heute die Antwort auf gesellschaftliche Krisenerscheinungen dar, sondern autoritäre Verteilungskämpfe, religiöse Weltflucht oder die Arbeit am Selbst. Man muss nicht zwingend soweit gehen, die Entwicklung der letzten Jahre als »große Regression« (Geiselberger 2017) zu beschreiben, um zu sehen, dass heute erneut Krisen und Konflikte virulent werden, die eine von ihrer eigenen Fortschrittlichkeit überzeugte Gesellschaft bereits als überwunden ansah. Es sind diese Prozesse, die den Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes gebildet haben und die dieser zu durchleuchten sucht, in dem er sich auf den in Vergessenheit geratenen Begriff der Ideologie beruft. Dass die Zeiten dafür günstig sein könnten, darauf deutet die Rehabilitierung verwandter Kategorien wie Kapitalismus, Krise und Klasse hin, auf die die Soziologie ihrerseits voreilig verzichtet hatte. Doch geht der Versuch einer Rückkehr zum Ideologiebegriff auch mit Problemen einher. Eine der großen Herausforderung liegt in seiner Vieldeutigkeit. Er ist Analyseinstrument und politischer Kampfbegriff in einem, dem Alltagsverstand ist er ebenso vertraut wie er einstmals eine Schlüsselkategorie philosophischer und soziologischer Analysen war. Sollte es überhaupt wertfreie analytische Kategorien geben – eine Annahme, die gerade von der ideologiekritischen Forschung in Frage gestellt wurde – gehört der Ideologiebegriff nicht dazu. Auf die Vieldeutigkeit des Begriffes deutet bereits seine turbulente Geschichte hin, wobei sich in systematisierender Absicht drei Fassungen unterscheiden lassen, die allesamt in die soziologische Theoriebildung eingeflossen sind: Ideologie als wertneutrale Analysekategorie, Ideologie als politischer Kampfbegriff und Ideologie als Kategorie der Gesellschaftskritik. Als ihn Antoine Louis Claude Destutt de Tracy in den Wirren der Französischen Revolution in die philosophische Sprache einführte, verstand er

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darunter zunächst wertfrei die Wissenschaft von den Ideen. Die Schule der idéologues sah die Untersuchung der Entstehung der Ideen aus der sinnlichen Wahrnehmung als Bedingung der Möglichkeit der Einrichtung einer guten Gesellschaft an. In ähnlich neutraler Weise wurde der Begriff im 20. Jahrhundert von Karl Mannheim verwendet, der unter Ideologietheorie die Wissenschaft von der »›Seinsgebundenheit‹ eines jeden lebendigen Denkens« (Mannheim 1952 [1929]: 71) versteht. Zum politischen Kampfbegriff wurde der Begriff erstmals unter Napoleon Bonaparte, als dieser der Schule der idéologues ihren weltfremden Vernunftglauben vorwarf. Diese Polemik im Handgemenge setzte sich im 20. Jahrhundert sowohl im wissenschaftlichen Sozialismus als auch in den Diagnosen vom Ende der Ideologien fort. Lautet für jene die politische Kampfparole »bürgerliche oder sozialistische Ideologie« (Lenin 1955 [1902]: 395), zielen diese vor allem auf die Herabsetzung des Marxismus ab. Eine explizit kritische Ausdeutung erfuhr der Ideologiebegriff bei Karl Marx, der darunter ein zugleich falsches und objektiv notwendiges Bewusstsein versteht, insofern dieses das Resultat widersprüchlicher Vergesellschaftungsprozesse ist. Auch an diese Bestimmung wurde im 20. Jahrhundert auf verschiedenste Weise angeknüpft. Das Resultat dieser vielfältigen Anschlüsse an den Ideologiebegriff war, dass dieser auch in der Soziologie eine fast undurchschaubare Ausdifferenzierung erfahren hat. Bevor sie den Begriff aus ihrem Wortschatz gestrichen hat, war sich die Soziologie dieser Vieldeutigkeit durchaus bewusst. Als eine nur geringe Übertreibung sah es Herbert Schnädelbach im Jahr 1969 an zu behaupten, »es gebe ebensoviel verschiedene Ideologiebegriffe wie soziologische Lehrstühle« (Schnäbelbach 1969: 72). Teil I des vorliegenden Bandes dokumentiert diese Pluralität an Ideologiebegriffen und diskutiert das Potential der unterschiedlichen Ideologietheorien für die gegenwärtige gesellschaftliche Situation: Alex Demirović zeichnet zunächst die Geschichte des Ideologiebegriffs ausgehend von der kritischen Fassung nach, die dieser durch Karl Marx erhalten hatte. An diese Tradition schlossen im 20. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise Theodor W. Adorno, Antonio Gramsci und Louis Althusser an. Deren Überlegungen bilden bei Demirović das Fundament für die modellhafte Entwicklung eines »anspruchsvollen Ideologiebegriffs«, mit dem Ideologie als »eine Regierungstechnik« erscheint, »die es erlaubt, Herrschaft auszuüben, indem Wahrheit und ihr Status selbst zum Gegenstand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gemacht wird«.

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Auf die wissenssoziologische Neufassung des Begriffs durch Karl Mannheim beziehen sich im vorliegenden Band gleich zwei Texte: Jan Weyand leuchtet in einer Gegenüberstellung zwischen kritischer und wertneutraler Fassung die Potenziale und Grenzen der wissenssoziologischen Ideologietheorie aus. Als deren Verdienst sieht er die Einsicht in die Relativität allen Wissens an, als deren Defizit arbeitet er den Mangel an Gesellschaftskritik heraus. Er selbst ist an der Entwicklung einer kritischen Gesellschaftstheorie interessiert, welche »die Grundeinsicht der Relativität allen Wissens auf eine Beobachterperspektive nicht aufgibt, aber an einem kritischen Begriff der Ideologie festhält«. Annette Schnabel zielt in ihrem Beitrag auf eine Verknüpfung des wissenssoziologischen Ideologiebegriffs mit der Theorie rationaler Handlungswahl ab. Als Potenzial von Rational Choice-Theorien betrachtet sie die Fähigkeit zur Modellierung von Entscheidungsschwellen. Diese könne zwar keinen Beitrag zur Erklärung der Genese von ideologischen Weltzugängen leisten, dafür aber die Bedingungen rekonstruieren, unter denen »das ideologische ›thinking-as-usual‹ (Alfred Schütz) individuell verlassen wird und alternative ideologische Weltzugänge an Attraktivität gewinnen«. Isabell Kusche nähert sich dem Begriff der Ideologie systemtheoretisch und versucht die verstreuten Verwendungen im Werk Niklas Luhmanns zu einer aktuellen systemtheoretischen Ideologiekonzeption auszubauen. Insbesondere die Frage, ob die reife Systemtheorie nicht tendenziell die Konflikthaftigkeit von Kommunikation in modernen Gesellschaften unterschätze, führt sie dazu, die frühen Andeutungen Luhmanns zur Bedeutung ideologischer Werturteile zur Konsenssicherung ernst zu nehmen und damit die gegenwärtige Wiederkehr ideologischer Kommunikation als Reaktion auf die durch die Digitalisierung ausgelöste Steigerung von Unsicherheit zu interpretieren. Der poststrukturalistischen Kritik am Ideologiebegriff geht Christian Schmidt in seinem Beitrag ausgehend von Michel Foucault nach. Er kann zeigen, dass dieser den Ideologiebegriff nicht rundherum ablehnt, ihn jedoch in einer Weise radikalisiert, die einige der Unterscheidungen, die in der Tradition des kritischen Ideologiebegriffes zentral sind, an Bedeutung einbüßen lässt. Erstens weist er das von ihm in einigen Spielarten des Marxismus ausgemachte Subjektverständnis zurück, demzufolge Subjekte frei Ideen wählen und Institutionen verändern könnten. Zweitens ersetzt er die materialistische Zurückführung von Ideen auf Institutionen durch den Gedanken einer Gleichursprünglichkeit und Wechselseitigkeit. Drittens

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kritisiert er den in der Vorstellung von Ideologien als falsches Bewusstsein eingeschlossenen Wahrheitsbezug. An die Stelle klassischer Ideologiekritik tritt in der Folge bei Foucault eine genealogische Untersuchung von historisch situierten Wissen-Macht-Komplexen. Aller Differenzen zum Trotz lassen die Beiträge des ersten Teils des Bandes deutlich werden, dass es eine Reihe verbindender Fragestellungen und Problemkomplexe gibt, um die Ideologietheorie und Ideologiekritik kreisen. Nicht alle Aspekte sind von allen Theorien gleichermaßen thematisiert worden, vielmehr wurden durchaus unterschiedliche – sich zum Teil widersprechende – Akzente gesetzt. Erkenntnistheoretisch interessiert sich Ideologietheorie seit jeher für den Unterschied zwischen wahrem und falschem Bewusstsein. Ideologien erscheinen dabei als kollektive Vorurteile oder Täuschungen, denen gleichwohl ein Wahrheitsmoment zukommen kann. Herrschaftskritisch fragt Ideologietheorie nach dem gesellschaftlichen Nutzen und den Herrschaftseffekten bestimmter Wissensformationen. In diesem Sinne spricht Marx davon, dass »die Gedanken der herrschende Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken [sind]« (Marx 1969 [1845– 46/1932]: 46) während Foucault auf den Zusammenhang von Wissen und Macht abhebt. Gesellschaftstheoretisch geht es um die Abhängigkeit des Wissens von den gesellschaftlichen Verhältnissen – ein Problem das Marx als Verhältnis von Sein und Bewusstseins, Mannheim als Standortgebundenheit allen Denkens und Luhmann als Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik fasst. Aus sozialpsychologischer Sicht stellt sich das Problem, warum an falschen Vorstellungen von der Welt festgehalten wird, worin also die Attraktivität von Ideologien liegt. Teil II geht vor dem Hintergrund dieser zentralen Problemkomplexe der Frage nach, wie sich Ideologien empirisch erforschen lassen. Felix Knappertsbusch schlägt vor, Ideologie mittels methodenintegrativer Forschung zu untersuchen. Dabei arbeitet er erstaunliche Parallelen zwischen dem kritisch-theoretischen Ansatz der Ideologiekritik und den methodischen Grundannahmen der Mixed Methods heraus: Beide Methoden verfahren konstellativ, beziehen sich auf unterschiedliche soziale Teilphänomene und gesellschaftliche Ebenen, bedienen sich eines rekonstruktionslogischen Interpretationsverfahrens und treten mit dem Anspruch auf, strukturelle Erklärungen für die gesellschaftliche Genese und Wirkung ideologischer Phänomene anzubieten. John T. Jost schließt in seiner Theorie der Systemrechtfertigung an die Bestimmung von Ideologie als falschem Bewusstsein an und zeigt, wie sich

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dieses mittels quantitativer Methodendesigns erforschen lässt. Im Zentrum der Theorie der Systemrechtfertigung, die sich mit Struktur und Funktion sozialer Stereotypisierung befasst, steht die Frage, warum auch Angehörige gesellschaftlich diskriminierter und marginalisierter Gruppen zu einer Verteidigung und Rationalisierung bestehender sozialer, wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse neigen, obwohl diese mitunter ihren individuellen und kollektiven Interessen widersprechen. Auf die Involviertheit der Betroffenen in das System ihrer Unterdrückung zielt auch die von Frigga Haug gemeinsam mit anderen Frauen entwickelte Methode der Erinnerungsarbeit ab, wie Virginia Kimey Pflücke in ihrem Beitrag zeigt. Von anderen sozialwissenschaftlichen Methoden unterscheidet sich diese historisch-materialistische Annäherung an weibliche Sozialisationsprozesse nicht nur dadurch, dass die Differenz zwischen Subjekt und Objekt im Forschungsprozess unterlaufen wird, insofern sich die Forscherinnen auch selbst zum Gegenstand ihrer Forschung machen. Zudem wird Bewusstseinsänderung als aktiver Beitrag zur Gesellschaftsveränderung begriffen. Durch die sozialpsychologische Erforschung der »eigene[n] Verstrickung in ideologische Subjektivation« sollen neue Handlungsräume eröffnet werden. Sozialpsychologisch ausgerichtet ist auch die Methode der Tiefenhermeneutik, deren ideologiekritisches Potenzial Saskia Gränitz in ihrem Beitrag zu Bildern der Obdachlosigkeit in Zeiten der Wohnungskrise vorführt. Die subjektive Bearbeitung von Wohnungsnot bildet bei ihr den Ausgangspunkt, um den von Widersprüchen und Brüchen gekennzeichneten Verinnerlichungsprozess von Ideologien in den Blick zunehmen. Gezeigt wird deren Rolle bei der Übersetzung alltagsweltlichen Krisenerlebens in affektive Selbst- und Weltdeutungen. Psychologisch wie auch gesellschaftlich funktional erweisen sich Ideologien insofern, als sie eine »Schiefheilung« ermöglichen können, die »[i]ndem sie den Einzelnen davor bewahrt, an den gesellschaftlichen Verhältnissen verrückt zu werden«, zugleich »zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung verrückter Verhältnisse bei[trägt]«. Indem sie in einem auf die individuelle wie auch gesellschaftliche Funktionalität ideologischer Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Krisen- und Leiderfahrungen abzielen, lassen sich die Beiträge zur methodischen Erforschung von Ideologien auch als eine ausführliche Reflexion auf deren Bestimmung als »objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein« (Adorno 1997 [1954]: 465) verstehen. Notwendig heißt dabei nicht, dass es

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gar nicht möglich wäre, Anderes zu denken, denn dann wäre auch Ideologiekritik nicht möglich. Nicht ein naturgesetzlicher Zwang soll durch den Begriff bezeichnet werden, sondern die objektive Nötigung, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeht. In ihrer Widersprüchlichkeit spiegeln Ideologien nicht nur die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse wider, sondern sie tragen – indem sie etwa eine ungerechte Ordnung als gerecht erscheinen lassen – zugleich maßgeblich zu deren Erhaltung bei. Teil III des Bandes widmet sich ausgehend von diesem Forschungsverständnis schließlich aktuellen ideologischen Phänomenen. An den hier versammelten Beiträgen zeigt sich, inwiefern Ideologie eine »Schlüsselkategorie« zur Analyse der spätmodernen Gegenwart sein kann. Seit dem Aufstieg des Fordismus sind wenige Industriebereiche charakteristischer für die kapitalistische Moderne gewesen als die Automobilindustrie. Das Automobil selbst ist bis heute ein Kristallisationspunkt von Hoffnungen, Träumen und Ängsten sowie materialisierter Ausdruck sozialer Ungleichheit. Sie zeigt sich in der geschlechtsspezifischen Verteilung der Rollen von Fahrer und Beifahrerin ebenso wie in der den American Way of Life prägenden Differenz zwischen autofahrenden Weißen und auf den Bus angewiesenen Schwarzen. An dieser ideologischen Aufladung von Alltagsgegenständen setzt Robert Zwarg in seinem Beitrag an. Unter Rückgriff auf Roland Barthes’ Mythen des Alltags verdeutlicht er, wie sich die Geschichte des Automobils als Manifestierung ideologischer Tendenzen moderner Gesellschaften dechiffrieren lässt. Als technisches Objekt spiegelt sich im Auto das Verhältnis des Menschen zur Natur, zu den Produktionsverhältnissen und zum gesellschaftlichen Lebensprozess. Der massive, höhergelegte, in seiner Form an einen Panzer erinnernde SUV wird als Materialisierung der Widersprüche spätmoderner Vergesellschaftung gedeutet, wobei insbesondere die Dialektik von steigender Verunsicherung und erhöhtem Sicherheitsbedürfnis im Kontext von Ökonomie, Klimawandel und Stadt zentral ist. Dem Politischen als Raum ideologischer Kämpfe wendet sich Oliver Hildalgo zu, indem er den globalen Aufstieg des (Rechts-)Populismus als Strukturdefekt moderner Demokratien diskutiert. Als Verfassungsform sei die Demokratie durch sechs Antinomien bestimmt, die konkretisiert werden als Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen Volkssouveränität und Repräsentation, zwischen quantitativen Mehrheits- und qualitativen Rechtsstaats-Prinzip, zwischen Einheit und Pluralität, zwischen Gemeinschaftsverantwortung und individuellen Ansprüchen sowie zwi-

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schen Universalität und Partikularität. Während legitime Demokratien in der Praxis zwischen diesen Polen operierten, insofern sie die Widersprüche institutionell zu bearbeiten versuchten, treten die vielfältigen »Selbstzerstörungstendenzen des Demokratischen« dort hervor, wo eine der widersprüchlichen Seiten der Demokratie verabsolutiert wird. Den Populismus als Strukturdefekt moderner Gesellschaften zeichne aus, dass er »die Antinomien der Demokratie gleichsam in übergreifender Weise attackiert«. Zugleich lasse er sich aber auch als »korrektives Gegengewicht zu postdemokratischen Tendenzen« verstehen. Liegt das Besondere dieser Perspektive darin, Populismus (und Postdemokratie) als immanente Tendenz demokratischer Gesellschaften zu analysieren, so schließt sich daran die ideologiekritische Frage an, warum gerade diese Formen in der Spätmoderne an Bedeutung gewinnen. Am Rechtspopulismus lässt sich erkennen, wie klassische Abwertungsideologien der Moderne auch in der Spätmoderne in veränderter Gestalt fortleben. Diesen Phänomenen widmen sich die folgenden drei Beiträge ausführlicher: Ulrike Marz fragt zunächst, inwiefern sich Rassismus im Anschluss an die Überlegungen der Kritischen Theorie als eine Ideologie verstehen lässt. Ferner geht es ihr um einen theoretischen Zugang, der Rassismus sowohl in seiner übergreifenden Form als auch in seiner historischen Spezifität gerecht wird. Wie wichtig dies ist, zeigt sich an den zunehmend gewalttätigen Konflikten, die sich aktuell in den USA rund um die Black Lives Matter-Bewegung entfalten, die sich aber zugleich von rassistischen Motiven, die hierzulande in die Flüchtlingspolitik einfließen, unterscheiden. Zu einem besseren Verständnis dieser Differenzen folgt Marz der Unterscheidung zwischen Alltagsrassismus, institutionellem Rassismus sowie strukturellen, biologischen und kulturalistischen Formen des Rassismus. Dass Ideologien als Phänomen keinesfalls nur auf der rechten, sondern ebenso auf der linken Seite des politischen Spektrums zu finden sind, betont der Beitrag von Karin Stögner, der sich dem gegenwärtig sowohl in theoretischen als auch in politischen Debatten präsenten intersektionalen Verständnis sozialer Abwertungsprozesse zuwendet. Einerseits zeigt sie, inwiefern sich Intersektionalität, verstanden als »Reflexion über das Ineinandergreifen von Ideologien wie Antisemitismus, Sexismus, Rassismus, Nationalismus und Homophobie«, als analytischer Ansatz für Ideologiekritik fruchtbar machen lässt. Anderseits zeichnet sie kritisch nach, wo Intersektionalität

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selbst in Ideologie umschlägt, insofern in manchen Versionen des Konzepts »die Welt manichäisch nach einem Freund-Feind-Schema beurteilt wird«. Vor allem eine Ideologie ist es, die unabhängig von politischer Haltung und sozialer Stellung das gesamte Gesellschaftsgefüge durchzieht: der Antisemitismus. Dessen Geschichte und Gegenwart nimmt Lars Rensmann in seinem Beitrag in den Blick. Dabei rekonstruiert er nicht nur die verschiedenen Formen, in denen dieser aktuell auftritt – sie reichen von der klassischen Judenfeindschaft über dessen Modernisierung zum Antisemitismus bis hin zu sekundären, israelbezogenen und codierten Formen des Antisemitismus. Zugleich knüpft er die ideologiekritische Durchleuchtung des Antisemitismus an eine grundlegende Gesellschaftskritik. Eingekreist wird dadurch die Frage, wie sich sowohl die Beharrlichkeit dieses Phänomens als auch die Wiederbelebung und Ausweitung antisemitischer Ideologien im globalisierten 21. Jahrhundert erklären lässt. Mit den letzten zwei Beiträgen kehrt der Band zu den Anfängen der Ideologiekritik zurück. Sowohl für die Aufklärung als auch für Marx hatte die Kritik der Religion, die den ideologischen Kitt der alten Gesellschaftsordnung gebildet hatte, eine zentrale Rolle gespielt. Als »Ausdruck des wirklichen Elends und Protestation gegen das wirkliche Elend« (Marx 1976b [1844]: 378) kam ihr zudem eine zentrale Bedeutung für die Überführung von Ideologiekritik in Gesellschaftskritik zu. Seit diesen Anfängen der Ideologiekritik ist vielfach der »Tod Gottes« postuliert worden – eine These, die sich angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse kaum aufrechterhalten lässt. Nicht nur der Markt für Esoterik und Spiritualität boomt – Schätzungen gehen allein für Deutschland von einem jährlichen Umsatz zwischen 15 und 20 Milliarden Euro aus (Klaus 2017). Auch global ist spätestens seit den 1970er Jahren eine Rückkehr der Religion zu beobachten. Bassam Tibi nimmt angesichts dieser allgemeinen Rückkehr der Religion in seinem Beitrag den Aufstieg des Politischen Islam in den Blick und charakterisiert diesen als Ideologie im Sinne eines »falschen Bewusstseins«, bei dem »Wahres und Unwahres« ineinander verschränkt seien. Real sei die wahrgenommen Krise des Islam in doppeltem Sinn: es handle sich zum einen um eine Sinnkrise aufgrund des »Zusammenprallen[s] einer unreformierten mittelalterlichen islamischen Religion bzw. ihrer Weltbilder mit der kulturellen Moderne« und zum anderen um eine strukturelle Krise »die aus der Stellung der Muslime und ihrer Gesellschaften als ›underdogs‹ in der Welthierarchie resultiert«.

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Jérôme Seeburger widmet sich im letzten, auf den Spuren der Religionskritik von Feuerbach und Marx wandernden Beitrag dieses Bandes dem erwähnten Bedeutungsgewinn von Esoterik. Im Zentrum esoterischer Ideologien verortet er die Vorstellung eines gespaltenen Selbst. Dem der Gesellschaft verfallenen Ego werde das wahre – göttliche – Selbst gegenübergestellt. Erscheint es in der Folge so, als würden esoterische Praktiken als Prozess der Selbstvergottung durch Lossagung von der Gesellschaft beschrieben werden können, so dechiffriert Seeburger diesen Prozess ideologiekritisch als Unterwerfung unter ein scheinbar unumgängliches Schicksal. Typisch für die spätmoderne passiv-aktive Subjektkonstitution erschöpfe sich die Freiheit des esoterischen Selbst im »freiwilligen Sich-Fügen in das unerkennbare Gesellschaftsschicksal«. Will man aus den hier versammelten Diagnosen, empirischen Befunden und theoretischen Versuchen ein Fazit ziehen, so wohl jenes, dass die Analyse von Ideologie(n) nie ohne gesellschaftstheoretisches und -kritisches Fundament auskommt. Die sozialwissenschaftliche Rehabilitierung der Ideologietheorie reißt alte Wunden auf, denn das Konzept war und bleibt voraussetzungsvoll und normativ aufgeladen. Aber vielleicht ist auch die wertneutrale Untersuchung von Bewegungen und Akteuren, die sich vor allem darin einig sind, dass sie einen Kampf um Werte führen, der falsche Ansatz gewesen und hat dazu geführt, dass die Rückkehr des längst überwunden Geglaubten überhaupt möglich war. Dass es heute (wieder) des Ideologiebegriffs bedarf, ist ein schlechtes Zeichen. Diese düsteren Perspektiven möchten wir abschließend mit Gedanken an die vielen Beteiligten, die bei der Entstehung dieses Bandes mitgeholfen haben, aufhellen: Neben den Autorinnen und Autoren gilt unser Dank Eva Janetzko und Isabell Trommer vom Campus Verlag, Niklas Herrberg, Lisa Hönes und Stephan Soblik, die für die formale Erstellung des Verlagsmanuskriptes verantwortlich gewesen sind, Susan Wille, die den Text von John T. Jost aus dem Englischen übersetzt hat, dem British Journal of Social Psychology für die Rechte des Abdrucks jener Übersetzung sowie schließlich allen Freundinnen, Freunden, Kolleginnen und Kollegen, die in zahlreichen Gesprächen indirekt an diesem Band mitgewirkt haben.

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HEIKO BEYER UND ALEXANDRA SCHAUER

Literatur Adorno, T. W. (1997 [1968]), »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft«, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt/M., S. 345–370. — (1997 [1954]), »Beitrag zur Ideologienlehre«, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt/M., S. 457–477. Bell, D. (1988 [1960]). The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Cambridge. Claussen, D. (1994), »Veränderte Vergangenheit. Vorbemerkungen zur Neuausgabe 1994«, in: Ders., Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt/M., S. 7–32. Derrida, J. (1994), Specters of Marx. The State of the Debt, the Work of Mourning, and the New International, New York. Fukuyama, F. (1989), »The end of history?«, in: The National Interest, 16, S. 3–18. Geiselberger, H. (Hg.) (2017), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin. Horkheimer, M./Adorno, T. W. (1997 [1944/47]), »Dialektik der Aufklärung«, in: T. W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3. Frankfurt/M. Klaus, J., »Wer am Geschäft mit dem Seelenheil verdient«, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.07.2017, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/esoterik-wer-am-geschae ft-mit-dem-seelenheil-verdient-1.3596195 (letzter Zugriff 4.9.2020). Lenin, W. I. (1955 [1902]), »Was tun?«, in: Ders., Werke Bd. 5, Berlin, S. 355–551. Mannheim, K. (1952 [1929]), Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. Marx, K. (1968 [1867]), »Das Kapital. Bd. 1«, in: Ders./F. Engels, Werke Bd. 23. Berlin. — (1972 [1846–47/1885]), »Das Elend der Philosophie«, in: Ders./F. Engels, Werke Bd. 4. Berlin. S. 63–182. — (1976a [1843]), »Zur Judenfrage«, in: Ders./F. Engels, Werke Bd. 1, Berlin, S. 347–377. — (1976b [1844]), »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Ders./F. Engels, Werke Bd. 1. Berlin, S. 378–391. Marx, K./Engels, F. (1969 [1845–46/1932]), »Die deutsche Ideologie«, in: Ders., Werke Bd. 3, Berlin, S. 5–530. Schmid, H. B. (2011), »Ein konservativer Sozialdemokrat«, in: Neue Züricher Zeitung vom 31.01.2011, https://www.nzz.ch/ein_konservativer_sozialdemokrat-1.928 3325?reduced=true. Schnäbelbach, H. (1969), »Was ist Ideologie? Versuch einer Begriffsklärung«, in: Das Argument, 50(2), S. 71–92. Zhao, Y. (1993), »The ›End of Ideology‹ Again? The Concept of Ideology in the Era of Post-Modern Theory«, in: The Canadian Journal of Sociology, 18(1), S. 70–85.

I. Begriffe und Theorien

Ideologiekritik – oder die Veränderung dessen, was als objektiv gilt Alex Demirović

20.000 Unwahrheiten und Lügen hat US-Präsident Donald Trump laut Washington Post in den ersten drei Jahren seiner Amtszeit verbreitet. Die Lügen, Tatsachenverdrehungen und Halbwahrheiten waren begleitet von Kälte, Dreistigkeit, Infamie, Häme, Verleumdung, Beleidigung und Gehässigkeit. Die pathologischen Verhaltensweisen, die Züge von Größen- und Überlegenheitswahn, der Narzissmus, der Rassismus, der Sexismus des Präsidenten sind offensichtlich und wurden vielfach in Medienberichten angesprochen. Fakten, Wahrheiten, wissenschaftliche Forschungsergebnisse und journalistische Recherchen werden von Trump und anderen autoritären Populist*innen vielfach geleugnet, abgestritten, lächerlich gemacht oder als bloße Meinungen abgewertet. Diese Verhaltensweisen und Haltungen finden sich verbreitet in der Politik, in den social media oder in Äußerungen von Demonstrant*innen auf den sogenannten Hygiene-Demonstrationen: die Abwertung aufwendiger Forschung als bloße Meinung, die Angriffe auf Journalist*innen, die Kritik, es handele sich um Fakenews oder Lügenpresse, die Zurückweisung von Kritiken an Rassismus oder Sexismus, die nichts weiter seien als politische Korrektheit, Wahn und Ideologie. Es weist auf eine Kräftekonstellation in der Kultur kapitalistischer Gesellschaften hin, wenn journalistisch oder wissenschaftlich mit viel Aufwand geprüfte und gesicherte Wahrheiten von machtvollen Individuen und Institutionen heruntergespielt, geleugnet oder ignoriert werden können. Eigentlich wären Korrekturen und Rücknahme von Entscheidungen zu erwarten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Rechthaberisch und ressentimentgeladen wird gerade der Mangel an Neugierde und Kritik offensiv verteidigt. Kritische Einwände laufen ins Leere. Es geht demnach um weit mehr als nur um Fakten und einzelne Wahrheiten, sondern viel grundsätzlicher um den Status, den Wahrheit und Vernunft in den sozialen Praktiken innehaben. Darum also, ob sich mit Wahrheit ein verbindliches Handeln verbindet, ob über Äußerungen, über Praktiken selbst noch

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gestritten werden kann und sie dem Argument, der Kritik zugänglich sind. Es geht demnach um die Haltung von Einzelnen und sozialen Gruppen gegenüber der Wahrheit als einem gesellschaftlichen Verhältnis. Was aber geschieht, wenn das Verhältnis zur Wahrheit bedroht, die Haltung des Wahr-Sagens zerstört, der Anspruch auf Vernunft herabgewürdigt werden? Wenn die geringe Bindung an Wahrheit dazu führt, dass kritiklos auf der Grundlage von Meinungen, Fiktionen, Lügen, Falschem gehandelt werden kann? Wie kann sich eine Gesellschaft auf Dauer reproduzieren, wenn sie systematisch gegen Wahrheit und Objektivität verstößt, Fakten nicht oder nicht angemessen zur Kenntnis nimmt; Vernunft kein Maßstab mehr für kollektiv verbindliches Handeln darstellt? Lüge und Wahrheit erweisen sich als wichtige Begriffe, um Praktiken zu analysieren, wie sie auch für den autoritären Populismus charakteristisch sind. Aber sie sind offensichtlich nicht ausreichend. In der Analyse des Populismus wird zu Recht auch auf den Begriff der Ideologie zurückgegriffen, der in den vergangenen Jahrzehnten in Ansätzen der kritischen Gesellschaftstheorie eher ein Schattendasein gefristet hat und hinter Konzepten wie Diskurs, Legitimation, Hegemonie, Mentalität, Deutung, Habitus, symbolische Gewalt, Frame oder Narration zurückstand. Allerdings gibt es eine Tendenz, Ideologie auf das Denken einer politischen Strömung oder eine Weltanschauung zu reduzieren: »An ideology is a body of normative ideas about the nature of man and society as well as the organization and purposes of society. Simply stated, it is a view of how the world is and should be. Unlike ›thick-centered‹ or ›full‹ ideologies (e.g., fascism, liberalism, socialism), thin-centered ideologies such as populism have a restricted morphology, which necessarily appears attached to—and sometimes is even assimilated into—other ideologies.« (Mudde/Kaltwasser 2017: 6)

Ideologie ist ein zentraler Begriff, um bürgerliche und autoritäre Praktiken zu charakterisieren. Dieser Begriff war historisch mit der Problematik der richtigen Erkenntnis verbunden, da Ideologie einen Zwischenbereich zwischen der Lüge, der falschen Behauptung, der Täuschung, der Illusion auf der einen Seite und der Wahrheit und richtigen Einsicht auf der anderen Seite bezeichnet. Kritik der Ideologie war mit der Erwartung der Aufklärung verbunden. Bezeichnete man eine Äußerung, einen Zeitungsartikel, ein Buch, eine politische Praxis als ideologisch, so war damit auch der Anspruch verbunden, es sollte zu richtiger Erkenntnis und Veränderung des Verhaltens kommen. Schon die Vertreter der Kritischen Theorie mussten in den 1940er Jahren feststellen, dass die Ideologiekritik gegenüber vielen Mei-

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nungsäußerungen hilflos war. Die Inanspruchnahme von Wahrheit hatte jene Macht eingebüßt, die ihr die Aufklärung zuerkannt hatte. Die Individuen blieben in ihren Überzeugungen verschlossen und konnten vernünftige, realitätshaltige Argumente und theoretische Einsichten psychodynamisch nicht positiv besetzen. »Die Klugheit, die in der Welt aufgewandt wird, um narzißtisch Unsinn zu verteidigen, reichte wahrscheinlich aus, das Verteidigte zu verändern. Vernunft im Dienst der Unvernunft […] springt der Meinung bei und verhärtet sie so, daß sich weder mehr daran rühren läßt, noch ihre Absurdität offenbar wird. Über den aberwitzigsten Meinungen wurden erhabene Lehrgebäude errichtet. […] Überhaupt eine Meinung haben, urteilen, dichtet sich schon in gewissem Maß gegen die Erfahrung ab und tendiert zum Wahn, während andererseits doch nur der zum Urteil Fähige Vernunft hat: das ist vielleicht der tiefste und untilgbare Widerspruch im Meinen.« (Adorno 1977a [1961]: 576)

Bürgerliche Medien oder der autoritäre Populismus wehren heute Ideologiekritik nicht mehr ab mit dem Argument, dass die Ideologiekritiker für sich eine privilegierte Erkenntnis- und Sprecherposition beanspruchten. Auch wird nicht mehr im neutralen Sinn von Ideologie zur Kennzeichnung von politischen Strömungen gesprochen. Vielmehr nehmen sie in Anspruch, selbst Ideologiekritik zu praktizieren. Gerade also die kritische Theorie, die Genderstudies oder der Antirassismus gelten dann als ideologisch. Kritisiert wird auf diese Weise, dass Minderheiten mit ausdrücklichem Bezug auf ihre besonderen Erfahrungen und Interessen das Leben der Mehrheit in Frage stellen, das ausgrenzt, verletzt, gewalttätig ist. Die Aneignung des Ideologiebegriffs durch diejenigen, die die herrschenden Verhältnisse verteidigen und propagieren, verkehrt den Begriff der Ideologie ins Gegenteil, wenn sie Minderheiten vorwerfen, nur partikulare Vorstelllungen durchsetzen zu wollen. Doch Ideologiekritik meint jene Praxis, durch die diejenigen, die einer Allgemeinheit unterworfen und subsumiert werden, diese als den Partikularismus einer besonderen Gruppe dechiffrieren und denunzieren. Das Ziel des folgenden Textes ist es, unter Rückgriff auf die Theorien von Theodor W. Adorno, Louis Althusser und Antonio Gramsci modellartig einige Bausteine eines anspruchsvolleren Ideologiebegriffs herauszuarbeiten, der den eigentümlichen Gegenstand ins Auge zu fassen hilft, mit dem wir es neben der Lüge und der Wahrheit zu tun haben. Ideologie soll demnach nicht unter dem Blickwinkel verstellter Erkenntnis betrachtet, sondern als eine Regierungstechnik verstanden werden, die es erlaubt, Herrschaft

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auszuüben, indem Wahrheit und ihr Status selbst zum Gegenstand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gemacht werden.

1. Die Historizität der Ideologie und die Entdeckung der Ideologiekritik: Karl Marx Ideologie ist ein spezifisch modernes, kapitalistisch-bürgerliches Phänomen. Sie tritt auf, nachdem Religion ihre Bedeutung als allgemeiner und Alltagsdenken und -praktiken vielfach prägender Sinnhorizont verloren hat und Vernunft, evidenzbasiertes, überprüfbares Wissen und öffentliches Räsonieren – also eine innerweltliche Macht der Wahrheit – für das kollektive Handeln verbindlich geworden sind. Der Begriff der Ideologie will zum Verständnis einer Eigentümlichkeit beitragen, die spezifisch modern ist und zur kapitalistischen Vergesellschaftung dazu gehört: dass es zwischen verallgemeinerbarem Wissen, das als »wahr« gelten kann, und der Lüge und Täuschung einen breiten Bereich von Ansichten, Überzeugungen, Denkweisen oder Meinungen gibt, die weder ganz falsch noch ganz richtig sind, in denen sich vielmehr Wahres und Unwahres verschränken – die aber insofern wahr sind, als sie auch noch in ihrer Falschheit nicht willkürlich, sondern mit objektiver Notwendigkeit auftreten und sich nicht mit theoretischen Argumenten oder empirischen Beweisen erledigen und aus der Welt schaffen lassen (vgl. Adorno 1972a [1954]: 465). Angesichts von Ideologie nutzt besseres Wissen nichts. Es handelt sich nicht nur um diese oder jene Meinungsäußerung oder geronnene Überzeugung, die aufgrund von Einsicht auch korrigiert oder fallen gelassen werden könnte, sondern um beharrliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, um Einstellungen, die, wie Konventionalismus, Stereotypie oder Anti-Intrazeption, psychologisch beschrieben werden können, und um eigensinnige Gewohnheiten. Diese öffentlich oder privat geäußerten Meinungen und Überzeugungen, die vielfach zusammenhangslos, selbstwidersprüchlich oder sachfremd, jedoch häufig emotional und moralisch stark besetzt sind, folgen einer bestimmten Anordnung. Sie gehören besonderen ideologischen Formen und Redegenres an: wie Religion, Recht, Politik-Staat, Kunst, Moral und Ethik, Medizin-Ernährung-Sport oder Familie-Erotik, Mode-Wohnen. In allen diesen Fällen erweist es sich, dass die Erwartung, Menschen würden sich an rationalen Einsichten orientieren und sich an Wahrheit binden, nicht

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zutrifft. Auf umfassende Argumente reagieren Ideologien – wie zwei Beispiele zeigen – flexibel: 1) Obwohl es Gott nicht gibt, glauben Menschen an ihn, richten ihren Alltag an diesem Glauben aus und geben Institutionen moralische Autorität über sich, die sie unzählige Male enttäuscht und verraten haben. Auf die Religionskritik reagieren viele, indem sie auf aufgeklärtere, also weniger anthropomorphe Gottesvorstellungen ausweichen und ihre religiösen Überzeugungen durch spirituelle Praktiken der Meditation, des Zwiegesprächs mit Verstorbenen oder den Glauben an kosmische Kräfte ersetzen. 2) Auf die starken Tabus, die auf Ideologemen des Rassismus und Antisemitismus liegen, reagiert die rassistische Ideologie mit einer Verschiebung vom biologischen hin zum kulturellen Rassismus, nicht körperliche Merkmale werden biologistisch kodiert und als Hinweis auf die Existenz von Rassen gedeutet, sondern kulturelle Muster, die als Hinweise auf eine biologische Determination von Individuen oder Gesellschaften verstanden werden. Für das Verständnis von Ideologie ist von Bedeutung, dass Ideologie nicht in einem direkten Gegensatz und Ausschließungsverhältnis zu empirischer Evidenz, vernünftigen Argumenten oder wissenschaftlichem Wissen steht. Vielmehr können Tatsachenbehauptungen oder wissenschaftliche Argumente selbst ideologisch werden. »Unwahr werden eigentliche Ideologien erst durch ihr Verhältnis zu der bestehenden Wirklichkeit. Sie können ›an sich‹ wahr sein, so wie die Ideen Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit es sind, aber sie gebärden sich, als wären sie bereits realisiert.« (Adorno 1972a [1954]: 473)

In Ideologien steckt ein rationales Moment, ein Wahrheitsgehalt, weil die Menschen in der Form der ideologischen Unterordnung unter diejenigen, die Herrschaft ausüben und die gesellschaftliche Arbeitsteilung kommandieren, sich selbst erhalten und ihr Leben organisieren. Ihre Begriffe und die Dinge, Bewusstsein und Sein scheinen eine Einheit zu bilden. Dies kann zur Frage führen, ob es sinnvoll ist, von Ideologie zu sprechen, wenn es sich, wie im Fall des Nationalsozialismus, um eine wahnhafte und ganz und gar destruktive Weltanschauung handelt, und ob der Kapitalismus nicht aus seiner inneren Dynamik heraus in ein postideologisches Zeitalter eintritt, wenn er mit den Mitteln der Reichtumserzeugung die Zerstörung der Gattung selbst ermöglicht. Im Gedankengut des Nationalsozialismus jedenfalls spiegele sich, so Adorno (1972a [1954]: 465 u. 468), kein objektiver Geist mehr wider, es sei nur Herrschaftsmittel, Propaganda; Wahrheit sei nur noch Funktion sich durchsetzender Macht, kein notwendig falsches Bewusstsein,

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keine Ideologie mehr. Für Adorno ist die Tatsache, dass die Menschheit dem Stand der Produktivkräfte nach längst im Paradies leben könnte (Adorno 1972b [1970]: 55), ein Hinweis darauf, dass Ideologie objektiv ihre Funktion verloren hat und in Manipulation und Terror übergegangen ist. Doch gibt es gute Gründe – auch mit und gegen Adorno, der nicht immer konsequent war (vgl. Adorno 1975 [1955]: 287; Adorno 1977b [1964]: 501) –, am Begriff der Ideologie festzuhalten, um Veränderungen auf dem Gebiet ideologischer Herrschaft nicht aus dem Blick zu verlieren. Das eigenartige Phänomen der Ideologie verweist auf das Scheitern der Aufklärung unter bürgerlichen Verhältnissen. Erklärungsbedürftig ist für die kritische Gesellschaftstheorie jene widersprüchliche Bewegung, dass zusammen mit Aufklärung und Wissenschaft gleichzeitig Ideologie entsteht, die als das »Andere« der Wissenschaft auftritt und ihr nicht nur beharrlich zu widerstehen vermag, sondern sich auf erweiterter Stufenleiter reproduziert. Für die Gruppe der »Idéologues« im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert war das Ideologieproblem ein erkenntnistheoretisch-naturwissenschaftliches. Sie versuchten, den Fortbestand falscher Repräsentationen mit körperlichen Prozessen zu erklären. Demgegenüber bestand die besondere Originalität von Marx darin, anschließend an die französischen Frühaufklärer für ein gesellschaftstheoretisches Verständnis von Ideologie zu argumentieren. Nach dem Verständnis von Marx und Engels bringen sich Menschen in die Position von Herrschenden nicht nur durch die von ihnen ausgeübte Kontrolle über die Produktionsmittel und das Mehrprodukt oder durch physische Gewalt, sondern auch durch kulturelle Praktiken. Die Herrschenden haben Bewusstsein und sie denken; sie verallgemeinern ihr Denken und herrschen unter anderem auch als Denkende, sie regeln die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit. »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.« (Marx/ Engels 1969 [1845]: 46)

Die ideologische Herrschaft besteht demnach darin, dass es den Herrschenden gelingt, die Unterworfenen auch noch hinsichtlich ihres Denkens, ihrer Gefühle, der Art und Weise, wie sie die Welt sehen und darüber reden, zu beherrschen, indem sie ihnen eine Arbeitsteilung von körperlicher und geis-

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tiger Arbeit aufzwingen, die ihnen den Zugang zu den Begriffen und Gefühlen und deren Ausarbeitung, Differenzierung und Verfeinerung aus dem Blickwinkel einer emanzipierten Kooperation erschwert und verunmöglicht. Welche Herrschaft könnte vollkommener sein als diejenige, unter der die Beherrschten nicht einmal mehr wissen, dass sie beherrscht werden? Doch diese Tendenz zur vollkommenen Herrschaft wird durch eine Gegentendenz gebrochen. Denn mit den kapitalistischen Verhältnissen, die auf umfassender arbeitsteiliger Kooperation, beruflicher Qualifikation und Verwissenschaftlichung beruhen, wird für die Subalternen weltgeschichtlich auch die Herrschaft erkennbar. Zwar nehmen sie nicht an den entwickelten Begriffen und Gefühlen teil, aber sie sind auch nicht mehr von Bildung überhaupt abgeschnitten. Durch die Kritik der Ideologie hindurch besteht die Möglichkeit der Veränderung der Verhältnisse. Es gibt einen weiteren Grund für die grundsätzliche Erkennbarkeit von Herrschaft. Nach Marx und Engels, die dabei die Ereignisse während der Französischen Revolution vor Augen hatten, steckt das spezifisch ideologische Moment dort, wo eine besondere Klasse in Anspruch nimmt, das Ganze zu repräsentieren und das konkrete Vorhandensein anderer Lebens, Denk- und Erfahrungsweisen, in der Konsequenz: anderer Welten ausgrenzt. Von diesem Moment an wird es für die kapitalistisch bestimmte Gesellschaft charakteristisch, dass Praktiken der Macht, der Herrschaft, der Aneignung von Arbeit anderer nicht im Namen eines partikularen Interesses ausgeübt werden, sondern sie die Form der Allgemeinheit und des Gemeinwohls annehmen. Solche Praktiken lassen sich vielfach beobachten: Unternehmen fordern bestimmte politische Maßnahmen und Gesetze nicht im Namen des Gewinns, sondern der Arbeitsplätze oder des allgemeinen Wohlstands; Banken werden nicht gerettet, um Aktionäre zufrieden zu stellen, sondern um Gesichtspunkten der »Systemrelevanz« Rechnung zu tragen und die Märkte zu beruhigen. Lohnerhöhungen werden nicht allein deswegen gefordert, damit Arbeiter*innen ein höheres Einkommen erzielen und sich einen höheren Anteil vom Mehrprodukt aneignen, das ohnehin von ihnen erzeugt wird, sondern sie werden im Namen der volkswirtschaftlichen Perspektiven begründet: mehr Nachfrage, höhere Steuern, Zusammenhalt der Gesellschaft. Da Herrschaft im Namen der Allgemeinheit ausgeübt wird, ist sie seit den paradigmatischen Auseinandersetzungen während der Französischen Revolution von Ideologiekritik begleitet. Denn ständig müssen die verschiedenen Gruppen und Klassen darum kämpfen, wer auf welche Weise das Allgemeine definiert; es müssen sich Interessen und Interessengruppen

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bilden, die feststellen, dass sie von jeweiligen allgemeinverbindlichen Regelungen übergangen, ihre Interessen verletzt werden oder dass sie ein Interesse haben, von dem sie zuvor nichts wussten. Marx fasst unter Ideologiekritik jedoch nicht nur die Zurückweisung eines falschen Allgemeinheitsanspruchs. Vielmehr geht es ihm um eine Kritik an den Erkenntniskategorien selbst. Doch sollte dies nicht erkenntnistheoretisch missverstanden werden. Es geht nicht darum, Menschen die richtige Einsicht über die wirklichen Verhältnisse entgegenzuhalten, ihnen also vor Augen zu führen, dass sie sich falsche Vorstellungen von der Welt und sich selbst machen. Darin steckt rationalistisch die Konsequenz, nicht weiter an falsche Allgemeinheiten zu glauben und falschen Praktiken zu folgen. Unterstellt wird ein bestimmtes Modell des Handelns, wonach sich Individuen von Werten, Normen oder Rechtfertigungen leiten lassen, ihre Praktiken sich also ändern würden, wenn sie diese nicht mehr rechtfertigen können. Doch so einfach ist das den Überlegungen von Marx zufolge spätestens seit der »Deutschen Ideologie« nicht. Denn die herrschenden Gedanken, die die Gedanken der Herrschenden sind, werden von diesen nicht zynisch gefasst. Sie können sich nicht einfach entscheiden, anders zu denken als sie denken. Ihr Denken und Fühlen sind ihnen nicht äußerlich, sie haben keine Wahl, vielmehr müssen sie als Herrschende, auf diese bestimmte Weise und gerade diese Gedanken denken – andernfalls wären sie nicht herrschend. »Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.« (Marx/Engels 1969 [1845]: 46)

Die Gedanken der Herrschenden gehören zu der von ihnen organisierten und beherrschten Wirklichkeit, weil ohne ihr Denken als eine bestimmte Form der ideologischen Praktiken diese gesellschaftliche Wirklichkeit nicht möglich wäre. Sie organisieren den gesellschaftlichen Prozess derart, dass alle Akteure sich an einer verbindlich festgelegten Allgemeinheit ausrichten müssen und deswegen diese Allgemeinheit auch immer wieder zur Kritik gestellt werden muss. Im bürgerlichen Lager kommt es also ständig zu Streit um die Allgemeinheit der Repräsentation der Welt. Die Bourgeoisie kann deswegen sich selbst und den Herrschaftsunterworfenen nicht ein feststehendes Glaubenssystem oktroyieren. Die Herrschenden denken mit Notwendigkeit entsprechend ihren Verhältnissen, das geschieht in allgemeinen Kategorien, die ständig umkämpft sind. Als Beherrschte nehmen die Subal-

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ternen am bürgerlichen Meinungsstreit teil, können die Allgemeinheit einer Repräsentation bestreiten und damit eine bestimmte Fraktion der Herrschenden unterstützen. Doch sind die Beherrschten, wie es in der »Deutschen Ideologie« heißt, nur im Durchschnitt den Gedanken der Herrschenden unterworfen. Sie können die begriffliche Ordnung, die herrschende Arbeitsteilung, die Herrschaft, den Kampf zwischen partikularen und allgemeinen Interessen selbst bestreiten. Es entsteht demnach ein Raum für Ideologiekritik, für hegemoniale Auseinandersetzungen, begriffliche Erkenntnis und einen grundlegenden Streit. Diese Möglichkeit kann durch ein zweites Missverständnis hinsichtlich der Ideologiekritik verstellt werden. Denn sie kann so verstanden werden, als ob die Kritik sich auf eine »Objektivität« dort draußen berufen kann, auf eine unverstellte Erkenntnis und ein wissenschaftliches Wissen, das als solches wahr und allgemein wäre, käme nicht Ideologie dazwischen. Unterstellt wird, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die über jenes wahre, weil für allgemeingültig gehaltene Wissen von der wirklichen Wirklichkeit verfügen und die anderen Menschen – würden sie sie damit konfrontieren – von der Falschheit ihrer Ansichten und Gewohnheiten leicht überzeugen könnten. Es wird der empiristische Eindruck vermittelt, als sei die Wirklichkeit, wenn Herrschaft beseitigt wäre, unmittelbar zugänglich und transparent – so, als sei diese nicht immer durch Begriffe und kollektiv geteilte Praktiken vermittelt. Das kann durchaus zu einer modernen Spielart des Philosophenkönigtums oder der Priesterherrschaft führen, also der Vorstellung, dass diejenigen mit privilegiertem Zugang zu Wissen und Wahrheit auch in Anspruch nehmen können, die Gesellschaft zu regieren, ihre Mitglieder zu erziehen und die allgemeine Richtung ihrer Entwicklung vorzugeben.

2. Theodor W. Adorno und der Wandel der Ideologie im Monopolkapitalismus Aber auch dann, wenn die Ideologiekritik keine autoritären Schlussfolgerungen zieht – und die ältere Kritische Theorie stellt sich gerade der Vormacht der vermeintlichen Objektivität entgegen –, entsteht noch ein drittes Problem. Es wird erwartet, dass die Überzeugungen, Meinungen und Werte, die Individuen vertreten, verursacht sind von ihren ökonomischen Lebensbedingungen. Entsprechend wird angenommen, dass Arbeiter aufgrund ihrer

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materiellen Lage auch ein bestimmtes Bewusstsein haben müssten. Dabei wird dann aber durchaus zirkulär unterstellt, dass dieses bestimmte Bewusstsein mit seinen Inhalten in diesen materiellen Bedingungen schon enthalten sein muss. Adorno macht diesen Gesichtspunkt durchaus stark: das Wesen muss erscheinen. Im Umkehrschluss bedeutet dies für ihn: erscheint das Wesen nicht, muss sich etwas Wesentliches geändert haben (vgl. Adorno 2008 [1964]: 84). Doch es ist offensichtlich, dass die ideologischen Prozesse in sich ungleichzeitig und widersprüchlich sein können: die Arbeitsprozesse und ihre Organisation, die Arbeitsteilung, die Qualifikation, die Stellung der Einzelnen im Betrieb, die Größe eines Betriebes, die gesellschaftliche Bedeutung der Produktion oder Dienstleistung, die betrieblichen Kampferfahrungen, die Gewerkschaft oder der Stadtteil- bzw. regionale Zusammenhang können schon zu vielen unterschiedlichen Ideologemen führen. Es handelt sich um hegemoniale Prozesse, in denen diese miteinander zu einer (in sich durchaus widersprüchlichen) Einheit verbunden werden. Diese Einheit kann sich ihrerseits durch weitere Ideologeme (Geschlecht, Rassismus, politische Orientierung) ergänzen und von diesen überdeterminiert werden. Aus dem Blickwinkel der Kritischen Theorie spielt zudem das Moment der Freiheit eine zentrale Rolle: Freiheit bedeutet gerade, dass die Menschen nicht durch den gesellschaftlich vermittelten Zwang zur Arbeit und nicht durch Ideologien bestimmt sind, sondern mit Vernunft über ihre Lebensverhältnisse entscheiden. Entsprechend vollzieht sich das Denken in objektiven Begriffen, die ihrerseits für die Praktiken und die Gestaltung der Verhältnisse verbindlich sind. War diese Freiheit historisch auf Wenige beschränkt und ein Privileg der Herrschenden, war Freiheit also immer ideologisch, weil kontaminiert mit den partikularen Interessen derjenigen, die über die Verhältnisse in ihrem Interesse verfügten, so ist allgemeine Freiheit als prinzipielle Möglichkeit in der Vernunft enthalten. Diese ist als die Art und Weise zu begreifen, wie Menschen ihre Kooperation miteinander organisieren und regeln: dies ermöglicht den Herrschaftsunterworfenen, zu jedem Zeitpunkt selbst frei zu handeln, die herrschende Arbeitsteilung nach vernünftigen Gesichtspunkten zur Disposition und damit die Unterordnung des Bewusstseins unter das Sein selbst in Frage zu stellen. Die Überlegung zum Erscheinen des Wesens ist folgenreich für Adornos Verständnis von Ideologie. Denn sie legt nahe, dass mit einem historisch wechselnden Verhältnis von Wesen und Erscheinung sich die Funktion der Ideologie in und mit der kapitalistischen Gesellschaft seit Ende des 18. Jahr-

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hunderts verändert hat. Horkheimer und Adorno nehmen an, dass der von der bürgerlichen Klasse erhobene Anspruch auf Allgemeinheit in der liberalkapitalistischen Phase des 19. Jahrhunderts ideologiekritisch zurückgewiesen werden konnte, da der Partikularismus des Bürgertums offensichtlich war. Die Ideologie – also Philosophie, Kunst oder Recht – konnte kritisiert werden unter Bezug auf den von ihr erhobenen Wahrheits- und Allgemeinheitsanspruch. Dieser bestand in der von den Herrschenden vorgebrachten Behauptung, dass die Menschen ihre Selbsterhaltung nur sicherten, indem sie sich der Arbeitsteilung unterordneten, in der eben die Herrschenden die Herrschenden waren, das Kommando über die Arbeit führten und die Privilegien genossen. Kritik am Partikularismus setzte die Herrschenden in dieser Phase ihrer Herrschaft unter Druck und drängte sie zur Rechtfertigung ihres Handelns: »Ideologie ist Rechtfertigung« (Adorno 1972a [1954]: 465). Ideologie war nicht nur Herrschaft, sondern enthält Momente von Vernunft und Freiheit. So erlangte sie ein gewisses Maß an Autonomie und Eigensinn. Damit verweist sie – ausgestattet mit den Merkmalen des Allgemeinen und des Privilegs geistiger Arbeit – auf jene Wirklichkeit als jenes aus dem Blick genommene Andere zurück, das durch Unterordnung, Anstrengung körperlicher Arbeit, Verzicht auf Glück und Genuss sowie die egoistischen Interessen der Einzelnen bestimmt ist. Ideologisch ist für Adorno nicht das Denken, der Begriff, sondern die Behauptung seiner Selbständigkeit, die Verleugnung seines gesellschaftlichen Grundes (vgl. Adorno 1972a [1954]: 474). In der Gesellschaft wurde demnach durch Ideologie eine Art semiologische Distanz zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat, zwischen kulturellen Repräsentationen und ökonomischer Existenz markiert – jene gingen in diesen gerade deswegen nicht auf, weil sie auf diese hinwiesen als das Andere der Kultur, das aus Not, Unfreiheit, Mühsal, Partikularität bestand. Diese Konstellation änderte sich jedoch, Adorno zufolge, in den 1920er Jahren mit der Herausbildung des Monopolkapitals und der Kulturindustrie. Kleine Gruppen von Mächtigen gestalteten nun die gesellschaftlichen Verhältnisse derart umfassend, dass die partikulare Herrschaft tatsächlich durchdringenden, allgemeinen Charakter annahm. Ein Abstand der Ideologie zur Wirklichkeit erschien Adorno nicht mehr möglich. Er beobachtet eine Gesteinsverschiebung in den Tiefenstrukturen der Gesellschaft. Diese Verschiebungen reichten bis in die »subtilsten immanenten Probleme des Bewußtseins und der geistigen Gestaltung hinein« (Adorno 1972a [1954]: 474). Sie sind das Ergebnis einer Ausdehnung des Herrschafts- und

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Kapitalverhältnisses auch auf das Bewusstsein vermittels der Kulturindustrie. Diese ergreift die kulturellen Artefakte durch die Warenform und setzt sie in Wert. Kulturelle Werke (Film, Schlager, Bekleidungsmode, Design, Architektur) werden von der Kulturindustrie systematisch und arbeitsteilig erzeugt, um den von der Markt- und Konsumforschung erhobenen Bedarf zu befriedigen. Der schlichteste Schund werde von den Verfügenden mit technischen Notwendigkeiten der Herstellung und den Bedürfnissen der Kunden gerechtfertigt. »Die Standards seien ursprünglich aus den Bedürfnissen der Konsumenten hervorgegangen: daher würden sie so widerstandslos akzeptiert. In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt.« (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 145)

Die Kultur wird zum System, in dem alles aufeinander verweist und Werbung füreinander macht. Auf diese Weise wird das Bewusstsein der einzelnen umfassend erfasst, umstellt und durchdrungen. Der Schematismus der Kulturindustrie organisiert die Wahrnehmung: »Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet.« (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 150, vgl. ebd.: 149) Ideologie kann demnach nicht mehr als Rechtfertigung begriffen werden. Die soziologische Kategorie der Legitimation erweist sich als unzulänglich, um diese neue Phase des Ideologischen zu begreifen. Denn es geht hier nicht um Rechtfertigung nach juridischen, moralischen oder wissenschaftlichen Maßstäben, da Ideologie den gesamten Kategorienapparat umfasst, der den Individuen zur Verfügung steht und damit auch ihr Selbstverständnis bestimmt. Sie müssen sich als Freie und Gleiche, als vereinzelte Individuen verstehen, die sich durch ein Drittes vermittelt in ein Verhältnis zueinander setzen: Gott, Geld, Staat, Nation, Rasse, Ethnie, Recht, Moral. Das Verhältnis der Menschen zu sich und anderen konstituiert ein Subjekt, das als gleiches und freies Individuum einen Willen hat und für sein Handeln Verantwortung trägt, das es rechtfertigen, begründen, erklären oder verantworten können muss. Legitimation ist aus diesem Blickwinkel selbst noch eine interne Praxis der Ideologie. Immanente Kritik reicht deswegen nicht mehr hin, da sie Gefahr läuft, herrschende Maßstäbe zu bestätigen. Das häufig vorgebrachte Argument, es handele sich bei Horkheimers und Adornos Kritik an der Kulturindustrie um eine elitäre Sicht, ist nicht haltbar. Denn sie stellen sich der konservativ-elitären Deutung von »Massenkultur« ausdrücklich entgegen (vgl. Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 144f.). Auch die hohe Kunst wird ihnen zu Folge in eine besondere

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Sparte der kulturindustriellen Produktion und Verwertung verwandelt – wie der Kunstmarkt, der Kunst zur Geldanlage macht, der Musikbetrieb mit seinen Stardirigenten oder die Filmbranche, die mit den Produktionskosten, dem technischen Aufwand und Honoraren der Schauspieler Macht demonstriert. Es wird auch eingewandt, dass die kulturindustriellen Produkte in ihrer Funktion nicht aufgingen (vgl. Bromley u.a. 1999). Nicht nur sei die klassische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts schon am Markt orientiert gewesen, auch in der kulturindustriellen Produktion von Film oder Musik könne es zu Dissens, Protest, Kritik, Abweichung kommen. Horkheimer und Adorno würden dies nicht bestreiten; sie verweisen selbst auf den affirmativen Charakter der Hochkultur. Doch beobachten sie eine Veränderung der Kritik und argumentieren, dass die Kulturindustrie gerade ein Absorptionsmechanismus ist, der immer wieder neu entstehende Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft – oder den gegen die spürbare Statik und Blockade gerichteten Impuls, etwas Neues, Anderes zu versuchen – in eine kulturelle Praxis verwandelt. Denjenigen, die sie äußern, wird auf dem Kanal der Kulturindustrie die Möglichkeit gegeben, ohne tiefer gehende Störung kapitalverwertender Prozesse, Unzufriedenheit in Aufstieg zu verwandeln. Man denke an die Hundertausenden Jugendlichen, die hoffen, ihren Lebensverhältnissen zu entfliehen, indem sie Sportkarrieren verfolgen, an Fotoshootings oder Castings teilnehmen, Musikbands gründen oder sich um Auftritte in »Deutschland sucht den Superstar«, »Voice of Germany«, »Dschungelcamp« bewerben. »Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat. Die Öffentlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft läßt es zu keiner vernehmbaren Anklage kommen, an deren Ton die Hellhörigen nicht schon die Prominenz witterten, in deren Zeichen der Empörte sich mit ihnen aussöhnt.« (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 156; vgl. Demirović 2002) Der Betrieb der Kulturindustrie wird durch ständige rebellische Veränderung, Schrillheit, verschrobene Originalitätshascherei aufrechterhalten. Alles ändern, damit alles bleibt wie es ist – diese Formel für Transformismus wird von der Kulturindustrie auf Dauer gestellt: ein Experimentierfeld, das den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft schützt, indem es erst einmal auf kulturellem Gebiet ständige Experimente mit Neuem anstößt, den Radius der Wirksamkeit aber kontrolliert. Das eigentlich Neue an den Überlegungen von Horkheimer und Adorno war zu jenem Zeitpunkt, dass sie mit ihrer Analyse den Ideologiebegriff enorm ausdehnten. Denn bei Ideologie handelt es sich nicht mehr allein um

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»Gedanken«, Bewusstsein, mentale Vorgänge, Überzeugungen, legitimierende Argumente oder Normen. Mit und durch die Kulturindustrie wird der Bereich der Freizeit geschaffen. Die Subordination findet nicht mehr allein in der Arbeitssphäre statt oder durch volksschulische Erziehung oder kirchliche Moralbelehrung. Es wird die gesamte freie Zeit dem Kapitalverhältnis untergeordnet und organisiert. Die Löhne, die die Arbeiter erzielen, geben sie dann zu einem Teil wieder für Freizeitkonsum aus: Tourismus, Sport, Magazine, Wochenendvergnügen, Kinobesuch, modische Kleidung oder Kosmetik, Schallplatten, DVD oder Streamingdienste – und für das entsprechende technische Zubehör: Auto, Kamera, Diaprojektor, Mobiltelefon. Durch die Kulturindustrie werden die Menschen beschäftigt, sie nimmt enorme Anteile ihrer Lebenszeit und ihrer Revenuen in Anspruch. Sie lassen sich von der Kulturindustrie führen und überlassen ihr weitgehend die Organisation des Alltags. Dies verhindert auf entscheidende Weise, dass sie in dieser Zeit anderes tun: sich intellektuell-begrifflich auf die Höhe der Zeit bringen, die Gesellschaft erfahren und ihre Lebensverhältnisse demgemäß grundlegend ändern. Die Kulturindustrie deformiert den Bildungsprozess zur Halbbildung, weil viele ihrer Produkte nicht nur enorm viel Lebenszeit konsumieren, sondern auch die intellektuellen Maßstäbe verschieben. In Radio und Fernsehen finden keine reziproken Kommunikationen statt. An den Filmen oder der Musik sind weniger die inhaltlichen und ästhetischen Aspekte von Bedeutung. Relevant werden sie als Demonstration von Macht und Konformismus: Zahl der verkauften Schallplatten, Zahl der Kinobesucher*innen, Kosten der Produktion, technischer Aufwand. Die Möglichkeiten, die das Internet für reziproke Diskussionen im Prinzip bietet, werden von privaten Plattformen usurpiert, um damit zur politischen Kontrolle beizutragen und Werbung zu ermöglichen. Die Dynamiken, die Horkheimer und Adorno schon beobachtet haben, intensivieren und beschleunigen sich. Darüber hinaus geht es seit den 1990er Jahren nicht mehr darum, dass Individuen mehr oder weniger bereitwillig als Konsument*innen passiv teilhaben und sich folgebereit zeigen (»Berieselung« und Manipulation durch Radio und Fernsehen oder Influencer in den social media). Jetzt nehmen die Individuen selbst aktiv Anteil, indem sie twittern, posten, klicken, kommentieren, liken, teilen, followen, Emails beantworten oder simsen, Youtube-Videos anschauen oder Computerspiele spielen. Diese Aktivitäten nehmen Stunden des Tages in Anspruch. Was früher von der Marktforschung mühsam erfragt werden musste, wird von den Plattformbetreibern wie Google oder Amazon, Telekommunikationsunternehmen

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und Data Mining unmittelbar erfasst und nach Präferenzen von Zielgruppen oder Einzelnen gestaltet. Zu jedem Moment verbunden zu sein, wird ein Muss, ein Leben ohne Smartphone und social media ist nicht nur beinahe unvorstellbar, sondern auch im materiellen Sinn unmöglich geworden, weil es sich um eine neue Stufe der Vergesellschaftung handelt und die Individuen mit so vielen ihrer Aktivitäten und sozialen Beziehungen in diese technischen Apparaturen eingebunden sind. Aufmerksamkeit erregen, die Menschen in ständigen kommunikativen Aktivismus verwickeln, sie konsumistisch beschäftigen, wird zu einer Technik, die Menschen zu führen. Als privat geltende Freizeitaktivitäten (Shopping, Sport, Autofahren) und Überwachung gehen unmittelbar zusammen. Regierungsstellen, soziale Medien und Unternehmen bringen die Menschen dazu, »uns selbst und alles, was wir tun, der regierungsseitigen Überwachung preiszugeben, während es gleichzeitig unserer Ablenkung und Unterhaltung dient. Alle Arten sozialer Medien und des Reality-Fernsehens nehmen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch und lenken sie ab, was uns dazu bringt, kostenlos unsere Daten preiszugeben […], um damit die neuen Algorithmen der Händler und der Geheimdienste zu füttern« (Harcourt 2019: 276). Was sich also mit der Kulturindustrie geändert hat, ist – Horkheimer und Adorno zufolge – die Form der ideologischen Herrschaft: sie bestimmt nicht mehr gleichsam von außen, was die Individuen denken, worüber sie sprechen, auf welche Weise ihre intellektuellen Fähigkeiten sich in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung entwickeln bzw. nicht entwickeln können; vielmehr organisiert sie die alltägliche Lebensweise, die Gewohnheiten, die Denk- und Erfahrungskategorien. Das ist es, was Adorno mit der Gesteinsverschiebung bezeichnet: die Lebensweise selbst wird zur sich stumm vollziehenden Ideologie. »Der Schein wäre auf die Formel zu bringen, daß alles gesellschaftlich Daseiende heute so vollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Moment der Vermittlung durch seine Totalität verstellt ist« (Adorno 1972c [1968]: 369). Der Schein wird nicht mehr gebrochen durch ein falsches, aber vermittelndes Bewusstsein, durch Kultur als einem getrennten Bereich, durch Sprache, die etwas meint und dadurch in einem Verhältnis der Distanz zur Wirklichkeit steht. Ideologie im Sinne von falschem Bewusstsein gebe es nicht mehr (Adorno 1977c [1949]: 29), sie gehe über in Reklame und totalitäre Parolen (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 194). Ideologie fungiere als Instrument der Beherrschung, sie »wird zur nachdrücklichen Verkündigung dessen, was ist. Kulturindustrie hat die Tendenz, sich zum Inbegriff von

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Protokollsätzen zu machen und eben dadurch zum unwiderlegbaren Propheten des Bestehenden. Zwischen den Klippen der nennbaren Fehlinformation und der offenbaren Wahrheit windet sie sich meisterlich hindurch, indem sie getreu die Erscheinung wiederholt, durch deren Dichte die Einsicht versperrt und die bruchlos allgegenwärtige Erscheinung als Ideal installiert wird« (Horkheimer/Adorno 1987 [1947]: 174). Manche Überlegung wäre sicherlich schon mit Marx anzustellen gewesen, doch entscheidend ist die historische These, dass es zu einem Funktionswechsel der Ideologie und damit auch zu einer Veränderung des Ganzen der kapitalistischen Gesellschaftsformation kommt. Aus der Ideologie verschwinden die rationalen, wahrheitsfähigen Aspekte, sie tendiert zur Lüge und Propaganda, sie trägt dazu bei, dass irrationale psychologische Momente an Bedeutung gewinnen und das Verhalten und die Einstellungen der Individuen bestimmen. Die Triebdynamiken werden nicht mehr rationalisiert und affektiv an Wahrheit und Vernunft gebunden. Die Individuen orientieren sich deswegen an der Autorität des Gegebenen und konformieren. Das konkrete materielle Leben der Menschen, so wie es ist, erscheint als sinnvolle, geschichtslose und unveränderbare Wirklichkeit. Die semiologische Distanz zwischen dem Repräsentierten und dem Repräsentanten wird eingezogen, die Wirklichkeit wird zum Zeichen ihrer selbst. »Aber die finstere Einheitsgesellschaft duldet nicht einmal mehr jene relativ selbständigen, abgesetzten Momente, welche einst die Theorie der kausalen Abhängigkeit von Überbau und Unterbau meinte. In dem Freiluftgefängnis, zu dem die Welt wird, kommt es schon gar nicht mehr darauf an, was wovon abhängt, so sehr ist alles eins. Alle Phänomene starren wie Hoheitszeichen absoluter Herrschaft dessen was ist.« (Adorno 1977c [1949]: 29)

Der Begriff der Ideologie wird von Adorno nicht aufgegeben (wie Rehmann 2019: 665, 669, 679 vermutet), vielmehr wird am Begriff der Ideologie, der eine bürgerliche Herrschaftspraxis bezeichnet, eben deren Veränderung dechiffriert. Weil die Realität sich nicht mehr mit einer ideologischen Hülle umgibt, sondern zur Ideologie ihrer selbst wird (Adorno 1972a [1954]: 477), wird der kulturelle Überbau selbst Teil der Basis, diese nimmt als solche den Sinn in Anspruch, einen anderen als sie selbst in ihrem Vollzug soll es nicht mehr geben. Dies ändert auch die Sprecherposition der Kritischen Theorie. Horkheimer und Adorno legen nahe, dass Marx seine Kritik noch gleichsam aus einer externen Sicht formulieren konnte, weil die Arbeiterklasse sich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft befunden habe. Aufgrund der

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kapitalistischen Entwicklung und der Integration der Menschen gibt es ein solches Außen nicht mehr: »Die Ideologie, der gesellschaftlich notwendige Schein, ist heute die reale Gesellschaft selber, insofern deren integrale Macht und Unausweichlichkeit, ihr überwältigendes Dasein an sich, den Sinn surrogiert, welchen jenes Dasein ausgerottet hat. Die Wahl eines ihrem Bann entzogenen Standpunkts ist so fiktiv wie nur je die Konstruktion abstrakter Utopien.« (Adorno 1977c [1949]: 26; vgl. Adorno 1968: 369)

Wenn also Kritiker sich bemühen zu zeigen, dass die Sprecherposition von Horkheimer und Adorno aporetisch geworden sei, so würden sie dem sofort zustimmen, dies aber nicht als logischen Fehler oder politische Resignation verstehen, sondern als Hinweis auf die Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Kritik kann nicht mehr allein immanent verfahren und sich auf die bürgerlichen Begriffe als Maßstab stützen, sie muss dialektisch deren widersprüchlicher Bewegung folgen: Wenn die bürgerliche Gesellschaft nicht ihrem Begriff einer freien Assoziation von Subjekten entspricht, sondern der Tendenz nach in Totalität übergeht, die die Individuen integriert, dann reicht eine immanente Kritik nicht hin. »Eine befreite Menschheit wäre länger nicht Totalität.« (Adorno 1969: 292, 306) Die Kritik ist in dieser Denkbewegung bereits über diese Totalität hinaus und wird zu einer Kritik von außen (Adorno 1949: 28). Sie demonstriert durch die Denkbewegung selbst die Grenzen der Totalität. Diese ist weniger als das Ganze, sie erweist sich als bürgerliche Form, die in Anspruch nimmt, das Ganze zu repräsentieren. Die Kritik radikalisiert sich, weil sie nun auch auf die Klassenspaltung, die Trennung der Kultur vom materiellen Sein, die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit, die die Grundlage von Kritik selbst ist, zielt. Ideologiekritik geht aus der Immanenz über in Kultur- und Positivismuskritik, die aufgrund des Funktionswechsels der Ideologie als solche weit mehr als immanente Kritik von Geistigem zur Form der Kritik der Gesellschaft geworden ist – Gesellschaft, die sich in ihrer Gesamtheit als Ideologie, als »Spuk«, als »nichtiger Schein« erweist (Adorno 1954: 477), längst also schon überfällig ist.

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3. Ideologie als kohärente Weltauffassung bei Antonio Gramsci und die Formierung des Neoliberalismus Die Kritische Theorie ist in ihren Analysen zu der Einschätzung gelangt, wonach falsches Bewusstsein in ideologische Praktiken übergegangen ist. Dies wurde als eine historische Veränderung der Funktionsweise der Ideologie und der Gliederung der kapitalistischen Gesellschaft begriffen. Diese Veränderung in den Herrschaftsverhältnissen ist nicht umkehrbar, es wäre falsch, frühere Formen des Verhältnisses von materiellem Sein und Bewusstsein und entsprechende Formen der Kritik wieder herstellen zu wollen. Aber die Analyse kann auch nicht bei der historisch spezifischen Kritik der Kulturindustrie stehen bleiben. Die Gefahr dafür ist in der Kritischen Theorie groß, weil sie historische und logische Begriffe gleichsetzt: die theoretischen Begriffe werden nicht nur als logische Konzepte verstanden, die zur Analyse realer sozialer Prozesse entwickelt werden, sie halten nicht Distanz zum Realgegenstand der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern sie fusionieren mit gesellschaftlicher Physiognomik, sind also immer auch zeitdiagnostisch gemeint (vgl. Adorno/Jaerich 1972 [1968]: 186). Damit werden Begriffe wie Wert, Äquivalententausch, Kapital, Kulturindustrie oder Ideologie gleichgesetzt mit sozialen, sinnvermittelten Praktiken zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Parallel zur Kritischen Theorie fanden jedoch theoretische Bemühungen statt, die ebenfalls auf eine Erweiterung und Veränderung des kritischen Begriffsapparats zielten und helfen können, den Begriff der Ideologie in seiner kritischen Bedeutung zu vertiefen und weniger unmittelbar vom historischen Gang der kapitalistischen Entwicklungsdynamik abhängig zu machen. Zuerst möchte ich auf eine Überlegung Antonio Gramscis zu sprechen kommen, die das Verhältnis von Basis und Überbau betrifft und ermöglicht, das, was Adorno als »Hoheitszeichen« bezeichnet, als eine historisch spezifische Phase der bürgerlichen Ideologie zu begreifen. Anders gesagt: das Sein wird nicht selbst Ideologie, sondern es finden weiterhin ideologische Prozesse statt. Gramsci war wie Marx und Adorno der Überzeugung, dass die bürgerliche Klasse auch intellektuell aktiv ist (vgl. Gramsci 1996: 1497f.). Das muss sie sein, um den Produktionsapparat zu organisieren und jene Bedingungen zu schaffen, unter denen sie als ausbeutende und herrschende Klasse Kontinuität findet. Die Organisation des Produktionsapparats macht in der immer von Neuem reproduzierten Trennung der Kopf- von der Handarbeit eine Reihe von intellektuellen Funktionen notwendig, die die

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Kapitaleigentümer auf Dauer nicht alle selbst wahrnehmen können (Arbeitsorganisation, Buchhaltung, Recht, Wirtschafts-, Technik-, Produktentwicklung). Es wird also etwas geschaffen wie eine untere Ebene des Überbaus, auf der die bürgerliche Klasse ihr korporativ-egoistisches Interesse organisiert und sich ökonomisch-rechtlich-technisch koordiniert (vgl. Demirović 2007). Dies geschieht mittels wirtschaftlicher Verbände, technischer Gesellschaften oder Clubs und Vereinen. Hinzu kommt eine Vielzahl von kulturellen Praktiken und Institutionen wie Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Verlagen, Stiftungen, kulturelle Vereinigungen, Sportereignissen oder Preisverleihungen. Sie bilden die Zivilgesellschaft und tragen zur Verallgemeinerung besonderer Interessen zu einem Kollektivwillen der bürgerlichen Klasse bei. Dieser nimmt Gestalt an in politischen Parteien, die Interessen, Lebensformen und Zielen einer Gruppe Dauer geben, interne Konflikte moderieren und zur Bildung von Allianzen beitragen können. Die politischen Parteien bilden zusammen mit dem Parlament, Behörden und Agenturen, dem Lobbyismus, einem Kranz von Beratungseinrichtungen, dem Militär, den Polizeien und der Justiz die politische Gesellschaft, die die subalternen Klassen mit polizeilichen und rechtlichen Mitteln kontrolliert, erzieht, verwaltet und sich dabei auch auf zivilgesellschaftliche Institutionen wie die Medien, Kirche, Moralgesellschaften, Bildungsorganisationen oder Schulen stützt. Zur Herausbildung eines umfassenden Überbaus kommt es dort und insofern, als die bürgerliche Klasse den Subalternen Zugeständnisse macht und die großen, antagonistischen Lager dadurch eine verschränkte Weltsicht ausbilden. In ihr verallgemeinern sich Begriffe des Bürgertums mit denen der Arbeiter*innen, des Kleinbürgertums, der Kleinbauern und Landarbeiter*innen und nehmen (wie im Fall von »Freiheit«, »Gleichheit«, »Gerechtigkeit«, »Bildung« polyphone Bedeutungen an). Die Hegemonie hat jedoch die bürgerlichen Klasse inne, weil ihre Intellektuellen auch das Denken, das Fühlen der Subalternen bestimmen. Genauer noch: aufgrund der Trennung von Kopf- und Handarbeit bewirken die Intellektuellen mit ihrer Denk- und Arbeitsweise, dass sich die intellektuellen Fähigkeiten der Subalternen nicht kohärent ausbilden können. So kann das Denken und Fühlen der Arbeiter*innen in manchen Hinsichten ganz auf der historischen Höhe der Naturaneignung, Produktion, Technik, Ökonomie sein – während es sich in anderen Hinsichten auf dem Niveau von Höhlenmenschen bewegt (Gramsci 1994: 1376). Der Alltagsverstand der Subalternen ist demnach, aus Gramscis Sicht, bizarr, weil ganz ungleichzeitig zusammengesetzt. Gramsci unterscheidet diesen Alltagsverstand vom

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gesunden Menschenverstand oder der Philosophie, die den rationalen Gehalt des Alltagsverstands ausarbeitet, also die Leidenschaften und Egoismen in historische Notwendigkeit überleitet und ihnen eine bewusste Richtung verleiht. Erst auf dieser Stufe kommt es dann zur Ideologie als einer Weltauffassung, die mit einem Glauben und praktischen Aktivitäten verbunden ist und sich implizit in allen individuellen und kollektiven Lebensäußerungen manifestiert (Gramsci 1994: 1380) – also die Bereiche Kunst, Recht, Philosophie oder Wissenschaft durchzieht, sie als spezifische Formen konstituiert und verknüpft. In diesem Sinne begreift Gramsci – ähnlich wie Adorno – Ideologie als historisch rational. Die Einheit des historischen Blocks (also einer Allianz der Klassen oben und unten, des Verhältnisses von Menschen und Natur in diesem Klassenverhältnis, einer spezifischen Verbindung von Gefühl und Denken) wird »durch eben diese bestimmte Ideologie zementiert und vereinigt« (Gramsci 1994: 1380). Ideologie ist demnach eine historische Konstellation festgefügter Begriffe und Praktiken; die Begriffe sind nicht willkürlich, zufällig, sondern organisch mit diesen Praktiken verbunden und geben ihnen Dauer. Kritik der Ideologie bedeutet demnach nicht, zu einer wirklichen Wirklichkeit vorzudringen, die in ihrer Objektivität immer schon da wäre. Vielmehr zielt sie auf die Auflösung eines historischen Blocks mit all seinen Selbstverständlichkeiten durch die Nachweise, dass die Ideologie im praktischen Sinn inkohärent ist; und sie ist bestrebt, jene andere Welt der Beherrschten, die in die herrschende Wirklichkeit eingewebt ist oder von ihr verdrängt wurde, zur Geltung zu bringen – um von dort her, von der Wirklichkeit der ganzen gesellschaftlichen Arbeit her die Welt neu zu ordnen und die Arbeiten zu teilen. Dabei geht es dann nicht allein um den Anspruch auf ein besseres Wissen, das auch all die Erfahrungen und das Wissen von unten verkörpert, sondern um performatives Handeln – mit dem Ziel, einen anderen Kollektivwillen, einen anderen historischen Block herzustellen, in dessen Koordinaten jene Wissenspraktiken systematisch Berücksichtigung finden: also eine Erkenntnisrevolution. Aus Gramscis Sicht soll dieser neue historische Block es allen Subalternen ermöglichen, sich die intellektuellen Kompetenzen anzueignen, die erforderlich sind, das eigene Denken und Fühlen kohärent zu machen, so dass sie die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit, eine inkohärente (bürgerlich-rationalistische) Verbindung bzw. Trennung von Fühlen und Verstehen überwinden, sich also nicht länger regieren lassen. Für die bürgerliche Klasse ergibt sich, den Überlegungen Gramscis folgend, das schwierige Problem einer Balance: Sie muss ein großes Interesse

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daran haben, dass wenigstens ein Teil der Lohnabhängigen seine Arbeitskraft auf dem jeweiligen Niveau der Produktionsmittel formiert, gleichzeitig muss jedoch verhindert werden, dass diese Arbeitskräfte intellektuell autonom werden und sich dazu befähigen, aufgrund ihrer Arbeitserfahrungen und Kenntnisse die Produktions- und Verteilungsprozesse selbstbestimmt zu übernehmen und zu organisieren. Ein entfalteter Überbau wird notwendig, wenn es darum geht, intellektuelle Prozesse unter den Subalternen umfassend zu organisieren und sie gleichzeitig intellektuell zu enteignen, also die Entstehung eigener Kategorien von organischen Intellektuellen der Subalternen zu verhindern oder diese Kräfte zu absorbieren. Historisch wurde dies – der These von Horkheimer und Adorno zufolge – durch die Kulturindustrie ermöglicht. Doch sie ist ein untergeordneter Kreislauf der Kapitalverwertung und passiviert die Subalternen, qualifiziert sie also nicht, um im Konsens eigeninitiativ Funktionen des Produktionsprozesses zu vollziehen. Dies wird möglich durch eine breite Öffnung der Hochschulen, durch eine Erweiterung der Staatsaufgaben und den Ausbau des öffentlichen Dienstes, durch die enge Kooperation mit den Gewerkschaften und durch ein relativ hohes Niveau beruflicher Qualifikation und die Neuzusammensetzung der Elemente von körperlicher und geistiger Arbeit. Auf diese Weise entstanden neue ökonomische, politische und kulturelle Konsensmuster. Den Lohnabhängigen in den 1970er Jahren ermöglichte dies eine massive Infragestellung der fordistisch organisierten Industriearbeit, es entfalteten sich umfassende Bestrebungen zur Umwälzung der Produktionsverhältnisse (vgl. Boltanski/ Chiapello 2003: 211ff.). Der Ausbau der politisch-ideologischen Überbauten erwies sich für die Kapitalseite als politisch-kulturell gefährlich und ökonomisch sehr aufwendig, da mit der Ausweitung der Staatsfunktionen sehr viel Kapital und viele Arbeitskräfte der Verwertung entzogen waren, die Lohnkämpfe den verteilungsneutralen Spielraum herausforderten und sich gleichzeitig viele Möglichkeiten der intellektuellen Qualifikation der Lohnarbeiter*innen und der Sozialkritik boten. Die bürgerliche Klasse vertrat angesichts verringerter Profitabilität, ökologischer Krisenprozesse und Infragestellung fordistischer Produktions- und Konsummuster offensiv ihr korporativ-egoistisches Klasseninteresse, indem sie einer neoliberalen Ideologie folgte, die es nicht nur erlaubt, die Überbauten zu verringern und entsprechende Aktivitäten in den Kapitalkreislauf zu integrieren (Privatisierung der Bildung, Stadtmarketing, Musik, Gesundheit, Politikberatung, Sport), sondern insgesamt und von Fall zu Fall nach seinen Notwendigkeiten, seiner Effizienz und seiner Effektivität zu überprüfen und zu nutzen. Man könnte

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in diesem Sinn sagen, dass das Verhältnis von Ökonomie und Ideologie in ein flexibles, ein »atmendes« Verhältnis umgebaut wurde. Neoliberalismus kann als eine Art flacher Überbau, als Ideologie der korporatistisch-egoistischen Praxis der bürgerlichen Klasse verstanden werden. Er ist demnach nicht einfach »nur« Ideologie, wenn damit gemeint ist, Neoliberalismus wäre eine Art oberflächliche Überzeugung, eine fragwürdige volkswirtschaftliche Lehre, die man angesichts vieler falscher Annahmen und fataler Konsequenzen auch einfach fallen lassen könnte, um zum wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus zurückzukehren. Er ist die Ideologie eines historischen Blocks, also ein Moment in der Selbstorganisation des Bürgertums und seiner Reproduktion. Erneut hat sich die kapitalistische Produktionsweise durch eine Neugliederung von Ökonomie und Ideologie erheblich geändert. Die bürgerliche Klasse zielt nicht mehr auf Hegemonie (wenn darunter mit Gramsci die Absorption von Intellektuellen der unteren Klassen verstanden wird, also: Gewerkschafter, Parteivertreter, Wissenschaftler, Publizisten). Sie reduziert Forderungen nach anderen sozialen Verhältnissen auf Identitätspolitik und gewährt allenfalls Teilen des Kleinbürgertums selektiv Konzessionen bei gleichzeitiger harscher Kritik an vermeintlicher »politischer Korrektheit« oder »Genderideologie«. Doch relevante, von den sozialen Bewegungen aufgebrachte Themen wie sinnvolle, selbstverwaltete Arbeit, nachhaltiger Konsum, energetische Erneuerung, Artensterben oder Recht auf den eigenen Körper werden marginalisiert oder langfristig verschleppt. Mit Blick auf die Lohnarbeit vollzieht die bürgerliche Klasse eine Trennung von den Subalternen: Unternehmen binden sich nicht an Tarife und verletzen Tarifvereinbarungen, verhindern Betriebsräte, lehnen Gewerkschaften und Absprachen mit ihnen ab, intensivieren den Arbeitsprozess, drücken Löhne und Standards, zwingen sie in private und öffentliche Verschuldung und wälzen die Steuern auf sie ab. Die Gewerkschaften und die sozialdemokratischen Parteien geraten in der Folge vielfach in eine Krise. Unternehmen ändern ihre Funktion: sie organisieren nicht nur die Erzeugung von Mehrwert, sondern werden ihrerseits in Wert gesetzt und können damit weltweit von wenigen Investoren und Fonds kontrolliert werden. Märkte spielen aufgrund der Kontrolle durch Oligopole, Finanzmarktakteure und Staaten eine untergeordnete Rolle. Mittels Herrschaftspraktiken werden Bedingungen erzeugt, unter denen Menschen auf allen Ebenen dem Risiko ausgesetzt werden – regiert wird mit dem Dispositiv der Unsicherheit (vgl. Demirović 2001), das dann wiederum mit der Propaganda der Sicherheit autoritär-populistisch genutzt werden kann. Es geht nicht mehr um

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Konsens im Sinn eines klassenübergreifenden kollektiven Handelns und um Zugeständnisse, also um einen Trade-Off zwischen Schutz und Gehorsam. Deswegen trifft Ideologiekritik nicht mehr, die eine illusionäre Gemeinsamkeit entlarvt. Es wird mit zahlreichen Praktiken eine korporative Ideologie erzwungen, wonach alle einzeln und für sich aktiv werden und sich im Wettbewerb bewähren (Wahl der Schule und Hochschule, private Altersvorsorge, Aktienanlagen, individuelle Verhandlung des Entgelts, Vokabulare, die in Wissenschaft, Politik oder Kultur die Kommunikationsverhältnisse auf kleine Gruppen begrenzen). Mit den neoliberalen Ideologemen wird die Bereitschaft befördert, sich auf eine bestimmte Weise unmittelbar in die Gefolgschaft von Mächtigen einzugliedern: nämlich marktkonform, egoistisch und gegeneinander zu verhalten, sich selbst als ein Cost- und ProfitCenter zu sehen, persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten als ein Portfolio zu betrachten und sich permanent zu optimieren (Fitness, Body- und Neuro-Enhancement), kulturell und intellektuell bis zur Schrillheit originell zu sein (vgl. Klopotek/Scheiffele 2016). Im Vergleich zu Adorno und Horkheimer hält Gramsci an der Autonomie der Ideologie fest, da er darunter eine massiv wirksame Denk- und Fühlweise, einschließlich einer Lehre und Weltsicht versteht, die einem historischen Block zwischen den sozialen Klassen, zwischen Denken und Fühlen, zwischen Gesellschaft und Natur Festigkeit gibt und eine Vielzahl von Alltagspraktiken verallgemeinert, die in sich widersprüchlich und Gegenstand von Konflikten sind. Zwar werden die Subalternen auch intellektuell beherrscht, aber sie verlieren in unterschiedlichem Grad ihre Handlungsfähigkeit nicht; selbst wenn es ihnen nicht gelingt, eigene Intellektuelle zu formieren, die die Weltsicht der Subalternen ausarbeiten, so können sie doch in der Form der Begriffe der Herrschenden praktisch werden. Die Begriffe können demnach selbst ein polyphones Machtverhältnis von Herrschaft und Widerstand darstellen. Kritik der Ideologie zielt allerdings nicht darauf, den emphatischen Gehalt bürgerlicher Emanzipationsbegriffe zur Geltung zu bringen, sondern darauf, auf die Hinfälligkeit der bestehenden Überbaupraktiken hinzuweisen, die sich als Ergebnis der vermeintlichen Versöhnung und Verbergung von zahlreichen Widersprüchen ergeben. »Croces Lehre von den politischen Ideologien ist ganz offensichtlich aus der Philosophie der Praxis abgeleitet: sie sind praktische Konstruktionen, politische Führungsinstrumente, man könnte also sagen, die Ideologien seien für die Regierten bloße Illusionen, ein erlittener Betrug, während sie für die Regierenden ein gewollter

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und bewußter Betrug seien. Für die Philosophie der Praxis sind die Ideologien alles andere als willkürlich; sie sind reale geschichtliche Fakten, die man bekämpfen und in ihrem Wesen als Herrschaftsinstrumente enthüllen muß, nicht aus Gründen der Moral usw., sondern eben aus Gründen des politischen Kampfes: um, als notwendiges Moment der Umwälzung der Praxis, die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig zu machen, eine Hegemonie zu zerstören und eine andere zu schaffen. […] Für die Philosophie der Praxis sind die Superstrukturen eine objektive und wirksame Realität (oder sie werden es, wenn sie nicht bloß individuell ausgedacht sind); sie sagt ausdrücklich, daß die Menschen auf dem Terrain der Ideologien ein Bewußtsein von ihrer gesellschaftlichen Stellung und somit von ihren Aufgaben gewinnen, was keine geringfügige Aussage über die Wirklichkeit ist.« (Gramsci 1994: 1324f.)

Gramsci argumentiert für eine neue Weltauffassung. Diese sei nicht mehr Regierungsinstrument einer herrschenden Gruppe, um den Konsens zu haben und Hegemonie über andere Klassen auszuüben. Vielmehr ist sie zentriert um »alle Wahrheiten« (Gramsci 1994: 1325). In fünf wesentlichen Hinsichten berühren sich Adornos und Gramscis Überlegungen: die Ideologie ist ein Regierungsinstrument, das mittels Trennung von Kopf- und Handarbeit wirkt; sie verhindert oder absorbiert die intellektuellen Aktivitäten von unten; die Kritik verfolgt eine negative Dialektik: die Widersprüche sollen theoretisch erkannt, aber nicht erhalten und versöhnt, sondern überwunden werden; die Überbauten als Formen, Widersprüche zu prozessieren, werden zur Disposition gestellt zugunsten einer neuen Gliederung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs; in diesem können Wahrheit und Vernunft umfassend als Orientierung einer offenen, nicht-identitären Weltaneignung zur Geltung gelangen.

4. Ideologiekritik als Kritik der Subjektkonstitution: Von Theodor W. Adorno zu Louis Althusser In den 1970er Jahren war die Diskussion ganz wesentlich durch eine Verschiebung von der Ideologiekritik zur Ideologietheorie bestimmt. Dies entspricht durchaus der Vorstellung von Gramsci, dass die materialistische Theorie Widersprüche nicht versöhnen will, sondern die Theorie der Widersprüche sei (Gramsci 1994: 1325). Die Verschiebung ergab sich zum einen aus historischen Dynamiken: Veränderung im Verhältnis von Überbau und Basis durch die Kulturindustrie sowie die neoliberalen Schwächungen

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der Überbauten. Zum anderen wurde das bewusstseinsphilosophische Verständnis der Ideologiekritik und der damit verbundenen Praktiken, die oben angesprochen wurden, problematisiert: Erstens richtete sich die Kritik gegen die Transparenzerwartung, die von Georg Lukács (1968 [1923]) in »Geschichte und Klassenbewußtsein« im Anschluss an Überlegungen des jungen Marx mit der Ideologiekritik formuliert wurde: die Rückkehr des Menschen aus entfremdeten Verhältnissen. Zweitens wurde ein privilegierter Wissens- und Sprecherstandpunkt problematisiert, der diejenigen, die die Ideologie kritisierten, außerhalb der Herrschaft zu situieren schien. Drittes wurde die rationalistische Vorstellung von Ideologie angesichts der Erfahrung in Frage gestellt, dass trotz aller Kritik, trotz aller Hinweise auf empirische Fakten sich individuelle Einstellungen nicht änderten (und Antisemitismus, Rassismus, Abwertung von Frauen, Nationalismus sich hartnäckig hielten). Viertens erschien die wesenslogisch-kausale Annahme unplausibel, wonach einer bestimmten ökonomischen Lage auch ein bestimmtes Bewusstsein entsprechen müsste und kulturelle Prozesse keine Autonomie hätten. Die Tatsache, dass es nicht zu Klassenbewusstsein kam, musste nach einem engen kausaltheoretischen Modell den Eindruck einer sich abschließenden Herrschaft vermitteln. Autonomes, widerständiges kulturelles Handeln erschien nicht möglich, die Konflikte, die in der Kultur stattfanden, also die Streitigkeiten um Bedeutungen, die Menschen den Dingen und ihrer Welt gaben, schienen keine oder allenfalls eine geringe Rolle zu spielen. Die Innovationen von Adorno hinsichtlich dieser Einwände, so ist mein Eindruck, wurden nicht angemessen rezipiert: die Thesen, dass a) das Verhältnis von Basis und Überbau sich strukturell verschoben hat; es b) nicht sinnvoll ist, sich mit der Haltung, eine externe und widerständige Position einnehmen zu können, in eine melancholische Stimmung bringen zu lassen, da es der Mechanismus der Kulturindustrie ist, auch die Kultur und noch jeden Widerstand zu erfassen, und dass c) deswegen Kritik beweglich sowohl von innen als von außen stattfinden muss; d) die Kritik muss sich gegen die Aktivitäten der positivistischen Philosophie oder der empiristischen Sozialforschung wenden, die ihre Orte an Hochschulen, Forschungsinstituten, Marktforschung oder Publizistik haben und neue Formen der ideologischen Regierungspraktiken geworden sind, indem sie dazu beitragen, die Wirklichkeit zu verdoppeln, also durch Wissen dazu beizutragen, dass alles so wird, wie es ist. Aber es lassen sich Defizite feststellen. Es kommt bei Adorno zu keiner Analyse der Herrschaft in der Kulturindustrie und im Verhältnis zwischen

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verschiedenen Kapitalfraktionen. Es bleibt unklar, wie auf neue Entwicklungen reagiert werden könnte, außer festzustellen, dass sie graduell-quantitativ zunehmen. Gäbe also über die Kulturindustrie hinaus gar keinen neuen ideologischen Herrschaftspraktiken mehr? Wäre überhaupt denkbar, dass das Verhältnis von Basis und Überbau sich erneut verschieben könnte oder musste angenommen werden, dass Kritische Theorie letztlich immer weiter nur eine fortschreitende Kommodifizierung beklagen und die Kulturkritik reproduzieren konnte, um einmal doch noch den Bann zu durchbrechen? Meiner Ansicht nach hat Louis Althusser die Frage der Ideologie dort fortgesetzt, wo Adorno mit seinen Überlegungen zwar innovativ war, aber doch auch an eine Grenze gelangte, die geprägt war von einer bewusstseinsphilosophischen Erblast, von einem gewissen Ökonomismus und von einer Ausrichtung der Theorie an Zeitdiagnose. Max Horkheimer (1988 [1936]: 344) begreift Ideologie nicht als weltanschauliche Lehre, sondern als geistigen Kitt, der dazu beiträgt, dass eine von historisch überholten Produktionsverhältnissen bestimmte Gesellschaft fortdauern kann. Horkheimer hatte die kulturelle Funktion des geistigen Kitts unterschieden von der Regierungskunst und der Machtorganisation des Staates. Anders Louis Althusser. Die Besonderheit seines Ansatzes ist, dass er die Bedeutung von »geistig« deutlich verschiebt und ideologische Prozesse eng mit staatlicher Macht verbindet. Ideologie trägt nicht oder nicht nur zur Bewahrung überholter Zustände bei, sondern stellt ein aktives Moment der Reproduktion kapitalistischer Produktionsbedingungen dar. Die Frage ist, warum Menschen sich den kapitalistischen Verhältnissen unterwerfen, unter denen sie sich ja vielfach nur unter bescheidenen Umständen selbst erhalten können, während der Reichtum der Gesellschaft und der führenden Klassen immer größer wird. Der Hinweis auf den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse oder die staatliche Repression reichen nicht aus (vgl. Horkheimer 1987 [1942]: 332). Denn oft genug setzen die Subalternen für Unternehmens- oder staatliche Ziele ihr Leben aufs Spiel, sie akzeptieren Entscheidungen und Praktiken, die sich in der Folge gegen sie selbst oder andere wenden. Es muss also ein Moment der intellektuellen Überzeugung und affektiven Bindung an die herrschenden Verhältnisse hinzukommen. Die Reproduktion wird demnach in entscheidender Weise durch ideologische Herrschaft gewährleistet, denn diese bringt Individuen dazu, sich jeden Tag von neuem zu unterwerfen. Allerdings kritisiert Althusser die Vorstellung von Ideologie als einem falschen Bewusstsein. Diese These unterstellt ihm zu Folge die Möglichkeit der Besei-

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tigung eines Schleiers zwischen dem Bewusstsein und der Wirklichkeit, nährt also die Erwartung, dass die Wirklichkeit für das Bewusstsein vollständig transparent werden könnte – wie es im Prinzip von der Ideologiekritik in der Tradition von Georg Lukács nahegelegt wird. Auf diese Weise problematisiert er auch die Annahme, Ideologie sei erkenntnistheoretisch als eine falsche Sicht der Dinge zu fassen, die sich durch richtige Erkenntnis auflösen lasse. Das bewusstseinsphilosophische Ideologieverständnis weist er mit einer Kritik am zweipoligen erkenntnistheoretischen Subjekt-ObjektModell zurück und ersetzt es durch ein dreipoliges Modell. Demnach stellt Ideologie eine spezifische materielle Wirklichkeit dar: es handelt sich um die Repräsentationen des imaginären Verhältnisses des Individuums zu seinen materiellen Existenzbedingungen (Althusser 1977 [1970]: 133). Dies gibt den Kategorien Subjekt, Bewusstsein, Handeln eine neue, metakritischbegriffliche Bedeutung. Das Individuum, das sich niemals vollständig in allen seinen vielfältigen materiellen Verhältnissen wahrnehmen kann, imaginiert sich als ein Subjekt, das über diese Verhältnisse bewusst verfügt, das glaubt, sie seien Ergebnis seiner Erkenntnis, seines Willens und seines Handelns. Das Subjekt ist die Repräsentation dieses imaginären Verhältnisses, also die Ideologie, dass das Subjekt konstitutiv für die Verhältnisse selbst und bei allen seinen Handlungen jeweils bewusst als ein »Ich« beteiligt, also Träger eines freien Willens sei und verantwortlich gemäß seinen Vorstellungen oder Normen handele (Althusser 1977 [1970]: 138). Althusser kehrt also die Perspektive der Ideologiekritik um und erklärt, auf welche Weise sich ein ideologisches Verhältnis konstituiert. Dieses Verhältnis besteht aus dem Subjekt, das konstituiert wird, indem es sich von bestimmten Verhältnissen angerufen sieht, sich in ihnen wiederkennt und verkennt: Wiedererkennung seiner selbst in dieser Praxis, diesem Gegenstand – aber auch Verkennung, weil ein objektives Verhältnis als Ergebnis des eigenen Willens verstanden wird. Subjekt sein bedeutet demnach, in ein und derselben Bewegung unterworfen und frei zu sein, Rituale zu vollziehen und sich als Autor_in des eigenen Handelns zu identifizieren. Ideologie besteht Althusser zufolge nicht aus Ideen, Bewusstsein, Mentalität: also ein Glaube an Gott, eine ästhetische Empfindung, eine moralische Intuition oder eine politische Meinung. Sie hat vielmehr eine materielle Existenz und besteht aus Praktiken und Ritualen: die Religion besteht, so verstanden, dann nicht aus dem inneren Glauben, Gefühlen und Überzeugungen, sondern aus den Praktiken und Ritualen der Liturgie, des Gebets (knien, Hände falten, den Mund bewegen, Tischgebet), des Singens, der Pre-

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digt, des Abendmahls, der Beichte, der Lektüre der Bibel – einschließlich all dem, was dazu gehört: die Sakralarchitektur, Kanzel und Altar, die Kirchenmusik, das Priesterseminar und die theologischen Fakultäten. Diese Praktiken und Rituale werden in ideologischen Staatsapparaten organisiert, die das Subjekt auf je spezifische Weise anrufen: religiös, moralisch, rechtlich, staatsbürgerlich, demokratisch, familiär, medizinisch. In allen diesen Fällen wird das Subjekt konstituiert, es wird ihm eine Identität verliehen, es arbeitet in der Folge daran, zu werden, was es immer-schon ist, eine Identität, die das Subjekt praktiziert, ohne sie jemals zu erlangen: als Gläubiger, als Mann, als moralische Person, als schöpferischer Künstler, als sensibler Rezipient. Das Subjekt bleibt immer aufgeschoben. Es gibt zwischen Althussers und Adornos Überlegungen entscheidende Differenzen. 1. Althusser bestimmt die Ideologie ausdrücklich als eine politisch-staatliche Praxis. Mit ihr modifiziert er, anschließend an Überlegungen von Antonio Gramsci, sehr weitreichend das materialistische Verständnis des bürgerlichen Staates. Dieser wird nicht mehr bloß durch seine militärische und polizeiliche Gewaltpraxis oder durch Judikative und Parlament bestimmt, sondern auch durch die besonderen ideologischen Funktionen in Bereichen der Religion, der Erziehung, der Medien, der Kunst, des Sports, der Familie, in denen es jeweils um die Konstitution einer individuellen Identität als Subjekt geht: eine Staatsangehörigkeit, ein registrierter Name, eine Sozialversicherungsnummer, eine schulische Karriere, die aktenkundig und mit bestimmten Zertifikaten verbunden ist, ein Zivilstand mit Eheurkunde. Mit seiner Überlegung ermöglicht es Althusser, den ideologischen Praktiken eine relative Autonomie im Verhältnis zur Ökonomie einzuräumen. Allerdings thematisiert er nicht – anders als Horkheimer und Adorno, die jedoch in der Analyse der Kulturindustrie ihrerseits vage genug bleiben – welche sozialen Klassen und Kräfte sich in den ideologischen Staatsapparaten organisieren und auf eine spezifische Weise Herrschaft ausüben. 2. Er behandelt auch nicht die für Adornos Ansatz wichtige Frage nach den historischen Veränderungen des Verhältnisses von ideologischem Überbau und Ökonomie. Anders als Adorno, der Ideologie als eine spezifisch moderne Herrschaftspraxis begreift, die einen Funktionswechsel durchläuft, und anders als Adorno und Gramsci, die beide die Ansicht vertreten, dass die Notwendigkeit für Überbauten historisch überwunden werden kann, ist für Althusser Ideologie eine omnihistorische Gegebenheit.

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Es gibt für ihn zwar Konjunkturen ideologischer Herrschaft, durch die sich Ökonomie, Politik und Ideologie jeweils anders gliedern. Aber offensichtlich befürchtet er, dass eine Annahme, wonach es ein Ende der Ideologie geben könnte, zu der doppelten Überlegung führen müsste, die Gesellschaft sei sich selbst transparent und auf ein wesentliches Verhältnis ohne Erscheinung zu reduzieren. Demnach könnten Menschen also unmittelbar in der Wissenschaft leben. Althusser setzt mit seinen Überlegungen nach meinem Verständnis Adorno – dessen Überlegungen er offensichtlich nicht kennt – an zwei wesentlichen Punkten fort. 1. Seine ideologietheoretischen Überlegungen setzen dort ein, wo Adorno mit einem historischen Argument hingelangt war. Diesem zu Folge weist Ideologie nicht mehr sinnhaft auf wie immer falsche Weise auf die Verhältnisse hin, sondern nimmt die Form eines technologischen Schleiers an. Aufgrund dieser Veränderung kommt es zu einem Funktionswechsel der Ideologie, der unumkehrbar ist. Die Folge ist, dass die Arbeiter*innen sich nicht als Klasse formieren, die sich ihrer Ausbeutung unmittelbar bewusst sind; vielmehr werden die Klassenkonflikte verschoben und in einer Vielzahl von, oberflächlich betrachtet, marginalen Konflikten ausgetragen. Diese Logik der Verschiebung, die Adorno als historisches Problem der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise behandelt, ist für Althusser ein grundsätzlicher Gesichtspunkt im Verhältnis von Ökonomie und Ideologie. Denn er verwirft die wesenslogische Herangehensweise und vertritt die These: »Die einsame Stunde der ›letzten‹ Instanz schlägt niemals.« (Althusser 2011 [1962]: 139) Das Verhältnis der Ideologie zur Ökonomie ist demnach immer verschoben, immer ungleichzeitig. Für Althusser zielt die Analyse der Ideologie nicht auf ein verstelltes, falsches Bewusstsein; sie ist weder Widerspiegelung noch Ausdruck – und insofern nimmt sie auch nicht Bezug auf eine »wirkliche Wirklichkeit«. Die kritische Analyse zielt auf eine Gesamtheit sich reproduzierender gesellschaftlicher Prozesse, die alle darauf hinwirken, dass Menschen als Subjekte angerufen werden und in der Ideologie leben, also ihre Unterwerfung und ihren Beitrag zur Ausbeutung als ein Verhältnis ihres freien Willens begreifen. Dort, wo Adorno immer noch befangen in einer Ideologieauffassung ist, in der es immanent um die Frage des Bewusstseins geht und von dort aus in der Analyse der Kulturindustrie zur Frage der Ideologie als Praxis gelangt, dreht Althusser

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das Problem um und schlägt vor, Ideologie als eine Vielzahl von Praktiken zu denken. »Bewusstsein« des »Subjekts« ist, in diesem Sinn verstanden, die besondere Form, in der sich ideologische Praktiken vollziehen. 2. Althusser trägt zu einer Kritik des konstitutiven Bewusstseins und der Identitätsphilosophie bei und ergänzt in dieser Hinsicht die Intentionen Adornos. Adorno kritisiert die idealistische Annahme, dass zwischen dem menschlichen Bewusstsein und seinen Begriffen auf der einen und dem gegenständlichen Bereich auf der anderen Seite eine Identität besteht, der zu Folge die begriffliche Ordnung die wirkliche Ordnung wiedergibt und zum Ausdruck bringt. Für Adorno stellt die Identitätsphilosophie deswegen eine Herausforderung dar, weil seiner Ansicht nach auch die materialistische Theorie immer verführt ist, in jene überzugehen. Denn sie zielt auf eine vernünftige Gestaltung der Welt. Das aber kann das Missverständnis implizieren, das Bewusstsein tatsächlich als konstitutiv zu begreifen. Demnach würden die Menschen die Welt erkennen und sich in ihr wiedererkennen und widerspiegeln, weil es die von ihnen nach ihren eigenen Begriffen erzeugte Welt wäre. Das Identitätsdenken erweist sich jedoch als unfähig, die Veränderungen und das zu denken, was nicht aufgeht, jene Praktiken der Menschen, die, indem sie sich, ihre Verhältnisse und die Natur bearbeiten, immerzu neue Konstellationen erzeugen, Gesetzmäßigkeiten ändern und Möglichkei-ten des ungeahnten Neuen erschließen. Für Adorno und Althusser stellt sich die Frage, wie aus dieser Tautologie eines sich narzisstisch in der Welt selbst erkennenden und anerkennenden Bewusstseins auszubrechen sei. Althusser fasst diese bewusstseinsphilosophische Problematik als Anrufung des Subjekts, das sich als angerufenes in einer bestimmten Identität seiner selbst mit sich und den Praktiken, die es lebt, wiedererkennt und verkennt. Emanzipation zielt darauf, diesen gleichsam tautologisch geschlossenen Sinnzusammenhang aufzubrechen. Für Adorno wäre das ein anderer Begriff von Vernunft, der sich öffnen würde für das Nicht-Identische. Für Althusser wäre es der Bruch mit der Ideologie, also mit jenem sinnhaften Kosmos, in dessen Zentrum das Subjekt steht. Dieser Bruch wird, Althusser zufolge, jeweils durch wissenschaftliche Erkenntnis, und das heißt auf dem Gebiet der Geschichte: durch die Theorie der historischen Produktionsweisen, hergestellt. Es würde sich für Althusser demnach nicht um einen länger währenden Prozess der Erlangung von Klassenbewusstsein handeln, der Arbeiter zu einem die Ausbeutungsverhältnisse beseitigenden Handeln führt, sondern es handelte sich um eine besondere Konjunktur, die Verdichtung

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von gesellschaftlichen Widersprüchen in einer Situation derart, dass die Menschen durch wissenschaftliche Erkenntnis die sinnhafte Anrufung außer Kraft setzen können. Das kann, muss aber nicht mit dem Übergang in eine neue Produktionsweise einhergehen. So viel Vertrauen gerade in Wissenschaft hat Adorno nicht, für ihn handelt es sich um eine negativ-dialektische Denkbewegung, die über die Widersprüche hinaus und auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse drängt. Für Adorno würde es sich, wenn es dazu käme, um ein weltgeschichtlich neues Stadium handeln, da das identifizierende Denken überwunden wäre. Althusser legt nahe, dass ein solcher Bruch jeweils nur vermittels wissenschaftlichen Begreifens möglich ist, der das Imaginäre des Sinns durchbricht. Auch unter Bedingungen einer postkapitalistischen Produktionsweise blieben die Verhältnisse den Menschen intransparent und müssten im Alltag sinnhaft gelebt werden. Die psychoanalytisch gefasste Instanz des Imaginären ließe sich nicht auflösen. Aufgrund seiner Auffassung der Psychoanalyse würden sich die das Subjekt konstituierenden psychischen Funktionen historisch nicht verändern. Das ist von Althusser nicht zu Ende gedacht. Denn es stellt sich die Frage, was es bedeuten würde, wenn begriffliche Einsicht – also Freiheit und nicht mehr die herrschaftlichen Anrufungen durch ideologische Staatsapparate – in einem umfassenden Sinn auch die Alltagspraktiken bestimmen würde. Was bliebe von der sinnhaften Subjektinstanz, wenn es keine Anrufung mehr durch Praktiken in den staatlich organisierten ideologischen Formen der Religion, des Rechts oder der Kunst gäbe? Für Adorno ist jedenfalls denkbar, dass jene historische Phase überwunden werden kann, in der Menschen wahnhaft und ressentimentgeladen, in der Vernunft und Wahrheit affektiv sehr gering besetzt sind und die Fähigkeit der Subjekte, durch vernünftiges Denken sich selbst zu erhalten, sehr reduziert ist. Unter emanzipierten Lebensverhältnissen können sich psychische Dynamiken in Theorie und ihren Begriffen verdichten und rationalisieren. »Doch das rationale System eines rational denkenden Menschen ist nicht von seiner Charakterstruktur zu trennen. Auch ein solches System hat Motive. Was sich in seinen Ursprüngen entscheidend auswirkt, ist vor allem die Art des Charaktergefüges, dem es entstammt. Man könnte sagen, daß ein reifer Charakter […] einem rationalen Denksystem näherkommen wird als ein unreifer; jedoch ist ein reifer Charakter nicht weniger dynamisch und nicht weniger strukturiert […]. Es ist das Ich, das die nichtrationalen Kräfte im Charakter erkennt und die Verantwortung dafür übernimmt. Darauf basiert unsere Überzeugung, daß der Suche nach den psychologischen Determinanten der Ideologie die Hoffnung zugrundeliegt, daß die Menschen vernünftiger werden können.« (Adorno 1950: 14f.)

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5. Zur Erneuerung der Ideologietheorie Ideologie ist weit mehr als eine politische Strömung oder Strategie vergleichbar dem Liberalismus oder Sozialismus, weit mehr auch als nur eine durch Interesse verzerrte Sicht auf die wirkliche Welt. Ideologiekritik und -theorie weisen darauf hin, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Begriffe der Realität, der Objektivität, der Wahrheit und Vernunft tief umstritten sind. Denn Dinge, die nicht existieren, können Effekte des Realen erzeugen, Lügen als wahr gelten, Wahrheiten als Lügen genutzt, Rationalität zu einem Moment von Herrschaft werden. Die Tradition hat mit zahlreichen Begriffen experimentiert, um den eigentümlichen Gegenstand zu erfassen, der von falschen Vorstellungen und Einstellungen über kulturelle Praktiken bis zu politischen oder religiösen Lehren reicht: notwendig falsches Bewusstsein, Mystifikation, Illusion, Alltagsreligion, Fetisch, Schleier, symbolische Gewalt, Habitus, Ideologie. Es wurden wichtige Begriffe entwickelt: ideologische Form und historische Veränderungen im Verhältnis von Basis und Überbau, Hegemonie und illusionäre Allgemeinheit, Kulturindustrie und ideologische Staatsapparate, konstitutives Subjekt und tautologische Weltbeziehungen. Die Ideologietheorie konstituiert einen besonderen Gegenstand, eine spezifische Form von Herrschaft, die zwischen Ökonomie und Staat, zwischen Wahrheit und Lüge liegt. In der Ideologie finden sich vernünftige und verlogene, rationale und irrationale, bewusste und unbewusste Momente. Ideologie ist nicht unvollkommene Erkenntnis, auch Wissenschaft und Wahrheit können Momente der Ideologie werden. Sie besteht aus einem komplexen Bündel von Regierungspraktiken, die in und durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung von intellektueller und manueller Arbeit eine zirkulär geschlossene Einheit von verbreiteten Alltagsgewohnheiten und bizarr zusammengesetzten Denk- und Fühlweisen organisieren. In diesen Lebenspraktiken erfahren sich die Individuen als mit »sich« und »ihrer Welt« identisch, was sie vom Kräftespiel der Gesellschaft und den historischen Veränderungen abschottet. Aus den Partikeln der ideologischen Lebenspraktiken wie Sport, Musik, Religion, Technik, Familie, Kleidung müssen die Subalternen eine imaginäre Einheit bilden; die Zeit und die begrifflichen Mitteln zur Ausarbeitung einer eigenen kohärenten Welt ohne Herrschaft und Ausbeutung, die ihnen erst die Möglichkeit der Öffnung geben würde, haben sie nicht. Den kritischen Intellektuellen misstrauen sie, denn sie sind in den Kräfteverhältnissen nicht nur schwach, es ist auch nicht sicher, wohin ihre Konzepte führen.

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Offensichtlich sind wir heute erneut mit dem Problem konfrontiert, mit dem sich auch die Vertreter der älteren Kritischen Theorie auseinanderzusetzen hatten. Die Strategie der Ideologiekritik, die Lüge zu entlarven, Illusionen zu denunzieren und auf die wirklichen Verhältnisse hinzuweisen, reicht nicht hin. Wieso sollten die Subalternen die Washington Post ernst nehmen, die Trump die vielen Lügen nachweist, gleichzeitig mit Jeff Bezos aber einen Eigentümer hat, der selbst bereit ist, für den Zweck der eigenen Bereicherung zu lügen und Arbeiter*innen bei jeder Gelegenheit zu entrechten? »Lügenpresse« – damit wird misstrauisch eine Öffentlichkeit charakterisiert, die die Geschlossenheit der gesellschaftlichen Prozesse in den Talkshows, den immer gleichen Personen und Themen reproduziert und die Wirklichkeit leugnet. Warum aber glaubt ein Teil der Subalternen den Demagogen wie Ken Jebsen, Sven Liebich, Jordan Peterson, Fox News, der Bild-Zeitung, Alexander Gauland oder Donald Trump? Denen, die den Klimawandel leugnen, die Aufklärung über Kindesmissbrauch und familiäre Gewalt in Pornographie verwandeln, Rassismus schüren oder ein Klima der Unsicherheit und Gewalt erzeugen? Ideologie immunisiert vor Aufklärung und bestärkt Menschen darin, mit Ressentiment an ihren Gewohnheiten und ihrer Identität festzuhalten und Verhältnisse mit dem Selbstverständnis der Freiheit zu reproduzieren. Konformismus kann in solchen Fällen als rebellischer Konformismus mit Kritik an Herrschaft zusammengehen, Konformismus mit der Kritik von Mächtigen an anderen Mächtigen. Ein erneuertes Verständnis von Ideologie ist notwendig. Aufgrund des Wissens um ideologische Prozesse lässt sich sagen, dass das Wahr-Sprechen nicht einfach die Wahrheit über die Sachverhalte dort draußen sagt. Vielmehr ist es in die Konflikte um Objektivität und Vernunft hineingezogen und kann selbst zu einem ideologischen Moment werden. Der moralischen Überlegenheit und der Macht, die der Bezug auf Fakten und Wahrheit scheinbar verleiht, haftet selbst Ideologie an. Dies beuten antidemokratische, autoritär-populistische Kräfte aus, wenn sie den Aktivist*innen der sozialen Bewegungen, den kritischen Intellektuellen, den Repräsentant*innen der Gender-Theorien oder des Antirassismus vorwerfen, heuchlerisch zu sein oder Fake zu produzieren. In einem entschieden postempiristischkonstruktiven, offenen Sinn ist es dennoch richtig und notwendig, die Wahrheit zu sagen und zu sagen, was ist. Denn tatsächlich gehen die gesellschaftlichen, politischen, intellektuellen Auseinandersetzungen darum, eine neue Welt der Wahrheit und der Tatsachen zu konstituieren, um für einen neuen Status der Wahrheit einzutreten und mit ihr und um sie herum eine

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neue Kraft der Wahrheit aufzubauen. Das ist die Wahrheit derjenigen, die in der alten Welt nicht vorkommen, die das Scheinhafte und Gläubige erkennen und die auf konkrete Weise wissen, dass eine andere Welt schon lange da ist, ihre Welt, die sie gemeinsam in der Versöhnung mit der Natur gestalten können.

Literatur Adorno, T. W. (1972a [1954]), »Beitrag zur Ideologienlehre«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt/M. — (1972b [1970]), »Ästhetische Theorie«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M. — 1972c [1968]), »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt/M. — (1973 [1950]), Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. — (1975 [1955]), »Schuld und Abwehr«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9.2, Frankfurt/M. — (1977a [1961]), »Meinung Wahn Gesellschaft«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.2., Frankfurt/M. — (1977b [1964]), »Jargon der Eigentlichkeit«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. — (1977c [1949]), »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt/M. — (2008 [1964]), »Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft«, in: Ders., Nachgelassene Schriften Bd. IV.12, Frankfurt/M. Adorno, T. W./Jaerich, U. (1972 [1968]), »Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute«, in: T. W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt/M. Althusser, L. (1977 [1970]), »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, in: Ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg. — (2011 [1962]), »Widerspruch und Überdetermination«, in: Ders., Für Marx, Berlin. Boltanski, L./Chiapello, È. (2003), Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz. Bromley, R., Göttlich, U., Winter, C. (1999) (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg. Demirović, A. (1988), »Ideologie, Diskurs und Hegemonie«, in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 10, H. 1–2. — (1992), »Vom Vorurteil zum Neorassismus. Das Objekt ›Rassismus‹ in Ideologiekritik und Ideologietheorie«, in: Institut für Sozialforschung (Hg.): Aspekte der Fremdenfeindlichkeit, Frankfurt/M., New York.

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Die Wissenssoziologie und das Problem der Ideologie Jan Weyand

Einer kritischen Ideologietheorie1 und den unterschiedlichen Varianten der Wissenssoziologie ist die Auffassung gemeinsam, dass alles Wissen beobachtungsabhängig ist. Bei dieser Annahme handelt es sich um eine grundlegende theoretische Prämisse, die erhebliche Konsequenzen für das Verständnis von gültigem Wissen hat. So folgt aus der Prämisse etwa, dass auch gültiges Wissen relativ auf Beobachtung und damit auch auf deren historische und soziale Kontexte ist. Wenn Geltung einen historischen und sozialen Index hat, ist sie offenbar nicht unabhängig von Macht.2 Daher ist die Beziehung von Wissen und Macht eine der Fragen, die sowohl die kritische Gesellschaftstheorie seit Marx wie die Wissenssoziologie seit Elias immer wieder neu gestellt und beantwortet hat. Wegen solcher Übereinstimmungen in zentralen Überlegungen scheinen beide, kritische Ideologietheorie und Wissenssoziologie, auf den ersten Blick Brüder im Geiste zu sein. Auf den zweiten Blick stehen beide einander feindlich gegenüber: Während eine kritische Ideologietheorie an der Unterscheidung zwischen gültigem Wissen auf der einen und »falschem Bewusstsein« bzw. Ideologie auf der anderen Seite festhält und festhalten muss, relativieren wissenssoziologische Positionen eben diese Unterscheidung. Wissenssoziologisch sind

—————— 1 Der Begriff der Ideologie wird auf unterschiedliche Weise verstanden. Ein kritischer Ideologiebegriff geht davon aus, dass Ideologie »Rechtfertigung« (Adorno 1990a: 465) ist, durch die Herrschaftsverhältnisse legitimiert werden, z. B., indem »Geschichte in Natur« (Barthes 1992: 129) verwandelt wird, also soziale Verhältnisse in irgendeiner Weise nicht als sozial und damit veränderbar, sondern als natürlich dargestellt werden. 2 In der Wissenschaftstheorie Kuhns firmiert dies unter dem Titel eines »willkürlichen Elements«: »Ein offenbar willkürliches Element, das sich aus persönlichen und historischen Umständen zusammensetzt, ist immer ein formgebender Bestandteil der Überzeugungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft in einer bestimmten Zeit angenommen werden« (Kuhn 1981: 21), z. B. die generationelle Zusammensetzung einer wissenschaftlichen Community, in der die Älteren und Etablierten über mehr Macht und damit die Fähigkeit verfügen, von ihnen selbst geteilte Auffassungen gegen Kritik zu verteidigen.

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beide Seiten der Unterscheidung gleichermaßen Gegenstand der Wissenssoziologie, denn die »Wissenssoziologie hat die Aufgabe, die gesellschaftlichen Konstruktionen der Wirklichkeit zu analysieren«, sich mit »allem zu beschäftigen, was in einer Gesellschaft als ›Wissen‹ gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit« (Berger/Luckmann 1987: 3). Sind aber gültiges und ungültiges Wissen – in der Sprache einer kritischen Ideologietheorie: Wahrheit und Ideologie – einfach nur »Wissen«, kann die Unterscheidung zwischen Ideologie, »fake news« und gültigem Wissen nicht mehr im Hinblick auf das Wissen selbst, sondern nur noch im Hinblick auf seine gesellschaftliche Bedeutung getroffen werden: »Wahr« ist, was in einer Gesellschaft für wahr gehalten wird. Die wissenssoziologische Frage richtet sich daher nicht zuerst auf den Inhalt des Wissens, sondern auf die sozialen Gründe seiner Geltung. In der Konsequenz nimmt der Ideologiebegriff der Wissenssoziologie einen »›wertfreien‹ neutralen Charakter an. […] Der Anspruch auf Wahrheit erscheint in dieser Perspektive als Selbsttäuschung« (Lenk 1986: 95f.). Der Preis für die Aufgabe der Unterscheidung zwischen gültigem Wissen und Ideologie besteht in der Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie. Und tatsächlich ist die Geschichte der Wissenssoziologie seit ihren Anfängen in den USA wie in Europa eine Geschichte des unkritischen Blicks auf Gesellschaft. Im Folgenden werde ich zunächst Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen kritischer Ideologietheorie und Wissenssoziologie entwickeln (1) und anschließend danach fragen, ob nicht eine kritische Theorie der Gesellschaft möglich ist, welche die wissenssoziologische Grundeinsicht der Relativität allen Wissens auf eine Beobachtungsperspektive nicht aufgibt, aber an einem kritischen Begriff der Ideologie festhält (2). Dies scheint in einer Zeit, in der es vielen zunehmend schwerfällt, zwischen gültigem Wissen und ideologischen Nebelkerzen zu unterscheiden, eine lohnenswerte Aufgabe, zumal wissenssoziologische Positionen schnell kapitulieren und kapitulieren müssen, wenn »alternative Fakten« anders verstanden werden sollen als ein Produkt einer anderen Beobachtungsperspektive.

1. Kritische Ideologietheorie und Wissenssoziologie Schon der junge Karl Marx hatte angenommen, dass Wissen relativ zu den sozialen Orten von Wissenden und damit zum einen sozial vermittelt und

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zum anderen relativ zu einer Beobachtungsperspektive ist, die sich aus der sozialen Lage der Wissenden erklärt. »Die Gedanken«, so heißt es in der mit Friedrich Engels gemeinsam verfassten Deutschen Ideologie, »der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse« (MEW 3: 46). Auch wenn wir heute wohl weder umstandslos die »herrschenden Gedanken«, d. h. die in einer Gesellschaft zu einem Zeitpunkt dominanten Muster des Verstehens der sozialen Welt, mit der »herrschenden Klasse« in eins setzen würden, noch davon ausgehen würden, dass diese Muster einfach ein ideeller Ausdruck materieller Verhältnisse sind, so hält doch eine kritische Gesellschaftstheorie bis in die Gegenwart an zwei Annahmen fest, die auch schon von Marx und Engels formuliert wurden: Erstens sind solche Muster des Weltverstehens als ideologisch zu bezeichnen, wenn sie der Rechtfertigung einer Herrschaftsordnung dienen. Zweitens sind mit der Aufrechterhaltung von Herrschaft Interessen verbunden, die nicht unabhängig von der Stellung im Herrschaftsgefüge sind. Herrschaftsordnungen sind Ordnungen der sozialen Ungleichverteilung von Lebenschancen, in denen bestimmte Gruppen gegenüber anderen privilegiert sind. Alle Sozialordnungen entwickeln sprachliche Muster, in der Sprache der Wissenssoziologie: »Semantiken«, mittels derer jene gerechtfertigt werden. Im Zentrum solcher Ideologien steht die Herstellung von Gehorsamsbereitschaft, ohne die Herrschaft längerfristig nicht stabil ist. Gehorsamsbereitschaft wird nicht oder nicht vor allem durch Zwang hergestellt, sondern durch Strategien der Legitimation von Herrschaft, etwa durch die Generalisierung partikularer Interessen zu allgemeinen Interessen (»die Liberalisierung von Märkten nützt uns allen«), durch die Darstellung kontingenter politischer Entscheidungen als notwendig (»alternativlos«) oder durch die Verschleierung von Absichten (»Friedensmission«). Die Hobbessche Legitimation eines staatlichen Gewaltmonopols durch das Interesse aller einzelnen Staatsbürger an einem friedlicheren und auskömmlicheren Leben kann als Beispiel für eine Ideologie im klassischen Sinne gelten: Für Hobbes überwindet das staatliche Gewaltmonopol den Krieg aller gegen alle und

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verhindert den Rückfall in den Bürgerkrieg, der für ihn gleichbedeutend mit dem Krieg aller gegen alle ist.3 Nach diesem Verständnis ist der Staat eine Institution, die allen gleichermaßen die Chance gibt, ein auskömmlicheres Leben zu führen. Aber tatsächlich gibt es den von Hobbes postulierten Krieg aller gegen alle nicht. Bürgerkriege sind Kriege nicht zwischen Individuen, sondern zwischen Gruppen, es gibt »keinen Bürgerkrieg, der nicht eine Konfrontation kollektiver Einheiten wäre: Verwandtschaften, Klientele, Religionen, Ethnien, Sprachgemeinschaften, Klassen etc.« (Foucault 2015: 48). Kämpfen im Bürgerkrieg nicht alle gegen alle, sondern kollektive Einheiten gegeneinander, verändert sich entsprechend auch das Bild des bürgerlichen Staates. Dieser stellt sich dann nicht mehr als eine Institution im Interesse aller dar, sondern als eine Institution, welche die Macht der siegreichen Gruppen sichert und den anderen allgemeine Regeln aufoktroyiert, deren Partikularität in der Legitimationserzählung, der Staat sei eine Institution aller und in allgemeinem Interesse, zum Verschwinden gebracht wird. Der Verweis auf die historische Genese des bürgerlichen Nationalstaats aus dem Konflikt von Gruppen delegitimiert die Erzählung, der gemäß er gleichermaßen im Interesse aller Staatsbürger*innen sei, als Ideologie. Die Delegitimation von Ideologie will mehr, als Beziehungen zwischen sozialer Lage und Wissen verstehen. Ist Ideologiekritik Herrschaftskritik und Herrschaft ein soziales Verhältnis, durch das Gruppen in die Lage versetzt werden, die Gehorsamsbereitschaft anderer Gruppen für ihre Zwecke zu nutzen (ohne dass dies immer wissentlich geschehen müsste), kann Ideologiekritik nicht wertfrei sein. In einer ideologiekritischen Perspektive ist eine Weltdeutung entweder affirmativ oder kritisch, aber nicht neutral: Affirmativ ist sie, wenn sie Herrschaft legitimiert, kritisch, wenn sie die Herrschaft legitimierende Funktion von Ideologie deutlich macht. Beide Positionen basieren auf einer Wertentscheidung (Herrschaft soll sein/soll nicht sein). Daher kann es in einer ideologiekritischen Perspektive keine auf ein Herrschaftsverhältnis bezogenen wertfreien Deutungen geben. Eine wertfreie Deutung ist in einer ideologiekritischen Perspektive eine, die sich auf keine der beiden Seiten schlägt, das Herrschaftsverhältnis so akzeptiert, wie es ist, und es eben dadurch de facto bestätigt. Ideologiekritik hat wie die

—————— 3 Hobbes nimmt nicht an, dass der Krieg aller gegen alle »allgemein auf der ganzen Welt bestand« (Hobbes 1992: 97), allerdings, dass er das Ergebnis einer Aufhebung des staatlichen Gewaltmonopols ist (ebd.).

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ideologische Legitimation von Herrschaft grundsätzlich eine politische Funktion, nur eben eine entgegengesetzte. Ihr Ziel ist kein theoretisches, sondern ein praktisches. Ideologiekritik in diesem Sinne ist Teil einer politischen Praxis der Überwindung von Herrschaft. Aus diesem Grund versteht Max Horkheimer unter kritischer Theorie nicht zuerst eine theoretische Einstellung zur Welt, sondern eine praktische. Sie ist ein »Verhalten, das […] die Veränderung des Ganzen zum Ziel hat« (Horkheimer 1988: 182; vergleichbar MEW 2: 55f.). Ideologiekritik kann ihre Aufgabe, die »herrschenden Gedanken« zu delegitimieren, d. h. ihre Herrschaft legitimierende Funktion deutlich zu machen, nur erfüllen, wenn der rechtfertigende oder ideologische Charakter einer Aussage erkannt und dem falschen (bzw. in dialektischen Ideologiebegriffen: dem zugleich wahren und falschen) Wissen ein gültiges, nicht ideologisches Wissen gegenüberstellt werden kann. Dieses nicht ideologische Wissen hat gemäß der Prämisse der Beobachtungsabhängigkeit von Wissen einen sozialen Standort, von dem aus es formuliert wird. Bei Marx und Engels ist dieser Standort der einer »revolutionären Klasse« (MEW 3: 47), die im Hinblick auf die Gültigkeit von Wissen über eine privilegierte Position verfügt.4 Diese Auffassung, war schon bei Lukács so brüchig geworden, dass er sie in Geschichte und Klassenbewußtsein nur noch mit Hilfe des Konzepts der Zurechnung des »richtigen« Bewusstseins zur Klassenlage aufrechterhalten konnte, hat die ältere Kritische Theorie bezweifelt.5 Erstaunlicherweise findet sie in der Gegenwart trotz erheblicher Begründungsprobleme wieder eine Anhängerschaft im neuen Gewand der Identitätspolitik.6 Der Grundgedanke ist derselbe: Er schließt von bestimmten, mit

—————— 4 »Die revolutionierende Klasse tritt von vornherein, schon weil sie einer Klasse gegenübersteht, nicht als Klasse, sondern als Vertreterin der ganzen Gesellschaft auf […]. Sie kann das, weil im Anfange ihr Interesse wirklich noch mehr mit dem gemeinschaftlichen Interesse aller übrigen nichtherrschenden Klassen zusammenhängt« (MEW 3: 47f.). 5 »Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis.« (Horkheimer 1988: 187) 6 Jüngstes Beispiel dafür ist die Debatte über einen Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Jeanine Cummin, die als weiße US-Amerikanerin über eine Mexikanerin schreibt. Im Kern der Debatte steht die Frage, ob sich die Autorin über das Verbot der kulturellen Aneignung hinwegsetze, ob es also legitim sei, dass eine Nichtmexikanerin über eine mexikanische Migrantin schreibe. Die Annahme, dass dies nicht legitim sei, setzt voraus, dass eine bestimmte ethnische (oder geschlechtliche oder klassenmäßige usw.) Zugehörigkeit eine Bedingung angemessener Darstellung einer Unterdrückungssituation sei. Politisch ist mit der positivistischen These, die Erfahrung von Unterdrückung sei eine

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einer sozialen Lage verbundenen Merkmalen, typischerweise der Erfahrung geschlechtlicher, ethnischer oder ökonomischer Unterdrückung, auf bestimmte Bewusstseinsinhalte bzw. bestimmte Weltdeutungen, die nur dann legitim geäußert werden können, wenn sie von dem dazugehörigen Standort aus formuliert werden, wenn sie also als »authentisch« angesehen werden können.7 Wer die Auffassung eines privilegierten proletarischen Standpunkts (oder seiner gegenwärtigen identitätspolitischen Entsprechung) nicht teilt, muss die Unterscheidung von gültigem Wissen und Ideologie nicht aufgeben. Nach Auffassung der älteren kritischen Theorie blickt man mit »revolutionären Gedanken« oder einer kritischen Theorie der Gesellschaft anders auf die Welt, weil damit ein praktisches Interesse an der Aufhebung von Herrschaft verbunden ist. »Die kritische Theorie hat […] keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts« (Horkheimer 1988: 216).8 Dieses praktische Interesse ist das Ergebnis einer Entscheidung,9 in den Worten Horkheimers: »es gehört ein bestimmtes Interesse dazu« (Horkheimer 1988: 187). Das Interesse an der Abschaffung von Herrschaft ermöglicht einen Standort, von dem aus sich deren Legitimation kritisieren lässt. An diesem Punkt trennen sich Wissenssoziologie und kritische Ideologietheorie. Die Wissenssoziologie bestreitet die Möglichkeit nicht nur einer privilegierten Position, sondern überhaupt einer Position, die eine Unterscheidung zwischen gültigem Wissen und Ideologie ermöglicht.

—————— Voraussetzung des angemessenen Sprechens über Unterdrückung, eine Abkehr von universalistischen Idealen verbunden (die dann als unzulässige Generalisierung des weißen Mannes gelten). 7 In der radikalen identitätspolitischen Variante wird aus mit spezifischen sozialen Lagen verbundenen Erfahrrungen auf die politische Legitimität von Aussagen geschlossen, z. B. wird Weißen die Legitimation abgesprochen, über Unterdrückungserfahrungen von Schwarzen zu sprechen usw. Der Fehlschluss dieser Überlegung wurde häufig kritisiert und ist prominent in der folgenden Redewendung ausgedrückt: Man muss nicht Cäsar sein, um Cäsar verstehen zu können. 8 In der ursprünglichen Fassung des Aufsatzes von 1937 wird das noch deutlicher, da Horkheimer dort nicht von »gesellschaftlichem Unrecht«, sondern vom »Klassenherrschaft« schreibt. 9 Rein dezisionistisch ist diese Entscheidung nicht. Nach Auffassung einer kritischen Theorie ist das uneingelöste Versprechen moderner Sozialordnungen kollektive und individuelle Selbstbestimmung, und die Einlösung dieses Versprechens ist gleichbedeutend mit der Abschaffung von Herrschaft.

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»Das Ideologieproblem ist ein viel zu allgemeines und viel zu prinzipielles Problem, als daß es auf die Dauer das Privileg einer Partei bleiben könnte, und niemand konnte es dem Gegner verbieten, auch den Marxismus auf seine Ideologiehaftigkeit hin zu analysieren.« (Mannheim 1985: 69)

Die privilegierte Position ist nach dieser von Karl Mannheim formulierten Auffassung selbst eine ideologische, weil sie – wie jede andere auch – an einen gesellschaftlichen Standort gebunden, also sozial vermittelt und daher grundsätzlich perspektivisch ist. Ist nicht nur eine ideologische Deutung von Welt perspektivisch, sondern jede, fällt die Differenz von gültigem Wissen und Ideologie: Wenn der Begriff der Ideologie die Standortgebundenheit von Wissen bezeichnet und alles Wissen standortgebunden ist, dann ist alles Wissen Ideologie. Dementsprechend verallgemeinert Mannheim den Ideologiebegriff unter dem Titel des »totalen« Ideologiebegriffs zu der Auffassung der Standortgebundenheit allen Wissens. »Total« ist dieser Ideologiebegriff, weil er für alle sozialen Positionen gilt, also auch für diejenige soziale Position, von der aus Aussagen als Ideologie charakterisiert werden. Zu dieser Auffassung gelangt man nach Mannheim, »wenn man den Mut hat, nicht nur die gegnerischen, sondern prinzipiell alle, also auch den eigenen Standort, als ideologisch zu betrachten« (Mannheim 1985: 70). Der »Mut«, alles Wissen gleichermaßen als ideologisch zu betrachten, ist für Mannheim die Grundlage des Fortschritts von der Ideologienlehre zur Wissenssoziologie: »Mit dem Auftauchen der allgemeinen Fassung des totalen Ideologiebegriffs entsteht aus der bloßen Ideologienlehre die Wissenssoziologie« (Mannheim 1985: 70f.). Aufgabe der Wissenssoziologie ist es, eine »soziologische Geistesgeschichte« zu schreiben, d. h. die »›Seinsverbundenheit‹ des Wissens […] an den verschiedenen Wissensgehalten der Vergangenheit und Gegenwart herauszustellen« (Mannheim 1985: 227), also nicht Weltdeutungen als ideologisch zu kritisieren, sondern deutlich zu machen, welcher soziale Standort einer Weltdeutung zu Grunde liegt. Die Wissenssoziologie fällt keine Urteile über die Geltung von Wissen, sondern über die Genesis von Wissen. Genau darin besteht in Mannheims Verständnis der Fortschritt in der Überwindung der Ideologienlehre durch die Wissenssoziologie. Denn wenn auch eine kritische Ideologietheorie Ideologie produziert, bleibt tatsächlich nur noch eine Wissenssoziologie, die Wissen auf soziale Standorte bezieht, jeder Form von Ideologiekritik entsagt und »ihre ›enthüllende‹ Absicht aufgibt« (Mannheim 1985: 71), weil eine Enthüllung der anderen Position nach wissenssoziologischer Auffassung die eigene Standortgebundenheit verhüllt.

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Durch die Verallgemeinerung des Ideologiebegriffs in der Wissenssoziologie verliert er seinen kritischen Charakter: Ist alles Wissen Ideologie, dann dient die Analyse von Ideologien nicht mehr der Kritik sozialer Herrschaft, sondern ist eine allgemeine Lehre von der sozialen Bedingtheit und Perspektivität allen Wissens, eine »Idolenlehre aller menschlichen Gruppen« (Scheler 1960: 145). Ideologie ist für Scheler denn auch ein »Scheinwissen«, in dem die »kollektive Interessenwurzel«, die »stets denen unbewußt bleibt, die es je gemeinsam haben« (Scheler 1960: 32), gerechtfertigt wird und nicht versucht wird, sie zu reflektieren. Ideologien sind in diesem Verständnis keine Weltdeutungen mehr, die sich aus der sozialen Struktur einer herrschaftlich verfassten Gesellschaft erklären, sondern Selbsttäuschungen. In dieser psychologisierenden Deutung des Ideologiebegriffs sind sich Mannheim und Scheler jenseits aller Differenzen einig: Die Ideologienlehre, so heißt es bei Mannheim, mache es sich »zur Aufgabe, die mehr oder weniger bewußten Lügen und Verhüllungen der menschlichen Parteiungen, insbesondere der politischen Parteien, zu entlarven«, während die Wissenssoziologie das Denken auf der »Konstitutionsebene« analysiere (Mannheim 1985: 228). Die »Konstitutionsebene« bezeichnet die Lehre von der sozialen Bedingtheit allen Wissens und seiner Verschiedenheit infolge der »unvermeidlich verschieden gearteten Bewußtseinsstruktur der verschieden gelagerten Subjekttypen im historisch-sozialen Raum« (Mannheim 1985: 228). Im eigentlichen Sinne soziologisch argumentiert nach dieser Auffassung nicht die »enthüllende« Ideologiekritik, sondern die Wissenssoziologie. Mannheims Wissenssoziologie versteht sich als eine über ihre eigene soziale Bedingtheit aufgeklärte Ideologienlehre, die wegen dieser Aufklärung nicht mehr »enthüllt« und »entlarvt«, sondern »beobachtet« (Mannheim 1985: 228). In der Wissenssoziologie verliert der Begriff der Ideologie nicht nur seinen kritischen Charakter, sondern auch die abwertenden Bedeutungsgehalte, die mit ihm verbunden sind: »Da im Falle des totalen Ideologiebegriffs der Lügenverdacht nicht mehr in Frage kommt, bedeutet auch im Gebiete der wissenssoziologischen Analyse das Wort ›Ideologie‹ nichts mehr moralisch Pejoratives (es ist kein Schimpfwort mehr), sondern eine Anzeige für eine Forschungsabsicht, die der Frage nachgehen will, wann und wo in Aussagestrukturen historisch-soziale Strukturen hineinragen, und in welchem Sinne die letzteren die ersteren in concreto bestimmen können.« (Mannheim 1985: 229)

Ideologie ist in diesem Verständnis einfach Wissen in einer sozialhistorischen Situation, weshalb Mannheim dann auch dafür plädiert, den »zu sehr

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belasteten« Ideologiebegriff durch die Rede von einer »seinsverbundenen – oder standortgebundenen – Aspektstruktur« (Mannheim 1985: 229) zu ersetzen. Von diesem Bedeutungswandel ist auch der in einer kritischen Ideologietheorie zentrale Begriff des »falschen Bewusstseins« betroffen. Er verwandelt sich in Mannheims Wissenssoziologie aus einem kritischen Begriff in einen Begriff, der eine Dysfunktionalität bezeichnet: »falsch und ideologisch« ist für Mannheim ein Bewusstsein, das »in seiner Orientierungsart die neue Wirklichkeit nicht eingeholt hat und sie deshalb mit überholten Kategorien eigentlich verdeckt« (Mannheim 1985: 85). Das »falsche Bewusstsein« ist hier nicht mehr eines, das überkommene soziale Verhältnisse rechtfertigt, sondern eines, das diesen Verhältnissen nicht angemessen ist. Ideologisch in diesem Verständnis sind Auffassungen, die nicht auf der Höhe der Zeit sind. Aber wer beurteilt, was auf der Höhe der Zeit ist und was nicht? Diese von der Wissenssoziologie vorgenommene »Sichtung« von Weltdeutungen auf Zeitangemessenheit setzt voraus, nicht nur die eigentliche Aufgabe der Wissenssoziologie, die Relationierung von Wissen und sozialhistorischen Lagen, durchzuführen, sondern über Kriterien zu verfügen, die Urteile über die Angemessenheit von Wissen ermöglichen, d. h. zwischen gültigem Wissen und Ideologie unterscheiden zu können. Da dies dem wissenssoziologischen Grundgedanken offensichtlich zuwiderläuft, ist jene »Sichtung« für Max Horkheimer Ausdruck der »spiritualistischen Grundeinstellung dieser Art von Soziologie« (Horkheimer 1987: 292). Tatsächlich ließen sich, weil sich die Unangemessenheit einer Auffassung an die »Wirklichkeit« auf deren Funktionalität und nicht auf den Inhalt bezieht, moralisch ausgesprochen zweifelhafte Beispiele für Ideologien im Sinne der Mannheim’schen Bestimmung konstruieren: Zum Beispiel die Idee demokratischer Selbstbestimmung in einer Diktatur oder das Konzept menschlicher Gleichheit in einer rassistischen Gesellschaft wären dann aufgrund ihrer Zeitunangemessenheit Ausdruck eines »falschen Bewusstseins«. Die Wissenssoziologie, die an die Stelle der Ideologiekritik tritt, ist wie diese an einen sozialen Standort gebunden. Trotzdem sind ihre Aussagen und insbesondere ihre politischen Aussagen nicht in gleicher Weise parteiisch. Dies hängt nach Mannheim mit dem sozialen Standort des Trägers der Wissenssoziologie, der »freischwebenden Intelligenz«, (Mannheim 1985: 138) zusammen: Deren Urteile im Allgemeinen wie deren politische Urteile im Besonderen seien nicht wie bei »den durch eine mehr oder minder eindeutige Klassenlage bestimmten Schichten […] bereits vorgegeben« (Mann-

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heim 1985: 140). Nach Mannheim steht die frei schwebende Intelligenz aufgrund eines anderen Bindemittels, nämlich Bildung, zwischen den Klassen und könne die Seinsgebundenheit ihres eigenen Wissens besser reflektieren, weil Bildung unabhängig von Klassenlagen erworben werden könne und die soziale Zusammensetzung der freischwebenden Intelligenz daher vielfältiger sei. Außerdem seien in der freischwebenden Intelligenz Menschen versammelt, »die selbst unterschiedliche Denkstandorte kennen gelernt haben« (Knoblauch 2005: 109). Diese geistige Beweglichkeit ermöglicht die Distanz zum Gegenstand wie zum eigenen Standort, die das wissenssoziologische Forschungsprogramm benötigt. »Nur dem Vorhandensein einer solchen relativ freischwebenden Mitte, der immer wieder Individuen sozial verschiedenster Herkunft mit ihren verschieden gearteten Denkweisen zuströmen, ist ein reales gegenseitiges Durchdringen der vorhandenen Tendenzen zu danken und nur von hier aus kann die früher angedeutete, immer von neuem vorzunehmende Synthese entstehen.« (Mannheim 1985: 140f.)

Auch wenn die politischen Urteile und Einschätzungen der »freischwebenden Intelligenz« weniger eindeutig durch die Klassenlage »vorgegeben« sind, so sind auch sie durch eine soziale Position bestimmt – die »freischwebende Intelligenz« steht in der »dynamischen Mitte« (Mannheim 1985: 165). Diese »Mitte« ermögliche es, sich nicht auf eine Seite zu schlagen, sondern sich auf die »eigenen Wurzeln« zu besinnen und als »prädestinierter Anwalt der geistigen Interessen des Ganzen« (Mannheim 1985: 138) aufzutreten. Die Perspektive des Ganzen ist indes keine kritische, sondern eine affirmative: Als »prädestinierter Anwalt« des »Ganzen« aufzutreten heißt nicht, Herrschaft zu kritisieren (das wäre nach Auffassung der Wissenssoziologie Mannheims eine partikulare Perspektive), sondern sie als gegeben hinzunehmen. Im Unterschied zu einer kritischen Gesellschaftstheorie, die sich für eine Seite entscheidet, hält sich die Wissenssoziologie heraus. Sie ist natürlich als »Anwalt des Ganzen« auch parteiisch, aber sie steht eben nicht mehr auf einer Seite einer Herrschaftsbeziehung, sondern sie blickt in der Perspektive der Beziehung selbst, d. h. in einer Perspektive, die Herrschende und Beherrschte umfasst, auf die soziale Welt. Die Parteilichkeit der Wissenssoziologie ist nicht durch die laute Stimme entrüsteter Anklage gekennzeichnet, sondern durch die abwägende, ruhige und vernünftige Reflexion: »Es ist aber ein wesentlicher Unterschied, ob diese Entscheidung unbewußt und naiv die Sicht bestimmt (was jede prinzipielle Blickerweiterung verhindert) oder ob sie nur auftritt, nachdem alles, was für uns reflexiv gemacht werden kann, alles, was für

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uns bereits wißbar ist, in die Problemstellung und Deliberation einbezogen wird.« (Mannheim 1985: 165)

Die Wissenssoziologie hat die kritische Ideologietheorie nicht nur überwunden, sondern in eine affirmative Gesellschaftstheorie verwandelt. Die bürgerliche Feier der Mitte, von der »Extreme« abweichen, ist selbst eine Perspektive auf soziale Welt, in der Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie eine ideologische: Sie feiert das, was ist, als das, was sein soll, nur heißt das, was ist, nicht mehr Klassengesellschaft, sondern »das Ganze«. An die Stelle einer herrschaftskritischen Perspektive, die notwendig partikular ist, tritt die Perspektive »des Ganzen« und die »Gesamtorientierung« (Mannheim 1985: 141). Dieser staatsmännische Habitus der Wissenssoziologie eröffne einen Blick »außerhalb der Parteischulen« (Mannheim 1985: 141), aber eben einen Blick, der die herrschaftliche Struktur der Gesellschaft nicht nur nicht kritisiert, sondern unter dem Titel »Gesamtorientierung« zur Grundlage seiner Perspektive auf soziale Phänomene macht. Entsprechend halten Vertreter*innen eines kritischen Ideologiebegriffs Vertreter*innen einer Soziologie des Wissens vor, dass diese in ihren Grundannahmen auf eine Affirmation bestehender Herrschaftsverhältnisse hinauslaufe. Dieser Einwand ist nicht nur für Mannheim nicht von der Hand zu weisen: Der positive Bezug, den Peter L. Berger und Thomas Luckmann in dem wichtigsten wissenssoziologischen Werk der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, auf Marx nehmen, ist ein vom kritischen Gehalt des Marxschen Ideologiebegriffs gereinigter Bezug: »Von Marx hat die Wissenssoziologie nicht nur die schärfste Formulierung ihres zentralen Problems, sondern auch einige ihrer zentralen Begriffe, darunter zum Beispiel den der ›Ideologie‹ (Ideen, die als Waffen für gesellschaftliche Interessen wirken) und den des ›falschen Bewußtseins‹ (Denken, das dem gesellschaftlichen Sein des Denkenden ›entfremdet‹ ist.« (Berger/Luckmann 1987: 6)

Das ist allerdings nicht das Marx’sche Verständnis dieser Begriffe, sondern das Mannheims: Ideologie wirke »für gesellschaftliche Interessen« egal welcher Art10 und falsch sei ein Bewusstsein, das in einer nicht angemessenen Beziehung zum Standort stehe. Von der Rechtfertigung gesellschaftlicher Herrschaft ist hier so wenig die Rede wie von ihrer Aufrechterhaltung mit

—————— 10 Dementsprechend verstehen Berger und Luckmann unter Ideologien die unterschiedliche Auslegung derselben »allgemeinverbindlichen Sinnwelt […] in Abhängigkeit von Interessen« (Berger/Luckmann 1987: 132).

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Hilfe von Ideologie. Das kann in einer Wissenssoziologie, in deren Konzept der Sozialität von Wissen sich gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in unterschiedliche »gesellschaftliche Interessen« auflösen, auch nicht anders sein. Dieser unkritische Charakter einer wissenssoziologischen Perspektive auf soziale Wirklichkeit wird in einer Gegenwart, die von »fake news«, Verschwörungstheorien und nationalistischen Weltdeutungen zunehmend geprägt ist, zum Problem: Wenn wir wissenssoziologisch all diese Formen von Wissen als Formen neben anderen verstehen müssen, die, weil alles Wissen sozial relativ auf Beobachtungsperspektiven ist, in gleicher Weise Geltungsanspruch haben wie andere Perspektiven, dann tritt an die Stelle der Kritik des Falschen und der sozialen Verhältnisse, die es hervorbringen, die unparteiische Analyse der Mächtigkeit von Akteuren, die erklären soll, wieso jene Formen Geltung erlangen. Diese Analyse indes bleibt stumm und muss stumm bleiben, wenn zwischen gültigem Wissen und Ideologie unterschieden werden soll. Sie hat sich jedes inhaltlichen Kriteriums beraubt, Ideologien als Rechtfertigungen zu kritisieren oder die Falschheit von »fake news« deutlich machen zu können. In genau dieser Weise, d. h. als Analyse der Fähigkeit von Akteuren, Deutungsmuster von Welt sozial zu etablieren und als gültig zu setzen, wird in der Gegenwart die Aufgabe der Wissenssoziologie verstanden, sofern diese sich überhaupt noch auf den Begriff der Ideologie bezieht:11

—————— 11 Die Geschichte der Wissenssoziologie lässt sich als eine Geschichte zunehmender Distanz zum Problem der Ideologie und zum Ideologiebegriff schreiben. Prototypisch steht dafür eine nicht unbedeutende Strömung in der gegenwärtigen deutschsprachigen Wissenssoziologie, die an die Wissenssoziologie von Berger und Luckmann anschließt, sich aber in Abgrenzung dazu als »Kommunikativer Konstruktivismus« bezeichnet. Für diese spielt Ideologie weder als theoretisches Problem noch als Begriff eine Rolle. In den konzeptionellen Publikationen dieser Strömung taucht der Begriff genau ein Mal auf, nämlich bei Jo Reichertz: »Insofern ist der Kommunikative Konstruktivismus durchaus mit realistischen Konzepten vereinbar, da er die kommunikativ geschaffene Möglichkeit nicht als Schein, als ideologisch oder gar als falsch denunziert, sondern sagt, dass es nur eine einzige Wirklichkeit für die jeweilige Gesellschaft gibt – nämlich die kommunikativ geschaffene« (Reichertz 2017: 254). Für den Kommunikativen Konstruktivismus ist soziale Wirklichkeit eine kommunikativ geschaffene Wirklichkeit, was für alles Wissen gleichermaßen gilt. Damit nimmt er die Position der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann auf, in deren Tradition die gegenwärtige Wissenssoziologie weit überwiegend steht, und schreibt sie fort. In diesem Verständnis gibt es kein Ideologieproblem mehr: Sie setzt an die Stelle des totalen Ideologiebegriffs von Mannheim den Begriff des Wissens, was zwangsläufig dazu führt, dass der Begriff der Ideologie in der Wissenssoziologie randständig wird.

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»Wissenssoziologie ist Ideologiekritik, weil sie weiß, dass Wissen nur eine zwischenmenschliche Kategorie und jede Form von Wahrheit stets nur ›kontingent‹ sein kann. Klar ist damit auch, dass der Anspruch auf Wahrheit immer auch mit der Macht verbunden ist, die Geltung dieses Anspruches einfordern zu können. Die Analyse von Formen und Herkünften des Wissens ist unter diesem Aspekt so etwas wie ein ›Machtsichtgerät‹.« (Dimbarth/Keller 2017)

An die Stelle der Frage nach der Geltung tritt die Frage nach der Mächtigkeit, Geltung wird unterschiedslos in die Macht übersetzt, Geltung zu verschaffen. So heißt es schon bei Foucault: Die »Beziehungen, Strategien und Technologien der Macht, die uns konstituieren, uns durchqueren und ausmachen, sind von Formationen des Wissens und der Wahrheit begleitet, die sie ermöglichen und produzieren« (Foucault 1978: 10). Wenn der »Anspruch auf Wahrheit« auf die Macht verweist, »die Geltung dieses Anspruchs einfordern zu können«, ist die Geltungsfrage, die die frühe Wissenssoziologie noch umgetrieben hat, in eine Machtfrage transformiert. Da die Macht, Wissen Geltung zu verschaffen, sozial ungleich verteilt ist und im Normalfall bei der, mit Marx gesprochen, »herrschenden Klasse« liegt, kann das »Machtsichtgerät« Wissenssoziologie im Grunde nur feststellen, was man auch ohne das »Machtsichtgerät« Wissenssoziologie wissen kann, dass historisch spezifische Herrschaftsordnungen historisch spezifische Formen ihrer Legitimation ausbilden, ohne die sie nicht stabil wären, oder mit Marx gesprochen: dass in einer stabilen Herrschaftsordnung die herrschenden Gedanken die der herrschenden Klasse sind. Es ist kein Zufall, dass in der Antike Sklaven als stimmbegabte Sachen verstanden wurden und in Adelsgesellschaften die Auffassung prominent war, der Hochadel entstamme einem »edleren Geschlecht«. Die wissenssoziologische Ideologiekritik stellt fest, was ist, sie antwortet auf die Geltungsfrage mit einer Analyse der Mächtigkeit, Geltung herzustellen. Eine Ideologiekritik, die inhaltlich nach der Gültigkeit von Wissen und seiner sozialen Funktion fragt und untersucht, inwiefern und wie es zur Legitimation von Herrschaft beiträgt, lässt sich mit dem »Machtsichtgerät« Wissenssoziologie nicht betreiben. Den affirmativen Bezug auf Gesellschaft teilt die gegenwärtige mit der frühen Wissenssoziologie. Das muss auch so sein: Herrschaftskritik setzt die Unterscheidung von Ideologie und gültigem Wissen voraus, und genau diese Unterscheidung löst die Wissenssoziologie auf.

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2. Kritische Wissenssoziologie? Wer das nicht will, hat ein Problem. Der wissenssoziologische Grundgedanke, dass Wissen sozial verortet ist und daher aus einer Perspektive formuliert wird, ist hoch plausibel – wie sollte auch ein Wissen unabhängig von einer konkreten sozialhistorischen Situation formuliert werden können? Er gilt sowohl in einer diachronen wie in einer synchronen Perspektive. Historische Relativität von Wissen bedeutet, dass die Geltung von Wissen einen »Zeitkern« (Adorno 1977: 472) hat, Wahrheit »zerbrechlich vermöge ihres zeitlichen Gehalts« (Adorno 1990b: 45) ist. Was einmal als gültiges Wissen angesehen wurde, kann veralten, als nicht mehr gültiges Wissen angesehen werden, wie ein Wissen, das heute als gültig angesehen wird, zu früheren Zeiten nicht als gültiges Wissen galt. So hat die Idee, dass Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gattung Mensch gleiche Rechte haben, offensichtlich soziale Voraussetzungen, die im antiken Rom nicht gegeben waren. Wenn Ideen an soziale Voraussetzungen gebunden sind, kann man nicht nur nicht zu jeder Zeit alles sagen. Die Geltungsansprüche des Gesagten sind mit einem sozialhistorischen Index versehen, der die Bedeutung des Gesagten kontextualisiert, auf die soziale Situation des Sprechens bezieht.12 Was gesagt wird, bedeutet zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliches, je nach dem Kontext, in dem es gesagt wird. Ein Beispiel dafür ist John Tolands 1714 in der Schrift Reasons for Naturalizing the Jews in Great Britain and Ireland publizierte Forderung nach einer rechtlichen Gleichstellung der Juden. Tolands Buch spielte in der Diskussion zur rechtlichen Gleichstellung der Juden keine Rolle,13 obwohl seine Argumentation in ihren Grundzügen weitgehend der Argumentation entspricht, die Christian von Dohm in den frühen 1780ern in Preußen publiziert hat und mit der er über Jahrzehnte zum zentralen Bezugspunkt der Gleichstellungsdebatte wurde.14

—————— 12 Es ist erstaunlich und ein in der breiten Debatte um Mannheims Wissenssoziologie selten systematisch diskutiertes Phänomen (Ausnahmen sind etwa Lenk und Horkheimer), dass das Konzept von Wahrheit, gegen das Mannheim anschreibt, ein entkontextualisiertes und daher überhistorisch gültiges ist, ein Konzept also, dass auch zu seiner Zeit in der Soziologie randständig war. 13 1715 erschien eine Gegenschrift, die aber ebenfalls rasch in Vergessenheit geriet (vgl. Mainusch 1965: 9). Das gilt auch für die gegenwärtige Diskussion dieser Zeit mit wenigen Ausnahmen, etwa Katz 1989: 33f. 14 Im Zentrum der Argumentation stehen bei beiden Toleranz, bürgerliche Gleichheit, Bevölkerungswachstum als Grundlage staatlicher Wohlfahrt (vgl. Toland 1965; Dohm 1973).

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Dass Dohms Arbeit bis heute als Meilenstein gilt, Tolands hingegen weitgehend vergessen ist, dass auf Dohm, nicht aber auf Toland in der damaligen Debatte Bezug genommen wurde, hat nicht mit den Argumenten, sondern mit deren sozialen Kontexten zu tun. Dohm hat seine Schrift zu einem Zeitpunkt publiziert, zu dem die Emanzipation der Juden historisch anstand,15 während Toland sie vor diesem veröffentlichte und seine Zeitgenossen keinen Anlass sahen, sich mit nicht in die Zeit passenden Argumenten auseinander zu setzen. Von der Annahme, gültiges Wissen habe einen sozialhistorischen Index, ist es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, dass der Blick auf die Welt zu einem gegebenen Zeitpunkt ebenfalls durch eine Perspektive gegeben ist und damit vom sozialen Standort abhängt, die Relativität von Wissen also nicht nur eine diachrone, sondern auch eine synchrone Dimension hat. Das lässt sich mit Hilfe von Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung deutlich machen: Nach Wittgenstein steht die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht fest, sondern hängt vom Kontext ihrer Verwendung ab. Die unterschiedliche Verwendung, bei Wittgenstein das »Sprachspiel«, verweist auf unterschiedliche Lebensformen. »Das Sprechen der Sprache ist ein Teil einer Tätigkeit oder einer Lebensform« (Wittgenstein 1984: 250). Was Wittgenstein als Lebensform bezeichnet, wird in der gegenwärtigen Soziologie als »Milieu« gefasst, in der Soziologie des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts als »Gruppe«. Die Sprachverwendung in »Milieus« oder »Gruppen« folgt, selbst wenn sie explizit kodifiziert ist, impliziten Regeln, über die nur die Angehörigen des Milieus bzw. der Gruppe verfügen (vgl. Renn 2006: Kap. IV). Jede und jeder, die bzw. der mit ihrem bzw. seinem Schulenglisch einmal ein englischsprachiges Land bereist hat, hat Wittgensteins Theorem, dass das Sprechen einer Sprache Teil einer Lebensform sei, an der Unzulänglichkeit der eigenen Ausdrucks- und Verstehenskompetenz erlebt. Was zwischen unterschiedlichen Sprachgemeinschaften gilt, gilt natürlich auch in unterschiedlichen Milieus in einer Sprachgemeinschaft: Wenn Eltern versuchen, sich gegenüber ihren Kindern in Jugendsprache auszudrücken, wirkt das ähnlich hilflos wie etwa der Versuch von Soziolog*innen, mit Menschen, die nicht der Mittel- oder Oberschicht entstammen und eine entsprechende Sozialisation durchlaufen haben, ein biographisch-narratives Interview zu führen. Der Grund ist in beiden Fällen derselbe: Sie teilen die entsprechende Lebensform nicht, haben nicht teil an der Praxis eines Milieus, die dem

—————— 15 Dem ging ein längerer Prozess schrittweiser Emanzipation der Juden in einigen Staaten Europas voraus (vgl. dazu Weyand 2016: 88ff.).

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kompetenten Sprechen und Verstehen vorausgesetzt ist. Spätestens seit Bourdieus Arbeiten zum Geschmack ist klar, dass die Abhängigkeit des Weltverstehens von sozialen Milieus nicht nur für Wissen gilt, sondern auch unser Gefühlsleben, die Art und Weise, wie wir empfinden, was wir für Geschmacksvorlieben haben, strukturiert. In den Worten Max Schelers: »Zur relativ natürlichen Weltanschauung eines Gruppensubjekts […] gehört alles, was generell in dieser Gruppe als fraglos gegeben gilt« (Scheler 1960: 61, vergleichbar Schütz 2011a: 128).16 Das fraglos Gegebene ist das implizit Geteilte, zum Beispiel Metaphern, Betonungen, Bedeutungsspektren, typische Weisen des Erlebens usw. Wissen und Emotionen haben folglich nicht nur einen »Zeitkern«, sondern auch einen sozialen Kern, sie sind relativ auch auf Milieus. Man kann nicht nur nicht zu jeder Zeit alles sagen, das, was man sagt, hat auch nicht in jedem Milieu die gleiche Bedeutung. Anders als Mannheim dachte, ist die Wissenschaft bzw. sind die Intellektuellen für dieses Problem keine Lösung. Denn für die Wissenschaft bzw. für intellektuelle Milieus gilt erstens, was für andere Milieus auch gilt: Die kompetente Verfügung über ihr Sprachspiel setzt die Teilhabe an dieser Lebensform voraus. Zweitens hat schon Alfred Schütz gezeigt, dass sich wissenschaftlicher und alltagsweltlicher Blick auf die soziale Welt unterscheiden. Der Unterschied liegt nicht, wie Mannheim annahm, darin, dass Bildung die Intellektuellen anders »verbindet« (Mannheim 1985: 136) als Klassenzugehörigkeit,17 weshalb diese ihre Standortgebundenheit besser reflektieren könnten. Vielmehr ist der wissenschaftliche Blick auf die Welt insofern ein anderer, als er eine Beobachtung »zweiter Ordnung« darstellt, die für Wissenschaftler*innen anderes als für die beobachteten Akteure »nicht praktisch, sondern kognitiv« (Schütz 2010: 357) von Interesse ist und die auch nicht durch pragmatische Interessen in der untersuchten Situation, sondern durch den Stand des verfügbaren sozialwissenschaftlichen Wissens über die Situation bestimmt ist (vgl. Schütz 2010: 357f.). Deshalb liefern Wissenschaft oder intellektuelle Milieus keinen angemesseneren oder besseren, sondern nur einen anderen Blick auf die Welt.

—————— 16 Kuhn hat diesen Gedanken am Schluss seines Postskriptums zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen auf wissenschaftliche Gemeinschaften bezogen: »Wissenschaftliche Kenntnisse sind wie die Sprache wesentlich das Gemeineigentum einer Gruppe, oder es gibt sie nicht. Um sie zu verstehen, werden wir die besonderen Charakteristika der Gruppen kennen müssen, die sie hervorbringen und gebrauchen« (Kuhn 1981: 221). 17 »Das Teilhaben am gemeinsamen Bildungsgut unterdrückt der Tendenz nach immer mehr die geburtsmäßig-ständischen, beruflichen, besitzmäßigen Differenzen und verbindet die einzelnen Gebildeten gerade im Zeichen dieser Bildung.« (Mannheim 1985: 136)

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Führt aus der Perspektivität von Wissen kein Weg hinaus, weil alles Wissen historisch und sozial relativ ist, wird auch die Unterscheidung von gültigem Wissen und Ideologie wie auch die Rede von einem »falschem Bewusstsein« problematisch, denn der Blick auf Ideologie erfolgt sicher von einem anderen Standort als die Produktion von Ideologie. Auf die Frage, wie unter Voraussetzung der Geltung der wissenssoziologischen Grundannahme zwischen Ideologie und gültigem Wissen unterschieden werden kann, muss eine kritische Ideologietheorie Antworten finden, die über eine Kritik der Wissenssoziologie und ihres affirmativen Charakters hinausgehen. Andernfalls ist Mannheims Totalisierung des Ideologiebegriffs plausibel und die Wissenssoziologie die legitime Erbin der kritischen Ideologietheorie. Nach meinem Eindruck ist dies insbesondere aus zwei Gründen, die ich im Folgenden sehr knapp benennen will, nicht der Fall: Für wissenssoziologische Analysen steht die Beziehung zwischen Wissen und unterschiedlichen Gruppen oder Milieus im Vordergrund. Es ist kein Zufall, dass Scheler von einem »Gruppensubjekt« bzw. von »Gruppenseele« und »Gruppengeist« als »Kategorien«, spricht, »ohne die auch die Wissenssoziologie nicht auskommen kann« (Scheler 1960: 54), Berger und Luckmann von »Gemeinschaft« bzw. »Gruppe« als der Einheit sprechen, die gesellschaftliche »Sinnkonstruktionen« trägt (Berger/Luckmann 1987: 90), oder Alfred Schütz Fremdheit als Unverfügbarkeit der kulturellen Muster einer neuen Gruppe begreift (Schütz 2011b), um nur drei Beispiele zu nennen. Der frühen wie der gegenwärtigen Wissenssoziologie geht es um den sozialen Charakter von Wissen, d. h. der Begriff des Wissens verweist auf geteiltes Wissen. Zentrale Grundlage geteilten Wissens und damit der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit ist die gemeinschaftliche Lebensform der Angehörigen einer Gruppe bzw. eines Milieus. Gerade Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben diesen Zusammenhang von sozialer Praxis und geteiltem Wissen eindrucksvoll beschrieben. Im Zentrum der Überlegung etwa von Alfred Schütz zur sozialen Verteilung von Wissen (Schütz 2011a) steht nicht die Stratifikation sozialer Rollen, sondern stehen Formen horizontaler Differenzierung. Auch für Berger und Luckmann ist die Ausdifferenzierung von unterschiedlichen Perspektiven auf soziale Phänomene ein Prozess der Ausdifferenzierung von gemeinschaftlich geteilten »Subsinnwelten«.18 Dieser Prozess der Ausdifferenzierung von Subsinnwelten folgt wie

—————— 18 »Mit dem Auftreten von Subsinnwelten entwickelt sich eine Vielfalt der Perspektiven, unter denen sich die Gesamtgesellschaft betrachten läßt; sie wird von jeder Subsinnwelt her in anderem Blickwinkel gesehen.« (Berger/Luckmann 1987: 91)

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schon bei Durkheim einer sozialen Logik der horizontalen Differenzierung: »Die Chance, dass sie entstehen, wächst mit der Arbeitsteiligkeit und dem ökonomischen Überschuß« (Berger/Luckmann 1987: 90, vgl. auch 134). Dabei geht der Blick für vertikale Formen sozialer Differenzierung zwar nicht verloren, aber er tritt in den Hintergrund. Im Zentrum des wissenssoziologischen Verständnisses der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit steht die Differenz von Milieus oder Gruppen – am deutlichsten wird das wohl bei Schelers Zuordnung von Wissensformen zu Gruppen (vgl. Scheler 1960: 171ff.): Es geht darum, wie Gruppen oder Milieus Sinnwelten durch eine gemeinschaftliche soziale Praxis ausbilden und wie sich diese Sinnwelten ausdifferenzieren. Die unterschiedlichen Standorte werden zuerst als horizontal differenzierte Standorte gefasst. Das scheint mir nicht nur ein wesentlicher Grund für die wissenssoziologische Verallgemeinerung des Ideologiebegriffs und den damit verbundenen Anspruch zu sein, an die Stelle einer kritischen Ideologietheorie zu treten, sondern auch für die damit verbundene Transformation eines kritischen Ideologiebegriffs in ein Konzept, in dem es um die Artikulation von gruppenspezifischen Interessen geht. Doch eine kritische Ideologietheorie interessiert sich nicht zuerst für Formen horizontaler, sondern für Formen vertikaler Differenzierung, ihr geht es nicht um gruppenspezifische Interessen, sondern um durch Herrschaft charakterisierte Beziehungen von Gruppen zueinander, die Privilegien unterschiedlich verteilen. Ein kritischer Begriff der Ideologie zielt im Kern auf die Legitimation von stratifizierten sozialen Beziehungen, in denen für eine Seite eine Chance besteht, »für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden« (Weber 1956: 38) oder in denen eine Seite über Privilegien verfügt, über die die andere nicht verfügt. Deshalb ist nicht ersichtlich, warum ein wissenssoziologisches Verständnis sozialer Wirklichkeit mit einem kritischen Begriff der Ideologie unvereinbar sein sollte. Auch wenn vertikale und horizontale Differenzierungsformen in der entsprechenden Literatur oft gegeneinander diskutiert werden, wird kaum jemand bestreiten, dass moderne soziale Ordnungen durch Formen horizontaler und vertikaler Differenzierung gekennzeichnet sind. In einer solchen Perspektive stehen eine wissenssoziologische und eine ideologiekritische Argumentation nicht gegeneinander, sondern ergänzen einander. Eine kritische Ideologietheorie hat mit der Annahme, dass alles Wissen auf soziale Standorte verweist, kein Problem (wohl aber mit den in der Wissenssoziologie daraus gezogenen Folgerungen, siehe unten).

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Dass Formen der Legitimation von Herrschaft Ideologie sind und nicht einfach Wissen, kann nur sehen, wer die wissenssoziologische Perspektive einer »Gesamtorientierung« verlässt. Denn die Herstellung von Gehorsamsbereitschaft sieht nur, wer sie sehen will: In einem Herrschaftsverhältnis nimmt eine ideologiekritische Perspektive die Perspektive der Beherrschten ein und muss sie einnehmen, da Ideologien nicht einfach, um eine Formulierung von Berger und Luckmann wieder aufzunehmen, für gesellschaftliche Interessen wirken, sondern sich auf eine soziale Relation, ein Herrschaftsverhältnis eben, beziehen, das sie legitimieren. Ideologien bleiben unverständlich, wenn man sich, wie das im wissenssoziologischen Umgang mit dem Ideologiebegriff der typische Fall ist, nur auf die Gruppe bezieht, deren Interessen eine Ideologie unterstützen soll. Es geht vielmehr darum, Ideologien aus der Herrschaftsbeziehung, also aus einer Relation zu verstehen: Ideologien stellen etwas anders dar, als es ist, aber nicht zuerst, weil der Standort ein anderer ist, sondern weil sie Illegitimes legitim erscheinen lassen. Ideologiekritik klärt darüber auf und kann sich deshalb dem Spiel von Legitimation und Delegitimation nicht entziehen. Die Erkenntnis von Legitimationsmustern ist Teil ihrer Delegitimation, der zugehörige Standort daher einer der Herrschaftskritik. Nun ist es sicher so, dass die Palette sozialer Herrschaft nicht nur schwarze und weiße Töne enthält, sondern alle möglichen Schattierungen, etwa den homosexuellen männlichen weißen Lohnarbeiter im Globalen Norden, und alle möglichen mittleren Positionen, in denen sich Herrschen und Beherrschtwerden mischen, etwa die Vorarbeiterin in einer Fabrik. Offenbar sind in differenzierten Sozialordnungen auch die Herrschaftsbeziehungen differenziert. Aber es ist klar, dass, wie ausdifferenziert Herrschaftsbeziehungen auch sein mögen, im Kern von Herrschaftsbeziehungen Privilegien stehen, die den einen zukommen und den anderen nicht. Die ungleiche Verteilung von Privilegien in der Perspektive des »Ganzen« zu analysieren, fordert Unparteilichkeit an einer Stelle, an der sie faktisch dazu führt, gemeinsame Sache mit den Herrschenden zu machen. An dieser Stelle müssen sich nicht nur Wissenssoziolog*innen, sondern Sozialwissenschaftler*innen allgemein entscheiden, weil die Neutralität gegenüber dem Privileg gleichbedeutend mit seiner Anerkennung ist. Die Aufklärung über Privilegien muss parteiisch sein, weil sie ihrem inneren Sinn nach darauf abzielt, die Privilegien abzuschaffen, d. h. die soziale Ordnung, die sie hervorbringt, so zu verändern, dass sie nicht mehr hervorgebracht werden. Dagegen lässt sich zwar einwenden, dass es im Detail nicht so einfach sei.

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Doch das ändert nichts an der Notwendigkeit der Parteilichkeit. So würde im Feld der Geschlechterbeziehungen wahrscheinlich niemand bestreiten, dass es eine Vielzahl von Geschlechtsidentitäten gibt, von denen sich die meisten in eine hierarchische Ordnung bringen lassen, aber sicher ist auch, dass es die männliche ist, um deren Privilegien es geht. Im Feld des Rassismus werden nicht nur unterschiedliche Selbst- und Fremdbeschreibungen Gruppen zugeschrieben, diese werden auch in hierarchische Ordnungen gebracht, aber sicher ist auch, dass es um Privilegien von Weißen geht. Niemand, auch nicht die gegenwärtige marxistische Klassentheorie, geht von einem ökonomischen Konflikt zwischen zwei Klassen aus, trotzdem ist klar, dass es um Privilegien von Kapitaleigentümern geht. Eine kritische Gesellschaftstheorie steht auf der Seite derer, die nicht privilegiert sind. Ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstreflexion zehrt von dem Anspruch, die Privilegien durch Eingriff in die sozialen Voraussetzungen, die sie hervorbringen, abzuschaffen. Ein Element davon ist Ideologiekritik. Eine kritische Ideologietheorie muss also – und in diesem Punkt hat Mannheim sicher Recht – eine Entscheidung treffen, nämlich die Entscheidung, ob die ungleiche Beeinträchtigung von Lebenschancen von Menschen durch eine krasse Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die Beeinträchtigung von Entfaltungsmöglichkeiten aufgrund geschlechtlicher, ethnischer oder anderer Zugehörigkeiten sein sollen oder nicht. Eine Folge dieser Entscheidung sind unterschiedliche Verständnisse des Sinns und der Aufgabe von Gesellschaftstheorie. Für eine kritische Gesellschaftstheorie gibt es keine »wertfreie« Untersuchung der Beziehung von Wissen und sozialen Standorten, die nicht auch inhaltlich nach der gesellschaftlichen Funktion dieses Wissen fragt und mit der Antwort auf diese Frage »Wertfreiheit« als Fiktion ausweist. Gesellschaftstheorie ist mit anderen Worten wertgebunden. Sie kann ihre Werte nur reflektieren. Die Verleugnung oder Negation der Wertgebundenheit im auch von der Wissenssoziologie hoch gehaltenen Konzept der wertfreien Sozialwissenschaft verwandelt diese in eine affirmative Theorie. Den Grundsatz der Gleichwertigkeit von Lebenschancen und Entfaltungsmöglichkeiten muss man nicht teilen. Aber es ist doch nicht nur ein philosophisch gut begründeter, sondern auch ein intuitiv einleuchtender Wert. Wenn es anders wäre, müsste Ideologie nicht sein Gegenteil verschleiern. Warum die Parteilichkeit einer kritischen Ideologietheorie dazu führen sollte, dass sie nicht zu gültigen Aussagen kommen können soll, hat schon Max Horkheimer nicht eingesehen:

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»Daß aber die Tatsache der ›Seinsgebundenheit‹ Einfluß auf den Wahrheitsgehalt eines Urteils haben soll, ist gar nicht zu verstehen – warum sollte die Einsicht nicht gerade so gut seinsgebunden sein wie der Irrtum?« (Horkheimer 1987: 284)

Ideologiekritik weiß selbstverständlich, dass sie aus einer Perspektive formuliert wird und dass alles Wissen perspektivisch ist. Der Clou an der Ideologiekritik ist nicht, dass sie an einen Standort gebunden ist, sondern dass sie einen Beitrag zur Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst leistet. Weil sie Weltverständnisse kritisiert, die, funktional betrachtet, etwas verschleiern, anders darstellen, als es ist, produziert sie nicht vor allem eine andere Perspektive, die aufgrund der Perspektivität allen Wissens so viel gilt wie jede andere auch, sondern klärt auf, stellt richtig. Indem Ideologiekritik die Funktion von Ideologien deutlich macht, eben etwas zur Sicherung von Privilegien anders darzustellen, als es ist, unterscheidet sie sich von der Ideologie, dem kritisierten Wissen, als ein Wissen, dass jenes in seiner gesellschaftlichen Funktion und Entstehung erklärt. Ist die Delegitimation einer Ideologie plausibel, dann ist der rechtfertigende Charakter des ideologischen Wissens gültig gezeigt. Wenn das Faktum der Perspektivität die Gültigkeit der Ideologiekritik nicht einschränkt, gibt es auch keinen Grund, die Unterscheidung zwischen Ideologie und gültigem Wissen aufzugeben. Im Ergebnis zeigt sich, dass die wissenssoziologische Überwindung der Ideologietheorie keine Überwindung ist. Die Wissenssoziologie ist nicht, wie Mannheim behauptet, eine reflektierte Ideologietheorie, sondern eine affirmative Gesellschaftstheorie. Der Umschlag in eine affirmative Gesellschaftstheorie war das Ergebnis der Auflösung der Unterscheidung von gültigem Wissen und Ideologie infolge der wissenssoziologischen Einsicht in die Standortgebundenheit allen Wissens. Wenn aber diese Einsicht mit der Unterscheidung von Ideologie und gültigem Wissen vereinbar ist, ist die Wissenssoziologie kein Fortschritt gegenüber einer kritischen Ideologietheorie. Es verhält sich genau umgekehrt: Eine Wissenssoziologie sollte die Annahme mitgehen können, dass Ideologie eine Funktion hat, eben Rechtfertigung, und dass diese Funktion nicht in Einklang mit der Grundidee aller Sozialwissenschaft und damit auch der Wissenssoziologie steht, nämlich zur Aufklärung über unsere eigenen Lebensverhältnisse und die Möglichkeiten zu ihrer Verbesserung beizutragen. Rechtfertigungswissen zehrt davon, dass sein rechtfertigender Charakter unaufgeklärt bleibt. Ideologie ist das Gegenteil von Aufklärung. Eine Wissenssoziologie, die dem zustimmt, ist mehr als ein »Machtsichtgerät« und sicher nicht in der »Mitte« verortet: Sie ist mehr als ein »Machtsichtgerät«, weil sie nicht nur nach dem Zusammenhang von

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Macht und Geltung fragt, also nicht nur nach der Genesis von Wissen und seiner In-Geltung-Setzung, sondern auch inhaltlich nach der Funktion des Wissens und damit nach seinem Geltungsanspruch und seiner Geltung. Sie ist nicht in der »Mitte«, sondern auf der Seite der Ideologiekritik verortet. Eine so verstandene Wissenssoziologie entleert den Begriff der Ideologie nicht durch Totalisierung, sondern präzisiert ihn, indem sie ihn auf seine gesellschaftliche Funktion bezieht. In diesem Moment wird aus einer affirmativen eine kritische Theorie der Gesellschaft. Umgekehrt kann auch eine kritische Theorie der Gesellschaft von wissenssoziologischen Überlegungen lernen. Dies betrifft nicht den Grundgedanken der sozialen Verortung von Wissen, den beide teilen, sondern die gesellschaftstheoretische Frage nach Struktur und Aufbau moderner Sozialordnungen. Wenn auch die Auseinandersetzung der frühen Wissenssoziologie mit dem Ideologiebegriff im Kern eine Kritik des zeitgenössischen Marxismus darstellte, so lässt sie sich heute über diesen zeitgeschichtlichen Aspekt hinaus als eine Kritik an einer zu starken Konzentration der kritischen Ideologietheorie auf Formen vertikaler sozialer Differenzierung lesen. Zwar ist diese Konzentration auf den ersten Blick plausibel, da im Zentrum einer kritischen Ideologietheorie die Kritik an der Legitimation sozialer Herrschaft steht. Doch stellt sich soziale Herrschaft in einer auch funktional differenzierten Gesellschaft unterschiedlich dar: Politische Herrschaft funktioniert anders als ökonomische, im Recht ist Herrschaft anders institutionalisiert als im Gesundheitssystem, die Logik der Kapitalverwertung bedeutet im Gesundheitssystem etwas anderes als etwa im Agrarsektor. Eine Kritik sozialer Herrschaft sollte die mit funktionaler Differenzierung verbundenen unterschiedlichen Perspektiven auf soziale Herrschaft berücksichtigen, wenn sie nicht hinter den Stand der gesellschaftstheoretischen Diskussion zurückfallen will. Eine wissenssoziologische Perspektive kann einer kritischen Ideologietheorie helfen, die infolge funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung real unterschiedlichen Perspektiven auf soziale Herrschaftsverhältnisse stärker als bisher zu reflektieren und dadurch zu dem Stand der soziologischen Fachdiskussion angemesseneren ideologiekritischen Aussagen zu kommen. Machte sich die Wissenssoziologie ideologiekritische Überlegungen zu eigen, könnte sie besser als bisher zwischen Fake News, Ideologie und standortgebundenem Wissen differenzieren. Dazu ist eine Unterscheidung zwischen gültigem Wissen und Ideologie, wie sie von der kritischen Ideologietheorie getroffen und festgehalten wird, unabdingbar. Erst diese Unter-

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scheidung würde die Wissenssoziologie wieder in die Lage versetzen, nicht nur nach der Beziehung von Wissen und sozialem Standort zu fragen, sondern darüber hinaus auch inhaltliche Urteile über die Angemessenheit einer Weltdeutung zu fällen. Eine solche Wissenssoziologie würde davon ausgehen, dass alles Wissen standortgebunden und entsprechend sozial und historisch relativ ist. Sie würde aber nicht davon ausgehen, dass sich die Untersuchung von Weltdeutungen in dieser Relationierung erschöpft. Weltdeutungen können ideologisch sein, das heißt soziale Herrschaft legitimieren. Tun sie dies bewusst, d. h. zielen intentional auf Verschleierung, handelt es sich um Lügen oder Fake News. Fake News wären für eine solche Wissenssoziologie das, was die frühe Wissenssoziologie unter Ideologie verstanden hat, absichtsvolle Täuschungen.

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»Ein Grundbegriff, den man nicht verwenden kann, ohne Vorkehrungen zu treffen«. Michel Foucaults Beitrag zur Analyse und Kritik von Ideologien Christian Schmidt

Die sogenannte »French Theory« steht im Ruf, zu den klassischen Themen der Gesellschaftskritik in einer problematischen Beziehung zu stehen. Das gilt insbesondere für ihr Verhältnis zur Ideologiekritik. Nicht nur lehne der französische »Poststrukturalismus« viele der theoretischen Grundkonstellationen ab, die etwa die marxistische Gesellschaftskritik prägten. Ihm wird auch nachgesagt, dass er Wahrheitsansprüche in Diskurse und damit in Unverbindlichkeit und Beliebigkeit aufgelöst habe. Der Kritik sei so durch den »Poststrukturalismus« ihr Fundament entzogen worden. Solche Einwände konnten den Erfolg der post-marxistischen Theorieansätze, die heute längst als Teil des gesellschaftsanalytischen und gesellschaftskritischen Instrumentariums kanonisiert sind, zunächst nicht stoppen. Spätestens jedoch seitdem politische Propaganda in »alternative facts« umbenannt wurde, sehen sich all jene bestätigt, die immer schon zu wissen glaubten, dass Ideologien und die auf ihnen fußenden politischen Projekte nur durch einen emphatischen Bezug auf Wahrheit und Wissenschaft aufgehalten werden können. Die Propaganda allerdings kümmert sich um ihren Wahrheitsgehalt seit eh und je nicht. Bei ihr geht es nur darum, dass der angestrebte politische Effekt erzielt wird. Die geschickt eingesetzte Lüge kann deshalb im propagandistischen Kontext sogar ausdrücklich gefeiert werden, sodass ihr die Entlarvung als »unwahr« nicht schadet, sondern nützt (Arendt 1955: 607; Paret 2018). Die Schlacht zur Abwehr des Vorwurfs, einer politisch und sozial fatalen Beliebigkeit Vorschub zu leisten, und zur Verteidigung der Einsichten, die der ein oder andere Zweig der »French Theory« hervorgebracht hat, ist inzwischen schon allzu oft geschlagen worden (in jüngerer Zeit etwa von Vogelmann 2018). Hier soll nun kein weiteres Reenactment dieser Auseinan-

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dersetzungen folgen. Stattdessen soll es – die eingegrabenen Positionen in der Konfrontation bewusste ignorierend – auf den folgenden Seiten um die Frage gehen, welchen Beitrag das Werk Michel Foucaults1 zum Verständnis von »Ideologie« leisten kann. Dabei wird sich zeigen, dass Foucault das Konzept »Ideologie« nicht einfach ablehnt, sondern es unter Verweis auf seine Schwächen so stark radikalisiert, dass einige der Unterscheidungen, die vor allem für die marxistischen Ideologiekonzeptionen wesentlich waren, tatsächlich ihre Plausibilität verlieren. Es ist dieser Plausibilitätsverlust, der neue Strategien für eine modifizierte Ideologiekritik nötig macht. Sich einfach dem altbekannten Begehren nach Macht hinzugeben, das sich hinter dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verbirgt, ist nicht ratsam. Und daran ändert auch nichts, dass zur Zeit der Irrationalismus unbestritten grassiert und sich in alten und neuen Verschwörungstheorien, in gezielter Desinformation und der Verleugnung offenkundiger Probleme, wie dem Klimawandel, Bahn bricht. Was also lässt sich bei Foucault über Ideologie und die Möglichkeiten, sich mit ihr kritisch auseinanderzusetzen, lernen?

Ideologie und Institution Ein Blick in die kleineren Schriften und Interviews Foucaults zeigt zunächst einmal, dass dieser den Ausdruck »Ideologie« häufig scheinbar ohne jede begriffliche Problematisierung verwendet. So ist in der Inauguralvorlesung am Collège de France von der »religiösen« und der »positivistischen Ideologie« die Rede (Foucault 1971a: 40) und in einem Gespräch über das Gefäng-

—————— 1 Foucault soll hier als einflussreichster Vertreter einer Theorieströmung befragt werden, deren innerer Zusammenhang bei Zielsetzung und Methodik in keiner Weise auf der Hand liegt. »Poststrukturalismus« und »postmoderne Theorien« sind, was die am häufigsten zitierten Vertreter*innen dieser Strömung betrifft, in der Regel – von der Lyotard die offensichtliche Ausnahme ist – äußere Zuschreibungen, die weniger über das jeweilige Theoriedesign aussagen, als vielmehr eine – oft genug pauschale – Ablehnung zum Ausdruck bringen. Eine solche Ablehnung gegenüber jenen vom Frankreich der Nachkriegsjahrzehnte ausgehenden Fragestellungen und Untersuchungsmethoden speiste sich zunächst aus der oft bewusst gesuchten Abgrenzung jener Ansätze vom Marxismus, aus dem sie ideengeschichtlich hervorgingen. In dem Maße, in dem sie weltweit an Einfluss gewannen, erschienen sie dann aber nicht nur dem Marxismus alter Schule als lästige und gefährliche Konkurrenz. Reagiert wurde auf sie mit einer meist oberflächlichen Ablehnung, die die Gründe für die anhaltende Attraktivität dieser Theorieangebote schlichtweg verkannte.

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nissystem gar von »einer einfachen, fundamentalen Ideologie wie den Ideen von Gut und Böse, Schuld und Unschuld« (Foucault 1971b: 283). Ideologien sind hier scheinbar spezielle Bewusstseinsinhalte, die neben und zusätzlich zu den gesellschaftlichen Institutionen bestehen. Allerdings merkt Foucault in dem Gespräch über das Gefängnissystem sofort an: »Wir wollen diese gelebte Ideologie über die dichte institutionelle Schicht verändern, in der sie sich eingenistet und auskristallisiert hat und in der sie sich reproduziert. Vereinfacht könnte man sagen, der Humanismus will das ideologische System ändern, ohne die Institution anzurühren, der Reformismus will die Institution ändern, ohne das ideologische System anzurühren. Revolutionäre Aktion bedeutet dagegen gleichzeitige Erschütterung des Bewusstseins und der Institution; und dazu muss sie die Machtverhältnisse angreifen, deren Werkzeug, Waffe und Panzer sie sind. Glauben Sie, man könnte Philosophie und deren Moralkodex in derselben Weise unterrichten, wenn das Strafsystem zusammenbräche?« (Ebd.)

Die hier von Foucault propagierte Strategie einer revolutionären Veränderung, die am Gefängnissystem ansetzt, aber – so die zum Ausdruck gebrachte Überzeugung – nicht auf dieses beschränkt bleiben kann, geht offenkundig davon aus, dass Ideen und Institutionen miteinander zusammenhängen. Ihr Nebeneinanderbestehen wird durch einen inneren Zusammenhang ergänzt, durch den der Bereich der Ideen und jener der Institutionen für Foucault nicht strikt voneinander getrennt sind, sondern aufeinander verweisen und miteinander kommunizieren. Die Ideologien haben in den Institutionen zwar nicht ihre Quelle2, aber doch einen materiellen Ort der sie trägt und dafür sorgt, dass sie plausibel erscheinen und dass sie sich immer wieder erneuern. Humanismus und Reformismus sind in diesem Sinne nicht bloß Halbheiten, wenn sie entweder die Ideologien ohne die Institutionen oder die Institutionen ohne die Ideologien verändern wollen. Sie sind unmögliche Unternehmungen. Nicht nur tragen die Institutionen die Ideologien und bringen sie immer aufs Neue hervor, sondern auch die Ideologien stützen die Institutionen und leisten einen entscheidenden Beitrag zu ihrer Reproduktion. Was damit gemeint ist, erläutert Foucault in einem weiteren Gespräch näher, wenn er die Möglichkeit zurückweist, das Proletariat könne über eine

—————— 2 An anderer Stelle weist Foucault das Basis-Überbau-Schema explizit zurück. So antwortet er auf die Frage, was an einem bestimmten Marxismus hinderlich für die Untersuchung der Machtproblematik gewesen sei unter anderem: »die auf das Ökonomische in letzter Instanz, die Ideologie und auf das Spiel von Basis und Überbau« zurückgehende Analytik (Foucault 1977a: 195).

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revolutionäre Ideologie verfügen, der es sich bloß anzuschließen gelte, um die herrschenden Verhältnisse umzuwerfen. Ein solcher, sich in diesem Fall revolutionär gerierender Humanismus unterschätze die bewusstseinsbestimmende Macht der Institutionen. Er tendiere dazu, die bestehenden Institutionen einfach zu übernehmen und mit einem neuen, revolutionären Geist füllen zu wollen. Foucault nennt als Beispiel für eine solche imaginierte Übernahme das maoistische Volksgericht und führt aus: »Das Gericht, das die Ideologie der bürgerlichen Justiz und die von der bürgerlichen Justiz angewandten Beziehungsformen zwischen Richtern und Angeklagtem, Richter und Partei, Richter und Kläger mit sich herumschleppt, hat meines Erachtens eine sehr wichtige Rolle in der Herrschaft der bürgerlichen Klasse gespielt. Wer Gericht sagt, sagt, dass der Kampf zwischen den sich gegenüberstehenden Kräften freiwillig oder gezwungenermaßen ausgesetzt ist; dass auf jeden Fall die getroffene Entscheidung nicht das Ergebnis dieses Kampfes, sondern der Intervention einer Macht sein wird, die ihnen, den einen wie den anderen, fremd und überlegen sein wird; dass diese Macht in der Position einer Neutralität zwischen ihnen ist und infolgedessen in der anhängigen Rechtssache erkennen kann oder jedenfalls erkennen sollte, auf wessen Seite das Recht ist. Das Gericht impliziert zudem, dass es für sich gegenüberstehende Parteien gemeinsame Kategorien gibt (strafrechtliche Kategorien wie Diebstahl und Betrug; moralische Kategorien wie das Ehrenhafte und das Unehrenhafte) und dass die sich gegenüberstehenden Parteien bereit sind, sich diesen zu unterwerfen.« (Foucault 1972: 451)

Diese Demonstration macht exemplarisch deutlich, wie viele für selbstverständlich geltende Intuitionen mit einer einzelnen Institution, wie dem Gericht, verbunden sein können. Und diese Intuitionen sind nicht unschuldig. Sie etablieren Beziehungsformen, Selbstverständnisse und Handlungsmöglichkeiten, aber sie schließen dafür andere Formen der Beziehung, des Selbstverständnisses und Handelns aus. Wer die Institution des Gerichts akzeptiert, lehnt etwa die Beziehungsform des Kampfes ab und unterwirft sich der Macht einer Institution, die für sich Neutralität reklamiert, obwohl es in gesellschaftlichen Konflikten oft gar keine neutrale Position geben kann. In dem zitierten Gespräch betont Foucault die Funktionalität einer solchen Institutionalisierung von Ideen. »[A]ll das will uns die Bourgeoisie, die Justiz, ihre Justiz glauben machen. Alle diese Ideen sind Waffen, deren die Bourgeoisie sich in ihrer Ausübung der Macht bediente.« (Ebd.) Der eigentliche Clou dieser Analyse ist jedoch nicht die Wirksamkeit des Komplexes aus Institutionen und Ideologien im Klassenkampf, sondern ihre Konsequenz für die Subjekte selbst.

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Weil das Wechselspiel aus institutionalisierten Praktiken und mit ihnen verbundenen Überzeugungen Beziehungsformen, Selbstverständnisse und Handlungsmöglichkeiten bestimmt, formt es die Subjekte in ihrem Innersten. Ein Subjekt zu sein, heißt nichts anderes als Beziehungen eingehen zu können, ein Selbstverständnis zu entwickeln und Handlungsmöglichkeiten zu haben. Subjekte sind deshalb nicht Wesen, die eine Ideologie annehmen können, indem sie sich heute zum Katholizismus, morgen zum Historischen Materialismus und übermorgen zur Lehre der Homöopathie bekennen. Subjekte konstituieren in diesem Sinne auch keine Ideologie, die sie sich ausdenken oder erarbeiten. Subjekte werden vielmehr von Ideologien und den mit ihnen verbundenen Institutionen hervorgebracht. In einem Gespräch, das Mitte 1976 anlässlich des Erscheinens der französischen Originalausgabe von Überwachen und Strafen geführt wurde, wendet Foucault diese Analyse der Subjektivierung, die zugleich das konkrete Werden zum handlungs- und beziehungsfähigen Subjekt und die Unterwerfung unter die in den Institutionen materialisierten Handlungs- und Vorstellungsweisen meint, gegen das Konzept der Ideologie. Eine von drei »Unannehmlichkeit« des für einige Spielarten des Marxismus3 grundlegenden Begriffs »Ideologie« sei, »dass er sich, wie ich glaube, notwendigerweise auf so etwas wie ein Subjekt bezieht« (Foucault 1977a: 197), wobei unter »Subjekt« hier gerade nicht der Effekt von Subjektivierungen verstanden wird, sondern eine unabhängige Handlungsquelle, die als spontaner Ursprung von Ideen und Handlungen gewertet werden kann. Die Zurückweisung des Humanismus – also der Annahme Institutionen ließen sich dadurch verändern, dass autonome Subjekte, die zu einer solchen Wahl frei befähigt sind, sich Ideen zu eigen machen oder sie ablehnen – beruht auf der Einschätzung, dass prägende Handlungsmuster nicht das

—————— 3 Wie für den »Poststrukturalismus« gilt auch für den »Marxismus«, dass er keine einheitliche theoretische Position bezeichnet, sondern in eine Vielzahl von theoretischen Projekten zerfällt, die teilweise nicht miteinander verträglich sind. Welche dieser Positionen Foucault genau im Auge hat, ist nicht immer ganz klar. Hier sind wahrscheinlich vor allem die relativ banalen Ideologiebegriffe der Kommunistischen Parteien jener Zeit gemeint. Kompliziert wird die Auseinandersetzung mit dem »Marxismus« vor allem in Hinblick auf Louis Althusser, dessen theoretische Positionen nicht nur viel mit jenen von Foucault teilen, sondern auch einflussreich für neue Marxlektüren geworden sind. Aus der Perspektive solcher Lektüren erscheinen dann die von Foucault kritisierten Spielarten des Marxismus in vielerlei Hinsicht – vor allem aber in ihrem »Humanismus«, der Subjekte als Tatsachen und nicht als »das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx 1845: 6) fasst – als »vulgärmarxistisch«, das heißt, selbst eher von ideologischen Positionen als von einer echten Auseinandersetzung mit den marxschen Texten getragen.

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Ergebnis der Spontanität eines vorgängigen Subjekts sind, sondern dass es in den Institutionen eine tiefsitzende Materialisierung von Ideen und Ideenkomplexen gibt, die den Handlungsmöglichkeiten der Subjekte vorausgesetzt sind. Diese Materialisierung lässt sich in architektonischen Anordnungen, etwa der Richterbank im Gericht, genauso finden, wie in institutionalisierten Praktiken, etwa – um beim Beispiel des Gerichts zu bleiben – in der gerichtlichen Untersuchung mit ihren Anträgen, Befragungen und Verweisen auf Gesetzbücher und Präzedenzfälle. Allerdings verwehrt sich Foucault in dem eben zitierten Gespräch ausdrücklich gegen die Annahme, Ideologien hätten in den Institutionen oder den institutionalisierten Praktiken eine materielle Basis, in dem Sinn, dass Ideologien nur als Widerspiegelung oder Ableitung eines eigentlichen, »materiellen« Verhältnisses verstanden werden könnten. Im Gegenteil sei es eine weitere der drei großen Gefahren, die mit dem Konzept der Ideologie einhergehen, dass »die Ideologie in sekundärer Stellung im Verhältnis zu etwas [steht], das für sie als Basis oder ökonomische, materielle usw. Determinante funktionieren muss.« (Foucault 1977a: 197) Diese Zurückweisung des konventionellen Basis-Überbau-Schemas, das im marxistischen Ideologieverständnis implizit immer mit aufgerufen wird, ist keine Zurückweisung der Materialisierungsanalysen per se, sondern eines spezifischen Schemas der Determination, das ihnen unterlegt wird. Der Kritik am Reformismus, der im Gegensatz zum Humanismus die Ideen zugunsten einer Konzentration auf die Veränderung von Institutionen vernachlässigt, lässt sich also nicht durch eine Radikalisierung des institutionellen Umbaus begegnen. Zwar werden die Ideen in Institutionen und Praktiken materialisiert und damit auch stabilisiert, aber eine echte Wandlung der Institutionen setzt einen Wandel der Ideen genauso voraus wie umgekehrt der Wandel der Ideen nicht ohne die Veränderung der Institutionen und Praktiken möglich ist. An die Stelle der Determination eines Überbaus durch die Basis treten also die Motive der wechselseitigen Bestimmung und der Gleichursprünglichkeit.4

—————— 4 Wechselseitige Bestimmung und Gleichursprünglichkeit sprechen als Motive nicht gegen den Grundgedanken des Historischen Materialismus, dass die Ideen nicht unabhängig von den Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion im weitesten Sinn (also einschließlich der Produktion und Reproduktion von Subjekten, Institutionen, Diskursen usw.) sind. Das heißt, sie sind nicht unabhängig von der Herstellung und Erhaltung aller sozialen Tatsachen und Strukturen. Allerdings verkomplizieren es diesen Grundgedanken, wenn zur Abhängigkeit der Ideen von ihren materiellen Trägern auch die Abhän-

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Der Humanismus muss also zwangsläufig daran scheitern, dass er die Macht der Institutionen unterschätzt, Ideen zu stabilisieren und sie immer wieder plausibel und unausweichlich erscheinen zu lassen. Diese Macht der Institutionen ist eine Macht, die sich auf die Prozesse der Subjektivierung stützt – also jene Prozesse der Bildung von Subjekten, die den historisch je spezifischen Personen genau jene Beziehungsformen, Selbstverständnisse und Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen und einprägen, die sie zu denen machen, die sie sind. Der Reformismus muss umgekehrt an seiner Unterschätzung der Ideologie scheitern. Die Reformprogramme, die darauf zielen, den Institutionen neue Aufgaben, neue Strukturen und neue Handlungsmuster zu verordnen, müssen daran scheitern, dass die Ideen, die sie ganz grundlegend zu verwirklichen streben, schon die Ideen sind, die die bestehenden Institutionen tragen. Sie reproduzieren deshalb immer, was sie eigentlich überwinden wollen und stehen dann erneut vor ihrem Ausgangsproblem. So haben die Institutionen des Strafsystems zwar in mancherlei Hinsicht ihre Leit- und Menschenbilder radikal gewandelt, aber sie haben auf dieser grundlegenden Ebene nicht aufgehört die Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu neutralisieren, weil sie nicht aufgehört haben, diese Auseinandersetzungen in Fragen des Rechts zu übersetzten und sie einer bereits bestehenden Rechtsordnung zu unterwerfen. Dass ein Kampf als Kampf eine Berechtigung haben könnte, ist eine Möglichkeit, die in diesen Institutionen trotz aller Reformen nie existieren wird.5 Die Reformen dieser Institutionen verfehlen deshalb zwangsläufig ihr Ziel, dem einzelnen Menschen gerecht zu werden und ihn so zu bessern. Stattdessen produzieren sie, wie Foucault gezeigt hat, unausgesetzt Delinquenz.

—————— gigkeit der materiellen Träger von den sie stützenden Konzepten und Vorstellungen hinzugenommen wird. 5 Es geht hier nicht darum zu behaupten, dass sich keine Gründe dafür mobilisieren ließen, dass der Kampf gesellschaftlicher Gruppen in eine andere Form der Konfliktbewältigung überführt werden könnte und sogar überführt werden sollte. Solche Gründe gibt es, und die Erfahrungen, die im 20. Jahrhundert damit gemacht wurden, gesellschaftliche Konflikte weniger straff zu zügeln, haben sie sogar noch erheblich vermehrt. Aber man soll nicht glauben, dass durch eine solche Zügelung die Konflikte und ihre Gewalttätigkeit tatsächlich gebannt sind. Und die Analysen Foucaults verweisen uns einerseits auf den Preis, der für eine solche Zügelung zu zahlen ist, und andererseits auf die Verengung der gesellschaftlichen Phantasie, die sich aus dem Wechselspiel von etablierter Ideologie und etablierter Institution ergibt.

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Wissenschaft und Ideologie Aber, so ließe sich an dieser Stelle fragen, wird dieses ganze Konglomerat von gleichursprünglichen, aufeinander verweisenden und sich wechselseitig stützenden Institutionen, Praktiken und Ideen nicht dadurch kritisierbar, dass die Ideen ebenso falsch sind wie die Institutionen und Praktiken korrupt? Besteht die Kritik der Ideologie nicht gerade darin, die praktischen Wirkungen falscher Ideen genauso aufzuzeigen wie den praktischen Zusammenhang, in dem das Falsche notwendig als das Wahre erscheinen muss? Hat Marx im ersten Band von Das Kapital nicht beispielhaft gezeigt, wie im Warentausch das im Grunde gesellschaftliche Verhältnis einer arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft als scheinbares Verhältnis von Waren also Dingen erscheinen muss? Und folgt nicht aus dieser Analyse und jener im dritten Band, die darstellt, warum die Leistungen der lebendigen, arbeitenden Menschen ganz selbstverständlich dem Kapital zugeschrieben werden, wie Ausbeutung in einem System des scheinbar gerechten Tauschs möglich ist und als sachlich gerechtfertigt erscheint? Ist also – in einem Wort – die Ideologiekritik nicht nach dem von Marx etablierten Modell einer Analyse von Wesen und Erscheinung immer noch möglich? Foucault verkompliziert hinsichtlich der Falschheit der Ideen und der Korruptheit von Institutionen und Praktiken erneut die Analyse, indem er auf die dritte »Unannehmlichkeit« des Ideologiebegriffs hinweist – die für ihn an erster Stelle steht –, dass der Ideologiebegriff nämlich, »ob man will oder nicht, stets in einem virtuellen Gegensatz zu etwas steht, das die Wahrheit wäre.« (Foucault 1977a: 196) Foucault glaubt nicht, »dass das Problem […] darin besteht, dass man die Teilung zwischen dem vollzieht, was in einem Diskurs der Wissenschaftlichkeit und der Wahrheit untersteht, und dann dem, was etwas anderem unterstehen würde, sondern dass es darin besteht, historisch zu erkennen, wie innerhalb von Diskursen, die an sich selbst weder wahr noch falsch sind, Wahrheitswirkungen zustande kommen« (Foucault 1977a: 196f.). Mit dieser Bemerkung, die das Verhältnis von Ideologie und Wahrheit problematisiert, grenzt sich Foucault an einer entscheidenden Stelle von Louis Althusser ab. Es ist wichtig, diese Distanzierung genau zu verstehen, denn Foucaults Überlegungen zum Verhältnis von Praktiken, Institutionen, Ideen und Subjektbildung weisen erhebliche Überschneidungen mit Althussers Ideologiekonzeption auf. Starke Parallelen finden sich besonders

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zu jenen Überlegungen, die Althusser unter dem Titel »Ideologie und ideologische Staatsapparate« im Jahr 1970 veröffentlichte.6 Während jedoch Althusser schon Mitte der sechziger Jahre mehrfach betonte (vgl. etwa Althusser 1965b: 305), welche enge Verbindung er zwischen seiner eigenen Ideologiekonzeption und den Arbeiten Foucaults sah, war dieser – ohne Althusser beim Namen zu nennen – stets bemüht, die Distanz zwischen seinen Ansätzen und der spezifisch althusserianischen Art des Marxismus hervorzuheben. Dabei kam bei Foucault nicht nur die Sorge zum Ausdruck, dass seine theoretischen Entwürfe durch den Marxismus vereinnahmt werden könnten. Vielmehr trieb ihn besonders die Frage nach dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit um, den nicht nur, aber eben auch der althusserianische Marxismus in sich trägt. Althusser hatte die Wissenschaftlichkeit der marxschen Schriften und davon ausgehend den Gegensatz von Wissenschaft und Ideologie vor allem in den zwei 1965 erschienenen Büchern Für Marx und Das Kapital lesen analysiert. Ideologie wird in Für Marx als ein System von Vorstellungen definiert, bei dem sich »die praktisch-gesellschaftliche Funktion […] gegenüber der theoretischen Funktion (oder auch der Erkenntnisfunktion) durchsetzt« (Althusser 1965c: 295). Ideologien, soll das heißen, erklären uns nicht, wie etwas tatsächlich ist, sondern wie etwas in der konkreten Gesellschaft funktioniert, in der diese Ideologie herrscht. Solche praktischen Zusammenhänge, beispielsweise: dass die Waren in der kapitalistischen Ökonomie einen Wert haben, der als Preis in Geld ausgedrückt wird, müssen notwendigerweise etabliert sein, damit in einer Gesellschaft Handlungen, wie – um das Beispiel fortzuführen – Einkaufen oder der Abschluss eines Arbeitsvertrags, überhaupt funktionieren und den an ihnen beteiligten Personen plausibel erscheinen. Sie müssen aber nicht die wirklichen Verhältnisse abbilden, die die Entstehung von Waren, Werten und Preisen bedingen. Für das Funktionieren der Praktiken ist es nicht nötig, dass diejenigen, die sie ausüben, über eine adäquate Theorie zu den Grundlagen des Funktionierens dieser Praktiken verfügen. So ist beispielsweise ökonomisches Handeln auch ohne eine adäquate ökonomische Theorie möglich. Es funktioniert jedoch nicht ohne eine Vorstellung vom Funktionieren dieses Handelns. Indem er die wesentliche Funktion der Ideologien in der Koordination sozialer Praktiken sieht, löst Althusser den Ideologiebegriff von allzu einfa-

—————— 6 Vollständig publiziert wurde das Manuskript erst postum in Althusser 1995.

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chen Vorstellung des Betrugs, dessen sich eine gesellschaftliche Gruppe als Herrschaftsinstrument zur Manipulation anderer Menschen bedient: »[D]ie herrschende Klasse unterhält zur herrschenden Ideologie, die ihre Ideologie ist, kein bloß äußerliches und hellsichtiges Verhältnis, in dem sie diese bloß aus Nützlichkeitserwägungen oder in reiner List ›einsetzt‹. […] In Wahrheit muss die Bourgeoisie selbst an ihren Mythos glauben, bevor sie die anderen überzeugt – und dies nicht nur, um sie überhaupt von ihm zu überzeugen: Denn sie lebt [in] ihrer eigenen Ideologie eben dieses imaginäre Verhältnis zu ihren wirklichen Existenzbedingungen, das es ihr gestattet, zugleich auf sich selbst einzuwirken (sich ein juristisches und moralisches Bewusstsein sowie die juristischen und moralischen Bedingungen des ökonomischen Liberalismus zu verschaffen) und ihre Wirkung auf die anderen (die von ihr Ausgebeuteten und Auszubeutenden, also die ›freien Lohnarbeiter‹) auszuüben, um dergestalt ihre historische Rolle als herrschende Klasse sich zu eigen zu machen, als solche auszufüllen und auch selbst zu ertragen.« (Althusser 1965c: 299)

Die Betonung der praktischen Bedeutung der Ideologien für soziales Handeln zeigt schon in diesen frühen Arbeiten die Nähe der Überlegungen Althussers – der im Übrigen den Begriff der »Subjektivierung« in seiner oben erläuterten Doppelbedeutung als Bildung eines handlungsfähigen Subjekts und als dessen Unterwerfung unter die gesellschaftlich gängigen Praktiken überhaupt erst in die Theoriesprache eingeführt hat – zu den Analysen Foucaults, die ein Jahrzehnt später geschrieben werden sollten. Jedoch vertritt Althusser in diesen Schriften aus der Mitte der sechziger Jahre eben auch die Position, dass die Ideologie zwar kein Bewusstseinsphänomen im engeren Sinn, sondern die Wirkung von Strukturen sei, gleichwohl aber als imaginäres Verhältnis zu den Bedingungen der eigenen Existenz gewertet werden müsse. Ein solches »gelebte[s] Verhältnis der Menschen zu ihrer Welt« (Althusser 1965c: 298) steht als »imaginäres« Verhältnis einem »realen« Verhältnis gegenüber, auf dessen Erkenntnis sich die theoretische Funktion, sprich die Wissenschaft im emphatischen Sinn des Wortes, richtet. An dieser Emphase ändert sich auch dadurch nichts, dass Althusser ausdrücklich festhält: »Nur eine ideologische Weltanschauung konnte Gesellschaften ohne Ideologien ersinnen und die utopische Idee einer Welt akzeptieren, in der die Ideologie (und nicht etwa nur eine ihrer historischen Formen) als solche verschwinden würden, ohne Spuren zu hinterlassen, um durch die Wissenschaft ersetzt zu werden.« (Althusser 1965c: 296)

Für Althusser ist die wissenschaftliche Erkenntnis zwar kein gelebtes Verhältnis der Menschen zur Welt, wohl aber eine Voraussetzung, um in einer

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gegebenen Gesellschaft die konkreten Formen der Ideologie zu durchschauen und die gelebten Verhältnisse zu verändern. Dazu muss sich die Wissenschaft aber von den ideologischen Vorstellungen und den praktischen Zusammenhängen, in denen sie einsichtig zu sein scheinen, distanzieren. Althusser spricht von einem »epistemologischen Einschnitt«, »der eine neue Wissenschaft von der Ideologie trennt, aus der sie entsteht« (Althusser 1965b: 380). Für einen solchen Einschnitt hat Althusser als erstes Beispiel den Übergang von der Phlogiston-Chemie – also einer Chemie, die das Feuer noch als ein besonderes Element mit einem zugehörigen Stoff (eben jenem imaginären Feuerstoff »Phlogiston«) ansah – zur Chemie des Sauerstoffs mit ihrem Verständnis der Verbrennung als Prozess der Oxidation. Ein weiteres Beispiel für einen epistemologischen Einschnitt ist die marxsche Antwort auf die Frage nach dem Wert der Arbeit in der klassischen bürgerlichen Ökonomie, die darin besteht den ambivalenten Ausdruck »Wert der Arbeit« durch den begrifflich geschärften Ausdruck »Wert der Ware Arbeitskraft« zu ersetzen, der sich in die Reproduktionskosten der menschlichen Arbeitskraft übersetzen lässt, statt zwischen dem Lohn, der für die Ausübung einer Tätigkeit gezahlt wird, und dem Wert ihres Produktes beständig zu oszillieren. In beiden Fällen führt die Verschiebung des theoretischen Terms (vom Feuerstoff »Phlogiston« zum selbst nicht brennbaren Element Sauerstoff, vom »Wert der Arbeit« zum Wert der Ware Arbeitskraft) zu einem »Terrainwechsel« (Althusser 1965a: 41), der sich plötzlich vollzieht und neue theoretische Probleme überhaupt erst sichtbar werden lässt, während andere verschwinden. Dieser Bruch, der eine Revolution des Wissensfeldes ist, ist es, was Althusser »epistemologischer Einschnitt« nennt. Wissenschaft entsteht durch solche Einschnitte, weil sie sich für Althusser gerade dadurch auszeichnet, dass sie theoretisch neue Horizonte eröffnet und die Immanenz der Ideologie, die bei all der ihr eigenen politischen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit im »Unterschied zu einer Wissenschaft […] theoretisch geschlossen« (Althusser 1965b: 361) bleibt, überwinden kann. Danach mögen einzelne Elemente des neu konfigurierten Wissensfelds noch an Terme der Ideologie erinnern. Doch der epistemologische Einschnitt ist ein radikaler Bruch, der jedes dieser Elemente in etwas anderes verwandelt. In seiner methodologischen Reflexion Die Archäologie des Wissens, die im Original 1969 erschien, greift Foucault einige der Gedanken Althussers auf, weist aber hier bereits die Trennung von Wissenschaft und Ideologie zurück.

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Was bei Althusser der epistemologische Einschnitt ist, ist bei Foucault die radikale Unterscheidung verschiedener Wissensordnungen. Eine solche Wissensordnung, Foucault spricht von »Episteme«, ist eine Ordnung der Wissensgegenstände, die es »gestattet nicht das Wahre vom Falschen, aber das wissenschaftlich Nicht-Qualifizierbare vom Qualifizierbaren zu trennen« (Foucault 1977b: 396). Die Episteme ist, wie es an anderer Stelle heißt, das Feld, auf dem »die Erkenntnisse […] ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die nicht die ihrer wachsenden Perfektion, sondern eher die der Bedingungen ist, durch die sie möglich werden« (Foucault 1966: 24f.). Wie bei Althusser zwischen der Ideologie und der Wissenschaft, die sich aus ihr herauswindet, klaffen auch bei Foucault zwischen zeitlich aufeinanderfolgenden Wissensordnungen »große Diskontinuitäten« (Foucault 1966: 25). Die Bedingungen für das, was als Wissen anerkannt werden kann, wandeln sich von der einen zur nächsten Episteme radikal. Doch anders als bei Althusser fehlt bei Foucault die Emphase des Übergangs vom Falschen (Ideologie) zum Wahren (Wissenschaft). Althussers Einsicht in die Unmöglichkeit einer Gesellschaft ohne Ideologie noch einmal radikalisierend kennt Foucault nur noch sich ablösende Wissensordnungen, aber nicht mehr den synchronen epistemologischen Einschnitt zwischen Ideologie und Wissenschaft. Vielmehr betont er die Gleichzeitigkeit von Wissenschaft und Ideologie. »Eine Wissenschaft […] löst […] das sie umgebende Wissen nicht auf, um es in die Vorgeschichte der Irrtümer, der Vorurteile oder der Einbildungskraft [lʼimagination] zu verweisen. […] Die Wissenschaft (oder was sich als solche ausgibt) lokalisiert sich in einem Feld des Wissens und spielt darin eine Rolle.« (Foucault 1969: 262)

Diese Rolle besteht darin, das als wissenschaftlich qualifizierte Wissen mit einer besonderen Autorität auszustatten. Foucault spricht von einem Machteffekt, auf den es auch jene marxistischen Diskurse abgesehen haben, die sich wie Althussers Epistemologie auf die Wissenschaftlichkeit der eigenen Position stützen. Mit diesem Machteffekt stellt sich aber die Frage nach dem ideologischen Charakter der Wissenschaft selbst, weil sich die bei Althusser fein säuberlich getrennten Momente der praktischen und der theoretischen Funktion gar nicht auseinanderdividieren lassen. In seiner Vorlesung am Collège de France 1976 bringt Foucault sein Misstrauen gegen die Berufung auf die Autorität der Wissenschaft zum Ausdruck. An die Verteidiger*innen einer Wissenschaftlichkeit von Marxismus und Psychoanalyse gerichtet, lässt er die »Genealogisten« – also jene, die der

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von ihm selbst in seinen vorangegangenen Arbeiten entworfenen Methode der Genealogie anhängen – sagen: »Was man Euch vorwirft, ist ja gerade, daß ihr aus dem Marxismus, aus der Psychoanalyse oder aus dieser oder jener Sache eine Wissenschaft gemacht habt. Wenn wir etwas gegen den Marxismus einzuwenden haben, dann eben dies, daß er wirklich eine Wissenschaft sein könnte.« (Foucault 1975/76: 24)

Heute, wo wissenschaftliche Erkenntnisse – etwa zur globalen Erwärmung und ihren Ursachen oder zur Evolution der biologischen Arten – bestritten und verleugnet werden, um politische, ökonomische und religiöse Interessen zu verteidigen, wird eine solche Wissenschaftskritik leicht missverstanden. Foucault geht es aber nicht darum, die Differenz zwischen Einsichten und gefühlten oder auch bloß der eigenen Position nützlichen Meinungen einzureißen. Es geht ihm auch nicht darum »ein dichterisches Recht auf Unwissenheit und Nicht-Wissen« zu fordern, »Wissen zu verweigern oder das Prestige einer Kenntnis oder einer unmittelbaren Erfahrung, die vom Wissen noch nicht vereinnahmt ist, ins Spiel zu bringen oder geltend zu machen« (Foucault 1975/76: 23). Aber wenn unter »Ideologie« nur jene Formen des Nichtwissens verstanden werden, die sich bewusst oder pathologisch gegen Erfahrungen versperren oder unter der Interpretation, die als Deutung für jeden Weltbezug konstitutiv ist, nur ein Mittel zur Manipulation menschlichen Verhaltens und Handelns verstanden wird, dann drohen hinter diesem Ideologiebegriff die Grenzen und Konstitutionsbedingungen des eigenen Denkens zu verschwinden. Foucault geht es deshalb bei seiner Wissenschaftskritik nicht um die Auseinandersetzung mit den Ideologien im eben bezeichneten engeren Sinn des Erfahrungsabschlusses und der Manipulation, sondern vielmehr um den Machtanspruch, der sich mit dem Anspruch auf Zugehörigkeit zur Wissenschaft verbindet und der sich im Glauben an die »wissenschaftliche Weltanschauung« des Marxismus genauso aufspüren ließ wie in den heutigen expertokratischen Strukturen, die nicht zuletzt in der internationalen Klimapolitik fröhliche Urstände feiern. »Müßten«, so fährt Foucault in seiner Vorlesung fort, »die eigentlichen Fragen nicht lauten: ›Welche Arten von Wissen wollt ihr mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit disqualifizieren? Welches sprechende, welches diskursführende Subjekt, welches Subjekt der Erfahrung und des Wissens wollt ihr minorisieren, wenn ihr sagt: ›ich, der ich diesen Diskurs halte bin ein Wissenschaftler‹? Welche theoriepolitische Avantgarde wollt ihr inthronisieren, um sie aus der Menge der

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zirkulierenden und unzusammenhängenden Formen des Wissens herauszulösen?« (Foucault 1975/76: 24f.) Mit der Problematisierung des Machtanspruchs, der mit dem Prädikat »wissenschaftlich« einhergeht, und der Zurückweisung des emphatischen Bezugs auf die Wissenschaft verwirft Foucault jedoch nicht das Projekt einer Kritik von epistemischen Positionen. Diese Kritik kann nun jedoch nicht mehr allein darin bestehen, im Namen wissenschaftlicher Erkenntnis Propaganda und pathische Projektionen zu entlarven. Sie kann sich noch nicht einmal darauf beschränken, eine Wissenschaft wie die Politische Ökonomie als interessengeleitet und ideologisch zu entlarven. Denn ein »Diskurs, der korrigiert, dessen Irrtümer berichtigt, dessen Formalisierungen gestrafft werden, löst deshalb nicht und nicht notwendig seine Beziehung zur Ideologie. Deren Rolle wird nicht in dem Maße geschmälert, in dem die Strenge zunimmt und die Falschheit verschwindet« (Foucault 1969: 265). Sie muss sich also über diese klassischen Kritiken der Ideologie hinaus, die Frage nach ihrer eigenen Verfasstheit und ihren eigenen Bedingungen stellen. Die foucaultsche Radikalisierung des althusserschen Gedankens, dass es eine Gesellschaft ohne Ideologie gar nicht geben könne, besteht also darin, dass es auch keine Wissenschaft geben kann, die nicht in wesentlichen Teilen ideologisch funktioniert. Die Wissenschaft ist für Foucault nicht das Andere der Ideologie, sondern eine ihrer spezifischen Erscheinungsweisen. Die wesentlichen Elemente der Wissenschaft, die ideologisch funktionieren, sind nun aber nicht wie bei Althusser ausschließlich der Praxis- im Unterschied zum Erkenntnisbezug, sondern darüber hinaus und vor allem das, was Foucault als »Positivität« eines Wissensdiskurses bezeichnet. Damit sind in einem ersten Schritt die Regeln gemeint, denen sich ein Sprechen unterwerfen muss, um als Teil eines spezifischen Wissensdiskurses anerkannt zu werden. Hauptsächlich geht es bei der Positivität des Wissens aber um die Konstitution von Gegenständen und Beziehungen. So ist es zum Beispiel keineswegs selbstverständlich, dass der Wissenschaft Ökonomie die Massen der Reichtümer einer Gesellschaft als eine »ungeheure Warensammlung« (Marx 1859: 15) erscheinen. Und genauso wenig ist es notwendig, dass die Wünsche und Begierden der Individuen in einer Gesellschaft den Sozial- und Rechtswissenschaften als weitgehend hinzunehmende Ausgangspunkte des moralischen Überlegens gelten. Nur weil beide Aussagen die Realität moderner kapitalistischer Gesellschaften durchaus präzise beschreiben, kommen uns diese wissenschaftlichen Ver-

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ständnisse der Reichtümer und der Domäne individueller Selbstbestimmung im Alltag vollkommen natürlich vor und sind sie als Ausgangspunkt einer ökonomischen beziehungsweise juristischen Theoriebildung solchen Gesellschaftstypen durchaus angemessen. Sie bleiben jedoch ideologisch in dem Sinn, dass sie nicht über diese Gesellschaftstypen hinausweisen können und deren modus operandi als unabänderliche Gegebenheit voraussetzen. Was Foucault zur Ideologiekritik beiträgt ist deshalb vor allem die Methode der Analyse solcher Überzeugungen in ihrem Zusammenspiel mit ganzen Theoriegebäuden und -landschaften, aber auch mit Institutionen und Praktiken. Theorien, Institutionen und Praktiken bilden dabei einen historischen Komplex, der sich von anderen historischen Komplexen dieser Art, die aber ganz anders funktionieren, von ganz anderen Grundsätzen ausgehen und nach ganz anderen Regeln formiert werden, deutlich abhebt.

Kritik der Ideologie Wenn aber Denken und Wissen immer in eine Episteme der beschriebenen Art oder – wie es später bei Foucault heißt – einen Wissen-Macht-Komplex eingefügt sind, worin besteht dann die Möglichkeit ihrer Kritik? Foucaults eigene historisch-genealogische Arbeiten können durchaus als eine erste Antwort auf diese Frage gelesen werden. Indem vergangene Wissensordnungen als Positivitäten mit ihren eigenen Gegenstandkonstitutionen und Wahrheitskriterien analysiert und dargestellt werden, wird die Evidenz der eigenen Wissensordnung erschüttert. Der historische Blick historisiert dann auch die eigene Gegenwart, stellt eine Distanz zu ihr her, die es ermöglicht, sie in ihrem Funktionieren und ihrer Zufälligkeit zu betrachten (vgl. dazu Saar 2007). »Dem ideologischen Funktionieren einer Wissenschaft sich zuzuwenden, um es erscheinen zu lassen und umzugestalten«, schreibt Foucault in diesem Sinne, »heißt, sie als diskursive Formation in Frage zu stellen; es heißt […] gegen das Formationssystem ihrer Gegenstände, ihrer Äußerungstypen, ihrer Begriffe, ihrer theoretischen Wahlmöglichkeiten [anzugehen]. Es heißt sie als Praxis neben anderen Praktiken wiederaufzunehmen.« (Foucault 1969: 265)

»Praxis neben anderen Praktiken« heißt in diesem Zitat aus dem Jahr 1969 zunächst noch Wissenspraxis neben anderen Wissenspraktiken. Mit der Hinwendung zur Analyse der Straf- und Einkerkerungssysteme in den sieb-

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ziger Jahren wird der Praxisbegriff von Foucault jedoch bald weiter gefasst. Nun geht es nicht mehr nur um die Bestimmung des Denkens und Wissens im Rahmen von Diskursen, sondern auch um die Institutionen, in denen sich die Formen des Wissens materialisiert haben, und um die Subjektivierung im umfassenden Sinn, das heißt, unter Einschluss der Handlungsformen und -vermögen. Die Analysen des »ideologischen Funktionierens« von Wissensordnungen beziehungsweise Wissen-Macht-Komplexen und ihre genealogischen Historisierungen erlauben es zwar, auch unter der Bedingung, dass Ideologie und Wissenschaft nicht mehr strikt voneinander geschieden und gegen einander abgesetzt werden können, in dem beschriebenen, modifizierten Sinn »ideologiekritisch« zu verfahren. Sie bleiben aber mit zwei Problemen konfrontiert, die sich aus dem starken, auf Althusser zurückgehenden und von Foucault radikalisierten Verständnis von Ideologie ergeben. Das erste dieser beiden Probleme betrifft nochmals die Position, von der aus Kritik geübt werden kann, wenn weder die Differenz Ideologie-Wissenschaft eine feste Grundlage verspricht, noch das Subjekt als privilegierter Ort des Wissens in Stellung gebracht werden kann. Das zweite Problem bringt das klassische Thema des Marxismus und der Psychoanalyse erneut ins Spiel, dass die ideologischen Phänomene nicht einzeln und nicht anhand begrenzter Gegenstände und Praktiken analysiert, sondern nur aus ihrem systematischen Zusammenhang heraus verstanden werden können. Das erste Problem hat Foucault in seinen letzten Arbeiten, vor allem aber in den letzten Vorlesungen am Collège de France, stark beschäftigt. Während die Genealogie eine Antwort auf die Frage verspricht, wie eine Kritik aussehen könnte, die die Probleme der Ideologiekonzeption ernst nimmt, beantwortet sie nämlich nicht die Frage, warum angesichts der Unausweichlichkeit der Ideologie ein anderes Wissen überhaupt gewollt wird oder gar gewollt werden soll. Fraglich bleibt also, warum man nicht so, nicht auf diese Weise und nicht im Einklang mit diesen oder jenen herrschenden Institutionen und Praktiken wissen und handeln will. Althusser hatte diese Frage nach der Motivation der Kritik noch in einer klassischen, an der Psychoanalyse orientierten Weise beantwortet. Er setzte dem Imaginären der Ideologie das »Reale« entgegen. Allerdings blieb ziemlich vage, was bei Althusser genau unter dem »Realen« zu verstehen sei. Sicher ist lediglich, dass er diesen Begriff der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans entlehnte, in der die »Ordnung des Realen« sich sowohl von der »Ordnung des Imaginären«, die Althusser mit der Ideologie identifiziert,

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als auch der »Ordnung des Symbolischen« abhebt. Ohne hier allzu sehr in die Details gehen zu müssen, ist es offenkundig, dass für Althusser im Anschluss an Lacan, die Ordnung des Symbolischen, das heißt die Ordnung der Sprache und ihrer Begriffe, die beiden anderen Ordnungen beherrscht. Der Zugang zum Realen und Imaginären ist immer sprachlich vermittelt. Im Anschluss an Lacan spricht Althusser vom »Verhältnis der formalen Struktur der Sprache als der absoluten Voraussetzung der Möglichkeit sowohl der Existenz wie der Verständlichkeit einerseits des Unbewußten, andererseits der konkreten Verwandtschaftsstrukturen und schließlich der konkreten ideologischen Formationen, in denen die spezifischen, in den Verwandtschaftsstrukturen implizierten Funktionen (Vaterschaft, Mutterschaft, Kindsein) gelebt werden« (Althusser 1970: 31). Es ist diese ebenso ontologische wie epistemische Durchdringung des Realen und Imaginären durch das Symbolische, die es unmöglich macht, das Reale naiv als das tatsächlich Vorhandene aufzufassen, dem sich genähert werden könnte, wenn die imaginären Vorstellungen der Ideologie durchdrungen und die symbolische Ordnung aufgehoben wäre. Althusser jedenfalls lehnt einen derart naiven Realismus ausdrücklich ab. Dem sich immer wieder entziehenden Realen lässt sich deshalb wahrscheinlich am ehesten in Althussers Beschreibung des Unbewussten auf die Spur kommen, das zunächst einmal – das heißt, bevor es als imaginäres Verhältnis (zur Mutter) oder als Teil der symbolischen (väterlichen) Ordnung beschrieben wird – für Althusser auf den traumatischen »›Wirkungen‹ der Menschwerdung des kleinen von Menschen geborenen biologischen Wesens« (ebd.: 18) beruht. Diese Wirkungen sind für ihn Wirkungen eines Prozesses auf Leben und Tod, in dem die biologischen Wesen zu Mitgliedern der menschlichen Kultur werden – »ein Krieg, der sich jeden Augenblick in jedem ihrer Sprößlinge abspielt, die vorwärtsgetrieben, beiseitegedrängt, zurückgestoßen jeder für sich in Einsamkeit und gegen den Tod einen langen Gewaltmarsch auf sich zu nehmen haben, auf dem aus säugetierartigen Larven Menschenkinder, männliche oder weiblich Subjekte, werden.« (Ebd.: 19) Es bietet sich vor dem Hintergrund dieser dramatischen Beschreibung des Subjektivierungsprozesses an, im Kontext von Althussers Ideologieund Wissenschaftskonzeptionen Traumata – »alte Wunden«, die teils »in psychotischer Explosion wieder aufbrechen, im Wahnsinn als dem äußersten Zwang einer ›negativen therapeutischen Reaktion‹« (ebd.) – als Hinweise auf das »Reale« zu interpretieren. Das körperliche und mentale Leiden

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wären dann (ähnlich wie in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule) ein Hinweis auf etwas, das auch jenseits des Imaginären und Symbolischen eine Existenz für sich bewahrt und zum Antrieb werden kann, eine andere Form des Symbolischen, ein anderes Wissen und eine andere Praxis zu suchen. Foucault, der in Wahnsinn und Gesellschaft selbst noch von einer eigenen Sprache der Unvernunft spricht, von einem eigensinnig störrischen »Gemurmel einer Sprache, die von allein spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Gesprächspartner, auf sich selbst gehäuft, in der Gurgel geballt« (Foucault 1961: 12), wandte sich später von der Idee ab, dass sich ein solches eigentliches, widerständiges Sprechen jenseits der Episteme rekonstruieren und gegen diese in Stellung bringen ließe. Hinter dem Gemurmel der Unvernunft und des Wahnsinns verbirgt sich das »Reale« ebenso wenig, wie es durch das Leiden zugänglich wird. Denn auch das Leiden wird erst dadurch zum Symptom von etwas anderem, dass es interpretiert und mit Vorstellungen von seinen Ursachen verbunden wird. Diese Interpretationen und Vorstellungen verweisen aber wieder zurück auf das alltägliche sowie das wissenschaftliche Wissen und auf die gesellschaftlichen Imaginationen. Wie stark die symbolische Ordnung – sprich: das gesellschaftliche Wissen – das Leiden in seiner konkreten Gestalt prägt, zeigt sich etwa daran, dass misogyne, antisemitische oder rassistische Morde und Gewalttaten häufig auch als Ausdruck individueller Geisteskrankheit pathologisiert werden können. In einem solchen »Wahnsinn« kommt aber genau der Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus zum Vorschein, der sich als gesellschaftliches Deutungsmuster nicht auf rein pathische Projektionen verwirrter Einzelner reduzieren lässt. Wenn der von Althusser vorgeschlagene Weg zum Realen aber durch die Wirkungen des Imaginären und Symbolischen versperrt ist, wäre eine mögliche Reaktion die immanente Kritik. Sie ist – in einer Situation, in der die Schließung der Immanenz von Ordnungen des Wissens und Handelns selbst im Leiden keinen Zugang zu einem Außen mehr ermöglicht – die Wendung der Immanenz gegen sich selbst. Indem Lebensformen als institutionalisierte Lösungen für Probleme aufgefasst werden, ergibt sich für die immanente Kritik die Möglichkeit, sie statt am »realen« Grund des Leidens an ihren eigenen Bestimmungen zu messen und so normative Standards zu etablieren, die auch eine starke Antwort auf das Motivationsproblem der Kritik geben. Etablierte Praktiken und selbst Problemdefinitionen können sich so aus sich heraus als unangemessen erweisen (Jaeggi 2013). Allerdings stellt

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sich bei einer solchen Kritikstrategie schnell die Frage, ob es sich nicht um eine radikale Variante des Reformismus handelt, der die Institutionen ändern, die normativen Grundlagen aber bestehen lassen will. Es bleibt mit anderen Worten unklar, ob die immanent begründete Unzufriedenheit tatsächlich einen Weg aus der Immanenz weist.7 Auch Foucault wendet die Immanenz gegen sich selbst. Wie für die immanente Kritik ist für ihn das Problem des Standpunkts der Kritik nicht das Problem einen festen Grund – und sei es ein sich ständig entziehendes »Reales« – zu gewinnen, von dem aus sich die Ideologie transformieren oder gar als solche überwinden ließe. Die Kritik ist auch bei Foucault nicht auf ein Äußeres angewiesen, das es irgendwie zu erreichen oder auf das es sich zu beziehen gelte. Vielmehr ist das Problem einer in sich geschlossenen ideologischen Realität, die kein Außen mehr kennt und sich gegen jede Möglichkeit der Veränderung abschottet, in den Genealogien immer schon gelöst, denn die Brüche zwischen historischen Wissensordnungen und Praxiskomplexen bilden den archäologisch herausgearbeiteten Anfangspunkt der Erzählungen.8 Im Gegensatz zur immanenten Kritik ist für Foucault die Frage nach dem Standpunkt der Kritik aber die Frage nach der historischen Genese der kritischen Subjektivität. Die Rekonstruktion dieser Genese beginnt er in seinen letzten Lebensjahren mit den Vorlesungen Die Regierung des Selbst und der Anderen und Der Mut zur Wahrheit. Gemeinsam mit den beiden Bänden Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich eröffnen die Vorlesungen ein Panorama jener Praktiken, die in der modernen Subjektivität einer intensiven Selbstbefragung und -kritik münden. Ziel dieser historisch weitausladenden Analysen – die nie bis zu ihrem erklärten Ziel, der Gegenwart, fortgeschritten sind – war es nachzuvollziehen, wie die Kritik der Gesellschaft und die Kritik des eigenen Selbst zu einem wesentlichen Element der modernen Subjektivität geworden sind. Es geht Foucault also weniger um die Frage, wie eine Kritik der Episteme und der Subjektivierung prinzipiell möglich ist, sondern darum herauszufinden, warum sich uns eine solche Kritik als Aufgabe stellt und welche Techniken und Lebensformen zur Bewältigung einer solchen Aufgabe historisch bereits zur Verfügung standen. Foucaults Frage ist mit anderen Worten: Warum und auf welche Weise ist Kritik Bestandteil der modernen Subjektivierung?

—————— 7 Skeptisch äußert sich zu dieser Frage etwa Menke (2019). 8 In dieser speziellen Hinsicht ähnelt Foucault den Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts, für die sich die Frage nach der Möglichkeit der Revolution ebenfalls nicht stellte.

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Es ist diese Frage, mit der die Immanenz bei Foucault gegen sich selbst gewendet wird. Mit ihr geht es im Unterschied zur immanenten Kritik nicht um die Errichtung normativer Standards, auf die sich die Kritik stützen kann, sondern um die Rekonstruktion von Praktiken und ganzen Lebensformen, die der Kritik gewidmet sind beziehungsweise die Kritik ermöglichen. Ideologietheoretisch bedeutet das, dass Foucault die Aufklärung als ein ideologisches Moment moderner Gesellschaften analysiert. »Aufklärung« ist nämlich für ihn im Kern der »Modus eines reflexiven Verhältnisses zur Gegenwart« (Foucault 1984: 700), dessen bis in die Gegenwart anhaltende Bedeutung die »permanente Kritik unserer selbst« (ebd.) ist. Aufklärung und Kritik gehören folglich zusammen und lassen sich mit den Mitteln der Genealogie verstehen, ja müssen mit diesen Mitteln verstanden und auf einen handhabbaren Abstand gebracht werden, der die Kritik der Kritik erlaubt. Bereits in Die Ordnung der Dinge hatte Foucault die historische Bewegung der »Idéologues« um Destutt de Tracy und die kantische Kritik als sich berührende Übergangsfiguren an der Schwelle zur Reflexion auf die Bedingungen des Wissens gekennzeichnet. Während die von Destutt de Tracys »Ideologie« genannte Lehre der Ideen versuche, dem gesamten Raum des Wissens ausgehend von den naturwissenschaftlich beschreibbaren Erkenntnisvermögen des Menschen einen einheitlichen Rahmen zu verleihen, gründe Kant das durch »Kritik« erzeugte Wissen vom Wissen auf »die Bedingungen, die die allgemeingültige Form [des Wissens] definieren« (Foucault 1966: 298). Beide versuchen also das Wissen insgesamt zu verstehen, wenn auch mit unterschiedlichen Strategien. Während die frühe Ideologie ein kohärentes Gesamttableau des Wissens entwerfe und damit »die letzte der klassischen Philosophien« sei, markiere ihr gegenüber »die kantische Kritik die Schwelle unserer Modernität«. (Ebd.: 299) Es lassen sich in dieser ideengeschichtlichen Gegenüberstellung der »Idéologues« und Kants tatsächlich schon Bestimmungen der Differenz zwischen Ideologie und Kritik ausmachen, die Althusser für seine Gegenüberstellung von Ideologie und Wissenschaft verwenden wird. Indem Foucault aber die Kritik selbst historisiert, ändert er den Charakter der Reflexivität, die mit Kant in die Moderne Einzug hält. Es geht bei der Reflexion auf die Voraussetzungen des Denkens und Handelns nicht länger um ein transzendentales Apriori, das unbezweifelbar und damit der Zeit enthoben ist, sondern um die historischen Voraussetzungen des Denkens, die sich als Wis-

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sensordnungen verstehen lassen. Werden nun Kritik und Aufklärung selbst als historische Formen, als Formen unserer modernen Subjektivität betrachtet, dann stellt sich auch für sie die Frage, welches historische Apriori sie trägt. Wollte Kant die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt bestimmen – ein Ziel, das mit dem der »Idéologues« übereinstimmte –, geht es Foucault im Zuge seiner Historisierungsstrategie um konkretere und lokalere Fragen. Er will nicht wissen, wie Denken und Handeln überhaupt möglich sind, sondern: Was bringt die konkreten historischen Formen des Denkens und Handelns einer genau bestimmten Epoche hervor? Welche Zufälle haben uns zu dem gemacht, was wir historisch geworden sind? Und was an den Wirkungen dieser Zufälle könnte infrage gestellt oder suspendiert werden, ohne dass wir uns als das historisch-gewordene Subjekt, als diese freien Wesen, die wir sind, aufgeben müssten? Die Ideologie soll so auf maximale Weise unterhöhlt und von innen heraus angegriffen werden, weil der Sprung aus ihr und damit ihre Zerstörung als Gesamtheit nach wie vor unmöglich ist. Diese vom späten Foucault favorisierte Strategie des Umgangs mit Ideologie, sieht sich jedoch sofort einem Einwand ausgesetzt, der aus einer Perspektive, in der sich Institutionen und Ideologien gegenseitig stützen und reproduzieren, nicht von der Hand zu weisen ist: »Läuft man mit der Beschränkung auf derartige stets partielle und lokale Untersuchungen oder Erprobungen nicht Gefahr, sich durch allgemeinste Strukturen bestimmen zu lassen, was das Risiko beinhaltet, dass wir uns ihrer weder bewusst sein noch sie beherrschen können?« (Foucault 1984: 704)

Foucault, der hier selbst den Einwand formuliert, der aus der Sicht der Psychoanalyse und des Marxismus naheliegt, reagiert auf die beschriebene Gefahr nicht durch eine Revision seines radikalen Verständnisses von Ideologie. Vielmehr wiederholt er, was das Ergebnis seiner ideologie-theoretischen Überlegungen gewesen war: »Es stimmt, dass man auf die Hoffnung verzichten muss, jemals einen Standpunkt zu erreichen, der uns den Zugang zur vollständigen und endgültigen Erkenntnis dessen geben könnte, was unsere historischen Grenzen auszumachen vermag.« (Ebd.)

Aber – so fährt er fort – diese Beschränktheit der Selbsterkenntnis und Selbsttransparenz sei nicht gleichbedeutend mit einer völligen Willkürlichkeit des Vorgehens.

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Wissend um die Gefahr einer unbewussten systematischen Verzerrung der theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivierung formuliert Foucault vier methodische Kriterien, die helfen sollen, die übergreifende Bedeutung von lokal begrenzten Analysen im Blick zu behalten. Bei diesen vier Kriterien handelt es sich 1. um den Einsatz der Untersuchungen und Experimente. Foucault spricht konkret davon, dass es bei allen Untersuchungen und Experimenten darum gehen müsse, das Anwachsen technologischer Fähigkeiten der Menschheit von der zunehmenden Konzentration von Macht und der Intensivierung von Machtbeziehungen zu trennen. Das heißt, für Foucault ist es ein Kennzeichen unserer Subjektivierung, nicht nur die Welt technologisch zu beherrschen, sondern die Entwicklung der Technologien auf eine Art und Weise zu betreiben, die an die Akkumulation von Macht gekoppelt ist. Am Beispiel des Klimawandels heißt das, das zentrale ideologische Problem sind nicht die interessengeleiteten Versuche von Vertreter*innen der Industrie, den menschlichen Anteil an der Erderwärmung zu relativieren oder zu leugnen. Das zentrale ideologische Problem ist die Akkumulation von Macht, die sich mit den Versuchen ankündigt, das Problem technologisch zu beherrschen – seien die vorgeschlagenen Technologien nun im engeren Sinn technischer oder eher sozialtechnischer Natur. Und tatsächlich setzen viele Vorschläge zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf einen starken Staat, der Verbote durchsetzt und das (wirtschaftliche) Leben steuert. Der von Foucault bezeichnete Einsatz kann also durchaus Plausibilität für sich beanspruchen. Das Kriterium ließe sich jedoch auch über ihn hinaus verallgemeinern. Statt nur die Entkopplung wachsender technologischer Fähigkeiten von der Akkumulation von Macht, kann ein solcher Einsatz jedes Ziel sein, das sich aus einem problematischen Aspekt unserer Subjektivierung ergibt. 2. fordert Foucault für die Untersuchungen und Experimente die Beachtung der »Homogenität«. Dieses Kriterium bezieht sich auf die Formen des Handelns, die dem Subjekt methodologisch vorgelagert sind, weil Subjekt zu werden bedeutet, in die geteilten Formen des Handelns eingeführt zu werden, so wie Spracherwerb bedeutet, in eine Sprachgemeinschaft hineinsozialisiert zu werden. Homogenität herrscht nun zwischen dieser Infrastruktur historisch situierter Subjekte und ihrer Fähigkeit sich strategisch zu den Regeln einer solchen Infrastruktur zu verhalten, sprich: die Regeln zu dehnen, sie zu modifizieren, zu umgehen usw. Die

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archäologischen und genealogischen Untersuchungen liefern also nicht ein Material, dessen Stabilität durch nichts erschüttert werden kann, sondern eines, das trotz seines Vermögens zur Selbststabilisierung auch unterlaufen und gegen sich selbst gewendet werden kann. Diesen doppelten Charakter gilt es im Anschluss an Foucault im Auge zu behalten, denn nur durch ihn wird deutlich, dass die als Beispiel gewählte Entkoppelung von technologischer Fähigkeit und akkumulierte Macht nicht darin bestehen kann, den technologischen Weltbezug aufzugeben oder auf das Aufhören von Machtbeziehungen überhaupt zu hoffen. Vielmehr sind es für Foucault gerade Technologien und Machtbeziehungen, die das Gefüge aus beiden aufbrechen können. In gewisser Weise sind es nun gerade die klassischen Formen der Ideologie im engeren Sinn, die etwa durch Propaganda oder durch ihre Formen der politischen Ermächtigung eine Subversion der öffentlichen Kommunikation und demokratischer Herrschaftsverfahren betreiben. Sie richteten also die Techniken demokratischer Herrschaft gegen sich selbst. Allerdings verfolgt diese Subversion gerade nicht das Ziel, die Akkumulation von Macht zu unterbinden, sondern sie im Gegenteil weiter zu steigern. Während also das erste Kriterium isoliert betrachtet, dazu verführen könnte Technologien, Kooperationsformen und der Suche nach Wissen, ein romantisches Bild unvermittelten Seins entgegenzustellen, steht das zweite ohne das erste Kriterium in der Gefahr, den Einsatz der Subversion zu verfehlen. 3. geht es bei allen Untersuchungen und Modifikationen immer auch um die jeweiligen systematischen Zusammenhänge auf den Gebieten der Subjektkonstitution, der Konstitution von Beziehungen zu anderen Menschen und der Konstitution von Lebensformen sowie um die Wechselwirkungen zwischen diesen Feldern. Es reicht also nicht, das Klima zu retten oder Freiheit oder Gleichheit zu verwirklichen, wenn nicht gesehen wird, dass wer wir sind, wie wir uns verstehen, in welchen Verhältnissen wir leben und wie wir unser (gesellschaftliches) Leben reproduzieren in Abhängigkeit voneinander verwirklicht wird. 4. identifiziert Foucault schließlich als Kriterium für seine Untersuchungen noch die »Allgemeinheit« ihrer Gegenstände, die sich mit Modifikationen in verschiedenen Epochen finden lassen müssen, damit die kontrastive Beschreibung der Ordnungen, durch die diese Gegenstände konstituiert werden, überhaupt gelingen kann. Denn wenn unser Leben und Handeln, unser Denken und Vorstellen so tief von unserer historischen Exis-

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tenzweise bestimmt ist, dass uns die Gegenstände unseres Wissens als selbstverständlich, ja natürlich vorkommen müssen, dann bedarf es, wie sich gezeigt hat, Techniken, um uns von uns selbst distanzieren und eine Kritik der Subjektivierung möglich werden zu lassen. Diese vier Kriterien, von Foucault in seinem letzten Lebensjahr postuliert, haben eingestandenermaßen einen ausgesprochen programmatischen Charakter, der sich anhand konkreter Untersuchungen erst bewähren müsste. Sie sollen hier aber als Fingerzeig dafür dienen, dass Foucault die Frage nach der Ideologie nicht nur theoretisch radikalisiert und verschärft hat, sondern auch methodische Anregungen hinterließ, wie eine andere Form von Kritik möglich sein könnte – eine Kritik ohne »reales« Fundament und ohne die Fixierung auf ihre normative, überzeitlich gültige Rechtfertigung. Allein eine solche Kritik, die nicht nur die Ideologien im engeren Sinn in ihren Fokus nimmt, ermöglicht es, Ideologiekritik zu betreiben, ohne selbst willkürliche Machtansprüche zu legitimieren. Nach den wechselseitigen Schlachten der Ideologien des 20. Jahrhunderts, die alle – einschließlich des schließlich siegreichen Liberalismus – Methoden gesteigerter Herrschaft hervorbrachten, sollte eine erneuerte Ideologiekritik, die den regressiven Vorstellungen der Gegenwart entgegen tritt, zumindest versuchen, die Kopplung von Aufklärung und Herrschaft aufzubrechen.

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Systemtheorie und Ideologie. Eine Spurensuche Isabel Kusche

Der Begriff der Ideologie ist für die Systemtheorie alles andere als zentral. Er findet sich in den Titeln zweier früher Aufsätze Niklas Luhmanns; in dessen späteren Arbeiten taucht er verstreut und unsystematisch auf – wie eine Angelegenheit, die wenig relevant ist, aber von anderen in bestimmten Zusammenhängen für so relevant gehalten werden könnte, dass man nicht umhin kommt, sie zumindest zu erwähnen. Sowohl die Existenz jener beiden frühen Beiträge als auch eine genaue Lektüre der anderen gelegentlichen Bezugnahmen legen allerdings nahe, dass das Problem der Ideologie(n) für die Systemtheorie durchaus eine wichtige Rolle spielt, auch wenn die Theorie für dessen Bearbeitung bald auf andere Begriffe setzt. Diese These liegt der folgenden Darstellung zugrunde. Sie identifiziert eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Ideologie in zwei zentralen Teilen der Luhmannschen Systemtheorie: zum einen in seiner als Alternative zu Marx und Mannheim konzipierten Wissenssoziologie und zum anderen in seiner theoretischen Einordnung von Werten. Die Wissenssoziologie konzentriert sich auf Korrelationen zwischen der Sozialstruktur der Gesellschaft, verstanden als deren dominante Differenzierungsform, und Semantiken und Selbstbeschreibungen, die auf diese Struktur reagieren. Werte scheinen einerseits eine Funktion im Zusammenhang mit der Auswahl von Handlungen zu erfüllen, andererseits aber so abstrakt zu sein, dass sie eben dazu doch eher ungeeignet sind – ein merkwürdiger Zwitterstatus, den Luhmann zunächst mit Hilfe des Ideologiebegriffs zu fassen versucht, bevor er ihn im Zuge der Ausarbeitung seiner Theorie in eine Unterscheidung auflöst: Werte gehen demnach einerseits in handlungsleitende Differenzen ein, die als binäre Codierungen die Ausdifferenzierung jener Funktionssysteme ermöglichen, welche die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft prägen. Andererseits können Werte ein Medium sein, das quer zu diesen Funktionssystemen Gemeinsamkeit und Konsens ohne konkrete Folgen für die Handlungswahl suggeriert.

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Aus der Darstellung der Luhmannschen Überlegungen zur Wissenssoziologie einerseits und zur Thematik der Werte andererseits ergeben sich Rückfragen hinsichtlich bestimmter theoretischer Entscheidungen, die Luhmann im Zuge der Ausarbeitung seiner Theorie getroffen hat, aber auch anders hätte treffen können – mit möglichen Konsequenzen für die Relevanz des Problems der Ideologie. Eine Reihe systemtheoretischer Autor*innen wird herangezogen, um diese Möglichkeiten zu erkunden. Deren Diskussion mündet in tentative Überlegungen dazu, weshalb das Problem der Ideologie(n) sich gegenwärtig mit neuem Nachdruck stellen könnte.

Das wissenssoziologische Programm der Systemtheorie Die systemtheoretische Perspektive auf Ideologien lässt sich allgemein in den vom Marxismus einerseits und von der Mannheimschen Wissenssoziologie andererseits aufgespannten Problemhorizont der Latenz sozialer Strukturen einordnen. Der Marxismus fokussiert auf die Latenz ökonomischer Interessen als Bedingungen für die Ausprägung von Denkinhalten. Er identifiziert in der antagonistischen Stellung sozialer Klassen im gesellschaftlichen Produktionsprozess die verborgene Ursache für Weltanschauungen und den Glauben an bestimmte regulative Ideen und Vorstellungen über eine gute Gesellschaftsordnung. Weitverbreitete Denkfiguren werden auf diese Weise als Produkt der Interessen der herrschenden Klasse erklärt; die Entlarvung der Bestimmung des Denkens durch ihm äußerliche, materielle Ursachen entwertet seinen Gehalt zur bloßen Ideologie. Mannheims Wissenssoziologie totalisiert die These von der Seinsgebundenheit des Denkens, versucht sie aber gleichzeitig zu entschärfen: Sie geht davon aus, dass soziale Gruppen – wozu neben Klassen zum Beispiel auch Generationen oder Berufsgruppen gehören – grundsätzlich und unvermeidlich Denkstile und Weltanschauungen entwickeln, die Ausdruck ihrer sozialen Lage sind. Die Leistung einer wissenssoziologischen Analyse kann unter diesen Umständen nicht darin bestehen, eine Ideologie dadurch zu enthüllen, dass die verkannten seinsgebundenen Voraussetzungen eines Denkgebildes der Latenz entrissen werden. Stattdessen kann es nur darum gehen, die Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und Denken herauszuarbeiten, wobei die erkenntnistheoretische Position eines solchen Unternehmens offensichtlich prekär

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wird. Mannheims Vorschlag, Ideologien als partielle, einseitige Wahrheiten zu begreifen, die die soziale Gruppe der freischwebenden Intelligenz dank ihrer besonderen sozialen Lage einer Synthese zuführen kann, bietet keine überzeugende Lösung dieses Problems. Luhmann geht das Problem der Latenz grundlegend anders an, indem er die Frage nach der Bedingtheit von Wissensbeständen durch gesellschaftliche Strukturen, für die der Ideologiebegriff bei Marx wie Mannheim steht, systemtheoretisch fasst. Das bedeutet, die Strukturseite dieses Verhältnisses nicht mehr an Interessenlagen oder Erfahrungen bestimmter Gruppen oder Klassen sozialer Akteure festzumachen. Gesellschaftsstrukturen sind aus systemtheoretischer Perspektive Strukturen menschlichen Handelns und Erlebens beziehungsweise der Kommunikation – ein Strukturbegriff, der strikt zwischen psychischen und sozialen Systemen beziehungsweise Bewusstsein und Kommunikation unterscheidet (Luhmann 1984; 1998). Beide Arten von Systemen grenzen sich demnach durch die Verknüpfung immer neuer, momenthafter, systemspezifischer Operationen von ihrer Umwelt ab. Während in psychischen Systemen das operativ verknüpfte Letztelement Gedanken sind, handelt es sich in sozialen Systemen um Kommunikationen, die aneinander anschließen und auf diese Weise einen operativ geschlossenen Systemzusammenhang bilden (Luhmann 2005). Die Kontingenz möglicher kommunikativer Anschlüsse wird durch soziale Erwartungen reduziert; sie sind die Strukturen sozialer Systeme. Jede Kommunikation geschieht vor einem Horizont anderer Möglichkeiten, die stattdessen hätten aktualisiert werden können (Luhmann 1984: 92–101). Zur Bewältigung dieser Offenheit für unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten ist Kommunikation auf die Orientierung an typisiertem Sinn, also an sachlichen, zeitlichen und sozialen Generalisierungen angewiesen, die situationsübergreifende Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten markieren und auf diese Weise die prinzipiell verfügbaren Selektionsmöglichkeiten einschränken. Einen derart höherstufig generalisierten Sinn bezeichnet Luhmann als Semantik beziehungsweise – sofern er als Text im Kontext ernster, als bewahrenswert behandelter Kommunikation auftritt – als gepflegte Semantik (Luhmann 1993a: 17–21). Diese gepflegte Semantik ist es, für deren Korrelation oder Kovariation mit gesellschaftlichen Strukturen Luhmann sich interessiert. Daraus ergibt sich eine theoretisch folgenreiche Einschränkung für die Art gesellschaftlicher Strukturen, die Luhmann in den Blick nimmt. Er geht davon aus, dass gepflegte Semantiken sich nur herausbilden, wenn soziale

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Systeme ein Minimum an interner Differenzierung, etwa auf der Ebene sozialer Rollen oder spezifischer Situationen, aufweisen (Luhmann 1993a: 20). Entsprechend formuliert er das systemtheoretische Programm einer Wissenssoziologie als die Untersuchung von Korrelationen zwischen der Differenzierungsform einer Gesellschaft und den Semantiken, die zur Beschreibung dieser Gesellschaft oder eines ihrer ausdifferenzierten Teilsysteme herangezogen werden. Dabei nimmt er an, dass Semantiken mit Verzögerung auf Strukturänderungen reagieren, Veränderungen der Differenzierungsform also erst nachträglich reflektieren (Luhmann 1993a). Die Verknüpfung zwischen gepflegter Semantik und Fragen der Differenzierung sozialer Systeme veranlasst Luhmann, theoretische Unschärfen hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Struktur und Semantik zu übergehen. Ungeklärt bleibt, wie sich sinnförmige Strukturen der Gesellschaft von den ebenso sinnförmigen semantischen Regeln zur Verarbeitung dieser Strukturen abgrenzen lassen, ohne die erstere gar nicht aktualisiert werden könnten. In Form von Erwartungsstrukturen unterschiedlichen Generalisierungsgrades – Luhmann (1984: 428–436) unterscheidet zwischen Personen, Rollen, Programmen und Werten – nimmt jede Operation höherstufig generalisierten Sinn, also Semantiken, in Anspruch (Göbel 2000: 156ff.; Stäheli 2000: 204ff.). Darüber hinaus ist es schon für die Fortsetzung von Kommunikation nötig, diese vereinfacht als Handeln aufzufassen, das unter Verwendung passender Semantiken Akteuren zugerechnet wird (Luhmann 1984: 225–236).1 Angesichts der ständigen Verschränkung von Erwartungsstrukturen unterschiedlicher Generalisierungsstufen, die an der Fortsetzung von Kommunikation und damit an der Grenzziehung zwischen sozialen Systemen und ihrer Umwelt beteiligt sind, scheint die in Luhmanns Wissenssoziologie implizierte These von der Nachträglichkeit der Semantik schwer durchzuhalten. In Luhmanns Studien zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik dirigiert sie ungeachtet dessen die Interpretationen des Wandels

—————— 1 »Der semantische Aufwand, der im Zusammenhang mit einer solchen Selbstbeschreibung des Kommunikationssystems als Handlungssystem getrieben werden muß, ist teils ein kulturgeschichtliches, teils ein situationsspezifisches Problem. Ob eine Semantik der Säfte und Kräfte ausreicht oder ob Interessen unterstellt werden müssen, ob man im Kontext von Beichte oder juristischen Verfahren ›››innere Zustimmung‹ zum eigenen Handeln ermitteln muß, um das Handeln fest und zugleich lose in der Umwelt zu verorten, ob das Handeln psychologisiert oder gar auf Faktoren zurückgeführt werden muß, die dem Handelnden nicht bewußt sind, sondern ihm erst auftherapiert werden müssen – all das hängt von Umständen ab, über die im sozialen System disponiert wird.« (Luhmann 1984: 231)

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historischer Begriffe, die stets als Indizien für längst im Gang befindliche Umbauten von stratifikatorischer hin zu funktionaler Differenzierung gelesen werden. Die im Mittelpunkt des Interesses stehende gepflegte Semantik sind Texte für den wiederholten Gebrauch, der gegen die Ereignishaftigkeit jeder Einzeloperation Zusammenhänge und Wiedererkennbarkeit im System sichert (Luhmann 1998: 887f.). Solche Texte sind insofern vereinfachte Selbstbeschreibungen des Systems, aus denen es für weitere Operationen Orientierung gewinnt. Diese Orientierungsfunktion nimmt leicht einen auch normativen Charakter an (Luhmann 1998: 888). Allerdings sind Selbstbeschreibungen der Beobachtung ausgesetzt. Grundsätzlich gilt, dass jede Kommunikation daraufhin beobachtet werden kann, welche Unterscheidung sie benutzt, wenn sie etwas bezeichnet. Die Bezeichnung einer Person als Arbeiter kann beispielsweise auf die Unterscheidung verschiedener betrieblicher Rollen zurückgehen, auf die Unterscheidung männlich/weiblich oder auf die Unterscheidung zwischen mehreren sozialen Klassen. Beobachtungen, die darauf achten, welche Unterscheidungen Kommunikationen verwenden, behandeln Beobachtetes nicht als Realität, sondern beobachten das Beobachten; sie operieren somit im Modus einer Beobachtung zweiter, statt erster, Ordnung (Luhmann 1993b: 329f.). Im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft wird dieser Beobachtungsmodus normalisiert. Er arbeitet mit Unterscheidungen, die den beobachteten Operationen, gegebenenfalls aber auch dem beobachteten System insgesamt unzugänglich sind; er beobachtet, was für den beobachteten Beobachter latent bleiben muss (Luhmann 1993b: 333, 335). »Ideologie« ist in diesem Zusammenhang eine Begrifflichkeit, die solche Latenzbeobachtungen, also Beobachtungen der eine Beobachtung fundierenden Unterscheidung, mit Blick auf gepflegte Semantik beziehungsweise Selbstbeschreibungen sozialer Systeme markiert. Damit macht der Begriff auch die Möglichkeit anderer Beobachtungen explizit, die mit anderen Unterscheidungen arbeiten (Luhmann 1993b). Im Modus der Beobachtung erster Ordnung, der weiterhin möglich ist, bleibt die Kontingenz einer Selbstbeschreibung dagegen unsichtbar; die Selbstbeschreibung scheint gesellschaftliche Realität beziehungsweise zumindest Teile dieser wiederzugeben. Ein Charakteristikum der Moderne ist allerdings, dass Beobachtungen zweiter Ordnung zur Normalität werden und daher auch Orientierung schaffende Gewissheiten, wie sie in gepflegter Semantik festgehalten sind, in Frage gestellt werden. Entsprechend ist »[…] die

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›Ideologisierbarkeit‹ vieler Ausdrücke […] eines der Merkmale jener semantischen Wende, in der die neuzeitliche Gesellschaft sich selbst entdeckt« (Luhmann 1998: 1076).2 Ideologiekritik bezeichnet dann im Funktionssystem Wissenschaft vorübergehend die Perspektive, in der Sozialwissenschaft diese Beobachtung zweiter Ordnung pflegt (Luhmann 1993b: 335). Sie nimmt insbesondere Deutungsangebote in den Blick, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft unter Bedingungen der funktionalen Differenzierung zu bestimmen versuchen, ohne dieses Verhältnis noch, wie bei stratifikatorischer Differenzierung, auf einen hierarchisch angelegten Naturbegriff oder allgemein verbindliche Werte zurückführen zu können (Luhmann 1993b: 216). Luhmann verweist unter anderem auf den Wertbegriff, »[…] der Superunbezweifelbares symbolisiert […]« (Luhmann 1998: 1122), als Beispiel dafür, wie Beobachtung erster Ordnung invariante Grundlagen von Gesellschaft sieht, wo eine Beobachtung zweiter Ordnung Kontingenz registriert: »Der Beobachter erster Ordnung beobachtet mit Hilfe von Werten. Seine jeweiligen Werte machen für ihn den Unterschied, der sein Erkennen und Handeln steuert. Der Beobachter zweiter Ordnung bezieht die Semantik der Werte auf ihre Verwendung in der Kommunikation. Er kann zum Beispiel erkennen, daß über die Bezugnahme auf Werte weder Entscheidungen abgeleitet noch Konflikte vermieden werden können. Vor allem aber sieht er, wie die Unbezweifelbarkeit der Werte in der Kommunikation produziert wird, nämlich dadurch, daß nicht direkt, sondern indirekt, nicht über sie, sondern mit ihnen kommuniziert wird. […] Die Geltung des Wertes wird vorausgesetzt und hat allein in diesem Modus der Kommunikation ihre täglich erneuerte Unbezweifelbarkeit.«

Der Fokus des wissenssoziologischen Programms der Systemtheorie wie die historische Relevanz des Ideologiebegriffs ergeben sich folglich aus einem über etwa zwei Jahrhunderte sich vollziehenden Umbau der Differenzierungsform der Gesellschaft, der sich im Wandel hochgeneralisierter Sinnformen beziehungsweise der die Beobachtung der Gesellschaft fundierenden Unterscheidungen niederschlägt. Ist die funktionale Differenzierung dage-

—————— 2 »Die Beobachtung der Selbstbeobachtung erfolgt aus einer anderen, ›kritischen‹ Perspektive. Vor allem wird sie heute immer Standorte, Interessen, semantische Bindungen mitsehen, von denen aus die Selbstbeobachtung formuliert ist. Nichtidentität von Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen ist daher ein im Normalgang zu erwartendes Resultat und dies mit zunehmender Wahrscheinlichkeit, wenn die Primärbeobachtung nicht mehr auf der Basis von Autorität und Tradition operieren kann.« (Luhmann 1998: 889)

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gen weitgehend durchgesetzt, müssten entsprechend auch die »[…] semantischen und politischen Turbulenzen […]« (Luhmann 1993b: 216) nachlassen. Das bedeutet nicht, dass Ideologien verschwinden. Sie lassen sich in der Gegenwart aber relativ nüchtern auf ihre Funktion und Konsistenz hin analysieren. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man aus zwei frühen Aufsätzen Luhmanns gewinnen kann, in denen sich sein Interesse an der durch Marx und Mannheim aufgespannten Problematik bereits zwei Jahrzehnte vor der Formulierung des wissenssoziologischen Programms manifestiert. Letzteres legt ihn ab den 1980er Jahren darauf fest, Wissensbestände und Denkgebilde in Relation zur dominierenden Differenzierungsform der Gesellschaft und insbesondere Veränderungen gepflegter Semantiken im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung in den Blick zu nehmen. Dagegen ist in seinen frühen Beiträgen zum Ideologiebegriff die Funktion von Überzeugungen und Denkgebilden für die Orientierung auch und gerade gegenwärtigen Handelns noch zentral und der Wertbegriff wird mit Bezug auf diese Funktion analysiert. Diese frühen Beiträge werden im nächsten Abschnitt genauer untersucht.

Ideologien als Problemlösung – Funktionale vs. kausale Analyse Luhmanns frühe Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff in seinem Aufsatz »Wahrheit und Ideologie« (Luhmann 1962) ist nur im Zusammenhang mit der von ihm präferierten Methode der funktionalen Analyse angemessen zu verstehen. Die funktionale Analyse geht von einem Bezugsproblem aus und interessiert sich dafür, welche unterschiedlichen, funktional äquivalenten Lösungen für dieses Problem in sozialen Systemen vorkommen können (Luhmann 1984: 83–86). Dabei unterscheidet sie Problem und Problemlösung stets mit Bezug auf zwei Systemreferenzen. Zum einen ist es eben jene Unterscheidung, die die funktionale Methode für ihre Form der wissenschaftlichen Beobachtung benutzt und durch die sie sich von der üblichen, kausalwissenschaftlichen Methode unterscheidet. Eine kausalwissenschaftliche Betrachtung versucht, einen Zusammenhang zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen zu zeigen und auf diese Weise zu gesetzesartigen oder wahrscheinlichkeitsbasierten Aussa-

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gen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu gelangen. Eine funktionale Analyse ist dagegen daran interessiert, scheinbar ganz verschiedene Phänomene vergleichbar zu machen, indem sie diese als funktionale Äquivalente der Lösung eines bestimmten Bezugsproblems beschreibt. Zum anderen impliziert diese funktionale Analyse eben deshalb, dass die Lösung eines Bezugsproblems die Leistung jenes Systems ist, für das sich die wissenschaftliche Beobachtung interessiert. Obwohl es also die funktionalanalytische Beobachtung ist, die in jenem System ein Bezugsproblem und dessen Lösung identifiziert, ist es doch das System selbst, in dem diese Verknüpfung zwischen Problem und Problemlösung operativ realisiert wird. Ideologie ist vor diesem Hintergrund für den frühen Luhmann ein möglicher Ansatzpunkt, um soziale Systeme zu beschreiben, indem man danach fragt, für welches Bezugsproblem sie möglicherweise eine Lösung bietet. Die damit abgelehnte Alternative ist die einer kausalen Erklärung, die versuchen würde, den Inhalt bestimmter Vorstellungen als Wirkung bestimmter sozialer Ursachen zu erklären und vor diesem Hintergrund zwischen Ideologien zu unterscheiden, für die sich eine solche Erklärung finden lässt, und Wahrheit, die von solchen Erklärungen ausgenommen wäre (Luhmann 1962: 431f.). Der Effekt kausaler Erklärungen von Vorstellungen und Überzeugungen, wie Luhmann sie für soziologische Klassiker von Marx über Durkheim bis Veblen als typisch identifiziert, besteht darin, dass »[d]er gemeinte Sinn des Handelns […] durch solche Erklärungen zu einer vordergründigen ›Rationalisierung‹ der eigentlichen Motive [wird]« (Luhmann 1962: 434). Entlarvend oder zerstörerisch wirken derartige Erklärungen allerdings nur, solange ein ontologischer Wahrheitsbegriff vorausgesetzt wird. Gibt man diese Idee von Wahrheit auf, lassen sich Beobachtungen über Zusammenhänge zwischen bestimmten sozialen Ursachen einerseits und bestimmten Überzeugungen oder Denkinhalten andererseits ebenfalls im Schema funktionaler Analyse als Relationierung von Problem und Problemlösung begreifen (Luhmann 1962: 435). Der soziologische Ertrag solcher Beobachtungen liegt nicht darin, die Wahrheitsfähigkeit bestimmter Ansichten und Positionen zu bestreiten. Luhmann (1962: 435) zufolge besteht der Ertrag vielmehr darin, den Blick für stets vorhandene alternative Möglichkeiten des Erlebens und Wissens zu öffnen. Es kommt demnach nicht darauf an, zwischen manifesten Überzeugungen und verborgenen Motiven oder Ursachen für diese Überzeugungen zu unterscheiden, sondern darauf, danach zu fragen, welches Problem für welches Bezugssystem gelöst wird, wenn zur Erklärung einer Handlung oder

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Entscheidung entweder auf diese Überzeugung oder jene Ursache verwiesen wird. Damit lässt sich die allgemeine Funktion von Ideologien als die der Orientierung und Rechtfertigung von Handeln bestimmen. Die funktionale Perspektive impliziert, dass verschiedene Ideologien dabei funktional äquivalente Lösungen für das allgemeine Bezugsproblem der Orientierungsbedürftigkeit von Handeln darstellen. Ideologien ist ihre prinzipielle Austauschbarkeit inhärent.3 Das Grundproblem der Wahl zwischen verschiedenen Handlungen ist Luhmann zufolge die Frage, welche der unzähligen Folgen, die eine realisierte Handlungsmöglichkeit zeitigen könnte, für die Bewertung dieser Option überhaupt herangezogen werden sollen. Sobald Handeln nicht einfach vollzogen, sondern problematisch wird, erscheint es als Bewirken von Wirkungen, das immer auch anders möglich wäre (Luhmann 1962: 437) und daher – ex ante und ex post – nach Gesichtspunkten zu bewerten ist, die sich nicht in die Unterscheidung wahr/unwahr fügen. Im Kontext von Organisationen lassen sich Handlungszwecke qua Entscheidung festlegen und so weiteres Entscheiden und Handeln programmieren. Orientiert an solchen Zwecken können verschiedene Handlungsmöglichkeiten verglichen und dabei unzählige Handlungsfolgen von vornherein aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. Die Frage nach der Wünschbarkeit dieser Folgen wird so neutralisiert (Luhmann 1962: 437f.). Für ganze Funktionssysteme, wie die Politik, ist eine solche Zweckprogrammierung ausgeschlossen. Auch hier können selbstverständlich Zwecke politischen Handelns vertreten und verkündet werden. Aber außerhalb bestimmter Organisationen, zum Beispiel einer konkreten Partei oder einer staatlichen Behörde, fehlt derartigen Proklamationen die Verbindlichkeit. Einen zeitstabilen Orientierungseffekt können sie nur entfalten, indem sie Werte, das heißt allgemein bevorzugte Handlungsfolgen, in eine hierarchische Ordnung bringen, die aber ohne die Verbindlichkeit des Entschieden-Worden-Seins auskommen muss.4 Ange-

—————— 3 »Nicht in der kausalen Bewirktheit liegt das Wesen der Ideologie, auch nicht in ihrer instrumentalen Verwendbarkeit, bei der es nicht um Wahrheit, sondern um Wirkungen geht, und schließlich auch nicht darin, daß sie die eigentlichen Motive verbirgt. Ein Denken ist vielmehr ideologisch, wenn es in seiner Funktion, das Handeln zu orientieren und zu rechtfertigen, ersetzbar ist.« (Luhmann 1962: 436, Hervorh. i. O.) 4 »Man muß das Reich der Folgen des Handelns nun systematisch organisieren. Das geschieht durch Aufstellung von allgemeinen Wertsystemen, die regeln, welche Folgen Wertcharakter haben und daher zu bezwecken (zu erstreben oder zu vermeiden) sind. Solche Wertsysteme bringen die zu bezweckenden Folgen in eine Vorzugsordnung. Aber

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sichts einer Fülle prinzipiell wünschenswerter Handlungsfolgen bedürfen Werte also der Systematisierung. Damit sie überhaupt Orientierung bieten, muss klar sein, ob zum Beispiel individuelle Freiheit als Wert wichtiger oder unwichtiger ist als Gleichheit. In diesem Sinne beschreibt Luhmann (Luhmann 2005 [1967]) Ideologie als einen reflexiven Mechanismus zur Bewertung von Werten – eine Wertordnung. Dreißig Jahre später wird Luhmann (1998: 861) im Zusammenhang mit der Beschreibung von Protestbewegungen deren Neigung zu »distilled ideologies« anmerken. Darunter versteht er »[…] kurzgegriffene Kausalattributionen, die den Blick auf bestimmte Wirkungen lenken […]« (Luhmann 1998: 861). Sie »[…] haben eine Alarmierfunktion und machen auf bedrohte Werte und Interessen aufmerksam« (Luhmann 1998: 861). Gegen den negativen Unterton dieser Beschreibung bleibt mit dem frühen Luhmann zu konstatieren, dass jede Kausalattribution unvermeidlich zu kurz greift, und dennoch beziehungsweise eben deshalb die Funktion hat, problematisch gewordenes Handeln zu orientieren. Mit Blick auf die Funktion der Handlungsorientierung sind alle Ideologien funktional äquivalent. Sie alle beruhen auf der Neutralisierung verschiedenster Handlungsfolgen, die sich ergibt, wenn ausgewählte Folgen als Ordnung von Werten ausgezeichnet werden. Unterschiede zwischen einzelnen Ideologien macht Luhmann vor diesem Hintergrund vor allem an zwei Aspekten fest: Erstens können Ideologien im Hinblick darauf differieren, wie kompatibel sie mit anderen in einem sozialen System etablierten Erwartungsstrukturen sind und so den Fortbestand dieser Strukturen stützen. Zweitens können sie sich darin unterscheiden, wie sie ihre interne Konsistenz gewährleisten. Aus diesen beiden Aspekten ergeben sich auch Hinweise darauf, wann bestimmte Ideologien gegenüber anderen ins Hintertreffen geraten können. Für den Aspekt der Kompatibilität kommt es nicht nur auf die von der Ideologie hervorgehobenen Werte an, sondern insbesondere auch darauf, welche anderen Handlungsfolgen eben dadurch neutralisiert und damit fürs

—————— sie können die unbezweckten Folgen im weitesten Sinne – und dazu gehören auch die Kosten, als oder Verzicht auf andere Möglichkeiten des Handelns – nicht ausschließen; denn sie bleiben auf die kausale Auslegung des Handelns bezogen, die den Zugang zu anderen Möglichkeiten grundsätzlich erschlossen hat und immer aufs Neue ermöglicht. Sie können andere Möglichkeiten nur neutralisieren, aber nicht sicherstellen, daß die gewählten Möglichkeiten in ihrer Wertgeltung ›nicht sind‹. Sie sind daher im traditionellen Sinne nicht wahrheitsfähig. Sie haben nur die Bedeutung von Ideologien.« (Luhmann 1962: 439)

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Weitermachen als irrelevant behandelt werden (Luhmann 1962: 441f.). Wenn die Bedingungen des Fortbestands eines Systems sich ändern, ändern sich demnach auch die Anforderungen an eine Ideologie, die diesen Fortbestand fördert. Luhmann denkt hier in erster Linie an Organisationen als soziale Systeme, die als Reaktion auf geänderte Umweltbedingungen Anpassungen ihrer Ideologie vornehmen, in deren Folge bislang ausgeblendete Handlungsfolgen in den Blick genommen werden können (Luhmann 1962: 443). Da die Wahrnehmung von Gefährdungen des Fortbestandes eine Beobachtung im System ist, lässt sich diese Überlegung aber auch auf die Gesellschaft als soziales System beziehen: Die Beobachtung neuartiger Gefährdungen kann einen Bedarf erzeugen, ehemals mit Hilfe einer Ideologie neutralisierte Handlungsfolgen in Entscheidungen einzubeziehen, womit die Suche nach alternativen Ideologien einhergeht. Ein Beispiel ist Umweltschutz als Wert, der Folgen von Handlungen für die natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens in den Blick rückt. Er kann als zusätzlicher Gesichtspunkt in bestehende Wertordnungen eingefügt werden, aber auch zum Anlass für Ideologien werden, die ein harmonisches Zusammenleben aller Organismen als obersten Wert behandeln und davon ausgehend andere vertraute Werte neu ordnen, wie etwa in einigen Varianten der Gaia-Theorie (Pedler 2012). Der zweite Aspekt betrifft die Konsistenz von Ideologien beziehungsweise die Art und Weise, wie sie den Anschein der Konsistenz trotz auftretender Widersprüche aufrechterhalten. Luhmann (1962: 445f.) verweist in diesem Zusammenhang zum einen auf den Abstraktionsgrad von Ideologien. Je allgemeiner eine Ideologie gefasst ist, desto mehr Mehrdeutigkeit lässt sie zu und kann auf diese Weise widersprüchliche Wertbezüge als miteinander kompatibel behandeln. Zum anderen profitiert die Konsistenz einer Ideologie von dem, was Luhmann (1962: 445) Segmentierung der Wertgeltung nennt. Darunter versteht er, dass Ideologien in der funktional differenzierten Gesellschaft, in der Erwartungsstrukturen wie Rollen nicht mehr gesellschaftsübergreifend Orientierung bieten, von vornherein nur in einer bestimmten Art von Situationen die Funktion der Handlungsorientierung erfüllen müssen: »[I]deologische Werturteile [sind] nur in bestimmten kommunikativen Situationen brauchbar; so namentlich, wenn die Situation öffentlich ist, wenn der andere als ›irgend jemand‹ oder als ›jedermann‹ angesprochen wird, oder in Konflikten, oder wenn aus sonstigen Gründen ein festes, konsenssicheres Bezugssystem benötigt wird. In anderen Situationen unterbleibt eine ideologische Sprachregelung. Sie wird nicht erwartet, ja sogar als unpassend empfunden, wenn etwa Vertraute in Intimver-

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hältnissen miteinander sprechen, weil dann genug Einverständnis vorausgesetzt werden kann und der Partner als Person eine Einigungsmöglichkeit garantiert.« (Luhmann 1962: 446)

Auch diese, wenig systematisierten, Überlegungen geben Hinweise auf mögliche Umstände, unter denen Ideologien neue Relevanz bekommen können: ein Aufbrechen unerwarteter Konflikte, ein Verlust an Vertrautheit mit Adressaten von Kommunikation oder eine Verschiebung bei den Arten von Situationen, in denen mit Öffentlichkeit gerechnet oder auf Öffentlichkeit gehofft wird. Mit derartigen Anregungen lässt sich in systemtheoretischer Hinsicht allerdings wenig anfangen, solange nicht genauer bestimmt werden kann, wie sich ein verstärkter Bedarf an ideologischer Argumentation zur »ideologischen Routine« verhält, die Luhmann für den zeitgenössischen Normalfall hält: »Ideologien erweisen sich Tag für Tag als lebenskräftig: Von einem Ende des ideologischen Zeitalters kann keine Rede sein. Richtig ist nur, daß der ideologische Eifer erlahmt (weil er nicht mehr benötigt wird) und durch eine routinierte Pflege ideologischer Orientierungen ersetzt wird.« (Luhmann 1962: 447)

Auf die Frage, an welche ideologischen Orientierungen Luhmann in diesem Zusammenhang konkret denkt, findet man am ehesten eine Antwort in dem wenige Jahre nach »Wahrheit und Ideologie« erschienenen Beitrag »Positives Recht und Ideologie« (Luhmann 2005 [1967]). Gegenüber dem älteren Aufsatz lässt sich, was die Bestimmung des Ideologiebegriffs angeht, eine kleine, aber wichtige Präzisierung feststellen. Funktion von Ideologie ist nun genauer das Bewerten von Werten, die umgekehrt dadurch ideologisch werden, dass die Funktion von Werten, bestimmte Handlungsfolgen als wünschenswert auszuzeichnen und andere zu neutralisieren, bewusst wird. Damit entsteht die Möglichkeit, Werte danach zu bewerten, welches Handeln sie nahelegen (Luhmann 2005 [1967]: 230). In Situationen hoher Komplexität, in denen variables Handeln erforderlich ist, liegt es nahe, dass solche Bewertungen opportunistisch ausfallen, die Rangordnung von Werten also je nach Handlungsbedarf veränderbar ist (Luhmann 2005 [1967]: 230). Das lenkt Luhmanns Aufmerksamkeit im Weiteren auf Symbole, unter denen er jene Teile von Ideologien versteht, die dem Wechsel der Rangbeziehungen zwischen den Werten entzogen sind und auf denen daher in erster Linie die

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konsenssichernde Funktion von Ideologien auch bei vorübergehender Vernachlässigung bestimmter Werte lastet.5 Die marxistische Kombination von materialistischer Philosophie und Variabilität ermöglichender Dialektik ist für Luhmann das Paradebeispiel für eine Ideologie, die Konsensbeschaffung mit Flexibilität verbindet. Der Umstand, dass diese Ideologie in politischen Systemen des sozialistischen Typs von einer Parteiorganisation getragen und autoritativ interpretiert wird, führt ihn dann zu der Frage, wie Konsens und Variabilität in Mehrparteiensystemen kombiniert werden. Unklar ist in diesem Zusammenhang allerdings, in welchem Maße der Ideologiebegriff dafür noch relevant ist. Wechsel in der Rangordnung von Werten sind hier durch den Wettbewerb mehrerer Parteien um politische Macht gewährleistet; als legitimierende Symbole nennt er »[…] die Grundzüge der Organisation der Staatsgewalt, die Entscheidungspraxis der Justiz und, von zunehmender Bedeutung, die Zentralbanken« (Luhmann 2005 [1967]: 232). Aber heißt das, dass der Rechtsstaat oder die Marktwirtschaft als ideologische Denkgebilde eingeordnet werden? Offensichtlich wird, dass Luhmanns Interesse am Ideologiebegriff selbst relativ gering ist, verglichen mit der Faszination für die allgemeine Problematik von Konsensbeschaffung trotz austauschbarer Werte, also angestrebter Handlungsfolgen. Entsprechend führt er noch einen weiteren Mechanismus an, der dies ermöglicht, nämlich die politische Wahl. Ihr schreibt er den Effekt zu, einen politischen Materialismus – funktional äquivalent zum ideologischen Materialismus sozialistischer Systeme – zu erzeugen. Gemeint ist damit, dass das Nichtwissen um die eigentlichen Wahlmotive die politischen Parteien dazu führt, diese interpretieren zu müssen; Luhmann nimmt an, dass diese Interpretation materielle Motive unterstellt. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass Luhmanns Experimentieren mit der funktionalen Methode ihn mitunter zu etwas gezwungen wirkenden Äquivalenzen führt. Gleichzeitig steht diese Passage aber für jene Aspekte der Funktionsweise des politischen Systems, die Luhmann in den folgenden Jahrzehnten in erster Linie beschäftigen werden: zum einen die Rolle des

—————— 5 »[Ideologien] müssen […] einerseits in ihrer Sinnsymbolik Raum geben für eine Änderung sowohl der Werte als auch der Handlungen, und zwar jener in bezug auf diese und umgekehrt. […] Andererseits müssen die Gefahren jener unbestimmten Komplexität, die in allen doppelseitig variablen Relationen angelegt ist, gemeistert werden; es müssen Symbole in die Ideologie einbezogen werden, die diesem Wechsel der Werte entzogen sind und ihn steuern und legitimieren können, ohne ihn zu beeinträchtigen.« (Luhmann 2005 [1967]: 231)

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Verfahrens politischer Wahl für die Ausdifferenzierung eines politischen Systems, das durch eine Differenz – jene von Regierung und Opposition – geleitet ist (Luhmann 1983 [1969]; 1990), und zum anderen die politischen Parteien mit ihren Sachprogrammen und relativ unverbindlichen Werten, von denen je nach Wahlausgang mal der eine und mal der andere bei kollektiv verbindlichen Entscheidungen priorisiert wird. Das theoretische Konzept, das bald darauf beide Aspekte miteinander verknüpfen sollte, ist das der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Hierin münden Luhmanns frühe Überlegungen zur Rolle von nicht wahrheitsfähigen Werten für die Auswahl und Legitimation von Handlungen. Genauer gesagt wird es eine Pointe des Konzepts, dass es auf Konsens unter Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht ankommt. Die »ideologische Routine« dieser Gesellschaft sind, wie der nächste Abschnitt ausführt, funktionssystemspezifische Präferenzcodes und Kommunikationsmedien, die Akzeptanz über generalisierte Symbole wie Geld oder Macht beschaffen, sowie Bezugnahmen auf Wertgesichtspunkte, die als unbezweifelbar behandelt werden, Kommunikationen eben deshalb aber nur schwache Orientierung bieten.

(Binär codierte) Werte: Symbolisch generalisierte Kommunikation und Wertmedium Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien vereinfachen das Problem der Orientierung und Rechtfertigung, indem sie funktionssystemspezifische Motivationen für die Annahme von Kommunikationen beziehungsweise die Akzeptanz von Handlungen schaffen, die für das betreffende System nicht austauschbar sind. Die Konditionierungen von weiteren Anschlüssen, die diese Kommunikationsmedien festlegen, stellen selbst den Motivationsfaktor dar, der die Annahme von Mitteilungen und so die Fortsetzung der Kommunikation im Funktionssystem wahrscheinlich macht (Luhmann 1998: 320f.). Die Medien verweisen auf Werte – beispielsweise Wahrheit im Fall des Wissenschaftssystems oder Macht im Fall des politischen Systems –, markieren damit aber lediglich generelle Präferenzen, die die Operationen des Funktionssystems nicht auf positive Anschlüsse festlegen. Die Operationen orientieren sich vielmehr an der Unterscheidung zwischen dem Wert und dessen logischer Negation und damit an einem binären

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Code, der die Anschlussfähigkeit weiterer Kommunikationen gerade auch dann gewährleistet, wenn der präferierte Wert nicht realisiert wird (Luhmann 1998: 360ff.). »Symbolisierung« steht für diese nur in der Differenz mögliche Einheit (Luhmann 1998: 319). In Übereinstimmung mit den frühen Überlegungen Luhmanns gilt für symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, dass sie Ablehnung und Widerspruch nicht ausschließen, sondern lediglich unwahrscheinlich machen, und dass sie der Konkretisierung durch Programme bedürfen, um die Selektion von Kommunikationen in einem Systemzusammenhang einzuschränken. Programme liefern codespezifisch die Kriterien für die Zuordnung des positiven oder negativen Werts, beispielsweise als Theorien und Methoden im Fall des Mediums Wahrheit oder als Investitions- und Konsumprogramme im Fall des Mediums Geld (Luhmann 1998: 377). Daneben konstatiert Luhmann (1998: 341ff.) eine die Funktionssysteme übergreifende Wertesemantik, die gemeinsame Werte unterstellt, aber so abstrakt ist, dass sie die Auswahl von Handlungen oder Kommunikationen nicht anleiten kann. Sie verweist auf ein Wertmedium, das aber weder eine binäre Codierung aufweist noch Programme, die – klar von dieser geschieden – Kriterien für die Zuordnung der Codewerte liefern würden. Es sind stattdessen Ideologien, die für die Spezifikation von Werten für konkrete Situationen sorgen. Im Unterschied zu Programmen vermeiden Ideologien, die Möglichkeit zum Widerspruch, also zur Ablehnung zu indizieren; sie behandeln Werte wie Freiheit oder Gleichheit als unbezweifelbar, indem sie lediglich beiläufig auf sie verweisen, statt sie ausdrücklich zu thematisieren. Eben deshalb suggerieren sie aber auch nur Übereinstimmung, ohne dass daraus für das Handeln irgendetwas folgen würde. Dementsprechend bilanziert Luhmann (1998: 342) ironisch abgeklärt: »[Werte] gleichen nicht, wie einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten.« Von der Diskussion in »Wahrheit und Ideologie« hat sich die Ausarbeitung eines Konzepts symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, die bestimmte Werte als binäre Codierungen verwenden und dadurch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft nach unterschiedlichen sachlichen Gesichtspunkten ermöglichen, ebenso weit entfernt wie die schulterzuckende Feststellung, dass daneben überall in der Gesellschaft ideologisch geprägte, aber folgenlose Bezugnahmen auf diverse Werte vorkommen. Entsprechend läuft Luhmanns Vorschlag, bei Wertbeziehungen handele es

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sich um »[…] ein Verbindungsmedium zwischen den voll funktionsfähigen Kommunikationsmedien und der Gesellschaft im übrigen« (Luhmann 1998: 409) darauf hinaus, Ideologien keinen Beitrag zur Konsenssicherung noch zur Handlungsorientierung mehr zuzutrauen, sondern allenfalls einen Beitrag zur Vorspiegelung von Konsens, der in einer funktional differenzierten Gesellschaft schlicht nicht zu haben ist. Diese funktional differenzierte Gesellschaft thematisiert Luhmann an vielen Stellen im Modus einer Beobachtung erster Ordnung, also als Realität der Moderne. In seiner Auseinandersetzung mit den Anliegen von Protestbewegungen, die sich gegen negative Folgen funktionaler Differenzierung wie zum Beispiel ökologische Gefährdungen wenden, für die funktionssystemspezifische Kommunikationen unempfindlich sind (Luhmann 1986), konstatiert er: »Für funktionale Differenzierung gibt es aber keine Alternative […]« (Luhmann 1996a: 76) und »[…] wir können uns nicht vorstellen, wie die Bevölkerungsmengen, das Lebensniveau, also die Errungenschaften der Moderne gehalten werden könnten, wenn wir funktionale Differenzierung aufgäben. Da hat man kein anderes Modell in Sicht« (Luhmann 1996b: 197). Während er Protestbewegungen »distilled ideologies« (Luhmann 1998: 861), also verkürzte Kausalattributionen, vorwirft, erscheint Luhmann kritischen Beobachtern angesichts solcher Aussagen selbst als Ideologe, der funktionale Differenzierung als unbestreitbaren Fakt behandelt (Schimank 2009: 213). Ähnliches gilt mit Blick auf die Beschreibung der modernen Gesellschaft als Weltgesellschaft, für die Luhmann theoretisch das Primat der funktionalen Differenzierung konstatiert. Vor dessen Hintergrund müssen Abweichungen in bestimmten Weltregionen als defizitär erscheinen, so dass sich implizit eine Unterscheidung zwischen dem zivilisierten Westen und der unzivilisierten nicht-westlichen Welt fortschreibt und durch die Theorie legitimiert wird (Gonçalves 2016). Vergleicht man die frühen Überlegungen Luhmanns zum Problem der Ideologie mit der ausgearbeiteten Theorie funktionaler Differenzierung, in der dieses Problem nur noch im Zusammenhang mit der Beobachtung binär codierter Werte einerseits und unbezweifelter, aber folgenloser Werte andererseits auftritt, lassen sich mehrere Fragen identifizieren, denen die ausgereifte Theorie keine Beachtung mehr schenkt, ohne dass man sie deshalb zwingend für geklärt halten muss. Sie haben mit der ursprünglichen Bestimmung der Funktion von Ideologien für die Orientierung und Rechtfertigung von Handeln zu tun. Wenn in der funktional differenzierten Gesellschaft

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primär die Funktionssysteme dieses Bezugsproblem lösen beziehungsweise umgehen, kann man erstens fragen, ob jene Werte, wie Macht oder Geld, die ihre Einheit symbolisieren, ideologischen Charakter im Sinne des frühen Luhmann haben. Zweitens stellt sich die Frage, ob binäre Codierungen ihre Orientierungswirkung stets friktionslos entfalten oder ob der theoretische Fokus auf Funktionssysteme nicht das Ausmaß an Unbestimmtheit und Unsicherheit kommunikativer Anschlüsse in der modernen Gesellschaft unterschätzt, und damit auch den Bedarf an zusätzlichen, gegebenenfalls ideologischen Orientierungen. Drittens schließlich kann man überlegen, ob die frühe Beobachtung Luhmanns, dass Ideologien Werteordnungen sind, nicht dafür spricht, dass seine spätere, nahezu abfällige Behandlung des Wertmediums zu oberflächlich ist. Der folgende Abschnitt geht diesen Fragen anhand mehrerer Theorievorschläge nach, die zentrale Elemente der Luhmannschen Theorie beibehalten, gleichzeitig aber für deren Ergänzung oder Abwandlung plädieren.

Akteurfiktionen, parasitäre Systeme und Wertordnungen Folgt man der von Schimank (2005, 2006) vorgeschlagenen akteurtheoretisch gewendeten Variante der Systemtheorie, ist der scheinbar unabweisbare, verdinglichte Charakter funktionaler Differenzierung nicht so sehr ein Beleg für ideologisches Denken des Theoretikers Luhmann, sondern vielmehr die Erklärung dafür, weshalb sich diese gesellschaftliche Differenzierungsform reproduziert. Im Unterschied zu Luhmann insistiert Schimank darauf, Akteure (statt Kommunikation) als die Träger gesellschaftlicher Differenzierungsstrukturen zu konzipieren. Das führt ihn dazu, Funktionssysteme als vereinfachende Abstraktionen sozialer Situationen zu begreifen, in denen sich Akteure so verhalten, als ob sie und ihre Gegenüber sich an funktionssystemspezifischen binären Codes orientieren. Sie legen diese Codes ihren wechselseitigen Erwartungen über die Erwartungen der anderen zugrunde und schaffen so im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung Situationen, die sich scheinbar eindeutig einem Funktionssystem zuordnen lassen. Die binären Codes vereinfachen für die Akteure also viele Situationen, aber stets als Fiktionen, die in den Psychen der Beteiligten wirksam werden. Durch deren an Erwartungserwartungen orientierte Interaktionen entstehen so kontinuierliche Zusammenhänge von

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Kommunikationen und Handlungen, die sich verkürzt ohne Bezugnahme auf die Akteure selbst beschreiben lassen. Das ist aber laut Schimank (2009: 206f.) nur deshalb möglich, weil die Akteure durch ihr Zusammenspiel bewirken, dass viele Situationen so aussehen, als seien sie durch die Orientierung an einem abstrakten binären Code wie dem der Wirtschaft oder der Wissenschaft bestimmt. Der Code fungiert als evaluative Orientierung, also als Leitwert, an dem sich die Akteure eines Funktionssystems orientieren, wodurch sie sich derart verhalten, dass das System selbst reproduziert wird. Unabhängig davon allerdings, ob die binären Codierungen der Funktionssysteme kommunikationstheoretisch mit dem Konzept symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien oder handlungstheoretisch mit dem der Akteurfiktionen verknüpft werden – beide Konzepte lassen die Fortsetzung funktionssystemspezifischer Kommunikationen oder Handlungen als relativ unproblematisch erscheinen. Ihre Ursprünge in einer Diskussion, die sich für die konsenssichernde Funktion von Ideologien interessierte (Luhmann 1962; 2005 [1967]), sind kaum noch zu erkennen. Die durch die binären Codes ermöglichte Ausdifferenzierung von Funktionssystemen erfolgt in der Sachdimension sozialen Sinns, das heißt durch die Reproduktion unterschiedlicher System/Umwelt-Differenzen (Luhmann 1984: 114–116; 1998: 441f.). Für Luhmann ist es in diesem Zusammenhang »[…] wichtig, jede Verquickung von Sozialdimension und Sachdimension zu vermeiden. Dies war und ist der Kardinalfehler des Humanismus« (Luhmann 1984: 119), der den Menschen als Subjekt konzipiert. Insofern ist die Trennung zwischen Fragen der Systemdifferenzierung und Fragen des Konsenses oder Dissenses zwischen Ego und alter Ego bereits in der Unterscheidung der beiden Sinndimensionen angelegt (Luhmann 1984: 119–122). Was aber, wenn man versucht, der Intuition des frühen Luhmann zu folgen, gemäß welcher »[…] ideologische Werturteile nur in bestimmten kommunikativen Situationen brauchbar [sind]; so namentlich, wenn die Situation öffentlich ist, wenn der andere als ›irgend jemand‹ oder als ›jedermann‹ angesprochen wird, oder in Konflikten, oder wenn aus sonstigen Gründen ein festes, konsenssicheres Bezugssystem benötigt wird« (Luhmann 1962: 446)? Während es der dritten der angedeuteten Möglichkeiten an Konkretion fehlt, lassen sich die anderen beiden durchaus im Kontext der Systemtheorie spezifizieren und daraufhin befragen, ob sich daraus weitere Hinweise zur Relevanz von Ideologien gewinnen lassen.

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Setzt man bei der zweiten Möglichkeit und damit beim Stichwort des Konfliktes an, landet man zunächst bei einer systemtheoretischen Minimaldefinition. Dieser zufolge fällt unter Konflikt jede Kommunikation, die eine vorangegangene Kommunikation ablehnt. Damit verknüpft ist eine in die Systematik der Differenzierungsformen nicht eingebaute Vorstellung von Konfliktsystemen. Demnach konstituieren sich Konfliktsysteme dadurch, dass Kommunikation von erwartbarer Zustimmung auf erwartbare Ablehnung umschaltet (Luhmann 1984: 529ff.). Der Status solcher Konfliktsysteme im Verhältnis zu gesellschaftlichen Teilsystemen, in denen man dank binärer Codierungen mit Zustimmung rechnen kann, ist insofern parasitär. Die Integrationskraft von Konfliktsystemen ist erheblich, weil sie alle Kommunikationen unter dem Gesichtspunkt der Gegnerschaft behandeln und entsprechend vereinfachen. Damit scheinen sie allenfalls eine Minimalform von »distilled ideologies« (Luhmann 1998: 861) zu benötigen, da sie alle möglichen Ereignisse als Beleg und Begründung für die Unvermeidlichkeit des Konfliktes kausal zurechnen können (vgl. Japp 2007 am Beispiel von Terrorismus als Konfliktsystem). Während die Herausbildung von Konfliktsystemen bereits Dissens markiert, impliziert die Vorstellung, dass Ideologien eine konsenssichernde Funktion haben, allerdings zunächst nur ein Potential für Dissens. Sie impliziert Unsicherheit und Unbestimmtheit hinsichtlich der Frage, ob an eine Kommunikation zustimmend oder ablehnend beziehungsweise mit der positiven oder negativen Seite eines binären Codes angeknüpft werden soll. Schneider (2008) beschäftigt sich ausführlicher mit Situationen, in denen die Informationsverarbeitung in einem System durch sich widersprechende Anschlussmöglichkeiten blockiert und in Paradoxien getrieben wird (vgl. auch Schneider/Kusche 2011). Sofern solche Blockaden dauerhaft anhalten, bieten sie ihm zufolge Gelegenheiten für die Bildung parasitärer Sozialsysteme, die intern Eindeutigkeit wiederherstellen, indem sie eigene Unterscheidungen zur Informationsgewinnung etablieren. Protestbewegungen sind auch für diesen Theorievorschlag ein prominentes Beispiel: Sie reagieren darauf, dass es im Funktionssystem der Politik zu Irritationen und Blockaden kommt, wenn die (legitime) Macht der Inhaber politischer Ämter, bestimmte politische Entscheidungen zu treffen, dauerhaft bestritten und damit die binäre Codierung der Politik machtüberlegen/machtunterlegen in eine Paradoxie getrieben wird (Schneider 2008: 183ff.; Schneider/Kusche 2011: 198ff.). Dies geschieht, »[…] indem für bestimmte Werte und Interessen absoluter Vorrang eingefordert wird

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[…]« (Schneider/Kusche 2011: 197). Reagieren formale demokratische Institutionen auf diese Herausforderung ähnlich verabsolutierend mit dem Verweis auf Werte wie Demokratie, ergibt sich eine Konfliktkonstellation, die sich als ideologischer Streit deuten lässt, insofern auf beiden Seiten universalistische Wertansprüche erhoben, die Wertansprüche der anderen Seite dagegen als partikularistisch zurückgewiesen werden. Ein anderes Beispiel sind konkurrierende wissenschaftliche Schulen, die auf anhaltenden Widerspruch im Wissenschaftssystem bezüglich der Wahrheit oder Unwahrheit einer Theorie reagieren, indem sie sich intern auf die eine oder die andere Seite der Codierung wahr/unwahr festlegen. Sie schließen dann mit eigenen theoretischen Unterscheidungen an und folgen nicht länger der Forschung ihrer »Gegner«, die sie stattdessen grundsätzlich kritisieren und ablehnen. Jede Schule beruft sich dabei für die eigene Position auf das Wahrheitsmedium des Wissenschaftssystems, während sie den konkurrierenden Schulen partikularistische Geltungskriterien zuschreibt. Gleichzeitig verstärkt sich die Konsensorientierung innerhalb der Schule, so dass tendenziell Forschungsprobleme vermieden werden, die jene Grundentscheidung, die der Schulenbildung zugrunde liegt, infrage stellen könnten (Schneider/Kusche 2011: 185ff.). Auch diese Konstellation weist strukturelle Ähnlichkeiten zu einem Streit zwischen Ideologien auf. Der Schulenstreit kann die Forschungsergebnisse aller beteiligten Lager als nicht wahrheitsfähig erscheinen lassen, während das Insistieren jeder Schule darauf, ausschließlich sie orientiere sich an wissenschaftlicher Wahrheit, jenen Gegensatz zwischen universalistischem Anspruch der eigenen und Diffamierung der gegnerischen Position als partikularistisch in Erinnerung ruft, mit dem Ideologienstreit im Modus einer Beobachtung erster Ordnung ausgetragen wird. Die Kombination aus interner Konsenssicherung der Konfliktgegner und fortgesetzter Bezugnahme auf einen funktionssystemspezifischen Code führt somit in eine Auseinandersetzung über die Geltung jenes Wertes, der die Einheit des Funktionssystems symbolisiert, an dem das parasitäre System andockt. Je weniger man ein friktionsloses Weitermachen der Funktionssysteme für den Normalfall hält und stattdessen mit Unbestimmtheiten und Unsicherheiten rechnet, die der Anlass für parasitäre Systembildung sind, desto häufiger wäre demnach mit ideologischen Auseinandersetzungen über die Geltung von Werten in bestimmten Situationen zu rechnen. Letztlich ist deren Vorkommen eine empirische Frage, für die die Theorie aber nur sensibel ist, wenn sie nicht von vornherein annimmt, dass sich Akteure bezie-

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hungsweise Kommunikationen stets problemlos an den binären Codierungen von Funktionssystemen orientieren. Die andere Konstellation, für die Luhmann eine besondere Relevanz von konsenssichernden Ideologien vermutet, sind öffentliche Situationen, also solche mit einem im Einzelnen unbekannten Publikum, über das nur sehr allgemeine Erwartungen bestehen, die auf »irgend jemand« oder »jedermann« (Luhmann 1962: 446) passen. Dies erinnert einerseits an Luhmanns spätere Überlegungen zur öffentlichen Meinung (Luhmann 1971; 2000: 274–318; 2005 [1990]) und verweist – wenig überraschend und insofern wenig informativ – auf das politische System. Andererseits führt er als kontrastierendes Beispiel Kommunikation zwischen Vertrauten in Intimverhältnissen an, verwendet also die Unterscheidung öffentlich/vertraut. Dieser Versuch, den kommunikativen Relevanzbereich von Ideologien näher zu bestimmen, lässt an Überlegungen denken, die Boltanski und Thévenot (Thévenot 2006; Boltanski/Thévenot, 2007) in den letzten zwanzig Jahren zu Wertordnungen und Handlungsregimen entwickelt haben. Sie unterscheiden zwischen verschiedenen Regimen der Handlungskoordination, unter anderem einem Regime der Vertrautheit und einem Regime der Rechtfertigung. Letzteres umfasst Situationen der Kritik und Rechtfertigung von Handlungen, wobei sowohl Kritik als auch Rechtfertigungen sich auf Ordnungen von Werten als Gründe berufen, die dem Anspruch nach jedem beliebigen Dritten – also jedermann oder irgend jemand – einsichtig sind. Im Einklang mit dem frühen und anders als der späte Luhmann begnügen sich Boltanski und Thévenot nicht damit festzustellen, dass Werte in der modernen Gesellschaft keine Allgemeinverbindlichkeit mehr haben, Beobachtungen erster Ordnung Werte aber als unbezweifelbar behandeln. Sie identifizieren eine Reihe konkurrierender, miteinander inkompatibler Wertordnungen, denen unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinwohl zugrunde liegen. Sowohl die Kritik als auch die Rechtfertigung spezifischer Handlungen oder Entscheidungen nimmt ihnen zufolge auf solche Wertordnungen Bezug. Deren Geltung für beliebige Dritte ist dabei allerdings nur gegeben, sofern Einigkeit darüber besteht, welche der Wertordnungen in der betreffenden Situation die angemessene ist. Eben das aber ist im Vorhinein nicht gesichert, so dass Kritik und Rechtfertigung oft um die Frage kreisen, auf welche Rechtfertigungsordnung zur Bewertung der umstrittenen Handlung oder Entscheidung es ankommt.

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Die von Boltanski und Thévenot (2007) beschriebenen Wertordnungen – die Welten des Marktes, der Inspiration, der Meinung, des Hauses, der Staatsbürgerlichkeit sowie der Industrie – mögen auf den ersten Blick an die Idee der funktionalen Differenzierung und zum Teil an Funktionssysteme wie Wirtschaft, Kunst, Massenmedien oder Politik erinnern. Sie fokussieren aber ein Problem, das sich gerade nicht im Rahmen der relativ geräuschlosen Kommunikation der Funktionssysteme stellt, sondern in Situationen der Unbestimmtheit und der Unsicherheit darüber, wie es weitergehen soll. Da Boltanski und Thévenot handlungstheoretisch argumentieren, wird der Unterschied zur Vorstellung von Funktionssystemen besonders deutlich, wenn man als Vergleich Schimanks (2009) handlungstheoretische Fassung der Systemtheorie heranzieht. Ihm zufolge handeln Akteure oft in Situationen, die keine derart eindeutigen Hinweise auf das relevante Funktionssystem bieten, dass die Akteure quasi automatisch wüssten, auf welche binäre Codierung es ankommt. Schimanks Antwort darauf, wie funktionale Differenzierung dennoch durch die Akteure reproduziert wird, ist die der Akteurfiktionen: Akteure ziehen die teilsystemischen Codes als Fiktionen heran und vereinfachen die Situation auf diese Weise soweit, dass sie als Ergebnis einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu einer Situation wird, in der nach Maßgabe eines funktionssystemspezifischen Codes gehandelt wird (Schimank 2009: 216). Hier wird also gerade nicht mit Friktionen und Unbestimmtheit gerechnet, die Kritik und Rechtfertigung provozieren und damit die Bezugnahme auf eine Wertordnung erforderlich machen würden, welche gerade dann ins Spiel kommt, wenn Dissens darüber besteht, wie es weitergehen soll. Die von Boltanski und Thévenot beschriebenen Wertordnungen lassen sich dagegen als miteinander inkompatible Ideologien begreifen, die in bestimmten Situationen eine konsenssichernde Funktion erfüllen. Damit wären sie hoch generalisierte Erwartungsstrukturen, die die Selektion von Bewertungen als Prämissen für weitere Handlungen beziehungsweise Kommunikationen unter Bedingungen erleichtern, unter denen die in der Sachdimension angesiedelten Generalisierungsleistungen der Funktionssysteme entweder nicht relevant sind oder trotz symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien beziehungsweise Akteurfiktionen nicht akzeptiert werden (Kusche 2017: 314). Die Möglichkeit der situativen Irrelevanz der sachlichen Generalisierung durch Funktionssysteme muss man nicht bestreiten und kann sie dennoch für theoretisch relativ uninteressant halten, jedenfalls aus einer systemtheoretischen Perspektive, die sich maßgeblich für die Frage nach der dominan-

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ten Differenzierungsform der Gesellschaft interessiert. Die zweite Möglichkeit betrifft dagegen direkt die Frage der Reichweite und Wirkmächtigkeit funktionaler Differenzierung. Wie abschließend skizziert werden soll, wird sie gegenwärtig im Zusammenhang mit der Verbreitung digitaler Medien in der Systemtheorie wieder zum Thema.

Von der funktional differenzierten zur nächsten Gesellschaft? Ist es denkbar, dass die Systemtheorie die Generalisierungsleistungen der Funktionssysteme für die Gegenwart schlicht überschätzt? Ist es möglich, dass sie die Relevanz von Unbestimmtheit und Unsicherheit sowie von Strukturen des Umgangs mit diesen, die quer zu den Funktionssystemen liegen und ideologischen Charakter haben, unterschätzt, eben weil sie ein Primat der funktionalen Differenzierungsform unterstellt, dass nicht (mehr) gegeben ist? In Anbetracht der wissenssoziologischen Überlegungen der Systemtheorie lassen sich diese Fragen nicht grundsätzlich verneinen. Angesichts der Trägheit von textförmigen Selbstbeschreibungen von Gesellschaft, zu denen auch die soziologische Systemtheorie gehört, ist es nicht ausgeschlossen, dass sich grundlegende Strukturen der Gesellschaft, wie deren primäre Differenzierungsform, in einem Umbruch befinden, der semantisch bislang nur unzureichend registriert wird. Konkretisiert wird diese Vermutung im Zusammenhang mit der Ablösung des Buchdrucks durch den Computer als dominierendem Medium der Verbreitung von Kommunikation. Andeutungen dazu bei Luhmann (1998: 411f.) hat insbesondere Baecker (2007; 2018) als These von der nächsten Gesellschaft aufgegriffen. Er sieht nicht funktionale Differenzierung, sondern Netzwerke als die dominante Strukturform der bereits in Entstehung begriffenen nächsten Gesellschaft, da der durch die elektronischen Medien erzeugte Überschuss an Kommunikationsmöglichkeiten die sachlichen Generalisierungsleistungen der Funktionssysteme überfordert. Sie würden daher zunehmend durch heterogene Netzwerkstrukturen überlagert, in denen Akteure laufend neue Entscheidungen über aufzubauende und abzubrechende Verknüpfungen und deren ungewisse Folgen abwägen müssen (Baecker 2018: 26–44). Bei einem so massiven gesellschaftlichen Umbruch wäre mit »semantischen und politischen Turbulenzen« (Luhmann 1993b: 216) zu rechnen, die die Re-Ideolo-

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gisierung von lange als selbstverständlich behandelten Annahmen über die Grundlagen einer funktionierenden Gesellschaft begünstigen können. Eine Gegenthese zu Baecker liefert allerdings Nassehi (2019) mit seiner Theorie der digitalen Gesellschaft. Er sieht in der scheinbar disruptiven Digitalisierung nur die Verlängerung eben jener Entwicklungen, die bereits die Herausbildung der funktional differenzierten Gesellschaft charakterisiert haben. So intensiviert etwa die Verfügbarkeit sogenannter Big Data lediglich die Selbstbeobachtungen, die als Beobachtungen zweiter Ordnung in den gesellschaftlichen Funktionssystemen normalisiert sind (Nassehi 2019: 49f.). Zuvor Unsichtbares wird der Beobachtung zugänglich gemacht; aber solche Beobachtungen orientieren sich nach wie vor an den Relevanzkriterien von Funktionssystemen und werden entsprechend in wirtschaftliche, politische oder wissenschaftliche Kommunikationszusammenhänge eingespeist (Nassehi 2019: 148–151). Die neuen Möglichkeiten, in digitalen Datenspuren bislang unsichtbare Muster zu erkennen, knüpfen an eben jene gesellschaftlichen Selbstbeobachtungen und Vereinfachungen an, die die funktionale Differenzierung über die binären Codierungen der Funktionssysteme normalisiert hat (Nassehi 2019: 170–177). Mit Störungen der etablierten Informationsverarbeitungsregeln dieser Systeme ist laut Nassehi aber dennoch zu rechnen, denn die gesellschaftliche Beobachtung bislang unbekannter Strukturmuster führt zu Optionssteigerungen der Funktionssysteme, die offensichtlicher denn je werden lassen, dass »[…] eine Gesamtintegration der Gesellschaft unmöglich geworden ist, weil die unterschiedlich codierten Anschlussmöglichkeiten sich je eigene Auswege suchen« (Nassehi 2019: 184). Im Anschluss an Luhmann (Luhmann 1998: 341ff.) wäre dann auch eine Überforderung des Wertmediums denkbar, das gemeinsame Grundlagen durch die beiläufige Berufung auf Werte suggerieren kann. Vor diesem Hintergrund ist eine »Rückkehr der Ideologien« möglich, sofern sich Situationen häufen, in denen auf der Suche nach Handlungsorientierungen im Umgang mit den technologischen Veränderungen lange Zeit unbezweifelte Werte zum ausdrücklichen Thema werden, und die ideologische Routine (Luhmann 1962) der vergangenen Jahrzehnte auf diese Weise durchbrochen wird. Als Konsequenz daraus könnten Anrufungen inkommensurabler Wertordnungen im Sinne von Boltanski und Thévenot zunehmen und in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung als Streit der Ideologien erscheinen.

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Ein frühes Beispiel für explizite Wertkonflikte im Zusammenhang mit Digitalisierung ist der Umgang mit den Möglichkeiten, digitale Kopien von Musik, Filmen und anderen Kulturprodukten in dezentralen Netzwerken im Internet mit unbegrenzt vielen Unbekannten zu teilen (Kusche 2017). Es zeigt, dass Möglichkeiten digitaler Informationsverarbeitung und Vernetzung von den Funktionssystemen zwar entsprechend deren Relevanzkriterien in Kommunikationszusammenhänge integriert werden können, dies jedoch nicht friktionslos geschieht. Zwar reagierte das Rechtssystem gemäß seiner Leitunterscheidung Recht/Unrecht und markierte aufgrund verletzter Urheberrechte das sogenannte peer-to-peer filesharing als illegal. Die Bestrafung der Verbreitung und Nutzung digitaler Kopien erwies sich jedoch jenseits weniger spektakulärer Fälle angesichts der Staatsgrenzen ignorierenden Vernetzung im Internet als fast unmöglich. Das politische System versuchte die Durchsetzung von Urheberrechten im Rahmen internationaler Abkommen wie ACTA (Anti-Counterfeit Trade Agreement) zu sichern, traf dabei aber auf starken Widerstand, der sich in Europa in massiven öffentlichen Protesten manifestierte. Befürworter und Gegner der Durchsetzung des Urheberrechts in Zeiten des Internets beriefen sich auf Werte und machten damit Wertkonflikte explizit: Werten wie Leistung (der Künstler) und Solidarität (mit ihnen) wurden Freiheit und Privatheit als Werte entgegengesetzt, die im Falle einer konsequenten Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen im Internet unausweichlich verletzt würden, da diese nur um den Preis der Überwachung des individuellen Verhaltens online möglich sei. Dieser ideologische Streit wurde nicht entschieden; im Kontext des filesharing hat er vielmehr an Bedeutung verloren, seit Musik- und Filmindustrie nach einer Phase des Experimentierens und dank immer schnellerer Internetverbindungen einfach zu nutzende und relativ kostengünstige legale Streamingdienste als Alternative etablieren konnten und Möglichkeiten digitaler Informationsverarbeitung im Bereich der Kulturproduktion so erfolgreich in das Wirtschaftssystem integriert haben. Es ist aber zu vermuten, dass im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung sich in naher Zukunft ähnliche Konflikte an anderen Innovationen entzünden werden, weil sich eben nicht von selbst versteht, dass es den Funktionssystemen gelingt, sie ihren Relevanzkriterien entsprechend in bestehende Kommunikationszusammenhänge einzubauen. Die ideologische Bewertung tritt dabei nicht nachträglich hinzu und ordnet fertige technologische Innovationen ein, sondern ist selbst Teil des Innovationsprozesses. So war die Entwicklung von Softwareprotokollen für

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das peer-to-peer filesharing mit Werten wie Kreativität und Freiheit verknüpft. Die Blockchain-Technologie mit ihrer ähnlich dezentralen Architektur wurde für eine digitale Währung entwickelt, die Freiheit von staatlicher Überwachung und Besteuerung ermöglicht und damit gleichzeitig der Solidarität zugunsten eines Gemeinwesens geringen Wert zuschreibt (Karlstrøm 2014). Gegenwärtig wird Blockchain unter Verweis auf ökonomisches Wachstum als Wert von der Assoziation mit Kryptowährungen gelöst und ihr zu entdeckendes Potential zur Revolutionierung verschiedenster Branchen betont (Herian 2018). In dem Maße, in dem entsprechende Bewertungen auch außerhalb kleiner Fachzirkel thematisiert werden, zum Beispiel unter dem Stichwort Industrie 4.0 (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2020), nehmen sie ideologischen Charakter im Sinne Luhmanns an und machen gleichzeitig sichtbar, dass Handlungsorientierung im Umgang mit neuen digitalen Technologien dringend nötig, aber nicht in verbindlicher Form verfügbar ist.

Ausblick Eine routinierte Pflege ideologischer Orientierungen mittels beiläufiger Bezugnahmen auf Werte, die Luhmann in der funktional differenzierten Gesellschaft für den Normalfall hielt, setzt voraus, dass genügend andere »Routinen«, insbesondere die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die Informationsverarbeitung in den Funktionssystemen sichern. Die Digitalisierung ist ein Beispiel dafür, wie Optionssteigerungen Unsicherheiten für die Funktionssysteme vervielfachen können und explizite Auseinandersetzungen um Rangordnungen von Werten wahrscheinlicher machen. Die ersten Reaktionen auf die schnelle weltweite Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 im Frühjahr 2020 verdeutlichen, dass in einer funktional differenzierten Gesellschaft auch Ereignisse eintreten können, die umgekehrt die Optionen der Funktionssysteme zumindest vorübergehend soweit reduzieren, dass das Problem der Konsensbeschaffung sich nicht mittels symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien umgehen lässt. Einerseits stützt das Beispiel dieser Pandemie die These, dass die digitale Gesellschaft nach wie vor auf funktionaler Differenzierung beruht: Das Wissenschaftssystem reagiert auf ein neues Phänomen mit intensivierter

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Forschung, die unter anderem zu Prognosen hinsichtlich der Überforderung des Systems der Krankenbehandlung führt. Solche Prognosen bekommen durch die Berichterstattung des Systems der Massenmedien über die Lage in Gebieten oder Ländern, in denen eine Überforderung sich an Zahlen festmachen und mit Bildern eindrücklich illustrieren lässt, eine Dringlichkeit, die das politische System zu weitreichenden Entscheidungen veranlasst, mit massiven Effekten auch im Wirtschafts-, Erziehungs-, Sport- und Kunstsystem. Digitale Technologien, von Videokonferenzen bis Überwachungs-Apps, steigern die Optionen im Umgang mit der Pandemie, ändern aber nichts daran, dass deren Folgen in jedem Funktionssystemen anhand des jeweiligen binären Codes verarbeitet werden. Die andere Seite dieses außerordentlichen Geschehens ist allerdings, dass vor allem im politischen, aber auch in anderen Funktionssystemen angesichts hoher Unsicherheit die Neutralisierung von erwartbaren negativen Handlungsfolgen sämtlicher Handlungsoptionen sich auf Werte stützen muss, da passende Programme fehlen. Damit könnten für längere Zeit Konflikte zwischen Werten wie Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Solidarität im Zentrum öffentlicher Debatten stehen und ideologische Auseinandersetzungen einen Stellenwert erlangen, der eine Rückkehr zur ideologischen Routine für längere Zeit ausschließt.

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Haben Ideologien gute Gründe? Ideologien und die Theorien der Rationalen Handlungswahl Annette Schnabel

»Einige Rational-Choice-Vertreter sind sogar der Überzeugung, dass der Ansatz auf die Analyse und Erklärung aller menschlichen und sozialen Handlungsweisen anwendbar ist.« (Kunz 2004: 7)

Theorien rationaler Handlungswahl (RC-Theorien) sind aus dem Kanon sozialwissenschaftlicher Theorien nicht mehr wegzudenken. Dies mag – je nach sozialwissenschaftlichem Erklärungsproblem – unterschiedliche Gründe haben. RC-Theorien gehören (zusammen mit der Luhmann’schen Systemtheorie) zu den wenigen axiomatischen Theorien, die die Soziologie zu bieten hat: Aus wenigen, sparsamen Annahmen lassen sich Hypothesen über komplexe empirische Phänomene größerer Reichweite ableiten und anschließend empirisch adressieren. RC-Theorien sind damit zum einen prognosestark, vor allem dann, wenn Entscheidungen zu treffen sind, bei denen es um etwas geht.1 Zum anderen sind sie anschlussfähig und mit vielen anderen Theorien wie Lern- oder Wahrnehmungstheorien verknüpfbar. Unter anderem Hartmut Esser (1991) hat solche Anschlussmöglichkeiten für die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz aufgezeigt. RC-Theorien haben eine hohe alltagsweltliche Evidenz ohne dabei im Konkreten zu verschwinden. Damit sind sie für viele sozialwissenschaftliche, also soziologische, aber auch politikwissenschaftliche und medienwissenschaftliche Anwendungsfelder attraktiv. RC-Theorien haben eine lange Tradition. Ihre Wurzeln liegen jedoch weniger in den Sozialwissenschaften als in der Ökonomie. Auch wenn mit dem zweckrationalen Handlungstyp von Max Weber bereits die soziologische Grundlage für den die Theorien bestimmenden Grundgedanken eines

—————— 1 Beispiele für solche Entscheidungen lassen sich in der Literatur leicht finden: Kriminalität als bewusste Normverletzung (Eifler/Schulz 2007), Investition in Bildung (Becker 1962) oder Umweltverhalten (Diekmann/Preisendörfer 1992).

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Handlungstyps gelegt wurde, welcher durch die Abwägung von Mitteln und Zweck angetrieben wird (Weber 2002 [1922]: 13), so sind die modernen Formen der RC-Theorien doch eher durch Versuche von Ökonom*innen geprägt, soziale Phänomene ökonomisch zu deuten. Zu den prominentesten dieser Versuche gehören sicher die von Gary S. Becker, Familiengründungen und Eheschließungen oder die Investition in Humankapital als eine individuell-rationale Kosten-Nutzenabwägung zu rekonstruieren (Becker 1962; 1981; Becker/Tomes 1986). Aber auch die Wirkungsweise und Dynamiken moderner Demokratien (Downs 1957), die Entstehung und Verbreitung von mafiöser Kriminalität (Gambetta 1993) oder das Verhältnis von Emotionen und Rationalität (Elster 1999) wurden aus ökonomischer Perspektive in den Blick genommen. Die sozialwissenschaftlichen RC-Theorien unterscheiden sich von den ökonomischen vor allem dadurch, dass sie sozialstrukturelle Elemente wie Institutionen, Regeln und Normen sowie die Vielfalt nicht-materieller Interessen in die Analysen einbeziehen (Diekmann/Voss 2004: 13). Der vorliegende Beitrag wird die theoretischen Gemeinsamkeiten der in der Theorien-Familie der RC-Theorien zusammengefassten Ansätze herausarbeiten. Dabei wird es auch darum gehen müssen, warum RC-Theorien bisher nur wenig systematisch an einen wissenssoziologischen Kanon angeschlossen sind. Diese Nicht-Integration hat auch zur Folge, dass Ideologien sowohl als Phänomen als auch als Begriff in den soziologischen RC-Theorien fast gar keine Rolle spielen. An die Rekonstruktion dieser Lücke anschließend soll gezeigt werden, wie mit einem soziologisch informierten Ideologie-Begriff dieses Desiderat adressiert werden könnte und was sich aus einer solchen Liaison sowohl für die Untersuchung von Ideologien als auch für die RC-Theorien lernen lassen kann.

1. RC-Theorien: Menschen haben gute Gründe – oder doch nicht? RC-Theorien sind eher eine Theorien-Familie denn eine einheitliche Theorie. Die RC-Varianten unterscheiden sich vor allem darin, welche Annahmen sie über die Informationen treffen, die den Akteur*innen über die Bedingungen und Folgen ihrer Entscheidungen zur Verfügung stehen. Dabei gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Funktionen Informatio-

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nen für Entscheider haben: In Abhängigkeit zur Fragestellung werden Informationen entweder (a) als Gut thematisiert, also etwas, das den Verfügungsbefugten Nutzen verspricht; (b) als Ressource, also etwas, das für die Verfügungsbefugten als Mittel zur Realisierung von Handlungszwecken dienen kann, oder (c) als Restriktion, also etwas, das die Verfügungsbefugten entweder durch sein Vorhandensein oder durch sein Fehlen in ihren Handlungsoptionen beschränkt.

1.1 Grundannahmen der RC-Theorien Jenseits aller Differenzen eint die soziologischen (und ökonomischen) RC-Theorien die Frage nach den Mechanismen sozialer, politischer und ökonomischer Ordnung unter der Bedingung eigeninteressierter Akteur*innen. Diese basale Grundfrage der RC-Theorien lässt sich bis zu den Theorien der Staatstheoretiker und Philosophen des späten 16. und des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen (Kunz 2004: 7f.): Insbesondere die Theorien zum Gesellschaftsvertrag, wie sie von Hobbes, Locke und Rousseau entwickelt wurden, wendeten sich gegen die Vorstellung, der Mensch sei genuin an göttlichen Werten und weltlichem Gemeinwohl orientiert. Im Zuge der Aufklärung gewann die Idee des Naturrechts politische Bedeutung und damit die Vorstellung, Menschen würden in erster Linie der Befriedigung ihrer eigenen Interessen folgen und hätten ein natürliches Recht auf Selbsterhaltung. Der vor dem Hintergrund dieser Vorstellung sichtbar werdende Widerspruch zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl beschäftigt Sozialwissenschaften (und Moralphilosophie) bis heute. Thomas Hobbes (2019 [1651]: 135f.) fand eine Lösung für dieses Dilemma in der Idee verbindlicher Verträge, die durch den »Leviathan« zu schützen seien; also der Idee, moralische Konflikte müssten durch einen staatlichen Souverän verbindlich gelöst werden, an welchen alle (männlichen) Staatsbürger freiwillig und in Form verbindlicher Kontrakte Selbstbestimmungsrechte abgeben sollten. Knapp hundert Jahre später prägte Adam Smith die Metapher von der »unsichtbaren Hand«, nach der die Verfolgung individueller Interessen die nicht-bewusste Förderung des Gemeinwohls vorantreibe. Beide Ideen prägen die Grundannahmen der RC-Theorien bis heute. Diese Grundannahmen haben – wie an anderer Stelle bereits vielfach und ausführlich dargestellt – folgende Struktur (vgl. zum Beispiel Lupia u. a. 2000: 2; Wittek/Flache 2002: 59; Kunz 2004: 10; Diekmann/Voss 2004:

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14f.): Das Individuum (der/die Akteur*in)2 konstituiert die zentrale Handlungs- und Erklärungseinheit der RC-Theorien. Seine handlungsleitende Motivation besteht in der Befriedigung seiner Eigeninteressen. Diese findet jedoch in einer Welt statt, die durch eine Beschränkung der dafür notwendigen Ressourcen gekennzeichnet ist. Um Handlungswahlen in einer solchen Welt erklären zu können, braucht es eine explizite Selektionsregel, die auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt wird und das Wollen der Akteur*innen (also ihr Eigeninteresse) und das Können (also die Ressourcenverfügung) systematisch mit einander verbindet.3 Diese allgemeine handlungsleitende Regel wird mit den Randbedingungen der konkreten Situation (über eine Brückenhypothese) zu einer phänomenspezifischen Erklärung verknüpft. Da individuelle Handlungsabsichten und kollektive Handlungsfolgen einander nicht entsprechen müssen, werden kollektive Folgen als nicht-intendierte Konsequenzen individueller Handlungen beschrieben. Diese Grundannahmen implizieren, dass RC-Theorien dem Forschungsprogramm des methodologischen Individualismus verpflichtet sind, nach dem die Erklärung kollektiver Phänomene aus individuellen Entscheidungen abgeleitet wird, die wiederum in sozialen und strukturellen Kontexten gefällt werden.4 Diese Mikrofundierung makrosoziologischer Phänomene beansprucht, Phänomene »höherer Ordnung« und deren Dynamiken durch die Rückführung auf individuelle Entscheidungen und deren Aggregation vollständig aufklären zu können. Dabei lassen sich allerdings noch einmal verschiedene Positionen unterscheiden, je nachdem, welche makro-strukturellen Momente als erklärungsextern oder -intern ansehen werden (Udehn 2002).

—————— 2 Das Individuum (oder der/die Akteur*in) ist zumeist als menschliches Wesen gedacht. Diese Vorstellung ist jedoch nicht zwingend; RC-Theorien benötigen lediglich eine Entscheidungseinheit, die annahmegemäß in der Lage sein muss, etwas zu wollen, dafür die entsprechenden Ressourcen heranzuziehen (»können«) und eine Vorstellung von zukünftigen Weltzuständen zu entwickeln (Greve 2011). Hierzu wären auch nicht-menschliche Einheiten prinzipiell in der Lage. 3 Einige Theoretiker gehen hier von einer raum-zeit-unabhängigen menschlichen »Natur« aus (z.B. Hechter/Kanazawa 1997; Kunz 2004; Diekmann/Voss 2004). Dies ist m.E. jedoch nicht notwendig, um ein gehaltvolles phänomenspezifisches RC-Modell zu entwickeln. 4 Das Programm des methodologischen Individualismus ist ebenfalls hinlänglich dargestellt und diskutiert, so dass an dieser Stelle einige wenige Bemerkungen genügen sollen (vgl. z.B. Coleman 1994; Hechter/Kanazawa 1997; Diekmann/Voss 2004).

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1.2 Individuelles Entscheiden Jenseits der damit implizierten Frage nach den Mechanismen der Aggregation individueller Entscheidungen ist hier zunächst von besonderem Interesse, wie diese Entscheidungen überhaupt zustande kommen. Lupia u.a. formulieren dies folgendermaßen: »A primary objective of social science is to explain why do people do what they do« (2000: 1 [Hervorh. im Original]). Wie oben bereits argumentiert, ist die individuelle Entscheidung der Dreh- und Angelpunkt von RC-Erklärungen kollektiver Effekte. Dabei wird unterstellt, dass Akteur*innen auf Grund von Entscheidungen handeln (oder dies unterlassen). RC-Theorien sind also weniger an Handlungen (oder deren Unterlassung) interessiert als vielmehr an den Entscheidungen, die diese Handlung veranlassen. Um herauszufinden, warum Menschen tun, was sie tun, wird angenommen, dass diesen Entscheidungen »gute Gründe« zugrunde liegen (Gosepath 1999). Trotz unterschiedlicher Definitionen von Rationalität5 lässt sich mit Lupia u.a. festhalten: »[…] a rational choice is one that is based on reasons, irrespective of what these reasons may be« (2000: 7). Gründe in diesem Sinne haben eine bestimmte logische Form:6 Akteur*innen entscheiden intentional – also auf Wünsche und Bedürfnisse gerichtet, welche in der nahen oder ferneren Zukunft realisiert werden sollen. Die Erfüllung dieser Wünsche und Bedürfnisse wird als »Nutzen« bezeichnet (U). Hieraus folgt, dass Entscheidungen durch Wünsche und Bedürfnisse motiviert sind. Die zweite Annahme besteht darin, dass jede Entscheidung unter Bedingungen erfolgt, die Entscheidungsmöglichkeiten begrenzen oder fördern. Die Nutzenrealisierung liegt also in der Zukunft und ist damit immer unsicher; sie muss also um einen Unsicherheitsparameter (p) diskontiert werden. Während Überzeugungen in diesem Zusammenhang »schwache« Motivatoren sind, da sie nur dann zu Motiven des Handelns werden können, wenn sie einen konkreten Wunsch begründen, sind sie notwendig, um Situationen und Wunscherfüllung zu verbinden (Gosepath 1999). Sie machen aus Rahmenbedingungen Ressourcen oder Begrenzungen, da sie aus der situationsspezifischen Interpretation bestehen, dass sich bestimmte, in dieser Situation

—————— 5 Boudon (1998) unterschiedet hier zwei Arten der Begriffsverwendung: das in vielen ökonomischen Theorien verwendete Axiom der effizientesten Mittelauswahl zur maximalen Zielverfolgung und die Anwendung gesellschaftlich als »vernünftig« anerkannter Handlungsbegründungen. 6 Diese entsprechen den drei Kernannahmen der RC-Theorien (Kunz 2004: 36).

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vorhandene Elemente zur Realisierung des Wunsches eignen oder eben nicht. Wünsche und Überzeugungen zusammen formen den Grund für eine Entscheidung. Die dritte und zentralste Annahme betrifft das theoretische Axiom, dass Akteur*innen diejenige Handlung wählen, die es ihnen »am besten« ermöglicht, ihre Wünsche umzusetzen. »Am besten« bedeutet im ökonomischen Sinne, Mittel zu wählen, die situationsangemessen die eigenen Ziele nutzenmaximierend bei minimalen Kosten (C) zu realisieren vermögen. Eine solche Selektionsregel kann zum Beispiel die Form des SEU-Modells annehmen: demgemäß wird eine Handlung dann realisiert, wenn sie den Subjecitve Expected Utility maximiert (SEUA > SEUB mit SEU = Sp*U-C).7 Damit lassen sich Entscheidungen so modellieren, als seien Akteur*innen eher mit einer Lotterie konfrontiert als mit sicheren Resultaten, zwischen denen sie nur auszuwählen bräuchten (Jungermann u.a. 2005: 203). Viele der den RC-Theorien nachgesagten Pathologien8 lassen sich darauf zurückführen, dass einige der Implikationen dieser Modellannahmen nicht einfach zu erfüllen sind (Sugden 1991): Damit Menschen entscheiden können, müssen sie der Überzeugung sein, ihnen stünden mindestens zwei Alternativen offen, zwischen denen sie auswählen können. Nehmen Menschen hingegen an, sie hätten nur eine einzige Handlungsmöglichkeit, so können sie per definitionem nicht entscheiden, weil es nichts zu entscheiden gibt. Darüber hinaus müssen Menschen zwischen den Alternativen diskriminieren können: Ambiguität macht es Menschen ebenfalls unmöglich, sich zu entscheiden. Solche Situationen stehen den Theorien rationaler Wahl nicht ohne weiteres zur Analyse offen. Um im engeren Sinne entscheiden zu können, müssen darüber hinaus potentielle Ziel-Mittel-Verknüpfungen prinzipiell sowohl der Kognition als auch der Reflexion zugänglich sein. Vorbewusstes Wissen, tacit knowledge oder Handeln auf der Basis von Rezeptwissen verhindern, dass zusätzliche, relevante Informationen (zusätzliches Wissen) über Alternativen eine Neuabwägung der Ziel-MittelRelation einleiten können und einzig »gute Gründe« die Entscheidung leiten.

—————— 7 Meist wird hier eine Mini-Max-Strategie unterstellt, es lassen sich je nach Ziel(en) aber auch andere Strategien, wie z.B. »maximize-other’s-loss«-Strategien finden (Scharpf 1997). 8 Als Pathologien werden hier alle sozialen Phänomene verstanden, bei denen Menschen systematisch nicht eigennutzmaximierend entscheiden und die die RCT außer Kraft setzen.

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1.3 Wissenssoziologische Implikationen RC-Theorien thematisieren Wissen lediglich als Verfügung über Information. Sie haben keinen eigenen Wissens-Begriff, jedoch spielt in der Definition von Situationen die Verfügbarkeit von Informationen eine zentrale Rolle. Da für die Mittelwahl die Realisierung der Ziele in der Zukunft liegt, erfolgt jede Entscheidung unter Unsicherheit. Die theoretischen Annahmen über den Umgang mit verschiedenen Graden von Unsicherheit markiert verschiedene Varianten von RC-Theorien und deren Selektionsregeln: So unterstellt die von Morgenstern und Neumann 1940 entwickelte expected-untility-Variante, Menschen würden »unter Sicherheit« entscheiden; Savage (1954) konnte jedoch mathematisch eine viel beachtete und häufig verwendete Variante ableiten, die auch subjektive Erwartungen berücksichtigt (das oben bereits beschriebene SEU-Modell). Herbert Simon (1955) prägte die These der bounded rationality: Er mutmaßte, dass nicht nur die Informationsverfügung in Entscheidungssituationen limitiert sei, sondern auch die menschliche Verarbeitungskapazität. Es erscheine also wahrscheinlicher, dass Menschen auf der Basis von Heuristiken und Vorurteilen entschieden, denn auf der Basis vollständiger Information und nutzenmaximierender Abwägung zwischen Alternativen.9 Diese Perspektiven auf die menschliche Informationsverfügung und ihre begrenzte Informationsverarbeitungsskapazität gehen jedoch davon aus »[…] that individuals know what is in their self-interest and make choices accordingly« (Denzau/North 2000 [1994]: 23). Denzau und North stellen daran anschließend die entscheidende Frage: »Do they?« Verschiedene Ansätze aus der Soziologie und der Politikwissenschaft (zu denen auch der von Denzau und North gehört) versuchen, dem Rechnung zu tragen, dass Menschen jenseits des Umgangs mit Unsicherheit oder Risiko oft genug eben weder genau wissen, was sie wollen, noch immer ihre Handlungsoptionen rational abwägen. Ihnen wird allerdings von Kritiker*innen vorgeworfen, sie würden das effiziente Erklärungsmodell der RC-Theorien

—————— 9 Neurowissenschaftlich informierte ökonomische Theorien gehen davon aus, dass Entscheidungen weniger auf rationaler Abwägung beruhen, als vielmehr auf Ignoranz basieren und Regeln über Heuristiken der Informationssuche, Stopp-Regeln und Entscheidungsheuristiken umfassen (z.B. Chase u.a. 1998). Hier ließe sich jedoch argumentieren, dass auch die Informationssuche rationalen Entscheidungskriterien genüge und der Nutzen einer zusätzlichen Informationseinheit gegen deren Kosten abgewogen würde.

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durch Zusatzannahmen unnötig erweitern und damit gegen Falsifikationsversuche immunisieren (zum Beispiel Wiesenthal 1987; Kunz 2004). Solche Ansätze bemühen sich um eine größere Realitätsnähe und versuchen, die Prognosefähigkeit auch über den Rahmen solcher Entscheidungen hinaus zu erweitern, für die die ökonomische Logik erklärungsstark ist. Sie lassen sich danach unterschieden, ob sie Routine-Handlungen modellieren oder davon ausgehen, dass Entscheidungen bereits durch bestimmte vorsituative mentale Rahmungen in Situationen enggeführt würden. Für Routinehandlungen muss nicht mehr entschieden werden, da nur eine Handlungsalternative gewohnheitsmäßig zur Verfügung steht – Kosten und Nutzen werden nicht evaluiert, stattdessen laufen Handlungen quasi vorbewusst und gewohnheitsmäßig ab. Von diesen Handlungen behauptet Max Weber, »[d]ie Masse alles eingelebten Alltagshandelns nähert sich diesem Typus« (2002 [1922]: 12). Im Kontext der RC-Theorien sind es die dual process-Theorien, die solche Entscheidungen modellieren (vgl. Atkinson/Juola 1973; Wixted 2007). Mit der Verbindung der sozialphänomenologischen Analyse der Lebenswelt von Alfred Schütz mit dem SEU-Modell legt Esser (1991) einen weiteren Ansatz vor, Routine-Handlungen für die RC-Theorien zugänglich zu machen. Sowohl die dual-process-Theorien als auch Essers Ansatz folgen dabei der Überlegung, Routine-Handlungen würden auf einmal erfolgreich etablierten rationalen Problemlösungen basieren.10 Für die folgenden Ausführungen sind jedoch Ansätze relevanter, die von situativen Rahmungen oder mentalen Modellen ausgehen. Rahmungen und mentale Modelle können dabei quasi als Schnittstellen-Konzepte betrachtet werden, über die sich RC-Theorien und Ideologien verbinden lassen. Wenn RC-Theorien und das darin verwendete Konzept der Rationalität nicht selbst als Ideologie entlarvt werden (vgl. u.a. Foley 2004; McKinnon 2013),11

—————— 10 Diese Überlegung ist durchaus mit den sozialphänomenologischen Analysen von Schütz/Luckmann (2003) oder Berger/Luckmann (1967) vereinbar, jedoch lassen diese Ansätze auch zu, dass andere Lösungswege als rationale Erwägungen zu routinegenerierenden Problemlösungen führen können (zum Beispiel »serendipity«). 11 Diesem Einwand wird mit Verweis auf die Kernannahmen der der RCT zugrunde liegenden Nutzentheorien begegnet: diese haben den Status von Axiomen, die als innerhalb der Theorien nicht begründbar gelten. Schaut man genauer hin, ließe sich argumentieren, dass es sich dabei um so etwas wie eine Anthropologie der RCT handelt: es geht dabei darum, dass – oft mit Verweis auf Bentham – angenommen wird, dass »›Pain and Pleasure‹, frei übersetzt ›Lust und Unlust‹, […] jegliches Handeln und Denken [regieren]« (Kunz 2004: 33). Daraus leitet sich ab, dass alle Objekte zur Bedürfnisbefriedigung beizutragen in der Lage seien, mithin Güter wären, die eine Nutzen»qualität« hätten, die es eben unter Randbedingungen zu maximieren gelte (ebd.: 34).

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dann sind es solche Modellierungen, über die sich RC-Theorien dem Phänomen und Begriff der Ideologie nähern könnten.

2. Ideologien als Rahmen oder Modell Ideologien sind in der Soziologie ein umkämpftes Konzept, so dass es sich lohnt, es im Kontext der hier vertretenen Argumentation noch einmal näher zu beleuchten. Im Folgenden soll dafür ein weiter, soziologisch informierter wissenssoziologischer Ideologie-Begriff Verwendung finden.

2.1 Ideologie als Begriff und Konzept Der Begriff der Ideologie ist weder neu noch ist seine Bedeutung eindeutig festgelegt. Eine politische Aufladung erfuhr der Begriff durch Marx und Engels, die ihn nutzten, um insbesondere auf die Macht der herrschenden Verhältnisse aufmerksam zu machen und auf die Kraft der Ideologie, diese zu legitimieren (Oliver/Johnston 2000a). Der Begriff der Ideologie wurde im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert vielfach re-definiert und re-konzeptionalisiert.12 Auch aktuell lassen sich die Definitionen danach unterscheiden, ob sie werturteilsbezogen oder wertneutral sind und ob sie Ideologien im Geiste von Marx und Engels als Instrument zur Analyse der Verschleierung von Machtrelationen in Beziehungsverhältnissen verstehen (zum Beispiel Althusser 2004 [1968] oder Adamczak 2017) oder – etwa im Gegensatz zu Religionen und Mythen – als modernes Phänomen mit kritisch-rationalem Impuls (zum Beispiel Mohan/Kinloch 2000). Unabhängig von diesen Unterschieden werden Ideologien in wissenssoziologischem Sinne als sozial geteilte Überzeugungssysteme mit Geltungsanspruch aufgefasst. Ohne an dieser Stelle die lange Geschichte der Wissenssoziologie mit Bezug auf den Begriff der Ideologie nachzeichnen zu wollen,13 lässt sich feststellen, dass eine solche wissenssoziologische Begriffsbestimmung auf

—————— 12 Für eine ausführliche Zusammenfassung vgl. Gerring 1997, für eine Zusammenfassung, die Ideologien sozialer Bewegungen betreffend vgl. Oliver/Johnston (2000a). 13 Vgl. dazu u.a. Berger und Luckmann 1967: 1–20 oder die Beiträge im Handbuch von Schützeichel 2007.

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Mannheims Bestrebung zurückgeht, den Marx’schen Ideologie-Begriff um einen »totalen« Ideologie-Begriff zu erweitern: Mannheim ging es dabei darum, zu argumentieren, dass sich niemand dem sozial-historischen Kontext seines Seins entziehen könne und jedes Wissen im Grunde mithin immer standortbezogen sein müsse: »Da im Falle des totalen Ideologie-Begriffs der Lügenverdacht nicht mehr in Frage kommt, bedeutet auch im Gebiete der wissenssoziologischen Analyse das Wort ›Ideologie‹ nichts moralisch Pejoratives (es ist kein Schimpfwort mehr), sondern eine Anzeige für eine Forschungsabsicht, die der Frage nachgehen will, wann und wo in Aussagestrukturen historisch-soziale Strukturen hineinragen, und in welchem Sinne die letzteren die ersteren in concreto bestimmen können.« (Mannheim 2015 [1930]: 229)

Ein solcher wissenssoziologischer Ideologie-Begriff versteht sich also nicht als politisch-aufklärerisch, sondern als wissenschaftlich-analytisch, da er die Untersuchung der Standortbezogenheit jedweden Wissens, also sowohl des alltäglichen als auch des wissenschaftlichen Wissens ermöglichen soll.14 Zur breiten Etablierung eines solchen Ideologie-Konzepts im Feld der Sozialwissenschaften wesentlich beigetragen hat sicherlich die von Geertz eingeführte anthropologische Konzeptionierung von Ideologien als »schematic images of social order« (1973: 216). Daran anknüpfend definieren Fine und Sandstrom in der Tradition der interpretativen Soziologie Ideologien als »set of interconnected beliefs and their associated attitudes, shared and used by members of a group or population, that relate to problematic aspects of social and political topics. These beliefs have an explicit evaluative and an implicit behavioral component« (1993: 24). Auch Denzau und North (2000 [1994]: 24) greifen als Ökonomen, an deren Ideen im Folgenden anzuknüpfen sein wird, auf einen wissenssoziologischen Ideologie-Begriff zurück: »the shared framework of mental models that groups of individuals possess that provide both an interpretation of the environment and a prescription as to how that environment should be structured« (2000 [1994]: 24). Es geht bei dieser Verwendung des Ideologie-Begriffs also nicht darum, Ideologien bereits als Herrschaftsinstrumente vorauszusetzen – vielmehr ist

—————— 14 Im Folgenden wird jedoch, wie es auch in der Geschichte der Wissenssoziologie geschehen ist, die Mannheim’sche Idee der »freischwebenden Intelligenz«, die der Standortgebundenheit nicht in gleichem Maße ausgesetzt sei, fallen gelassen (zur Standortgebundenheit auch der wissenschaftlichen Intelligenz vgl. das Konzept der situated knowlegde von Haraway 1988).

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ja eine der Stärken der RC-Theorien, dass sie die Frage erlauben, unter welchen Bedingungen bestimmte Ideologien für eine größere (und wachsende) Anzahl von Menschen attraktiv und anschlussfähig werden können. Dafür bedarf es allerdings eines Ideologie-Konzepts, dass nicht bereits diesen hegemonialen Erfolg voraussetzt. Im Folgenden soll also auf ein soziologisches Ideologie-Konzept zurückgegriffen werden, nach dem sich Ideologien zusammensetzen aus (i) miteinander verbundenen Überzeugungen, (ii) moralisch aufgeladenen Bewertungen und (iii) Handlungsdispositionen. (i) Ideologien sind damit keine vereinzelten Überzeugungen (wie etwa »ich bin der Überzeugung, dass Hunde intelligente Tiere sind«), sondern bestehen aus miteinander verbundenen und integrierten Überzeugungen. Solche Überzeugungssysteme haben die Form von Quasi-Theorien (Oliver/Johnston 2000a: 7) und übersetzen die von einem bestimmten Kollektiv geteilte soziale Konstruktion einer Wirklichkeit in individuell verfügbare Weltinterpretationen. Diese setzen – wie dies zum Beispiel Religionen tun – Menschen und transzendentale Einheiten, Menschen untereinander oder Mensch und Kultur zu einander in eine sinnhafte Beziehung. Dabei ist es nicht damit getan, dass Ideologien solche Relationen allein beschreiben (»Menschen und Götter stehen in einem transzendenten Verhältnis, in dem erstere letztere nicht unmittelbar erfahren können, sondern Erfahrungen eben eine/n Vermittler*in oder einen Ritus wie den der Seelenreise erfordern«); vielmehr offerieren Ideologien auch gleich (Be-)Wertungen und damit verbunden Hierarchiesysteme und deren Legitimationen (»Götter müssen aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen werden, damit ihnen ein Sonderstatus zugeschrieben werden kann und die ihnen besonders verbundenen Gläubigen Besonderung erfahren«)15. Ideologien fokussieren dabei in erster Linie auf die problematischen – also legitimationsbedürftigen – Aspekte des politischen, ökonomischen und sozialen Miteinanders (Fine/Sandstorm 1993: 24). (ii) Solche Überzeugungssysteme beinhalten aber nicht nur Beschreibungen dessen, was der Fall ist, sondern auch moralische Bewertungen und utopische Momente dessen, was der Fall sein sollte. Die moralischen Bewertungen haben jedoch weniger das individuelle Eigeninteresse als Bezugspunkt als vielmehr das Gemeinwohl: Das moralisch »Gute« ist stets das, was das Gemeinwohl der Mitglieder eines Kollektivs in das individuelle Interesse

—————— 15 Vgl. zu dieser Rekonstruktion einer Bewertung Luhmann (1987).

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übersetzt. Ideologien vermitteln damit neben einer what is-Komponente auch immer eine what ought-Komponente (Geertz 1973). Sie definieren individuelle Ziele und strukturieren das Wollen der Akteur*innen. In der RC-Terminologie werden sie zum Bestandteil der individuellen Präferenzordnung. Daran knüpft sich (iii) ein Imperativ zum Handeln; aber eben nicht im Sinne einer allein eigennutzorientierten Entscheidung, sondern im Sinne der Realisierung des moralisch Gebotenen. Diese Realisierung kann aber im Rahmen einer rational choice erfolgen, indem möglichst effektive Mittel zur Realisierung der ideologisch gebotenen Ziele eingesetzt werden. Diese Mittel können also durchaus auch gewaltförmig sein. Ideologien, wenn sie erfolgreich internalisiert sind, kann damit die Kraft zugesprochen werden, die individuelle Wahrnehmung, Interpretation, Bewertung von sozialen Beziehungen, von Situationen und Ereignissen zu bestimmen und zu steuern und, darüber hinaus, zum Handeln zu motivieren. Damit haben sie das Potential, Wünsche und Ziele, aber eben auch Mittel und die Perspektive auf deren Erfolgswahrscheinlichkeit zu moderieren. Ideologien sind immer »both personal and shared« (Fine/Sandstrom 1993: 32). Und es scheint darüber hinaus im Wesen der Ideologien zu liegen, dass die verschiedenen über eine Ideologie zusammengebundenen Kollektive ihrer eigenen, speziellen Ideologie zu möglichst breiter (sozialer) Geteiltheit verhelfen wollen.16

2.2 Ideologien und die Entscheidungen der »guten Gründe« Rekonstruiert man ein soziologisches Konzept von Ideologien in der Art und Weise, wie dies im letzten Kapitel geschehen ist, so zeigen sich potentielle Schnittstellen (und Hindernisse) für eine Zusammenführung mit Theorien rationaler Handlungswahl. Eine solche Zusammenführung gelingt nur auf Kosten der Effizienz der RC-Theorien unter Zuhilfenahme zusätzlicher Annahmen und Erweiterungen über die Kernannahmen hinaus.

—————— 16 So ist es beispielsweise insbesondere eines der Anliegen der Bewegungsforschung zu zeigen, wie die Überzeugungsarbeit von sozialen Bewegungen funktioniert und wie Ideologien strukturiert sind, um möglichst erfolgreich Anhänger (und Politiker) vom eigenen Anliegen zu überzeugen (z.B. Bawn 1999; Downey 1986). Die Diskursanalyse wiederum sieht Ideologien als semiotische Praxen, die sozial geteilte Weltbilder hervorbringen und dadurch dynamische Strukturen produzieren, in denen u.a. um Definitionsmacht und Deutungshoheit gerungen wird (z.B. Holquist 2002).

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Hier bieten sich zwei Stoßrichtungen an: zum einen lässt sich argumentieren, dass rationale Handlungswahlen unter bestimmten und bestimmbaren Umständen einer Meta-Rationalität der quasi-ideologischen Vorprägung der Situation unterliegen (i). Dies tun vor allem Framing-Theorien oder Theorien, die davon ausgehen, dass komplexe Entscheidungen so modelliert werden müssten, als griffen Entscheider*innen auf mentale Modelle zurück (ii). Die zweite Stoßrichtung besteht zum anderen darin, zu zeigen, dass auch die Übernahme von Ideologien als rationale Wahl modelliert werden kann, auch wenn empirisch eine solche »Wahl« nur in besonderen Ausnahmesituationen zu erwarten ist (iii). Diese Argumentationslinien sollten im Weiteren näher ausgeführt werden. (i) Mentale Modelle und Frames In ihrem vielbeachteten Artikel aus dem Jahr 2000 [1994] verbinden Denzau und North wegweisend Ideologie und ökonomische RC-Perspektive und argumentieren, dass menschliche Entscheidungen eher zu verstehen seien, wenn man annähme, Menschen hätten sozial geteilte mentale Modelle, nach denen sie Situationen ausdeuteten und auf Basis derer sie entscheiden würden. Entscheidungssituationen unterschieden sich den Autoren zufolge in Hinblick auf (i) die Komplexität der mentalen Modelle zu ihrer Bearbeitung, (ii) die Motivation, in der Situation zu entscheiden sowie (iii) die Qualität, Häufigkeit und Abfolge der Informationen, die die Situation bereithält. Sie vermuten, dass in komplexen Situationen eine Entscheidung, die einer im ökonomischen Sinne substantive rationality unterläge, nicht möglich sei. Stattdessen würden Entscheidungsverfahren benötigt, die von einer deduktiv rationalen Prozedur abwichen (Denzau/North 2000 [1994]: 30). Sozial geteilte mentale Modelle strukturierten in diesem Sinne Entscheidungen vor und kanalisierten diese, indem sie bestimmte Situationsmerkmale als irrelevant kennzeichneten. Denzau und North (2000 [1994]: 35) argumentieren, dass das kulturelle Erbe dazu beiträgt, die Differenzen zwischen individuellen mentalen Modellen zu verringern. Cultural learning sei eine Form der Übernahme von solchermaßen sozial geteilten mentalen Modellen. In der Moderne würden diese Modelle komplexer und nähmen die Form von Ideologien an, die Handlungen und sozial wertgeschätzte Outcomes miteinander verbinden. In Anlehnung an Holland u.a. (1986) vermuten die Autoren, dass Ideologien so dabei helfen würden, die (sozial) relevanten Dimensionen der Realität für die eigene Entscheidung zu selektieren.

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Dieser Vorschlag passt sich also nur bedingt in RC-Theorien ein: Zum einen wird hier endogenisiert, warum Menschen wollen könnten, was sie wollen. Damit werden den Kernannahmen spezifische Brückenhypothesen über das soziale und kulturelle Lernen vor allem von Wünschen und Bedürfnissen hinzugefügt. Zum zweiten verlässt das mental model die RC-Selektionsregel, nach der Menschen die für sie in einer Situation als beste Option wahrgenommene Alternative wählen: entscheidungsrelevante Informationsänderungen könnten dann nicht zu einer Entscheidungsänderung führen, wenn sie im mentalen Modell als nicht-relevant vorgesehen sind, selbst wenn sie wahrgenommen werden. Dennoch werden zwei zentrale Kernannahmen aufrechterhalten: Wünsche und Bedürfnisse bleiben die zentralen Triebkräfte hinter den Entscheidungen und die Überzeugungen über die situationale Effektivität der Mittel bleibt immer noch das, was die Rahmenbedingungen für die Entscheidungen setzt. Eine andere Variante von mental models liegt in Form des Modells der Frame-Selektion (MFS) vor, wie es Esser (2006) und Kroneberg (2005; 2007) vorschlagen. Hier werden systematischer als beim Vorschlag von Denzau und North Situation und Handlungswahl mit einander verbunden, indem die Wirkungsweise von verschiedenartigen Wissensbestanteilen auf Handlungen in ein erweitertes RC-Modell intrigiert wird. Nach Kroneberg (2007: 17) beruht das Modell der Frame-Selektion auf den drei Selektionen: der Frame-, der Skript- und der Handlungs-Selektion. Während Frames die Situation rahmen und somit definieren, bestimmt die Skript-Selektion über das daran anschließende Programm der Handlungswahl: »Die Bedeutung von Frames und Skripten verweist auf die soziale Vorstrukturierung des Handelns« (ebd.: 217, Hervorh. im Orig.). Je nachdem, wie routiniert oder habitualisiert die Selektionen ablaufen, weisen sie einen je unterschiedlich hohen Bewusstheits- und Reflexionsgrad auf. Dem trägt das Modell Rechnung indem zwei Modi der Informationsverarbeitung unterschieden werden: der automatisch-spontane (as-)Modus alltäglicher Routinehandlungen und der reflektiert-kalkulierende (rc-)Modus der rational choice, wenn die Routinen durch Außergewöhnliches irritiert werden. In dieser Framing-Variante einer solchermaßen erweiterten RC-Theorie kommt der Situation eine besondere Rolle zu: Drängt sich die Interpretation förmlich auf, so ist der Match (m)17 zwischen Situation und Frame sehr

—————— 17 Der Parameter m misst den Match zwischen Situation und Frame. Er kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen: Der Wert 1 zeigt die bestmögliche Passung an, der Wert 0 überhaupt keine Passung (Kroneberg 2005: 351).

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hoch, der Frame kann automatisch-spontan aktiviert werden. Kroneberg bemerkt dazu: »Allerdings kontrolliert der Akteur diesen vorbewussten Prozess der Aufmerksamkeitszuweisung nicht, und es macht daher wenig Sinn, hier noch den Begriff der Rationalität zu bemühen« (Kroneberg 2007: 219). Es muss jedoch in den reflektiert-kalkulierenden (rc-)Modus umgeschaltet werden, wenn die Elemente der Situation nicht zweifelsfrei interpretierbar sind, die Verbindung zwischen situativen Objekten und Frame nicht eindeutig und/oder ein möglicher Frame nicht zugänglich ist (ebd.: 225). Ist die Situation definiert, kann sich quasi-automatisch ein Skript mit einer Handlungsalternative anschließen oder es wird reflektiert-kalkulierend darüber entschieden, welches Handlungsprogramm zum Tragen kommen soll. Diese Framing-Variante ist jedoch in ihrer ursprünglichen Form nicht für die Analyse von Ideologien und ihre Wirkung ausgelegt und es scheint auch nicht besonders sinnvoll, Frames und Ideologien ohne weiteres in eins zu setzen (Schnabel 2008: 93ff.).18 Sie kann jedoch so erweitert werden, dass Ideologien – quasi als weitere Entscheidungs-Ebene – in das Modell integriert werden können. Dies soll im Folgenden gezeigt werden.19 Es ist somit die Grundannahme der folgenden Erörterungen, dass es möglich ist, die Übernahme einer Ideologie (modellimmanent) zu modellieren. (ii) Ideologien und RC-Theorien Während Frames noch einen klaren direkten Bezug zur Situation aufweisen, müssen Ideologien als Überzeugungssysteme mit wertendem und politischutopischem Charakter jenseits der konkreten Situation verortet werden.20 Sie »[…] lassen sich […] als ›Frame-Generatoren‹ verstehen, die für die Modelle

—————— 18 Auch wenn Ideologien sowohl auf Frames, als auch auf die anschließenden Skripte und Handlungsentscheidungen einwirken, sind es doch die Frames, die in einem besonders klärungsbedürftigen Verhältnis zur Ideologie zu stehen scheinen. Dies gilt nicht nur für das MFS: Auch das Verhältnis zwischen Framing-Prozessen, wie sie Snow u.a. (1986) und Benford und Snow (2000) für die Bewegungsforschung diskutieren, und dem Begriff der Ideologien scheint nach wie vor nicht abschließend bestimmt zu sein (vgl. die Debatte zwischen Oliver/Johnston (2000a und 2000b) und Snow/Benford (2000)). 19 Die folgende Argumentation folgt der bereits an anderer Stelle vorgenommenen Rekonstruktion (Schnabel 2006; 2008). 20 Begriffe wie »im Hintergrund wirkend« oder »übersituativ« umschreiben metaphorisch, dass Ideologien nicht nur Bestanteil einer konkreten Situation oder eines bestimmten Typus von Situationen sind, sondern in verschiedene und verschiedenartige Situationen »mitgenommen« werden.

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bestimmter, konkreter Entscheidungssituationen den Interpretationshintergrund liefern« (Schnabel 2008: 94). Wenn Ideologien Überzeugungssysteme, Bewertungen und – an einer Utopie des Besseren orientierte und motivierende – Handlungsanweisungen umfassen, dann sind sie eben mehr als eine Definition einer konkreten Situation: Sie geben Sets an situativen Frames vor und begrenzen diese Sets. Ideologien wären damit eher das (relativ) stabile Leitthema situativer Frames; sie bestimmen die konkrete Ausgestaltung der konkreten Situationsdefinition durch einen situativen Frame. Als Meta-Rahmung geben sie aber nicht nur mögliche situative Interpretationen vor, sondern schließen gleichzeitig Interpretationen aus: So finden sich in antisemitischen Ideologien (zum Beispiel Faschismus oder Deutsch-Nationalismus) Vorstellungen, dass »die Juden« aus dem Genozid des Holocaust Kapital schlügen und dass »jüdische Lobbyisten« die internationalen Finanzen kontrollieren würden.21 Innerhalb solcher Ideologien hat die Feststellung, dass es »den« Juden nicht gibt, ebenso wenig Platz wie die Erkenntnis, dass Finanzmärkte komplexen Dynamiken unterliegen. Ideologien übernehmen in konkreten Situationen dann gewissermaßen die inhaltliche Ausgestaltung der subjektiv zur Verfügung stehenden Frames und deren Passungsparameter m: Sie bestimmen, welche Objekte signifikant sein sollen, und mit welchen Interpretationen, Bewertungen und Handlungsoptionen diese Objekte verbunden sein sollen. Fine und Sandstorm stellen dazu fest: »Fascism, communism, and classical liberalism are quintessential examples of belief systems that explicitly claim a social judgement and a proposed solution« (1993: 24). Mit der Kanalisierung der innerhalb der Situation potentiell zur Anwendung kommenden Frames bestimmen Ideologien gleichzeitig über das, was in der Situation zu wollen sein soll und welches – folgerichtig – die dafür effizientesten Mittel seien. Wie stark eine Ideologie Selektionen und Interpretationen in einer Situation vorzugeben vermag, hängt davon ab, wie unhinterfragt sie mental verankert ist: Es lässt sich vermuten, dass Ideologien umso stärker verankert sind, je mehr Lebensbereiche oder Sinnprovinzen sie dominieren und je widerspruchsfreier sie sich zu anderen Überzeugungen, Einstellungen und Sinnmustern verhalten. Vor allem dieser letzte Aspekt der Widerspruchsfreiheit scheint erläuterungsbedürftig: Einerseits sind Ideologien in der Lage,

—————— 21 Für eine umfassende Rekonstruktion antisemitischer Ideologien vgl. z.B. Bartov (2019).

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nicht nur einander widersprechende Elemente zu integrieren – wie etwa die beiden Idealisierungen von Frauen als »Mütter« und »Huren« im Vorstellungskanon traditioneller Geschlechterideologien – sondern auch kontrafaktische Momente zu überschreiben, wenn beispielsweise traditionelle Geschlechterideologien Frauen als »schwaches« Geschlecht stilisieren und dabei die körperlich wie emotional unendlich fordernde Reproduktions- und Pflegearbeit, die Frauen täglich verrichten, »übersehen«. Andererseits sind Ideologien aber immer nur ein, wenn auch dominanter, Teil individueller Weltzugriffe. Sie müssen zu anderen Formen und Inhalten individueller Weltzugriffe relationiert werden; dazu gehören neben den Wissensbeständen anderer Sinnprovinzen auch die Verankerungen im unmittelbaren sozialen Umfeld. Denn Ideologien sind keine Privatsache, sie werden mit anderen geteilt, so dass die Stärke der Verankerung auch davon bestimmt wird, wie stark sie als von signifikant Anderen gestützt empfunden werden. Diese soziale Unterstützung ist nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie darüber entscheidet, ob eine Ideologie individuell »verfügbar« ist, also ob sie als sozial erwünscht, öffentlich vertretbar und sozial anschlussfähig erscheint. Dabei geht es nicht darum, dass Ideologien unbedingt gesamtgesellschaftlich akzeptiert sein müssen – moderne plurale Gesellschaften haben Teilsinnwelten, die einander widersprechen, nebeneinander koexistieren oder mit einander in Konflikt geraten können. Für die individuelle Verankerung ist es hinreichend, aber notwendig, dass signifikante Andere das ideologische Weltverständnis teilen. Dies kann auch eine sehr kleine Gruppe von Verschwörern, Sektenmitgliedern oder »Reichsbürgern« sein, die sich über signifikante Symbole erkennt und darüber kommuniziert und aus ihrer Weltsicht die eigene Überlegenheit (gegenüber den leichtgläubigen Massen) ableitet. Hier ist es geradezu der elitäre Charakter der Weltanschauung, die diese als eine Ideologie der besonderen Art attraktiv macht. Gesellschaftliche Hegemonie erlangen Ideologien dann, wenn die signifikant Anderen zur diskursdominierenden Elite gehören oder es gelingt, Ideologien als common knowledge bei möglichst vielen Mitgliedern einer Sozialität zu verankern. Je überzeugter man wiederum von einer Ideologie ist, desto stärker werden Frames von dieser durchdrungen, desto mehr situative Elemente sind ideologisch aufgeladen, desto stärker wird die Ideologie jede Situationsdefinition bestimmen und desto unmittelbarer wird der Bezug zwischen ideologischem Inhalt, Bewertung der Situation, Skript und Handlung sein. Die

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Frame-Selektion findet also unter der Bedingung der Ideologie statt. Ihr Einfluss wiederum wird durch die Stärke ihrer Verankerung bestimmt. (iii) Die Übernahme von Ideologien als rationale Handlungswahl Wenn man annimmt, dass Ideologien in dieser Form sozial folgenreich sind, dann stellt sich die Frage, was sie für individuelle Akteur*innen attraktiv machen könnte. Im Folgenden soll mit Hilfe einer Modifikation des in der RC-Theorie gebräuchlichen SEU-Modells gezeigt werden, wie sich Faktoren der Attraktivität von Ideologien formal bestimmen und relationieren lassen. Daran anschließend wird argumentiert, wie eine solche Formalisierung helfen kann, zu erklären, unter welchen Bedingungen eine Ideologie übernommen wird. Das SEU-Modell modelliert die Entscheidung für eine Handlung als Abwägung des subjektiv erwarteten Nutzens der situativ als realisierbar erkannten Handlungsalternativen: Die Handlung A wird damit der Handlung B vorgezogen, wenn gilt: SEU(A) > SEU (B) Mit SEU = S p*U – C p = Wahrscheinlichkeit des Nutzeneintritts U = Nutzen, die durch die Handlung realisiert werden können C = Kosten der Handlung

Dies lässt sich auch auf Frames und auf Ideologien übertragen: während die Wahl oder Nicht-Wahl eines Frames zusätzlich vom Matching-Parameter m abhängt (zu Formalisierung vgl. Kroneberg 2005: 357), muss das Modell um einen Verankerungsparameter p I erweitert werden, um die Attraktivität von Ideologien modellieren zu können. Dieser Parameter p I umfasst die lebensweltliche Dominanz (sI), die Widerspruchsfreiheit zu anderen Überzeugungen und Sinnmustern (kI) sowie die vermutete Stärke der Unterstützung durch signifikant Andere (aI).22 Lebensweltliche Dominanz erlangen Ideologien dann, wenn sie möglichst viele Sinnprovinzen »kolonialisieren« und den Zugang zur individuellen Alltagswelt bestimmen. Religionen gelingt dies

—————— 22 Die Parameter sI, aI und kI können Werte von 0 bis 1 annehmen, so dass auch für den sich multiplikativ aus diesen Parametern zusammensetzende Parameter pI gilt: 0 < pI < 1.

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beispielsweise, indem sie nicht nur Antworten auf die »letzten Fragen« zur (kognitiven und emotionalen) Verfügung stellen, sondern eben auch Regeln, die dating & mating, Essgewohnheiten, das alltägliche Miteinander und besondere Feierriten bestimmen. Nutzen (UI) wiederum werden durch einen arrangierten Weltzugang und durch Einpassung und Anerkennung in einem bestimmten – die Ideologie teilenden – sozialen Umfeld realisiert. So ermöglichen religiöse Glaubensgemeinschaften Solidarität, Unterstützung und Aufnahme auch dann, wenn ihre Mitglieder in der Fremde Aufnahme suchen; für viele Migrant*innen sind Gemeinden und Gemeinschaften ihrer Konfession wichtige Anlaufstellen, um Kontakte und alltägliche Unterstützung zu finden. Ideologien bringen Interpretations-, Erwartungs- und Handlungssicherheit: Sie bieten Labels, Bilder oder Schemata, mit deren Hilfe sich die Welt kategorisieren und damit bestimmen lässt, wer »ich in dieser Welt bin«. Insbesondere in dieser Identifizierung und (Auf-)Wertung des Selbst besteht für viele die besondere Attraktivität von Ideologien. Aktuell lässt sich dies dann beobachten, wenn Religion und Zuschreibung vermeintlicher Religiosität (natürlich der Anderen) als Identitätsmarker zur gesellschaftlichen Exklusion führen. Ideologie-generierte Orientierungshilfen und Versicherungen helfen, Ambiguität zu vermeiden, Komplexität zu reduzieren, Ordnung und Anerkennung zu schaffen. Kosten (CI) wiederum entstehen dadurch, dass die neue Ideologie in die bisherige Weltsicht eingepasst werden muss und nicht alle aktuellen und potentiellen Interaktionspartner*innen die Ideologie teilen und darum mit Unverständnis oder Protest zu rechnen ist. Auch dies lässt sich für Religionen beobachten – Kosten entstehen für religiöse Menschen in stark säkularem sozialem Umfeld beispielsweise, wenn sie für reale oder zugeschriebene Positionen ihrer Religion als token zur Verantwortung gezogen werden. Der Wert einer Ideologie lässt sich nun wie folgt formalisieren: SEUI =

p I * S UI – CI

mit dem Angemessenheitsparameter

pI = sI * k I * aI

UI = Nutzen, die durch die Ideologie realisiert werden können CI = Kosten der Ideologie

Diese Formalisierung ermöglicht nun die Bestimmung derjenigen Bedingungen, unter denen eine Ideologie individuell attraktiv genug wird, um

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übernommen zu werden und kognitiv anschlussfähig zu sein. Wenn eine Ideologie mental verankert wird, so geschiet dies annahmegemäß auf der Basis eines Zustands, indem auf die Welt bereits zugegriffen wird – entweder im Rahmen einer alternativen Ideologie oder im Rahmen eher diffuser unverbundener Bedeutungssysteme. Von einem Ideologie-Wechsel kann beispielsweise dann gesprochen werden, wenn Menschen zu einer Religion konvertieren oder wenn sie im Rahmen einer Emanzipationsbewegung ein Bewußtsein für ein politisches Moment ihrer Identität erlangen: wenn die »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« wird. In beiden Fällen sind jedoch die Nutzen und Kosten des Ausgangszustands – sei es mit einer »alten« Ideologie oder als ideologieloser Zustand – bekannt (SEUalt = Ualt – Calt). Dies gilt jedoch nicht für die ideologische Weltzugriffsalternative: die Nutzenrealisierung hängt vom Verankerungsparameter ab und von den Opportunitätskosten der bisher realierten Alternative ( p I *UI + (1 - p I )*Ualt - CI). Daraus ergibt sich folgende Formalisierung: Gewechselt wird also, wenn gilt: SEUalt < SEUI Û Ualt – Calt < p I * UI + (1 - p I ) * Ualt - CI Û UI – Ualt > (CI - Calt) /

pI

Diese letzte mathematische Transformation benennt die Grenze, ab der die Übernahme einer Ideologie theoretisch als »rational« anzusehen ist. Dies meint jedoch weder, dass die individuelle Aneignung tatsächlich rationalen und damit bewussten Erwägungen entspringen muss, noch dass die Ideologie selbst rational oder vernünftig sei. Die Modellierung gibt lediglich an, ab wann eine Ideologie übernommen würde, wenn die Übernahme einer rationalen Wahl folgen würde.

2.3 Wann wird eine Ideologie attraktiv? Die linke Seite der obigen Ungleichung benennt dabei die Motivation, sich überhaupt für einen ideologie-induzierten Weltzugang zu interessieren, während die rechte Seite die Schwelle bezeichnet, jenseits derer die Übernahme für rationale Akteur*innen lohnend erscheinen müsste. Die Motivation ergibt sich daraus, dass die nützlichen Seiten der neuen Ideologie versprechen, die des vorherigen Zustands zu übersteigen.

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Die Schwelle für die Aneignung wiederum setzt sich aus den Kosten der Übernahme (abzüglich der Kosten der Aufrechterhaltung) und dem Verankerungsparameter zusammen. Nun können aus der Modellierung vier Bedingungen für die Annahme und Internalisierung von Ideologien abgeleitet werden: Diese wird wahrscheinlich, wenn (1) der Ausgangszustand als unbefriedigend (Ualt < UI) und/oder (2) die Kosten der Aufrechterhaltung des Ausgangszustands als wachsend empfunden werden (CI - Calt < 0). Dies wird dann wahrscheinlich, wenn der aktuelle Weltzugang die Welt nicht mehr hinreichend zu beschreiben vermag und immer regelmäßiger dazu führt, dass Frames einen zunehmend schwächeren Passungsparameter m aufweisen. Dabei spielen signifikant Andere eine wichtige Rolle, insofern sie den ideologie-induzierten Weltzugang teilen. Wenn dieses Kollektiv kleiner wird oder die Akteur*innen sich in andere Umwelten bewegen, dann können die bisherigen ideologie-induzierten Weltzugänge ihre soziale Verbindlichkeit verlieren. Alternative Ideologien wiederum werden attraktiv, wenn sie (3) »kostengünstig« zur Verfügung stehen und/oder (4) ihre Übernahme nicht als zu aufwändig empfunden wird. Dabei kommt dem Verankerungsparameter insofern eine wichtige Rolle zu, als dass seine Komponenten die Verankerung erleichtern oder erschweren: starke lebensweltliche Dominanz erfordert ein besonders nachhaltiges Lernen, während mangelnde Konsistenz mit anderen Überzeugungssystemen bedeutet, dass der ideologische Weltzugriff individuell schwerer zu legitimieren ist. Es wäre zu erwarten, dass in einem solchen Fall konkurrierende Frames die Auslegung von Situationen erschweren. Manche Ideologien werden deshalb nicht übernommen werden, weil sie zu starke kognitive Dissonanzen erzeugen. So stellte Stark (1997: 19) im religiösen Kontext fest, dass Konversion wahrscheinlicher sei für diejenigen, die bereits einer Konfession angehören als für Atheist*innen. Die Übernahme einer alternativen Ideologie wird dann besonders »kostspielig«, wenn negative Sanktionen durch das soziale Umfeld erwartet werden (CI hoch): Für die Frauenbewegung konnte u.a. Hercus (2001) empirisch zeigen, dass insbesondere das Unverständnis des nahen Umfelds der Partner*innen, Kinder und Kolleg*innen für die sich emanzipierenden Frauen besonders schmerzhaft und mit hohen sozialen Kosten der Nicht-Anerkennung verbunden war. Dieser Bedingungskatalog formalisiert, was im Rahmen der Interaktionstheorien oder der sozialphänomenologischen Theorien in anderer Form ebenfalls konstatiert wird: Ideologien sind Überzeugungssysteme, die mit ihrer Einflussnahme auf die Wahrnehmung und Interpretation von ver-

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schiedenartigen Alltagssituationen stabile kognitive Inhalte bereitstellen, die buchstäblich nicht »ohne weiteres« aufgegeben werden.23

3. Gute Gründe für eine Perspektive der guten Gründe Es war das Anliegen des vorliegenden Beitrags das Verhältnis von RC-Theorien und Ideologien (als Phänomen und Konzept) auszuloten. Der Beitrag musste dabei naturgemäß mit letzteren oberflächlich verfahren – Ideologien sind als Phänomene in ihren verschiedenen Spielarten und Schattierungen unterschiedlich und nicht alle Menschen sind gleichermaßen durch konsistente, stabile und gut verankerte Ideologien in ihren Situationsdefinitionen und Handlungsorientierungen geprägt. Das Konzept der Ideologien wiederum ist in der Soziologie nicht einheitlich definiert und von unterschiedlichen Theorien je unterschiedlich besetzt. Dies erschwert den RC-theoretischen Zugang naturgemäß. Mit dem vorliegenden Beitrag sollte aber aller notwendigen Verallgemeinerungen zum Trotz gezeigt werden, dass eine Verbindung von Theorie und Phänomen gewinnbringend ist, ist es doch die besondere Stärke der RC-Theorien gegenüber anderen Theorien, insbesondere Entscheidungsschwellen modellieren zu können. Dabei geht es nicht darum, ob eine Ideologie inhaltlich rational oder vernünftig sei, sondern darum, zu zeigen, dass Übernahme und Aneignung einer Ideologie nicht zufällig oder quasi-natürlich stattfinden und Bedingungen unterworfen ist, die soziologisch-systematisch erfasst werden können. Die Rekonstruktion dieser Bedingungen im Rahmen von RC-Theorien macht sichtbar, dass in einer Gesellschaft nicht nur unterschiedliche Konstellationen aus verschiedenen Ideologien und unterschiedlichen Verankerungsgraden zur selben Zeit empirisch beobachtbar sind, sondern auch und insbesondere, unter welchen Bedingungen das ideologische »thinking-as-usual« (Schütz 1944: 501) individuell verlassen wird und alternative ideologische Weltzugänge an Attraktivität gewinnen. RC-Theorien sind zwar nicht in der Lage, die Genese neuer ideologischer Weltzugänge wissenshistorisch zu erklären, sie können aber aufklären, unter welchen Bedingungen aus einem Pool bestehender

—————— 23 In diesem Sinne sieht auch Gerring es als quasi informelles Definitionskriterium von Ideologien an, dass solch ein »set of values and beliefs must endure for some length of time in order to warrant the appellation ›ideology‹« (1997: 975).

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Ideologien einige sich eher verbreiten als andere und warum Ideologien auch wieder unattraktiv werden und verschwinden. Dies geschieht über den Rückgriff auf die individuelle Attraktivität, die Ideologien in bestimmten und bestimmbaren Kontexten zu entfalten in der Lage sind. Es widerspricht der hier vorgenommenen individualistischen Modellierung dabei nicht, anzunehmen, dass Menschen über eine je individuell ausgestaltete Schwelle verfügen, an der für sie die Übernahme eines alternativen ideologisch gestalteten Weltzugangs attraktiv erscheinen mag: je nach bisherigen biographischen Erfahrungen und der aktuellen Lebenswelt können Menschen mehr oder weniger »anfällig« für bestimmte Ideologien sein. An die hier vorgestellte RC-Modellierung ließe sich nun in einem weiteren (Aggregations-)Schritt ein Diffusionsmodell anschließen, das Prozesse der ideologischen Ansteckung unter den Bedingungen individuell unterschiedlicher Entscheidungsschwellen zu modellieren vermag und damit die soziale Verbreitung von Ideologien erklären könnte.24 Mit einer RC-Modellierung, wie sie hier vorgeschlagen wird, wird also auch sichtbar, unter welchen Bedingungen Ideologien in dem Sinne erfolgreich sein können, dass sie für viele attraktiv zu sein vermögen: Ideologieintern müssen solche Weltzugangssysteme kognitiv und mental für Menschen anschlussfähig sein, damit der Verankerungsparameter p I möglichst hoch werden kann. Sie dürfen also nicht zu komplex sein und es muss gelingen, sie an allgemein akzeptierte Weltinterpretationen wie zum Beispiel allgemeine Menschenrechte oder – im Gegenteil: an exkludierende Unsicherheitsdiskurse (zum Beispiel über gestiegene Kriminalität, wirtschaftliche Unsicherheit oder die Überstrapazierung der sozialen Sicherungssysteme) anzuschließen. Ideologieextern müssen möglichst viele der individuell signifikant Anderen von der Ideologie überzeugt sein, sie muss im öffentlichen und privaten Diskurs sichtbar und sanktionsfrei artikulierbar sein und damit einen hohen Akzeptanzgrad haben. Ideologien müssen dabei nicht unbedingt einen hohen Verbreitungsgrad aufweisen, sondern können auch – wie zum Beispiel Verschwörungstheorien – nur für einen »eingeweihten kleinen Kreis besonders Aufgeklärter« Gültigkeit besitzen. Hier, so ließe sich aus der RC-Modellierung schlussfolgern, entsteht die Attraktivität durch die Gemeinsamkeiten mit einem kleinen Kreis hoch signifikanter Anderer (aI), durch die extrem hohe

—————— 24 Das Segregationsmodell, das Schelling 1971 vorschlug, um die Segregation von Nachbarschaften zu erklären, ist ein solches Diffusionsmodell, das sich auf die Verbreitung von Ideologien übertragen lässt.

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innerideologische Konsistenz (kI) und durch den Glauben, klüger und aufgeklärter zu sein als der Rest der Menschheit (UI). Das kompensiert die Kosten des Außenseiterseins, die häufig zum Beispiel mit Verschwörungstheorien oder mit der Mitgliedschaft in einer politischen Avantgarde einhergehen.25 Im Rahmen der RC-Theorien lassen sich Übernahme und Erlernen von Ideologien als ein Akt verstehen, der quasi »guten Gründen« folgt. Diese »guten Gründe« bestehen aus der Motivation zur Aneignung, der Überzeugung, dass Alternativen zum aktuellen mentalen Weltzugang zur Verfügung stünden und diese zu vertretbaren Kosten auch übernommen werden könnten. Die Formalisierung dient hier der Identifikation der relevanten Einflussfaktoren sowie deren funktionaler Verknüpfung. Eine RC-Modellierung dieser Art unterstellt allerdings keineswegs, dass Menschen sich tatsächlich Ideologien aneigneten, indem sie eine solchermaßen rationale Wahl träfen. Allerdings liegt dem Model durchaus die These zugrunde, dass auch die Aneignung einer Ideologie eben weder zufällig noch idiosynkratrisch sei, sondern Systematiken folge, die einer soziologischen Analyse zugänglich sein müssen. Dies nimmt Menschen in ihrer aktiven Gestaltung ihres Weltzugangs ernst und gesteht ihnen auch hier agency zu. Damit bleibt auch in einer solchen Modellierung der der Aufklärung verpflichtete Charakter der RC-Theorien erhalten und wird gleichzeitig durch eine allerdings implizit bleibende Kollektivorientierung erweitert. Der Beitrag zeigt aber auch, dass RC-Theorien in ihrer engen Form als Entscheidungstheorien nicht geeignet sind, wissenssoziologisch relevante Phänomene wie Ideologien zu analysieren: Es bedarf Zusatzannahmen und Aufweichungen der strengen Kernannahmen. So kann das Modell nicht mehr darauf rekurrieren, dass alle relevanten Alternativen Bestandteil der rationalen Entscheidungsfindung werden: in ihrer wirklichkeitsbegrenzenden Eigenschaft beschneiden Ideologien potentiell entscheidungsrelevante Informationen. Ohne die Argumentationsfigur der Verschleierung der »wahren Verhältnisse« wieder aufnehmen zu wollen, sind die RC-Annahmen in ihrer strengen Form blind für epistemologische Positionen, die das »Wol-

—————— 25 Es lässt sich sicher darüber streiten, inwieweit man Verschwörungstheorien als soziologisches Phänomen ansehen kann oder nicht vielmehr als pathologisches Phänomen ansehen muss. Unterstellt man Verschwörungstheorien jedoch eine gewisse soziologische Relevanz, dann müssen sie auch den Theorien rationaler Handlungswahl zugänglich sein und ihre Aneignung sollte sich dann auch so modellieren lassen, »als ob« sie als rationale Wahl erfolgen würde.

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len« und »Können« von Menschen nicht als extern gegeben annehmen, sondern als interaktions- oder eben ideologie-induziert verstehen. Um solche Positionen integrieren zu können, müssen die Kernannahmen – zum Beispiel wie hier vorgeschlagen – erweitert werden. Dann allerdings lässt sich auch das, was wir wollen, als etwas verstehen, wofür es »gute Gründe« gibt.

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II. Methodische Zugänge und empirische Anwendungen

Mixed Methods und Multimethod Research – Ideologiekritik und methodenintegrative Forschung Felix Knappertsbusch

Der vorliegende Beitrag zielt auf eine Verknüpfung zweier methodologischer Diskurse, die bislang trotz substanzieller Überschneidungen kaum miteinander in Verbindung gebracht wurden: Die sozialwissenschaftliche Ideologieforschung beziehungsweise Ideologiekritik bedient sich aktuell nur in wenigen Ausnahmen dezidiert methodenintegrativer Designs, während Mixed Methods und Multimethod Research (MMMR) sowohl im methodologischen Diskurs als auch in der forschungspraktischen Anwendung allenfalls oberflächliche Bezüge zum Ideologiebegriff herstellt. Dass eine engere Verknüpfung beider Perspektiven wünschenswert wäre, legt eine nähere Betrachtung der konzeptionellen Struktur des Ideologiebegriffs sowie der methodologischen Implikationen ideologiekritischer Forschung nahe. Diese liegen, zugegebenermaßen, nicht unmittelbar zutage und ihre Rekonstruktion wird durch die unübersichtliche Vielfalt unterschiedlicher Ideologiekonzeptionen erschwert. Eine genauere Lektüre ideologiekritischer Arbeiten, die ich im Folgenden mit einigem Eklektizismus, vor allem aber in Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entwickle, zeigt, dass der Ideologiebegriff in mehrfacher Hinsicht eine elaborierte Methodologie beinhaltet: Seine kritischen Modelle kombinieren typischerweise unterschiedliche soziale Teilphänomene und Aggregatebenen, bedienen sich eines deutend-rekonstruktionslogischen Verfahrens der Neu- und Re-Interpretation sozialer Phänomene, und verknüpfen dieses deutende Vorgehen mit dem Anspruch, kausale Erklärungsmodelle für die gesellschaftliche Genese sowie die Wirkung von Ideologie zu entwickeln. Angesichts dieses Zusammenspiels verschiedener Gegenstandsbestimmungen und Erkenntnisansprüche kann als weiteres Kernmerkmal schließlich der konstellative Charakter der Ideologiekritik festgehalten werden. Alle vier genannten Aspekte eines konstellativen Ideologiebegriffs korrespondieren eng mit Kernannahmen jenes methodologischen Diskurses,

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der sich seit den späten 1980er Jahren unter den Begriffen »Mixed Methods« und »Multimethod Research« entwickelt hat (Creswell/Plano Clark 2011: 19ff.; Hesse-Biber 2015). Ursprünglich als Reaktion auf die festgefahrenen »paradigm wars« (Gage 1989) zwischen Verfechter*innen qualitativer und quantitativer Forschungsansätze in den 1980er Jahren entstanden, hat sich der MMMR-Diskurs zu einem international etablierten, interdisziplinären Forschungszweig entwickelt. Ausgehend von der Grundannahme, dass qualitative und quantitative Forschungsmethoden keinen Gegensatz bilden, sondern vielmehr gerade deren systematische Kombination validere, informativere und differenziertere Forschungsergebnisse verspricht, befasst sich die Mehrheit der MMMR-Konzeptionen u.a. mit genau den Problemkomplexen, die oben als Kernaspekte des Ideologiebegriffs beschrieben wurden: Die angemessene empirische Operationalisierung komplexer, multiperspektivischer Forschungsgegenstände und –fragen, die Möglichkeiten der Erschließung neuer Forschungsperspektiven und Methoden, und die systematische Verknüpfung von kontextsensibler Interpretation und generalisierbaren Erklärungsmodellen. Insgesamt lässt sich methodenintegrative Forschung als konstellative Konzeption beschreiben, insofern sie nicht ein spezifisches methodisches Verfahren, sondern vielmehr die (Re-)Kombination bekannter methodischer Elemente darstellt. Im Folgenden werde ich die hier skizzierte Wahlverwandtschaft zwischen MMMR und ideologiekritischer Forschung in größerer Detailliertheit entwickeln, wobei ich in Abschnitt 1 zunächst Grundzüge des Ideologiebegriffs zusammenfasse und dessen methodologische Implikationen herausarbeite. In Abschnitt 2 werde ich dann Korrespondenzen und Überschneidungen mit dem methodologischen MMMR-Diskurs herausarbeiten und zeigen, inwiefern methodenintegrative Sozialforschung einen Beitrag zur Weiterentwicklung ideologiekritischer Empirie leisten kann. In Abschnitt 3 werde ich schließlich exemplarisch zentrale Stränge aktueller empirischer Ideologieforschung sowie einige Beispiele der Bezugnahme auf den Ideologiebegriff im MMMR-Diskurs darstellen. Diese Überblicksdarstellung zeigt, dass, abgesehen von wenigen Ausnahmen, gegenwärtige Ideologieforschung keine Notiz vom Diskurs um methodenintegrative Forschung nimmt, während dieser Diskurs wiederum allenfalls kursorisch auf den Ideologiebegriff verweist. Abschließend werde ich in Abschnitt 4 diskutieren, inwiefern die somit weitgehend ungenutzten Synergien tatsächlich für beide Seiten, MMMR und Ideologiekritik, eine Bereicherung darstellen könnten. Für die ideologiekritische Forschung könnte MMMR als Ansatzpunkt für eine revidierte empi-

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risch-methodische Grundlage dienen, die produktiv an Traditionen der konstellativen Modellbildung Theodor W. Adornos sowie des interdisziplinären Materialismus Max Horkheimers anknüpft. Im MMMR-Diskurs könnte die Integration eines konstellativen Ideologiebegriffs zu einer differenzierteren Aufstellung desjenigen Teils methodenintegrativer Forschung beitragen, der sich dezidiert als transformativ und emanzipatorisch begreift, die theoretischen Traditionslinien der Ideologiekritik und deren methodologische Implikationen aber bislang kaum reflektiert.

1. Vorklärungen zum Ideologiebegriff Angesichts der enormen Vielzahl unterschiedlicher Ideologiekonzeptionen (Eagleton 2000: 7ff.; Jost u.a. 2009: 309) kann das hier beschriebene Begriffsverständnis sicherlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Vielmehr geht es mit einer gewissen Parteilichkeit einher, insofern es Perspektiven der sogenannten Frankfurter Schule einen besonderen Stellenwert einräumt. Dennoch glaube ich, im Folgenden eine Reihe relevanter Ähnlichkeiten diverser ideologietheoretischer Ansätze herausarbeiten und gewissermaßen einen gemeinsamen Nenner unterschiedlicher Ideologiekonzeptionen bezeichnen zu können. Unter Ideologien werden im weitesten Sinne Sets von Anschauungen und Ideen verstanden, die ein Mindestmaß an Kohärenz und Stabilität sowie eine gewisse gesellschaftliche Verbreitung aufweisen, d.h. nicht nur individuelle Einzelmeinungen darstellen. Ein solcher deskriptiver Ideologiebegriff findet in alltagssprachlichen sowie wissenschaftlichen Zusammenhängen breite Anwendung (Freeden 2006: 4), insbesondere um politische und weltanschauliche »Ismen« zu bezeichnen, von »Liberalismus« über »Rechtsextremismus« bis hin zu »Veganismus«. Neben dieser deskriptiven Bedeutung hat der Ideologiebegriff aber oft auch evaluative Konnotationen, sowohl normativer als auch epistemischer Art. Etwas als Ideologie zu bezeichnen, impliziert dann nicht nur die Kontingenz der jeweiligen Anschauungen, sondern auch deren faktische Unwahrheit oder ethisch-moralische Falschheit (Giddens 1979: 168). Die Facetten dieser bewertenden beziehungsweise prüfenden Bedeutungsdimension reichen vom theoretisch wenig elaborierten Gebrauch als politischer Kampfbegriff, bis hin zu komplexen sozialtheoretischen Erklärungs-

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modellen für die Herkunft und Wirkung weltanschaulicher und diskursiver Phänomene. Die wohl einflussreichste Variante solcher Modelle geht auf Karl Marx’ Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zurück. Im Anschluss an diese Theorietradition dient der Ideologiebegriff, mit einer Formulierung John B. Thompsons, dazu, »die Art und Weise zu untersuchen, wie Bedeutung (oder Signifikation) dazu benutzt wird, Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten.« (zitiert nach Eagleton 2000: 12). Ideologiekritische Perspektiven problematisieren also die Funktion epistemischweltanschaulicher Phänomene für die Durchsetzung von Gruppeninteressen (Birnbaum 1960: 91).

1.1 Ambivalenz, Rechtfertigung und Paradoxie als Elemente von Ideologie Die Ideologiekritik wird durch diese evaluative und herrschaftskritische Komponente allerdings mit der Frage nach ihrer eigenen epistemischen und normativen Geltungsgrundlage konfrontiert: Von welchem überlegenen Standpunkt aus beurteilt sie ihren Gegenstand, und wie kann dieser Standpunkt selbst kritisch geprüft werden? Die Antworten, die von Ideologietheoretiker*innen hierauf gegeben wurden, sind vielfach eng verbunden mit einem weiteren Kernmerkmal des Ideologiekonzepts, vor allem in marxistischen Theorietraditionen: Der Ideologiebegriff operiert nicht mit einer einfachen Gegenüberstellung von ethisch richtig vs. falsch beziehungsweise epistemisch wahr vs. unwahr, sondern nimmt vielmehr die Problematik dieser Unterscheidung selbst in die Ideologiekonzeption mit auf. Demnach sind ideologische Phänomene durch eine Ambivalenz gekennzeichnet, die diese »zugleich falsch und realitätsangemessen« sein lässt (Stahl 2016: 241). Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der »Fetischcharakter der Ware« (Marx 2005 [1867]: 85): Im Tauschwert von Waren erscheinen Marx zufolge die Machtverhältnisse bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften, insbesondere die Tätigkeit der warenproduzierenden Menschen, in falscher, verzerrter Form, nämlich verschleiert als Eigenschaften von Dingen. Zugleich ist es aber eine praktische Notwendigkeit des alltäglichen Lebens, sich nach den Regeln des Warentausches (inklusive der Verwertung der eigenen Arbeitskraft) zu richten, und dies gilt auch dann noch, wenn die »Verrücktheit« der Warenform (ebd.: 90), d.h. ihre systematische Vernachlässigung der Qualität menschlicher Tätigkeiten und Bedürfnisse, von individuellen Akteuren erkannt wurde (Stahl 2016: 244). Die Falschheit von

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Ideologien bewegt sich gemäß einer solchen verdinglichungstheoretischen Konzeption (Honneth 2005) also nicht auf der rein epistemischen Ebene kognitiver Fehler oder Irrglauben, sondern bezeichnet vielmehr eine in ihren praktischen Konsequenzen problematische Verengung oder Vereinseitigung von Denk- und Sprechweisen: »Konstruktionen, die das prozessuale Geschehen der Praxis objektivierend stillstellen« (Menke 1997: 56). Die Falschheit der Warenform besteht darin, dass sie »den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte […] zurückspiegelt« (Marx 2005 [1867]: 86), aber die entsprechenden Konstruktionen haben sich derart zu »objektive[n] Gedankenformen« (ebd.: 90), d.h. zur Grundlage der alltäglichen gesellschaftlichen Interaktion entwickelt, dass sie durch bloße theoretische Reflexion nicht mehr außer Kraft zu setzen sind. Die Ideologiekonzeption bewegt sich demnach an der praxistheoretischen Schnittstelle von Denken und Handeln und verschränkt epistemische und normative Aspekte der Kritik. An dieser normativ-epistemischen Schnittstelle ist auch die Ambivalenz ideologischer Phänomene, die Gleichzeitigkeit von Falschheit und Angemessenheit konzeptuell zu verorten. In normativer Hinsicht ist diese Ambivalenz von Theoretiker*innen der Frankfurter Schule sowie der rhetorischen Psychologie, insbesondere in den ideologiekritischen Arbeiten des britischen Sozialpsychologen Michael Billig (2012; 1991), herausgearbeitet worden. Demnach sind ideologische Äußerungen durch eine Selbstwidersprüchlichkeit gekennzeichnet, brechen also einerseits mit geltenden ethischen Prinzipien, maskieren andererseits aber diesen Bruch beziehungsweise versuchen, ihre Position als normkonform darzustellen. So ist bspw. für vorurteilige, etwa rassistische Rhetorik charakteristisch, dass sie demokratisch-egalitäre Normen nicht einfach negiert, sondern vielmehr ihre diskriminierende Intention selbst unter Bezug auf Gleichheitsprinzipien rechtfertigt (Knappertsbusch 2016: 123ff.). Von Niklas Luhmann ist dieser verschleiernde Aspekt der Ideologie als »eine eigentümliche, beobachtungsresistente, der Kritik trotzende Reflexivität« beschrieben worden, die eine »Invisibilisierung« der jeweils bearbeiteten Paradoxien erlaubt (Luhmann 1987: 164). Ideologie ist demnach nicht mit einer bewusstlosen Reproduktion schematischer Denkmuster zu verwechseln, sondern sie reflektiert durchaus auf die ihr zugrundeliegende normative Problematik. Insofern dies aber mittels einer abwehrenden, verzerrenden Art der Reflexion geschieht, die zugleich die »Inkommunikabilität ihres Bezugsproblems« erzeugt (ebd.; Eagleton

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2000: 74), ist Ideologie auch nicht als bewusste, strategische Täuschung anderer zu verstehen, denn ihre Anhänger*innen täuschen durchaus auch sich selbst. Michael Billig greift diesen Zwiespalt ideologischer Muster auf, indem er die Dilemma-Struktur sowohl philosophischer Theorien, als auch gewöhnlicher Alltagsdiskurse hervorhebt und sich damit gegen die Annahme von Ideologien als geschlossenen, in sich konsistenten Weltanschauungen wendet. Ideologisches Denken bewegt sich zwischen widersprüchlichen normativen Orientierungspunkten, wie etwa Gleichheit und Individualität, Gerechtigkeit und Gnade, und muss diese zueinander ins Verhältnis setzen (Billig 1988: 34ff.). Demnach werden Subjekte durch Ideologie nicht einfach zu bewusstlosen Unterworfenen, »pushed into an unthinking obedience, in which conformity to ritual has replaced deliberation«, sondern »Ideology […] can also provide the dilemmatic elements which enable deliberation to occur« (ebd.: 31). Aufgabe der Ideologiekritik ist dementsprechend nicht die Enthüllung objektiver Wahrheiten oder die Durchsetzung erhabener moralischer Prinzipien, sondern das Sichtbarmachen der latenten Brüche und Selbstwidersprüche, die ideologisches Denken bearbeitet und zugleich verschleiert (Wetherell 2012: 176). Bereits in den Arbeiten Theodor W. Adornos, sowie später vor allem bei Jürgen Habermas, nimmt der Rechtfertigungsaspekt der Ideologie eine zentrale Stellung ein: Erst in modernen Gesellschaften, in denen traditionale und dogmatische Herrschaftssysteme hinterfragt werden, entsteht die Möglichkeit und Notwendigkeit von Legitimationsmustern, die sich selbst als herrschaftskritisch und aufklärerisch darstellen (Adorno 2003a: 465). Erst im Rahmen einer demokratischen Öffentlichkeit, in der Bedürfnisse und politische Anliegen prinzipiell von allen Beteiligten rational kritisiert werden können, entstehen Herrschaftslegitimationen, die ihre Machtwirkung als aufklärerisches Projekt präsentieren: »[…] [S]ie ersetzen die traditionellen Herrschaftslegitimationen, indem sie mit dem Anspruch der modernen Wissenschaft auftreten und sich aus Ideologiekritik rechtfertigen. Ideologien sind gleich ursprünglich mit Ideologiekritik.« (Habermas 2017 [1968]: 72)

Der Ideologiebegriff bezeichnet demnach nicht einfach krude Ignoranz oder gezielte Gegenaufklärung, sondern vielmehr Formen von Irrationalität und »korrumpierter« Aufklärung. Im Zentrum der Analyse ideologischer Phänomene stehen daher häufig performative (Selbst-)Widersprüche oder Paradoxien (Honneth/Sutterlüty 2011): Technischer Fortschritt, dessen

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Problemlösungen noch massivere Bedrohungen erzeugen (Habermas 2017 [1968]), Vergnügen, das nur »die Verlängerung der Arbeit« ist (Horkheimer/ Adorno 2004 [1944]: 145), Kommunikation, die nicht auf Verständigung, sondern auf strategische Interessenverfolgung zielt (Habermas 1984).

1.2 Paradoxie, Reflexivität und Performativität der Ideologiekritik Mit der beschriebenen Ambivalenz gerät aber nicht nur die charakteristische Reflexivität ideologischer Muster in den Blick, sondern zugleich auch die Ambivalenz der Ideologiekritik selbst: Wenn ideologische Äußerungen sich auf dieselben Normen beziehen, die ihre Kritiker*innen gegen sie ins Feld führen, dann kann Kritik sich zu Ideologie nicht rein äußerlich verhalten, sondern muss ihr normativ und epistemisch gewissermaßen »auf Augenhöhe« begegnen. Ideologie und Ideologiekritik bilden dann zwei Seiten desselben Problemzusammenhangs, und beide operieren mit Auslegungen derselben »ideological Dilemmas« (Billig 1988), zum Beispiel dem Spannungsverhältnis von Gleichheit und Individualität in egalitären Normen (vgl. Menke 2004: 22ff.). Dies konfrontiert die Ideologiekritik mit einer methodologischen Schwierigkeit, die Thorsten Bonacker als »Paradoxie der Kritik« beschrieben hat (Bonacker 2000: 30). Sie kann Ihrem Gegenstand weder als strikt »externe (oder starke und kontexttranszendierende)«, noch als rein »interne (oder schwache und kontextualistische)« Kritik begegnen (Celikates 2009: 160f.). Im ersten Fall würde sie unkritisch dadurch, dass Sie die eigenen Maßstäbe absolut setzt, was entweder auf »Paternalismus« oder aber schlichtweg auf Irrelevanz für die Akteur*innen in ihrem Gegenstandsbereich hinausliefe (Jaeggi 2005: 47). Eine »interne« Kritik vermiede hingegen zwar die Probleme starker Normativität (Paternalismus), büßte aber zugleich die Fähigkeit ein, sich überzeugend in Opposition zu ihrem Gegenstand zu begeben. Zur Handhabe dieser Problematik ist vielfach die Methode der »immanenten Kritik« (ebd.: 59) vorgeschlagen worden, die an den Selbstwidersprüchen ideologischer Konstruktionen ansetzt. Ein solches Kritikmodell verfährt gleichwohl »intern«, insofern es an die »moralische[n] Kultur« einer jeweils kritisierten Gesellschaftsformation anknüpft (Honneth 2007: 58), weist aber über eine bloße Reproduktion existierender moralischer Normen hinaus, indem es paradoxe Folgen des Normvollzuges rekonstruiert.

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Die Methode einer solchen zugleich externen und internen Kritik zielt auf den Nachweis von blinden Flecken beziehungsweise »strukturellen Reflexivitätsdefizite[n]« (Celikates 2009: 166). Entsprechend ihrer herrschaftskritischen Grundlage bleibt Ideologiekritik aber nicht bei einer bloßen Problematisierung epistemischer Zerrbilder stehen, sondern verbindet den Nachweis von Reflexivitätsdefiziten (Verdinglichung) mit einer Kritik der Verschleierung normativer Widersprüche (ideologische Rechtfertigung) und der Unterstellung von Macht- beziehungsweise Herrschaftsinteressen. Aus oben beschriebener Ambivalenz des Gegenstands Ideologie und dem damit zusammenhängenden Mangel einer starken normativen oder epistemischen Grundlage der Ideologiekritik selbst folgt allerdings, dass diese stets interpretativ und »rekonstruktionslogisch« verfahren muss (vgl. Honneth 2007: 59). Sozialwissenschaftler*innen finden den Gegenstand Ideologie nicht in derselben Weise vor, wie sie etwa Kleinfamilien oder Konsumgewohnheiten vorfinden, sondern sie müssen etwas – zum Beispiel Kleinfamilien oder Konsumgewohnheiten – als Ideologie lesen. Sie zielen damit auf einen latenten Sinn, einen praktischen Bedeutungsüberschuss wohlbekannter Handlungs- oder Denkmuster, den diese parallel zu ihrer expliziten Bedeutung mit »performen«. Ideologiekritik verfährt also nach dem Muster einer »erschließende[n] Kritik« (Bonacker 2008), die darauf zielt, etwas bislang verborgenes am Gegenstand sichtbar zu machen. Weil sie mit diesen Deutungen »zweiter Ordnung« (Bonacker 2000: 203) den kritisierten Subjekten als Teilnehmerin desselben gesellschaftlichen Problemzusammenhangs begegnet, kann sie ihre Ergebnisse nie zweifelsfrei anhand externer Kriterien belegen. Das verleiht ihren Deutungen selbst einen performativen Charakter: »Weil sich kritische Theorie eben nicht auf kontexttranszendierende Maßstäbe berufen kann, bleibt ihr nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass ihre Neubeschreibung der sozialen Welt andere überzeugt« (Bonacker 2008: 65). In diesem Sinne zielt Ideologiekritik immer auch auf eine praktische (kognitive) Veränderung der gedeuteten sozialen Welt. Diese interventionistische Ausrichtung kritischer Theorie ist aber nicht allein durch politische Überzeugungen der Kritiker*innen begründet, sondern auch durch die methodologischen Anforderungen sozialwissenschaftlicher Kritik überhaupt (Giddens 1986: XXXV; Boltanski 2010: 26).

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1.3 Ideologiekritik zwischen Deutung und Strukturerklärung Die deutende Praxis der Ideologiekritik ist, folgt man Adornos Konzeption, auf die »unreglementierten Erfahrung« und »spontane[n] Rezeptivität« (Adorno 1993a: 69) der Erkenntnissubjekte angewiesen. Sie bedarf eines »Sinn[s] für das […], was an jedem sozialen Phänomen aufleuchtet« (ebd.: 42), nicht nur für das, als was soziale Phänomene unmittelbar identifizierbar sind. Ideologiekritische Forschung nutzt diesem Modell zufolge die »Phantasie des Empirikers als Fähigkeit zum Durchbruch durch verdinglichte Gehalte« (Ritsert 1983: 228). Diese Überwindung von Verdinglichung zielt auf die Beschreibung eines bisher verdeckten Zusammenhangs, eines »brüchige[n] Insgesamt der zu interpretierenden Phänomene« (Bonß 1983: 223). Solche »Totalitätsempirie« (Bonß 1982: 223) verbindet die detaillierte Beschreibung partikularer, scheinbar belangloser Phänomene mit dem Blick auf gesamtgesellschaftliche Strukturprinzipien: »Deuten heißt primär: an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden.« (Adorno 1993a: 42). Der Totalitätsbegriff bezeichnet in den Arbeiten Adornos und Horkheimers oft ein unentrinnbares, alle Lebensbereiche umspannendes Zwangsverhältnis, etwa in Form des »allherrschenden Identitätsprinzip[s]« der vom Warentausch durchdrungenen Gesellschaft (Adorno 2003b: 11), oder des »Schematismus der Kulturindustrie« (Horkheimer/Adorno 2004 [1944]: 176). Aus methodologischer Sicht darf der Totalitätsbegriff aber nicht so verstanden werden, als beschreibe er einfach ein deterministisch geschlossenes soziales System. Totalität ist nicht die Summe aller gesellschaftlichen Zwangszusammenhänge, sondern nimmt zugleich das Verhältnis von erkennendem Subjekt und gesellschaftlichem Objekt in sich auf: Das »gesellschaftliche Geflecht« ist »kaum nach szientifischen Vorschriften« zu erfassen (Adorno 1993a: 18), sondern immer nur vermittelt durch subjektive Erfahrung, die sich des Instrumentariums standardisierter empirischer Forschungsmethoden bedient, aber auch über diese hinausweist (Habermas 1993: 159). Dementsprechend ist Totalität nicht einfach ein Gegenstand der Sozialforschung, der prinzipiell abschließend und vollständig dargestellt werden könnte, sondern der Totalitätsbegriff dient als Heuristik und sensibilisierendes Konzept (Kelle/Kluge 2008: 28) bei der Deutung von Einzelphänomenen, deren Einbindung in zunächst verdeckte gesellschaftliche Strukturen und Prozesse durch »Übertreibung« erschlossen wird (Honneth 2000: 86). Trotz dieser starken heuristischen Annahmen sollte das interpre-

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tative Vorgehen der Ideologiekritik aber nicht als subsumtionslogisches missverstanden werden. Im Gegensatz zu klassisch-hermeneutischen Deutungskonzepten, wie sie Dilthey und Schleiermacher geprägt haben, ist die Deutung der Kritischen Theorie nicht auf einen »eigentlichen« oder »ursprünglichen« Sinn »hinter« dem Schleier der Erscheinungen gerichtet (Jay 1982: 73). Vielmehr zielt das Erschließen verdeckter falscher Totalität auf blitzartige Einblicke in eine ebenfalls verdeckte, bessere Wirklichkeit, die gerade nicht in gesellschaftlicher Totalität aufginge. Kritische Theorie hat nicht die vollständige Darstellung gesellschaftlicher Totalität zum Ziel, sondern ihre Auflösung (ebd.: 83; Adorno 1993a: 19). Aber die ideologiekritische Methode beschränkt sich keineswegs auf ein hermeneutisch-interpretatives Vorgehen. Vielmehr sind ideologiekritische Deutungen gerade qua ihres Totalitätsbezugs auch an funktionalistische oder kausalanalytische Erklärungsmodelle gebunden. Sie verbinden »die verstehende Methode […] mit den vergegenständlichenden Prozeduren kausalanalytischer Wissenschaft« und lassen »beide in wechselseitig sich überbietender Kritik zu ihrem Rechte kommen« (Habermas 1993: 165). Die aus der exemplarischen Analyse von Einzelphänomenen gewonnenen Interpretationen sollen nicht nur die »Chiffren« alltäglicher Faktenbeobachtungen lesbar machen, sondern auch »die Strukturen aufdecken, welche die Fakten bedingen« (Adorno zitiert nach Bonß 1983: 204f.). Dieser Anspruch, mit der Neuinterpretation weltanschaulicher Phänomene zugleich auch eine Erklärung für deren gesellschaftliche Genese zu entwickeln, ist ein Kernelement der Ideologietheorie seit Marx. Dieser ging davon aus, dass Sozialstruktur und Interaktionsformen, zu allererst die Teilung der Arbeit in geistige und materielle Tätigkeiten, das Denken der Menschen substanziell beeinflussen (Marx 2018: 105). Nicht zuletzt richtet sich die Marxsche Ideologiekritik somit gegen eine falsche Idealisierung von Ideologie als Ursache gesellschaftlicher Praxis (Stahl 2016: 241). Aber Ideologiekritik zielt nicht allein auf die Erklärung ideologischer Denk- und Wahrnehmungsmuster aus gesellschaftlicher Praxis, sondern beinhaltet zugleich auch die umgekehrte Kausalrichtung. Ideologie als Wirkursache hat den Effekt, dass herrschende gesellschaftliche Verhältnisse als alternativlos erscheinen, und leistet dadurch einen praktischen Beitrag zu deren Stabilisierung. Analytisch ließe sich diese doppelte Kausalhypothese des Ideologiebegriffs in zwei Komponenten aufteilen: Zum einen kann Ideologie als Effekt gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse aufgefasst werden und fungiert dann als abhängige Variable sozialwissenschaftlicher

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Erklärungsmodelle. Zum anderen kann Ideologie selbst als Ursache aufgefasst und als unabhängige Variable zur Erklärung von Handlungsmustern oder Strukturphänomenen herangezogen werden. In marxistisch orientierter Theoriebildung wird diese Trennung allerdings selten vorgenommen, da hier i.d.R. vor allem der dialektische Wechselbezug beider Aspekte veranschaulicht werden soll (Eagleton 2000: 112): Ideologie ist weder zuerst im Denken der Menschen, und zeitigt von dort aus praktische Wirkungen, noch ist sie eine Tätigkeit oder Sozialstruktur, die unabhängig vom Denken der Menschen begriffen und dann als Ursache für dieses Denken beschrieben werden könnte. Eine methodologische Grundlage dieser Verknüpfung deutend-verstehender und kausal-erklärender Elemente für die empirische Forschung ist von marxistisch-ideologiekritischen Autor*innen aber kaum jemals systematisch ausgearbeitet worden (Bonß 1983: 216f.; Bonß/Schindler 1982). Zugleich finden sich aber gerade in den Arbeiten Adornos vielfältige Verweise auf die Bedeutsamkeit einer engen Verknüpfung von »Tatsachen- und Totalitätserfahrung« (Bonß 1982: 9) und der dazu notwendigen systematischen Verbindung von präzisen sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden und »unreglementierter Erfahrung«. Denn der deutend-interpretative »Sinn für das […], was an jedem sozialen Phänomen aufleuchtet« bedarf in Adornos Konzeption durchaus eines disziplinierenden Gegengewichts, um zum Ausgangspunkt theoretischer Erkenntnis werden zu können: »Seine Disziplin [i.e. die des deutenden Sinns der Forscher*innen, F.K.] bedarf ebenso gesteigerter Genauigkeit empirischer Beobachtung wie der Kraft der Theorie, welche die Deutung inspiriert und an ihr sich wandelt« (Adorno 1993a: 43). Diese Verbindung einzelwissenschaftlicher Präzision und philosophischer Interpretation klingt auch im Konzept der »exakte[n] Phantasie« (Adorno 1973: 342) in Adornos Frühwerk bereits an.

1.4 Ideologie als konstellativer Begriff Das Denken in Konstellationen ist ein zentraler Bezugspunkt der kritischen Theorie Adornos. Ausgangspunkt hierfür ist die wissenschafts- und zugleich gesellschaftstheoretische Krisendiagnose, dass der idealistisch-aufklärerische Anspruch einer umfassenden Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit nicht einzulösen ist (Jay 1982: 72), da diese nur noch »in Spuren und Trüm-

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mern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten« (Adorno zitiert nach Bonß 1983: 203). Gerade die fortschreitende Verbreitung des Rationalitätsprinzips führt demnach dazu, dass sich die moderne Gesellschaft nicht mehr idealistisch aus subjektiver Vernunft erklären lässt, sondern »als ein dem Subjekt äußerlicher, quasi naturhafter Zwang« erscheint, »der herrscht, ohne gewollt werden zu können« (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser gesellschafts- und erkenntnistheoretischen Fundamentalkritik, geht Adorno davon aus, dass wissenschaftliche Erkenntnis, sofern sie an der Idee der Vernunft noch festhalten, aber auch den gesellschaftlichen Umständen Rechnung tragen will, »sich der Zersplitterung anpassen« muss (ebd.: 204). Sie verfährt demnach als »negative Spurensicherung«, in der gesellschaftliche Phänomene als »Ausdruck einer widersprüchlichen Einheit von möglicher Vernunft und faktischer Unvernunft« gedeutet werden (ebd.). Solche deutende Sozialphilosophie muss sich auf die Analyse von »Modelle[n]«, d.h. exemplarischen Einzelphänomenen und »Problemkomplexe[n]« verlegen, an denen sich Züge der Totalität erkennen lassen (Adorno 2006: 254). Dabei kommt es Adorno zufolge entscheidend darauf an, die beobachteten Modelle in ihrer Konstellation zu betrachten, d.h. in ihrem Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen. Ebenso, wie sich die »widersprüchliche Allgemeinheit« nur deutend »im Besonderen« erkennen lässt (Bonß 1983: 204), bekommen die besonderen Einzelbeobachtungen ihre modellhafte Bedeutung nur durch die Konstellation, in der sie stehen. Als Vorbild für eine solche konstellative Methodologie dient Adorno ein sprach- und bedeutungstheoretisches Modell: »Sie [i.e. die Sprache, F.K.] bietet kein bloßes Zeichensystem für Erkenntnisfunktionen. Wo sie wesentlich als Sprache auftritt, Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe. Ihre Objektivität verschafft sie ihnen durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine Sache, setzt. Damit dient sie der Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken.« (Adorno 2003c: 164)

Diese Methode beschränkt sich aber keineswegs allein auf den Bereich der Philosophie, sondern lässt sich auch auf sozialwissenschaftliche Forschung übertragen. So führt Adorno Max Webers Kapitalismusanalyse als Beispiel für ein konstellatives Vorgehen in der Soziologie an, das anstelle einer Nominaldefinition darauf ziele, »durch die Versammlung von Begriffen um den gesuchten zentralen auszudrücken, worauf er geht« (ebd.: 168). Der »Geist des Kapitalismus« könne Weber zufolge nicht vor der empirischen Analyse definiert werden, sondern erlange als Begriff seine Bedeutung erst

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aus dem Zusammenspiel der historisch untersuchten Teilphänomene (vor allem der religiösen Dogmen des Calvinismus und ihrer Wirkung). Nach diesem Muster lässt sich auch Ideologie als konstellativer Begriff verstehen, als Verhältnisbestimmung sozialphilosophisch kritischer, kulturtheoretisch hermeneutischer und sozialstrukturell erklärender Analyseperspektiven. Dem entspricht auf empirisch-gegenständlicher Seite eine Konstellation unterschiedlicher sozialer Phänomene: individuelle Überzeugungen und Wahrnehmungsmuster, alltägliche Interaktionsroutinen, Symbol- und Sprachgebräuche, bis hin zu Statusunterschieden, Ressourcenverteilungen und Machtverhältnissen. Das bedeutet nicht, dass jede angemessene Verwendung des Ideologiebegriffs alle diese Gegenstandsbereiche und Analyseperspektiven berücksichtigen muss. Dem Konstellationsbegriff der deutenden »Totalitätsempirie« geht es ja gerade nicht um Vollständigkeit. Dies gilt erst recht für empirische Arbeiten, die allein aus forschungspraktischen Gründen auf jeden Vollständigkeitsanspruch bei der Operationalisierung von Ideologie verzichten müssen. Und doch entfaltet der Ideologiebegriff erst dort seine spezifische Produktivität, wo dessen verschiedene Aspekte miteinander verknüpft werden. Die konstellative Methodologie der Kritischen Theorie weist zudem eine wissenschaftsorganisatorische Dimension auf, die sich am deutlichsten wohl in Max Horkheimers frühem Programm eines »interdisziplinären Materialismus« zeigt. Dieser überträgt die Krisendiagnose einer »zersplitterten« Wirklichkeit auf den Zustand der Einzelwissenschaften (Bonß/Schindler 1982). Demnach ist die »bürgerliche« Wissenschaft gekennzeichnet durch eine Krise ihres gesellschaftlichen Anwendungsbezugs einerseits, d.h. ihre Anwendung »steht in furchtbarem Mißverhältnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und zu den wirklichen Bedürfnissen der Menschen« (Horkheimer zitiert nach ebd.: 35) sowie durch eine »immanente« Krise des Wahrheitsbezugs, die sich in ergebnislosen Methodendebatten sowie der Aufteilung von Inhalt und Methode beziehungsweise empirischer Forschung und Theorie äußert (ebd.). Auch die marxistische Wissenschaft weist Horkheimer zufolge problematische Tendenzen zur Lagerbildung sowie zur »Dogmatisierung und Entdifferenzierung« auf, während zugleich ihre Kapitalismusanalyse keine befriedigende Antwort auf das »Theorie-Praxis-Problem« der zunehmenden Integration der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Betrieb bei gleichzeitigem Anwachsen reaktionärer politischer Einstellungen findet (ebd.: 46).

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Horkheimers Programmentwurf besteht nun in dem Versuch, beide Krisenphänomene in einem umfassenden Lösungsansatz gleichzeitig zu bearbeiten: Die Krise des Marxismus durch eine systematische, interdisziplinäre Nutzung wissenschaftlicher Forschungsansätze zu überwinden, die zugleich die Zersplitterung der »bürgerlichen« Wissenschaften aufhebt. Nach diesem Programm sollte das Frankfurter Institut für Sozialforschung »Untersuchungen […] organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen«, um gemeinsam »ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen anhand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen« (Horkheimer zitiert nach Bonß/Schindler 1982: 49). Dieses Modell der Reintegration von Sozialphilosophie und Sozialforschung, so argumentieren Bonß und Schindler, scheiterte Ende der 1930er Jahre nicht nur an den Nöten und Zwängen der Emigration, sondern auch an seiner unzureichenden methodologischen Reflexion, vor allem seinem »›naiven‹ Interdisziplinaritätsbegriff« (ebd.: 57). Dieser litt wesentlich an einer »Ausblendung der einzelwissenschaftlichen Gegenstandskonstitution«, was zu einer Unterschätzung der methodologischen und forschungspolitischen Hindernisse bei der Integration unterschiedlicher Fachdisziplinen führte (ebd.). Und auch die Forschungspraxis der Frankfurter Schule der 1940er und 50er Jahre blieb, trotz diverser, teilweise breit rezipierter empirischer Arbeiten (Wiggershaus 1989: 735ff.), und der beim Wiederaufbau des Instituts für Sozialforschung zunächst angestrebten Fortführung des Forschungsprogramms der 1930er (Dahms 1992: 125), hinter den Ansprüchen des »interdisziplinären Materialismus« zurück. So beschränkten sich etwa die Studien zu Autoritarismus oder dem Bewusstsein von Arbeiter*innen und Student*innen weitgehend auf eine sozialpsychologische beziehungsweise industriesoziologische Perspektive, ohne die früheren Ansprüche an Interdisziplinarität und sozialtheoretische Integration einzulösen. Viele der empirischen Arbeiten behielten zudem einen vorläufigen, vorstudienhaften Charakter, an den innerhalb des Frankfurter Instituts kaum systematisch mit weiterer Forschung angeknüpft wurde (Bonß 1982: 222). Hierbei spielten allerdings wiederum auch (wissenschafts-)politische Gründe eine Rolle, insbesondere die Widerstände und »restaurative[n] Tendenzen«, mit denen Proponenten der Kritischen Theorie sich im Nachkriegsdeutschland bei ihren sozialwissenschaftlichen Kolleg*innen konfrontiert sahen (Dahms 1992: 130ff.).

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2. Die empirische Erfassung von Ideologien mit MMMR-Designs Wie in den vorigen Abschnitten dargestellt, ist Ideologiekritik in ihren verschiedenen Spielarten, insbesondere aber in der Frankfurter Schule, eng mit einer multiperspektivisch-konstellativen Forschungslogik verknüpft. Wenngleich das Modell eines »interdisziplinären Materialismus« im Rahmen der Frankfurter Kritischen Theorie nicht zuletzt auch aufgrund konzeptioneller Schwachstellen nie systematisch umgesetzt wurde, bleibt doch die Bedeutung einer konstellativen, interdisziplinären Methodologie für die Ideologiekritik bestehen. Im Folgenden möchte ich einige Argumente dafür entwickeln, dass der über die letzten zwei Jahrzehnte etablierte Mixed Methods und Multimethod Diskurs einen wichtigen Beitrag zur Aktualisierung der Ideen einer konstellativen und interdisziplinären Ideologiekritik leisten könnte. Hierzu werde ich einige aufschlussreiche Ähnlichkeiten zwischen den Kernannahmen und Positionen des MMMR-Diskurses und der Konzeption und Methodologie der Ideologiekritik aufzeigen, angefangen mit der Übereinstimmung im konstellativen Charakter beider Methodologien (Abschnitt 2.1). Weitere Gemeinsamkeiten lassen sich in Bezug auf die Bedeutung einer »erschließenden«, auf Rekombination und (Methoden-)Innovation gerichteten Methodik (2.2), sowie hinsichtlich des Wechselverhältnisses von makround mikrosoziologischen Analyseperspektiven (2.3) und des Verständnisses sozialwissenschaftlicher Kausalanalyse zeigen (2.4).

2.1 Der konstellative Charakter von MMMR Angesichts der facettenreichen Struktur des Ideologiebegriffs stellt sich die Frage, wie dieser sinnvoll in empirische Forschung übersetzt werden kann. Tatsächlich ist die Erfassung komplexer Forschungsgegenstände im MMMR-Diskurs schon früh als ein Kernelement methodenintegrativer Forschung aufgegriffen worden: »The advantage of mixed method designs is that they allow the researcher to maintain the complexity of the phenomena within the research project. The splicing of reality to convert phenomena into researchable chunks is minimized.« (Morse 2010: 350).

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MMMR-Designs versprechen demnach die Erschließung von »understandings that are broader, deeper, more inclusive, and that more centrally honor the complexity and contingency of human phenomena« (Greene 2007: 98). Dies bezieht sich nicht nur auf eine breiter angelegte Sammlung empirischer Wissensbausteine, sondern »characteristic of contemporary MMR is an emphasis on diversity at all levels of the research enterprise, from the broader, more conceptual dimensions to the narrower, more empirical ones« (Teddlie/Tashakkori 2010: 9). Diese Diversitätsorientierung methodenintegrativer Forschung beinhaltet dabei dezidiert auch den Umgang mit divergierenden und widersprüchlichen Teilergebnissen, die Anlass sowohl zur kritischen Prüfung der empirischen Forschungsinstrumente, als auch zur Revision der theoretischen Rahmenkonzepte geben können (Kelle/Erzberger 1999; Erzberger/ Kelle 2003). Dabei wird in der MMMR-Literatur betont, dass die Integration unterschiedlicher Forschungsmethoden und Datentypen in jedem Fall – sei es bei Konvergenz, Komplementarität, oder Divergenz von Teilergebnissen – einen interpretativen Akt darstellt, dessen »meta-inferences« (Teddlie/ Tashakkori 2009: 300) sich nicht restlos auf die einzelnen Komponenten zurückführen lassen. Methodenintegration erscheint damit, ähnlich dem konstellativen Ideologiebegriff, als eine grundlegend interpretative Praxis, die quantitative und qualitative Elemente zueinander ins Verhältnis setzt (Bazeley 2018: 55ff.). Diese »1+1=3 Integration Challenge« (Fetters/ Freshwater 2015) begleitet den MMMR-Diskurs seit seinen Anfängen und wird nach wie vor kontrovers diskutiert (Uprichard/Dawney 2019), wobei die Entwicklung angemessener Rahmenkonzepte und Heuristiken eine wichtige Rolle einnimmt (Bazeley/Kemp 2012; Lynam u.a. 2019). Während einige Autor*innen die Entwicklung und Anwendung von StandardDesigns, d.h. Grundtypen der Kombination qualitativer und quantitativer Methoden zum Angelpunkt gelingender Methodenintegration machen (Morse 2010; Creswell/Plano Clark 2011), betonen andere das reziproke Verhältnis qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden sowie die Unschärfe der Qual-Quant-Unterscheidung und nehmen dies zum Anlass, die Grenzen von Design-Typologien hervorzuheben (Pearce 2015; Hammersley 2002). Anstelle vorgefertigter Standarddesigns schlagen sie ein flexibleres Vorgehen vor, in dem die Integration verschiedener Forschungsansätze als »focused conversation« (Bazeley 2018: 61) aufgefasst und die »actual relationships among all of the components of a study« berücksichtigt

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werden (Maxwell u.a. 2015: 223), d.h. neben Methoden der Datenerhebung und –analyse auch der theoretische Rahmen, die Ziele und Zwecke sowie Validierungsstrategien eines Projektes (Maxwell/Loomis 2003: 245). Unabhängig davon, ob bei der Bewältigung der »Integration Challenge« der Fokus auf strukturierte Designformate oder auf ein flexibles, gegenstandsorientiertes Arrangement von Komponenten gelegt wird – beide Perspektiven schließen sich übrigens keineswegs aus (Maxwell/Loomis 2003: 243) –, lässt sich grundsätzlich ein konstellativer Charakter von MMMR-Designs feststellen. In ihren Grundzügen weist die Methodologie methodenintegrativer Forschung damit ausgeprägte Ähnlichkeiten zu der ideologiekritischer Ansätze auf. So wie der Ideologiebegriff nicht auf die Identifikation eines Einzelphänomens, sondern auf das Zusammenwirken verschiedener Teilphänomene zielt, bezeichnet MMMR nicht eine spezifische Methode, sondern das Arrangieren verschiedener methodischer Zugänge in wechselseitiger Komplementarität. In beiden Fällen folgt zudem das Arrangement der Teilelemente nicht dem Modell des Puzzles, in dem die richtige Zusammensetzung durch die Form der Teile vorgegeben wäre, sondern erfordert einen interpretativen Akt, der den Gegenstand auch mit konstituiert und in neuer Weise erschließt. Ähnlich, wie in Adornos Modell philosophischer Erkenntnis die bessere Annäherung an den Gegenstand durch »unrestringierte Erfahrung« gerade ein »mehr an Subjekt« und eine deutend-konstellative Modellbildung erfordert (Wiggershaus 2000: 70), setzt methodenintegrative Forschung, statt nach der »wahren Methode« zu fragen, auf ein pluralistisches Beobachtungsinstrumentarium und Gegenstandsverständnis.

2.2 MMMR zur Erschließung neuer Forschungsperspektiven Die Entwicklung innovativer Forschungsperspektiven sowie das NeuArrangieren etablierter Methodentraditionen gehört zu den Hauptanliegen der Mixed-Methods-Bewegung. Seit deren Anfängen beschreiben Autor*innen ein »creative and at times even playful meshing« von Forschungsansätzen, mit dem Ziel »to encourage serendipity and openness to new ideas«, als Kernanliegen methodenintegrativer Forschung (Brewer/Hunter 2006: 69). Neben Argumenten, die auf eine validere Erfassung empirischer Phänomene zielen, wird dieses Innovationspotential häufig als Hauptzweck von MMMR genannt, »as a catalyst of sorts facilitating both innovation in

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scientific practice and a new way of thinking about what knowledge of social phenomenon entails« (Schwandt/Lichty 2015: 592). Ausgehend von der Annahme einer gewissen Wahlverwandtschaft zwischen Forschungsmethoden und Disziplinen beziehungsweise Forschungsfeldern (zum Beispiel Experimentaldesigns in der Psychologie, teilnehmende Beobachtung in der Ethnologie, Surveys in der politischen Einstellungsforschung, etc.), gewinnt die Kombination unterschiedlicher Methoden auch eine interdisziplinäre Dimension (Hesse-Biber/Johnson 2013: 105). Die Verbindung unterschiedlicher Methoden impliziert häufig zugleich eine Verknüpfung verschiedener Theorieperspektiven und vice versa. Schwandt und Lichty argumentieren, dass, wenngleich MMMR-Designs auch innerhalb einzelner Forschungsfelder einen praktischen Nutzen haben, die interdisziplinäre Orientierung zu den vielversprechendsten Potentialen methodenintegrativer Forschung zählt (Schwandt/Lichty 2015: 588ff.). In dieser Perspektive hat die Forschungsfrage in MMMR-Designs Vorrang nicht nur vor etablierten Methodentraditionen, sondern auch vor der fachdisziplinären Verortung eines Projektes. Die Realisierung des innovativen Potentials von MMMR ist dabei nicht zuletzt von einer gelingenden Organisation interdisziplinärer Forscher*innenteams abhängig. So betonen Fathali Moghaddam und Kollegen die Wichtigkeit einer interkulturellen Perspektive auf die MMMR-Forschungspraxis: Methodenintegrative Forschung stelle nicht nur hinsichtlich der Interaktion mit den beforschten Personen und Gruppen, sondern auch bei der Verständigung innerhalb heterogener Forscher*innenteams eine Form interkultureller Kommunikation dar und bedürfe einer diversitätssensiblen Übersetzungsarbeit zwischen den kombinierten Fachperspektiven (Moghaddam u.a. 2003). Zugleich befasst sich eine ausgeprägte Teilströmung innerhalb des MMMR-Diskurses mit methodenintegrativen Designs im Rahmen transformativ-emanzipativer Forschung, meist aus feministischer und postkolonialer Perspektive, und wendet sich von dieser Seite Fragen der Diversität und des Perspektivenpluralismus zu. Im Oxford Handbook of Multimethod and Mixed Methods Research Inquiry (Hesse-Biber/Johnson 2015) behandeln insgesamt sieben Artikel feministische, transformative und partizipative Forschungsperspektiven. Im SAGE Handbook of Mixed Methods in Social and Behavioral Research (Tashakkori/Teddlie 2010) fallen immerhin zwei Beiträge in dieses Themenfeld. In diesen MMMR-Ansätzen steht der Zusammenhang zwischen Wissen und Macht im Fokus, und zwar sowohl im Hinblick auf all-

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tagsweltliche Prozesse, sowie im reflexiven Bezug auf die Formen der wissenschaftlichen Wissensproduktion selbst: »Who gets to carve out and determine what knowledge becomes legitimated? To what extent does male bias exist in this process, such that the diversity of women’s experiences and other oppressed groups are not included?« (Hesse-Biber 2012: 138)

Sharlene Hesse-Biber beschreibt die Methodologie emanzipatorisch-transformativer MMMR-Ansätze als Variante des Triangulationskonzeptes, in der nicht der Aspekt der Validierung, sondern der Perspektivenpluralität hervorgehoben wird (ebd.: 137). Unterschiedliche Materialarten und Analyseverfahren würden hier genutzt, um die Vielstimmigkeit der untersuchten Gruppen hörbar zu machen, die durch eine auf Reduktion von Messfehlern und Eindeutigkeit von Ergebnissen zielende Methodologie überblendet zu werden drohte. Wenngleich kritisch angemerkt werden muss, dass dieses Verständnis von Triangulation mit einer problematischen Dichotomie von Validierung vs. Perspektivenpluralismus operiert1, heben transformative Ansätze insgesamt doch zu Recht die Bedeutung des erschließenden, konstellativ-pluralistischen Potentials von MMMR-Designs hervor. Durch ihre Verknüpfung von methodologischen mit Macht- und Herrschaftsfragen schaffen sie zugleich einen wichtigen Anknüpfungspunkt zu ideologiekritischer Forschung. Wenngleich der Ideologiebegriff in der transformativ-emanzipatorisch orientierten MMMR-Literatur bislang kaum Anwendung findet, weisen transformative MMMR-Ansätze doch erhebliche Ähnlichkeit mit der progressiven beziehungsweise Kommunikationsbarrieren problematisierenden Ausrichtung von Ideologiekritik auf. Sie teilen zudem viele der methodologischen Grundannahmen kritischer Theorie insofern sie auf eine gezielte Suche nach Divergenzen und Widersprüchen im untersuchten Material zielen: MMMR »evokes paradox, contradiction, divergence – all in the service of fresh insights, new perspectives, original understandings« (Greene 2007: 102). Weiterhin korrespondiert die interdisziplinäre Stoß-

—————— 1 Dieser vermeintliche Gegensatz ist in methodologischen Debatten um den Triangulationsbegriff unter Hinweis darauf kritisiert worden, dass sich die Validierung von Ergebnissen und die Diversität und Komplexität der dabei gewonnenen Erkenntnisse keinesfalls ausschließen (Hammersley 2008; Kelle 2008: 261). Vielmehr ist ein umfassenderes und komplexeres Bild eines Forschungsgegenstands oftmals eben auch ein valideres Bild. Und das Erkenntnispotential einer erweiterten, pluralistischen Forschungsperspektive ließe sich gänzlich ohne Rekurs auf die Validität der daraus gezogenen Schlussfolgerungen kaum begründen.

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richtung methodenintegrativer Forschung mit der Idee einer konstellativen Modellbildung, in der die Befunde unterschiedlicher einzelwissenschaftlicher Teildisziplinen zusammengeführt werden.

2.3 MMMR zwischen Generalisierung und Interpretation Das Verhältnis von individuellem Handeln und überindividuellen Strukturphänomenen gehört zu den Grundproblemen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und Empirie. Beide Aspekte bilden zunächst entgegengesetzte Analyseschwerpunkte, wobei der subjektorientierte Fokus die Freiheit und Wandelbarkeit individueller Handlungsvollzüge betont, während der strukturorientierte Ansatz auf die überindividuellen Rahmenbedingungen von Akteurshandeln zielt und dessen relative Stabilität hervorhebt. Jedoch handelt es sich bei der Unterscheidung von Individuum und Sozialstruktur nicht um ein dichotomes Gegensatzpaar, sondern um ein rekursives Verhältnis, das Anthony Giddens mit dem Konzept der »duality of structure« bezeichnet hat (Giddens 1986: 16ff.). Individuelle Handlungsvollzüge sind stets geprägt von intersubjektiv geteilten Normen und Interpretationsmustern, die subjektives Handeln überhaupt erst möglich machen, sowie von strukturellen Restriktionen, die die »Agency« der Akteur*innen beschränken. Soziale Strukturphänomene hingegen reproduzieren sich immer im Medium individuellen Handelns, das durch situative, mitunter kreative Regelanwendung geprägt ist und damit auch die Möglichkeit sozialen Wandels eröffnet (Giddens 1993: 84ff.). Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei der Bearbeitung dieses Problems verlaufen vielfach parallel mit der Unterscheidung von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden: Während quantitative Ansätze tendenziell überindividuelle Gemeinsamkeiten sozialen Handelns in den Fokus rücken und verallgemeinerbare Handlungsregeln mit mittlerer bis großer Reichweite untersuchen, betont qualitative Forschung oftmals die Flexibilität sozialer Praxen und konzentriert sich auf die kontextspezifische Beschreibung lokaler Interpretationsmuster und Subkulturen. Durch diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung gehen beide Forschungstraditionen mit jeweils spezifischen blinden Flecken beziehungsweise »Validitätsbedrohungen« einher (Kelle 2008: 226). Wo quantitative Analysen oftmals durch einen erheblichen Anteil »nicht kontrollierter Hermeneutik« gekennzeichnet sind (Hopf 1979: 20), vor allem in den oft vorausgesetzten aber nicht direkt

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beobachteten Interpretationen standardisierter Messinstrumente, gehen die Deutungen qualitativer Sozialforschung häufig mit Formen »nicht kontrollierter Generalisierung« einher, d.h. sie operieren mit theoretisch unterstellten aber ungeprüften Annahmen über die Geltungsreichweite und Wirkung beobachteter Phänomene (Hopf 1982: 315; Hammersley 1992: 85ff.). Die Mixed-Methods-Literatur weist darauf hin, dass diese Aufteilung bestenfalls forschungsorganisatorisch, nicht aber methodologisch oder gesellschaftstheoretisch zu rechtfertigen ist, wie es traditionelle Konzepte von »Erklären« und »Verstehen« beziehungsweise »nomothetischer« und »ideographischer« Wissenschaft behaupten (Kelle 2008: 276). Vielmehr stellen quantitativ-statistische und qualitativ-interpretative Forschungsperspektiven Varianten der Bearbeitung desselben sozialtheoretischen Grundproblems dar. Die »duality of structure« lässt sich weder zur Seite individueller Agency, noch zur Seite struktureller Determination hin auflösen, so dass sozialwissenschaftliche Theoriebildung qua der Struktur ihres Gegenstands immer mit beiden Anforderungen konfrontiert ist: der Interpretation lokalen Handlungssinns und der über einzelne Fälle hinausweisenden Erklärung sozialer Strukturen und Handlungsmuster. MMMR-Designs, so argumentieren diverse Autor*innen, können dazu beitragen, diese Doppelanforderung und die daraus resultierenden Validitätsbedrohungen monomethodischer Ansätze durch gezielte Methodenkombination zu kontrollieren (Erzberger/Kelle 2003; Kelle/Erzberger 1999). Vor dem Hintergrund dieses methodologischen Zusammenhangs wird zudem ein weiterer Anknüpfungspunkt zwischen MMMR und Ideologiekritik erkennbar: Da der Ideologiebegriff zentral auf die Problematisierung von Irrationalität und performativen Selbstwidersprüchen zielt, kann die Verknüpfung der Interpretation subjektiver Handlungsmotive mit einer Analyse der aggregierten, paradoxen Folgen sozialen Handelns ein wichtiger Bestandteil solcher Kritik sein. Und umgekehrt ist die Analyse typischer, allgemeiner Handlungsmuster und –Restriktionen oft ein wichtiges Element der deutenden »Dechiffrierung« lokaler Einzelphänomene.

2.4 MMMR zwischen Kausalanalyse und Interpretation Die oben diskutierte Unterscheidung von Interpretation und Strukturerklärung ist im methodologischen Diskurs eng verknüpft mit derjenigen zwischen qualitativ-interpretativer Beschreibung und quantitativ-statistischer

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Kausalerklärung. Erstere verzichtet oft auf die Identifikation von Wirkursachen oder lehnt eine auf allgemeine kausale Regelmäßigkeiten zielende Analyseperspektive überhaupt ab (Donmoyer 2012). Dies ist zumindest teilweise darin begründet, dass sich die Methoden einer reflexiv-teilnehmenden, auf lokale und situative Besonderheiten fokussierten Empirie mit den Prinzipien der Kontrolle von Drittvariablen oder gar einer experimentellen Manipulation von Kausalfaktoren nur schwer vereinbaren lassen. Demgegenüber wird das Erkenntnisziel quantitativer Forschung vielfach nahezu ausschließlich mit der Modellierung und Prüfung von Kausalerklärungen gleichgesetzt, was wiederum mit einer gewissen Geringschätzung von deskriptiven und korrelativen Methoden (Gerring 2012) sowie einer großen Bereitschaft zur Vernachlässigung beziehungsweise Kontrolle bereichsspezifischer Heterogenität im Untersuchungsgegenstand einhergeht. Auch hier haben Autor*innen, die sich mit den Möglichkeiten von Methodenintegration befassen, vielfach auf die Problematik einer schematischen Gegenüberstellung zwischen Deskription beziehungsweise Interpretation und Kausalerklärung, sowie auf die Potentiale einer beide Perspektiven verknüpfenden Methodologie hingewiesen (Maxwell/Mittapalli 2010; Kelle 2008). Eine zentrale Rolle spielen hierbei alternative Konzeptionen von Kausalität, die der statistischen beziehungsweise regularitätstheoretischen Ansätzen eine auf den Ablauf und die Struktur kausaler Prozesse fokussierte Perspektive gegenüberstellen. Die Auseinandersetzung mit Kausalität in der MMMR-Literatur zielt zudem oft auf die Verknüpfung unterschiedlicher Kausalitätskonzeptionen, wofür Johnson und Kolleginnen den Begriff des »causal mosaic« vorgeschlagen haben (Johnson u.a. 2019; Howe 2011; Mahoney 2008; Tacq 2011). Eine zentrale Argumentationsgrundlage bildet auch hier die Kritik der klassischen Unterscheidung von »Erklären« und »Verstehen« als entgegengesetzten Modi wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung (Kelle 2008: 267; Howe 2011: 167). Entscheidend ist dabei die Rolle von subjektiven Handlungsintentionen und normativen Institutionen für sozialwissenschaftliche Kausalmodelle (Kelle 2008: 112ff.): Handlungserklärungen können nicht von einer unmittelbaren, äußerlichen Wirkung kausaler Faktoren ausgehen, sondern müssen deren Vermittlung über die Wahrnehmungs- und Interpretationsleistungen der Akteure in Betracht ziehen, die deren Handlungsintentionen begründen. Integrative Ansätze sozialwissenschaftlicher Erklärung betonen nun unter Rückgriff auf die Unterscheidung von »natural« und »intentional causation« (Howe 2011), dass Intentionen durchaus als kausale

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Ursachen modelliert werden können, diese Form von Kausalerklärungen aber mit bestimmten Herausforderungen einhergeht. Hierzu gehört insbesondere der Umgang mit der prinzipiellen Kontingenz und Kontextabhängigkeit der Wahrnehmungsmuster, Wissensbestände und Bedürfnisstrukturen von Alltagsakteuren, der eine Kombination qualitativ-explorativer beziehungsweise sinndeutender und quantitativ-standardisierter Verfahren als besonders wichtig erscheinen lässt (Kelle 2008: 268). Während die Stärke quantitativer Verfahren darin liegt, mittels relativ großer Fallzahlen und standardisierten Vergleichsdimensionen auch »›partielle‹ beziehungsweise ›schwache‹ Kausaleinflüsse« (ebd.: 282) aufzudecken, können mithilfe qualitativer Verfahren lokal situierte »Handlungsregeln entdeckt und damit ›generative Prozesse‹ identifiziert« (ebd.: 284) werden, die bei alleinigem Vertrauen auf das Vorwissen der Forscher*innen unentdeckt blieben oder fehlinterpretiert würden. Auf die Untersuchung »generativer Prozesse« in der Kausalanalyse zielt auch eine andere bedeutsame Teilströmung des MMMR-Diskurses, die sich um die von Charles Ragin vorgeschlagene Methode der »Qualitative Comparative Analysis« entwickelt hat (Buche/Siewert 2015). Ausgehend von einer Kritik der variablenorientierten Methode statistischer Kausalanalysen (Goertz/Mahoney 2012: 88), steht hier ein mechanistisches beziehungsweise prozessorientiertes Kausalitätsverständnis im Fokus, das den detaillierten empirischen Nachvollzug der Verkettung kausaler Ursachen und Wirkungen, d.h. des »Wie« kausaler Phänomene, hervorhebt (Goertz 2017: 30ff.). Auch die Verfechter*innen dieser Spielart methodenintegrativer Forschung argumentieren für eine integrative Perspektive, in der qualitativ-fallorientierte sowie quantitativ-fallvergleichende Methoden kombiniert werden (Mahoney 2008; Buche/Siewert 2015: 401). Auf ähnliche Weise, jedoch vor dem Hintergrund eines anderen Verständnisses qualitativer Forschung, argumentiert Joseph Maxwell für eine stärkere Prozessorientierung in der methodenintegrativen Kausalanalyse (Maxwell 2012; Maxwell/Loomis 2003; Maxwell/Mittapalli 2010). Dabei sollen, durchaus ähnlich der set-theoretischen Konzeptionen, qualitative Methoden die Perspektive einer mechanistisch-fallorientierten »process theory« übernehmen, während quantitative Verfahren im Sinne einer variablenorientiert-statistischen »variance theory« verfahren (Maxwell/Loomis 2003: 248f.). Im Hinblick auf die empirische Erforschung von Ideologie fällt zunächst auf, dass MMMR-Ansätze auch hinsichtlich ihrer Kausalitätskonzeption

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eine integrative Perspektive einnehmen. Dies kann entweder in synthetisch-reduktionistischer Form geschehen, etwa wenn probabilistisch-statistische Kausalitätskonzepte auf mengentheoretische zurückgeführt werden (Mahoney 2008), oder aber in der pluralistisch-konstellativen Form eines »causal mosaic«. Diese integrative beziehungsweise konstellative Perspektive kommt der ideologietheoretischen Konzeption insofern entgegen, als hier wie dort eine Kombination aus detaillierter Beschreibung beziehungsweise kontextsensibler Interpretation und kausaler Erklärung angestrebt wird. Zudem lässt sich eine Korrespondenz zwischen dem ideologiekritischen Konzept der Verdinglichung und den Grundproblemen der Handlungserklärung beziehungsweise der »intentional causation« (Howe 2011) erkennen: Wo Ideologiekritik sich mit der Frage beschäftigt, wie das intentionale Handeln der Menschen zum quasi-natürlichen Zwang werden kann, »der herrscht, ohne gewollt werden zu können« (Bonß 1983: 203), ist die Methodologie sozialwissenschaftlicher Kausalanalyse mit dem Doppelcharakter sozialer Phänomene als Agency und Struktur konfrontiert, der in ihren Kausalanalysen berücksichtigt werden muss. Die Lösungsansätze, die sowohl von methodenintegrativer Methodologie, als auch von Kritischer Theorie favorisiert werden, zielen auf eine Verbindung (quasi-) natürlicher und intentionaler Analyseperspektiven. Sowohl ideologietheoretisch, als auch allgemein methodologisch erscheint der vielversprechendste Weg eine systematische Berücksichtigung der »Duality of Structure«.

3. Gegenwärtige Trends in der Erforschung von Ideologie Im Folgenden werde ich vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Parallelen zwischen Ideologiebegriff und MMMR die gegenwärtige empirische Forschungspraxis beleuchten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit der referierten Literatur zu erheben, lässt sich feststellen, dass es zwar aktuelle empirische Ideologieforschung gibt, diese sich aber in aller Regel kaum methodenintegrativer Designs bedient. Tut sie dies doch, dann üblicherweise ohne expliziten Bezug zum MMMR-Diskurs. Auf Seiten der MMMR-Literatur hingegen existieren zwar Ansätze, die sich explizit als Varianten einer emanzipatorisch-kritischen Sozialwissenschaft positionieren, sich jedoch kaum substanziell mit dem Konzept der Ideologie auseinandersetzen. Insgesamt entsteht so der Eindruck, dass die oben

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skizzierten Potentiale einer Verknüpfung von konstellativem Ideologiebegriff und methodenintegrativer Forschung bislang kaum genutzt werden. Die sozialpsychologische Forschung zu politischen Ideologien zählt aktuell zweifellos zu den produktivsten und international sichtbarsten Strängen der empirischen Ideologieforschung. Dies gilt insbesondere für die in den 1990er Jahren etablierten Konzepte der »system justification« (Jost u.a. 2009), der »social dominance orientation« (Pratto u.a. 2006) und des »right-wing authoritarianism« (Feldman 2003). Diese Theorieentwürfe knüpfen sämtlich an die frühe Autoritarismusforschung der Kritischen Theorie an, konzentrieren sich aber noch stärker als die Studien zum Autoritären Charakter auf individuelle Charaktermerkmale und Einstellungen. Unter Ideologie wird dabei zunächst eine »learned knowledge structure consisting of an interrelated network of beliefs, opinions, and values« verstanden (Jost u.a. 2009: 310), wobei die Inhalte ideologischer Konstrukte in der Regel auf ein politisches Rechts-Links-Schema beziehungsweise auf die im US-amerikanischen Kontext gebräuchliche Unterscheidung »liberal« vs. »conservative« eingegrenzt werden. Insofern aber an dieses reduzierte Ideologiekonstrukt mit der Prüfung mitunter komplexer Kausal- beziehungsweise Funktionshypothesen angeschlossen wird, trägt die sozialpsychologische Ideologieforschung durchaus auch dem konstellativen Charakter des Ideologiekonzepts Rechnung (vgl. zum Beispiel Sibley/Duckitt 2010). Dabei werden nicht nur individualpsychologische Merkmale als »bottom-up« Ursachen für ideologische Präferenzen herangezogen, sondern auch die »top-down« Wirkung diskursiver Strategien – zum Beispiel die Einflussnahme politischer Eliten – sowie die sozialen und politischen Effekte ideologischer Präferenzen untersucht (Jost u.a. 2009: 319). Zudem spielt in der »system justification theory« und der Theorie der »social dominance orientation« der Rechtfertigungscharakter von Ideologien eine zentrale Rolle. Ideologische Inhalte dienen demnach als »legitimising myth[s]« (Pratto u.a. 2006: 288) zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, und gerade diese Funktion begründet ihren ideologischen Charakter. Als »system justifying ideology« (Jost u.a. 2009: 325) erfüllen sie neben einer sozialen Stabilisierungsfunktion eine psychologische »Palliativfunktion«, indem sie Bedürfnisse nach epistemischer Klarheit, existenzieller Sicherheit und sozialer Zugehörigkeit befriedigen (ebd.: 317ff.). Der Versuch, ideologische Äußerungen durch unbewusste psychologische Motive ursächlich zu erklären, spiegelt zudem zumindest teilweise das

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ideologiekritische Motiv der Interpretation latenter Sinngehalte wider: »ideology can be thought of as having both a discursive (socially constructed) superstructure and a functional (or motivational) substructure« (Jost u.a. 2009: 315). Und auch das Motiv der normativen Ambivalenzen beziehungsweise performativen Widersprüche findet Berücksichtigung in der »system justification theory«. So erklärt diese etwa das Vorkommen systemstabilisierenden Einstellungen und positiver Bewertungen dominanter Outgroups bei Mitgliedern benachteiligter Gruppen damit, dass die palliativen Funktionen der Rechtfertigungsideologie das Interesse an mehr Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität innerhalb der Eigengruppe übertrumpfen (ebd.: 323). Angesichts dieser Häufung ideologiekritischer Motive geht Robin Celikates so weit, die System-Justification-Forschung als »eine Form rekonstruktiver Kritik« zu bezeichnen (Celikates 2009: 241). Sie biete eine klare Operationalisierung der »notorisch schwammigen Begriffe der Ideologie und des falschen Bewusstseins« und vermeide zudem »die Dogmen der Totalität und des Funktionalismus« (ebd.: 245). Da der Ansatz dabei »zugleich epistemische, funktionale, normative und genetische Aspekte« berücksichtige, trage er auch der »›Mehrdimensionalität‹ der Kritik« Rechnung, die für Kritische Theorie charakteristisch sei (ebd.: 247). Gerade hinsichtlich der beiden letztgenannten Aspekte, der Mehrdimensionalität der Kritik und der Vermeidung eines »Dogmas« der Totalität, scheint mir Celikates’ Vergleich der System-Justification-Forschung mit ideologiekritische Traditionslinien aber fragwürdig. Dies gilt vor allem im Hinblick auf deren empirisch-methodisches Vorgehen, das durch eine stark hypothetiko-deduktiv geprägte Forschungslogik sowie eine nahezu exklusive Verwendung quantitativ-statistischer Methoden (vor allem Surveys und Experimente) gekennzeichnet ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die Vermeidung des Totalitätsbegriffs – versteht man darunter, wie in Abschnitt 2.4. nahegelegt, ein heuristisches Konzept sozialwissenschaftlicher Modellbildung – weniger als Gewinn, denn als Schwäche des Ansatzes. Denn dieser entledigt sich mit den Ansprüchen der »Totalitätsempirie« zugleich der Idee einer »erschließenden Kritik«, die an vermeintlich vertrauten Gegenständen bislang unbekannte praktische Bedeutungen sichtbar machen soll. Kritik droht dann auf einen entlarvenden Modus reduziert zu werden, der zwar latente Funktionen hypothesenprüfend nachweisen kann, aber eben immer nur solche, die den Forscher*innen ohnehin schon bekannt sind. Eben dieses subsumtionslogische Moment wollte Adornos Totalitätsbegriff aber

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gerade vermeiden: Totalität steht nicht für einen prüfbaren Gesamtzusammenhang, sondern für eine kritisch-hinterfragende, gerade nach Brüchen im Vertrauten und Eingeschliffenen suchende Deutungspraxis. Und auch auf methodologischer Ebene kann die »Mehrdimensionalität« der sozialpsychologischen Ideologiekritik in Frage gestellt werden. Denn die Arbeiten von Jost, Pratto, Sidanius und anderen kombinieren zwar konzeptionell unterschiedliche Gegenstandsaspekte, etwa individuelle Motive und Bedürfnisse, ideologische Diskursinhalte und die soziale Wirkung von deren Verbreitung, sowie ein breites Spektrum von Theorietraditionen, über Theorien sozialer Identität bis hin zu evolutionärer Psychologie (Jost u.a. 2009: 319; Pratto u.a. 2006: 272). Aber in der empirischen Umsetzung dieser konzeptionellen Diversität kommen in aller Regel eben keine multiperspektivischen Designs zum Einsatz, sondern die Theoriekonzeption wird den Vorgaben der quasi alternativlos gesetzten Experimental- und Surveymethoden angepasst. Die Ausblendung methodenintegrativer Forschungsoptionen hat zur Folge, dass damit auch die in Abschnitt 3 dargelegten Potentiale zur Bearbeitung methodischer Probleme und Validitätsbedrohungen ignoriert werden, etwa der Einbezug hypothesengenerierend-interpretativer Empirie, die Berücksichtigung der lokalen Wissensbestände und Interpretationsmuster von Alltagsakteur*innen, oder die Erweiterung der Kausalanalyse durch prozessorientierte Perspektiven. In jüngeren Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zu »normativen Paradoxien« (Honneth/Sutterlüty 2011), finden sich ideologiekritische Forschungen, die einer methodenintegrativen Perspektive ein Stück näher kommen, wenngleich ohne expliziten Bezug auf MMMR-Diskurse. Das Konzept der normativen Paradoxie bezeichnet hier soziale Prozesse, in denen die Umsetzung von »Veränderungs- und Reformansprüchen, die nach allgemein geteiltem Verständnis einen Fortschritt gebracht haben, im Laufe der Zeit zu Ergebnissen führt, die dem Gehalt der ihnen zugrunde liegenden Normen widersprechen« (ebd.: 70). Als Beispiel können etwa Max Webers These der Entwicklung materiellen Reichtums aus religiöser Askese oder der in Kritischer Theorie vielfach beschriebene Umschlag aufklärerischer Rationalität in Mythos und Repression dienen. Insofern in solchen Prozessen trotz normativ gegenläufiger Ergebnisse die ursprünglichen »moralischen Ansprüche und Ideale ihre Geltung nicht verloren haben« und von den Akteur*innen nach wie vor vertreten werden, knüpft dieses Modell auch an die ideologie-kritische Methode der Dechiffrierung performativer Widersprüche an (ebd.: 73).

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Als Beispiel sei hier auf die Arbeiten von Ferdinand Sutterlüty und Sighard Neckel zu »Negative[n] Klassifikationen« und dem ideologischen Charakter ethnozentrischer Differenzkonstruktionen verwiesen (Neckel/ Sutterlüty 2005; Sutterlüty 2010). Mithilfe ethnographischer Methoden, in denen Verfahren teilnehmender Beobachtung, Dokumentenanalysen sowie Befragungsmethoden zum Einsatz kommen, arbeiten die Autoren die »paradoxale[n] Folgen ethnischer Gleichheit« heraus (Sutterlüty 2011). Demnach führt die Unterstützung egalitärer Normen durch die Mehrheitsgesellschaft zunächst zu einer verstärkten Zuwanderung und Integration von Minderheitengruppen. Da zugleich aber traditionelle Vorstellungen ethnischer Differenz beziehungsweise eines »ethnischen ›Verwandtschaftsglaubens‹« (Sutterlüty 2011: 111) bestehen bleiben, wird die durch die eigenen Gleichheitsauffassungen beförderte Zuwanderung tendenziell als ein »Zuviel« und letztendlich als Bedrohung wahrgenommen. Unter diesen Bedingungen führt die vom Ideal ethnischer Gleichheit beförderte Integration paradoxerweise zu mehr wahrgenommener Fremdheit sowie zu ethnozentrischer Anfeindung. Die Studie zu »negativen Klassifikationen« beruht maßgeblich auf qualitativ-empirischen Verfahren, insbesondere Dokumentenanalysen, Interviewgesprächen und teilnehmender Beobachtung. Wenngleich sich damit Ansätze eines methodenintegrativen Vorgehens zeigen, verbleibt der Fokus doch klar auf dem hypothesenentwickelnden, erschließenden Potential qualitativ-interpretativer Verfahren. Die bisher dargestellten Forschungsansätze nehmen damit zwar in theoretisch anspruchsvoller Weise auf den Ideologiebegriff, nicht aber auf die im MMMR-Diskurs diskutierten Potentiale methodenintegrativer Forschung Bezug. Spiegelbildlich dazu lässt sich in dezidiert multimethodischer Forschung beobachten, wie zwar die Möglichkeiten und Grenzen von MMMR thematisiert und forschungspraktisch nutzbar gemacht werden, aber die Verwendung des Ideologiebegriffs auf einem oberflächlichen Niveau verbleibt. Dies soll im Folgenden anhand einiger Beispiele aus der MMMR-Literatur veranschaulicht werden, in denen der Ideologiebegriff in vergleichsweise kursorischer Form gebraucht wird. Hierbei sind zunächst Arbeiten zu nennen, die die Problematik einer kultursensiblen und Dominanzverhältnisse reflektierenden Interaktion zwischen Forscher*innen und Angehörigen indigener und anderer Minderheitengruppen thematisieren (Chilisa/Tsheko 2014; Canales 2013). MixedMethods-Designs bieten demnach durch ihre Offenheit und ausgeprägte Gegenstandsorientierung besondere Möglichkeiten, die Kommunikations-

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praxen der beforschten Communities nicht durch methodische Standards zu »kolonisieren«, und stattdessen auf »conversational methods […] derived from indigenous world views« zurückzugreifen (Chilisa/Tsheko 2014: 223). Die Bezüge zu einer ideologiekritisch informierten Methodologie liegen angesichts der Leitmotive der hier beschriebenen Forschungsansätze (Dialogizität beziehungsweise Gegenstandsorientierung der Forschung, Reflexion methodeninhärenter Machtwirkungen) auf der Hand. Der Ideologiebegriff taucht aber in beiden Artikeln jeweils nur an einer Stelle auf, und zwar als rein deskriptive Bezeichnung eines Sets von Anschauungen und Ideen (ebd.: 224; Canales 2013: 7). In MMMR-Ansätzen feministischer beziehungsweise gender-theoretischer Forschung sind ähnliche inhaltlich-konzeptionelle Parallelen zum Ideologiebegriff zu beobachten, etwa in der Frage nach den Machtwirkungen bestimmter wissenschaftlicher Konzepte, dem angemessenen Umgang mit Diversität und Dissonanzen im Forschungsfeld beziehungsweise Datenmaterial, oder der Sensitivität von Forschungsmethoden für marginalisierte und benachteiligte Perspektiven (Hesse-Biber 2012; Davis/Duncan 2006). Aber auch hier wird der Ideologiebegriff nur in rein deskriptiver Funktion verwendet. Insgesamt scheint Ideologie in der MMMR-Literatur vor allem als Problemtitel für die Positionalität von Forscher*innen im Feld gebraucht zu werden (vgl. auch Popa/Guillermin 2017; Teye 2012). Dies geschieht überwiegend vor dem Hintergrund feministischer und postkolonialer Theorieperspektiven, und geht mit einer Neigung zu qualitativ-interpretativ orientierten MMMR-Konzeptionen einher. Was durch eine umfassendere Berücksichtigung des Ideologiekonzeptes, und d.h. eben auch: von dessen methodologischen Implikationen, in MMMR zu gewinnen wäre, soll hier anhand von drei Studien angedeutet werden, die sowohl in nicht-trivialer Weise auf den Ideologiebegriff rekurrieren, als auch einer dezidiert methodenintegrativen Forschungskonzeption folgen. So sei einerseits auf die vorurteilskritischen Arbeiten von Peter Martin (2013) und Felix Knappertsbusch (2016) verwiesen, die beide auf eine Kombination von Surveydaten beziehungsweise standardisierter Einstellungsskalen und qualitativen Interviews aufbauen und ein ideologietheoretisch gewendetes Konzept rassistischer beziehungsweise antiamerikanischer Vorurteile verwenden. Das theoretisch-konzeptionelle Herzstück beider Arbeiten bildet dabei die normative Ambivalenz von Vorurteilen sowie demokratisch-egalitären Prinzipien und der damit verknüpfte Rechtfertigungscharakter vorurteiliger Rhetorik. Der ideologische Zusammenhang

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von Vorurteil und Rechtfertigung wird im Anschluss an die diskursive Psychologie Michael Billigs sowie die Kritische Theorie Frankfurter Prägung modelliert. Zweck der Verbindung von Surveydaten und qualitativen Interviews ist neben der wechselseitigen Validierung beider Teilstränge die Verbindung der Generalisierbarkeit und Vergleichsmöglichkeiten standardisierter Verfahren mit der Sensitivität interpretativer Methoden für die rhetorisch-praktische Funktion von Sprechakten. Der Zuwachs an »ökologischer Validität«, den dieser methodische Pluralismus ermöglicht, geht in beide Arbeiten im Ergebnis auch mit einer intensivierten theoretischen Vermittlung zwischen sozialpsychologischer Einstellungsforschung und ideologiekritisch-praxistheoretischen Ansätzen einher (Knappertsbusch 2017). Ein weiteres Beispiel dezidiert methodenintegrativer Ideologieforschung soll veranschaulichen, wie durch Mixed-Methods-Designs der Prozesscharakter ideologischer Phänomene in den Fokus gerückt werden kann. In einer Längsschnittstudie zur politischen Sozialisation junger Erwachsener zeigen Bill Peterson und Kolleg*innen anschaulich, wie statistische und narrative Ansätze in einem komplexen Kausalmodell für die Entwicklung autoritärer Ideologie zusammengeführt werden können (Peterson u.a. 2016). Mit einer Kombination von standardisierter Autoritarismus-Messung, Verhaltensbeobachtung und biographisch-narrativen Interviews liefern sie Belege dafür, dass sich autoritäre Persönlichkeitsmerkmale auf verschiedenen Ebenen (Einstellungen, Kommunikationsverhalten, Selbstinszenierung und Selbstbild) kohärent nachweisen lassen. Durch das Längsschnittdesign ihrer Studie (standardisierte Autoritarismus-Messung im Alter von 19 und 32 Jahren, qualitative Interviews zwischen beiden Messzeitpunkten, in denen gleichzeitig auch das Kommunikationsverhalten beobachtet wird) können die Autor*innen zudem zeigen, dass autoritäre Motive im Kommunikationsverhalten sowie in der narrativen Selbstdarstellung der Teilnehmer*innen zur verbesserten Varianzaufklärung bei der statistischen Vorhersage späterer Autoritarismus-Werte beitragen (ebd.: 231ff.). Wenngleich diese Studie insgesamt stark durch einen quantitativ-analytischen Forschungsstil geprägt ist, zeigt sie doch eine überdurchschnittliche komplexe und empirisch-operational eng verwobene Konstellation ideologiekritischer Analyseperspektiven: Die Interpretation impliziter beziehungsweise latenter autoritärer Motive wird verbunden mit einer Analyse kausaler Prozesse, in der zudem standardisierte Messungen von Persönlichkeitsmerkmalen durch offenere, teilstandardisierte Verhaltensbeobachtungen und Befragungen ergänzt werden.

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4. Diskussion und Ausblick Wie ich in den Abschnitten 2. und 3. herausgearbeitet habe, bestehen zwischen den methodologischen Grundgerüsten ideologiekritischer sowie methodenintegrativer Forschung erhebliche Überschneidungen beziehungsweise Korrespondenzen. Das meiner Ansicht nach darin begründete Potential einer Stärkung des methodologischen Fundaments empirischer Ideologiekritik bleibt bislang aber weitestgehend ungenutzt. Wenngleich die Ideologieforschung mit den Entwicklungen der sozialpsychologischen Einstellungsforschung in den 1980er und 90er Jahren ihre empirische Ausrichtung deutlich intensiviert hat, werden MMMR-Diskurse darin bislang kaum rezipiert. Empirische Ideologiekritik verläuft aktuell weitgehend in monomethodischen Bahnen, während umgekehrt der Ideologiebegriff im Zusammenhang der MMMR-Diskussion kaum eine Rolle spielt. Inwiefern eine engere Verknüpfung beider Traditionen sowohl für die Seite der Ideologieforschung, als auch für den MMMR-Diskurs wünschenswert wäre, möchte ich hier abschließend noch einmal zusammenfassen. Wie Wolfgang Bonß überzeugend darstellt, haben die Protagonisten der Kritischen Theorie es versäumt, aus den in ihren sozialphilosophischen Konzeptionen enthaltenen methodologischen Implikationen eine »alternative Empiriekonzeption« für die kritische Sozialforschung zu entwickeln (Bonß 1983: 217, Hervorhebung im Original.). An die Stelle einer detaillierten Auseinandersetzung mit den besonderen methodischen Herausforderungen und Verfahrensweisen einer »totalitätsbezogenen Empirieproduktion« trat spätestens mit dem Positivismusstreit eine problematische Gegenüberstellung von Empirie und Theorie (Bonß 1982: 223): Indem »Adorno ›Theorie‹ mit ›kritischem Verhalten‹ und ›Empirie‹ mit ›schlechter Wirklichkeit‹ bzw. ›Oberfläche‹ gleichsetzte, trug er, komplementär zu den Selbstetikettierungen seiner Kontrahenten, erfolgreich dazu bei, die Diskussion um die Möglichkeiten kritischer Sozialforschung zu blockieren« (Bonß 1983: 217). Zwar wiesen die Frankfurter auch zur Zeit des Positivismusstreits stets noch auf das enge Wechselverhältnis von sozialphilosophischer Deutung und empirischer Sozialforschung hin (Adorno 1993b: 99), aber die methodologischen Grundlagen zur Gestaltung dieses Wechselverhältnisses in kritischer Sozialforschung wurden von ihnen kaum ausgearbeitet. Während Bonß zu Beginn der 1980er Jahre Potentiale zur Revision dieses methodologischen Versäumnisses vor allem in der damals sich etablie-

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renden qualitativen Sozialforschung sah, habe ich versucht zu zeigen, dass eine weitaus vielversprechendere Grundlage für eine alternative Methodologie kritischer Sozialforschung in methodenintegrativen Ansätzen zu sehen ist. Denn wo die Methoden qualitativer Sozialforschung, zumindest in einigen ihrer Ausprägungen, zu paradigmatischer Schließung und Identitätsdenken neigen, scheinen mir die methodischen Kernanliegen der kritischen Sozialforschung – radikale Gegenstandsorientierung, konstellative Modellierung von Gegenständen, theoretischer und empirischer Perspektivenpluralismus, Verbindung deutend-erschließender und kausal-erklärender Erkenntnisansprüche – in einer methodenintegrativen Forschungskonzeption deutlich besser repräsentiert. Freilich bestehen auch hier Tendenzen zu paradigmatischer Schließung, deren unproduktive Folgen kritisch reflektiert werden müssen (Maxwell 2018; Knappertsbusch 2019). Und dennoch scheinen mir in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Methodenliteratur die Diskurse um Mixed Methods und multimethodische Forschung am anschlussfähigsten für methodologische Fragen kritischer Sozialforschung. Zugleich ist festzustellen – auch dazu verhilft der hier angestellte Vergleich von MMMR und Ideologiekritik –, dass die Ansätze sozialwissenschaftlicher Kritik, die aktuell im MMMR-Diskurs präsent sind, ein recht beschränktes Bild kritischer Theorie zeichnen (Cram/Mertens 2015; HesseBiber 2012; Mertens 2010; Uprichard/Dawney 2019). Dies gilt zunächst für ihre theoretische Orientierung, die nahezu ausschließlich durch feministische und postkoloniale Perspektiven geprägt ist. Diese haben fraglos Wichtiges zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen sozialer Gerechtigkeit beizutragen, klammern aber oft weite Teile verwandter Theorietraditionen aus. Eine breitere Rezeption bspw. der oben referierten Theorieansätze aus rhetorischer Psychologie, Frankfurter Kritischer Theorie oder sozialpsychologischer Ideologieforschung verspräche durchaus auch eine Bereicherung feministischer und postkolonialer Forschungsperspektiven im MMMR-Diskurs. Zudem geht das »transformative paradigm« (Mertens 2010) der Mixed Methods Forschung oft mit gewissen methodischen beziehungsweise methodologischen Engführungen, insbesondere einer starken Prägung durch qualitative Methodentraditionen einher. Im Zentrum der methodologischen Reflexion stehen hier zwar wichtige Fragen, vor allem nach der Machtposition und Rolle von Forscher*innen, nach der Erschließung und dem Empowerment marginalisierter Perspektiven, sowie nach kolonisierenden Machteffekten der eigenen Forschungsmethoden. Andere methodolo-

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gische Kernaspekte kritischer Sozialforschung, wie sie oben in der Diskussion des Ideologiebegriffs herausgearbeitet wurden, etwa die Paradoxie der normativen Grundlagen sozialwissenschaftlicher Kritik oder Fragen der empirischen Entwicklung und Prüfung von Kausalmodellen, tauchen hingegen kaum auf. Eine engere Verknüpfung von Ideologiebegriff und methodenintegrativer Methodologie könnte, so hoffe ich plausibel gemacht zu haben, nicht nur einen Beitrag zur Entwicklung einer differenzierteren und valideren empirischen Ideologieforschung leisten, sondern umgekehrt auch eine Sensibilisierung des methodologischen Diskurses für dessen eigene »ideologische« Tendenzen. Mit einer ideologiekritisch informierten Methodologie jenseits verfestigter qualitativer, quantitativer oder methodenintegrativer »Paradigmen« wäre nicht zuletzt Adornos Feststellung, dass »jede empirische Soziologie zu wählen hat zwischen der Zuverlässigkeit und der Tiefe ihrer Befunde« (zitiert nach Bonß 1983: 216), kritisch zu hinterfragen.

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Ein Vierteljahrhundert Theorie der Systemrechtfertigung: Fragen, Antworten, Kritik und gesellschaftliche Anwendungsmöglichkeiten1 John T. Jost

Das Ende der Ideologie wurde vor mehr als einer Generation von Soziolog*innen und Politikwissenschaftler*innen erklärt, die – nach dem titanischen Kampf zwischen den ideologischen Extremen des Faschismus und des Kommunismus Mitte des 20. Jahrhunderts – mehr als froh darüber waren, dass es vorbei ist (Jost 2006). Die Arbeiten von Edward Shils, Raymond Aron, Daniel Bell und Seymour Lipset waren in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften, einschließlich der Psychologie, äußerst einflussreich. Die allgemeine These lautete, dass nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg sowohl die Rechte als auch die Linke gleichermaßen diskreditiert worden seien und dass im Westen »a kind of exhaustion of political ideas« stattgefunden habe (Lane 1962: 15). Ideologische Unterscheidungen zwischen links und rechts (oder, in den USA, zwischen Liberalismus und Konservatismus), so wurde behauptet, seien für die meisten Bürger ohne soziale und psychische Bedeutung. Es gibt vier miteinander zusammenhängende Behauptungen, die oft zur Untermauerung der Schlussfolgerung vom Ende der Ideologie herangezogen werden und in Verbindung damit einen langen Schatten auf die politische Psychologie geworfen haben (vgl. Jost 2006). Die erste Behauptung hat wohl den größten Einfluss innerhalb der Psychologie gehabt und ging aus dem berühmten Argument von Philip Converse (1964) hervor, dass es den politischen Einstellungen der einfachen Bürger an der Art von logischer Konsistenz und innerer Kohärenz mangelt, die man erwarten würde, wenn diese nach klaren ideologischen Schemata organisiert wären. Eine zweite

—————— 1 Bei dem Beitrag handelt es sich um eine leicht gekürzte und überarbeitete Übersetzung des Artikels »A quarter century of system justification theory: Questions, answers, criticisms, and societal applications«, der 2019 im British Journal of Social Psychology erschienen ist (vgl. Jost 2019). Wir danken den Herausgeber*innen für die Rechte des Wiederabdrucks. Die Übertragung ins Deutsche besorgte Susan Wille.

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und damit zusammenhängende Behauptung ist, dass die meisten Menschen von ideologischen Appellen unbeeindruckt sind und dass den abstrakten Credos, die mit Liberalismus und Konservatismus assoziiert werden, die Motivationskraft und Verhaltensrelevanz fehlt. Die dritte Behauptung ist, dass es zwischen liberalen und konservativen Standpunkten wirklich keine substantiellen Unterschiede in Bezug auf den philosophischen oder ideologischen Inhalt gibt. Eine vierte Behauptung, die zuerst als Kritik an Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanfords (1950) The Authoritarian Personality auftauchte, ist, dass es keine grundlegenden psychologischen Unterschiede zwischen den Befürwortern linker und rechter Ideologien gibt. Die erdrückende Wirkung dieser Schlussfolgerungen auf das Studium der Ideologie in der Sozial-, Persönlichkeits- und politischen Psychologie kann kaum übertrieben werden. Zwischen 1935 und 2004 gab es laut einer computergestützten Suche auf PscyInfo nur 5,2 Artikel, Bücher und Dissertationen pro Jahr zum Thema politische Ideologie (n = 366). Zum Vergleich: Seit 2005 waren es 74,2 pro Jahr (n = 1.113). Dies deutet darauf hin, dass die langjährige Annahme, dass Menschen grundsätzlich ideologiefrei sind, in der politischen Psychologie inzwischen an Plausibilität verloren hat (siehe Jost 2021). Aber in welchem Sinne kann man von gewöhnlichen Bürgern sagen, dass sie ideologisch sind? Es gibt zwei große wissenschaftliche Auffassungen von politischer Ideologie, und sie werden oft als unvereinbar angesehen. Nach der ersten, die die Sozial- und Verhaltenswissenschaften mindestens seit den frühen 1960er Jahren durchzieht, zeichnen sich ideologische Glaubenssysteme durch Stabilität, Konsistenz, Logik und politische Raffinesse aus (Converse 1964). Nach der zweiten, eher marxistisch geprägten Auffassung muss Ideologie keines dieser Merkmale aufweisen; stattdessen erhält sie einen stärker motivierenden Beigeschmack und spiegelt eine Grundorientierung für oder gegen das bestehende Sozialsystem wider. Insbesondere wird Ideologie als eine dem System dienende Illusion angesehen – »the way a system […] or even a whole society […] rationalizes itself« (Knight 2006: 619) – oder umgekehrt als Inspiration für revolutionäre Handlungen. Im Lichte der letzteren Konzeption ist es ironisch, dass viele Beobachter empirische Beweise für die fehlerhafte und fragmentierte Natur der politischen Einstellungen und Überzeugungen der Menschen als Hinweis darauf interpretiert haben, dass es keine Ideologie gibt (z.B. Achen/Bartels 2016). In einigen intellektuellen Traditionen, darunter der Marxismus, der Feminismus und die kritische Theorie, würden bestimmte Formen der Irrationalität (z. B. im

25 JAHRE THEORIE DER SYSTEMRECHTFERTIGUNG

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Dienste der Rechtfertigung des gesellschaftlichen Status quo) eher auf den Einfluss der Ideologie als auf ihre Abwesenheit hindeuten. Theorien der Systemrechtfertigung und der sozialen Dominanz z. B. befassen sich beide mit »the manner in which consensually endorsed system-justifying ideologies (or legitimizing myths) contribute to the stability of oppressive and hierarchically organized social relations among groups« (Jost/Sidanius 2004: 11). Dieser Fokus stellt den Kontakt zu kritischen Traditionen wieder her, in denen Ideologie an bestimmte soziale Systeme gekoppelt wird, entweder als Bestätigung des gesellschaftlichen Status quo – eine konservative oder reaktionäre Ideologie – oder in Opposition dazu – eine fortschrittliche oder revolutionäre Ideologie. Historisch gesehen wurden diese beiden Arten politischer Haltungen in den meisten Fällen mit der Rechten bzw. Linken in Verbindung gebracht. In der Regel ist die erstgenannte ideologische Ausrichtung durch systembegründende Bedenken motiviert, während die letztgenannte von systembedingten Bedenken getrieben wird, die das System in Frage stellen (Jost u.a. 2017). 1994 haben Mahzarin Banaji und erstmalig eine Theorie der Systemrechtfertigung vorgeschlagen. In dieser vermuteten wir, dass Menschen nicht nur Neigungen zur Verteidigung und Rationalisierung des Ansehens und der Interessen des Selbst bzw. der Bezugsgruppe haben, sondern auch systemrechtfertigende Tendenzen zur Verteidigung und Rationalisierung bestehender sozialer, wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse – manchmal sogar auf Kosten individueller und kollektiver Eigeninteressen. Insbesondere waren wir der Meinung, dass die bestehenden Theorien in der Sozialpsychologie keine zufriedenstellende Erklärung für »the participation by disadvantaged individuals and groups in negative stereotypes of themselves« (Jost/Banaji 1994: 1) und das damit zusammenhängende Phänomen der Außengruppen-Favorisierung (»outgroup favouritism«), bei dem »[s]ubordinate groups like black Americans, South African Bantus, the Mayans of Guatemala, and the lower castes of India either do, or until recently did, derogate or look down on the in-group and show positive attitudes toward the depriving out-group« (Brown 1986: 558) liefern. Mit der Entwicklung der Theorie der Systemrechtfertigung beriefen wir uns auf zwei Kritiken zur Theorie der sozialen Identität und nahmen deren Annahmen ernst, vermutlich sogar ernster als ihre Autor*innen selbst. Gemeint sind die Theorien von Hewstone und Ward (1985) sowie Hinkle und Brown (1990). Beide Autor*innenpaare argumentierten, dass die bestehenden Erklärungsansätze zu Gruppenbeziehungen – einschließlich des

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Ansatzes von Tajfel und Turner (1979) – die Außengruppen-Favorisierung nicht ausreichend berücksichtigen (vgl. Jost/Banaji 1994). Um diese Lücke zu schließen, wandten wir uns sozialistisch-feministischen Analysen des »falschen Bewusstseins« zu, das von Cunningham (1987) als das Festhalten an »false beliefs that sustain one’s own oppression« (Cunningham 1987: 225) definiert wurde. Meiner Ansicht nach boten diese Theorien eine vielversprechende und bislang unerforschte Stoßrichtung in der empirischen sozialpsychologischen Literatur (vgl. auch Jost 1995; Jost u.a. 2018). Von Anfang an zielte unsere Forschung darauf ab, zwei unterschiedliche theoretische Traditionen zu synthetisieren und zu vereinheitlichen: die aus der Philosophie und Gesellschaftstheorie stammende Tradition, die im geistigen Erbe von Karl Marx, Antonio Gramsci, György Lukacs, Peter Berger, Thomas Luckmann, Catharine MacKinnon und Jon Elster steht, und die aus der Sozialpsychologie kommende Theorieströmung, die sich auf Kurt Lewin, Gordon Allport, Henri Tajfel, Morton Deutsch, Leon Festinger, Melvin Lerner, Serge Moscovici, William J. McGuire, Alice Eagly, John Turner, Susan Fiske und zahlreiche andere beruft (vgl. Abbildung 1). Die Inspiration für die Benennung der Theorie als »Systemrechtfertigung« zogen wir aus einer einzigen Zeile eines Buchs von Kluegel und Smith (1986), die sich auf »jene marxistische Theorien [berufen], die davon ausgehen, dass Angehörige der Arbeiterklasse den Widerspruch zwischen ihren Eigeninteressen und ihren systemrechtfertigenden Überzeugungen erkennen werden« (»certain Marxist theories that assume working-class people will come to recognize the contradictions between their self-interests and their system-justifying beliefs« [S. 15, Herv. durch den Autor]). Der markanteste und zuvor in keiner Schrift der einflussreichen Vorläufer der Theorie auftauchende Aspekt an unserer Argumentation war die Überlegung, dass selbst Angehörige benachteiligter Gruppen aus psychologischen Gründen glauben wollen, dass das bestehende Sozialsystem legitim und gerechtfertigt ist. Vielleicht kam Gramsci dieser Annahme schon zuvor am nächsten, als er schrieb: »The great mass of people hesitate and lose heart when they think of what a radical change might bring […]. They can only imagine the present being torn to pieces, and fail to perceive the new order which is possible.« (zitiert nach Fiori 1973: 106– 107)

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Abbildung 1: Genealogie der Theorie der Systemrechtfertigung (vgl. auch Jost/van der Toorn 2012: Abb. 42.1).

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Die Theorie der Systemrechtfertigung versucht nicht nur den Widerstand gegen sozialen Wandel zu erklären, der auch in der Feldtheorie von Lewin (1947) im Vordergrund stand, sondern will falsches Bewusstsein auch aus einer sozialen, kognitiven und motivationalen Perspektive beleuchten und es empirisch als psychologischen Prozess untersuchen – und nicht nur als soziologisches Produkt oder Instrument der Literaturkritik (Jost/Banaji 1994). Ursprünglich konzentrierte sich die Theorie der Systemrechtfertigung insbesondere auf Mechanismen der Stereotypisierung, Vorurteilsentstehung und der Außengruppen-Favorisierung (Jost 2001), doch wurde sie später erweitert, um andere Aspekte mit zu berücksichtigen – dazu gehörten Einschätzungen von Fairness, Gerechtigkeit, Legitimität sowie eigenen und fremden Ansprüchen (Brandt/Reyna 2013; Jost 1997; Jost/Major 2001; O'Brien u.a. 2012; van der Toorn u.a. 2011). Weiterhin wurden Zuschreibungen und Erklärungen für Armut und Ungleichheit untersucht (Ali u.a. 2018; Durrheim u.a. 2014; Godfrey/Wolf 2016); spontane und bewusst gefällte Schlussfolgerungen und Urteile über Individuen und Gruppen (Jost u.a. 2005; Kay u.a. 2005; Monteith u.a. 2016); Haltungen und Meinungen zu sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen (Jost u.a. 2003a; Kay u.a. 2009; Mallett u.a. 2011; Tan u.a. 2017; van der Toorn u.a. 2017b); Rationalisierungen zu bestimmten gesellschaftspolitischen Ereignissen und deren Auswirkungen (Kay u.a. 2002; Laurin 2018); aber auch umfassende politische und religiöse Ideologien (Jost u.a. 2004; Jost u.a. 2003b; Jost u.a. 2009; 2014). Warum haben manche Frauen das Gefühl, geringere Lohnansprüche als Männer zu haben; warum bleiben Menschen in zerstörerischen Beziehungen; und warum ziehen manche afroamerikanische Kinder weiße Puppen schwarzen Puppen vor, weil sie sie als attraktiver und begehrenswerter empfinden? Warum gibt man den Opfern von Ungerechtigkeit die Schuld, und warum geben sich diese Opfer manchmal sogar selbst die Schuld? Warum widersetzen sich arme Menschen oft der Umverteilung von Reichtum? Warum tolerieren wir politische und wirtschaftliche Korruption? Warum ist es so schwierig, Menschen dazu zu bringen, für sich selbst und füreinander einzutreten, und warum empfinden wir persönlichen und sozialen Wandel als so herausfordernd, ja sogar schmerzhaft? Gibt es hier einen gemeinsamen Nenner – ein verborgenes Element, das diese scheinbar unverbundenen Phänomene verbindet? Diese Fragen beschäftigen mich seit mehr als 25 Jahren, und obwohl ich mit den Antworten, die ich heute geben kann, nicht

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ganz zufrieden bin, haben meine Student*innen, Mitarbeiter*innen, Kolleg*innen und ich bereits große Fortschritte machen können. Ich kann nur hoffen, dass die Antworten in den kommenden 25 Jahren noch klarer und eindeutiger werden. In der Zwischenzeit muss man, wie Rilke (1929/ 1993: 35) sagte, »versuchen, die Fragen selbst zu lieben«. Dies sind die Fragen, die eine Theorie des Systemrechtfertigung adressieren sollte.

Theorie der Systemrechtfertigung – Grundannahmen Ich habe bereits auf den ersten wichtigen Grundsatz der Theorie der Systemrechtfertigung hingewiesen: Menschen haben eine Motivation – oftmals eher implizit als explizit –, Aspekte des gesellschaftlichen Status quo zu rechtfertigen, zu verteidigen und zu verstärken. Dazu gehören bestehende soziale, wirtschaftliche und politische Systeme, Institutionen und Arrangements (Jost u.a. 2004). Das Thema ist deshalb relevant, weil einige [Sozialwissenschaftler*innen, A. d. Ü.] zwar akzeptieren, dass systemrechtfertigende Überzeugungen und Ideologien durch einen passiven Prozess des sozialen Lernens verinnerlicht werden können, aber anzweifeln, dass Menschen intrinsisch motiviert sind, ein System zu rechtfertigen (Huddy 2004; Mitchell/Tetlock 2009; Owuamalam u.a. 2018a; Reicher 2004; Rubin/ Hewstone 2004; Spears u.a. 2001). Diese anfängliche Skepsis war insofern nachvollziehbar, als wir die motivationalen Grundlagen von Systemrechtfertigungsprozessen erst einige Jahre nach der Einführung der Theorie direkt untersucht haben (Jost u.a. 2010; Kayet u.a. 2009; Liviatan/Jost 2014). Inzwischen scheint mir deren Evidenz jedoch ziemlich stark zu sein.

Die motivationale Grundlage von Systemrechtfertigung Es gibt mindestens fünf Beweislinien für die Annahme, dass Systemrechtfertigung ein motivierter, zielgerichteter Prozess ist (Jost u.a. 2010): (1) Systemrechtfertigende Überzeugungen – einschließlich jener Überzeugungen, die mit politischem Konservatismus Hand in Hand gehen – basieren auf individuellen Neigungen zur Selbsttäuschung und »motivated social cognition« [dt.: motivierter sozialer Kognition, A. d. Ü.] (Jost u.a. 2003a; 2003b;

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2010; Wojcik u.a. 2015). (2) Menschen reagieren oftmals defensiv darauf, wenn das allgemeine soziale System bedroht, kritisiert oder angegriffen wird (Jost u.a. 2005; Kay u.a. 2005; Ullrich/Cohrs 2007) – es sei denn, sie haben die Möglichkeit, die grundsätzliche Gutartigkeit des Systems gleichzeitig zu bestätigen (Brescoll u.a. 2013; Cutright u.a. 2011; Liviatan/Jost 2014); (3) Systemrechtfertigungsprozesse weisen mehrere »klassische« Eigenschaften der Zielverfolgung auf (Jost u.a. 2007; Jost u.a. 2010); (4) Menschen verarbeiten Informationen selektiv und voreingenommen, um zu systemrechtfertigenden Schlussfolgerungen zu gelangen (Haines/Jost 2000; Hennes u.a. 2016; Ledgerwood u.a. 2011; van der Toorn u.a. 2011); und (5) Menschen sind bereit, Verhaltensanstrengungen zu unternehmen, um die Legitimität des sozioökonomischen Systems zu erhalten (Ledgerwood u.a. 2011). Ausgehend von diesen Ideen führten Aaron Kay u.a. (2009) eine Reihe eleganter Experimente durch, die die motivierte Präferenz nachweisen konnten, »see the way things are as the way they should be« (S. 421). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Menschen den gesellschaftlichen Status quo immer oder ausnahmslos als fair und gerecht empfinden, wie Kritiker der Theorie der Systemrechtfertigung hin und wieder behauptet haben (Désert/Leyens 2006; Huddy 2004; Reicher 2004; Rubin/Hewstone 2004; Sidanius u.a. 2004). Wie bei allen anderen Motivlagen in der Psychologie des Menschen ist davon auszugehen, dass der Grad der Motivation zur Systemrechtfertigung entlang situativer und dispositioneller Faktoren variiert. Mittels empirischer Untersuchungen haben Sozialpsychologen eine Reihe kontextueller oder situativer Moderatoren entdeckt – man könnte sie auch als »Auslöser« von Systemrechtfertigungsprozessen bezeichnen (Jost/ Hunyady 2005; Jost/van der Toorn 2012; Kay/Friesen 2011; Kay/Zanna 2009). Ein Auslöser, auf den bereits weiter oben angespielt wurde, ist die Frage danach, inwieweit man Kritik am gesellschaftlichen Status Quo oder dessen Bedrohung ausgesetzt ist. Mindestens 38 Experimente, die zwischen 2005 und 2017 veröffentlicht wurden, zeigen, dass sich – wenn das System, in dem man lebt, Kritik oder Bedrohung ausgesetzt ist –, system-rechtfertigende Reaktionen bei chronischen Systemrechtfertigern immens verstärken können (vgl. Appendix A.6 in Jost 2020). Dazu gehören die komplementäre stereotype Differenzierung von privilegierten Gruppen als leistungsorientiert (aber nicht gemeinschaftsorientiert) und benachteiligten Gruppen als gemeinschaftsorientiert (aber nicht leistungsorientiert); die Abwertung von Feministinnen und Frauen, die nicht dem Rollenbild entsprechen; die Bevorzugung einheimischer statt ausländischer Konsumgüter;

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das Verständnis für die »Notwendigkeit« ziviler Opfer während eines Krieges sowie wenig Unterstützung für verschärfte Strafen bei Hassverbrechen, die seitens der Politik implementiert werden. Langfristig gesehen mag es also zwar auf der Hand liegen, dass Kritik an einem gesellschaftlichen System nützlich und wirksam ist, um den Status quo infrage zu stellen und sozialen Wandel herbeizuführen, doch ruft sie zunächst einmal oft Abwehrhaltungen und Widerstand hervor.2 Es gibt noch andere Moderatoren der Systemrechtfertigung. Menschen akzeptieren unwillkommene gesellschaftliche und politische Phänomene wie die Beschneidung ihrer Freiheiten oder soziale Ungleichheit bereitwilliger, wenn sie diese als notwendig oder unvermeidlich empfinden (Kay u.a. 2002; Laurin u.a. 2013; Laurin u.a. 2012; Laurin u.a. 2010). Kristin Laurin (2018) zeigte zum Beispiel, dass US-Bürger – Demokraten wie Republikaner – die Wahl von Donald Trump eine Woche nach seiner Amtseinführung günstiger bewerteten als noch eine Woche zuvor. Ein weiterer Moderator für die Verteidigung eines Systems ist dessen wahrgenommene Beständigkeit. Blanchar und Eidelman (2013) stellten fest, dass Menschen das Kastensystem in Indien – ebenso wie das kapitalistische System in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich – eher unterstützten, wenn man ihnen den Eindruck vermittelte, dass diese Systeme traditionsreich sind und seit langem bestehen, und nicht erst seit relativ kurzer Zeit eine Rolle in der Menschheitsgeschichte spielen. Mehrere Studien deuten zudem darauf hin, dass Menschen soziale, wirtschaftliche und politische Systeme auch in dem Maße eher rechtfertigen, in dem sie sich diesen Systemen gegenüber besonders machtlos oder von ihnen abhängig fühlen. Van der Toorn u.a. (2011) zum Beispiel stellten fest, dass die subjektiv wahrgenommene Abhängigkeit von Bildungseinrichtungen, Regierung und Polizei ein hohes Maß an Vertrauen in und Achtung vor Institutionen hervorbringt. Van der Toorn u.a. (2015) zeigten sogar, dass selbst intensives Nachdenken über Ohnmachtsgefühle die Tendenz zur Legitimierung von rassistischen Unterschieden in der Strafverfolgung, die

—————— 2 Ein aktuelles Beispiel dafür ist der amerikanische Quarterback Colin Kaepernick von der National Football League, der arbeitslos wurde, weil er gegen Polizeigewalt protestierte: Während des Abspielens der Nationalhymne kniete er nieder anstatt die Hand aufs Herz zu legen: »Ich werde nicht aufstehen, um mit Stolz auf eine Flagge für ein Land zu zeigen, das Schwarze und Farbige unterdrückt.« Im Einklang mit der Vermutung, dass Menschen auf Kritik am sozialen System defensiv reagieren, sah sich Kaepernick mit massiven Gegenreaktionen konfrontiert – mit stark motivierten, leidenschaftlichen öffentlichen und privaten Angriffen und Verhöhnungen.

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ungleiche Verteilung von Reichtum in der Gesellschaft und das geschlechtsspezifische Lohngefälle verstärkt, selbst wenn systembedingte Erklärungen für Ungleichheit, wie z. B. Diskriminierung, kognitiv verfügbar gemacht werden.

Die palliative Funktion der Systemrechtfertigung Ein weiterer wichtiger Grundsatz der Theorie ist die Annahme einer palliativen Funktion von Systemrechtfertigungsprozessen, mit der Funktion, dass Menschen sich in Bezug auf den gesellschaftlichen Status quo besser fühlen können (Jost/Hunyady 2002; siehe auch Hammond/Sibley 2011; Napier u.a. 2010; Vargas-Salfate u.a. 2018a). Diese Annahme erinnert ein wenig an Karl Marxʾ berühmten Ausspruch, dass Religion das »Opium des Volks« sei, das die Menschen beschwichtigt und beruhigt. In der Tat hat eine groß angelegte Internet-Umfrage von Jost u.a. (2014) gezeigt, dass religiöse Menschen – insbesondere Katholiken und Protestanten – dazu tendieren, bei bestimmten Werten der allgemeinen Systemrechtfertigung höher abzuschneiden als Agnostiker und Atheisten. Sie bejahten Aussagen wie »Mein Land ist auf der Welt das beste Land, in dem man leben kann« und »Jeder hat eine faire Chance auf Reichtum und Glück« (vgl. van der Toorn u.a. 2017b). Darüber hinaus berichten religiöse Menschen und solche, die das sozioökonomische System rechtfertigen, im Allgemeinen, dass sie häufiger positive als negative Gefühle haben und mehr Zufriedenheit mit ihrer eigenen Lebenssituation empfinden (z. B. Jost u.a. 2003c; Jost u.a. 2008b; Kluegel/Smith 1986; Rankin u.a. 2009). Gleichzeitig ist der emotionale »Nutzen« der Systemrechtfertigung jedoch mit Kosten verbunden, da das Potenzial für sozialen Wandel und die Beseitigung von Ungleichheit reduziert ist. Wakslak u.a. (2007) stellten fest, dass systemrechtfertigende Ideologien – unabhängig davon, ob sie objektiv gemessen werden oder durch Einflussnahme erst hervorgerufen wurden – mit verminderter emotionaler Belastung einhergehen. Die zufällige Zuweisung von Proband*innen zu einer Gruppe mit hoher Systemrechtfertigungsneigung, in der die Teilnehmer im Vorfeld Geschichten à la »Vom Tellerwäscher zum Millionär« oder »Jeder ist seines Glückes Schmied« erzählt bekamen, führte – im direkten Vergleich mit einer Kontrollgruppe – zu einer Verringerung negativer Affekte und moralischer Empörung, aber auch zu

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einer geringeren Bereitschaft, sich freiwillig zu engagieren oder Geld an Bedürftige zu spenden. Jaime Napier und ich stellten die Hypothese auf, dass Konservative wohl im Durchschnitt ein höheres Glücksempfinden zum Ausdruck bringen müssten als Liberale, da politischer Konservatismus eine systemrechtfertigende Ideologie ist. Auf der Grundlage von Daten aus den American National Election Studies (ANES) konnten wir tatsächlich belegen, dass Konservative bei der Messung des subjektiven Wohlbefindens, einschließlich des selbstberichteten Glücks und der Lebenszufriedenheit, deutlich besser abschneiden als Liberale – und dies selbst nach Kontrolle von Einkommen, Alter, Familienstand, Religiosität und anderen demografischen Merkmalen. Diese ideologische Kluft im subjektiven Wohlbefinden kommt vermittelt durch den Glauben zustande, dass Ungleichheit in der Gesellschaft fair und gerechtfertigt ist. Wir wiederholten diese Studie mit ähnlichen Ergebnissen in neun westeuropäischen Ländern, indem wir Daten aus dem World Values Survey verwendeten – es handelt sich also keineswegs um ein rein amerikanisches Phänomen. Wir stellten zudem die Hypothese auf, dass – da Konservative wirtschaftliche Ungleichheit stärker rechtfertigen als Liberale – ihr subjektives Wohlempfinden angesichts der immer größeren werdenden Einkommenslücke in den Vereinigten Staaten in den letzten 30 Jahren weniger beeinträchtigt sein sollte. Nachdem wir die selbstberichteten Glücksniveaus der Liberalen und Konservativen mit den Ergebnissen des Gini-Index (eines makroökonomischen Indikators für Einkommensungleichheit) verglichen hatten, entdeckten wir, dass steigende Einkommensungleichheit zwar mit einem Rückgang des Glücks im Allgemeinen einherging, wobei demografische Faktoren berücksichtigt wurden, aber: Der Rückgang fiel bei den Liberalen deutlich stärker aus, offenbar weil ihnen der »ideologische Puffer« der Konservativen gegen die negativen hedonischen Auswirkungen von Ungleichheit fehlte (Napier/Jost 2008). Wojcik u.a. (2015) stellten daraufhin ebenjene Annahme, dass Konservative »glücklicher« seien als Liberale, infrage. Zur Untermauerung ihrer These sammelten sie Indizien auf Basis von Sprachgebrauch und Fotos mit lächelnden Personen, und kamen zu dem Schluss, dass tatsächlich Liberale glücklicher seien als Konservative. Ihrer Kritik mangelt es jedoch völlig an einer Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Wohlbefinden. Wir hatten ja mit unserer Systemrechtfertigungstheorie nicht behauptet, dass Konservative in irgendeinem objektiven Sinne mehr Erfolg haben (wie es Aristotelesʼ Konzept der Eudaimonia nahelegt), oder dass konservative

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Gesellschaften die Menschen wirklich glücklicher machen als liberale, sozialdemokratische Gesellschaften – das tun sie nämlich nicht, wie OkuliczKozaryn, Holmes und Avery (2014) belegen konnten. Im Gegenteil: Unsere Argumentation besagte vielmehr, dass aufgrund sozialpsychologischer Prozesse wie der Rationalisierung von Ungleichheit Konservative subjektiv weniger von sozialer Ungerechtigkeit betroffen sind und daher ein glücklicheres Leben berichten. Daher sind die Funde von Wojcik und seinen Kolleg*innen zwar interessant, sie widerlegen jedoch die Hypothese nicht, dass Systemrechtfertigung eine palliative Funktion hat. Dennoch ist es durchaus möglich, dass Liberale und Linke – weil sie sensibler auf soziale Ungerechtigkeiten reagieren – anfälliger für einen »depressiven Realismus« sind als Konservative und Rechte (vgl. Alloy/Abramson 1988), und in einigen Fällen kann Sensibilität und das Erleben von Ungerechtigkeit sowohl objektives als auch subjektives Leid verstärken (zum Beispiel Suppes u.a. 2019). Die Strategie der Systemrechtfertigung verringert nicht nur die Summe negativer Gefühle und erhöht die Zufriedenheit mit dem Status quo, sie vermindert auch die Unterstützung für systemkritische Proteste (Jost u.a. 2017a; Jost u.a. 2012) und blockiert den »Willen zur Macht« bei Angehörigen benachteiligter Gruppen (Hässler u.a. 2018). So zeigte ein in Deutschland durchgeführtes Experiment, dass junge Frauen, wenn sie relativ subtilen, »wohlwollenden« Begründungen für Sexismus ausgesetzt waren, in der Folge positivere Gefühle zum Ausdruck brachten, bei der geschlechtsspezifischen Systemrechtfertigung höhere Werte erzielten und weniger bereit waren, sich an politischen Aktionen zugunsten von Frauen zu beteiligen (Becker/Wright 2011). Auch eine repräsentative Studie aus Neuseeland zeigte, dass Systemrechtfertigung zwar zu weniger Sorgen führt, aber auch zu einer Abschwächung des Verhältnisses zwischen relativer Deprivation und der Bereitschaft, für die eigene Gruppe zu protestieren (Osborne/Sibley 2013; siehe auch Osborne u.a. 2018).

Epistemische, existenzielle und relationale Bedürfnisse hinter der Systemrechtfertigung Angesichts der sozialen und psychologischen Kosten der Systemrechtfertigung drängt sich die wichtige Frage auf, warum Menschen sich auf einen solchen Vorgang überhaupt einlassen. Jost und Hunyady (2002) lieferten

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zunächst eine Erklärung im Sinne der »palliativen Funktion« der Systemrechtfertigung (vgl. auch Kluegel/Smith 1986), die jedoch problematisch ist, weil »the beneficial consequences of […] illusions« können nicht notwendigerweise »serve to explain them«, wie Elster (1982: 136) betont hat.3 Daraufhin schlugen wir vor, dass Systemrechtfertigung – mindestens subjektiv, wenn nicht gar objektiv – erstens epistemische Bedürfnisse zur Reduzierung von Unsicherheit und Zweideutigkeit befriedigt; zweitens existentielle Bedürfnisse zur Abmilderung von Bedrohung und Unvorhersagbarkeit; und drittens relationale Motive zur Grundlage hat, die soziale Beziehungen koordinieren und ein Gefühl geteilter Lebenswirklichkeit herstellen (Jost/Hunyady 2005; Jost u.a. 2008a). Dieser Aspekt ist vielleicht einfacher ex negativo zu erklären: Um den Status quo wirklich in Frage zu stellen, sich also auf langfristige und tiefgreifende Formen des Protests einzulassen, muss man gewillt und fähig sein, ein hohes Maß an Unsicherheit, ebenso wie potenzielle Gefahren für die eigene Sicherheit und Geborgenheit zu tolerieren. Zudem müsste man das Risiko der Entfremdung von Freunden, Familienmitgliedern und anderen in der Mainstream-Gesellschaft verankerten Menschen zulassen (vgl. Jost u.a. 2017a). Es nimmt also nicht Wunder, dass die Stress- und Burnout-Fälle unter politischen Aktivist*innen notorisch hoch sind (zum Beispiel Chen/Gorski 2015). Es gibt in der Tat Belege dafür, dass die Ausprägung des Bedürfnisses, Unsicherheit, Bedrohung und soziale Spannungen zu verringern, je nach Situation und Disposition auch die Stärke der Tendenz zur Systemrechtfertigung beeinflusst. Beispielsweise befördern Labormanipulationen der kognitiven Belastung, Zeitdruck, Ablenkung und Alkoholgenuss eine Affinität zu konservativen, systemrechtfertigenden Einstellungen (Eidelman u.a. 2012; Friesen u.a. 2014; Hansson u.a. 1974; Lammers/Proulx 2013; Rock/JanoffBulman 2010; Rutjens/Loseman 2010; Skitka u.a. 2002; van Berkel u.a. 2015). Hussak und Cimpian (2015) erörtern, dass die Systemrechtfertigung einen heuristischen kognitiven Prozess widerspiegelt, sodass ein »sociopolitical arrangement that is explained in inherent [i.e., simplistic, intrinsic, or essentialistic] terms is also likely to be seen as reasonable and fair« (S. 741). Ebenso zeigte eine Reihe von Experimenten und archivarischer Studien, dass objektiv bedrohliche Faktoren wie die ständige Erinnerung an die eigene Sterblichkeit oder Terroranschläge in der Tendenz die Unterstützung

—————— 3 Ich danke Melvin Lerner dafür, dass er mich im Rahmen der Theorie der Systemrechtfertigung als Erstes auf dieses Thema aufmerksam gemacht hat.

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für konservative, systemrechtfertigende Positionen verstärken (Bonanno/ Jost 2006; Echebarria-Echabe/Fernàndez-Guede 2006; Economou/Kollias 2015; Gailliot u.a. 2006; Nail u.a. 2009; Schüller 2015; Thorisdottir/Jost 2011; Ullrich/Cohrs 2007; van de Vyver u.a. 2016). Schließlich deuten einige Experimente darauf hin, dass auch relationale Drohszenarien – wie beispielsweise soziale Ausgrenzung – Tendenzen der Systemrechtfertigung verstärken (Hess/Ledgerwood 2014), insbesondere wenn jemand eine Motivation hat, seine Lebenswirklichkeit mit ausgeprägten Systemrechtfertigern zu teilen (Cheung u.a. 2011; Jost u.a. 2008a). Mit Blick auf die Dispositionsvariabilität führten Hennes u.a. (2012) eine Umfrage durch, die Items aus individuellen Differenzskalen epistemischer, existenzieller und relationaler Motive enthielt. Sie beobachteten, dass die Befragten, die ein geringes Bedürfnis nach Erkenntnisgewinn hatten, aber häufiger unter Todesangst litten und ein ausgeprägteres Bedürfnis nach Gemeinschaft hatten, politisch konservativer waren und sowohl generelle als auch ökonomische Formen der Systemrechtfertigung in höherem Maße befürworteten. Diese Befragten schlossen sich auch eher konservativen Positionen zu Fragen des Klimawandels, der Reform des Gesundheitssystems und der Einwanderungspolitik an – in allen Fällen wurde dies durch eine wirtschaftlich motivierte Systemrechtfertigung vermittelt. Schließlich unterstützten sie eher die politisch konservative Tea-Party-Bewegung und weniger die progressive Occupy-Wall-Street-Bewegung – auch hier wurde das Wirtschaftssystem zur Rechtfertigung herangezogen. Sehr ähnliche Effekte wurden in einer in Argentinien durchgeführten Studie beobachtet (Jost u.a. 2017b). Personen, die beim Bedürfnis nach kognitiver Abschottung, dem Wunsch nach Gemeinschaft und der Neigung zur Todesangst höhere Werte erzielten, tendierten auch mehr zur Rechtfertigung des Wirtschaftssystems und waren politisch mehr rechts als links orientiert. Darüber hinaus mediierte die Systemrechtfertigung die Auswirkungen epistemischer, existenzieller und relationaler Motive auf rechte Orientierungen und die Unterstützung für Präsident Mauricio Macri bei den vorangegangenen Wahlen (sowie die Ablehnung der Mitte-Links-Oppositionspartei). Diese Beziehungen sind in Abbildung 2 dargestellt.

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Bedeutung für die Untersuchung von Gruppenbeziehungen Wir wissen – aus mehr als einem Jahrhundert des Schreibens über Ethnozentrismus –, dass Menschen häufig ihre eigene Gruppe gegenüber anderen bevorzugen (Brewer/Campbell 1976; Summer 1906; Tajfel/Turner 1979), und es deutet vieles darauf hin, dass diese Begünstigung der eigenen Gruppe das Selbstwertgefühl steigern kann (Crocker/Luhtanen 1990; Fein/Spencer 1997). Wir wissen auch, dass sie zu subtilen (oder weniger subtilen) Auswüchsen von Vorurteilen, Feindseligkeit und Diskriminierung beitragen kann (Allport 1979; Greenwald/Pettigrew 2014; Tajfel 1981). Dies sind wichtige Fakten über Intergruppenbeziehungen, aber es sind Fakten, die für Angehörige weniger benachteiligter Gruppen mehr Geltung haben als für jene von stark benachteiligten Gruppen. Aus der Perspektive der Systemrechtfertigungstheorie lässt sich das darauf zurückführen, dass – für Angehörige begünstigter Gruppen – die Systemrechtfertigung mit der Motivation zur Ich- und Gruppenrechtfertigung vereinbar ist, was zur Erhaltung und Steigerung des persönlichen und kollektiven Selbstwertgefühls beiträgt. Für Mitglieder sozial privilegierter Gruppen scheint es daher so zu sein, dass Systemrechtfertigung positiv mit Selbstwertgefühl, Innengruppen-Favorisierung und psychischem Wohlbefinden verknüpft ist (Jost/Thompson, 2000). Bei Angehörigen benachteiligter Gruppen hingegen steht die Systemrechtfertigung im Konflikt mit Ich- und Gruppenrechtfertigungsmotiven (Jost u.a. 2001; Pratto u.a. 2006; Zimmerman/Reyna, 2013). Daher folgt aus der Logik der Systemrechtfertigungstheorie nicht, dass Benachteiligte in der Regel oder typischerweise das übergreifende Sozialsystem eher unterstützen als Mitglieder begünstigter Gruppen – eine Sichtweise, die uns wiederholt falsch zugeschrieben wurde (Brandt 2013; Caricati 2017; Owuamalam u.a. 2016b; Owuamalam u.a. 2018a; Vargas-Salfate u.a. 2018b).

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Im Gegenteil, die Systemrechtfertigung auf Seiten der Benachteiligten wird typischerweise durch gegenläufige Ich- und Gruppenrechtfertigungsmotive abgeschwächt, wie Jost u.a. (2001) vor langer Zeit aufgezeigt haben. Es ist daher umso bemerkenswerter für mich, dass benachteiligte Gruppen – wie z. B. Angehörige der Arbeiterklasse – sich dem Status quo so sehr unterwerfen (Jost 2017; siehe auch Manstead 2018). Dies gilt es zu verstehen und zu überwinden, wenn man – wie ich – auf ein Ende unnötigen sozialen und ökonomischen Leids hofft. Für diejenigen, die durch den Status quo benachteiligt sind, ist die Rechtfertigung des Systems mit sozialen und psychologischen Kosten verbunden. Sie wirkt sich negativ auf das Selbstwertgefühl, die Solidarität innerhalb einer Gruppe und das psychologische Wohlbefinden aus – letzteres wurde gemessen an der Prävalenz von Depression, Neurotizismus, Ambivalenz und Stigma-Verinnerlichung (Godfrey u.a. 2019; Jost/Thompson 2000; Pacilli u.a. 2011). Eine Studie unter homosexuellen Männern in Chile ergab, dass Systemrechtfertigungstendenzen mit verinnerlichter Homophobie verbunden waren, was mit starken Symptomen von Angst und Depression einherging. Gleichzeitig diente die Systemrechtfertigung, trotz dieser schädlichen Auswirkungen, auch der palliativen Reduzierung von Angst und Depressionen (Bahamondes-Correa 2016). Diese Ergebnisse wurden in mehreren in den Vereinigten Staaten durchgeführten Studien, bei denen lesbische, schwule, bisexuelle und Transgender-Personen befragt wurden, bestätigt und erweitert. Jene, die die Diskriminierung ihrer eigenen Gruppe kleinredeten, wiesen eine stärkere internalisierte Homophobie auf, profitierten aber sonst in Bezug auf ihre geistige und körperliche Gesundheit davon (Suppes u.a. 2019). Somit ist die Systemrechtfertigung sowohl eine Bedrohung für das Wohlergehen von Angehörigen benachteiligter Gruppen als auch eine Möglichkeit, mit ebenjener Bedrohung umzugehen. Wie zu Beginn dieses Artikels erwähnt, wurde die Theorie der Systemrechtfertigung ursprünglich entwickelt, um zu erklären, warum Angehörige benachteiligter Gruppen häufig (wenn auch nicht immer) AußengruppenFavorisierung zeigen, indem sie gegenüber Gruppen, die einen höheren Status oder mehr Macht haben als ihre eigene Gruppe, positivere Einstellungen zum Ausdruck bringen. Obwohl Spears u.a. (2001) auf der Grundlage der Theorie sozialer Identität argumentierten, dass Minderwertigkeitsgefühle bei Benachteiligten sehr selten vorkommen, zeigen Studien auf Basis des Impliziten Assoziationstests (IAT) und anderer Methoden zur Reduzierung sozialer Erwünschtheit, dass sogar beträchtliche Anteile von Mitgliedern

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benachteiligter Gruppen – oft 40 oder 50 Prozent oder sogar mehr – implizite (oder indirekte) Abwertungen der eigenen Gruppe gegenüber vornehmen und positive Vorurteile gegenüber privilegiertere Mitgliedern der Outgroup aufweisen.4 So bewerten beispielsweise arme und adipöse Menschen implizit reiche und normalgewichtige Menschen günstiger als ihre eigenen Gruppenmitglieder (Horwitz/Dovidio 2017; Rudman u.a. 2002); viele Schwule und Lesben bewerten Heterosexuelle implizit günstiger als ihre eigenen Gruppen (Hoffarth/Jost 2017; Jost u.a. 2004); in Chile bewerten Hispanics und dunkelhäutige »Morenos« implizit Weiße und hellhäutige »Blancos« günstiger als ihre eigenen Gruppen (Uhlmann u.a. 2002); Schwarze und farbige Kinder in Südafrika bevorzugen Weiße (Newheiser u.a. 2014); in den Vereinigten Staaten bewerten Student*innen, die einer Minderheit angehören, implizit weiße Student*innen günstiger als ihre eigenen Gruppen (Ashburn-Nardo u.a. 2003; Jost u.a. 2002; Jost u.a. 2004). Darüber hinaus zeigten mehrere Studien, dass das Ausmaß des impliziten Outgroup-Bias bei den Benachteiligten positiv mit den ermittelten Werten zu Systemrechtfertigung und Konservatismus korreliert, so wie von der Theorie der Systemrechtfertigung vorhergesagt (Ashburn-Nardo u.a. 2003; Hoffarth/Jost 2017; Jost u.a. 2004).

Weitere Fragen, Kritiken und Antworten Wenn ich über die verschiedenen Kritiken an der Systemrechtfertigungstheorie nachdenke, die im Laufe der Jahre hervorgebracht wurden, tröstet mich T. S. Eliots Feststellung, dass »Kritik so unvermeidlich ist wie das Atmen«. Es ist als Autor schwierig zu wissen, wie und wann man auf seine Kritiker*innen reagieren soll; zu wenig Reaktion kann als Unnahbarkeit oder

—————— 4 Aus Gründen, die mir unklar sind, wehrt sich Brown (2010) vehement gegen die Vorstellung, dass implizite Messungen von Einstellungen Beweise für eine Outgroup-Verzerrung liefern können (S. 239–241). Dennoch beschreibt er im selben Buch auf mehreren Seiten Studien, die zu derselben Schlussfolgerung gelangt sind: nämlich, dass es eine »consistent tendency for children from (dominant) majority groups to show strong ingroup identification and preference, whilst the identification of children from (subordinate) minority groups with their ingroup was much weaker and often paralleled by evaluative preferences for stimuli symbolic of the majority group« (S. 116). Vielleicht glaubt er, dass Angehörige benachteiligter Gruppen als Kinder regelmäßig Vorurteile gegenüber anderen Gruppen aufweisen, aber nie als Erwachsene?

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Ablehnung aufgefasst werden, und zu viel wird mit Sicherheit defensiv wirken. Nach einem Vierteljahrhundert Forschung zur Systemrechtfertigung mag dies nun der geeignete Zeitpunkt sein, um eine Bestandsaufnahme der Fragen und Kritiken vorzunehmen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben, und sie versuchsweise zu beantworten. Ich bin bereits auf zwei Haupteinwände gegen die Theorie der Systemrechtfertigung eingegangen, nämlich dass (1) Menschen zwar durch soziales Lernen systemrechtfertigende Überzeugungen annehmen können, dass es aber keinen Beweis dafür gibt, dass sie eine intrinsische Motivation für die Systemrechtfertigung haben, und dass die Theorie es (2) versäumt, situative und dispositionale Moderatoren der Systemrechtfertigung genauer zu benennen. Als Antwort auf den ersten Einwand habe ich fünf verschiedene Arten von Belegen zusammengefasst, die darauf hindeuten, dass die Systemrechtfertigung ein zielgerichteter Prozess ist, der mit Selbsttäuschung, defensiver Motivation, voreingenommener Informationsverarbeitung, Verhaltensanpassungen und anderen Merkmalen der Zielverfolgung verbunden ist (Jost u.a. 2010). In Erwiderung auf die zweite Kritik erwähnte ich eine Reihe von situativen Moderatoren, darunter das Konfrontiertsein mit Systemkritik und -bedrohung, der Eindruck einer Unvermeidbarkeit beziehungsweise Unausweichlichkeit des Systems, die wahrgenommene historische Beständigkeit des Systems und Gefühle der Ohnmacht oder Abhängigkeit (vgl. auch Friesen u.a. 2018; Jost/van der Toorn 2012). Ich habe zudem auch zu den dispositionalen Moderatoren der Systemrechtfertigung gearbeitet und epistemische, existenzielle und relationale Motive zur Reduzierung von Unsicherheit, Bedrohungsszenarien und sozialen Spannungen untersucht (Hennes u.a. 2012; Jost u.a. 2017b). Es gibt aber auch neuere Einwände gegen die Theorie der Systemrechtfertigung, auf die ich bislang noch nicht eingegangen bin – darum möchte ich die Gelegenheit nutzen, dies hier zu tun. Beginnen wir mit einer recht breitgefächerten Kritik von Owuamalam u.a. (2018a), die herausstellten, dass die Systemrechtfertigung durch Mitglieder benachteiligter Gruppen – auf der Grundlage der Social Identity Theory, nicht anhand der Systemrechtfertigungstheorie – erklärt werden kann als (1) »a passive reflection of social reality«, (2) »a form of in-group bias (at the superordinate level)«, und (3) »the hope that in-group advancement is possible in the future within the prevailing system« (S. 91). Zusätzlich zu diesen drei Einwänden werde ich auf noch auf weitere Kritiken der Theorie der Systemrechtfertigung eingehen, die fast alle mit dem Ansinnen formuliert wurden, die Social Identity

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Theory zu verteidigen (Brewer 2007; Caricati 2017; Caricati/Sollami 2018; Désert/Leyens 2006; Haslam u.a. 2002; Jetten u.a. 2012; Reicher 2004; Reynolds u.a. 2013; Rubin/Hewstone 2004; Spears u.a. 2001).

Spiegelt der Vorgang der Systemrechtfertigung lediglich passiv das Bild der »sozialen Wirklichkeit« wider? Das Konzept der »social reality constraints« hat in mehreren Kritiken der Theorie der Systemrechtfertigung eine zentrale Rolle gespielt (Brewer 2007; Rubin/Hewstone 2004; Spears u.a. 2001), die von Jost (2011) ausführlich behandelt wurden. Dennoch argumentierten Owuamalam u.a. (2018a) erneut, dass »people may reflect the reality of social hierarchies by acknowledging that, on specific status-related dimensions, high-status outgroups are better than low-status in-groups« (S. 93), und dass es zur Erklärung dieses Phänomens keiner Motivation zur Systemrechtfertigung bedarf. Vor fünfzehn Jahren verglichen Rubin und Hewstone (2004) die Notlage derjenigen, die in der Gesellschaft benachteiligt sind, mit einer unterlegenen Fußballmannschaft, die zugeben muss »that they lost the game and that the other team won«, und argumentierten, dass »this response is simply the passive reflection of the current status quo, as specified in a socially shared reality« (S. 831). Meiner Meinung nach wird hier die Psychologie der Systemrechtfertigung deutlich falsch dargestellt; arme Menschen, Frauen und sexuelle Minderheiten u. a. haben nicht das Gefühl, dass sie »gespielt« und »verloren« haben. Diese von Rubin und Hewstone (2004) vertretene Position – die von Owuamalam u.a. (2018a) aufgegriffen wird – trivialisiert Probleme der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit (und charakterisiert sie auf sehr fehlerhafte Art und Weise). Zudem ignoriert sie die vielen verschiedenen Wege, wie Ungleichheit in der Gesellschaft legitimiert wird (vgl. CostaLopes u.a. 2013). Ich stimme zwar der Aussage zu, dass einige Fälle von Systemrechtfertigung eher passiv (und unbewusst) als aktiv (und bewusst) sind. Hochschild (1981) wies bereits darauf hin: »Some people enthusiastically endorse the status quo; some passively acquiesce in it; some strongly oppose it; and some are simply indifferent to it« (S. 262f.). Dennoch widerspreche ich den Annahmen von Rubin und Hewstone (2004) und Owuamalam u.a. (2018a).

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Wir wissen aus umfangreicher soziologischer Forschung, dass heutige Gesellschaften nicht in der Lage sind, »gleiche Wettbewerbsbedingungen« für Reiche und Arme, Männer und Frauen, ethnische Mehrheiten und Minderheiten usw. zu schaffen. In solchen Kontexten spiegelt der Akt des »admitting defeat« – oder des »acknowledging objective difference«, wie Marilynn Brewer (2007: 733) es formulierte – einen ideologischen Prozess wider, in dem die Legitimität des Status quo (bewusst oder unbewusst) als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Manchmal besteht dieser Prozess auch nur aus »komplizenhaftem Schweigen« (Bourdieu 1986: 188; siehe auch Berger/Luckmann 1966; Zelditch 2001). Ebenso setzt das Eingestehen einer Niederlage in einem Fußballspiel die Legitimität der Liga, der Wettbewerbsregeln, der Kompetenz und des Verhaltens der Schiedsrichter sowie des Verhaltens der anderen Mannschaft voraus (Jost 2011). Anderenfalls würde die »unterlegene Mannschaft« nicht sagen: »Wir haben verloren«; sie würde sagen: »Wir wurden betrogen!« Wenn die Benachteiligten also davon ausgehen, dass sie nicht so klug oder fleißig oder kompetent oder verdienstvoll sind wie die Angehörigen begünstigter Gruppen, verleihen sie in der Tat den Status- und Machtunterschieden in der Gesellschaft Legitimität und verstärken sie so. Van Knippenberg (1984) hat auf dieses Phänomen bereits vor 35 Jahren hingewiesen, als er schrieb: »The perceptions and evaluations of the higher status group can thus be seen as containing the implicit claim that the distribution of outcomes is legitimate« (S. 573). Sozialpsychologen sollten erkennen, dass der Unterschied zwischen dem »Eingestehen der Niederlage« und der Zurschaustellung dessen, was Lewin (1941/1948) als »Gruppenselbsthass« bezeichnete, ein Unterschied ums Ganze ist. Die Tatsache, dass Angehörige benachteiligter Gruppen ihresgleichen oft implizit mit unangenehmen oder sogar ekelerregenden Worten und Bildern assoziieren, sagt uns etwas Wichtiges über die Auswirkungen hierarchischer sozialer Systeme auf unser Bewusstsein und unser Unbewusstes (Jost u.a. 2004) – ebenso wie die Tatsache, dass moralische Empörung und Proteste unter den »Verlierern« der Gesellschaft überraschend selten sind (Jost u.a. 2017a). Sogar in Zeiten weit verbreiteter Unzufriedenheit geht nur eine kleine Minderheit von Bürgern auf die Straße, und wenn sie es tun, gibt es erhebliche Gegenreaktionen (vgl. zum Beispiel Langer u.a. 2019).

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Spiegelt die Systemrechtfertigung lediglich (unrealistischen) Optimismus wider? Die Hauptkritik von Owuamalam u.a. (2018a) lautet, dass Systemrechtfertigung als Mechanismus seitens der Benachteiligten lediglich eine unbestreitbare »soziale Realität« widerspiegelt. In zweiter Linie scheinen Owuamalam u.a. zu kritisieren, dass die Theorie der Systemrechtfertigung nur Optimismus reproduziert: Dieser hofft darauf, dass »in-group advancement is possible […] within the prevailing system« (S. 91), so unrealistisch dies auch sein mag. Das ist eine überraschend beliebte Erklärung der Rechten (z. B. David Brooks, Marco Rubio) und Linken (zum Beispiel Michael Moore, Bill Maher und Stephen Colbert) dafür, warum arme Menschen sich der Umverteilung von Reichtum widersetzen: nämlich, dass sie den Glauben daran bewahren, im Kapitalismus eines Tages reich zu werden. Dies könnte in der Tat einer von vielen Gründen sein, warum Menschen an der Rechtfertigung des herrschenden Systems partizipieren, sodass ich dies nicht als grundlegende Kritik an der Theorie betrachte. 5 Jost, u.a. (2017b) analysierten nichtsdestotrotz erneut Datensätze aus einer kleinen, aber national repräsentativen Stichprobe von Amerikanern mit niedrigem Einkommen, die von Rankin u.a. (2009) befragt worden waren. Man fand nur wenige Hinweise darauf, dass die Mehrzahl von ihnen erwartete, reich zu werden. Nur 24 Prozent stimmten der Aussage »I believe that one day I may become rich« zu, während 47 Prozent ihr nicht zustimmten und 29 Prozent unsicher waren. Besonders auffällig ist, dass diejenigen, die in Bezug auf ihre Einkommenssituation optimistisch waren, keine höheren Werte bei der allgemeinen Systemrechtfertigung hatten. Auch waren sie im Vergleich zu den wirtschaftlich weniger optimistischen Befragten weder als

—————— 5 Eine andere Möglichkeit, die mit der Betonung von Überzeugungen über soziale Mobilität in der Theorie der sozialen Identität übereinstimmt (vgl. Hogg/Abrams 1988), besteht darin, dass die Menschen das Sozialsystem in dem Maße als legitimer wahrnehmen, in dem es (einigen) Menschen gestattet, ihre Situation zu verbessern. Dieser Gedanke scheint mir mit der Theorie der Systemrechtfertigung vollkommen vereinbar zu sein (vgl. auch Day/Fiske 2017; Garcia-Sanchez u.a. 2018) – insbesondere, wenn man bereit ist einzuräumen, dass Menschen motiviert sein könnten, den Grad der sozialen Mobilität in der kapitalistischen Gesellschaft überzubetonen. Daher kann diese Möglichkeit auch keine Grundlage für eine fundierte Kritik an der Theorie bilden. Wie Hogg und Abrams (1988) feststellten, »it may be to the advantage of high-status groups to foster social mobility belief systems (or ›false consciousness‹, in Marxist terms) among low-status groups as this inhibits the perception of conflict of interests and weakens the cohesiveness and ability to act collectively of those groups« (S. 56).

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konservativer einzustufen noch waren sie häufiger Anhänger der Republikaner (vgl. Jost u.a. 2017b). Entgegen der Annahme von Owuamalam und Kollegen scheint also die empfundene Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Erfolgs – wie realistisch oder unrealistisch dieser auch sein mag – nicht für die Rechtfertigung des Systems in ökonomischer Hinsicht verantwortlich zu sein.

Ist Systemrechtfertigung lediglich eine Form von Ingroup-Bias? Owuamalam u.a. (2018a: 91) stellten darüber hinaus die Behauptung auf, dass die Systemrechtfertigung als »a form of in-group bias (at the superordinate level)« betrachtet werden sollte – vielleicht so etwas ähnliches wie Nationalismus oder Patriotismus, die wir aus der Perspektive der Systemrechtfertigung untersucht haben (vgl. van der Toorn u.a. 2014). Die Kritik von Owuamalam und Kollegen ist im Wesentlichen die gleiche wie die von Reynolds u.a. (2013), nämlich dass Menschen lediglich durch Eigeninteresse motiviert sind, und zwar auf der Ebene, auf der die Identifikation am stärksten ausgeprägt ist. Demzufolge »the question […] isn’t so much ›why do low status groups act against their self-interest?‹ but ,when and why do members of low status groups define themselves at the level of the system?« (S. 241). Es stehen also eigentlich zwei Dinge zur Debatte: (1) ob die Systemrechtfertigung auf Selbstkategorisierungsprozessen beruht, die sich auf einer höheren Ebene der Gruppenidentifikation abspielen, also beispielsweise auf der Ebene des Nationalstaats, und (2) ob der Mechanismus der Systemrechtfertigung das eigennützige (und gruppenorientierte) Verhalten auf dieser höheren Identifikationsebene widerspiegelt. Dies sind beides interessante Fragen, aber ich sehe mehrere große Probleme mit dem Gesamtargument, wenn es als Kritik an der Theorie der Systemrechtfertigung verwendet wird.6

—————— 6 Robbie Sutton hat auf sehr scharfsinnige Weise andere tiefgreifende Probleme in der Kritik von Owuamalam u.a. (2018a) ausgemacht. Er schrieb, dass »the claim that social systems can be a superordinate level of identification is conceptually suspect: One can be a member or exemplar of a group (individuals are related to social groups taxonomically), but only part of, or affected by, a system (individuals are related to social systems partonomically) […] it is coherent to say in some cases, a collective (e.g., the United States) can be viewed either as a system or as a group [but this] does not logically entail that any given system can be seen as a collective, or therefore as a group. To highlight this issue, the

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Zum einen liegt – wie im Fall der »Fußball«-Analogie – eine schwerwiegende Fehleinschätzung der Notlage der Arbeiterklasse vor, wenn behauptet wird, dass die Entscheidung einer armen Person, sich zum Beispiel zum Militär zu melden, lediglich »Eigeninteresse« widerspiegelt, das auf der Ebene der nationalen Identifikation ausgeübt wird – schließlich haben Menschen aus den benachteiligten Schichten oftmals keinen Zugang zu anderen Bildungswegen oder wirtschaftlichen Möglichkeiten. Laut der New York Times »since the draft was abolished in 1973, the [U.S.] has begun developing what could be called a warrior […] caste« – eine Kaste, die sich aus der Aufopferung der Arbeiterklasse speist (Halbfinger/Holmes 2003). Man muss nicht hinzufügen, dass seitdem tausende Menschen im Kampf gefallen sind. Aber dies ist nur ein einzelnes Schlaglicht auf die unzähligen Strategien, mit denen die Lebensbedingungen armer Menschen von denjenigen ausgebeutet werden, die vom Status quo profitieren (zum Beispiel Durrheim u.a. 2014) – und auf die ideologische Manipulation, die Mitglieder der Arbeiterklasse dazu bringt, falsche und selbstzerstörerische Überzeugungen sowohl in politischen als auch in wirtschaftlichen Fragen zu entwickeln (zum Beispiel Bartels 2008; Gilens 1999; Graetz/Shapiro 2006; Lukes 2011). Darüber hinaus sind auch die psychologischen Kosten zu benennen, die Reynolds u.a. (2013) sowie Owuamalam u.a. (2018a) weiterhin ignorieren. Angehörige ethnischer und sexueller Minderheiten, die dem System die Legitimität des Status quo »abkaufen«, leiden häufig unter mangelnder Selbstachtung, Depressionen, Angstzuständen, Neurotizismus und anderen psychischen Problemen (Bahamon-des-Correa 2016; Godfrey u.a. 2019; Jost/Thompson 2000; Suppes u.a. 2019). Die Behauptung also, dass Systemrechtfertigung durch Angehörige benachteiligter Gruppen dem rationalen Eigeninteresse diene, ist daher bestenfalls unvollständig und schlimmstenfalls völlig irreführend.

—————— ›system‹ at issue in a paper published by Owuamalam, Rubin, and Issmer (2016a) is a university-ranking system. This cannot meaningfully be seen as any kind of collective, let alone a group to which one might belong. Rather, it is a social institution or practice that is exogenous to the groups affected by it, yet in which they (are forced to) participate, and upon which they depend. Owuamalam, u.a.’s conception of a social system is a shapeshifter: to make some points, they conceptualize systems as groups, but to make others, they conceptualize them as social practices. (I’m also not sure that this rating system can properly be described as a social system: it seems rather to be a metric that is used within a system for various purposes)«.

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Darüber hinaus ist jede »Erklärung«, die allein unter dem Gesichtspunkt der sozialen Identifikation geliefert wird, fragwürdig: Um den Konservatismus der Arbeiterklasse anhand dieser Theorie verstehen zu können, müssten wir wissen, warum sich arme Menschen überhaupt mit den Reichen (wie den Country-Club-Republikanern) »identifizieren« würden. Die Theorie der Systemrechtfertigung hebt die Tatsache hervor, dass die AußengruppenFavorisierung in Situationen wie dieser einen ideologischen Prozess widerspiegelt, der gleichbedeutend ist mit falschem Bewusstsein und der Verinnerlichung von Minderwertigkeit (Jost u.a. 2004). Das soll nicht heißen, dass es keine Beziehung zwischen den verschiedenen Dimensionen von Gruppenidentifikation und ideologischen Prozessen wie der Systemrechtfertigung gibt. Wie Shayo (2009) aufzeigte, identifizieren sich arme Menschen weltweit im Vergleich zu reichen Menschen stärker mit ihrer Nation (und weniger stark mit ihrer sozialen Klasse), und diejenigen, die sich stärker mit der Nation identifizieren, unterstützen die wirtschaftliche Umverteilung weniger als diejenigen, die sich nicht damit identifizieren. Dies sind wichtige Erkenntnisse, die meiner Meinung nach die Art und Weise aufzeigen, wie Prozesse der sozialen Identifikation und der Systemrechtfertigung miteinander verflochten sind.

Spiegelt der Konservatismus der Arbeiterklasse einen Prozess der Dissonanzreduktion wider? In einem ambitionierten Versuch, die Marxʾsche Analyse des falschen Bewusstseins mit der Forschung über kognitive Dissonanz zu verbinden, schlug der Sozialtheoretiker Jon Elster (1982) vor, dass »[the] interest of the upper class is better served by the lower classes spontaneously inventing an ideology justifying their inferior status«. Diese Ideologie könne »the interest of the lower classes in the sense of leading to dissonance reduction« dienen, obwohl »[it] is contrary to their interest« in dem Sinne, dass sie »excessive meekness« produzieren könnte (S. 142). Diese Formulierung faszinierte mich, und untermauerte die Schlussfolgerungen von Robert E. Lane (1959/2004) aus Interviews mit Arbeitern, die fanden »it less punishing to think of themselves as correctly placed by a just society than to think of themselves as exploited, or victimized by an unjust society« (S. 227). Es passte zudem auch zu anderen klassischen Beispielen der Theorie kognitiver

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Dissonanz, einschließlich der Fälle von Anwärtern für fraternities, die zur Initiation besonders stark schikaniert worden waren – um später ausnehmend fanatische Anhänger des Fraternity-Systems zu werden (Aronson/Mills 1959; Gerard/Mathewson 1966). Motiviert von diesen Beispielen untersuchten Jost u.a. (2003c) die Hypothese, dass die durch den Status quo am stärksten benachteiligten Menschen auch jene seien, die das am stärksten ausgeprägte Bedürfnis zur Rechtfertigung bestehender sozialer Systeme und Autoritäten hätten – eine Annahme, die in sich selbst eine Mischung aus kognitiver Dissonanztheorie und Systemrechtfertigungstheorie war. Man konnte im Rahmen dieser Studie einige Ergebnisse öffentlicher Umfragen heranziehen, die darauf hindeuteten, dass einkommensschwache Amerikaner mit europäischen Wurzeln, Afroamerikaner und Latinos eher als andere Gruppen der Regierung Vertrauen schenkten, häufiger die Unterdrückung von Regierungskritik guthießen und dem Glauben anhingen, dass die Gesellschaft Leistung anerkennt und die wirtschaftliche Ungleichheit daher legitim und notwendig sei. Diese Ergebnisse stimmten weitgehend mit der aus der Dissonanztheorie abgeleiteten Vorstellung überein, dass diejenigen, die am stärksten unter einem bestimmten Zustand leiden, besonders motiviert sind, ihn zu rechtfertigen (vgl. auch Henry/Saul 2006; Sengupta u.a. 2015). Einige wenige Studien haben diese Idee in jüngster Zeit aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass die palliativen Auswirkungen der Systemrechtfertigung zumindest unter bestimmten Umständen für die sozial Benachteiligten stärker sein können als für privilegierte Gruppen (Sengupta u.a. 2017; Vargas-Salfate 2017). Jedoch hatten Jost u.a. (2003c) bereits ausdrücklich darauf hingewiesen, dass »economic and other theories of material and symbolic self-interest may be said to account for the ›baseline‹« (S. 14) und betonten: »To be clear, we are not arguing that members of disadvantaged groups are always (or even ordinarily) the most likely ones to provide ideological support for the system. In fact, to the extent that system justification conflicts with motives for self-enhancement, self-interest, and ingroup favoritism among members of disadvantaged groups […] it should often be tempered by these other motives.« (S. 17)

So haben wir die Dissonanzverringerung nie als »Motor« der Systemrechtfertigung angesehen, wie eine nicht geringe Zahl von Wissenschaftlern offenbar fälschlicherweise angenommen hat (Brandt 2013; Caricati 2017; Caricati/Sollami 2018; Owuamalam u.a. 2016b; Owuamalam u.a. 2018a; 2018b; Vargas-Salfate u.a. 2018b).

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Brandt (2013) ging sogar so weit, die Dissonanz-basierte Hypothese in »status-legitimacy hypothesis« umzubenennen und auf andere Bereiche – wie das Geschlechterverhältnis und den Bildungsbereich – anzuwenden, gleichwohl diese nicht Teil des ursprünglichen Forschungsprogramms waren. Seine Analysen zeigten wenige Unterschiede zwischen Gruppen unterschiedlichen Statusrangs in Bezug auf Regierungs- und Institutionenvertrauen, und er kam zu dem Schluss, dass das Phänomen »may be a random event without need of a theoretical explanation« (S. 2). Brandt fand kaum Belege für eine erhöhte Systemrechtfertigung bei Angehörigen benachteiligter Gruppen – aber er fand auch wenig oder nur wenig konsistente Belege für gruppenbasiertes Eigeninteresse. Seine Null-Ergebnisse stehen daher gleichermaßen im Widerspruch zu Theorien realistischer Gruppenkonflikte, sozialer Identifikation und sozialer Dominanz (vgl. Caricati/ Sollami 2018; Vargas-Salfate u.a. 2018b). Wie ich bereits an anderer Stelle argumentiert habe (Jost 2017), müssen wir uns in den Sozialwissenschaften also noch immer mit der grundlegenden Frage auseinandersetzen: Warum ist es so, dass Mitglieder der Arbeiterklasse genauso wahrscheinlich – oder fast genauso wahrscheinlich – wie die Mittel- und Oberschicht den gesellschaftlichen Status quo verteidigen und rechtfertigen?7 Der Konservatismus der Arbeiterklasse mag in der Tat wenig oder gar nichts mit der Reduktion kognitiver Dissonanz zu tun haben, wie Owuamalam u.a. (2016b; 2018a) argumentiert haben. Ihre Analyse ist jedoch zutiefst verworren: Sie gehen davon aus, dass eine Unvereinbarkeit von kognitiver Dissonanztheorie und der Hypothese vorliegt, dass die Motivation zur Systemrechtfertigung bei Benachteiligten »should be apparent only when their personal and group interests are relatively weak«, weil »dissonance should be greatest when dissonance-arousing cognitions are self-relevant and important« (S. 92) – und verwechseln so »self-interest« mit »self-relevance«. Ich stimme zwar der Annahme zu, dass Menschen nur dann motiviert sind, den Status quo zu rechtfertigen, wenn es persönlich für sie relevant ist (vgl. Kay u.a. 2002) – aber es ist naiv anzunehmen, dass nur diejenigen das kapitalistische System verteidigen, die davon profitieren oder

—————— 7 Zhang und Zhong (2019) liefern Beweise aus China, dass Erwachsene, die ein niedrigeres Einkommen und einen geringeren Bildungsstand haben, tendenziell mehr Kinder in einem jüngeren Alter bekommen (was sie abhängiger von staatlicher Unterstützung macht). Sie sind daher eher gewillt, die Autorität der chinesischen Regierung zu verteidigen und zu rechtfertigen.

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anderweitig durch Eigeninteresse motiviert sind (oder sich direkt mit der Klasse der »Kapitalisten« identifizieren). Darüber hinaus verwechseln Owuamalam u.a. (2018a) soziale Stabilität – die bekanntermaßen die Tendenz zur Systemrechtfertigung verstärkt (Laurin u.a. 2013) – mit einem Mangel an Wahlmöglichkeiten. Sie schreiben: »If the system is perceived to be stable, then the potential for uncertainty and associated dissonance will be low, and so the motive for system justification should be weak and relatively ineffective«, aber »if the system is perceived to be unstable, then the potential for uncertainty and thus cognitive dissonance is high, and the system-justification motive should be strong and more effective.« (S. 95)

Ich sehe aus der Perspektive der Theorie kognitiver Dissonanz keinen Grund, warum ein hochstabiles Gesellschaftssystem – wie der Kapitalismus es ist – keine Rechtfertigungsmotive hervorrufen sollte, solange die Bürger*innen das Gefühl haben, dass sie sich dafür entscheiden, daran zu partizipieren – und nicht dazu gezwungen werden wie in einem totalitären System.8 Ein anonymer Gutachter, der sich später als Robbie Sutton herausstellte, benannte eine Reihe weiterer Defizite des Arguments von Owuamalam u.a. (2018a), demzufolge »›contrary‹ to SJT [System Justification Theory], when social arrangements are stable in the short term but not long term, people justify them more, because they have greater hope for improved status«. Problematisch an dieser Argumentation sind laut Sutton die folgenden Aspekte: (1) Es ist inkohärent, »to talk about stability through time as anything other than stability in the long term, because ›stable, but only in the short term‹ seems oxymoronic«; (2) Owuamalam u.a. unterscheiden zwar klar zwischen kurz- und langfristiger Stabilität, aber »the cited study operationalizes stability as stability per se: the stability factor has two levels, high (university rankings don’t fluctuate year to year) and low (they go up and down year

—————— 8 Owuamalam u.a. (2018a) behauptet auch, dass es mit der Theorie der Systemrechtfertigung unvereinbar ist anzunehmen, dass »a rejection [of the social system] is likely to be regarded as being unrealistic because it implies a revolution and anarchy that could invoke much greater uncertainty and threat« (S. 94) – aber dem ist nicht so. Genau aus diesem Grund argumentiere ich, dass die Infragestellung des Systems – und das Drängen auf sozialen Wandel – das Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung verschärft und Gegenreaktionen auslöst (Hennes u.a. 2012; Jost/Hunyady 2005; Jost u.a. 2008a; 2017b).

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to year). It doesn’t have anorthogonal manipulation of short vs. longterm stability«; (3) »the manipulation refers to more or less stochastic fluctuations through time and not about the likelihood of progress: for one group to systematically improve its position, of the kind that interested Tajfel«; (4) »the manipulation does not refer to any change in the system. It just refers to the hierarchical position of groups within the system«; und (5) Owuamalam u.a. »also describe the university system ranking system as ›legitimate‹, which they describe as a precondition for [system justification] effects, but no effort is made to manipulate the legitimacy of the university ranking system: the legitimacy of the ranking system is rather a DV«. Ich für meinen Teil finde diese Kritik an der Arbeit von Owuamalam u.a. (2018a) ziemlich überzeugend und hoffe, dass die Autor*innen sich damit auseinandersetzen werden.

Aber nun nochmal im Ernst: Warum sind Konservative glücklicher als Liberale? Wie bereits erwähnt stellten Napier und Jost (2008) fest, dass politisch Konservative im Vergleich zu Liberalen mehr Glück und persönliche Zufriedenheit berichten als Liberale, und dass dieses »Glücksgefälle« zum Teil durch die Rechtfertigung von Ungleichheit vermittelt wird. Dieses Ergebnismuster hat sich vielfach wiederholt (Bixter 2015; Burton u.a. 2015; Butz u.a. 2017; Choma u.a. 2009; Cichocka/Jost 2014; Newman u.a. 2018; Okulicz-Kozaryn u.a. 2014; Onraet u.a. 2016; Schlenker u.a. 2012; Wojcik u.a. 2015). Diese Replikationsstudien haben die Kritiker jedoch nicht daran gehindert, selbst die Grundidee in Frage zu stellen: nämlich, dass Systemrechtfertigung eine palliative Funktion hat. So behaupten Jetten u.a. (2012), dass das Glücksgefälle zwischen Liberalen und Konservativen darauf zurückzuführen ist, dass Konservative wohlhabender sind und dies »gives them access to more group memberships«, was sie wiederum glücklicher macht. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass »what makes conservatives happy is not conservative ideology but rather material advantage« (S. 7). Auch diese alternative Erklärung von Jetten u.a. kann jedoch die Ergebnisse von Napier und Jost (2008) schlicht nicht erklären, da wir in all unseren Analysen das persönliche Einkommen statistisch kontrolliert hatten – und dennoch blieb der Unterschied

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beim Glücksempfinden signifikant. Um tiefer in diese Frage einzutauchen, analysierten Butz u.a. (2017) Daten aus einer national repräsentativen Stichprobe in Deutschland und stellten fest, dass die Rechtfertigung sozialer und ökonomischer Ungleichheit mit Konservatismus und Lebenszufriedenheit zusammenhängt, was die Theorie der Systemrechtfertigung klar untermauerte – während andere Variablen, die als alternative Erklärungen vorgeschlagen wurden, beispielsweise die Anzahl der Gruppenmitgliedschaften (Jetten u.a. 2012) und der allgemeine Hang zum Optimismus (Schlenker u.a. 2012) dies nicht taten.

Kann die Theorie der Systemrechtfertigung sozialen Wandel erklären? Einige Kritiker behaupten, dass die Systemrechtfertigungstheorie – weil sie versucht, die Motivation hinter der Erhaltung des Status quo zu verstehen – nicht in der Lage ist, Protest und sozialen Wandel zu erklären (Désert/ Leyens 2006; Haslam u.a. 2002; Reicher 2004; Sidanius u.a. 2004; Spears u.a. 2001). Jedoch suggeriert die Theorie der Systemrechtfertigung nicht, dass sozialer Wandel unmöglich ist, sondern nur, dass er schwierig ist – sowohl aus psychologischen als auch aus anderen Gründen (Jost 2015). Man könnte diese Gemengelange auch mit Bruno Bettelheims Worten ausdrücken: »Most people want to make sure that tomorrow is just like yesterday« (Jost 2015). Reicher (2004) behauptete, dass »Revolte«, »Widerstand« und »Gegenmobilisierung« in der menschlichen Gesellschaft ebenso präsent seien wie soziale Stagnation (S. 941), aber das halte ich für unrealistisch. Die Umfragedaten der World Values Survey zur öffentlichen Meinung bestätigen, dass weniger als jeder fünfte Bürger Nordamerikas, Westeuropas, Australiens und Neuseelands jemals an einer politischen Demonstration teilgenommen hat – und mehr als ein Drittel gibt an, dies auch niemals tun zu wollen (Jost u.a. 2017a: 100). Ich vermute, dass Reicher möglicherweise Foucault wiedergegeben hat, der schrieb: »As soon as there is a power relation, there is a possibility of resistance. We can never be ensnared by power: we can always modify its grip in determinate conditions and according to a precise strategy«. Und: »The struggle is everywhere […] at every

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moment, we move from rebellion to domination, from domination to rebellion.« (Foucault zitiert nach Fontana/Bertani 2003: 280)

Ich stimme zwar zu, dass es in der Tat immer die Möglichkeit des Widerstands gibt, aber das ist etwas ganz anderes als die Behauptung, dass in der Praxis Verteidiger und Herausforderer des gesellschaftlichen Status quo gleichberechtigt sind; sie sind es aus sozialen und psychologischen sowie aus historischen, wirtschaftlichen und institutionellen Gründen nicht. Meiner Meinung nach war Gramsci mit folgender Feststellung viel treffsicherer als Foucault: »[The] great mass of people hesitate and lose heart when they think of what a radical change might bring. […] [and] only imagine the present being torn to pieces«. Es war schließlich Simone de Beauvoir, die im Gegensatz zu Foucault erkannte, dass »real repression – or oppression – of the self is always possible« (Kruks 2006: 58), und Forschungsprogramme zur Selbstobjektivierung und Körperscham bei Frauen geben Beauvoir Recht (z. B. Calogero 2013; Calogero/Jost 2011; Fredrickson u.a. 1998). Es gibt indes verschiedene Möglichkeiten, sozialen Wandel aus der Perspektive der Systemrechtfertigungstheorie zu berücksichtigen (Gaucher/ Jost 2011). Zunächst einmal existieren andere, von der Theorie identifizierte Motive wie beispielsweise die Selbst- und Gruppenrechtfertigung sowie der Wunsch nach Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Verbesserung, die in bestimmten Situationen die Beweggründe für Systemrechtfertigung sehr wohl übertrumpfen können (Day/Fiske 2017; Johnson/Fujita 2012; McCall u.a. 2017). Und obwohl ich die Überzeugung von Lewin (1947) teile, dass Widerstand gegen Veränderungen nur allzu menschlich ist, werden dennoch viele Leute – wenn ein Regimewechsel als äußerst wahrscheinlich oder unvermeidlich empfunden wird – auch einen neu entstehenden Status quo rechtfertigen (Kay u.a. 2002; Laurin 2018; Laurin u.a. 2012). So beschreibt Kuran (1991: 25f.) sogenannte »revolutionary bandwagons«, in denen Osteuropäer – unter anderen – »a remarkable tolerance for tyranny and inefficiency« an den Tag legten und jahrzehntelang »docile, submissive, and even outwardly supportive of the status quo« blieben, bevor die scheinbare »invulnerability of the status quo« 1989 endgültig zersplitterte. Darüber hinaus zeigt die Theorie der Systemrechtfertigung, dass die Menschen weniger defensiv und offener für neue Möglichkeiten sind, wenn potenzielle Veränderungen des Status quo als »systemsanktioniert« beschrieben werden, d. h. als vereinbar mit der Erhaltung des übergeordneten Sys-

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tems, wie wir im Fall von ökologischen Initiativen festgestellt haben (Feygina u.a. 2010). Eine andere Möglichkeit wird in der Arbeit von Fernando u.a. (2018) aufgemacht: Dort wird daraufhin gewiesen, dass der Akt des utopischen Denkens und die mentale Gegenüberstellung von tatsächlichem und idealem Zustand der Gesellschaft die Rechtfertigung des Systems reduzieren und die Motivation für sozialen Wandel erhöhen kann. »Imagine no possessions. . . no need for greed or hunger, a brotherhood of man, imagine all the people sharing all the world« – Als John Lennon in seinem weltbekannten Lied »Imagine« die Vorstellung einer besseren Welt beschwor, wusste er sehr wohl, dass diese Gedankenübung eine kritischere Perspektive auf den Status quo aufzeigen würde. Vielleicht hat er auch erwartet, dass das Lied systemrechtfertigende Gegenreaktionen provozieren würde – und zwar in der Art, wie Haidt (2012: 311) ihnen Ausdruck verleiht: »It’s a vision of heaven for liberals, but conservatives believe it would quickly descend into hell. I think conservatives are on to something«. Jost u.a. (2017a) nahmen explizit die Motivation zur Systemrechtfertigung in ein Modell kollektiven Handelns auf und wiesen darauf hin, dass das Social Identity Model of Collective Action (SIMCA) ideologische und systemische Faktoren ignoriert, weil es Protest ausschließlich im Zusammenhang mit InGroup/Out-Group-Dynamiken konzeptualisiert (van Zomeren u.a. 2008). Dadurch werden wichtige politische und psychologische Unterschiede zwischen kollektivem Handeln, das das System infragestellt, und jenem, das das System stützt, übersehen. Abrams und Grant (2012) schlugen ein umfassenderes Modell vor, in dem Präferenzen für sozialen Wandel die Effekte der Gruppenidentifikation und relativer Deprivation auf die Unterstützung schottischen Nationalismus mediieren. So zeigt sich, dass Erklärungsansätze für kollektives Handeln, die sowohl die Theorie der sozialen Identität als auch die der Systemrechtfertigung einbeziehen, komplementär funktionieren und sich gegenseitig befruchten können. In Studien, die in Neuseeland und den Vereinigten Staaten durchgeführt wurden, testeten Osborne u.a. (2019) ein integratives Modell, das ebenfalls Variablen aus beiden Theorien einbezog. Unter anderem stellten sie fest, dass sowohl bei Mitgliedern von Gruppen mit niedrigem als auch jenen mit hohem Status (1) Systemrechtfertigung in gleichem Maße zu einer negativen Einschätzung systembedrohenden kollektiven Handelns führte (z. B. Unterstützung der »Black Lives Matter«-Bewegung) und zu einer positiven Einschätzung systemerhaltenden kollektiven Handelns (z. B. Unterstützung der »All Lives Matter«-Bewegung) und (2) Gruppenidentifikation, Ungerechtigkeitsemp-

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finden und Wut, die Auswirkungen der Systemrechtfertigung auf kollektive Handlungsabsichten mediieren.

Zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten der Theorie der Systemrechtfertigung zur Analyse sozialen und politischen Verhaltens Die Theorie der Systemrechtfertigung, so wie ich sie verstehe, ist in hohem Maße »praktisch« beziehungsweise »relevant« im Sinne Lewins, weil sie bei der Diagnose und Behandlung sozialer Schwierigkeiten hilft. Dazu gehören auch viele der Probleme, die Apologeten des Status quo am liebsten ignorieren würden, unter anderem Rassismus, colorism, Sexismus, Klassismus, Selbstobjektivierung, Toleranz von Korruption, Legitimierung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit, Feindseligkeit gegenüber Immigranten, Leugnung des Klimawandels und umweltschädliche Industriepraktiken (z. B. Brescoll u.a. 2013; Calogero/Jost 2011; Chapleau/Oswald 2014; Choma/ Prusaczyk 2018; Feygina u.a. 2010; García-Sánchez u.a. 2018; Hässler u.a. 2018; Hennes u.a. 2016; Intawan/Nicholson 2018; Jost 2015; Jost/Kay 2005; Kay/Jost 2003; Napier/Jost 2008; Napier u.a. 2010; Pacilli u.a. 2011; Shepherd/Kay 2012; Tan u.a. 2016; Vainio u.a. 2014; van der Toorn u.a. 2011; 2015). Im hier vorliegenden Artikel habe ich versucht, Beispiele dafür zu geben, wie die Theorie der Systemrechtfertigung angewandt werden kann, um gesellschaftliche Phänomene besser zu verstehen. Bevor ich schließe, möchte ich noch etwas mehr über ihre Anwendungsmöglichkeiten zur Analyse politischen Verhaltens sagen. Die Motivation zur Systemrechtfertigung lässt viele Rückschlüsse auf politisches Verhalten zu, beispielsweise im Hinblick auf die Beteiligung (und Nicht-Beteiligung) an kollektivem Handeln (Jost u.a. 2017a; Langer u.a. 2019) und die Unterstützung bestimmter politischer Kandidat*innen (beziehungsweise die Opposition gegen sie) (Azevedo u.a. 2017), Parteien (Jost u.a. 2017b) und Bewegungen (Hennes u.a. 2012). Weltweit durchgeführte Studien zeigen, dass Systemrechtfertigung fast immer positiv mit der Befürwortung politisch konservativer oder rechter Ideologien korreliert. Dies passt zu der Vorstellung, dass der Konservatismus eine Ideologie ist, die den Status quo zu erhalten versucht, und dass Rechtsextreme mehr als Linke die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten als

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legitim und wünschenswert wahrnehmen (Jost u.a. 2003a; 2003b; 2004; 2009; 2017b). In Argentinien, Finnland, Ungarn, dem Libanon, Neuseeland, Schweden, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten gibt es starke positive Korrelationen (oft 0,4 oder höher) zwischen Systemrechtfertigung und Rechtskonservatismus (vgl. Table 12.2 in Jost 2020). Etwas schwächer ist die Korrelation in Deutschland, Polen und Lettland, obwohl sie in fast allen Fällen positiv und statistisch signifikant bleiben. Das einzige Land, in dem wir bisher eine signifikant negative Korrelation zwischen Systemrechtfertigung und konservativen Einstellungen beobachtet haben, ist Frankreich. Dort korreliert die allgemeine Rechtfertigung des Systems mit liberal-sozialistischen und nicht mit konservativen Einstellungen – und mit eher wenig Autoritarismus beziehungsweise Fremdenhass. So scheint es, dass die aufklärerischen Ideale von »liberte, egalité, fraternité« in Frankreich sehr tief verankert sind – gar so tief, dass sie heute den gesellschaftlichen Status quo repräsentieren. Zwar konnten wir in Kuba oder anderen sozialistischen Ländern keine Daten sammeln, aber in diesen Kontexten würden wir eine starke Korrelation zwischen der Rechtfertigung des Systems und linker politischer Orientierung erwarten. Kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen 2016 führten Azevedo u.a. (2017) eine landesweite, repräsentative Umfrage unter 1.500 Amerikanern durch, die allgemeine, wirtschaftliche und geschlechtsspezifische Skalen der Systemrechtfertigung verwendete. Aus einer Untersuchung der wichtigsten Korrelate dieser drei Formen der Systemrechtfertigung ergibt sich eine Reihe von Beobachtungen (vgl. Tabelle 12.3 in Jost 2020). Zunächst einmal waren die allgemeinen, wirtschaftlichen und geschlechtsspezifischen Systemrechtfertigungswerte stark und korrelierten positiv miteinander (mit r-Werten zwischen 0,33 und 0,58). Darüber hinaus korrelierten alle drei moderat positiv mit rechtem Autoritarismus (0,08 ≤ r ≤ 0,43), sozialer Dominanzorientierung (0,15 ≤ r ≤ 0,57), nationaler Identifikation (0,21 ≤ r ≤ 0,35) und einer Vielzahl von symbolischen und operativen Indikatoren des sozialen und wirtschaftlichen Konservatismus (0,13 ≤ r ≤ 0,65). Einkommen und Bildung korrelierten mit allen drei Arten der Systemrechtfertigung positiv, wenn auch nur schwach (mit r-Werten von 0,17 bis 0,21 beziehungsweise 0,05 bis 0,12). Wir stellten fest, dass ökonomische und geschlechtsspezifische (aber nicht allgemeine) Systemrechtfertigung den Widerstand gegen systemkritische soziale Bewegungen wie Occupy Wall Street, Black Lives Matter, Feminismus, Umweltschutz und sogar die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre

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(r-Werten zwischen 0,27 und 0,47) vorhersagen lässt. Alle drei Arten der Systemrechtfertigung korrelierten negativ mit Gerechtigkeitsempfinden, und dies sowohl aus der Perspektive von Opfern als auch von Beobachtern, Nutznießern und Tätern (–0,47 ≤ r ≤ –0,12). Dieser Befund ist wichtig, weil er für einen großen Unterschied zwischen Just-World-Theorien [dt.: Glaube an eine gerechte Welt; A. d. Ü.) und der Theorie der Systemrechtfertigung spricht (Jost/van der Toorn, 2012): Während Lerner (1980) argumentierte, dass eine genuine Sorge um Gerechtigkeit, inspiriert durch das »Gerechtigkeitsmotiv«, positiv mit dem Glauben an eine gerechte Welt, aber auch mit Tendenzen zum »Victim Blaming« [dt. »Opferbeschuldigung«; A. d. Ü] korrelieren müsste, folgt aus der Theorie der Systemrechtfertigung, dass es einen negativen Zusammenhang zwischen der Motivation zur Rechtfertigung des gesellschaftlichen Status quo und der Sensibilität für potenzielle Ungerechtigkeiten geben müsste (vgl. Abbildungen 7–9 in Jost 2019). Azevedo u.a. (2017) stellten fest, dass allgemeine Systemrechtfertigung in keinem Zusammenhang mit der Sympathie für bestimmte Präsidentschaftskandidaten im Jahr 2016 stand – wohl aber, dass ökonomische und geschlechtsspezifische Systemrechtfertigung positiv mit Sympathien für Donald Trump (0,39 ≤ r ≤ 0,40) und negativ mit Sympathien für Hillary Clinton (–0,40 ≤ r ≤ –0,32) assoziiert wurde, und zwar auf jeder Einkommens- und Bildungsebene (vgl. Abbildungen 7 und 8 in Jost, 2019). Bei der allgemeinen Systemrechtfertigung war dies jedoch nicht der Fall (vgl. Abbildung 9 in Jost, 2019). Als die drei Arten der Systemrechtfertigung in eine multiple Regression eingefügt wurden, korrelierte die allgemeine Systemrechtfertigung tatsächlich mit einer Bevorzugung von Clinton – der eher als »Mainstream« empfundenen Kandidatin – gegenüber Trump, dem destabilisierenden, weniger traditionellen Kandidaten. So lehnten die Trump-Anhänger zwar den »Status quo« der demokratischen Regierung unter Präsident Obama (und Außenministerin Clinton) klar ab, aber sie rechtfertigen – wie Konservative im Allgemeinen – nachdrücklich die bestehenden wirtschaftlichen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der Gesellschaft. Trump-Wähler*innen mögen von den Folgen des globalen Wettbewerbs unter kapitalistischen Bedingungen frustriert gewesen sein, aber es gab keine Belege dafür, dass sie das Wirtschaftssystem selbst für ihre Frustration verantwortlich machten.

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Abschließende Bemerkungen Sozialpsychologen, die unter dem weitreichenden Einfluss der Social Identity Theory stehen, gehen seit langem davon aus, dass »dominant group members are motivated to maintain the status quo and so to perceive it as legitimate, whereas subordinate group members are motivated to enhance their social identity and act toward change, perceiving the status quo as illegitimate« (DeMoulin u.a. 2009: 13). Dies scheint mir als ein erster Ansatz zum Verständnis der Beziehung zwischen motivierter sozialer Kognition und politischer Ideologie eine angemessene Annäherung an die Realität zu sein. Doch das Bild bleibt unvollständig: Wenn wir auf die Sozialgeschichte zurückblicken, sehen wir viele Begebenheiten, bei denen »liberale« oder »progressive« Mitglieder benachteiligter Gruppen für eine Änderung des Status quo und die soziale, wirtschaftliche und politische Gleichheit kämpften, und ebenfalls sehr viele Fälle, wo »konservative« Mitglieder benachteiligter Gruppen die Legitimität des Status quo verteidigten. Alles, was sich als vollständige Darstellung der sozialen und politischen Psychologie versteht, muss auch diese Phänomene berücksichtigen – deshalb glaube ich, dass wir sowohl eine Theorie der Systemrechtfertigung als auch eine Theorie der sozialen Identifikation brauchen. Ich möchte mit einem konkreten Beispiel schließen. Am 11. September 1964 weigerten sich die Beatles – angeführt vom 23-jährigen John Lennon – bei einem Konzert in Florida, den Grundsatz der Rassentrennung zu befolgen. Wir sollten uns fragen, wie vier sehr junge weiße Männer vor mehr als 50 Jahren – als viele Amerikaner die Rassentrennung noch als Teil des Status quo akzeptierten – ein so hohes Maß an moralischer Klarheit entwickeln konnten. Es wäre zu plump zu behaupten, dass es lediglich eine Frage der Innengruppen-Favorisierung (oder der Außengruppen-Abwertung) auf der Ebene der Nationalstaaten war, weil die Beatles Briten und keine Amerikaner waren – dagegen spricht, dass die Beatles viele Dinge an den Vereinigten Staaten liebten und am Vereinigten Königreich vieles kritisierten. Sie waren kaum als ausgeprägte Systemrechtfertiger in irgendeinem Kontext bekannt. Lennon zum Beispiel gab 1969 seinen MBE (Member of the Order of the British Empire) an die Königin von England zurück, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Gleichzeitig würde ich vermuten, dass das Ereignis von 1964 dazu beigetragen haben muss, das amerikanische System von außen zu sehen und nicht von innen – wo man von ihm

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abhängig ist und daher versucht ist, den Status quo zu verteidigen und zu rechtfertigen (oder zumindest zu tolerieren), und Defizite herunterzuspielen. Vielleicht ist es gerade dieser kritische Scharfblick, den wir sowohl individuell als auch kollektiv kultivieren sollten – damit wir uns nicht stillschweigend oder auf andere Weise an jenen sozialen Ungerechtigkeiten mitschuldig machen, von denen die Institutionen, die den Rahmen für unsere kurze Verweildauer in der Geschichte bilden, betroffen sind.

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Das »halbgewusste Wissen« über uns selbst. Der ideologische Alltagsverstand und die Methode der Erinnerungsarbeit Virginia Kimey Pflücke

»Was erinnert werden kann, kann nicht nur betrauert werden, es muss auch nicht mehr agiert werden, und kann zu Geschichte werden: Aus dem Andauern der Vergangenheit in der Gegenwart kann eine mögliche Zukunft entstehen, die anders ist.« (Kirchhoff 2019: 47)

Einleitung1 Ideologie verbindet allgemeingültige Gedanken mit dem Bewusstsein der einzelnen Subjekte, sie ist im Interesse der Herrschenden, aber wird auch von den Beherrschten mitgetragen. Auf dieser einfachen Erkenntnis beruht die Methode der Erinnerungsarbeit, entwickelt seit den 1980er Jahren von der Soziologin Frigga Haug mit einer Vielzahl an Mitarbeiterinnen aus dem Umfeld des Argument-Verlags als kritisches Instrument zur empirischen Erforschung der Frauenunterdrückung gleichwie zu deren Überwindung. Wie lösen wir methodisch aber unsere Verstrickung in diese Herrschaftsverhältnisse? Als feministische Sozialwissenschaftlerinnen2 geht uns dies besonders an – einerseits, um empirisch nicht einfach zu verdoppeln und damit unkritisch zu wiederholen, was herrschende Meinung, was herrschendes Denken ist; andererseits, um handlungsfähig zu werden, etwas zu verändern. Der folgende Artikel erarbeitet die Methode der Erinnerungsarbeit zunächst in ihrem Entstehungskontext – den bewegten Frauengruppen der 1970er und 1980er Jahre in Westdeutschland und dem sozialistischen Frau-

—————— 1 Für wertvolle Hinweise und erkenntnisreiche Gespräche über die Methode und ihre Hintergründe danke ich Bianca Fiedler, Alexandra Ivanova, Anne Hofmann und Katharina Lux – sowie der Herausgeberin und dem Herausgeber. 2 In diesem Artikel geht es darum, welchen methodologischen Beitrag die feministische Theorie um Frigga Haug zur Ideologiekritik leistete. Dabei verwende ich häufig das generische Femininum, um den Entstehungskontext der Methode zu betonen.

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enbund – sowie deren ideologiekritisches Moment. In einem dritten Schritt analysiere ich anschließend ihre Arbeitsweise als sozialpsychologische Methode. Ganz einer historisch-materialistischen kritischen Theorie verpflichtet, sucht sie durch kollektive Begriffsarbeit »zu vermeiden, daß so das Alltägliche begriffslos und vorurteilsvoll bloß verdoppelt wird« (Haug 1982: 810). In Folge jahrelangen feministischen Engagements weiß Haug allerdings auch, dass die Begriffe der politischen Ökonomie wenig Aufschluss darüber geben, wie Menschen ihren Alltag leben und das häusliche Leben in der Familie regeln (ebd.: 809). Der Artikel stellt die Erinnerungsarbeit zuletzt verwandten Perspektiven und Methoden der qualitativen Empirie gegenüber, woraus wichtige Erkenntnisse für eine zeitgenössische ideologiekritische Sozialforschung folgen.

Der Streit um das Wesen der Unterdrückung 1980 setzt sich Frigga Haug in die Nesseln: Mit ihrem Aufsatz »Frauen – Opfer oder Täter? Zum Verhalten von Frauen« (Haug 1980) gelingt es ihr Zuspruch, aber auch Widerspruch aus allen Lagern zu erhalten. Aus Ost und West, von Seiten der kommunistischen Partei, des SDS und von Protagonistinnen der Frauenbewegung erfährt sie leidenschaftliche Kritik. Was ist geschehen? Die sozialistische Feministin hat sich an die Beantwortung der Frage der Frauenunterdrückung gemacht und dabei darauf fokussiert, die »eigene Teilhabe an Herrschaft und Unterdrückung zu entschlüsseln« (Haug 1994b [1990]: 7), um letztlich eine Politik der Befreiung zu ermöglichen (Haug 1994c [1990]: 20). Die Erinnerungsarbeit, die Haug und ihre Mitstreiterinnen praktisch und im Austausch miteinander entwickeln, entsteht aus einigen wichtigen Erkenntnissen, die auch die Grundlage ihres feministischen Marxismus bilden (Haug 2015: 72). Dazu zählt die selbstkritische Feststellung, dass sie selbst nicht außerhalb ihres Forschungsgegenstandes stehen – dass sie, auch nicht anders als andere Frauen, weibliche Sozialisationsprozesse durchlaufen hatten, die die »gleichen Male« (ebd.) dieser gesellschaftlichen Verhältnisse trugen. Wie Michel Barrett im Zuge der Debatte feststellt, hielten (und halten) eine Mehrheit der Frauen, aber auch Teile der sozialistischen Linken und der Gewerkschaften an Institutionen fest, die Frauen unterdrücken – beispielsweise traditionelle Familie und Familienlohn. Feministinnen, die

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sich kritisch dagegen wenden, »werden beschuldigt, ihre Forderungen seien marginal und von den Wünschen und Sehnsüchten normaler Frauen zu weit entfernt« (Barrett 1982: 822). Dieser Avantgardismus führe letztlich zu einer »Vorstellung von Ideologie als falsches Bewußtsein [die] überholt und reaktionär ist, sie ist äußerst unbefriedigend und bedeutet, einen gönnerhaften Standpunkt zu beziehen« (ebd.). Diesem Dilemma der Selbstveränderung und Veränderung der Umstände, die wechselseitig aufeinander verweisen, setzt die Erinnerungsarbeit eine praktische Methode entgegen. Sie versucht, »sedimentierte Haltungen und Verknüpfungen aufzuspüren mit der Absicht, sie bewusst zu machen um die Möglichkeit zu öffnen, auch sich selbst mit mehr Bewusstsein zu machen« (Haug 2015: 163). Die Frauen, die in der Zeitschrift Das Argument eine eigenständige Redaktion bilden und ihre Projekte im selben Verlag publizieren, wollen sich nicht auf einer ökonomistischen Weltsicht ausruhen, nach der »stets nur das Warten auf ›die Krise‹ [bleibt], in der es reflexartig allen noch in den Mystifikationen des Warenfetischs Befangenen wie Schuppen von den Augen fallen wird« (Haug 1993: 73). Vielmehr muss es einen Hebel geben, die von den Individuen vorgefundenen und selbst reproduzierten ideologisch verfestigten Verhältnisse umzugestalten. Sie wissen: »An dieser Fragestellung hing die praktische Perspektive des Aufbaus gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit ›von unten‹!« (Haug 1986: 7). Aufbauend auf der Annahme, dass »herrschende Kultur und Ideologie auch durch uns selbst reproduziert werden«, wollen sie erforschen, wie »wir als Produzentinnen des Kulturellen und Ideologischen tätig sind« (Haug 2015: 163). Dabei vergisst Haug nicht, dass es die Verhältnisse sind, die den Menschen als versteinert entgegentreten, und die sie unterdrücken – der Ansatzpunkt zur Veränderung jedoch muss in den Unterdrückten selbst liegen. »Der Zorn richtet sich gegen solche Verhältnisse, in denen die Personen in zerreißende nicht lebbare Widersprüche geraten. Aber es sind die Personen, die sie erfahren, ihr Leid, von dem aus Politik formulierbar wird, die sie ergreifen können und nicht die Ableitungen aus dem unmittelbar staatlichen und betrieblichen Bereich mit der Behauptung weiblicher Betroffenheit.« (Haug 1983b: 100)

Haug und die autonome Frauenredaktion im Argument vertreten ein Politikverständnis, das nicht aus den Verhältnissen im Großen deduziert, was schief läuft. Vielmehr gehen sie induktiv (oder – da in Abwechslung mit Theoriebezügen – abduktiv) vom Leiden und Verhalten im Alltag aus und entwickeln die Erinnerungsarbeit als eine Methode und eine Form der Politik, die der generellen Tendenz zur Privatisierung entgegensteht.

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Die Methode entsteht als eine kollektive Tätigkeit von sozialistischen Frauen innerhalb der Frauenbewegung in Westdeutschland. Darin ähnelt sie den Selbsterfahrungsgruppen der 1970er Jahre, da hier ebenfalls in Frauenkollektiven zusammen nach Wegen gesucht wird, sich zu emanzipieren, und dabei ganz zentral von den eigenen Erfahrungen auszugehen. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass die Erinnerungsarbeit selbstkritisch-reflexiv vorgeht. Es wird nicht die Affirmation einer gemeinsamen Identität in den Unterdrückungserfahrungen gesucht, sondern die Passivität der Frauen ihrem Schicksal gegenüber zurückgewiesen: Haug setzt voraus, dass »die Unterdrückung, wenn sie nicht mit äußerem Zwang arbeitet, die Zustimmung der Unterdrückten braucht. […] auch das Sich-Opfern ist eine Tat und kein Schicksal« (Haug 1980: 646). Die Erinnerungsarbeit will also die Verstrickung der Frauen als Unterdrückte bewusst machen und sucht theoretische Begriffe zu ihrer Kritik. Entlehnt werden diese Begriffe aus der Kritischen Psychologie, der Kultur- und Ideologietheorie (insbesondere aus dem Projekt Ideologie-Theorie [Haug 1986]), sowie aus der Kritik der politischen Ökonomie – auch wenn besonders letztere kaum etwas von den Erfahrungen der Frauen in Gesellschaft und Kultur zu wissen scheint. Der Frauengruppe wird bewusst, dass ein »riesiges unbekanntes Land« vor ihnen liegt: Sich selbst als Frauen zu erforschen, nicht nur »passiv, als Opfer, sondern aktiv, als Produzentinnen unseres Lebens« (Haug 2015: 73). Der Beginn der Arbeit mit der Erinnerung ist dokumentiert in verschiedenen Bänden, publiziert im Argument-Verlag in der Reihe Frauenformen.3 »Erziehung zur Weiblichkeit. Alltagsgeschichten und Entwurf einer Theorie weiblicher Sozialisation«, erscheint 1980 (Haug 1991 [1980]). Es ist das erste Produkt dieser kollektiven Arbeit einer festen Gruppe von Frauen verschiedener Berufe und Schichten, die sich in den 1970er Jahren als Teil der Studentenbewegung und Frauenbewegung gründet. In diesem Band werden empirische Fundierungen der erwähnten Opfer-Täter-These entwickelt – es zeigt jedoch noch keine konsequente Anwendung der Methode der Erinne-

—————— 3 In der Reihe Frauenformen erschienen 9 Bände in unterschiedlicher Konstellation zu verschiedenen Fragen der Frauenbewegung und Frauenstudienarbeit, die allesamt die Methode der Erinnerungsarbeit nutzten. An «Erziehung zur Weiblichkeit« arbeiteten neben Frigga Haug zahlreiche andere wie Sonja Schelper, Hannelore May, Barbara Nemitz und Ingeborg Musol, aber auch (in späteren Ausgaben) Teilnehmerinnen des Hamburger Frauenseminars. Siehe insbesondere auch «Die andere Angst« von Kornelia Hauser und Frigga Haug (Hauser 1994 [1991]); ein Buch, in dem das Zusammenspiel psychoanalytischer, kritisch-psychologischer Zugänge und zugleich die reflexiv-subjektive Aufarbeitung von Alltagserfahrung sehr gut nachvollziehbar wird.

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rungsarbeit. Diese entsteht erst durch die weitere gemeinsame Arbeit. Die Frauen entdecken erstens, dass sie nicht einfach wissenschaftlich (hier: zu Lerntheorien) über andere forschen und schreiben können, ohne sich selbst zum Objekt der Untersuchung zu machen (Haug 1980: 643). In ihren theoretischen Texten zeigt sich, dass Frauen nicht vorkommen, dass sie also genau das reproduzieren, was sie selbst kritisieren. Daraufhin beleuchten sie ihre eigenen Erfahrungen, wollen umgekehrt verschriftlichen, wie sie selbst gelernt haben. Doch die Texte, die nun entstehen, sind stark geglättet und spiegeln auf einer tieferen Ebene unerwartet Neid, Missgunst, Hass und Konkurrenz im Alltag wider. Kurz: die verschriftlichten Alltagserfahrungen erweisen sich »als tief verwurzelt in eben den gesellschaftlichen Verhältnissen, in den Werten und der Ideologie, die wir überwinden wollten« (Haug 2005 [1999]: 19). Ihr großer Mut zur Selbstreflexion zeigt sich im zweiten Band der Reihe Frauenformen unter dem Titel »Sexualisierung der Körper« (Haug 1983a), in dem die Methode der Erinnerungsarbeit bereits voll zur Geltung kommt. Es entsteht ein Werk, das bis heute auch im Englischen als Klassiker der Frauenforschung gilt, das wie alle folgenden Publikationen mit der Methode zugleich historisch, theoretisch, gesellschaftspolitisch arbeitet und dabei kollektiv wie subjektiv vorgeht. Die Subjektseite der Herrschaft über die Frauen ist sein Gegenstand. »Viele Jahre, bevor der Konstruktivismus Eingang in die Akademie fand, erkannten wir, dass die einzelnen nicht einfach fertige Personen sind, auf unerklärliche Weise mit unterschiedlichen Charakteren und Möglichkeiten ausgestattet, sondern dass wir uns selbst aktiv in die Gesellschaft begeben, sie uns aneignen und dabei Bilder von uns entwerfen und dabei leben – dass wir uns also selbst konstruieren.« (Haug 8. Juni 2011)

Der Kontext der Frauenbewegung ist von großer Bedeutung, denn er ermöglicht den Frauen eine kollektive Praxis abseits von Familie und Arbeit. In vielen Selbsterfahrungsgruppen organisieren sich in den 1970er Jahren im Nachgang der Studentenbewegung Frauen mehr und mehr autonom vom SDS. Auch sie stellen fest, dass »jede Frauenbewegung, die auf eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse abzielt, zunächst eine Bewusstseinsveränderung« (Lux 2019: 66) anstreben muss. Die Differenz liegt hier scheinbar im Detail: Das »zunächst« der Bewusstseinsänderung wäre nach Haug nicht ganz richtig, denn Selbstveränderung ist nicht zu trennen von der Veränderung der Gesellschaft. Zudem sucht die Gruppe um Haug nicht nach einer Loslösung von Theorie – auch dort nicht, wo diese wenig von Frauen zu berichten weiß. Und letztlich beruht die Erinne-

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rungsarbeit, die Haug, Hauser und andere anhand verschriftlichter Alltagsszenen entwickeln, nicht auf Solidarisierung durch ähnliche Leidenserfahrungen, sondern erwirkt eine Distanzierung vom eigenen Selbstbild durch die Einarbeitung in verschiedene gesellschaftstheoretische Begriffe. So merkt man der Methode ihre Verwurzelung in der Marx’schen Theorie an, etwa wenn es in einem ihrer Gründungstexte heißt: »Die Unterdrückten tragen die Male ihrer Unterdrückung« (Haug 1980: 643). Mittels kritisch-psychologischer Dekonstruktion und kritisch-theoretischer Abstraktion wird in der feministischen Praxis der kollektiven Textarbeit ein Schritt in Richtung Befreiung von identitärer Selbstbestätigung möglich. Ihr Ziel ist es, Handlungsfähigkeit zu erweitern – nicht die restriktive Handlungsfähigkeit unterdrückter Subjekte zu zementieren. Akteure der klassischen organisierten Linken werfen ihr vor, sie sehe »Bewusstseins- und Persönlichkeitsveränderung als Schlüssel zur Frauenbefreiung« (Haug 1994c [1990]: 21). Doch Haug kontert, die Frage sei, wieso Frauen sich nicht in großer Zahl wehrten, »obwohl sie doppelt unterdrückt sind« (ebd.: 22, Hervorhebung im Original). Wenn Frigga Haug und ihre Mitstreiterinnen sich mit der Konstruktion der Subjekte beschäftigen, dann weil sie an sich selbst feststellen müssen: »Frauen haben Schwierigkeiten beim Kampf um ihre eigene Befreiung, weil sie unter Umständen das, was sie wollen, auch wieder nicht wollen« (ebd.).4

Arbeitsteilung, Ideologie und Marxismus-Feminismus »Selbstveränderung und Veränderung der Umstände« (Haug 2018b) bleiben bei Frigga Haug aufeinander verwiesen – dies wird auch in der Methode der Erinnerungsarbeit mehr als deutlich. Wie sie immer wieder betont, gibt es das eine nicht ohne das andere: »Man kann sich nicht verändern, ohne die Bedingungen des Lebens umzubauen« (Haug 2015: 163) und umgekehrt. Anders als breiten Teilen der sozialwissenschaftlichen Forschung geht es der Erinnerungsarbeit also bewusst um das Involviertsein der Forscherin nicht

—————— 4 Angefangen mit Betty Friedans «Feminine Mystique« in den USA (Friedan 2013 [1963]), bis zu Haugs «Frauen – Opfer oder Täter?« von 1980 könnte man einen Bogen ziehen, um zu zeigen, wie sehr die Gleichzeitigkeit von objektiven und subjektiven Momenten der Unterdrückung der Frauen zusammenwirken. Da in der spezifischen weiblichen Subjektivierung auch Momente der Anerkennung liegen, die abzuwehren stark verunsichern (insbesondere, wenn alternative Formen der Anerkennung fehlen), wird die Emanzipation nicht nur gesellschaftlich erschwert – sondern vielmals auch individuell abgelehnt.

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nur in ihren Forschungsgegenstand im Sinne eines Standpunkts, sondern in die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt. Die Involvierung wird aufgespürt, und emphatisch zur Veränderung genutzt. Für Haug ist dies nicht nur der Kern der von ihr mitentwickelten Methode, sondern auch einer jeglichen sozialwissenschaftlichen Methodologie, die den Namen verdient: »Sozialwissenschaftliche Forschung sucht also Erkenntnis, um in menschliche Praxis eingreifen zu können. […] Sie sucht einzugreifen mit dem Ziel der Verbesserung« (Haug 1978: 649). Von Antonio Gramsci nimmt sich Haug das Wissen um die aktive Zustimmung der Einzelnen zu ihrer Subalternität und um die Ambivalenz des Alltagsverstandes: Letzterer ist dem italienischen Marxisten zufolge widersprüchlich – nämlich zugleich behindernd in seiner vorurteilsgespeisten Form, als auch als förderliche Kritik »von unten« (Gramsci 2012): »Alltagsverstand steckt voller Vorurteile, die wir uns nicht bewusst machen, zu dem wir aber bei genauer Besichtigung zugleich ein kritisches Verhältnis haben. In dieser Spaltung setzt die Erinnerungsarbeit an – sie setzt auf den kritischen Menschenverstand im Alltagsverstand.« (Haug 8. Juni 2011)

Von Karl Marx nimmt sie sich die »Kritik der politischen Ökonomie [, durch die] wesentliche Erkenntnisse gewonnen sind, die den ökonomischen Zusammenhang unserer Gesellschaft betreffen« (Haug 2015: 163).5 Zudem baut sie direkt auf die 1845 formulierte Feuerbachthesen auf: Nach Marx kann nur eine wirkliche Praxis – eine revolutionäre Praxis, die zur Emanzipation der Menschen beiträgt – diese Dialektik aufheben. Theoretisch kann der Widerspruch nicht aufgelöst werden, denn für ein Ende der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen müssen »die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden« (MEW 3 1845: 5). In der Theorie mündet dieses Problem in einer Spaltung der Gesellschaft, in der eine Avantgarde die anderen Teile der Gesellschaft »erziehen« muss. Doch in der Praxis kann das »Ändern der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung« (ebd.) zusammenfallen, betrachtet man den Menschen als »Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse« (Marx) oder als »blocco storico« (historischen Block, Gramsci).

—————— 5 Gemeint sind damit Erkenntnisse über die Produktionsverhältnisse im Kapitalismus – die Produktion der Lebensmittel und die des Lebens, über die Arbeitsteilung und den gesellschaftlichen Fortschritt als einer Geschichte von Klassenkämpfen, um nur einige zu nennen. Eine genauere Darstellung der Marxrezeption Frigga Haugs in der Erinnerungsarbeit findet sich auf den folgenden Seiten.

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Weder auf Marx noch auf Gramsci können Haug und ihre Mitstreiterinnen allerdings unmittelbar zugreifen, denn sie müssen feststellen, dass ihre Erfahrungen nicht oder kaum in den Begriffen dieser Kritik zu finden sind. Dies bemerken sie zunächst kritisch an sich selbst – an einer gewissen »Langeweile in der Ökonomie« (Haug 2015: 164), die ihnen nicht zufällig bei vielen Frauen begegnet. Bei ihrer Lektüre der Marx’schen Theorie sehen sie, »dass die entscheidenden Fragen der Gesellschaftsformation vom Standpunkt des alltäglichen Lebens aus unbegreifbar und von daher langweilig werden und die lebendigen Fragen unseres Alltags vom Standpunkt des Klassenkampfes und also von dem radikaler linker Politik her nebensächlich. Und doch muss es einen Zusammenhang geben zwischen den Dingen im Großen und Ganzen und der Art und Weise, wie massenhaft gelebt wird« (ebd.: 165). Individuelle Vergesellschaftung und politische Ökonomie müssen miteinander vermittelt werden. Dieser Grundsatz macht die Erinnerungsarbeit zu einer inhärent feministisch-marxistischen Methode, wie ich kurz erläutern möchte: Erst die feministische Marxrezeption verdeutlicht, dass in und durch Geschlechterverhältnisse produziert wird, und dass diese keine »Nebengestalt« (zum Beispiel Bischoff 1980: 479; MEW 3 1845: 74) der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind. Die Produktion des Lebens, aber auch der Lebensmittel findet immer auch vermittelt durch geschlechtliche Arbeitsteilung statt. Die Erkenntnis der Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse schließt die »jeweiligen Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit ebenso mit ein wie Fragen von Arbeitsteilung und von Herrschaft – und darin die ideologischen Legitimationen« (Haug 2018a). Mit anderen Worten: »Vergesellschaftung vollzieht sich in Prozessen der Vergeschlechtlichung« (Becker-Schmidt 2010: 65). Die alltäglichen und subjektiven Fragen, die Haug (und andere) zunächst mehr interessieren als die Lektüre des Wirtschaftsteils der Zeitung sind folglich nicht losgelöst von unseren Produktionsverhältnissen. Innerhalb der Familie sowie gesellschaftlich sind Geschlechterkonstruktionen bereits Teil der Organisation der Arbeitsteilung – also der »Möglichkeit […], daß der Genuss und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen« (MEW 3 1845: 32). Tatsächlich heißt es bereits bei Marx, dass die grundlegendste Form der Arbeitsteilung schon in der Familie zu finden ist, in der der Mann über die Arbeitskraft der Frau verfügt. Dies lässt sich heute noch immer alltäglich beobachten und spiegelt sich im Gender Pay Gap ebenso wider wie im Ehegattensplitting. So wird der vielzitierte Satz von

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Charles Fourier nachvollziehbar, demzufolge »der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist« (MEW 2 1845: 208). Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern wird so geknüpft an die Emanzipation nicht nur der Frauen, sondern der Menschheit im Allgemeinen. Haug sieht in den bürgerlich-kapitalistischen Produktionsverhältnissen zwei Herrschaftsarten, die die Arbeitsteilung bestimmen: die »Verfügung über Arbeitskraft in der Lebensmittelproduktion und die der Männer über die weibliche Arbeitskraft, die Gebärfähigkeit und den sexuellen Körper der Frauen in der ›Familie‹« (Haug 2018a). Um die Vergesellschaftung der Individuen zu begreifen, braucht es darum ein Verständnis von der spezifischen männlich-weiblichen »ideologischen Subjektion« in der politischen Ökonomie. »Im Begriff Subjektion soll das Hineinarbeiten in gesellschaftliche Strukturen gefasst werden, denen wir uns unterstellen, die wir nicht selbst bewußt bestimmen. Der Begriff faßt die eigene Aktivität in der Fremdbestimmung. Daß wir selber tätig sind, macht die Strukturen fester als Gefängnismauern.« (Haug 1994a [1990]: 69)

Mit Blick auf das Dilemma, was zuerst kommt – Henne oder Ei, Selbstveränderung oder Veränderung der Umstände – wird nun langsam verständlicher, wie die Methode zugleich behaupten kann, auf die Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu zielen und dazu dennoch bei den Subjekten anzusetzen. Teil der männlich/weiblichen Subjektivierung ist ein ideologisches Herrschaftsmoment, da die Subjekte nicht bewusst über ihre Selbstbilder verfügen: »Indem sich die Einzelnen in vorhandene Strukturen einbauen, entwickeln sie eine besondere Form, die am besten mit dem Begriff der Kompetenz in der Inkompetenz zu kennzeichnen ist. Damit ist gemeint, dass sie in allgemeiner Inkompetenz und Fremdbestimmung nicht etwa handlungsunfähig sind, sondern eine eigene, subalterne Kompetenz entfalten, in der Inkompetenz zu leben.« (Haug 8. Juni 2011)

Dies ist eine Verknüpfung von Marx mit Begriffen der Kritischen Psychologie. Denn nicht nur machen die Menschen ihre eigene Geschichte selbst und dies zugleich unter nicht selbstgewählten Umständen (MEW 8 1851/52: 115). Auch wissen sie um diese Unfreiheit nur halb, und entwickeln eine gewisse (nicht unproblematische) Handlungsfähigkeit innerhalb der Unfreiheit: »eine Handlungsfähigkeit zur Erfüllung der gesellschaftlichen Anforderungen und damit Lebenserhaltung des Individuums«, zur individuellen Daseinsbewältigung (Holzkamp-Osterkamp 1981 [1975]: 335).

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Bezogen auf die Verstrickung der Frau in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft heißt das, dass Frauen eine restriktive Handlungsfähigkeit in der Arbeitsteilung entwickeln, die ihnen (anders, aber nach wie vor) überwiegend den Haushalt, die Sorgearbeit, die Reproduktion (und die Produktion) von Menschen zuteilt. Mit anderen Worten: Entfremdung durch Arbeitsteilung betrifft die zu Frauen Sozialisierten auf eine spezifische Art. Durch die kollektive, theoriegeleitete Selbstreflexion in den Frauengruppen kann diese Entfremdung teilweise bewusst gemacht und ein Stück weit aufgehoben werden, mindestens nämlich die eigene Verstrickung in ideologische Subjektion gemeinsam dekonstruiert werden. Die geschlechtliche Arbeitsteilung moderner Gesellschaften geht mit der sukzessiven Heraustrennung der ›produktiven Arbeit‹ aus dem Haushalt einher, das heißt mit der zunehmenden Rationalisierung kapitalistischer Vergesellschaftung im Sinne Max Webers. Zugleich basiert sie auf der gewaltsamen Loslösung der breiten Bevölkerung von Land und Arbeitsmitteln, jener Einhegung der Produktivkräfte, die im Anschluss an Marx (und Adam Smith) als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet wird (MEW 23 1867: 741ff.): Erst die Fixierung der Frau auf die (unbezahlte) Hausarbeit und deren Abwertung ermöglicht die zweckrationale, auf Mehrwert gerichtete ›nutzenmaximierende‹ Organisation der Produktion samt des Verweises des Mannes auf die (bezahlte) Arbeit außer Haus (Federici 2015: 127ff.).6 Für die bezahlt arbeitende Frau bedeutet dies den tendenziellen, strukturell wie ideologischen Ausschluss aus der Arbeiterschaft – ihre sukzessive ›Hausfrauisierung‹, wie es die Bielefelder Soziologinnen Maria Mies, Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomsen ab 1978 nennen (Werlhof, Mies und Bennholdt-Thomsen 1983). Das heißt, in der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung ist ihr Arbeitsvermögen entwertet und zugleich doch Basis der kapitalistischen Produktionsweise. Die Erwerbssphäre wird dabei sukzessive räumlich und funktional vom familialen Bereich abgehoben, braucht diesen jedoch stets (Becker-Schmidt 1998: 85). Die Hausfrausierung der Frauen zeigt sich etwa in gesetzlichen Verboten der Frauenarbeit, einer Geschlechterideologie der Verkindlichung der häuslich-bürgerlichen Frau und ihrer Fähigkeiten (Bublitz 1995), der Kriminalisierung der arbeitenden

—————— 6 Studien zwischen Männlichkeitsforschung und Arbeitssoziologie beschreiben eingehend die »industriegesellschaftliche Männlichkeitskonstruktion«, vgl. Meuser und Scholz (2012), das Entstehen einer männlichen Facharbeiteridentität sowie die unterschiedliche Bedeutung von Arbeitslosigkeit nach Geschlecht (Dörre 2007).

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Frau als potenzieller Gefährderin der Moral7 sowie im wiederholten Kampf der organisierten, männlichen Arbeiter gegen sie (Federici 2015: 116–127). Wie auch immer sich kapitalistische Gesellschaften in den letzten 200 Jahren wandelten: Frauenarbeit ist im Zuge der Industrialisierungen 1.0 bis 4.0 auf verschiedene Weise an die gesellschaftliche Rolle der Frau im Haushalt gebunden geblieben. Davon zeugen neben der in Heimarbeit verrichteten Stückproduktion für industrielle Sektoren (Boris 1996) auch die bezahlte Haushaltsarbeit (Pflücke 2018), die Verrichtung haushaltsnaher Dienstleistungen wie die Arbeit von Waschfrauen und Näherinnen, Friseurinnen und Erzieherinnen sowie selbst die Textilindustrie. Phänomene wie die Care-Krise, die Feminisierung der Migration, sowie das beängstigende Ausmaß der Altersarmut von Frauen (um nur einige der wichtigsten Aspekte zu nennen) zeigen, wie stark Hausfrauisierung und Abwertung weiblicher Arbeit heute noch immer ausgeprägt sind (Winker 2011). Auch die Zuweisung bestimmter Erwerbsarbeiten zur Frau, die der Haus- und Sorgearbeit nahestehen, ist somit Teil ihrer Hausfrauisierung, insbesondere da sie meist schlechter entlohnt und abgesichert werden. Geschlecht als gesellschaftsstrukturierende Kategorie beinhaltet anders als der soziologische Begriff der ›Geschlechterrolle‹ bereits eine implizite Geschlechterhierarchie, Abhängigkeits- und Dominanzverhältnisse (vgl. dazu Bublitz 1998: 90–94). Wie Regina Becker-Schmidt kritisiert, hat der »mainstream der Soziologie die Formen, in denen […] die unter die Etiketten ›weiblich‹ oder ›männlich‹ subsummierten Einzelnen, vergesellschaftet werden, weder in ihrem Herrschaftscharakter, noch in ihren problematischen Folgen für Frauen systematisch untersucht« (Becker-Schmidt 2010: 65). Durch feministische Forschung wurde aufgearbeitet, wie Frauen »ihr Arbeitsvermögen doppelt – als Haus- und als Erwerbsarbeit – in den sozialen Zusammenhalt einbringen« (ebd.: 66). Ihre Vergesellschaftung findet dabei in zwei Bereichen statt, und so »rekombinieren sie das, was gesellschaftlich auseinander gerissen ist: Privatsphäre und Öffentlichkeit« (ebd.: 72) und benötigen dazu eine »Doppelorientierung von der subjek-

—————— 7 Marx stellt ein besonders zynisches Beispiel dieser bürgerlichen Entrüstung über die Arbeiterin im 13. Kapitel des Kapitals aus (MEW 23 1867: 483–530): Ein Fabrikant beschwert sich über die »große moralische Degradation« der Mädchen und Frauen in den Ziegeleien Englands, wonach das »größte Übel des Systems« dieser schweren Arbeit darin bestehe, dass die Mädchen »rohe, bösmäulige Buben (rough, foulmouthed boys) [werden], bevor die Natur sie gelehrt hat, daß sie Weiber sind« (ebd.: 488).

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tiven Seite« (Becker-Schmidt 2010: 67). Daraus ziehen Frauen keinen Vorteil, würde Becker-Schmidt betonen, stehen sie in den Austausch- und Abhängigkeitsverhältnissen, die sich Geschlechterverhältnisse nennen (2010: 69) doch unten. Das Moment der Abhängigkeit sieht Haug durchaus – Frauen als Opfer der Verhältnisse zu sehen, bedeutet jedoch eine eindeutige Zuweisung auf die Seite der Passivität, wohingegen sie daran festhält Sich-Opfern als Tat zu begreifen (Haug 1980: 464). Verschränkt mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung (Aulenbacher und Riegraf 2011) ist die gesamtgesellschaftliche Sphärentrennung sowie Subjektivierungs- und Sozialisationsprozesse, die nicht auf Produktionsverhältnisse reduziert werden können: unter Stichworten wie Geschlechteridentität und (weiblicher/männlicher) Sozialcharakter wurde diese Frage der Frauenbewegung in alltagssoziologischen und psychoanalytischen Arbeiten intensiv studiert (Hagemann-White 1984; Haug 1985; Mitscherlich 1994 [1985]). Die Vergesellschaftung in der Sphäre des Privaten bringt auch weitgehende subjektkonstituierende und ideologische, nicht rein materielle Implikationen mit sich. Geschlechterverhältnisse sind selbst Produktionsverhältnisse (Haug 2018a), sie können nicht rein funktional aus der kapitalistischen Ökonomie abgeleitet werden. Die ›Privatisierung‹ oder ›Hausfrauisierung‹ der Frau bedient also nicht nur die in modernen, kapitalistischen Gesellschaften notwendige, heißt zur Reproduktion der Arbeitskraft benötigte Care- und Hausarbeit, die zur Reproduktion des ›Arbeitskraftbehälters Mensch‹ grundlegend ist. Sie umfasst dazu auch eine spezifische, doppelte Vergesellschaftung der Frau (Becker-Schmidt 2010: 73). Mit anderen Worten: Wenn die Beherrschten die Male ihrer Unterdrückung selbst tragen (ebd.), so werden Frauen spezifisch beherrscht durch die Hausfrauisierung ihres gesamten Arbeitsvermögens, das weitgehend der privaten Sphäre verbunden bleibt. Ihre besonderen »Male« sind darauf zielende weibliche Sozialisationsformen: eine ideologische Subjektion, an der sie selbst als Beherrschte mitwirken. Wie diese mithilfe der Erinnerungsarbeit theoretisch-praktisch bearbeitbar wird, verhandelt der nächste Abschnitt.

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Die Arbeit mit der Erinnerung Das Selbstbild des Subjekts wird erst in der Erinnerung konstruiert. Es ist damit ein Gebilde »von dem erst nachträglich und mit Rekurs auf die vorgefundenen individuellen wie gesellschaftlichen Bedingungen gesagt werden kann, was daraus geworden sein wird« (Kirchhoff 2009: 20). Mit dieser Erkenntnis der Kritischen Psychologie setzt die Methode der Erinnerungsarbeit beim Subjekt an. Das Durcharbeiten dieser Ich-Konstruktion ist »ein Beitrag zur Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse, da diese als nachträgliche wirkende Faktoren der Subjektkonstitution offengelegt werden können« (ebd.). Als Punkt, an dem sie ihren Hebel ansetzt, dient das Subjekt selbst. Einen Leitfaden zur empirischen Arbeit mit der Erinnerung legt Frigga Haug erst 1999 vor (Haug 2005 [1999]: 199–227), wenn auch aus verschiedenen Skizzen der Arbeit im Kollektiv Anteile hervorgehen, und bereits seit der Arbeit am zweiten Band der »Frauenformen«-Reihe »Sexualisierung der Körper« (1983) eine Methode expliziert wird. Ihrer methodologischen Herkunft getreu, ist die Methode trotz dieses Leitfadens immer offen. Sie muss an die Gegebenheiten und Interessen der Gruppe angepasst werden, wobei ihr Kern – sich mit der Verstrickung in die eigene Unterdrückung zu befassen – nicht verloren gehen darf. Die Arbeit beginnt mit einer in einer Gruppe von nicht mehr als 12 Teilnehmerinnen gemeinsam formulierten Forschungsfrage, auf die sich alle einigen – und die zumindest alle interessieren oder »noch besser auf den Nägeln brennen« (Haug 2005 [1999]: 201) sollte. Um diese Forschungsfrage zu finden, eignen sich Diskussionsrunden; alternativ können derlei Fragen ausgeschrieben und Interessierte gesucht werden. Als nächstes folgt die allgemeinverständliche Verschriftlichung der einzelnen Erfahrungen. Da die Einzelnen dazu selbst Erlebtes in »Alltagsskizzen und Jedermanns-Erfahrungen« (Haug 2015: 167) niederschreiben und miteinander teilen, ist das Vorgehen somit eine praktische und zugleich inhärent theoretische Angelegenheit. Denn zwei Schritte des reflexiven, selbstkritischen Bewusstmachens stecken bis hierhin schon in der Methode: Der erste Schritt besteht in der gemeinsamen Diskussion darüber, was die Teilnehmerinnen beschäftigt, »welchen Druck die Einzelnen verspüren« (Haug 2018b: 170), und auf welche vorläufige Forschungsfrage man sich in der Gruppe einigen kann. Der zweite Schritt ist die Verschriftlichung, die alleine gemeistert werden muss, und durch die bereits durchgearbeitet und plausibilisiert, nach Worten gerungen, verstanden und reinterpretiert wird, was man erfuhr: »Kurz:

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Schreiben ist eine eigene Produktion, eine Tätigkeit, die selber ein neues Bewusstsein schafft« (Haug 2018b: 172). Die größten Probleme, auf welche die Einzelnen beim Schreiben stoßen, sind einerseits die Sprachlosigkeit, und andererseits das Klischee. Sprache wird ersichtlich als Kampffeld, Muster und Träger leerer Worthülsen und Passivkonstruktionen: »Kitsch fängt uns wehrlos ein, sofern wir nicht auf der Hut sind. Man brauch solche Wortzumutungen nur einmal mit der Realität zu vergleichen, um zu spüren, dass hier nichts stimmt« (Haug 2005 [1999]: 225). Wie Haug eindringlich schildert, entstammen beide Momente einer gemeinsamen Schwierigkeit. Anstatt uns sprachlicher Mittel zu bedienen, um eine bestimmte Wirkung bei der Leserin zu erreichen, wird durch die anschließende kollektive Arbeit an den Texten die Gefangenschaft deutlich, die sich in diesen sprachlichen Ausdrücken zeigt (ebd.: 223). Anstatt mit eigenen Worten zu beschreiben, verbleibt man im Klischee, anstatt so lange nach dem Wort zu suchen, das auf die selbst gemachten Erfahrungen zutrifft (und den Genuss zu empfinden, den eine solche Identifizierung bereithält), »trifft man stets auf die gleichen Gefängnismauern, den Wünschen und Behinderungen keine Form geben zu können« (Haug 1982: 814). Das Aufschreiben einer Erfahrung sollte sich auf eine Szene beschränken, diese zugleich möglichst detailreich schildern und andererseits (um den darauffolgenden Gruppenprozess und das Interesse der anderen nicht über die Maßen zu strapazieren) auf einen kurzen Text von etwa einer Seite beschränken. Haug rät hier zum Schreiben in der dritten Person – nicht, um sich von der eigenen Person zu entfernen, sondern vielmehr, um aus der Distanz möglichst genau zu sein und wenig als selbstverständlich hinzunehmen. Dabei müssten wir davon ausgehen, dass wir nicht all unser Wissen über uns selbst zur Hand haben; es ist zu schmerzlich, zu verwirrend und aufreibend, wir verfügen nicht unmittelbar darüber. Doch »Selbstreflexion und sich erinnern lassen sich lernen« (Haug 2005 [1999]: 203). Bevor es in die praktische Arbeit mit den Alltagserfahrungen geht, sollten die vier zentralen Vorannahmen der Erinnerungsarbeit erarbeitet werden. Diese stammen aus der kritisch-psychologischen Arbeit ihrer Erfinderin und betreffen die Konstruiertheit der Subjekte, die Tendenz zur Eliminierung von Widersprüchen aus dem Selbstbild, die gesellschaftliche Konstruktion von Bedeutung und die Einsicht, dass mit Sprache bereits Politik gemacht wird. Die Theorie- und Begriffsarbeit, die damit einhergehen kann, kann auch vorher stattfinden, sollte aber mindestens in einem Vortrag erläutert oder in eigener Lektüre erforscht werden. Sie kann aber

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auch später im Prozess stattfinden (in Schritt 5 oder nach Schritt 7 beispielsweise, vgl. Abb. 1).8 Je nach Kenntnisstand der einzelnen Personen und nach Interesse kann »einige theoretische Hilfe (aus Ideologie- und Kulturtheorie) für unsere kollektive Arbeit« (Haug 1982: 814–815) gemeinsam recherchiert werden. 9 Die empirische Arbeit beginnt, wenn die kurzen selbstverfassten Texte von allen gelesen oder vorgelesen wurden und ein Text, der besonders das Interesse weckt, an den Anfang der Interpretationsarbeit gestellt wird. Wie hierbei immer wieder auffällt, besteht ein Bedürfnis der meisten Teilnehmerinnen, den eigenen Text in den Vordergrund zu bringen. Es beginnt eine Diskussion um den Gehalt des Textes, um seine Botschaft, zunächst wie die Autorin sie vermitteln wollte – wobei dies genau gegensätzlich zum späteren Ziel der Erinnerungsarbeit ist, die sich nicht mit der Autorin identifiziert (Haug 2005 [1999]: 210). Widersprüchliche, unterschiedliche, unwahrscheinliche Leseverständnisse werden ausgetauscht, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. Denn auch hier findet sich eine Tendenz der Einzelnen, sich als möglichst genau, möglichst wissenschaftlich auszuweisen, und auch in der kritischen Zusammenarbeit nicht von einer möglichst glatten Konstruktion des Ich abzulassen. Die kollektive Arbeit braucht spätestens hier eine Gesprächsleitung, denn der gemeinsame Arbeitsweg droht sich immer weiter zu verzweigen – wenn schon nicht durch die Diskussionsinhalte, so doch zumindest zeitlich. Auch ist es wichtig, die Autorin des besprochenen Textes einzubeziehen in den Erkenntnisprozess, und doch ihre Selbstdeutung nicht zur Textinterpretation hinzuzuziehen. Bis hierhin ist die Arbeit am Text hermeneutisch und ähnelt dem Fremdverstehen des subjektiv gemeinten Sinns in vielen anderen Ansätzen der qualitativen Sozialforschung. Doch dies ändert sich im nächsten Schritt, wenn

—————— 8 Die Abbildung dient der Veranschaulichung des Arbeitsprozesses der Erinnerungsarbeit und sollte nicht der Verdinglichung eines lebendigen Prozesses dienen, bei dem der Weg immer wieder neue Abzweige ermöglicht. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die eingangs geschriebenen Szenen können später eine zweite Fassung finden, und die Theoriearbeit (insbesondere die Lektüre) immer in die empirische Arbeit eingeschoben werden (Haug 2008). 9 Im Falle der Reihe Frauenformen wurzelt die Erinnerungsarbeit in der Lektüre der marxistischen und politökonomischen Literatur und der »Langeweile in der Ökonomie« (Haug 1994b [1990]): 42), ebenso in der Beschäftigung mit Kultur- und Ideologietheorien (im Projekt Ideologie-Theorie [PIT, 1977–1985] des Arguments) und der Kenntnis der kritischpsychologischen Beiträge des Forum Kritische Psychologie (FKP, 1977–heute).

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eine Tabelle angelegt wird, deren obere Zeile die Botschaft der Autorin füllt (in einer kurzen These oder besser noch in ein Sprichwort gefasst), die zweite jedoch die Alltagstheorie, die dieser Botschaft zugrunde liegt (vgl. Schritt 4 und 5 in Abb. 1).

Abbildung 1: Erinnerungsarbeit als »emanzipatorischer Lernprozess« (eigene Abb. nach Haug 1994b [1990], 2005 [1999]) Hier wird ein erster Schritt der Distanzierung getan, bei der ein »ausdrückliches Verbot ausgesprochen werden [sollte]: die Erzählerin darf nicht […] zu weiteren Erklärungen ausholen und die anderen belehren« (Haug 2005

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[1999]: 221). Erst durch eine selbst- und untereinander kritische Diskussion der Teilnehmerinnen kann dieses hintergründige Alltagswissen destilliert werden, das »meist keine bewusste Theorie, sondern eine stillschweigende für sicher gehaltene Annahme« (Haug 2005 [1999]: 211) enthält. Einige Spalten füllen nun die Tabelle, in die das Selbst des Textes zerlegt wird: eine Dekonstruktionsarbeit zunächst ohne interpretative Leistung, bei der die Verben und Emotionen, die das Subjekt des Textes ausmachen, eingetragen werden. Gerade bei der Arbeit mit Frauengruppen fällt Haug immer wieder auf, wie viele der Autorinnen Passivkonstruktionen verwenden, und dass sich am Ende nicht selten wenige bis keine Verben direkt auf das Subjekt beziehen oder nur negierte Handlungen damit verbunden sind. Ebenso sieht es mit den Emotionen sowie der dritten Kategorie aus: der Motivation der Autorin, der dahinterstehenden Handlungsbegründung. Häufig ist das Handeln des Subjekts nicht wirklich nachvollziehbar, bei genauerem Hinsehen gar irrational, denn »[im] Übrigen entspricht natürlich solche Abbildung herrschender Ideologie« (ebd.: 214f.). Die Arbeit wiederholt sich für mögliche weitere Personen im Text, für die ebenso eine Subjektkonstruktionstabelle angelegt wird – doch dies ist meist schneller erreicht, denn sie »haben häufig eine Art Dienstleistungsfunktion für die glaubhafte Darstellung der Erzählperson, aber kein eigenes Leben« (ebd.: 219).

Von der Dekonstruktion des Subjekts zur Ideologiekritik Ausgehend von der Tabelle, in die die erinnerte Szene zerlegt wurde (vgl. Abb. 1), beginnt nun die Suche nach den Wünschen und Interessen, aber auch nach Leerstellen und Widersprüchen in den Geschichten. Dabei soll versucht werden, dass sich die Einzelne nicht unnötig exponiert und verurteilt fühlt, ohne jedoch auf die notwendige Dekonstruktion zu verzichten. Dies kann die Gesprächsleiterin vermitteln, wenn sie darauf verweist, dass die Forschungsgruppe nicht auf eine Kritik der Autorin, sondern vielmehr auf Ideologiekritik abzielt, »dass der Text selbst nicht die ›Wahrheit‹ über die Autorin enthält, sondern sich aus ihm eine Menge Konstruktionsweisen erarbeiten lassen, die allgemein üblich sind, und die daher uns gemeinsames Wissen über die Selbstdarstellungen und Konstruktion in unserer Kultur verraten« (Haug 2005 [1999]: 218). Dies kann je nach Person leichter

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werden, wenn »so etwas wie ein Entlarvungsklima aufkommt«, an dem sie selbst Vergnügen entwickeln (ebd.). Der Gruppe liegt nun eine »kritische Sammlung der Textelemente« (Haug 2005 [1999]: 217) vor, von der aus sie nicht mehr zurück in den Text kehren sollte. Die gewonnene Distanz ist wichtig, um sich nicht mehr in den Selbstdeutungen der Autorin zu verlieren, und um zudem die Geduld in der Gruppenarbeit nicht zu überdehnen. In der jahrelangen Arbeit innerhalb der Akademie, auf Wochenendworkshops mit autonomen Frauengruppen sowie der (feministischen) Bildungsarbeit fallen verschiedene Aspekte der hier aufgearbeiteten Ich-Konstitutionen wiederholt auf. Während die Leerstellen und Widersprüche sich immer mehr anfüllen, bleiben die Spalten der Wünsche und Interessen meist leer, so Haug. Während das Subjekt des Textes meist ohne Gefühle und häufig auch ohne Handlungsfähigkeit konstruiert wird – in Passivkonstruktionen, in negierten Verben und Satzkonstruktionen mit lauter Hilfsverben – sehen sich die Autorinnen selbst nicht als gefühllos oder passiv an. Es entspinnen sich aus diesen Widersprüchen oft Diskussionen, aus denen neue Textfassungen entstehen können, da die Einzelnen hoffen, ihre Erfahrung weniger ›missverständlich‹ an die Gruppe zu vermitteln. Die Szene wird dann doch anders erinnert, es kommen Aspekte hinzu; ganze Personen, die aus der Erzählung zunächst ausgeklammert wurden, werden neu eingefügt. Und dennoch sind die neuen Texte nicht weniger widersprüchlich, da es doch am Ende immer schon um Subjekte geht, die ihre Handlungsfähigkeit unter widrigen Umständen herstellen und sich in Verhältnisse der Unterdrückung einfügen müssen. Die Textarbeit bringt jedes Mal eine brüchige Konstruktion des Ichs hervor, deren »Strategien bei der Harmonisierung der Erinnerung« (ebd.: 221) nicht glücken können, sondern bestenfalls in der »Einsicht um die Konstruiertheit unserer Erinnerung« (ebd.: 222) münden. Unter dem Begriff der »Politik mit« und »Politik der Sprache« (Haug 1999b: 38) fassen die Begründerinnen der Methode genau diese Reproduktionen des Ideologischen: Die Glättung von Widersprüchen, die ticketartigen Antworten, die leeren Worthülsen sind nicht von Anfang an als solche dechiffrierbar. Es braucht Übung, um zu erkennen, welche halbgewusste Intention mit den Texten verfolgt wird – also wie die Einzelnen ihr Selbstbild gegen alle Widersprüchlichkeiten zu erhalten suchen. Mit der Kritischen Psychologie ließe sich dies als »Bewältigungsmodus« fassen, der subjektiv funktional sein kann (aber nicht muss): Die einzelnen Praxen in kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen sind inhaltlich zu bestimmen, und

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zeigen Momente erweiterter wie restriktiver Handlungsfähigkeit. Beide bezeichnen Formen von Subjektivität, von W.F. Haug auch unterschieden als »volle gesellschaftliche Handlungsfähigkeit« und »ideologische Handlungsfähigkeit« (Projekt Ideologie-Theorie 1982: 36). Die Spalten zu Wünschen und Interessen, aber besonders jene zu Leerstellen und Widersprüchen in der Konstruktion des Ichs im jeweiligen Text explizieren die methodologische Vorannahme, dass jede Einzelne, um handlungsfähig zu sein oder zu bleiben, der eigenen Geschichte und dem eigenen Selbstbild eine gewisse Kohärenz geben muss. Widersprüche, die in diesem Prozess entstehen können, werden aus der Wahrnehmung eliminiert (vgl. Haug 2005 [1999]: 215). Es folgt der vorletzte und schwierigste Bearbeitungsschritt, bei dem die nicht intendierte Botschaft des Textes herausgeschält wird. Hierbei wird nicht mehr auf den Ursprungstext zurückgegriffen, sondern wie bei der Suche nach den Leerstellen und Widersprüchen nur noch auf die Tabelle Bezug genommen, welche die Gruppe gemeinsam erarbeitete. Aus der kritischen Textsammlung, die die Subjektkonstruktion der Autorin preisgibt, spricht das »Nichtgesagte, das doch gegen die persönliche Absicht, die etwa im Bündnis ist mit schnellen Erklärungen über die Gemeinheit einer Person oder Ähnliches, gesagt werden wollte« (ebd.: 220). Insbesondere die Autorin der analysierten Szene wird mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Verunsicherung anzunehmen, die diese »Zunahme an Erkenntnis über sich selbst« (ebd.: 222) verursacht. Erinnerungsarbeit ist zwar Arbeit mit sich selbst, doch keine Therapie, auch wenn es gewisse Ähnlichkeiten zu psychotherapeutischen Verfahren geben mag. Ohne Verunsicherung, so Frigga Haug, keine Entwicklung. Der Wunsch, ohne eine solche leben zu wollen, sei verfehlt (ebd.). Doch die hier vorgestellte Methode ist auch Begriffsarbeit, Theoriearbeit im Kollektiv. Im Gegensatz zur Arbeit mit einem Experten oder einer Expertin durchläuft hier nicht nur eine, sondern durchlaufen im besten Fall alle Teilnehmerinnen den »emanzipatorische[n] Lernprozess« (ebd.: 227), der an die Dekonstruktion anschließt. So entstehen nicht nur neue Erkenntnisse über die Einzelnen und für diese, sondern über verallgemeinerte Formen der Vergesellschaftung und über die Politik von Sprache, durch die eine »ideologisch beabsichtigte Botschaft« (ebd.: 220) gegossen wird – durch die Individuen und zugleich hinter ihrem Rücken. Der letzte Schritt ist der Vergleich dieser neugewonnenen Bedeutung mit der ursprünglichen Botschaft der Autorin und deren Intention – so wird diese Gleichzeitigkeit von gewollten, »halb-

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gewussten« und unbewussten Selbstbildern und Botschaften offengelegt. Diese nun aufklaffende Nichtidentität des Subjekts mit seinem Selbstbild, seine Verstrickung in die eigene Unmündigkeit, wirken aufklärerisch, und können zu einer Selbstbefreiung beitragen, ohne dass die Methode die Absicht verfolgt, eine Therapieform zu sein. Es geht darum, »an Wissen über Vergesellschaftungsprozesse, an Kompetenz über Sprache und Bedeutung, an Theoriekritik als Grundlagen und Voraussetzungen wachsender Handlungsfähigkeit« (Haug 2005 [1999]: 222) dazuzugewinnen, und dabei die eigene Emanzipation und Handlungsfähigkeit ein wenig zu erweitern.

Feministische Methodologie zwischen historischem Materialismus und Cultural Turn Die Ursprünge der Entwicklung der Methode liegen nicht nur in der Frauenbewegung, als deren Avantgarde sich Haug und ihre Mitstreiterinnen zunächst implizit betrachten.10 Zu Haugs eigenen Vorarbeiten im Feld der Methodenlehre lassen sich auch ihre Aufsätze zählen, die sie als Mitarbeiterin des Argument-Verlags ab 1965 in der gleichnamigen Zeitschrift für Sozialwissenschaften und Philosophie veröffentlicht. Schon im Anschluss an den Positivismusstreit in der Soziologie, in dem (heute so genannte analytische) herkömmliche Methoden der Sozialforschung von Seiten der Frankfurter Kritischen Theorie (und vice versa) kritisiert wurden, sucht Haug nach eigenen Wegen zu einer historisch-materialistischen Methode. In einem Aufsatz von 1978 unter dem Titel »Dialektische Theorie und empirische Methodik« stellt sie die Frage, ob »eine historisch-materialistische Sozialwissenschaft eine eigene Methode der Datenerfassung und Aufbereitung« (Haug 1978: 645) brauche. Unbeschwert, so scheint es zunächst, sucht sie nach solchen Entwicklungen in der sozialwissenschaft-lichen Methodologie der realsozialistischen Länder, »wo marxistische Gesellschaftstheorie und Empirie ganz offiziell zusammen vorkommen« (ebd.), nur um festzustellen, dass diese nach einigen Sätzen vorgeblich Marx’scher Ideologiekritik damit fortfahren, teilweise wörtlich die Methodik der bundesrepublikanischen Soziologie (nach René König) zu übernehmen. So ist von Hypothesen und

—————— 10 Dies ist einer der selbstkritischen Befunde, der sich durch Erinnerungsarbeit der sozialistischen Frauengruppe herausschälte (Haug 1999b: 38).

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Gegenhypothesen, Sollsätzen und Allaussagen, Signifikanzprüfungen und Häufigkeitsverteilungen die Rede auch dort, wo man vorgebe, nach dem »Wesen« des Menschen zu suchen. Trotz vieler Hinweise darauf, dass deren Begriffe und Kategorien nicht kritiklos übernommen werden dürften, muss die Marxistin feststellen, dass auch hier die Kritik der bürgerlichen Methoden, »im Prinzip auf die Anerkennung der richtigen Theorie für die Interpretation der Daten« reduziert werde (Haug 1978: 656). Nachdem sie jedoch die Schwächen der mathematisch-statistischen Verfahren betont – insbesondere die Mittelwertfixierung und die zugrundeliegende Annahme der Gleichverteilung, die die Widersprüchlichkeit und Veränderung sozialer Objekte ausblendet – findet die Soziologin doch einige Aspekte, unter denen quantitative Häufigkeitszählungen und Zusammenhangsmaße sinnvoll verwendet werden können. Es zeigen sich bereits hier Momente, die sich in der späteren Erinnerungsarbeit wiederfinden. Zum einen wird deutlich, dass Haug auf Adorno, die Frankfurter Schule und deren Kritik der positivistischen Methodologie baut. Adorno verurteilt die Verdinglichung gesellschaftlicher Phänomene, aus denen nur das Unwichtige (wie Größe und Altersdurchschnitt), aber nicht die tatsächlich sozialen Momente mit den Mitteln der Mathematik zu ermitteln seien: »Die Gesellschaft ist widerspruchsvoll und doch bestimmbar; rational und irrational in eins, System und brüchig, blinde Natur und durch Bewußtsein vermittelt. Dem muß die Verfahrungsweise der Soziologie sich beugen.« (Adorno 1987 [1969]: 126) »[A]us der Einsicht, daß soziale Prozesse prinzipiell widersprüchlich sind, folgt, daß die empirischen Methoden, die ausdrücklich dem Ausschluß von Widersprüchlichkeit sich verdanken, nicht umstandslos zur Messung, auf keinen Fall zur Erkenntnis angewandt werden können, da sie die wesentlichen Momente sozialer Tatbestände – nämlich alle, die die Selbstbewegung des Objekts betreffen – verfehlen müssen.« (Haug 1978: 651)

Die Marxistin wird umgetrieben von der Frage, wie Motivation und beständige Veränderung des Forschungsobjekts »Mensch« soziologisch zu analysieren seien. »Kann man auf Menschen wie auf Insekten blicken? Kann man Bewegungen, Eigenschaften, Verhaltensweisen als feste Dinge fassen?« (Haug 1994a [1990]: 47f.), fragt sie sich auch in späteren Publikationen zur Erinnerungsarbeit, und knüpft explizit an den Kern des Positivismusstreits an. Deutlich zeigt sich zudem ihr historisch-materialistischer Blick, ihr Interesse an Arbeit im Kapitalismus als Gegenstand und ganz besonders auch an dessen Veränderung durch Sozialforschung zum Besseren (ebd.: 649).

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Insofern sie von der Konstruiertheit des Selbst ausgeht, ist die Methode der Erinnerungsarbeit aber auch Teil des Cultural und Linguistic Turns. Unter dem Stichwort der »Politik der Sprache« (Haug 1999b: 38) stellt sie früh fest, dass Sprache nicht nur ein Werkzeug ist, sondern dass ihre halbbewusste Verwendung das Ideologische mit formt und »mit uns Politik macht« (ebd.). Es besteht eine Verwandtschaft zu kritischen Diskursanalysen, die aufbauend auf Michel Foucault entwickelt wurden, und gesellschaftliche Diskursstränge und die darin enthaltenen »Wahrheiten« kritisierbar machen wollen (Jäger 2012 [1993]: 161). Da in der Erinnerungsarbeit der Diskurs von den Teilnehmerinnen selbst verschriftlicht wird, besitzt sie im Unterschied dazu per definitionem eine selbstreflexive und politische Komponente. Datengrundlage ist die eigene Erinnerung. Sie unterscheidet sich auch von den neueren Ansätzen der qualitativen Forschung, die auf das Erforschen der eigenen Biographie mithilfe ethnografischer Mittel abheben, wie der Autoethnografie. Diese ist ihrem Bestreben nach »ein Forschungsansatz, der sich darum bemüht, persönliche Erfahrung (auto) zu beschreiben und systematisch zu analysieren (grafie), um kulturelle Erfahrung (ethno) zu verstehen« (Ellis, Adams und Bochner 2010: 345). Ähnlich wirkt hier die Erkenntnis, dass Forschung nicht von einem neutralen Standpunkt aus geschieht, und dass wir unsere eigenen Erfahrungen systematisch mit in den Blick rücken müssen, um die soziale Welt zu verstehen. Ebenso lässt sich damit rekonstruieren, dass Erinnern immer retrospektiv geschieht und dabei selektiv vorgeht. Doch wo Autoethnografien kulturelle Praktiken untersuchen, und dabei davon ausgehen, dass die »Autoethnograf/innen […] Teil einer Kultur sind und/oder eine bestimmte kulturelle Identität besitzen« (ebd.: 347), ist die Erinnerungsarbeit nicht identitätspolitisch angelegt, sondern dekonstruiert das Selbstbild der (Selbst-)Forscherinnen. Während Autoethnografinnen zumeist alleine arbeiten und bereits von vorneherein »über ausgezeichnete Schreibtechniken verfügen« müssen, um »Texte ästhetisch und plastisch zu gestalten«, wobei sie meist die Erzählperspektive in der ersten oder zweiten Person (ebd.) nutzen, ist die Sprachlosigkeit und sind die genutzten Klischees in den Alltagswiedergaben der Erinnerungsarbeit bereits Teil der Untersuchung. Die Autoethnografie will Macht ›sichtbar machen‹, die je nach Identität der Forschenden in ihr liegt (als Privileg), oder ihr äußerlich scheint (als Diskriminierung): So sollen indigene Ethnografien dazu dienen, »Macht in der Forschung zu thematisieren und zu unterbinden« (ebd.: 348), während andere Techniken dabei helfen, »soziale/kulturelle Praktiken in einer

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Gemeinschaft« (ebd.: 349) aufzudecken, die dem Machterhalt dienen, woraufhin im besten Falle die Forschungsgemeinschaft interveniert in die Reproduktion von Herrschaftsmechanismen. Das Konzept der Autoethnografie teilt nicht die kritisch-psychologische, kritisch-theoretische Anthropologie der Erinnerungsarbeit, die im Begriff der ideologischen Subjektion liegt: dass Menschen grundsätzlich Selbstbilder von sich erschaffen, die möglichst Widersprüche eliminieren, und dass sie darin alle der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft unterworfen sind. Diese subjekttheoretische Annahme besagt, dass wir uns alle in Gesellschaft hineinarbeiten, um wenn auch restriktiv, so doch handlungsfähig zu werden – auch und gerade auf Seiten der Beherrschten. Sie teilt auch nicht die historisch-materialistische Grundlage, weshalb sie den Zusammenhang zwischen den analysierten Subjektivierungsformen und der »Weltseite« – den »natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und […] darin enthaltenen verallgemeinerten Bedeutungen« (Schmalstieg 2006: 10) – nur in der Weise herstellen kann, dass Macht einem persönlichen Privileg oder der persönlichen Diskriminierung dienen muss. Haug und die anderen Mitarbeiterinnen bauen auf eine lange Tradition kritisch-theoretischer Forschung und Philosophie des Argument-Umfelds auf. Sie kombinieren in der Methode der Erinnerungsarbeit Erkenntnisse aus dem Projekt Ideologie-Theorie (PIT), das sich in den 1970ern zuallererst der Frage nach Ideologie und Faschismus zuwendet. Anknüpfend an Walter Benjamin, Ernst Bloch und Herbert Marcuse folgen sie der Annahme, dass Vergessen Unterwürfigkeit fördert (Haug 2005 [1999]: 34), und sehen anhand kritischer Autor*innen der deutschen Nachkriegsliteratur wie Peter Weiss und Christa Wolf »das Problem, für die Aufgabe des Erzählens und Nicht-Vergessens eine Sprache zu finden innerhalb der Sprache eines Volkes, das in eben ihr seine Verantwortung an der Mitwirkung verdeckte und weglog« (ebd.: 35). Erinnerung ist für Befreiung unabdingbar, Sich-Erinnern ein subjektiver Prozess der das nachholt, was das Subjekt wegschob und verfälschte, als es eine unterdrückerische Gesellschaft in sich einbaute (ebd.: 37). »Die Notwendigkeit, sich erinnernd in der Gegenwart zu verorten und damit einen Weg in eine andere Zukunft zu suchen« (Weber 1998: 78), findet die autonome Frauenredaktion so in der Aufarbeitung des deutschen Faschismus. Anders als in den Selbsterfahrungsgruppen der westdeutschen Frauenbewegung stammt ihre Motivation der Beschäftigung mit eigenen Erfahrungen auch aus dem Wissen um die Verstrickung in Täterschaft. Die Opfer-Täter-Debatte und die Methode der Erinnerungsarbeit tragen auf

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diese Weise Früchte aus dem Projekt Ideologie-Theorie (PIT) – und erweitern dieses um die Erforschung der weiblichen »Selbst-Unterstellung«. Auch in der weiblichen Erfahrung der eigenen Passivität liegt Aktivität, liegt Tat, wie bei allen Unterdrückten. Empirisch findet sich so ein »vielgestaltige[s] Do it yourself der Ideologie« – ideologische Praxen im Alltag, die dadurch verfestigt werden, dass die Menschen um eigene Handlungsfähigkeit, eigene »Normalität« ringen und Gesellschaft in einem aktiven Prozess der ideologischen Unterwerfung in sich einbauen (Haug 1993: 172f.).

Unterdrückung: Intersektionalität oder ideologische Subjektion? Zur Aktualisierung der Methode der Erinnerungsarbeit stellt sich heute mehr als in den 1970er und 80er Jahren im Zuge der Frauenbewegung die Frage, wie andere Formen der Unterdrückung und Herrschaft mit in die Analyse einbezogen werden können, die nicht auf der männlich / weiblichen Arbeitsteilung und dem Geschlechterverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft beruhen. Besonders hervorgetan hat sich dazu das nordamerikanische Konzept der Intersectionality, das aus einer Verbindung feministischer Forschung und der critical race studies (Knapp 2011: 79) entstand. Ungleichheit wird hier konzeptioniert als sich überkreuzende Achsen – intersections. Dabei addieren sich verschiedene Dimensionen der Diskriminierung nicht einfach auf, sondern bilden letztlich qualitativ andere Formen der Ungleichheit (Hancock 2007). In den 1990er Jahren führt Kimberlé Crenshaw den Begriff zunächst ein, um die rechtliche Diskriminierung schwarzer Frauen in den USA zu bestimmen. Ihre strukturelle Positionierung wird, so die Wissenschaftlerin, weder durch die feministische Kritik weißer Frauen noch durch die Erkenntnisse antirassistischer Forschung treffend gefasst – ein Problem, das sie treffend belegt (Crenshaw 1991). Seither hat der Begriff der Intersektionalität auch in Deutschland eine meist fruchtbare Debatte angestoßen: Für die Konzeption intersektionaler Forschung hierzulande wurde etwa diskutiert, inwiefern zwischen mikro- und makrosoziologischer Analyseebenen unterschieden werden müsse. Gudrun-Axeli Knapp und Cornelia Klinger (Klinger und Knapp 2008) schlagen vor, sowohl Strukturkategorien als auch subjektbezogene Identitätskategorien zu differenzieren. Dabei begründet Klinger eindrücklich, dass Intersektionalität für Analysen der Mikroebene

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eine brauchbare Metapher ist, da sie zu einer grundsätzlichen Offenheit der Untersuchung einlade – also dazu, neben der klassisch gewordenen Trias Geschlecht, race und Klasse durch induktive bzw. iterative Forschung weitere Kategorien aufzuspüren, die jeweils wirkmächtig sind. Zur Analyse der Makroebene sollte ihr zufolge jedoch richtiger von ineinandergreifenden Strukturen gesprochen werden (Klinger und Knapp 2008). Während das Konzept der Intersektionalität ohne Zweifel bereits ein fruchtbares Werkzeug der Soziologie geworden ist, verbleibt es zumeist auf der Analyse der erstgenannten Mikroebene (Knapp 2005: 75) und trägt so zu einer gewissen Verhärtung von Identitätskategorien bei. Gabriele Winker und Nina Degele liefern darum ein Mehrebenenmodell, wobei sie neben den Identitätskonstruktionen und Gesellschaftsstrukturen auch symbolische Repräsentationen unterscheiden (Winker und Degele 2011, Abb. 3). Für die Ebene der Identität raten auch sie dazu, die volle Wirkung der Kategorien aus qualitativem Interviewmaterial heraus zu rekonstruieren – also induktiv vorzugehen. Für die anderen beiden Ebenen – die Repräsentationsebene ebenso wie die Strukturebene – wählen sie ein deduktives Vorgehen, bei dem die Kategorien im Vorhinein bestimmt und dann in den Daten gesucht werden. Eine kritischere Sicht auf Intersektionalität jedoch zeigt, dass die Kategorien (wie race, gender, class) ihren gesellschaftstheoretischen Gehalt verlieren, wenn sie allein dazu dienen sollen, Effekte zu untersuchen (Soiland 2008). Wird die Analyse der Gesellschaft mit Makroanalyse gleichgesetzt und deduktiv getestet, ob etwa Geschlecht einen Effekt auf Altersarmut hat, so kann zwar ein gewisses Maß an Ungleichheit gemessen werden. Doch aus gesellschaftskritischen Begriffen werden dann verdinglichte Eigenschaften, aus ineinandergreifenden Strukturen bloße soziale Tatsachen, und aus Verhältnissen einfache Kategorien.11 Die »Auseinandersetzungen mit der Frage, wie veränderte Dynamiken im Geschlechterverhältnis mit dem Akkumulationsregime spätkapitalistischer Gesellschaften interferieren« (Soiland 2008) als komplexe Frage, in der es nur abhängige und latente Variablen gibt, gerät damit aus dem Blick. Auf der Ebene der Subjekte und ihrer Beziehungen bringt der intersektionale Forschungsblick eine Offenheit mit sich, die auch der Methode der Erinnerungsarbeit entspricht – beide sind darin der qualitativen, interpretativen Sozialforschung verbunden. Doch steht bei den Forschungen zur Intersektionalität im Zentrum, Kategorien der Unterdrückung im Indivi-

—————— 11 Für eine kritische Anwendung des Intersektionalitätskonzepts siehe auch Pflücke (2019).

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duum aufzuspüren, untersucht die Erinnerungsarbeit die widersprüchliche Anpassung der Einzelnen an Gesellschaft, durch die zugleich Gesellschaft geschaffen wird. Intersektionalität zielt nicht so sehr auf die Selbstbefreiung, bezieht sich aber andererseits auch nicht hauptsächlich auf ein Herrschaftsverhältnis, das sich im Privaten reproduziert und auf der Arbeitsteilung innerhalb von Familien basiert. Sicherlich trifft auch für Klasse, race und auch andere Achsen des Ausschlusses zu, dass wir als Betroffene auch in die Betroffenheit hineinsozialisiert werden – dies belegen die Schriften von Autor*innen wie James Baldwin, Edouard Louis und Didier Éribon eindrücklich. Doch das Maß, in dem wir uns selbst unter den herrschenden Umständen befreien können, unterscheidet sich nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv. Die doppelte Vergesellschaftung von Frauen (BeckerSchmidt 2010) bedingt ihre Subjektivierung hin zum Privaten und zur Passivität in der Öffentlichkeit – dies ist eines ihrer »Male der Unterdrückung« (ebd.). Sich selbst daraus zu lösen, wie es die Erinnerungsarbeit anstrebt, kann in kollektiver Arbeit mit anderen Frauen insoweit gelingen, als die Erkenntnis über das Sich-Opfern als Tat und die eigene Mitwirkung an der Unterdrückung im Privaten bereits Sprengpotenzial birgt. Restriktive Handlungsfähigkeit im Alltag auszuweiten bedeutet noch nicht revolutionäre Praxis im Großen, ist aber im Falle der Frauenkollektive bereits eine Praxis hin zu anderen, vielleicht emanzipierteren Subjektformen. Die Methode der Erinnerungsarbeit hätte demnach Grenzen dort, wo der massenhafte Protest, auf den Haug inmitten der Frauenbewegung vergeblich wartet, bereits stattfindet – aber wenig bewirkt. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, von Opfern und Tätern, sowie die Spezifik der weiblichen Sozialisation sind für die Methode der Erinnerungsarbeit demnach prägend. Bei der Frauenbefreiung, wie Haug und ihre Mitstreiterinnen den Ausbruch der weiblich (und zumeist heterosexuell) Sozialisierten aus dem dualistischen Herrschaftsregime nennen, ist das »halbgewusste«, aktive Einverständnis und die libidinöse Verstrickung deutlicher Teil der Unterdrückung selbst. Intersektional gedacht bliebe somit die Frage, inwiefern Erinnerungsarbeit angewandt auf andere Herrschaftsverhältnisse nicht an ihre Grenzen stößt, selbst wenn alle Unterdrückten sich über ihre »Male der Unterdrückung« auch selbsttäuschen.12 Eine Grenze der Erinnerungsarbeit liegt demnach

—————— 12 Für die afro-amerikanische Bevölkerung beschreibt dies James Baldwin bereits in »Go Tell It On The Mountain« (Baldwin 1981 [1953]), wo er den Selbsthass und die gegenseitige Unterdrückung seiner Familie paradigmatisch beschreibt. Für die Wut des weißen Mannes

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dort, wo außerhalb des selbsterforschenden Subjekts Herrschaft reproduziert wird – bürgerliche Institutionen, ideologische Staatsapparate, kapitalistische Produktionsverhältnisse lassen sich nicht unmittelbar durch Selbstveränderung der Subjekte umwälzen (dies klänge sonst stark nach neoliberalem Credo). Auf diese »Weltseite« der Verhältnisse lässt sich aber nicht anders zugreifen, als über Selbstaufklärung der Subjekte.

Fazit – Selbstveränderung und Nachträglichkeit Das Gewordensein der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Subjekts als aktiver Prozess ist das zentrale Thema der Erinnerungsarbeit. Sie geht historisch-materialistisch vor, sowie kritisch-psychologisch: Obwohl sie also um die Konstruiertheit des Subjekts weiß, und die Dekonstruktion auch Teil der Methode ist, ist ihr Ziel letztlich, sich der Konstruktion nachträglich bewusst zu werden, und die selbst mitgetragene, reproduzierte Ideologie darin zu entschlüsseln. »Die Bedeutung der Vergangenheit und der Gegenwart eines Individuums konstituieren sich gegenseitig. Die Gegenwart bestimmt, in welcher Form Vergangenes erinnert werden kann, wie sie sich als Erinnerung konstituiert, und die Vergangenheit wirkt in das Verständnis und Erleben der Gegenwart hinein.« (Kirchhoff 2019: 46)

Nachträglich, so könnte man mit Christine Kirchhoff (und Sigmund Freud) auch sagen, werden Widersprüche eliminiert, wird ein Selbstbild kreiert und so eine Identität geschaffen, aus der sich nur die Einzelne selbst befreien kann. Wie beschrieben, setzt sich die Erinnerungsarbeit nicht nur kritisch mit Selbstkonstruktionen von Subjekten auseinander, sondern ihre Erfinderinnen nehmen zudem an, dass sie zwar nicht individuell Schuld tragen an den Umständen, in die sie geboren wurden, aber doch selbst an der eigenen Unterdrückung mitwirken. In der Praxis der Erinnerungsarbeit ist es die Autorin der kollektiv bearbeiteten Alltagsszene, die dazu aufgerufen ist, ihre Verstrickung in die eigene Beherrschung anzusehen. Wie zu Beginn erläu-

—————— in Louisiana beschreibt es wiederum Arlie R. Hochschild: Als »Paradox«, dass die US-amerikanische Rechte gegen jede Vernunft weiter Industrialismus um jeden Preis verlangt und dabei nicht nur eine Welt festschreibt, in der Frauen und Schwarze unterdrückt werden, sondern die auch eigene Umwelt- und Gesundheitsschäden in Kauf nimmt (Hochschild 2018).

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tert, hat dies Frigga Haug in Konflikte mit marxistischen sowie frauenbewegten Akteuren geführt. Die Differenzen haben ihren Ursprung in theoretischen Vorarbeiten, die, wie dargestellt, auf dem Projekt Ideologie-Theorie und der Aufarbeitung des Faschismus, auf Karl Marx und Antonio Gramsci ebenso wie der Kritischen Psychologie basieren. Als Lehre zieht sie die unbequeme, schmerzhafte Einsicht um das Mitwirken der Einzelnen am Ganzen, und sei es ›nur‹ dadurch, dass wir nicht aufbegehren. Unsere Erinnerung, aus der wir unser Selbst ziehen, geht selektiv vor, und unser Alltagsverstand betreibt mit einer vorurteilsgeladenen Sprache Politik, schafft statt eines revolutionären Subjekts einen »Bau mit Leerstellen« (Haug 8. Juni 2011). Beständig wird Bedeutung konstruiert, Sprache dazu genutzt, zu normalisieren, was andere von uns sehen, und zu verpacken, was sie nicht sehen sollen. Zur Lösung von diesem halbgewussten Bewusstsein, aber auch den damit zusammenhängenden Praxen, ist der Kontext der Gruppe zentral, in dem neue Formen gelebt werden können. So wird von Haug auch immer wieder betont, dass es eines Ortes bedarf, in dem die Einzelne nicht dem Interesse an ihrer Unterdrückung begegnet, sondern sich dem Prozess der Selbstaufklärung öffnen kann. Der kollektive Aspekt deutet auf das Wissen um die Notwendigkeit einer anderen Praxis, ohne die die theoretische Dekonstruktion wenig lebbar wird. Dieser kritisch-theoretische Hintergrund macht aus der Methode der Erinnerungsarbeit letztlich ein Instrument, das in der Lage ist, die Forscherin immer zugleich als Opfer und als Täter der eigenen Verhältnisse zu begreifen. Wenn Ideologie dazu beiträgt, »dass Herrschaft reproduziert, damit über die Arbeit anderer verfügt sowie das in der gemeinsamen Arbeit der Vielen erzeugte Produkt von Wenigen privat angeeignet wird« (Demirović 2019: 129), so steckt in der Arbeit mit der Erinnerung insbesondere von Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft das Potenzial, die Verfügung über die eigene, oft un- und unterbezahlte Arbeit zu hinterfragen und gegen ihre stille Aneignung durch Kapital und Familie aufzubegehren. Ideologie ist für Haug ein Herrschaftsinstrument, in das allerdings alle verstrickt sind als »tätige Opfer«. Frigga Haug rekurriert immer wieder auf Peter Weiss, um zu betonen: »Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen« (Haug 1999a: 126).

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Bilder über Obdachlosigkeit in Zeiten der Wohnungskrise – Eine tiefenhermeneutische Fallanalyse Saskia Gränitz

Die soziale Frage ist zurück. Sie äußert sich insbesondere in den Ballungsräumen wieder als Wohnungsfrage. Dass »die Mieten den Einkommen davonlaufen« ist nicht mehr nur gefühlte Wahrheit am Küchentisch und in der Tagespresse, sondern präzise quantifizierbar: In deutschen Großstädten fehlen knapp zwei Millionen leistbare Wohnungen (Holm u.a. 2018: 10). Von der Versorgungslücke am stärksten betroffen sind einkommensarme und armutsgefährdete Haushalte, die in Metropolen mit hohem Mietniveau sowie in Städten mit einem großen Anteil an Niedrigverdienenden faktisch keine leistbaren Neuvermietungsangebote mehr finden (ebd.: 69f.). Aber auch Personen mit durchschnittlichen Einkommen sehen sich in Regionen mit angespanntem Wohnungsmarkt zunehmend mit Problemen konfrontiert, die sich als Wohnungsnöte unterschiedlichster Couleur beschreiben lassen. Hierzu zählt die Prekarisierung infolge von Mieterhöhungen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Modernisierungsumlage, ebenso wie stadträumliche Verdrängung oder drohende Wohnungslosigkeit nach (vermeintlichen) Eigenbedarfskündigungen. Wohnungsnot zeigt sich aber auch an ungenügendem Wohnstandard sowie gesundheitsgefährdenden Umgebungen infolge von Desinvestition seitens der Immobilieneigentümer. Als zunehmendes Problem gilt zudem die Überbelegung von Wohnflächen und das Eingeschlossensein in Wohnungen, die für wachsende Haushalte zu klein werden. Und schließlich kann auch das Ausgeschlossensein aus dem regulären Wohnungsmarkt, wie es sich beispielweise in Wohnbiographien mit ständig wechselnden Zwischen- und Untermieten zeigt, eine Form der Wohnungsnot darstellen.1

—————— 1 Unter Gränitz (i.E.) habe ich eine Neukonzeption gängiger Typologien vorgeschlagen, um diese Grauzonen der Wohnungsnot im Kontext der gegenwärtigen Wohnungskrise in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen. Die Typologie enthält Dimensionen des ungesicherten, ungenügenden, deprivierten, prekarisierenden und bedrohten Wohnens. Die Grauzonen der Woh-

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Im vorliegenden Beitrag soll auf Basis einer empirischen Einzelfallanalyse2 rekonstruiert werden, wie derartige Wohnungsnoterfahrungen subjektiv verarbeitet werden. Anknüpfend an die Sozialcharakterstudien der frühen Kritischen Theorie (siehe Fromm 1932, 1987) sowie die Forschungstradition der psychoanalytischen Sozialpsychologie (siehe Brunner u.a. 2012; Busch 2006) liegt meiner Untersuchung die Annahme zugrunde, dass psychodynamische Faktoren Einfluss darauf nehmen, wie Individuen soziale Krisensituationen erleben, deuten und bewältigen. Die für die Fallgeschichte relevanten Faktoren sollen unter Rückgriff auf theoretisch herzuleitende Konzepte der psychoanalytisch sozialpsychologischen Subjekttheorie herausgearbeitet werden. Ziel ist die empirische Rekonstruktion von psychodynamischen Mustern, welche die individuelle Auseinandersetzung mit der Krisenerfahrung der Wohnungsnot strukturieren.3 Vor allem interessiert mich der häufig von Brüchen und Widersprüchen gezeichnete »Weg durch’s Subjekt«, auf dem alltagsweltliches Krisenerleben in affektiv wirksame Selbst- und Weltdeutungen überführt und folglich meist unbewusst zum Substrat politischer Willensbildung wird. Ideologische Deutungsangebote, die nicht selten Teil politischer Mobilisierungen sind, scheinen insbesondere bei der Glättung solcher Brucherfahrungen eine zentrale Rolle zu spielen. Sie erlangen Attraktivität offenbar dann, wenn es dem Subjekt mit ihrer Hilfe gelingt, gesellschaftliche Widersprüche, mit denen es sich in seiner Alltagspraxis konfrontiert sieht, zu kitten.

—————— nungsnot sind analytisch abzugrenzen von manifesteren Formen der Obdach- und Wohnungslosigkeit, die in der Europäischen Typologie für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnversorgung [ETHOS] definiert sind. Demnach sei mit Obdachlosigkeit sowohl das unbehauste Leben auf der Straße als auch das Übernachten in Notschlafstellen und niedrigschwelligen Einrichtungen gemeint. Als wohnungslos gelten demgegenüber Menschen, die zwar ein Dach über dem Kopf, aber keinen eigenen Mietvertrag haben (zum Beispiel wenn sie temporär oder dauerhaft in Wohnungsloseneinrichtungen, Frauenhäusern, Heimen und Herbergen oder auch bei ambulanter Wohnbetreuung in Einzelwohnungen institutionell untergebracht sind). 2 Der in diesem Beitrag ausgewählte Fall entstammt der qualitativen Empirie aus meinem laufenden Dissertationsprojekt. Ich habe mit insgesamt 14 Personen in verschiedenen Städten leitfadengestützt problemzentrierte Interviews geführt und in acht Fällen Wohnungsnotlagen festgestellt. Methodisch verwendete ich in der Auswertung sowohl kodierende als auch hermeneutische Verfahren. 3 Der Horizont einer solchen Analyse beschränkt sich allerdings nicht auf die Ebene des Individuums. Wenngleich in diesem Beitrag keine ausführliche Rekonstruktion der biographischen Verschränkung von Individuum und Gesellschaft geleistet werden kann, so soll in der Falldarstellung doch deutlich werden, dass subjektive Verarbeitungsmuster durchweg mit Gesellschaftlichem verwoben sind.

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Die psychoanalytische Sozialpsychologie spricht in Anlehnung an Freuds massenpsychologische Theorie diesbezüglich von »Schiefheilung«. Insbesondere für die Phänomene des Antisemitismus und des Rassismus wurde vielfach herausgearbeitet, dass gesellschaftlich präformierte Bilder des Eigenen und Fremden als »ideologische Schablonen« (Brunner 2016: 22) dienen, welche es dem Subjekt ermöglichen, das eigene Selbstbild von unerlaubten oder unerwünschten Selbstanteilen zu befreien und somit schiefzuheilen. »Die psychische Stabilität potentiell bedrohende und damit ängstigenden [sic] Konflikte werden so externalisiert, was ungemein entlastet und – das ist die Idee hinter dem Begriff der Schiefheilung: Die Teilhabe an einem kollektiven ›Symptom‹ kann gerade der möglichen individuellen Symptombildung entgegenwirken.« (Ebd.)

Das Konzept der Schiefheilung hilft also zu erklären, warum bestimmte ideologische Angebote für bestimmte Subjekte in spezifischen Situationen psychologisch funktional und politisch attraktiv sind. Im Zentrum dieser Erklärung steht der innersubjektive Konflikt, der am Einzelfall empirisch herauszuarbeiten ist und der letztlich auf gesellschaftliche Widersprüche verweist. Zugleich verhindert ein in dieser Form massenpsychologisch konzeptionalisierter Begriff der Schiefheilung Pathologisierungen, die mit psychoanalytischen Forschungsmethoden häufig verknüpft werden. Denn wie Brunner (ebd.) argumentiert, sei es – beispielsweise im Gegensatz zu Neurosen oder individuellen Wahnvorstellungen – weder anormal noch krankhaft, ideologisch zu denken. Vielmehr schütze der Rückgriff auf (kollektiv geteilte) Ideologien die Einzelnen vor der individuellen Pathologisierung. In diesem Sinne lässt sich die durch Ideologie vermittelte Schiefheilung nicht nur als funktional für die Subjekte, sondern letztlich auch als gesellschaftlich funktional begreifen. Indem sie die Einzelnen davor bewahrt, an den gesellschaftlichen Verhältnissen verrückt zu werden, trägt sie zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung verrückter Verhältnisse bei. Allerdings verstehe ich es – in Abgrenzung von totalisierenden Ideologietheorien – keineswegs als Automatismus, dass Subjekte gesellschaftliche Krisen unter Rückgriff auf ideologische Schablonen verarbeiten. Empirische Studien, wie sie beispielsweise in der Autoritarismusforschung seit den 1940er Jahren durchgeführt werden, haben wiederholt nachgewiesen, dass Individuen mit Krisenerfahrungen unterschiedlich umgehen (siehe zum Beispiel Adorno u.a. 1964; Vester 2003; Decker u.a. 2008). Aufschlussreich scheint mir in diesem Zusammenhang die Frage zu sein, inwiefern Menschen sich durch eine Krise überhaupt bedroht fühlen und wie sie das Bedrohungsgefühl bewältigen. In dem für diesen Artikel ausgewählten Fall

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wird sich zeigen, dass die erzählende Person die eigene Wohnungsnot relativiert und das Bedrohungsgefühl im Zusammenhang mit potenzieller Obdachlosigkeit innerpsychisch abwehrt. Diese Abwehr der eigenen Gefährdung durch Obdachlosigkeit steht in diesem Fall, so soll gezeigt werden, psychodynamisch in Zusammenhang mit ideologisch geformten Bildern über Obdachlosigkeit. Die ideologische Verarbeitung zeigt sich hier konkret an einer Personifizierung des Phänomens der Obdachlosigkeit und einer imaginären Spaltung innerhalb der Gruppe derjenigen, die als Obdachlose wahrgenommen werden. Eine zentrale Rolle spielen dabei ethnisierende Projektionen auf eine imaginierte Fremdgruppe sowie die Identifikation mit einer als handlungsfähig imaginierten Eigengruppe. Die Gliederung dieses Beitrags folgt der eben skizzierten Argumentationslogik, die meinem empirischen Auswertungsprozess entspringt. Gemäß der unterschiedlichen Epistemologie der einzelnen Analyseebenen bewegt sich die nachfolgende Darstellung vom Äußeren ins Innere des Subjekts, beginnend bei der Darstellung der Wohnungsnoterfahrungen und ihrer spezifischen Deutung durch die erzählende Person. Es folgt eine methodologische Reflexion auf die Grenzen der Soziologie und die Potenziale der psychoanalytischen Sozialpsychologie sowie eine kurze Einführung in die Methode der Tiefenhermeneutik. Auf Basis von zentralen empirischen Befunden der tiefenhermeneutischen Materialauswertung wird anschließend detailliert der Inhalt sowie die subjektive Funktion der ideologisch geformten Bilder untersucht, welche die erzählende Person mit dem Thema Obdachlosigkeit assoziiert. Abschließend folgen einige Überlegungen zur Frage der gesellschaftlichen Funktionalität dieser ideologischen Schablonen, die im spezifischen historischen Kontext der gegenwärtigen Wohnungskrise situiert werden muss.

»Ich brauch nich’ das Beste« – Rationalisierung von Wohnungsnoterfahrungen Manuel Went4, dessen Erzählung als empirische Basis für die nachfolgende Argumentation herangezogen wird, ist zum Zeitpunkt des Interviews 33

—————— 4 Nach forschungsethischen Standards wurde der Name des Befragten pseudonymisiert. Zudem wurden Ortsbezeichnungen sowie zentrale biographische bzw. soziodemographi-

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Jahre alt und in Teilzeit bei einem Start-up angestellt. Er wohnt seit knapp fünf Jahren in einer westdeutschen Großstadt und hat dort sowohl während als auch nach dem Studium umfangreiche Wohnerfahrungen gesammelt, die sich analytisch in Grauzonen der Wohnungsnot einordnen lassen. Seine Wohnbiographie scheint geprägt von der Erfahrung der Entsicherung, die sich sowohl in zeitlicher als auch in rechtlicher Dimension (also durch Befristung der Wohndauer und/oder fehlende Untermietverträge) bemerkbar macht. Mehrmals hat er schon erlebt, dass die Untermiete kurzfristig aufgekündigt wurde oder die Frist der Zwischenmiete auslief und noch keine neue Bleibe in Sicht war. Manuel Went beschreibt sein Leben in der Großstadt daher als einen Zustand der permanenten Wohnungssuche und beklagt, für oft sehr wenig Wohnfläche mit unangemessenem Wohnstandard kaum leistbare Mieten gezahlt zu haben. Lediglich eines der ca. 15 Zimmer, die er in der Großstadt bislang bewohnt hat, habe er mit seinem Budget gut bezahlen können: Etwa zwei Jahre lang wohnte er als Untermieter bei einem »alten Mann«, wo er monatlich nur 170 € beisteuern musste. Allerdings habe er sein dortiges Zimmer komplett von Schimmel befreien und renovieren müssen, weil da »halt einfach riesen Risse« die Wände durchzogen, so dass »von oben einfach das Wasser reingelaufen« sei (MW102). Zudem installierte er eine Herdplatte in seinem Zimmer und spülte sein Geschirr im Bad, weil es »auch schon fast bisschen eklig [war] in der Küche, es war schon so, ja, auch nich’ ganz einfach« (MW94). Der Schimmel und die Küchenfrage waren allerdings nicht die einzigen Herausforderungen im Zusammenleben mit dem »alten Mann«. Wie an den nachfolgenden Schilderungen deutlich wird, ist Manuel Went zunehmend mit der Hilfebedürftigkeit des alternden Mitbewohners konfrontiert. Denn der »hatte auch teilweise, ja, gegen Ende so Probleme mit Inkontinenz, was ziemlich also bescheuert war. Also das ist schon, war für mich auch teilweise

—————— sche Merkmale so verallgemeinert, dass der Kontext im Wesentlichen erhalten bleibt, Rückschlüsse auf die Identität des Befragten jedoch erschwert werden sollen. Alle empirischen Daten stammen aus dem Interview mit dem Befragten, Direktzitate lassen sich über die Angaben in den Kurzbelegen im Datenkorpus verorten (MW = Manuel Went / die Nummer bezieht sich auf den jeweiligen Absatz im Interviewtranskript). Für die tiefenhermeneutische Auswertung wurden die Interviews sehr detailliert transkribiert. Um den Lesefluss zu erleichtern, habe ich die in der ersten Hälfte dieses Artikels verwendeten Zitate sprachlich leicht geglättet und grammatikalisch teils korrigiert. Dennoch wurden Eigenheiten des sprachlichen Ausdrucks in der Darstellungsform gezielt beibehalten, zum Beispiel sind Wortabbrüche bzw. Stottern durch Bindestriche kenntlich gemacht.

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nich’ ganz so einfach, weil ich halt den Scheiß dann wegputzen musste, so mehr oder weniger, weil er einfach nich’ konnte« (MW118). Dass neben den Renovierungs- auch Pflegeaufgaben übernommen werden sollten, war zwar »von Anfang an klar. Dass es natürlich sich so entwickelt hat, hätt’ ich jetzt nich’ gedacht, war eigentlich auch nich’ so der Plan. Aber ich hab’ ihn auch ganz g- ganz gern gemocht«5 (MW96). Manuel Went legitimiert hier die augenscheinlich grenzüberschreitende Dynamik innerhalb dieser Wohnkonstellation nachträglich mit Verweis auf die gute Beziehung zum Mitbewohner. Es fällt auf, dass seine wohnbiographische Erzählung häufig solche legitimierenden und relativierenden Rahmungen enthält. Beispielsweise sagt er, dass er seit seiner Ankunft in der westdeutschen Großstadt vor fünf Jahren »eigentlich immer auf der Suche nach ‘ner anderen Wohnung [gewesen sei], aber so geht’s ja vielen Menschen« (MW6). Relativiert wird hier nicht nur die eigene Not, sondern auch der mietrechtlich verbürgte Anspruch auf gesundes Wohnen: Der Standard in der Wohnung des »alten Mannes« »war halt nix besonderes, aber das brauch’ ich auch nich’, also ich brauch’ nich’ das beste« (MW74). Das Wohnen im Substandard oder gesundheitsgefährdenden Umgebungen sieht Manuel Went also nicht nur als finanzielle Entlastung, sondern er integriert die damit einhergehenden Abstriche in sein Selbst- und Weltbild. Rückblickend hat ihm das Mitwohnverhältnis bei dem »alten Mann« sogar am besten gefallen und mittlerweile sucht er strategisch nach Angeboten, wo er gegen Renovierung auf Mietnachlass hofft. Es zeigt sich, dass er die aus der Noterfahrung resultierenden Einschränkungen internalisiert hat und zur alltagspraktischen Strategie bei der Bewältigung von Wohnungsnot macht. Derartige Strategien der Relativierung und Legitimierung bezeichnet Terry Eagleton (2000: 12) im Anschluss an John B. Thompson als »ideologisch«, insofern sie dazu beitrügen, Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten. In dieser Hinsicht sei Ideologie zu verstehen als Rationalisierung herrschaftsförmiger gesellschaftlicher Zustände, wodurch etwas nicht Verteidigenswertes verteidigt werde (ebd.: 63f.). Der Begriff der Rationalisierung könne in ideologiekritischer Absicht der Psychoanalyse entlehnt werden, um zu hinterfragen, weshalb bestimmte Verhaltensweisen, Handlungen oder Gedanken mit gesellschaftlich bzw. moralisch akzeptablen Begründungen ver-

—————— 5 Die Hervorhebungen durch Kursivschrift in allen Interviewzitaten wurden zur Verdeutlichung der Analyseschritte eingefügt und beziehen sich auf die in diesem und nachfolgenden Kapiteln entwickelten Thesen über Rationalisierungen und Abwehrmechanismen, die zur Ausdeutung des Interviewmaterials dienen.

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schleiert werden (Eagleton 2000: 64). Allerdings seien es gerade auch die von Herrschaft und Unterdrückung Betroffenen selbst, die sich durch Rationalisierung ihre Situation verklärten: »Vielleicht nehmen sie wahr, daß ihre Lage viel zu wünschen übrig läßt, um diese Tatsache dann dadurch zu rationalisieren, daß sie ihr Leiden verdient haben, daß auch andere Leiden, daß dieses Leiden unvermeidlich ist bzw. daß die Alternativen ein ganzes Stück schlechter sind.« (Ebd.: 65)

Ebenso wie andere Personen aus meinem Sample, die ihre soziale Statusposition der Mittelschicht zurechnen, greift Manuel Went nicht nur auf Strategien der Relativierung und Legitimierung, sondern auch auf gesellschaftlich verbreitete Diskurse der Valorisierung zurück, um prekäre Wohnerfahrungen zu rationalisieren: »Das mit dem Renovieren und so, ähm, ja, ich hab’ halt einfach was andres gesucht, ich hatte kein’ Bock auf sowas Normales« (MW78). Auch habe er sich überlegt, nach Auslaufen seiner Zwischenmiete und bis zum Ende seines befristeten Arbeitsvertrages »für ‘ne Weile« im Auto zu schlafen, »aber gut, da muss man auch dazu sagen, ich tue im Urlaub gern campen. Das heißt es wär’ jetzt denn auch, äh, hätt’ ich halt auch, ähm, teilweise gerne gemacht so mehr oder-, also gerne jetz’, eehstimmt jetzt vielleicht so nich’. Aber auch so eh-, fahr ich gern mal weg und schlaf dann irgendwo. Also das wär’ nich’ so schlimm gewesen, also ähm-« (MW160). Spätestens in dieser Situation, wo es nicht mehr nur um die valorisierende Aneignung prekärer Wohnformen, sondern um eine assoziative Annäherung an eine für ihn zwar temporäre, aber realistische Phase tatsächlicher Obdachlosigkeit geht, wird deutlich, dass die Strategien der Rationalisierung an eine Grenze stoßen.

»Ich muss ja nich’ hier sein« – Abwehr potenzieller Obdachlosigkeit Auf die Frage, ob er im Verlauf seiner Wohnbiographie schon einmal nicht mehr gewusst habe, wo er unterkommen solle, antwortet Manuel Went mit einer dichten Narration, im Verlauf derer sich das Sprechtempo verlangsamt und die Stimme gegen Ende immer leiser wird:

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»Joa, das ein oder andere Mal wirklich, ähm, weil ich halt einfach nix gefunden hab. Und, ja, bei mir war’s halt leider mit’m Geld ziemlich knapp. Also bei mir ging’s wirklich um, sag ich mal, 50 € hin oder her. Ähm da-, also, entweder geht’s, hat’s mir halt grad’ nich’ mehr zum Leben gereicht, ähm, oder dann halt gerade so. Ähm, und das war halt, naja, ja, im Endeffekt hab ich auch, ja, war’s so schlimm nich’, weil ich, also weil ich doch, ähm, paar Freunde hier hab’, sag ich mal so. Also, äh, ich wär jetz’ nie untergegangen. Aber ähm, ähm, es war schon nervig auch. Und hab’, hab’ dann auch übergangsweise grad’ bei ‘nem Kumpel dann gewohnt, wo ich dann grad’ mal nix hatte. Also grad’ nach dem, wo der, nach dem in der [Name der Straße], da hatte ich dann nix. Und äh, (1) hm ja, hatte ja auch jetz’ nich’, also das war nach’m, wo ich mit’m Studium fertig bin, hatte dann auch nur so’n Halbtagsjob, und wollte eigentlich dann auch nich’ mehr. Und, da hab ich dann mit ihm vorübergehend gewohnt und, ei-, keine Ahnung, ähm, wo hab ich denn dann danach gewohnt? Ja, dann war ich noch zweimal in Untermiete, ähm, oder Zwischenmiete, ähm, und dann bin ich, ja abgehauen sag ich mal.« (MW60)

Aus dieser Passage im Zusammenhang mit der weiteren Erzählung lässt sich rekonstruieren, dass Manuel Went zumindest eine Phase durchlebt hat, die sich als Situation der Wohnungslosigkeit definieren lässt, auch wenn er sich selbst diesbezüglich nicht als wohnungslos bezeichnet. Er schlief damals auf einer Isomatte auf dem Boden in einem Zimmer, das ein Freund als Büro- und Wohnfläche befristet gemietet hatte (MW62). In diese Situation geriet er, als der »alte Mann« starb und Manuel Went sehr plötzlich aus dessen Wohnung ausziehen musste, denn er hatte dort ohne Mietvertrag gewohnt. Zum Zeitpunkt unseres Interviews befindet er sich erneut in einer Situation bedrohten Wohnens.6 Er kann in seiner derzeitigen WG nur noch zwei Monate bleiben, weil dann die Zwischenmiete ausläuft. Von dieser nahenden Frist erzählt Manuel Went erst ganz am Ende des Interviews. Wo er danach wohnen wird, weiß er noch nicht – ein Zustand, der ihn jedoch kaum zu erschüttern scheint. Er betont, dass er im Grunde derzeit gar nicht auf der Suche sei, und begründet dies wie folgt: »Ich guck auch ehrlich gesagt grad’ gar nich’ mehr, öhm, so, weil’s mich irgendwie langweilt. Aber, hehe, ja und äh, keine Ahnung, muss dann auch sagen, ja vielleicht is’ [Name der Stadt] dann halt doch nich’ das richtige Pflaster, so weil hier, pff- kann ich ganz gut verdienen, aber im Endeffekt kommt halt auch nich’ mehr ‘raus wie wenn ich als Gärtner, ähm, bei mir zuhause arbeite, sag ich mal so, ähm. Da zahl’ ich halt für’n

—————— 6 Als bedroht lassen sich Wohnverhältnisse definieren, wenn der Verlust des Wohnraums unmittelbar bevorsteht, also wenn zum Beispiel wegen einer Kündigung, einer Räumungsklage, der Androhung einer Zwangsräumung oder aus sonstigen zwingenden Gründen (zum Beispiel durch Auslaufen des Unter- bzw. Zwischenmietvertrags, nach WG-Auflösungen oder ähnlichem) Wohnungslosigkeit droht (vgl. Gränitz i.E.).

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Haus, übertrieben, ja oder (UNV) ja 350 €. Da krieg’ ich halt hier nich’ mal irgendwie so’n sechs Quadratmeter WG-Loch, sag ich mal so, teilweise, ähm und, is’ mir nich’ ganz wert.« (MW40)

Auffallend häufig formuliert Manuel Went im gesamten Interview diese Option des Weggehens, die für ihn ein letzter Rettungsanker zu sein scheint. Beispielsweise antwortet er auf die Frage, ob er schon einmal konkret Angst gehabt habe, dass sein soziales Netz ihn nicht auffangen würde: »Ööhm nee, nich’ wirklich. Ähm, weil ich muss ja auch nich’ hier in [Name der Stadt] bleiben. Das is’ so, ähm, deshalb ääh, joa ähm, aber, ja ich hab’ halt jetz’ studiert. Äh, ja teilweise war’s schon bescheuert, aber, aber ähm es ging sich eigentlich ganz gut aus, ja.« (MW64)

Seit dem Abschluss seines Studiums, so betont er mehrmals, habe er die Möglichkeit, den Wohnort zu wechseln, da er auch anderswo arbeiten könne. Bereits einmal hat er von dieser Option des »Abhauens« Gebrauch gemacht: Nachdem er fertigstudiert hatte, ist er einige Monate auf Reisen gegangen und wollte eigentlich gar nicht wieder zurück. Allerdings konnte er bei seinem vormaligen Arbeitgeber weiter beschäftigt werden, und es »schadet natürlich nich’, wenn man ‘ne Arbeitsstelle hat« (MW42). Er ist also zurückgekehrt, obwohl für ihn nicht zuletzt wegen des befristeten Arbeitsvertrags »klar war, ok, ich bleib’ nich’ lang da wahrscheinlich wieder in [Name der Stadt]. Oder ich schau’ einfach mal« (MW176). Manuel Went nimmt also die mit der Tätigkeit im Startup einhergehende Prekarität in Kauf, obwohl sie (angesichts des befristeten Arbeitsvertrages und der begrenzten Einkommenshöhe durch Teilzeitbeschäftigung) seine Wohnungsnot eher verschärft. Die Idee, die Großstadt zu verlassen, wenn sich einmal gar kein Zimmer oder Unterschlupf finden lässt, hat in dieser Lage eine beruhigende und stabilisierende Funktion für ihn. Diese im Folgenden als Exit-Option bezeichnete Bewältigungsstrategie, die sich auch in anderen Interviews gezeigt hat, bildet den Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen.

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Grenzen der Soziologie – Potenzial der psychoanalytischen Sozialpsychologie Die vorangehenden Analysen legen die Vermutung nahe, dass im beschriebenen Fall zwar einerseits definitorisch bestimmbare Wohnungsnotlagen existieren, andererseits die subjektive Bedeutsamkeit dieser Wohnungsnoterfahrungen relativiert und die soziale Problematik der durchlebten Wohnverhältnisse entdramatisiert wird. In Anknüpfung an die arbeitssoziologische Prekaritätsdebatte ließe sich im Fall von Manuel Went davon sprechen, dass hier objektive Prekarisierung (die sich im Feld des Wohnens als Wohnungsnot ausdrückt) kein subjektives Prekaritätsbewusstsein mit sich bringt. Dies ist insofern interessant, als dass in den Sozialwissenschaften seit Pierre Bourdieus 1997 gehaltenen Vortrag »Prekarität ist überall« (Bourdieu 1998) und Robert Castels in den »Metamorphosen der sozialen Frage« (Castel 2000) entwickelten These der Entsicherung der sogenannten Zwischenklassen der Fokus vieler Untersuchungen und Zeitdiagnosen auf die gefühlte Unsicherheit (sprich: subjektive Prekarität) innerhalb der Zone der arbeitsweltlich (noch) Integrierten gelegt wird. Diese seien laut gängiger Argumentation von objektiver Prekarisierung – messbar an sozialstrukturellen Indikatoren – selbst (noch) gar nicht betroffen, hätten aber die Prekarität anderer bereits vor Augen. Sinnbildlich steht hierfür das von Klaus Dörre (2006: 156) gezeichnete Bild der Leiharbeitenden, deren »bloße Präsenz disziplinierend auf die Stammbelegschaften« innerhalb eines Betriebes zurückwirke, so dass sich deren Arbeitsbedingungen mitunter auch ohne formelle (zum Beispiel arbeitsrechtliche) Einschnitte verschlechterten. Die dadurch gefühlt verunsicherten bzw. real vom Abstieg bedrohten, aber derzeit noch »formal Integrierten« (ebd.) werden mit guten theoretischen und empirischen Gründen als nicht mehr nur potenzielles Wahlklientel rechter und rechtspopulistischer Parteien bezeichnet (siehe zum Beispiel Flecker 2008; Flecker/Krenn 2009). Der Fall Manuel Went hingegen stünde exemplarisch für jene Fälle innerhalb der Zone der Prekarität, die ihre soziale Entsicherung (worunter auch Wohnungsnot zählt) trotz eigenen Erlebens gar nicht als solche bezeichnen würden. Diese Konstellation scheint mir eine tiefergehende Analyse zu erfordern, welche den theoretischen Horizont sowie die methodologische Gegenstandsbegrenzung der klassischen Soziologie überschreiten muss. Zu fragen ist nämlich, was es sowohl mit Blick auf die Innenwelt des Subjekts als auch mit Blick auf die politische Gestaltung von Gesellschaft bedeutet, wenn

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Erfahrungen der Not und der Prekarisierung selbst von Betroffenen relativiert, legitimiert oder anderweitig rationalisiert werden. Hier erlaubt die psychoanalytisch-sozialpsychologische Forschungstradition nicht nur eine Erweiterung des Fragefokus, sondern sie liefert auch das begriffliche Handwerkszeug zur Entschlüsselung subjektiver Innenwelten, die in der herkömmlichen Sozialforschung entweder objektivistisch-strukturalistisch (beispielsweise aus der Perspektive rationalistischer Sozialtheorien) als irrational bzw. akzidentiell betrachtet werden, oder subjektivistisch-poststrukturalistisch (so durch die Brille bestimmter Strömungen des Sozialkonstruktivismus) in die Beliebigkeit arbiträrer Weltdeutungen eingereiht werden. »Die These, die Psychologie habe es nur mit dem einzelnen, die Soziologie mit ›der‹ Gesellschaft zu tun, ist falsch. Denn so sehr es die Psychologie immer mit dem vergesellschafteten Individuum zu tun hat, so sehr hat es die Soziologie mit einer Vielheit von einzelnen zu tun, deren seelische Struktur und Mechanismen von der Soziologie berücksichtigt werden müssen.« (Fromm 1932: 32)

Die psychoanalytisch-sozialpsychologische Methode der Tiefenhermeneutik ermöglicht ein epistemologisch fundiertes und forschungspraktisch bewährtes Auswertungsverfahren (siehe König u.a. 2019), das seine Erkenntnisse gerade aus der Analyse der Verstrickung von Subjekt und Objekt gewinnt, anstatt diese einseitig in Richtung Gesellschaft oder Individuum aufzulösen. Solche Verstrickungen werden nicht nur im analysierten Material (also zum Beispiel in Bezug auf Erzählende im Interview oder Beteiligte einer Gruppendiskussion), sondern auch mit Blick auf die Interviewperson(en) bzw. Forscher*innensubjekte und vor allem auch innerhalb der Interpretationsgruppe während des tiefenhermeneutischen Auswertungsprozesses thematisiert und problematisiert, da sie möglicherweise auf latente Sinngehalte des Forschungsmaterials bzw. des Untersuchungsgegenstandes hinweisen (ebd.: 5). Ausgehend von den Protokollen einer tiefenhermeneutischen Gruppeninterpretationssitzung und unter Rückgriff auf psychoanalytisch sozialpsychologische Subjekttheorien sowie Annahmen der Autoritarismusforschung der frühen Kritischen Theorie soll nachfolgend die These entwickelt werden, dass im beschriebenen Fallbeispiel Verunsicherungs- und Krisenerfahrungen abgewehrt werden, da sie den sozialen Status bedrohen und die psychische Stabilität des Subjekts gefährden. Der Fluchtpunkt meiner psychoanalytisch sozialpsychologischen Fokussierung auf das Subjekt ist hierbei kein psychologischer, sondern mein Erkenntnisinteresse zielt auf das

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Verständnis von Gesellschaft, die bei der Analyse der Subjektkonstitution in zweifacher Hinsicht – quasi durch das Subjekt hindurch – in den Blick gerät. Einerseits bildet die Gesellschaft die vorgefundene Außenwelt7 des neuzeitlichen Subjekts, welche im Sozialisationsprozess leiblich – und aufgrund der Herrschafts- und Gewaltförmigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse nicht ohne Konflikt und Leiden – erfahren sowie mit der Ausbildung der psychischen Instanz des Über-Ichs verinnerlicht wird (Fromm 1987: 84f.). Andererseits wird die Psychodynamik der Einzelnen für die Erkenntnis von Gesellschaft nicht nur hinsichtlich kollektiver und zumeist zeitspezifischer Pathologien relevant, sondern ebenso hinsichtlich der fragwürdigen Stabilität, welche die kapitalistische Vergesellschaftung in der Moderne trotz ihrer immanenten Widersprüchlichkeit und Krisenhaftigkeit gewonnen hat. Diesbezüglich geben gerade nicht die augenscheinlich pathologischen, sondern die gemeinhin als gesund betrachteten, funktionierenden Charaktere Aufschluss über die Dynamiken, mit denen die moderne kapitalistische Gesellschaft – jeweils historisch spezifisch – die Individuen für die Aufrechterhaltung des Bestehenden in Dienst nimmt und sie bis in ihre Triebstruktur formt (ebd.: 92). Gerade weil sie den Blick für die gesellschaftlichen Zurichtungen schärft, die dem Subjekt im Sozialisationsprozess in der bestehenden

—————— 7 Anknüpfen ließe sich die psychoanalytisch-sozialpsychologische Perspektive einerseits an Marx’ (1969: 115) dialektisch-materialistische Grundthese aus dem 18. Brumaire, derzufolge die Menschen zwar ihre eigene Geschichte machten, »aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« Einen ähnlichen Gedanken formulieren Horkheimer und Adorno (1997: 50) ein knappes Jahrhundert später in Bezug auf psychoanalytische Annahmen zum Zusammenhang von Phylo- und Ontogenese: »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an«. Weiterdenken ließe sich die historische Verschränktheit von Individuum und Gesellschaft praxistheoretisch mit Bourdieu, demzufolge »die Praxis der Ort der Dialektik von opus operatum und modus operandi, von objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis, von Strukturen und Habitusformen ist. Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungsund Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen« (Bourdieu 2014: 98f.; Hervorhebung im Original).

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Gesellschaft weit über das notwendige zivilisatorische Maß hinaus widerfahren, ermöglicht die psychoanalytische Sozialpsychologie ein Verständnis der kollektiven bzw. politischen Verarbeitung gesellschaftlicher Krisen, das über die Analyse gesellschaftlicher Strukturen und struktureller Konflikte hinausgeht. Phänomene der Alltagspraxis ebenso wie Phänomene des Politischen lassen sich dadurch nicht allein abstrakt in ihrer historischen Genese erklären, sondern mit Blick auf die sozialisatorische Gewordenheit der agierenden Subjekte deutend verstehen. Von soziologischem Interesse ist die innersubjektive Dynamik der nachfolgend zu erörternden Krisenabwehr gerade im Hinblick auf ihre Bedeutung für massenpsychologische Dynamiken der politischen Psychologie, die an Ideologien menschlicher Ungleichheit anschließen und die Ausprägung rechter Weltbilder bzw. Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit befördern.

Tiefenhermeneutische Zugänge zu latenten Sinngehalten Wie auch in anderen Fällen meines Samples zeigt sich bei Manuel Went, dass die eigene Wohnungsnot den Betroffenen solange als beherrschbar erscheint, wie es ihnen gelingt, sich selbst und anderen gegenüber zu plausibilisieren, dass die gewählten Wohnformen trotz offensichtlicher Abstriche und Kompromisse auf persönlichen Entscheidungen beruhen. Die Grauzonen der Wohnungsnot, in welchen sich die Betroffenen oft durchaus strategisch und bewusst bewegen, sind Ausdruck der praktischen Bewältigung der Wohnungskrise durch Subjekte, welche angesichts ökonomischer Prekarisierung und objektiven Mangels an leistbarem Wohnraum versuchen, ihre Handlungsfähigkeit zu bewahren. Den hierfür in Anschlag gebrachten Bewältigungsstrategien der Praxis korrespondieren Verarbeitungsstrategien der Psyche. Im Fall von Manuel Went verbinden sich Relativierungen und Legitimationen zu rationalisierenden Deutungen der eigenen Lage. Durch Valorisierung finden Wohnungsnotlagen als flexibilisierte und unkonventionelle Wohnformen durchaus soziale Anerkennung. Diese bislang analysierten Strategien sind auf der diskursiven Ebene im Interviewtranskript sichtbar, da sie von Manuel Went sprachlich mitgeteilt werden. Allerdings gibt es Momente, an denen Gedankengänge mitten im Satz abbrechen, das Thema unvermittelt gewechselt wird oder die Sprache gänzlich versagt. Es scheint, als ob dem sprechenden Subjekt die sprachlich-diskursiven Ausdrucksfor-

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men für bestimmte Erfahrungen, Vorstellungen oder Affektzustände fehlen oder verloren gegangen sind. Aus tiefenhermeneutischer Perspektive sind diese als Irritationen bezeichneten Momente von besonderem Interesse, weil die Analyse hier über die manifeste Ebene des sprachlich-diskursiv Ausgedrückten hinausgehen muss, um latente Sinngehalte aufzuspüren. Die psychoanalytische Sozialisationstheorie Alfred Lorenzers geht davon aus, dass diese latenten Sinngehalte auf vor- oder unbewusste Lebensentwürfe verweisen, die (weil sie mit sozialen Normen unvereinbar sind) dem Bewusstsein nicht oder nicht vollends zugänglich sind und somit auch keinen diskursiven Ausdruck finden (König 1993: 195).8 Ihr Verbleiben im Vor- oder Unbewussten kann zweierlei bedeuten: entweder haben sie im Sozialisationsprozess nie eine sprachlich-diskursive Symbolisierung erfahren oder sie erfahren infolge des Drucks durch die Außenwelt bzw. durch Zensur des Über-Ichs eine nachträgliche Desymbolisierung, indem sie durch Psychodynamiken wie Verdrängung und Abwehr unbewusst gehalten werden. »In sozialen Situationen, welche die Wiederkehr der auf die latente Bedeutungsebene verwiesenen Lebensentwürfe provozieren, setzen diese sich hinter dem Rücken des Bewusstseins verhaltenswirksam durch. Das symbolische Interagieren verwandelt sich dann in ein symptomatisches Agieren, das in Fehlleistungen, neurotischen Reaktionen und in Impulsdurchbrüchen zutage tritt. Diese symptomatischen Kurzschlüsse des Sprechens und Handelns treten den Forscher_innen als rätselhaft erscheinende Inkonsistenzen und Widersprüche der sich im Text objektivierenden Lebenspraxis entgegen.« (König 2019: 31)

Auf der Suche nach dem Latenten interessiert sich die Tiefenhermeneutik neben diesen sprachlichen Irritationen auch für gedankliche Bilder, Metaphern und szenische Beschreibungen, die in Datenmaterialien wie dem Interview zwar meist diskursiv-sprachlich formuliert und schriftlich transkribiert werden, dabei jedoch präsentative Symboliken transportieren, welche für den tiefenhermeneutischen Prozess des szenischen Verstehens zentral sind.9 Die Besonderheit dieser Symboliken liege nun Lorenzer zufolge

—————— 8 Lorenzers materialistische Sozialisationstheorie ist triebtheoretisch fundiert und schließt an Freuds Theorie familiärer Sozialisation an, erweitert diese jedoch um ein Stufenmodell der Persönlichkeitsentwicklung, das auf den Zusammenhang von frühkindlichen Interaktionsdynamiken und vorsprachlicher bzw. sprachlicher Symbolbildung fokussiert. Zu Lorenzers Theorie und zur Methode der Tiefenhermeneutik siehe König u.a. (2019). 9 Die von Alfred Lorenzer konzeptualisierte und von Hans-Dieter König weiterentwickelte Methode der Tiefenhermeneutik interpretiert ihren Gegenstand (hierfür eignen sich Kulturobjektivationen, wie zum Beispiel Gemälde oder Literatur, ebenso wie qualitatives

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»darin, daß sie den unbewußten Interaktionsformen, die sich aufgrund ihrer sozialen Anstößigkeit nicht in Sprache übersetzen lassen, einen sozialen Ausdruck erlaubt« (König 1993: 198). Folglich wird in der tiefenhermeneutischen Auswertung nicht nur bildhaftes empirisches Material, sondern auch textförmiges Material als »Gefüge von Szenen« (König 2019: 29) begriffen, das nicht sequenzanalytisch schrittweise analysiert, sondern dessen szenische Wirkung in ihrer präsentativen Ganzheit nachvollzogen und darüber der latente Sinn entschlüsselt wird (ebd.: 31).

»Klassische Landstreicher« und »Leute aus’m Osten« – Bilder über Obdachlosigkeit Im Interview mit Manuel Went scheint die Konfrontation mit dem Gedanken an Obdachlosigkeit Irritationen in Form von sprachlichen Abbrüchen auszulösen. An einer zentralen Stelle des Interviews folgen auf den gedanklichen Abbruch bildhafte Assoziationen zum Thema Obdachlosigkeit. Diese Passage wurde während einer tiefenhermeneutischen Interpretationssitzung in der Gruppe10 szenisch gelesen. Ausgehend von den darauf bezogenen affektiven Regungen und Identifizierungen sowie den sich daraus entwickelnden Gruppeninteraktionen wurden Deutungen bezüglich der latenten

—————— Datenmaterial in Form von Interviewtranskripten o.ä.) nicht theoriegeleitet, sondern setzt »auf ein lebenspraktisches Verstehen« (König 1993: 199) nach dem Vorbild des Verfahrens der therapeutischen Psychoanalyse. Deshalb konzentriert sich die tiefenhermeneutische Interpretation weder auf das logische Verstehen von sprachlichen Mitteilungen noch auf das psychologische Verstehen von körpersprachlich sich ausdrückenden Affekten (vgl. ebd). Vielmehr werden die Sprach- und Handlungsfiguren im Interview – analog zu ihrer Bedeutung in der analytischen Sitzung – als Interaktionsfiguren begriffen, die durch szenisches Verstehen erschlossen werden müssen. Die Annäherung an nicht verbalisierbare Inhalte des Unbewussten erfolge deshalb auch in der tiefenhermeneutischen Auswertung nicht allein sprachlich, sondern praktisch, indem die Interpretierenden in die Inszenierungen des Materials eintreten und sich (durch Übertragung und Gegenübertragung) zum Mit-Akteur im Drama machen (König 1993: 200). 10 Das in diesem Artikel verhandelte Interview wurde in zwei Gruppen tiefenhermeneutisch interpretiert. Eine Teilanalyse erfolgte im Forschungskolloquium der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie. Umfassend ausgewertet wurde das Material in der Forschungswerkstatt Tiefenhermeneutik, einem überregionalen und interdisziplinären Zusammenschluss von Menschen aus Forschung und Praxis. Bei allen Beteiligten der Interpretationsgruppen, insbesondere aber der Forschungswerkstatt möchte ich mich hiermit für die aufschlussreichen Interpretationssitzungen bedanken.

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Sinngehalte erarbeitet. Die relevanten Interviewpassagen sollen nun ausführlich und in ihrer dialogischen Abfolge wiedergegeben und kontextualisiert werden, da sie die Basis für die nachfolgende Rekonstruktion des tiefenhermeneutischen Interpretationsentwurfs bilden.11 Der gedankliche Abbruch folgt auf einen Dialog, der ausführliche Narrationen über den »alten Mann« enthält. Manuel Went erzählt mir, dass dessen Tod in zeitlichem Zusammenhang mit einem zermürbenden Rechtsstreit stand, den der Hauseigentümer gegen den ehemaligen Mitbewohner geführt habe, weil er ihn aus dem Mietshaus »raushaben« wollte und ihn daher »krass tyrannisiert« habe (MW12). Er selbst habe es »schon krass« (MW120) gefunden, zu sehen, dass letztlich niemand dem »alten Mann« helfen konnte. Speziell für ältere Menschen sei die Situation in dieser Stadt »richtig hart //ja// weil dann (.) und das war bei ihm auch so (.) war’s wirklich so (.) entweder er sitzt jetzt auf der Straße //ja// (1) oder halt auch einfach nich’ //ja// und das is’ für so’n Siebzigjährigen schon hart glaub ich« (MW122). Beim szenischen Lesen in der Interpretationssitzung sorgt der Teilsatz »oder halt auch einfach nich’« für Irritationen. Aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass Manuel Went damit auf den Tod des ehemaligen Mitbewohners anspielt, den er als Alternative zur drohenden Obdachlosigkeit begreift. Auf meine daran anknüpfende Frage, ob der »alte Mann« die Angst, »auf der Straße zu landen« (MW122), selbst auch formuliert habe, antwortet er: »Ja genau (.) ja genau (.) ja nu (.) ja (.) ja genau (.) das war (.) einfach teilweise auch so ähm //krass// ähm (2) (RÄUSPERT SICH) (RÄUSPERT SICH) (SCHNIEFT) (SCHNIEFT)« (MW124). Im Versuch, nach diesem gedanklichen Abbruch den Faden wieder aufzunehmen, frage ich Manuel Went danach, wie er die Situation hinsichtlich »Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit« in dieser Stadt einschätzen würde, woraufhin sich folgender Dialog entspinnt: Manuel Went:

Mm- mit Obdachlo- Obdachlosen? Also mm(RÄUSPERT SICH)

—————— 11 Da dies für den Nachvollzug der tiefenhermeneutischen Interpretation relevant ist, werden die eingerückten Interviewzitate von nun an in der Form wiedergegeben, wie sie auf Basis eines ausführlichen Interpretationssystems in Anlehnung an Przyborski und Wohlrab-Sahr (2008: 166) transkribiert wurden. Zum Zwecke der Anonymisierung wurde lediglich der regionsspezifische Dialekt neutralisiert und (Eigen)-Namen pseudonymisiert.

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Interviewerin:

Ja ja (.) wie- ww- wächst das Problem oder (.) wie sieht das (für dich aus?)

Manuel Went:

Jaa du (.) äh ja klar ähm ich aber ich denk (ATMET AUS BEIM SPRECHEN) pff- das halt viel (.) also (.) man sieht- also dass halt das viieel Leute aus’m Osten sind sag=ich=m- also //mhm// aus ähm (RÄUSPERT SICH) Osteuropa die halt einfach herkommen und hier halt ähm äh (1) //ja// denken sie ham’n bessres Leben also //ja// das sind halt die die auf der Straße sind //mja// ähm (.) die man sieht (.) //mja// denk ich mir jetz’ mal so vom Aussehen her und von der Sprache aber ansonsten (HOLT TIEF LUFT) ja (2) k- so auch so (.) ja ähm sonst kenn ich echt äähm (.) nich’ mehr so viele sag=ich=mal so wie man so wenn man so den klassischen Landstreicher (.) meint (HOLT LUFT) //mhm// den’s früher so gab (HOLT LUFT) kenn ich jetz’ eigentlich gar (nix) oder gar niemand (.) ähm //mhm// so ähm (RÄUSPERT SICH)

Interviewerin:

(HOLT LUFT) Also kennen im Sinne voonn (.) siehst du nirgends oder (.) kennst du die (Person nich?)

Manuel Went:

(HOLT LUFT) Dass ich wei- (.) genau dass ich weiß wo zum Beispiel (.) äh- einer wohnt sag=ich=mal so oder da haust (weiß ich jetz’ ei- gar nich’) (RÄUSPERT SICH) //ja// allerdings grad von so (.) Rumänen (HOLT LUFT) da grad ähm beim ääh (.) bei der [Ortsbezeichnung] da sind ja dann doch (.) ähm (.) öfters welche sag=ich=mal so und die schlafen da ja auch (.) und auch so hier s- sieht man die ja überall (HOLT LUFT) ähm (.) (SCHLUCKT) aber ansonsten nich’ wirklich ja (HOLT LUFT) (RÄUSPERT SICH) (MW126-130)

In dieser Passage fällt dreierlei auf: Erstens greift Manuel Went auf eine Personifizierung zurück, indem er das von mir angesprochene Phänomen der Obdach- und Wohnungslosigkeit auf die Frage nach »Obdachlosen« reduziert. Zweitens konstatiert er, dass man an Aussehen und Sprache sehen könne, dass das viele Leute aus dem Osten, »also aus Osteuropa« seien, die auf der Suche nach einem besseren Leben herkämen und dann hier auf der Straße landeten. Gerade die »Rumänen« sehe er »überall« und könne auch genau lokalisieren, wo »öfters welche schlafen«. Drittens sagt er, dass er

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»ansonsten« nicht »mehr so viele« kenne. Konkret meint er damit den »klassischen Landstreicher«, den es früher einmal gegeben habe. Aus dieser Gruppe kenne er eigentlich gar niemanden mehr. Er wüsste deshalb auch nicht, wo einer wohnt oder haust. Für die tiefenhermeneutische Analyse dürfte hier relevant sein, dass Manuel Went nicht sagt, es gebe keine »klassischen Landstreicher« mehr, sondern nur betont, dass er nicht mehr so viele oder – nach kurzer Überlegung – im Grunde keinen einzigen mehr kenne. Ich frage ihn, ob er diesbezüglich auf Erfahrungen in seinem Herkunftsort anspielt, und ob es dort eine andere Form von Obdachlosigkeit gab, als die, die er jetzt hier in der Stadt sehe. Darauf folgt ein längerer aufschlussreicher Dialog: Manuel Went:

Des mein ich so den- mit dem klassischen Landstreicher halt //ja// einfach der halt mal da ist dann und mal daa und dann mal bisschen rumzieht (.) aber ähm (.)

Interviewerin:

Hast du da noch jemand konkret vor Augen (.) aus deiner Kindheit oder (.) °Jugend oder so°

Manuel Went:

Mm- äh bei uns kamen halt ziemlich viele vorbei (.) grad weil ich vorhin gesagt hab weil ja mein Vater (.) Pfarrer (.) ist //aah ja// und des war halt dann doch immer so ähm (.) also da kamen dann immer (.) immer viele vorbei (.) weil sie gewusst ham sie hamkriegen was (SCHNIEFT) //ja// und so ähm (.) (HOLT LUFT) ja (RÄUSPERT SICH)

Interviewerin:

Konnten die auch schlafen in der (.) in der Kirche dann oder (.)

Manuel Went:

Ööhm nö die wollten eigentlich dann auch gleich wieder weiter also //ok// de- wir ham dann oder meine Mutter hat dann halt einfach immer (alle) Klamotten gewaschen und so weiter und dann gab’s was zum Essen also Geld gab’s bei uns auch immer nie ähm //ja ja// sondern halt sonst alles (HOLT LUFT) ‘ne gescheite Decke oder sonst irgendwas (RÄUSPERT SICH) und ähm dann sind sie wieder weitergezogen (HOLT LUFT) ja (RÄUSPERT SICH)

Interviewerin:

(HOLT LUFT) Gehört das so zum Selbstverständalso für mich is’ das ne ganz fremde Welt so (.) Pfarrers (.) häuser oder so aber gehört das so zum

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Selbstverständnis dass man das macht oder würden das andre machen °oder hat das°? Manuel Went:

Ja eh (.) ja eh klar ja (.) ähm sonst ähm wenn man das auch nich’ macht dann hat man auch glaub ich bei dem Job nix verloren //ja ok// (ER LACHT) (BEIDE LACHEN) würd ich jetzt mal so sagen (BEIDE BELUSTIGT) äh ja oder mit dem (.) (HOLT LUFT) keine Ahnung aber braucht man kein Pfarrer (.) sein und //ja// irgendwie so von dem und dem predigen und dann halt äh (SCHNIEFT) ja also (.) definitiv (LACHT LAUT)

Interviewerin:

(LACHT) Und was waren das so für Menschen die damals (.) kamen?

Manuel Went:

Joa (.) unterschiedlich aber die (.) ja äh-äh (RÄUSPERT SICH) das waren halt Leute die halt einfach (.) entweder (.) kein Bock auf die Gesellschaft hatten //mhm// (SCHLUCKT) oder es halt einfach nich’ hingekriegt ham (.) oder halt irgendwelche Schicksalsschläge erlitten //mhm// (SCHNIEFT) ja äähm (HOLT LUFT) aaber jetz’ sind’s halt jetz’ sind’s halt (.) wirklich einfach Menschen die halt einfach von an- anderswo herkommen (.) sag=ich=mal so und die waren halt einfach die kamen halt auch von da (HOLT LUFT) oder sag=ich=mal aus Deutschland (RÄUSPERT SICH) //mhm// (SCHLUCKT) äähm

Interviewerin:

Kamen die direkt aus der Region oder ka- oder auch aus’m Ort oder (UNV)

Manuel Went:

Nee aus ganz Deutschland immer so aber die ham dann wirklich so in Deutschland dann (.) sind sie dann irgendwie meistens so rum oder in [Name des Bundeslandes] und waren dann mal da mal da (MW136-146)

Manuel Went präzisiert nun die zuvor bereits aufgeworfene Dichotomie. Er unterscheidet die »heutigen« Obdachlosen, die er als osteuropäische Zuwanderer charakterisiert, von den »früheren« Obdachlosen, die er als »klassische Landstreicher« deutscher Herkunft bezeichnet. Die dieser Dichotomisierung zugrunde liegenden Bilder sowie die für Manuel Went damit verknüpf-

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ten Szenen bilden die Basis der tiefenhermeneutischen Interpretation, die nun aus der Aufzeichnung der Interpretationssitzung rekonstruiert wird.12

»Daß der Nahe fern [und] der Ferne nah ist« – Projektion und Identifizierung Manuel Went beschreibt die »klassischen Landstreicher«, die er sich aus persönlichen Erfahrungen seiner Kindheit bildhaft in Erinnerung ruft, als umherziehende Wanderer, die durch ganz Deutschland zogen und an Orten wie dem Pfarrhaus seiner Eltern Rast machten, da sie dort Verpflegung und Unterstützung erhielten. Indem er sie als Menschen beschreibt, die entweder »keinen Bock auf die Gesellschaft« hatten, oder es »halt einfach nicht hingekriegt« beziehungsweise »irgendwelche Schicksalsschläge erlitten« haben, malt er ein Bild von Aussteigern, die zwar einen durch Mobilität geprägten, unkonventionellen Lebensstil pflegen, aber dennoch ihrer selbstgewählten Wege gehen. Als Begründungen für den Ausstieg führt Manuel Went drei Möglichkeiten an. Er unterscheidet zum einen zwischen persönlichem Versagen (»es nicht hinkriegen«) und unverschuldetem Scheitern (»Schicksalsschläge«). Zum anderen handele es sich um Menschen, die willentlich und selbstbestimmt aus der Gesellschaft ausgestiegen seien. Die letztgenannte Möglichkeit steht am Anfang seiner Aufzählung, was auf seine persönliche Relevanzsetzung in der Bedeutung des »Landstreicher«-Bildes hinweisen könnte. Die »Osteuropäer« hingegen kämen nach Deutschland, weil sie sich da ein besseres Leben erwarteten als in ihren Herkunftsländern. Ihre Migration scheint also in den Darstellungen Manuel Wents stärker von Zwang geprägt zu sein als die Wanderschaft der »klassischen Landstreicher«, die sich freiwillig für das Umherziehen entschieden hätten, eine ungebrochene Aktivität an den Tag legten und nach jeder Rast gleich wieder weiterziehen »wollten«. Die »Rumänen« hingegen scheinen sich, wenn sie am Zielort ihrer Migration kein Auskommen finden, eher passiv ihrem Schicksal zu ergeben und würden in diesem Sinne unfreiwillig obdachlos. Sie lassen sich

—————— 12 Aus Darstellungsgründen zeichne ich nicht die Genese der gesamten Interpretation aus dem Sitzungsverlauf nach, sondern präsentiere Elemente aus der tiefenhermeneutischen Deutung der latenten Sinnebene (jeweils in Verbindung mit den entsprechenden manifesten, also sprachlich-diskursiven Äußerungen) in einem für die hier interessierende Fragestellung logischen Zusammenhang.

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dann nach Manuel Wents Wahrnehmung »überall« auf den Straßen der Stadt nieder und scheinen tendenziell auch nicht wieder zu gehen. Gegenüber dem Bild der unterworfenen, getriebenen und passiven »Osteuropäer« wirkt sein »klassischer Landstreicher« also wie ein selbstbestimmter Wanderer, der aus seiner Situation am Rande der Gesellschaft das Beste macht und dabei die eigene Handlungsfähigkeit bewahrt. Er kann jederzeit kommen und gehen wie es ihm beliebt, und wird dabei trotzdem immer Anlaufstellen finden, wo ihm geholfen und beispielsweise die »Wäsche gewaschen« wird. Ausgehend von dieser ersten tiefenhermeneutisch rekonstruierten Szene lässt sich Manuel Wents personifizierende Bebilderung der Obdachlosigkeit als doppelte Distanzierungsstrategie begreifen. Die nicht nur den »alten Mann«, sondern auch ihn persönlich immer wieder bedrohende Möglichkeit des Wohnungsverlustes wird einerseits durch Verfremdung, andererseits durch Historisierung abgewehrt. Verfremdet wird der bedrohliche Gedanke an Obdachlosigkeit durch die ethnisierende Projektion auf eine als migrantisch wahrgenommene Bevölkerungsgruppe, der eine osteuropäische und speziell rumänische Herkunft zugeschrieben und die nicht zufällig unter Rückgriff auf Elemente des traditionellen »Zigeuner«-Bildes in Szene gesetzt wird. Obwohl hier (einerseits aus Platzgründen, andererseits aufgrund der untergeordneten Bedeutung des »Osteuropäer«-Bildes in Manuel Wents Gesamtnarrativ) nicht an den entsprechenden Forschungsstand zum Thema Antiziganismus angeschlossen werden kann, soll dennoch zumindest die Funktion der Ethnisierung unter Rückgriff auf Georg Simmels Exkurs über den Fremden sowie einige daran anschließende psychoanalytische Überlegungen verdeutlicht werden.13 »Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat. Er ist innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises – oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist – fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vornherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt. Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen

—————— 13 Simmels Exkurs über den Fremden eignet sich auch und möglicherweise besser noch zur Erklärung der Sinnstruktur des Antisemitismus. Mir geht es nicht um eine Gleichsetzung von Antisemitismus und Antiziganismus. Ich rekurriere deshalb bewusst nur auf jene Aussagen Simmels, die nicht die genuin antisemitischen Inhalte von Fremdheitsprojektionen betreffen, sondern beschränke mich auf die den Antiziganismus betreffenden Aussagen.

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Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist.« (Simmel 1992: 764f.)

Während der »klassische Landstreicher« also dem umherziehenden Wanderer zu entsprechen scheint, lassen sich die auf den Straßen schlafenden Osteuropäer in Manuel Wents präsentativer Szenerie als Symbole der potentiell Wandernden deuten, die zwar gekommen und geblieben sind, aber dennoch nicht wirklich ankommen und außerdem auch nicht »von vornherein« dazugehören. Denn sie bringen von dort, wo sie herkommen, fremd erscheinende Eigenschaften mit. Während sich im Bild des Wanderers also – trotz dessen räumlicher (und in Manuel Wents Projektion zudem zeitlicher) Distanz – ein Gefühl der Nähe und Vertrautheit niederschlägt, vermittelt das Bild des Fremden, Simmel zufolge, eine nahe Ferne. Psychoanalytisch-sozialpsychologisch lässt sich diese »nahe Ferne« mit dem von Freud entdeckten Abwehrmechanismus der Projektion in Verbindung bringen. Horkheimer und Adorno (1997: 211ff.) beschreiben Elemente jener hier interessierenden – weil massenpsychologisch mobilisierbaren – Dynamik, die sie als falsche bzw. pathische Projektion bezeichnen, in Bezug auf den Antisemitismus als nicht allein psychoanalytisch, sondern auch erkenntnistheoretisch zu durchdringendes Problem. Sie entnehmen der freudschen Theorie einen triebtheoretischen Begriff der Projektion, welcher die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Triebwünsche und Strebungen auf Personen oder Objekte der Außenwelt bezeichnet (ebd.: 217; siehe auch Laplanche/Pontalis 1973: 299ff.). »Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben […]. Die Störung liegt in der mangelnden Unterscheidung des Subjekts zwischen dem eigenen und fremden Anteil am projizierten Material.« (Horkheimer/Adorno 1997: 212)

Denkt man einen so formulierten Projektionsbegriff mit Simmel zusammen, werden im Bild des Fremden sozial verpönte Anteile des eigenen Selbst »deponiert«, derer sich das Subjekt dadurch zu entledigen versucht, »um sie anschließend dort zu lokalisieren und nun verzerrt als reale äußere Gefahr (wieder) zu erkennen« (Pohl 2010: 42). Der von Manuel Went bemühte Hinweis auf eine andere Hautfarbe, Kultur oder Herkunft des Fremden ist zwar (wie die Analyse des Antisemitismus zeigt) für die pathische Projektion nicht essentiell, kommt aber dem Bedürfnis nach Verfremdung entgegen und wird deshalb prominent in die Szene eingebunden. Denn insofern die »vom Aussehen und von der Sprache her« als fremd markierten keine sicht-

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baren Ähnlichkeiten mit dem eigenen Selbstbild aufweisen, besteht auch kein Anlass zum Verdacht, dass die den Fremden zugeschriebenen Eigenschaften etwas mit dem Selbst zu tun haben. Die mit dieser Projektion einhergehende Täuschung gilt dabei nicht nur dem Gegenüber, sondern auch sich selbst gegenüber versucht das projizierende Subjekt die Täuschung aufrechtzuerhalten, was oft zu einem immer weiteren Ausschmücken der projektiven Bilder führt. Die Vermischung von projizierten Selbstanteilen und realistisch scheinenden Fakten erhöht die Glaubwürdigkeit der Bilder und erlaubt es, die abgespaltenen Selbstanteile hinter den sogenannten Fakten zu verbergen.14 Weiter präzisieren lässt sich die fremdenfeindliche Projektion mit Bohleber (2007: 229), demzufolge sich in frühkindlichen Sozialisationsprozessen zeige, wie die »abgewiesenen, aus dem bewußten Innenraum vertriebenen Vorstellungen und Regungen«, die er als unzulässige »Wünsche und Strebungen« charakterisiert, sich im Unbewussten »als einer Art innerem Ausland ansiedelten«. Während die verpönten Selbstanteile durch die Verdrängung erst einmal nur »fremd und unheimlich« wirkten, was auf Abwehrmechanismen zurückzuführen sei, die das Auftauchen und somit das Bewusstwerden des Verdrängten verhinderten, drohe die Begegnung mit den real existierenden Fremden, denen die eigenen Anteile zugeschrieben wurden, diese Abwehr zu schwächen und die festen Grenzen des eigenen Ichs aufzulösen (ebd.: 229). Dies provoziert umso vehementere Grenzziehungen gegenüber den realen Fremden. »Wir mißtrauen dem Fremden, weil er seine angestammte Ordnung und Heimat verlassen hat. Er erinnert uns an unser eigenes inneres Ausland« (ebd.). In Ergänzung zu diesen allgemeinen psychoanalytischen Grundannahmen weist Bohleber (ebd.: 226) auf die spezifische »historische Erbschaft des völkischen und rassistischen Nationalismus« hin, die das deutsche Verhältnis »gegenüber den Fremden« seit der Nationsbildung im 19. Jahrhundert und durch den Nationalsozialismus hindurch bis in die Gegenwart präge. Gerade hinsichtlich derartig historisch spezifischer Phänomene liege in der psychoanalytischen Erkenntnismethode jedoch das Potenzial, offenzulegen, »daß in den Vorurteilen gegen Fremde und in nationalen Symbolwelten, die zudem durch geschichtliche Ereignisse mit Bedeutung überladen sind, archaische Wünsche und unbewußte Phantasien Ausdruck finden« (Bohleber 2007: 227).

—————— 14 Die konkreten Inhalte dieser von Manuel Went auf die »Osteuropäer« projizierten Selbstanteile werde ich später darstellen, da diese im Interviewverlauf erst nach einem neuerlichen Themenwechsel zur Sprache kommen.

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Nun kann auf Basis der bislang dargestellten Direktzitate nicht konstatiert werden, dass Manuel Wents Aussagen über »Osteuropäer« von rassistischen oder nationalistischen Vorurteilen geprägt seien. Schließlich generalisiert er bis dato keine Merkmalszuschreibungen gegenüber Menschen dieser Gruppe, was gemäß der klassischen Definition Allports (1971) die Bestimmung eines »ethnischen Vorurteils« sei. Stattdessen generalisiert er vorerst lediglich, dass die heutigen Obdachlosen überwiegend aus Osteuropa kämen. Allerdings erstrebt er durch diese ethnisierende Projektion eine Verfremdung, die es ihm ermöglicht, seine eigene Angst vor Obdachlosigkeit (sowie, was später gezeigt werden wird, damit verknüpfte, sozial unerwünschte Charakterzuschreibungen) in den Fremden zu deponieren. Die Konfrontation mit der Erinnerung an die potenzielle Obdachlosigkeit des »alten Mannes«, die auch seine mietvertraglich nicht gesicherte Wohnsituation als Untermieter unmittelbar bedrohte, bildet im Gesprächsverlauf den Auslöser für diese Verfremdungsstrategie, denn der »Fremde und der Ausländer sind ein hervorragend geeignetes Symbol, um unangenehme und nicht akzeptable Wünsche und Vorstellungen der Selbstwahrnehmung zu entziehen und sie in seiner Gestalt projektiv zu verfremden« (Bohleber 2007: 229). Anders als es jedoch Horkheimer und Adorno (1997: 212) für den eliminatorischen Antisemitismus aufzeigten, dient die ethnisierende Projektion hier nicht zur Konstruktion eines zu hassenden Feindbildes. Ausgehend von einem zentralen Befund der tiefenhermeneutischen Interpretationssitzung soll im Folgenden dargelegt werden, inwiefern Manuel Went das Bild der »Osteuropäer« als Kontrastfolie zum »klassischen Landstreicher« vielmehr zur Stabilisierung einer sekundär narzisstischen Größenphantasie benötigt. Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit dem »Landstreicher«-Bild war eine Irritation im Zusammenhang mit dem Adjektiv »klassisch«, welches zwei Sinngehalte transportiert, die sich für die Erschließung des Latenten als bedeutsam erwiesen. Bei Mitgliedern der Interpretationsgruppe rief das Wort »klassisch« zum einen Assoziationen an Adeliges, Edles und Höheres hervor. Innerhalb der Gruppe der Obdachlosen scheint Manuel Went also den »klassischen Landstreicher« gegenüber den »Leuten aus’m Osten« auf eine höhere Ebene zu heben. Zum anderen verweist »klassisch« aber auch auf Relikte vergangener Zeiten, auf Althergebrachtes und Überkommenes. Eine solche vergangene Zeit war die Kindheit im Pfarrhaus, wo »immer viele« »Landstreicher« vorbeikamen und von der Mutter verpflegt und umsorgt wurden. Dass in dieser

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Erinnerungsszene, wo ein Kind das eigene Zuhause und die elterliche Fürsorge nicht nur mit seinen Geschwistern, sondern auch mit einer unbekannten und täglich wechselnden Gruppe an Menschen teilt, keine Gefühle des Neids oder der Eifersucht auftauchen, sondern lustvolle Formen der Erinnerung überwiegen, führte die Interpretationsgruppe zu der These, dass Manuel Went sich mit den »klassischen Landstreichern« identifiziert. Die Basis der Identifizierung bildet die Imagination einer gemeinsamen Herkunft, denn im Gegensatz zu den »Leuten aus’m Osten« seien die »halt auch von da«, oder zumindest »aus Deutschland« gekommen, und werden deshalb von ihm – in Anerkennung der christlichen Pflicht zur Nächstenliebe, die seinem Vater qua Berufswahl auferlegt ist – zur Eigengruppe gezählt. Diese Eigengruppe, die hier durch den Bezug auf die deutsche Herkunft von anderen abgegrenzt wird, »ist ein fiktives Subjekt, eine kollektive Imagination, die die Grenzen des individuellen Selbstgefühls ungemein erweitert« (Bohleber 2007: 230). Die Identifizierung mit einem solchen idealisierten Kollektiv erlaube Bohleber (ebd.) zufolge dem Subjekt »ein Gefühl narzißtischer Integrität« sowie ein »illusionäres Hochgefühl«, welches sich bis hin zum »Gefühl der Allmacht« steigern kann. Jedoch geschieht diese Identifizierung unbewusst und bleibt durch das Mittel der Historisierung sprachlich latent. Manuel Went historisiert allerdings nicht das Phänomen an sich, sonst hätte er gesagt, es gebe keine »klassischen Landstreicher« mehr. Stattdessen sagt er, er »kenne« keinen von denen mehr. Diese Kompromissbildung ermöglicht es ihm, auf der sprachlich-diskursiven Ebene die Verbindung zu kappen und das Phänomen nicht zu nahe kommen zu lassen, jedoch die Identifizierung latent aufrechtzuerhalten. Die Aufdeckung dieser über die Nation vermittelten unbewussten Identifizierung mit den »klassischen Landstreichern« im Zusammenhang mit den zuvor analysierten Zuschreibungen der Aktivität, Selbstbestimmtheit und Handlungsfähigkeit, welche für Manuel Went im Bild des Wanderers liegen, erlauben tiefenhermeneutische Deutungen hinsichtlich latenter Sinngehalte seines Selbstbildes. Diese sollen im Folgenden zusammengefasst werden und auf die Fragestellung dieses Artikels zurückbezogen werden.

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»Hätte er nich’ besser machen können« – Ohnmacht und Autonomiephantasie Manuel Wents praktische und psychische Bewältigungsstrategien sowie die in der Exit-Option formulierte Fluchtreaktion verweisen auf die Phantasie, trotz der unmittelbaren Erfahrung der Wohnungsnot alles allein entscheiden zu können und für alles selbst verantwortlich zu sein. Sein Selbstbild ähnelt insbesondere in einer Hinsicht dem Bild, das er von den Wanderern zeichnet: diese hätten einfach »kein’ Bock auf die Gesellschaft« gehabt und sich daher für die Wanderschaft entschieden. Die Strategie des »klassischen Landstreichers«, »der halt mal da ist und dann mal da und dann mal bisschen rumzieht« weist starke Ähnlichkeit zu Manuel Wents Exit-Strategie auf. Seine Inszenierung zielt darauf ab, sich nicht nur hinsichtlich profaner Sphären des Arbeitens und Wohnens, sondern auch in Bezug auf Leben und Tod als autonom darzustellen. Hinsichtlich Ersterem zeigt sich diese Phantasie der Autonomie beispielsweise, wenn er über die Arbeit im Startup und sein Gehalt redet: Manuel Went:

[…] ich bin da einfach (.) mit reingerutscht ähm //ok// und (BELUSTIGT) ich hatte einfach noch keinen Bock mich zu bewerben seitdem ich fertig bin ehrlich gesagt //ja// und ähm genieße es eigentlich grad noch so (.) bisschen zu arbeiten dann wegzugehen //ja// oder wegzufahren (SCHNIEFT) //ja// zu reisen ähm (.) (HOLT LUFT) und ähm (RÄUSPERT SICH) (SCHLUCKT) ja (RÄUSPERT SICH)

Interviewerin:

Ok und (.) würdest du sagen dass du hinkommst (.) mit äähm (.) der Kohle die du da kriegst oder hast du schon

Manuel Went:

Jaja ich komm schon hin (.) //ja// ja also sonst wär ich auch nich’ hier (.) also ähm //ja// ja äh (RÄUSPERT SICH) wird knapp (.) aabeer (.) das ist genauso (.) ich arbeite jetz’ irgendwie ähm (2) (HOLT LUFT) zwei Monate dann ich ähä zwei Monate frei (RÄUSPERT SICH) und ähm (.) dann werd ich halt auch nich’ mehr in [Name der Stadt] wohnen ähm (.) und dann //ja// spar ich mir viel Geld (LACHT) jaha //ja voll gut// also ääh (RÄUSPERT SICH) (.) (HOLT LUFT) nee aber is- was natürlich besser wär wenn ich ‘ne Wohnung hätte die bezahlbar ist und ich dann untervermieten kann

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//ja// (HOLT LUFT) ja aber (.) so wie’s halt alle (.) oder viele machen (.) //ja// also ähm und äh (MW211–213)

Aufgrund der sprachlichen Unregelmäßigkeiten bleibt an dieser Stelle sowie im gesamten Interview unklar, ob Manuel Went tatsächlich einfach »zwei Monate frei« haben wird, wenn sein aktueller Arbeitsvertrag demnächst endet, und nach einer solchen Phase unbezahlten Urlaubs weiterbeschäftigt wird, oder ob sein Beschäftigungsverhältnis dann endgültig ausläuft. Seine bisherigen Äußerungen hinsichtlich der Exit-Option scheinen eher darauf hinzudeuten, dass er nach Ende der Vertragslaufzeit die Großstadt endgültig verlassen wird. Hier sowie an einer anderen Stelle des Interviews deutet er nun jedoch an, dass er eventuell einfach wieder verreisen wird. In diesem Fall würde irritieren, dass er mit der baldigen Reise vor allem verbindet, »viel Geld« zu sparen. Eine Frage, die sich auf der Ebene des manifesten Inhalts hier (ebenso wie in anderen Interviews, wo Reisen eine mit Wohnungsnot verknüpfte Praxis darstellt) nicht beantworten lässt, aber dennoch latent im Material aufscheint, ist die nach der Freiwilligkeit des Reisens. Ähnlich wie bei der Strategie, im Ernstfall die Stadt zu verlassen, wäre auch in Bezug auf die Praxis des Reisens zu fragen, ob dies als Selbstzweck verfolgt wird oder eher eine Strategie darstellt, um der Wohnungsnot zumindest zeitweilig zu entfliehen und mithilfe von Erspartem anderswo – etwa mit geringeren Lebenshaltungskosten – einen höheren Lebensstandard zu genießen. Diese These wird erhärtet durch das von Manuel Went wiederholt geäußerte Wunschbild einer eigenen Wohnung, die »bezahlbar« sein sollte und die er dann, wenn er auf Reisen wäre, untervermieten könne. In Bezug auf dieses Wunschbild erscheint die Exit-Option einmal mehr als Notlösung. In der Tat suchte er in seinem Inserat, über welches auch ich in Kontakt mit ihm getreten bin, noch wenige Wochen vor unserem Interview gezielt nach einer kleinen Wohnung mit Küche und Bad. Sein Selbstbild der Autonomie ist durchzogen von Widersprüchen wie diesem. Die tiefenhermeneutische Interpretationsgruppe erkennt darin einem Konflikt zwischen ausgeliefert-sein und aktiv-selbst-entscheiden-wollen. Manuel Wents praktische und psychische Strategien legen die Vermutung nahe, dass er (zumindest in seiner Phantasie und in seiner Inszenierung) dem geholfen-bekommen und gezwungen-werden zuvorzukommen versucht. Aus diesem Grund imponiert ihm auch der Tod des »alten Mannes«, da dieser in seinen Augen – so eine Assoziation aus der Interpretationssitzung – bis in den Tod triumphiert habe:

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Interviewerin:

(HOLT LUFT) Und dein- dein Ex-Mitbewohner der (.) alte Mann //mh mh// wenn der jetz’ auf der Straße gelandet wäre (.) also wie hätte man ihm helfen können oder?

Manuel Went:

Äh (.) gar nich’ (ATMET AUS) nee also (.) der is-

Interviewerin:

Gar nich’ (1) weil der hätte ja auch nich’ weggehen können der war ja [aus dieser Stadt hier] also der ha//(SCHNIEFT) ja// hatte ja alles hier

Manuel Went:

Ja äh nee das wäar schon nich’ gut gewesen ja (RÄUSPERT SICH) //ja// also aber das äh (hätte dann) wahrscheinlich noch ‘n bisschen schneller (.) wär dann doch bisschen schneller gegangen (LACHT) so (MW155–158)

In Manuel Wents Wahrnehmung harrte der ehemalige Mitbewohner trotz der ihn physisch und psychisch belastenden Mietstreitigkeiten und sukzessiver Verarmung bis zuletzt in seiner Wohnung aus. Zwar hätte er es im Hinblick auf die angebotene Hilfe der Ex-Frau, die der »alte Mann« ablehnte, auch »anders machen können, aber irgendwie war’s so’n bisschen Sturkopf und, was ich aber bisschen auch an ihm geschä- schätzt hab« (MW96). Während Manuel Went sich in seiner Wohnbiographie häufig von seiner Freundin abhängig fühlte und nun, nachdem diese die Stadt verlassen hat, auf Fluchtmechanismen zurückgreift, erscheint ihm der »alte Mann«, für den er Gefühle der Bewunderung hegt, als unabhängig und autonom. Tiefenhermeneutisch lässt sich die Szene als ein Vater-Sohn-Verhältnis vorstellen, in dem der Sohn den Vater als omnipotent imaginiert: dem »alten Mann« scheint zu gelingen, was Manuel Went noch nicht gelungen ist. Selbst noch der Tod erscheint in dieser Szene als Trotz und Ausdruck männlicher Stärke. Das »rechtzeitige« Sterben erscheint weniger als Erlösung, was dem christlichen Deutungsrahmen nahe käme, sondern ähnelt stärker einer letzten autonomen Entscheidung. Manuel Went antwortet auf meine Frage, wie es ihm persönlich nach diesem Ereignis ging: Manuel Went:

(BESCHWINGTER TONFALL) War war war auch ganz gut öhm (.) also ich glaub es also (BELUSTIGT) was heißt es war ganz gut nee äh (.) äääh (2) mmm ihm ging’s sowieso ziemlich schlecht sag=ich=mal=so ähm auch mit dem Ganzen (.) und er hat’s eigentlich ganz sag=ich=mal=so (gut) geschafft zu ‘nem relativ guten Zeitpunkt ähm zu

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sterben na ähm (ZUVERSICHTLICHER TONFALL) und es war ganz gut ja ja (RÄUSPERT SICH) also war auch (HOLT LUFT) ww- joa aber er hätte nich’ besser machen können sag=ich=jetz=mal glaub ich (.) ja (RÄUSPERT SICH) ähm (.) ja (MW28)

Nicht zuletzt angesichts einer solchen Rationalisierung des Todes erschien der tiefenhermeneutischen Interpretationsgruppe das in diesem Interview dominante Selbstbild völliger Autonomie und die Idee, jederzeit alles abbrechen und weggehen zu können, als eine mit der Realität unvermittelbare Größenphantasie. Der psychoanalytischen Theorie zufolge gehen derartige Allmachts- und Größenphantasien auf frühe psychische Zustände des primären Narzissmus zurück, in denen das Kind sich noch nicht als getrennt von der Außenwelt erlebt (Freud 1974: 199). Es fühlt sich allmächtig, obwohl es die ersten Lebensmonate völlig von der Fürsorge anderer abhängig ist. Metapsychologisch handelt es sich also um einen Zustand noch vor der Trennung von Subjekt und Objekt, in dem sich das Kind mit all seiner Libido selbst besetzt, und den Freud (ebd.: 198) daher auch mit einem ozeanischen Gefühl gleichsetzt. Der primär narzisstische Zustand halte »solange an, bis das Ich beginnt die Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen, narzisstische Libido in Objektlibido umzusetzen« (Freud 1955: 72f.; Hervorhebung im Original). Erst dadurch setzt sich das Realitätsprinzip und somit die Einsicht in die Geschiedenheit und Abhängigkeit von äußeren Objekten, also insbesondere anderen Menschen, schrittweise durch. Allerdings bleibe das narzisstische Gefühl in der Psyche erhalten, da »im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann […], [weshalb es] unter geeigneten Umständen, z.B. durch eine so weit reichende Regression, wieder zum Vorschein gebracht werden kann« (Freud 1974: 201). Manuel Went scheint nun darauf zurückzugreifen, weil die Einsicht in die multiplen Abhängigkeiten, die seine derzeitige Lebens-, Arbeits- und Wohnsituation prägen, sein Selbstbild der Autonomie und Entscheidungsfähigkeit erschüttern würde.

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»Wenn ich auf der Straße bin, bin ich selber Schuld« – autoritäre Potenziale Dass solche individualpsychologischen Regressionen in sekundär narzisstische Allmachtsphantasien insbesondere bei der massenpsychologischen Verarbeitung von Ohnmachtserfahrungen im Kontext gesellschaftlicher Krisen eine Rolle spielt, hat als einer der ersten Fromm für den autoritären Charakter der 1930er Jahre herausgearbeitet. »Nur wenn man den ganzen Umfang der aus der realen Hilflosigkeit der Menschen in der Gesellschaft bedingten Angst in jedem Individuum richtig einschätzt, kann man die wichtige Rolle dieser Funktion der Autorität als Beruhigung, als einer fiktiven, gleichsam einer ›Prothesen‹-Sicherheit begreifen. Das Mass [sic] an Angst ist innerhalb der Gesellschaft, je nach der Rolle der Klassen im Produktionsprozess, verschieden gross.« (Fromm 1987: 124)

Eine der Grundannahmen der Autoritarismusstudien der frühen Kritischen Theorie lautete, dass der autoritäre Charakter durch masochistische Unterwerfung unter mächtige Autoritäten versuche, an deren Macht zu partizipieren. Die psychische Kompensation für die mit diesem Masochismus verbundenen Schmerz- und Leidenserfahrungen erlangt der autoritäre Charakter insbesondere in autoritär strukturierten Gesellschaften wiederum durch die Teilhabe an moralisch erlaubten Formen des Sadismus. Die Aggression, die infolge der Unterwerfung unweigerlich entsteht, wird vom autoritären Charakter abgewehrt und auf ein Ziel verschoben, welches von der Autorität als Objekt zugelassen wird. Der autoritäre Charakter wendet seine aggressiven Impulse daher bevorzugt gegen Schwächere oder auch gegen schwächelnde Autoritäten, denn deren »Ohnmacht ist für ihn immer Zeichen des Unrechts oder der Minderwertigkeit, und sobald sich die Autorität, an die er bisher geglaubt hat, als schwankend oder unsicher erweist, wandelt sich seine bisherige Liebe in Hass und Verachtung« (Fromm 1987: 121). Ohne die Ausführungen weiter zu vertiefen wird deutlich, dass sich die Autoritarismustheorie zum Verständnis der Größenphantasie auf Basis der bislang vorgestellten Interviewpassagen als nur bedingt hilfreich erweist. Zwar wurden aus dem Material auf der manifesten Ebene Aussagen herausgearbeitet, die auf masochistische Strebungen hinweisen (wie zum Beispiel die Bedürfnisreduktion im Zusammenhang mit der Relativierung und Rationalisierung der eigenen Wohnungsnoterfahrungen), allerdings scheint der aggressiv-sadistische Impuls zu fehlen und vor allem tauchen in Manuel Wents Erzählung keine Autoritätsinstanzen auf, denen die maso-

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chistische Unterwerfung gilt. Beschränkt sich die Funktion des Masochismus im geschilderten Fallbeispiel tatsächlich darauf, das Selbstbild der Selbstbestimmtheit und Handlungsfähigkeit lebenspraktisch zu stabilisieren? Im Folgenden soll auf Basis der tiefenhermeneutischen Ausdeutung einer weiteren zentralen Szene untersucht werden, ob die Psychodynamiken der Projektion und Identifizierung sowie die auf Masochismus basierende Größenphantasie möglicherweise doch Teil einer autoritären Form der Verarbeitung von Ohnmachtsgefühlen sind oder werden könnten. Auf die Frage, wie man mit der Obdachlosigkeit umgehen solle, antwortet Manuel Went (MW149), dass dies seiner Ansicht nach »nich’ nur was mit dem Wohnen zu tun« habe, sondern vielmehr mit der »Politik in Europa«. Das Problem sei, dass die Obdachlosen von anderswo herkämen, wo sie »nich’ mehr sein wollen und irgendwie was anderes suchen«. Diesem Problem könne man nicht mit Wohnungsbau begegnen, man müsse es anders lösen: Manuel Went:

(1) Ja denen halt einfach da ‘ne Perspektive bieten (.) ganz //mhm// ganz einfach (.) ähm ääh (RÄUSPERT SICH) (SCHLUCKT) uund das darf (.) bringt meiner Meinung nach halt dann ‘ne- (.) (HOLT LUFT) (SCHNIEFT) (RÄUSPERT SICH) ‘ne Wohnung halt auch nix (.) ähm (.) weil (SCHNIEFT) ja was machen die die machen- machen ja auch nich’ viel die betteln (.) Bier trinken //mhm// ja ähm (.) (UNV) jahaha (LACHT)

Interviewerin:

Meinst du man sollte denen was geben? Wenn man

Manuel Went:

Ja warum nich? Also schaden (.) würde es nich’ aaber ich weiß nich’ ob das besser macht weil es ja (SUCHT NACH WORTEN) (HOLT LUFT) (MIT BELEGTER LUSTLOSER STIMME:) was heißt besser macht ich würde jetz’ irgendwie äh- mm- wenn ich mal denk wenn ich irgendwo anders hingehe und ich krieg da noch alles äähm dann bleib dann halt auch eher da (.) //mhm// und so überleg ich mir vielleicht (.) ob ich dann doch wieder zurück gehe (HOLT LUFT) //mhm// was ja find ich (.) also ähm (SCHNIEFT) (1) (SCHLUCKT) ich glaub für die Region wo sie herkommen oder allgemein wär das ja das beste (genau) (.) ääh (.) so ähm //ja// meiner Meinung nach also das- ich weiß nicht daa da das ist da darf man aber=ja (.) nich’ viel sagen (.) so ähm (.) weil

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sonst wird man dann gleich in so ‘ne Ecke geschoben (HOLT LUFT) aber ähm (SCHNIEFT) (HOLT LUFT) ich denk w- (1) Hilfe in ‘ner gew- in ‘ner gewissen Art und Weise ist wichtig (.) aber äh ähm (RÄUSPERT SICH) im Endeffekt (.) wie gesagt ähm (1) ham sie ja auch andere Möglichkeiten (.) teilweise also (.) sie müssen ja auch nich’ (.) hier sein im Endeffekt ja das is’ genauso wie ich zum Beispiel ich muss ja auch nich’ in [Name der Stadt] wohnen //mhm// (SCHNIEFT) wenn ich in [Name der Stadt] auf der Straße bin dann bin ich selber Schuld //mhm// äh weil dann geh’ ich halt (.) //ja// heim (.) jaha also (LACHT) also äähm (.) deshalb äh (SCHNIEFT) (HOLT LUFT) (MW152–154)

Eine Wohnung bringe also »halt auch nix« bei Obdachlosen, die nichts weiter täten außer »betteln« und »Bier trinken«. Manuel Went suggeriert mit diesem Bild, dass die »Osteuropäer« nicht arbeiten und daher unproduktiv, inaktiv und folglich gewissermaßen selbst schuld seien an ihrer Obdachlosigkeit. An dieser Stelle lässt sich nun erschließen, welchen Inhalt die verdrängten und durch Projektion auf das Bild der Osteuropäer verschobenen Selbstanteile haben. Es handelt sich um diejenigen Zuschreibungen, welchen im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit – im Gegensatz zu den Zuschreibungen der selbstbestimmten Wanderschaft, aber auch im Gegensatz zu den Schicksalsschlägen und selbst dem persönlichen Versagen – mit sozialer Verachtung begegnet wird. Ideengeschichtlich ließe sich entlang weitreichender historischer Traditionslinien, die in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gipfelten, nachweisen, dass diese Zuschreibungen nicht nur als unmoralisch, sondern als »asozial« gelten und somit das aus dem Sozialen Ausgeschlossene darstellen. Die mit den Bildern des Trinkens und Bettelns verbundenen Assoziationen der Abhängigkeit, die dem Kontrollverlust der Alkoholsucht und dem Ausgeliefertsein der Bettelei eingeschrieben sind, werden vom krisenerschütterten Subjekt qua Projektion abgewehrt, weil sie sich auf den Urzustand der Obdachlosigkeit beziehen: auf die Reminiszenz der eigenen Urangst, die nach der Geburt und somit nach dem Verlust des ersten und vollkommensten »Wohnhauses« aus der völligen Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Säuglings resultiert. Sie erweisen sich zudem insbesondere im Postfordismus als unvereinbar mit den interna-

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lisierten »Kulturanforderungen«, weil diese an ein sich autonom dünkendes, sich selbstbestimmt und selbstverantwortlich fühlendes Subjekt appellieren. Aber was geschieht, wenn nun diejenigen, welche unsere eigenen abgewehrten Selbstanteile als Stigma tragen, es wagen sollten, ihr Land (das an unser eigenes inneres Ausland erinnert) zu verlassen, um an »unsere Tür [zu] klopfen« (Lessenich 2016)? Dann sei nach Manuel Wents Einschätzung zwar Hilfe »in ‘ner gewissen Art und Weise« wichtig, und es schade auch nicht, den Bettelnden etwas zu geben, aber es würde die Situation auch nicht verbessern. Schließlich sei die Prämisse, dass es »für die Region, wo sie herkommen, oder allgemein« und gewiss, so ließe sich ergänzen, auch für das eigene innere Ausland, doch das beste sei, wenn sie wieder zurückgingen. Unter dieser Prämisse wäre es wünschenswert, vor allem keine Wohnungen zu bauen, denn damit ginge die Gefahr einher, dass sie womöglich bleiben und sich häuslich einrichten könnten. Mit Blick auf diese durchaus politischen Forderungen erweist sich Manuel Wents Argumentation hier anschlussfähig an Diskurse der »Abschreckung« (Riedner 2018: 169), wie sie im Zuge der ressentimenthaften Debatten um vermeintliche »Armutsmigration« seit einigen Jahren in deutschen Großstädten gegenüber EU-Neuzuwanderern geführt werden. Derzeit überbieten sich politische Akteure ebenso wie Medien und Bürger*innen durch sozialchauvinistisch und rassistisch strukturierte Praktiken der Entsicherung, Exklusion und Kriminalisierung in einer Art negativer Städtekonkurrenz gegenseitig darin, vermeintliche »Anreizstrukturen« abzubauen (ebd. 2018: 217ff.). Entsprechende Politiken, die häufig gerade darin bestehen, EU-Bürger*innen und andere Statusgruppen ohne deutschen Pass aus der Wohnungslosenhilfe auszuschließen, verschärfen die manifeste Obdachlosigkeit und führen zu realer Verarmung und Verelendung (ebd.: 172ff.). Interessant scheint nun aber, dass Manuel Went dieses Abschreckungsargument – zumindest auf der sprachlich-diskursiven Ebene – nicht für eine Rassifizierung von Statuskonkurrenz heranzieht, denn er sagt nicht, dass die Migrierenden das Land bzw. die Stadt verlassen sollen, damit sie nicht mit Deutschen auf einem deutschen Wohnungsmarkt konkurrierten. Vielmehr nimmt seine Überlegung, die er mit den Worten »wenn ich mal denk, wenn ich irgendwo anders hingehe« einleitet, durchaus den Charakter eines Rollenspiels an. Er überlegt nämlich nicht nur, was es für ihn bedeutet, dass die Fremden an hiesige Türen klopfen, sondern er scheint ebenso imaginär durchzuspielen, was es für ihn hieße, an fremde Türen zu klopfen. Dabei kommt er in beiden Fällen zum gleichen Ergebnis. Er löst die Problematik

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innerhalb eines Weltbildes, dem das Gefühl der universellen Selbstverantwortung zugrunde liegt. Denn genau wie er selbst hätten die Fremden ja »auch andere Möglichkeiten«. Genau wie er selbst müssten sie ja »nich’ hier sein«. Genau wie er selbst seien sie selbst schuld, wenn sie hier obdachlos würden. Und bevor so etwas passiere, und man sich die eigene Schuld eingestehen müsse, gehe man »halt heim«. Manuel Went und die Fremden spielen also das gleiche Spiel, sie unterliegen denselben Spielregeln und es gibt niemanden, der ihnen zu Hilfe kommt oder auch nur zu Hilfe kommen sollte. Wer stark ist, der geht in diesem Spiel selbstbestimmt seiner Wege, er treffe seine Entscheidungen und lasse sich seiner Handlungsfähigkeit nicht berauben. Am Mal der Obdachlosigkeit aber zeige sich letztlich, wer unter der Härte der Spielregeln zusammengebrochen sei, sich gehen gelassen und die Kontrolle verloren habe, kurz: wer schuld sei. »Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied« et vice versa. Dass es Manuel Went gelingt, in diesem Absatz so einfach die Rollen zu tauschen und sich an die Stelle der Fremden zu setzen, bestärkt die psychoanalytisch inspirierte Interpretation, dass es sich bei den Fremden um die Produkte seiner Projektion handelt, die auf abgespaltene Selbstanteile verweisen und daher noch eine Verbindung zum Ich besteht. Einzig das Ich wäre in der Lage, sich diese bewusst zu machen, sich den abgewehrten Wünschen und den gesellschaftlich damit verbundenen Ängsten zu stellen. Das Ich würde dadurch reicher und stärker, nicht schwächer. Horkheimer und Adorno (1997: 58) zufolge liege ein aufklärerisches Potenzial in solchem »Eingedenken der Natur im Subjekt«. Ein anhaltender gesellschaftlicher Krisenzustand bietet hierfür allerdings wenig günstige Bedingungen.

Thesen zum Verhältnis von Autoritarismus und Narzissmus im Postfordismus Zusammenfassend lässt sich in Manuel Wents Auseinandersetzung mit der eigenen Wohnungsnot ein spezifischer Zusammenhang an Verarbeitungsund Bewältigungsstrategien erkennen, die sowohl praktische als auch psychische Aspekte umfassen. Die Analyse hat gezeigt, dass er nicht nur der eigenen Wohnungsnot, sondern auch der Gefährdung durch Wohnungsoder Obdachlosigkeit mit Rationalisierungsstrategien begegnet. Diese Haltung wird stabilisiert durch Abwehr- und Fluchtreaktionen, welche sich

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an den Gedanken heften, selbst die Großstadt zu verlassen, wenn es hart auf hart komme. Die manifest sichtbare Rationalisierung der eigenen Wohnungsnot geht im beschriebenen Fall auf der latenten Ebene mit einer doppelten Distanzierung durch Ethnisierung und Historisierung von Bildern der Obdachlosigkeit einher. Die erste Distanzierung gelingt durch Mobilisierung psychischer Abwehrmechanismen, von denen insbesondere die Projektion sich dem krisenerschütterten Subjekt als hilfreich erweist. Durch Projektion unzulässiger Selbstanteile, welche kulturell mit Obdachlosigkeit assoziiert werden und mit Zuschreibungen von Asozialität und Schuld aufgeladen sind, gelingt es Manuel Went, die eigene Gefährdung durch Wohnungs- oder Obdachlosigkeit zu leugnen und verpönte Wünsche und Strebungen, die im Falle des Scheiterns sozial gegen ihn gewendet werden könnten, auf antiziganistisch geformte Bilder des Fremden zu verschieben. Die über das nationale Kollektiv vermittelte Identifizierung mit »klassischen Landstreichern«, deren Bild er nach seinem Selbstbild der Autonomie, Selbstbestimmtheit und Handlungsfähigkeit formt, erlaubt es ihm, Erfahrungen der Ohnmacht in eine narzisstische Größenphantasie zu überführen und strukturelle Abhängigkeiten auszublenden. In seinem von Sozialchauvinismus geprägten Weltbild gilt daher Obdachlosigkeit als Ausdruck von Kontrollverlust und Hilflosigkeit, und weil es sich dabei um ein Phänomen handelt, das politisch nicht regulierbar scheint, gilt es vor allem, die eigene Obdachlosigkeit abzuwenden, entweder durch Praktiken der Wohnungsnot, oder wenn das nicht mehr ausreicht, durch die Option des Weggehens und die selbstbestimmte Wanderschaft. Die psychoanalytische Sozialpsychologie kann also in der sozialwissenschaftlichen Beforschung gesellschaftlicher Krisen dabei helfen, zu verstehen, wie diese Krisen von den Subjekten verarbeitet und bewältigt werden. Indem sie explizit nicht nur danach fragt, inwiefern bestimmte Formen der Krisenverarbeitung für die Subjekte selbst funktional sind, sondern auch deren gesamtgesellschaftliche Funktionalität erörtert, vermag sie im Sinne Kritischer Theorie Erklärungen beisteuern, warum sich die Gesellschaft des universellen Warentauschs auch noch in Krisenzeiten gegen die Interessen und Bedürfnisse der Einzelnen zu stabilisieren vermag, indem sie subjektive Psychodynamiken in Dienst nimmt. Die sekundär narzisstische Größenphantasie ist trotz der masochistischen Implikationen funktional für das Subjekt, denn sie gilt der Abwehr eines Ohnmachtsgefühls, das in der Angst vor Obdachlosigkeit zum Tragen kommt. Metapsychologisch wäre zu überlegen, ob die Angst vor Obdachlosigkeit nicht in besonderer Hinsicht auf

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eine Urangst verweist, insofern man mit Freud (1974: 221f.) »das Wohnhaus [als] Ersatz für den Mutterleib« begreift, »die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sicher war und sich so wohl fühlte«. Unbewusste Reminiszenzen an frühe narzisstische Kränkungen im Zusammenhang mit der Abnabelung und Subjektwerdung könnten einen Hinweis darauf geben, warum das Sprechen über Obdachlosigkeit – wie es scheint, mehr noch als das Sprechen über beispielsweise Arbeitslosigkeit – nicht nur in vielen meiner Interviews so schwer fällt, sondern einem kollektiven Bedürfnis nach Verdrängen und Ausblenden zu unterliegen scheint, das in Politiken der Vertreibung, Kriminalisierung und Unsichtbarmachung lediglich kulminiert. Diese psychische Verdrängung und praktische Vertreibung der manifesten, da sichtbaren Obdachlosigkeit scheint gesamtgesellschaftlich mit einer bemerkenswerten Ausblendung der Wohnungsnot und ihrer Grauzonen einherzugehen. Mehr noch, scheint die Unsichtbarmachung und Leugnung der Dynamiken des Wohnungslos-Werdens überhaupt erst zu ermöglichen, Phänomene der manifesten Obdachlosigkeit mit Vehemenz (und plausibilisiert durch suggestive Fakten wie den Verweis auf die hohe Rate psychischer Erkrankungen unter Obdachlosen) vom »normalen« Wohnen und den »normal« Wohnenden der sogenannten Mittelschicht abzugrenzen. Die Bewältigungspraktiken sowie die psychischen Stabilisierungsstrategien, welche angesichts des gesellschaftlichen Drucks der Distinktion und des Ressentiments von denjenigen ergriffen werden, die plötzlich selbst von der Wohnungskrise betroffen sind, tragen teils noch dazu bei, die Dynamik der Wohnungsnot weiter zu verschleiern. Gerade da, wo das Bild der Obdachlosigkeit Assoziationen der Handlungsunfähigkeit weckt, werden die eigenen Wohnformen – so prekär sie auch sein mögen – scharf abgegrenzt und als selbstgewählt inszeniert. Letztlich dient die narzisstische Größenphantasie nicht allein der Stabilisierung des in die Krise geratenen Subjekts, sondern sie stabilisiert die Funktionsweise einer Gesellschaft, welche Wohnungsnot überhaupt erst strukturell hervorbringt. Der Narzissmus wird unter anderem deshalb in der Sozialpsychologie und anderen Sozialwissenschaften (siehe zum Beispiel Lasch 1995) häufig als eine – insbesondere in der Spätphase des Kapitalismus – objektiv funktionale Charaktereigenschaft bezeichnet, da er den Anforderungen entspreche, die der Neoliberalismus (bzw. regulationstheoretisch präziser: der Postfordismus) an die Subjekte stelle. Eichler (2009) begreift den Narzissmus im Anschluss an Weyand sogar als eine für die gesamte kapitalistische Epoche fundamentale Psychodynamik, weshalb Autoritarismus

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und Narzissmus nicht strikt unterschiedlichen kapitalistischen Phasen zugeordnet werden könnten. »Der alte Autoritarismus mit den maßgeblichen Merkmalen autoritärer Aggression und Unterwürfigkeit ist nur eine Ausprägung des Narzissmus« (Eichler 2009: 99; Hervorhebung im Original). Der Narzissmus sei also die dem Kapitalismus zugrundeliegende psychische Struktur, die nun mit dem Niedergang des Fordismus und dem Schwinden (wenngleich nicht Verschwinden) des autoritären Charakters lediglich in neuen Erscheinungsformen auftrete. Eine massenpsychologische Mobilisierung narzisstischer Größenphantasien, wie sie im untersuchten Fallbeispiel herausgearbeitet wurde, ist also denkbar, weil der narzisstische Charakter durchaus in einen Autoritarismus zurückfallen kann. Insbesondere die psychodynamisch motivierten Mechanismen der Projektion und der Identifizierung, welche zumeist mit einer moralischen Spaltung (gut/böse; wertvoll/wertlos; produktiv/unproduktiv usw.) einhergehen, bilden Brücken in Ideologien wie Rassismus, Nationalismus oder Sozialdarwinismus. Die Identifizierung mit der Eigengruppe und projektive Zuschreibungen an Fremdgruppen können damit in autoritäre gesellschaftliche Dynamiken eingespannt werden, welche die Umleitung autoritärer Aggression auf stigmatisierte Gruppen kanalisieren. In der von Manuel Went produzierten symbolischen Spaltung der Obdachlosigkeit sowie in der auf Masochismus basierenden Größenphantasie liegt also ein Potenzial für rechte Anrufungen. Ob autoritäre Potenziale politische Mobilisierung erfahren, hängt letztlich allerdings nicht allein von den Dispositionen und Psychodynamiken der Subjekte, sondern auch und vor allem von der Dynamik sozialer Krisen und ihrer politischen Bearbeitung ab.

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III. Aktuelle Phänomene und Diagnosen

Böse knurrend, teuflisch schnurrend: Automobil, Alltag, Ideologie Robert Zwarg

Es ist eine »laute und aufregende Welt«, in die Harry gerissen wird, als er das magische Theater betritt, in das ihn Pablo – einer der Musikanten auf dem rauschenden Fest, auf dem sich Harry befindet – eingeladen hat, ein Theater, in dem es »nur Bilder, keine Wirklichkeit« (Hesse 2019: 228) gibt. Das Szenario, in das er eintaucht, ist nichts weniger als ein umfassender Krieg, ein Aufstand all jener, denen »die Luft zu eng wurde« und »das Leben nicht recht mehr mundete« und die sich darum die »Zerstörung der blechernen, zivilisierten Welt« (ebd.: 232) auf die Fahnen geschrieben haben. Aber nicht Klassen oder Nationen stehen sich in diesem Krieg gegenüber, sondern der Konflikt verdichtet sich in einem Alltagsgegenstand, der, so scheint es, pars pro toto für jene blecherne Welt steht, gegen die da rebelliert wird: »Auf den Straßen jagten Automobile, zum Teil gepanzerte und machten Jagd auf die Fußgänger, überfuhren sie zu Brei, drückten sie an Mauern der Häuser zuschanden. Ich begriff sofort: es war der Kampf zwischen Mensch und Maschinen, lang vorbereitet, lang erwartet, lang gefürchtet, nun endlich zum Ausbruch gekommen. Überall lagen Tote und Zerfetzte herum, überall auch zerschmissene, verbogene, halbverbrannte Automobile, über dem wüsten Durcheinander kreisen Flugzeuge, und auch auf sie wurde von vielen Dächern und Fenstern aus mit Büchsen und Maschinengewehren geschossen. Wilde, prachtvoll aufreizende Plakate an allen Wänden forderten in Riesenbuchstaben, die wie Fackeln brannten, die Nation auf, sich endlich einzusetzen für die Menschen gegen die Maschinen, endlich die fetten, schön gekleideten, duftenden Reichen, die mit Hilfe der Maschinen das Fett aus den anderen preßten, samt ihren großen, hustenden, böse knurrenden, teuflisch schnurrenden Automobilen totzuschlagen, endlich die Fabriken anzuzünden und die geschändete Erde ein wenig auszuräumen und zu entvölkern, damit wieder Gras wachsen, wieder aus der verstaubten Zementwelt etwas wie Wald, Wiese, Heide, Bach und Moor werden könne.« (Ebd.: 230f.)

Die in Hermann Hesses Steppenwolf (1927) beschriebene »Hochjagd auf Automobile« ist vielfach als prophetische Passage einer mindestens technikskeptischen, wenn nicht gar technikfeindlichen Zivilisationskritik gedeutet

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worden, wie sie im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder geäußert wurde (vgl. Müller 2004: 94). Die Gegenüberstellung von Mensch und Maschine, vermischt mit einer dualistischen Sozialkritik, in der die Maschinen mit »den Reichen« assoziiert werden, die Imagination einer unschuldigen, »geschändeten Erde« und nicht zuletzt die hochgradig ästhetisierte und romantisierte Gewalt- und Vernichtungsphantasie, all dies sind Motive, deren traditionsreiche Amalgamierung in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt und die über die Zeit keineswegs an Attraktivität verloren hat; sowohl die Gegenkultur der 1960er, als auch die Ökobewegung der 1970er und 1980er Jahre rezipierte Hesses Steppenwolf. Anders als Hesses Protagonist Harry, der sich eine Teilnahme an der Jagd nicht nehmen lässt und einem entgegenkommenden Fahrer direkt »in die blaue Mütze« (Hesse 2019: 234) schießt, konnte sich der selbsterklärte Naturmensch Hesse privat durchaus für die schnurrenden Monster begeistern und ließ sich gern im offenen Tourenwagen zu seinem Haus in Montagnola chauffieren. Einen Führerschein besitzt er nicht. Trotzdem wird ein Auto angeschafft – zuerst ein amerikanischer Standard Fourteen, der nicht einmal durch die Garagenzufahrt passt, später ein Ponton-Mercedes; die Fahrstunden nimmt seine dritte Ehefrau (Geyersbach 2006: 50f.). Der Schriftsteller ist nicht der einzige mit einer ausgeprägten Faszination für das Automobil. Auch Bertolt Brecht konnte einerseits in der Kurzgeschichte Barbara die Verschmelzung eines rasend eifersüchtigen Liebhabers mit seinem protzigen Chrysler ironisieren, wobei die »tollge-wordene Fettkugel« dem Erzähler während einer immer gefährlicheren Fahrt sein Leid klagt: »Das Unheimliche war, daß Eddis Weltschmerz einen Fuß hatte, der auf den Gashebel drückte« (Brecht 1967: 186). Andererseits hatte der klug-pragmatische Dichter keine Scheu, sich für den Erhalt eines der von ihm geschätzten Steyr-Modelle – zwei Mal – als Werbetexter zu verdingen. »So lautlos fahren wir dich«, dichtete Brecht in dem ersten der zwei durchaus hintersinnigen Steyr-Poeme, »daß du glaubst, du fährst / Deines Wagens Schatten« (Brecht 1993a: 393). Steyr blieb die Lieblingsmarke des Dramatikers; im dänischen Exil, nachdem die Nazis seinen Wagen konfisziert hatten, wich er allerdings notgedrungen auf einen Ford T aus. Glaubt man einem Vers jener Jahre, hielt die Begeisterung sich in Grenzen: »Ford hat ein Auto gebaut / Das fährt ein wenig laut. / Es ist nicht wasserdicht / Und fährt auch manchmal nicht« (Brecht 1993b: 231).1

—————— 1 Zum Auto in Brechts Biographie und seinem Werk vgl. ausführlich den Artikel »Auto« im Brecht-Lexikon (Arnold 2006: 13f.).

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Was die Passage aus Hesses Steppenwolf negativ indiziert, belegen die biographischen Anekdoten der beiden Dichter – denen sich unzählige andere beifügen ließen – positiv: Es handelt sich beim Automobil um ein offenkundig stark libidinös besetztes Ding des Alltags, ein Objekt, das im strengen psychoanalytischen Sinne ambivalent aufgeladen ist – das heißt mit gegensätzlichen, einander widerstrebenden Gefühlen besetzt – und darum immer wieder sowohl die Versprechungen als auch die Verwerfungen der bürgerlich-kapitalistischen Moderne symbolisieren kann. Nicht nur hat sich an das Auto, und damit unterscheidet es sich von anderen Objekten der Moderne, ein eigener »Ismus« geheftet – der »Automobilismus« (Schmidt 2011) – und die Rede von der »Car Culture« ist wissenschaftlich und popkulturell etabliert (Miller 2001). Das Automobil hält sich zudem beharrlich als Kristallisationspunkt zahlreicher, sich nicht selten durchaus widersprechender ideologischer Kraftfelder – und ist damit geradezu paradigmatisch für materielle Wirkung von Ideologie im Alltagsleben. Das verdeutlicht nicht zuletzt ein Blick auf die Gegenwart, die das unheimliche (und im Kontext von Hesses Romans drogeninduzierte) Szenario geradezu antizipatorisch erscheinen lässt. Denn im übertragenen und sich bis jetzt glücklicherweise längst nicht so gewalttätig äußernden Sinne fand 2019 in Deutschland sowie in den USA ebenfalls eine kurzlebige »Hochjagd auf Automobile« statt, denen man eine ähnliche Brutalität zuschrieb, wie den Fahrzeugen im Steppenwolf. Dabei ging es um einen ganz bestimmten Wagentyp, das »Sport Utility Vehicle«, kurz: SUV. Die massiven, höhergelegten, in ihrer Form das Auftürmende des Jeeps mit Innenraumkomfort des Kombis verbindenden, häufig schwarzen Fahrzeuge standen zunächst wegen ihres Benzinverbrauchs und den hohen Emissionswerten, sodann aber auch aufgrund der vermeintlich größeren Gefahr, die von ihnen ausgehe, in der Kritik. Greenpeace-Aktivisten versahen SUV-Neuwagen mit dem Banner »Klimakiller« (DPA 2019a) und die Detroit Free Press titelte »Death on Foot: America’s Love of SUVs is killing pedestrians« (Lawrence u.a. 2019). Nachdem Anfang September 2019 in Berlin ein SUV-Fahrer aufgrund eines Krampfanfalls mit über 100 Stundenkilometern in eine Menschengruppe gerast war und vier Personen ums Leben kamen (vgl. Krause/Fröhlich 2019), wurde intensiv und quer durch die politischen Lager über SUVs und deren Verbot diskutiert (Bozic/Krüger 2019; Brauns 2019), zuweilen mit einem frappierenden Rückgriff auf die Terminologie anderer Debatten, so beispielsweise in der Rede von den »Obergrenzen« durch einen Grünen-Politiker (vgl. Ismar

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2019). Bei Demonstrationen war auf Plakaten »SUV töten Kinder, Mütter, Väter, das Klima« zu lesen (DPA 2019b). Auch die Frage, welcher Charaktertyp eigentlich SUV fahre, wurde von einer finnischen Studie gestellt, deren Titel die populäre Wahrnehmung gewissermaßen ironisiert aufnahm: »Not only assholes drive Mercedes« (Lönnqvist u.a. 2019). Der Journalist Jan Stremmel wiederum, der sich mutig auf einen Selbstversuch eingelassen hatte und seine Probefahrt in einem wuchtigen BMW X6 in der Süddeutschen Zeitung zu Protokoll gab, musste bekennen: »Nach zwei Tagen hat der Wagen gewonnen. […] Ich bin ein rücksichtsloser Arsch. Das Auto hat gesiegt« (Stremmel 2015). Erkennbar heften sich an den SUV Versatzstücke zeitgenössischer Debatten, vornehmlich der über den Klimawandel, aber auch über Fragen des Lebens in der Stadt und der Sicherheit, die – im weitesten Sinne – ideologisch aufgeladen sind. Die Diskussion über SUVs ist allerdings lediglich ein rezenter Ausläufer einer ideen- und kulturgeschichtlichen Linie, in der das Auto gleichsam als Prüfstein wie Abstoßungspunkt des Nachdenkens über die kapitalistischen Moderne figuriert. Ohne diese Tradition in Gänze nachzeichnen zu können, nähert sich der Beitrag dem ideologischen Kraftfeld, in dem sich das Automobil befindet, aus zwei Richtungen: Zunächst lassen sich anhand des Automobils aufgrund seines enormen gesellschaftlichen Verdichtungsgrads und seiner semantischen und ideologischen Überbestimmtheit wesentliche Charakteristika der Moderne sowie ihres Übergangs in die Spätmoderne ablesen. Als technischem Objekt, so ließe sich mit Karl Marx formulieren, »enthüllt [es] das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen« (Marx 1968: 393). Die Beschäftigung mit dem Automobil erlaubt dergestalt, Wirkungsweisen von Ideologie im Alltag bzw. die ideologische Formierung im Modus des Alltäglichen nachzuvollziehen. Anders gesagt, entgegen eines instrumentellen Verständnisses von Ideologie als Manipulation – das in dieser Form wohl nur noch eingeschränkt Geltung beanspruchen kann –, lässt sich am Auto vielmehr die Materialisierung subtiler ideologischer Tendenzen erhellen. Nicht nur nach dem Automobil als Ausdrucksform und Gegenstand ideologischer Denkformen wird im folgenden Beitrag also gefragt, sondern auch danach, was es bedeutet, einen Alltagsgegenstand ideologiekritisch zu deuten. Die folgenden Ausführungen vollziehen dieses Programm in drei Schritten: In einem ersten Schritt wird das Automobil hinsichtlich seines Verhältnisses zur

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kapitalistischen Moderne analysiert, wobei der These nachgegangen wird, dass das Auto, anders als andere Waren, als eigentümliches Scharnier zwischen Konsumption und (Re-)Produktion figuriert. Sodann wird mit Bezug auf Roland Barthes das Automobil an der Schnittstelle von Ideologie und Alltag situiert. In einem dritten Schritt wird sich dem Automobil in der Spätmoderne genähert, wobei die Debatte um die SUVs im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.

Automobil und Moderne Ganz beiläufig taucht es auf, das Auto, in einem Text, in dem es eigentlich um etwas ganz anderes geht, und doch in einem sachlich relevanten Zusammenhang. Bei den in Älter werden zusammengetragenen Reflexionen der 2017 verstorbenen Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Silvia Bovenschen handelt es sich nicht um einen vermeintlich objektiven Abzug ihrer gelebten Vergangenheit, sondern um gewissermaßen herbeigezwungene, niemals von einem Moment der Fiktion freie Erinnerungen, mit denen sie versucht, dem Prozess des Fortschreitens des (eigenen) Lebens nahezukommen. In einer Passage evoziert Bovenschen ein Bild aus ihrer Kindheit in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren, als die »Gezeichneten, die Versehrten, die Krüppel, wie man damals sagte« (Bovenschen 2008: 10) langsam aus dem Straßenbild verschwanden. »Sie alle verschwanden mit der Zeit, mit zunehmender Prosperität und ärztlicher Kunstfertigkeit, so wie die dicken Pferde, die die Wagen, hochbeladen mit Blockeis, Bier oder Kohlen, durch die holprigen Straßen zogen. […] Das war mir schmerzhaft aufgefallen, daß die Pferdewagen allmählich den zunächst dreirädrigen motorisierten Lieferautos weichen mußten.« (Ebd.: 11)

Nur wenige Seiten später, der Schauplatz der Erinnerungen ist inzwischen Frankfurt am Main, berichtet Bovenschen dann von den »blitzenden Gefährte[n]« der Amerikaner, »mit viel Chrom, ausladenden Heckflügeln und imposanten Kühlerornamenten« (ebd.: 14), vor allem der Chevrolet, in dem der Vater einer Klassenkameradin sitzt, wird in Rückschau hervorgehoben. Die Erinnerungen Silvia Bovenschens an die Transportmittel ihrer Kindheit und Jugend, rekonstruiert von einer, der die Fortbewegung auf zwei Beinen aufgrund ihrer langjährigen Erkrankung an Multipler Sklerose nie-

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mals selbstverständlich sein konnte, vollziehen in geraffter Form den Eintritt des Autos in die Moderne nach: die Ablösung des Pferdes als erstem Transportmittel hin zum Auto als affektiv aufgeladenem, Faszination auslösendem Statusobjekt. Bei Bovenschen noch durch das nachträglich literarisch evozierte Prisma der Kindheit gebrochen, findet diese Entwicklung ihren Höhepunkt in der – wie Adorno schreibt – »Autoreligion« der Modere, »mit Ford für Lord und dem Zeichen des Modells T für das des Kreuzes« (Adorno 1998b: 104). Bevor es jedoch ein fetischisiertes Objekt für die Massen werden konnte, begann das Automobil als ein Luxusgegenstand, als technologisches Abenteuer für Wenige, dessen Attraktivität weniger in Praktikabilität als vielmehr in der Suggestion technischer Fortschrittlichkeit und spielerischen Erfindungsreichtums bestand (Heßler 2012: 103). Ähnlich wie das Fahrrad wurde auch das Auto – dessen Erfindung gemeinhin auf die Jahre 1883 oder 1894 datiert und mit den Namen Carl Benz und Gottlieb Daimler verbunden wird – vornehmlich als »Abenteuermaschine« begriffen, das von »Gutsherren und Kapitalisten« (Ruppert 1993: 129) gefahren wurde, bevor es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Massenfortbewegungsmittel wurde und damit das paradigmatische Fahrzeug des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn, sowohl ablöste als auch über sich hinaus trieb (Schivelbusch 2000). Zunächst folgen Straßen und Autobahnen im Grunde noch der Logik der Schienen: »Die Mechanisierung des Straßenverkehrs durch das Auto schlägt sich in der Straßenbautechnik als Angleichung an die technischen Prinzipien der Schienenwege nieder. Von dem Zeitpunkt an, da die Straßenfahrzeuge nicht mehr von Pferden bewegt werden, sondern vom Otto-Motor, werden die Straßen tendenziell so glatt, hart, eben und geradlinig wie die Eisenbahnschiene.« (Ebd.: 26)

Die Erfindung und Verbreitung des Automobils überträgt die Logik der Eisenbahnschiene auf das bis dahin hauptsächlich von Pferdekutschen befahrene Terrain. Reisezeiten verkürzten sich dramatisch, das Straßennetz verzweigte sich immer mehr. Das Besondere des Automobils ist hingegen die Radikalisierung der bereits in der Eisenbahn angelegten Individualisierung, verstanden als ein Prozess, der die Menschen zwar durchaus kollektiv zusammenbringt, sie aber tendenziell immer mehr vereinzelt. Bereits die Ausrichtung der Bahnsitze in Fahrtrichtung sowie die Einteilung der Wagen in Klassen – die in England von Anfang an existierte, in anderen Ländern erst sukzessive eingeführt wurde – folgte dieser Logik (Schivelbusch 2000: 68), wobei die Vereinzelung vor allem die Wagen der höheren Klassen betraf. Das Auto treibt diese Individualisierung in Richtung

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der Struktur der Kleinfamilie voran, ganz zu schweigen von dem finanziellen Aufwand, den ein Automobil anfangs erforderte und es damit per se nur für die höheren Schichten zugänglich machte. Ästhetisch glich der Innenraum eines Autos, so kommentiert Paul Virilio ironisch, bald einem »Sofa mit vier oder fünf Plätzen« (Virilio 1978: 19). Darin bildet das Automobil ein paradigmatisches Beispiel für jene Form des bürgerlich-kapitalistischen Fortschritts, den Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung zum Thema machten: »Der Fortschritt« so schreiben sie, »hält die Menschen buchstäblich auseinander. […] Die Eisenbahn wurde durch Autos abgelöst. Durch den eigenen Wagen werden Reisebekanntschaften auf halb-bedrohliche hitchhikers reduziert. Die Menschen reisen streng voneinander isoliert auf Gummireifen« (Adorno/Horkheimer 1998: 252). Der wahrscheinlich wichtigste Grund, warum das Auto immer wieder gewissermaßen als pars pro toto der Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts gedacht wurde, warum es sich vielleicht, wie Kristin Ross schreibt, gar um die »commodity form as such« (Ross 1995: 19) handeln könnte, war nicht nur der Status der Automobilproduktion als Schlüsselindustrie, sondern die besonders enge Verquickung von Produktion, gesellschaftlicher Inszenierung und Konsumption des Automobils. Anders als andere Waren, die im weitesten Sinne der Reproduktion der Arbeitskraft dienen, ist das das Auto einerseits die zuweilen notwendige Voraussetzung, um die Menschen zur Arbeit zu bringen – es ermöglicht also Produktion und Reproduktion –, während es andererseits zu einem Objekt des besonders ausgeprägten Begehrens wird und damit vom Zwecke der Produktion, dem es dient, ablenkt. Vor allem in Frankreich, wo die mediale Inszenierung des Autos eine besondere Stellung einnimmt – aber freilich nicht nur dort –, wurde das Auto, so Kristin Ross, zu einer wahrlich janusköpfigen Erscheinung: »In France at least, the car marked the advent of modernization; it provided both the illustration and the motor of what came to be known as the society of consumption« (ebd.: 39). Anders gesagt, es handelt sich beim Auto um ein »Paradigma der Massenkultur, an dem deren Doppelnatur sichtbar« (Ruppert 1993: 134) wird – die Doppelnatur von massenhafter, standardisierter Produktion und gleichzeitiger ästhetischer und medialer Inszenierung als radikal Besonderem. Die durch Henry Ford zum weltweiten Erfolgsmodell ausgebaute Fließbandproduktion, die epochemachende Zerlegung des Produktionsprozesses unter der Maßgabe einer maximalen Effektivierung und Rationalisierung, die daraus resultierende Austauschbarkeit der beteiligten Arbeiten, all das sind Elemente, die für die Massenfertigung des Automobils

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installiert und perfektioniert wurden und von dort aus auf die industrielle Produktion übergriffen (Giedion 1982: 140f.). Das berühmte »Model T«, dessen Produktionszahlen vorherige Modelle weit übertrafen und für einen vergleichsweise geringen Preis einer großen Anzahl an Menschen verfügbar war, steht für die Verwandlung des Autos vom Luxusgegenstand in eine Massenware. In der durch Ford etablierten Produktionsweise, in die auch Elemente des sogenannten Taylorismus eingehen, kommt die industrielle Massenfertigung gewissermaßen zu sich – gleichsam ikonisch in Szene gesetzt in Charlie Chaplins Modern Times (1936), in dem das übergangslose Ineinandergreifen verschiedener Zahnräder und die serielle, monotone Bewegung des Fließbandes zu Metaphern der Modernität sans phrase werden. Zugleich lässt sich am Automobil aber auch ablesen, dass die prinzipielle Demokratisierung, die in der Massenfertigung auch angelegt ist, quer zur Logik der Warenproduktion steht. So begann General Motors in Konkurrenz zu Ford Mitte der 1920er Jahre die eigenen Modelle klassenspezifisch zu staffeln, ein Programm, das in Deutschland von Opel übernommen wurde. Die Inszenierung und Differenzierung der verschiedenen Modelle anhand von realen oder projizierten Distinktionsbedürfnissen der jeweiligen Käuferschichten bildet den Hintergrund der Darstellung des Citroën DS, die Barthes in den späten 1950er Jahren dann zum Anlass seiner Reflexionen nehmen wird. Gleich blieben sich die Modelle in gewissem Sinne freilich dennoch; schematisch war nicht nur die Produktionsweise, sondern auch das Endprodukt. »Der Schematismus des Verfahrens«, so Adorno und Horkheimer, »zeigt sich daran, daß schließlich die mechanisch differenzierten Erzeugnisse als allemal das Gleiche sich erweisen. Daß der Unterschied der Chrysler- von der General-Motors-Serie im Grunde illusionär ist, weiß schon jedes Kind, das sich für den Unterschied begeistert« (Adorno/ Horkheimer 1998: 144). Dass die auf Allgemeinheit und Uniformität zielenden Massenproduktion des Autos zugleich mit einem starken Bezug auf den Individualismus einherging, ist nur scheinbar paradox. Bereits bevor das Auto der Mehrheit der Menschen zugänglich wurde, sahen zeitgenössische Kommentatoren eine Verbindungslinie zwischen dem individuellen Emanzipationsmoment des bis dahin am häufigsten genutzten Fortbewegungsmittel, dem Fahrrad, und dem mechanisierten Automobil, eine Verbindung, die auf eine, im Vergleich zur infrastrukturell und organisatorisch aufwendigen Eisenbahn, verbesserte Herrschaft über Raum und Zeit abzielte: »Das Auto«, so heißt es

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bereits 1906 in der Allgemeinen Automobil-Zeitung, »es will dem Menschen die Herrschaft über Raum und Zeit erobern, und zwar vermöge der Schnelligkeit der Fortbewegung. Der ganze ungeheure Apparat der Eisenbahn, Schienennetz, Bahnhöfe, Signal-stationen, Überwachungsdienst und Verwaltungsdienst fällt hier weg und verhältnißmäßig frei waltet der Menschen über Raum und Zeit« (zitiert nach Ruppert 1993: 139). Anders als früher die Pferde, ermüdete das Auto nicht, es folgte dem Kommando des Fahrers, es war flexibel im Tempo, bei Wind und Wetter verfügbar. Potenziell – und auch heute noch in ländlichen Gegenden spürbar – ermöglicht das Automobil die Loslösung von Kollektiven, die eigene Gestaltung von Zeit- und Ortsbewegungen, kurz: die individuelle Bewegungsfreiheit. In der Geschichte des Automobils verlängern und radikalisieren sich somit die ökonomischen wie soziostrukturellen Veränderungen, die mit dem Übergang von vormodernen, agrarischen Gesellschaft zur industriellen Moderne beginnen und sich schließlich in der auf der Einheit von Massenproduktion und Massenkonsum basierenden kapitalistischen Ordnung des 20. Jahrhunderts vollends geltend machen. Bereits mit der Eisenbahn wurde die schrittweise Ablösung von den natürlichen Gegebenheiten der Geographie vorangetrieben und Städte zu immer dichteren Netzen verbunden. Die technische Innovation des Autos wiederum intensiviert nochmals die Verdichtung der Welt und das Schrumpfen von Entfernungen. Zunächst nur einigen wenigen zugänglich, verallgemeinert und individualisiert sich diese in das neue fordistische Produktionssystem eingelassene Mobilität radikal. Sie verallgemeinert sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts quantitativ durch die schiere Zahl an Menschen, die Zugang zu einem Automobil erhalten; sie individualisiert sich, weil die Bewegung zwar noch an das Straßennetz gebunden, nicht aber mehr von Fahrplänen, Bahnhöfen und anderen infrastrukturellen Prämissen abhängig ist, sondern einzig in den das Lenkrad haltenden Händen der Einzelnen liegt. Zugleich bedeutet die fordistische Massenproduktion nicht nur eine »Teilung der Arbeit im Inneren der Gesellschaft« (Marx 1968: 511) – in der effektiven Zerlegungen in einzelne Produktionsabschnitte liegt die mit ihr verbundene Rationalisierung, die Bedingung für massenhafte Produktion von Gütern –, sondern auch mit einer stärkeren Formierung des Lebens außerhalb der Arbeit – ein Phänomen, das Antonio Gramsci unter die Begriffe »Fordismus und Amerikanismus« gefasst hat (Gramsci 1967: 377). Die Steigerung des Lohnniveaus, neue Möglichkeiten des Konsums sowie das sozialpartnerschaftliche Ansinnen

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des Kapitals neutralisieren zumindest temporär die Klassenkämpfe, die das 19. Jahrhundert geprägt hatten. Das Auto ist zugleich Massenprodukt wie es zunehmend zum individualisierten Konsumgegenstand wird, in dem sich das Versprechen der industriellen Moderne auf Wohlstand für alle reflektiert. Insofern exemplifiziert das Automobil den qualitativen und quantitativen Schub der, mit Andreas Reckwitz gesprochen, formalen Rationalisierung, dem Ordnungsprinzip der »organisierten oder industriellen Moderne« (Reckwitz 2019: 42) wie auch deren Durchbrechung in der für die Spätmoderne charakteristischen Singularisierung. Das Auto symbolisiert die im Fließband verdichtete Gleichförmigkeit ebenso wie das damit verbundene Versprechen der Individualität: Es ist in ein und demselben Moment Ausdruck der Logik des Allgemeinen und des Besonderen.

Ideologie, Mythos, Alltag: Das Auto denken Früh ist vor allem der marxistischen Kritik die besondere, paradigmatische Stellung des Automobils im Produktions- und Reproduktionsprozess der Gesellschaft aufgefallen sowie dessen ideologische Überformung; auffällig ist, wie häufig gerade das Auto als pars pro toto für das Ganze herangezogen wird. So gilt Alfred Schmidt das Phänomen des Autofriedhofs als Exempel für die Rückverwandlung des menschlich Angeeigneten ins Naturhafte (Schmidt 1993: 71); Roman Rosdolsky versieht seine Ausführungen zur Vermehrung der Mannigfaltigkeit der Gebrauchtswerte mit einem Hinweis auf die »neukreierten Massenbedürfnisse für Personenautos, Kühlschränke, Televisionsapparate usw.« (Rosdolsky 1959: 44);2 auch für Marcuse erkennen sich in der eindimensionalen Gesellschaft die Menschen »in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät« (Marcuse 2004: 29). Allerdings befindet sich das Auto dort zumeist im Kraftfeld verschiedener Entwicklungen und ideologischer Tendenzen, wie auch die Sphäre des Konsums nicht nur als Feld der Manipulation gedacht wird. André Gorz wiederum gilt das Auto an sich als Gegenstand einer spezifischen Ideologie, wie er in einem kurzen Aufsatz mit dem entsprechenden Titel »Die Gesellschaftsideologie des Autos« ausführt, des-

—————— 2 Die Hinweise auf Schmidt und Rosdolsky verdanken sich einem ausführlichen und anregenden Aufsatz von Falko Schmieder zur marxistischen Theorie des Gebrauchswertes (Schmieder 2019: 120f.).

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sen politische Schärfe zwar überaus eindrücklich ist, die aber in Teilen an der Wirklichkeit des Autos in jener Zeit vorbeigeht. Für Gorz sind Autos wie Schlösser oder Villen zum »ausschließlichen Vergnügen einer Minderheit sehr Reicher erfunden« worden und können ihren Status als Luxusgut nur in dem Maße erhalten, »als die Masse nicht darüber verfügt« (Gorz 1978: 88f.). Das Auto ist in diesem Sinne Ausdruck einer ganz spezifischen Ideologie, nämlich der des »Automobilismus«: »Der Automobilismus der Masse ist die Konkretisierung eines absoluten Triumphs der bürgerlichen Ideologie auf der Ebene der täglichen Praxis. […] Der Aggressive und grausame Egoismus des Autofahrers – in jeder Minute tötet er symbolisch ›die anderen‹, die er nur noch als materielles Hindernis und als Bremse der eigenen Geschwindigkeit ansieht –, dieser aggressive und konkurrierende Egoismus hat die Vorherrschaft eines allgemein bürgerlichen Verhaltens mit dem täglichen Automobilismus eingeleitet […]. Es gab also bis zur letzten Jahrhundertwende nicht ein Fortbewegungstempo für die Elite und ein anderes fürs Volk. Das Auto hat das geändert: es ermöglicht erstmals in Bezug auf Geschwindigkeit und Fortbewegungsmittel einen Klassenunterschied.« (Ebd.: 90)

Für Gorz handelt es sich beim Automobil um ein Phänomen, bei dem sich die versprochene Autonomie in eine neue Abhängigkeit verkehrt, die sich allerdings nur durch die implizite normative Setzung einer vollständigen Kenntnis des gebrauchten Objekts erklärt. Laut Gorz verhält sich das Subjekt zum Auto nicht als Gebrauchsgegenstand, denn seine Funktionsweise ist ihm »selbst völlig unbekannt« (ebd.: 91), sondern als sein – nur formaler – Besitzer. Zugleich verbringe der Mensch, da sich mit der massenhaften Verbreitung des Automobils auch die Infrastruktur ändert, immer mehr Zeit mit der Fortbewegung. Das Leben verlagert sich aus der Stadt, die immer mehr als »Hölle« (ebd.: 94) empfunden wird, in die Vorstädte und aufs Land. Zudem habe das Auto »sämtliche Nachteile der Eisenbahn – zusätzlich zu einigen, die speziell ihm eigen sind: Erschütterungen, Ermüdung, Unfallgefahren, die Notwendigkeit des Chauffierens – ohne irgendeinen ihrer Vorteile« (ebd.: 95). Nur zögerlich erwägt Gorz einen progressiven Umgang mit dem Automobil in den dereinst zu entwerfenden »neuen Städten«, wobei das »Sortiment von Verkehrsmitteln«, das Gorz erdenkt, sich mit Blick auf die Gegenwart als durchaus antizipatorisch erweist: »städtische Fahrräder, Straßenbahn oder Trolleybusse, Elektrotaxis ohne Chauffeure« (Gorz 1978: 96). So sympathisch der egalitäre und sozialkritische Gestus der Ausführungen Gorz‘ auch sein mag, die Ausführungen leiden unter der Schablonenhaftigkeit der Analyse, mit der sich dem Auto genähert wird. Weder die

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Möglichkeit, vermittels des Autos dem ruralen Kollektiv in die Stadt zu entkommen, noch die spezifischen Formen zwischenmenschlichen Kontakts, die aus Auto hervorgebracht hat, werden bei Gorz erwähnt. Schon in der bereits zitierten Passage aus der Dialektik der Aufklärung kommt der hitch hiker nur als Gefahr vor, nicht auch als – in der Realität freilich häufig gebrochenes – Versprechen einer von Sicherheit und Offenheit ermöglichten Fortbewegung, in der sich Fremde auf Zeit begegnen und das technische Mittel des einen das Glück des anderen darstellt; ohne dieses Versprechen hätte es Jack Kerouacs On the Road weder gegeben noch wäre es so erfolgreich gewesen. Kein »brennendes Verlangen, loszuziehen, sich aufzumachen, egal wohin« (Steinbeck 2015: 15), wie es der Protagonist von John Steinbecks Travels with Charley verspürt, kein Genre des Road Movies ohne das Automobil. Auch das sich im geliehenen Wagen der Eltern vergnügende Paar im Autokino ist für Gorz kaum denkbar, ebenso wenig wie die von pubertärer Sorglosigkeit getragenen ersten sexuellen Erfahrungen im Auto, das in Zeiten rigider Sexualmoral durchaus zum Rückzugsort, ja zum Residuum von Freiheit werden konnte. Deswegen lohnt es sich, eine zwar kurze, aber für die Geschichte und Theorie des Automobils geradezu kanonische Reflexion zu betrachten, die sich dem Auto als spezifischem Gegenstand weit sensibler überlässt, um es zugleich als Objekt der Faszination wie als Ausdruck einer bestimmten kleinbürgerlichen Ideologie zu deuten, allerdings im Kontext eines anderen erkenntnistheoretischen Bezugssystems: Roland Barthes Auseinandersetzung mit dem Citroën DS 19. Betracht man historische Aufnahmen des Citroën DS 19 im Lichte der Gegenwart stellt sich unweigerlich ein Gefühl der Retro-Faszination ein, mindestens ein Bewusstsein für die Differenz zeitgenössischer Designs gegenüber klassischen Modellen. Stromlinienförmigkeit und geschwungene Natürlichkeit sind das Programm: Sanft senkt sich die Karosserie nach hinten ab, so als würde sie sich aus einer Öffnung hinauszwängen, es sind kaum scharfe, geometrische Konturen, Ecken oder Kanten zu sehen. Herausgehoben und von der schnabelgleichen, nicht durch einen großen Kühlergrill gestörten Motorhaube abgesetzt blicken die Lichter nach vorne. Nur die Vorderräder sind ganz sichtbar, die Hinterräder sind zur Hälfte von den Kotflügeln verdeckt, wie Beine durch ein Kleid. Nicht wuchtig auf die Straße platziert, sondern sich gleichsam an den Asphalt anschmiegend, scheint sich das glänzende Objekte zu bewegen; das Gefühl der Geschwindigkeit, das

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von ihm ausgeht wirkt nicht bedrohlich, sondern vermittelt stattdessen Gelassenheit, Eleganz und Sicherheit. Roland Barthes hat dem 1955 erstmals auf dem Pariser Autosalon vorgestellten Wagen in Mythen des Alltags (1957) eine der berühmtesten Reflexionen über das Automobil gewidmet. »Ich glaube«, so heißt es dort in einer eindrücklichen, in der ersten Person Singular anhebenden Formulierung, die wie ein Echo auf Adornos Rede vom Model T als Zeichen des Kreuzes wirkt, dass »das Automobil heute die ziemlich genaue Entsprechung der großen gotischen Kathedralen ist. Soll heißen: eine große epochale Schöpfung, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern entworfen wurde und von deren Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk zehrt, das sie sich als ein vollkommen magisches Objekt aneignet« (Barthes 2010: 196). Für die Engführung von Religion und Maschine mochte wohl vor allem der Name des Modells gesprochen haben: DS ist im Französischen homophon mit dem Wort »déesse« (Göttin); zudem ist auch das Wort für Auto, »voiture« ein grammatisches Femininum. Für Barthes handelt es sich bei der Citroën DS 19 um ein »superlativisches Objekt«, ein Ding, das Vollkommenheit suggeriert und zugleich seinen Ursprung unkenntlich macht. Es erreicht die Erde als Ereignis ohne Geschichte, als Herabkunft aus der »Welt des Wunderbaren« (ebd.). Das bekundet sich vor allem in der gewissermaßen ›übernatürlichen‹, glatten, geschwungenen Form, in der anders als bei konkurrierenden Modellen der Zeit die einzelnen Teile als ›aus einem Guss‹ erscheinen, weil nichttragende Teile wie Kotflügel und Türen mit dem Rahmen verschweißt wurden. Das Publikum spürt dieses Novum gewissermaßen negativ, durch die Abwesenheit der Kanten und in seinem Interesse für die »Verbindung ihrer Flächen«: »Eifrig betastet es die Ränder der Fenster, es streicht mit der Hand über die Gummifugen, die das Heckfenster mit seiner verchromten Einfassung verbinden« (ebd.: 197). Der Wagen wirkt nicht mehr wie eine blecherne Bestie, sondern er ist – in Barthes Worten – »vergeistigt« oder ästhetisiert: »Mit der DS beginnt eine neue Phänomenologie der exakten Passung, so als ginge man von einer Welt verschweißter Bauteile über in eine Welt fugenlos gefügter Elemente, die ihren Zusammenhalt einzig der Kraft ihrer wunderbaren Form verdanken, was natürlich die Vorstellung einer unbeschwerteren Natur wecken soll.« (Barthes 2010: 197)

Zugleich – und hier taucht die Konnotation des Weiblichen wieder auf – rückt das Automobil dem Menschen näher, indem es – wie bereits die

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zitierte Bemerkung Virilios betont – Motive und Elemente des Häuslichen aufnimmt. »Die Instrumententafel ähnelt mehr der Schalterleiste eines modernen Küchenherdes als der Kontrollzentrale einer Fabrik«, die Ausstattung suggeriert die Kontrolle und den Komfort, die den Dingen des täglichen Gebrauchs eigen ist. »Es ist der deutliche Übergang von einer Alchimie der Geschwindigkeit zu einem opulenten Fahrvergnügen«. Erst am Schluss wird deutlich, dass die Faszination des Publikums zugleich den Beginn eines Verlusts darstellt: »Es ist die große Phase der taktilen Erkundung, der Moment, in dem das sichtbar Wunderbare den prüfenden Ansturm des Berührens erleiden muß. […] Das Objekt wird hier völlig prostituiert, in Besitz genommen: Kaum hat die Göttin den Himmel von Metropolis verlassen, wird sie vom Volk binnen einer Viertelstunde profaniert und vollzieht mit diesem Exorzismus exakt die Bewegung des kleinbürgerlichen Aufstiegs.« (Barthes 2010: 198)

Was geschieht in dieser Passage? Barthes nähert sich dem Phänomen des neuen Citroën zunächst weder explizit kritisch noch denunziatorisch, sondern geradezu bewundernd. Gleich des Publikums, das beschrieben wird, scheint auch Barthes das Auto zu umkreisen und von allen Seiten anzuschauen und zu betasten. Erst im Verlauf mischt sich in den Ton der Bewunderung eine gewisse Ironie, so wenn Barthes davon spricht, dass die Menschen die Neuheit des Citroën auf »bewundernswerte Weise« (ebd.: 198) erfassen. Offenbar begreift Barthes den Citroën sowohl als bewusstes Produkt wie unbewussten Ausdruck. Intentional erscheint beispielsweise der vermeinte Zweck, die Idee einer unbeschwerteren Natur zu vermitteln, eher bewusstlos wiederum die Verbindung des Citroën mit der Idee des kleinbürgerlichen Aufstiegs. Auch die Parallelisierung des Wagens mit den gotischen Kathedralen – der architektonische Ausdruck des kirchlichen Selbstbewusstseins, gebauter Teil der Liturgie und des religiösen Machtanspruchs – platziert den Citroën in einem in umschließenden oder auf ihn zugreifenden Kontext. Handelt es sich also, mit anderen Worten, beim Citroën in Barthes‘ Lesart um ein ideologisches Objekt und wenn ja, in welchem Sinne? Folgt man Terry Eagletons angenehm entspannter wie zugleich sorgfältig klärender Studie Ideology – und ein schlichter Blick in den politischen Diskurs erhärtet dieses Befund – lässt sich die Rede von der Ideologie nicht auf einen einheitlichen, klar definierten Begriff bringen; Eagleton nennt einleitend nicht weniger als 16 verschiedene Verwendungen (Eagleton 1991: 1f.). Was sich jedoch angeben lässt, sind zwei voneinander unterscheidbare Traditionen des Nachdenkens über Ideologie. Während sich in der einen gewisser-

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maßen soziologisch mit der Funktion von Ideen in ihrem gesellschaftlichen Kontext beschäftigt wird, konzentriert man sich in der anderen – ausgehend von Hegel über Marx und Lukács bis hin zur Kritischen Theorie – auf Ideologie als ein Phänomen der Verkehrung von Ideen über die Wirklichkeit (Eagleton 1991: 3). Ideologie in letzterem Sinne, so ließe sich heuristisch und in aller Kürze formulieren, ist ein falsches Wissen – ein falsches Bewusstsein – über die Realität. Aber anders als die Lüge oder der Irrtum, entsteht dieses Bewusstsein weder intentional noch willkürlich, sondern erwächst notwendig aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, die es verzerrt repräsentiert. Ideologie, so Theodor W. Adorno, ist damit wesentlich bewusst oder unbewusste »Rechtfertigung« (Adorno 1998a: 465). Damit präzisiert er den Marx’schen Gedanken, der sachlich am Beginn des hier Ideologiebegriffs im engeren Sinne steht, nämlich, dass nicht »das Bewusstsein […] das Leben« bestimmt, sondern »das Leben […] das Bewusstsein« (Marx/Engels 1962: 27). Insofern aber, als unter dem Begriff der Ideologie die Wahrheit von Ideen über die Wirklichkeit thematisiert wird, kann ein Ding nicht ideologisch sein; wahrheitsfähig ist nur die urteilende Aussage. Und dennoch können Objekte augenscheinlich als Teil eines ideologischen Ensembles begriffen werden. Sie sind sogar – wie es sowohl bei Marx als auch bei Adorno angelegt ist – wichtige Bestandteile ideologischer Formationen, insofern als sie als Objekte Teil einer bestimmten Praxis sind oder bestimmte praktische Handlung erfordern, die wiederum als solche untrennbar mit der ideologischen Verzerrung gesellschaftlicher Wirklichkeit verbunden sind; ein Hinweis auf diese praktische Dimension fehlt bezeichnenderweise in Eagletons Aufzählung. Paradigmatisch ließe sich dieser Gedanke – was hier nur angedeutet werden kann – auf Marx‘ Analyse des Warenfetischismus zurückführen: Was sich im Hinblick auf die Analysen in Das Kapital als Ideologie bezeichnen ließe, beginnt nicht etwa mit bestimmten Ideen über die Wirklichkeit, sondern es gründet in einer spezifischen Praxis – dem Umgang mit Waren und Geld. So ließe sich die Rede von den »objektiven Gedankenformen« (Marx 1967: 90) nicht nur als Hinweis auf die objektive Geltung der Gedankenformen verstehen, sondern auch als Erinnerung daran, dass ihr ein Umgang mit Objekten zugrunde liegt; auch der vielzitierte Satz »Sie wissen das nicht, aber sie tun es« (Marx 1967: 88) wäre in diesem Sinne als Reminiszenz an den Vorrang der Praxis zu verstehen.3

—————— 3 Darin bestünde auch eine – den Rahmen dieses Beitrages sprengende – Verbindung zu Louis Althussers Ideologiebegriff, zu dessen Verdeutlichung er bekanntermaßen häufig

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Roland Barthes, so wird sich zeigen, nimmt in der so skizzierten Konstellation eine ambivalente Stellung ein. Zwei Ziele, so heißt es in der Rückschau im Vorwort zu den Mythen des Alltags von 1970, habe das Buch verfolgt: »einerseits das einer Ideologiekritik, die sich auf die Sprache der sogenannten Massenkultur richtet; andererseits das einer ersten semiologischen Demontage dieser Sprache« (Barthes 2010: 9). Das Verhältnis zwischen Ideologiekritik und Semiologie, so legen die Zeilen nahe, ist dabei ein supplementäres. Letztere ergänzt Erstere, um, wie Barthes weiter ausführt, »vom biederen Anprangern loszukommen« (ebd.). Barthes offensive Verortung des eigenen Projekts im Feld der, hier noch nicht weiter erläuterten, Ideologiekritik mag überraschen. Bekanntermaßen ist der Leitbegriff des Buches nicht der der Ideologie, sondern der des Mythos. Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen Mythos und Ideologie keinesfalls sofort ersichtlich. Das zentrale Merkmal des Mythos wie auch das verbindende Element der verschiedenen Alltagsbetrachtungen ist jedoch leicht zu benennen. Im Vorwort zur Erstausgabe bezeichnet Barthes den Anlass seiner Reflexionen ein »Unbehagen an der ›Natürlichkeit‹, die von der Presse, von der Kunst, vom gesunden Menschenverstand ständig einer Wirklichkeit zugesprochen wird, die […] eine durchaus geschichtliche Wirklichkeit ist«, mithin einen »ideologischen Mißbrauch«, der im Wesentlichen in der Verwechslung von Natur und Geschichte besteht und sich »in der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen verbirgt« (ebd.: 11). Was als Mythos in Erscheinung tritt oder zu einem solchen gemacht wird, tritt auf, als sei es immer schon so gewesen. Es verschleiert, indem es etwas offen zur Erscheinung bringt – als Selbstverständliches. Allerdings versteht Barthes diesen Prozess nicht als einen, der sich zwischen Denken oder Sprache einerseits und der Wirklichkeit andererseits abspielt. Der Mythos, so heißt es in einer bekannten Formulierung, »ist eine Rede« oder, wie es wenig später heißt, eine »Weise des Bedeutens, eine Form«, die sich aber auf ein bereits bestehendes semiologisches System bezieht. Nach Barthes ist es erst die Rede, der Übergang der Welt von einer »verschlossenen, stummen Existenz« (Barthes 2010: 251) in einer durch die Sprache geöffnete, die die Dinge »für einen bestimmten gesellschaftlichen Gebrauch« (ebd.: 252) ausstattet. Insofern alles zum Gegenstand der Sprache werden kann, kann auch alles zum Mythos werden. Denn:

—————— auf ein Diktum Blaise Pascals verweist: »Knie nieder, bewege deine Lippen zum Gebet und du wirst glauben.« (vgl. Althusser 2014: 186) Zum Verhältnis von Barthes und Althussers Ideologiebegriff vgl. Lecercle (2008).

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»Der Mythos leugnet nicht die Dinge; seine Funktion ist es vielmehr, davon zu sprechen; er reinigt sie einfach, gibt ihnen ihre Unschuld zurück, gründet sie in Natur und ewiger Dauer, gibt ihnen die Klarheit nicht einer Erklärung, sondern einer Feststellung.« (Ebd.: 296)

Nur weil es die Wirklichkeit in diesem Sinne als unverborgene nicht geben kann, wird verständlich, warum Barthes – entgegen beispielsweise der Formulierungen aus dem Vorwort – schreibt: »Der Mythos verbirgt nichts und stellt nichts zu Schau; er deformiert. Der Mythos lügt nicht und gesteht nichts; er verbiegt« (ebd.: 277). Darin liegt schließlich auch die Grenze des Mythologen im Vergleich zum Ideologiekritiker: »Ständig läuft er Gefahr, das Reale, das er zu schützen behauptet, zum Verschwinden zu bringen. Außerhalb aller Rede ist die DS 19 ein technisch definiertes Objekt, das eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht, einen bestimmten Luftwiderstand aufweist usw. Und genau von diesem Realen kann der Mythologe nicht sprechen. Der Mechaniker, der Ingenieur, sogar der Benutzer sprechen das Objekt; der Mythologe hingegen ist zur Metasprache verurteilt.« (Ebd.: 315)

In diesem Verharren auf der Ebene der Sprache liegt allerdings auch eine heute kaum noch auffallende, implizite Kritik der stalinistischen Orthodoxie; diese kritisierte nämlich all jene Theorien als gewissermaßen überzogen, als Ausdruck eines »Ideologismus«, die auch die Sprache als – in der marxistischen Diktion – »klassengebunden« betrachteten, anstatt als neutrales Medium und Instrument (ebd.: 325, Anm. 13). Das mag das eigentümliche Schwanken der Mythen des Alltags zwischen Kritik und Affirmation, mithin die Schwierigkeit einer Bestimmung der Mythen als »Ideologiekritik« erklären. Denn einigen der Ausführungen sind die Faszination an der semiologischen Überlagerung und den Doppeldeutigkeiten deutlich anzusehen; die Analyse der Tour de France als Epos (ebd.: 143ff.) oder das Stück mit dem Titel »Wie Paris nicht unterging« (ebd.: 77) sind geradezu positiv in ihrer Grundstimmung. Zuweilen legen die Ausführungen nahe, dass der Mythos sich nicht vollends oder nicht notwendigerweise im Feld des Ideologischen befindet. So scheint die Ideologie im klassischen Sinne – beispielsweise als einer der dem 19. Jahrhundert entstammenden -Ismen, wie der Imperialismus – häufig ›hinter‹ dem Mythos zu stehen, gleichsam als Richtung, die seine Deformation des primären semiologischen Systems bestimmt. In dem von Barthes an anderer Stelle gedeuteten Beispiels eines Zeitungsfotos, auf dem ein schwarzer, französischer Soldat den militärischen Gruß zeigt (vgl. Barthes 2010: 260f.), wird das Foto dergestalt als »Alibi für die französische Imperialität« (ebd.: 276)

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entziffert. Andere Momente wiederum rücken den Mythosbegriff sehr dezidiert in die Nähe der Ideologie; so die Idee, der Mythos verwandle beständig Geschichte in Natur und stünde als »entpolitisierte Rede« einer Rede entgegen, die »politisch bleibt« (ebd.: 299) und die Dinge der Natur dem Handeln der Menschen zuführt. In gewisser Weise, und darauf weist bereits das in der Rückschau geschriebene Vorwort Barthes von 1970 hin, stehen die Mythen des Alltags auf der Schwelle zwischen Barthes intellektuellen Anfängen in der marxistischen Bewegungen und dem damit verbundenen Begriff von Ideologie einerseits und seiner späteren Entwicklung, die sich vor allem durch die Ausarbeitung seiner Semiologie auszeichnet, in der an die Stelle der Kritik die »Befreiung des Signifikanten« (ebd.: 9) tritt. Das Verhältnis zwischen Barthes‘ Begriff des Mythos und dem Begriff der Ideologie weiter zu verfolgen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Es lohnt sich vor dem Hintergrund des bereits dargestellten jedoch noch einmal, den Blick auf den spezifischen Gegenstandsbereich Barthes zu richten: den Alltag. Bekanntermaßen trug das französische Original das Wort »Alltag« gar nicht im Titel, sondern es hieß schlicht Mythologies. Und dennoch legt die deutsche Überschrift von den Mythen des Alltags etwas offen, das charakteristisch für Barthes gesamtes Werk ist, nämlich die Gegenstände und Handlungen des Alltags als legitimes Material der Analyse zu begreifen, ja ihnen eine geradezu privilegierte Stellung für das Verständnis einer Epoche beizumessen (Sheringham 2006: 175). Damit steht Barthes nicht allein, sondern er ist Teil eines umfangreichen, ideengeschichtlichen Ensembles von Theorien über das Alltagsleben, eine Formation, die die Philosophie ebenso umfasst wie die Soziologie und die Literatur. Verbunden ist diese Tradition neben Roland Barthes mit Namen wie Henri Lefebvre, Jean Baudrillard und Georges Perec, sie reicht zurück bis zum Surrealismus und dessen späten Erben, den Situationisten und schlägt sich auch im Kino des poetischen Realismus oder der Nouvelle Vague nieder (Sheringham 2006). Das Automobil sowie die damit verbundenen Ideologeme der Geschwindigkeit, der Bewegung und der Technologie spielten in diesem Kontext, so Kristin Ross (1995) in ihrer Studie Fast Cars, Clean Bodies, eine zentrale Rolle und zwar nicht zufällig in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Rückkehr zur Normalität – zum Alltag – allgemeines gesellschaftliches Interesse war. Am Auto vollzieht sich dabei eine dem Alltag eigene Dialektik von Standardisierung und Distinktion: Es wurde genau dann zum auratisch aufgeladenen Gegenstand als es für breite Bevölkerungsschichte verfügbar wurde. Aufmerksam registrierte dies vor allem der französische Film: Jacques Tatis

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Trafic (1971) dreht sich fast ausschließlich um die stellenweise groteske Inszenierung von Neuwagen auf Automessen sowie noch die kleinsten Details im Massenverkehr; und in Jean-Luc Godards Week End (1967) wird bürgerliche Ideologie vor allem darüber inszeniert, dass sich die Figuren des Establishments ständig um Autos streiten, zu denen sie zugleich eine engere Beziehung haben als zu ihren Mitmenschen, ganz zu schweigen von der berühmten achtminütigen Unfallszene, in denen gleichsam die Geschichte als eine Aneinanderreihung von Autounfällen ins Skurrile gezogen wird. Dabei sind es vor allem – wie in der eingangs zitierten Passage von Silvia Bovenschen – amerikanische Autos, die in die Mythologisierung eingehen und den Alltag gleichsam verdoppeln. Aus der Allgemeinheit des Alltags wird die Singularität des spezifischen Gegenstands wieder herausgelöst: »[J]ust at the very moment that the car in France is poised to become commonplace, an object of mass consumption, the cinema helps produce a myth or ideology of the car’s auratic singularity. In many of these early films American cars help reinforce the idea of singularity in fact, the most effective way to indicate an ›object from another planet‹, the effect of intrusion, is to use a foreign, preferably American, car.« (Ross 1995: 33)

Darin liegt nicht nur eine ideologische Verklärung des Standardisierten, sondern auch eine Kultivierung des von der Banalität des Alltags verdeckten Besonderen. Entsprechend scheint sich Barthes Unwillen, gegenüber dem Automobil im rein Denunziatorischen zu verbleiben, der Überzeugung zu verdanken, dass dem Alltäglichen nicht nur eine verklärende, zu Apathie und Routine verleitende Funktion zukommt, sondern es sich auch um einen Möglichkeitsbereich des politischen Handelns handelt. Eindrücklich nachvollziehen lässt sich dies in dem bereits erwähnten Kapitel über Paris, das in der Auswahl der deutschen Erstausgabe fehlte. In dem Denkbild wird nicht nur in verdichteter Form Barthes außerordentliche Sensibilität für alltägliche Phänomene deutlich, sondern das Alltägliche und seine Veränderungen werden auch selbst zum Thema. Ausgangspunkt der Betrachtung ist das Hochwasser der Seine im Januar 1955. Auch hier bezieht sich Barthes ausdrücklich auf eine bereits bestehende semiologische Ebene, eine Instanz, die den Mythos, den er beschreibt und entziffert, hervorbringt: »[I]ch spreche von den Photos in der Presse, dem einzigen Medium, mittels dessen die Überschwemmung wirklich kollektiv konsumiert wird« (Barthes 2010: 78). Die Fluchtlinie der Ausführungen ist der Gedanke, dass, anders als beispielsweise 1910 und 1924, die Überschwemmung dieses Mal eher den Charakter »von einem Fest als von einer Katastrophe« gehabt habe:

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»Zunächst hat sie manchen Gegenständen ein Gefühl der Fremdheit verliehen, die Wahrnehmung der Welt aufgefrischt, indem sie ungewöhnliche und trotzdem erklärliche Punkte in die Welt brachte: Man sah Autos, von denen nichts blieb als ihr Dach, verkürzte Straßenlaternen, deren Kopf allein wie eine Seerose aus dem Wasser ragte, Häuser wie Spielzeugklötzchen zerlegt, eine Katze, die tagelang auf einem Baum festsaß. All diese alltäglichen Gegenstände erschienen plötzlich von ihren Wurzeln getrennt, der Erde als ihrer eigentlichen, vernunftgemäßen Substanz beraubt.« (Ebd.: 77)

Was Barthes hier beschreibt, ist zunächst ein gewisser Verfremdungseffekt, in dem das alltäglich Vertraute sich verändert und – gleich einem kubistischem Gemälde – zerlegt wird, ohne dabei aber vollkommen unerkennbar zu werden. Auch hier begegnet wieder Barthes Faszination nicht nur für das – nur noch am Dach erkennbare – Auto, sondern für naturhaft erscheinende Formen, in diesem Fall bezüglich der ausgreifende, glatten Wasseroberfläche, die die von dem umgebenden Ufer abgehobene Flußform und damit das gewohnte Bild der Stadtlandschaft – ihre »geometrische Stabilität« (ebd.) – aufhebt. Das Bild von über die Ufer tretenden Gewässern, so Barthes weiter, sei Teil eines weit hinter die Moderne zurückreichenden »Mythos des Gleitens« (ebd.: 78), der sich gleichsam über den »Raum als Nebeneinander von Funktionen« (ebd.: 78) legt. Statt als Katastrophe deutet Barthes den durch Hochwasser eingetretenen »Riß im Alltäglichen« als »Einfallstor für das Fest« (ebd.: 77), also die temporärer Enthebung aus der Gewohnheit, die das euphorische Gefühl einer möglichen Erneuerung, ja überhaupt das Bewusstsein der Veränderbarkeit erst hervorrufen. Während die Passage einerseits belegt, inwiefern Barthes dem Mythos – in diesem Fall der mythologischen Inszenierung der Überschwemmung – auch eine mobilisierende, positive Funktion zumisst, wird zugleich deutlich, dass es sich bei der Welt, die beschrieben wird, offensichtlich um eine hochgradig medialisierte, semiologisch – durch Zeichen – überfrachtete handelt. Sie ist es, so ließe sich sagen, die die semiologische Methode – verstanden als ein Ins-Verhältnis-Setzen von Zeichen statt einem hermeneutischen Dechiffrieren –, die Barthes Ideologiebegriff unterliegt, herbeiruft. Allerdings – das zeigen vor allem die Ausführungen zum Citroën DS 19 – geht die Analyse nicht in der bloßen Registratur von Zeichen auf. In gewisser Weise überlässt sich Barthes dem Automobil als materiellem, haptisch erfahrbaren Gegenstand viel mehr als dass er es lediglich in einem ideologischen Kontext platziert. Freilich geschieht auch das: Mit Barthes lässt sich der DS als warenförmige Materialisierung des mit der Massenproduktion verbundenen kleinbürgerlichen Aufstiegsversprechens deuten. Obgleich

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diese Deutung bei Barthes noch auf einer marxistischen Sensibilität beruht, treten klassische Momente der Ideologiekritik doch insgesamt zurück. Sie verschwinden, so ließe sich spekulativ sagen, wie in der von medialen Zeichen und warenförmigen Glücksversprechen überladenen Konsumsphäre des Frankreichs der 1950er Jahre die Widersprüche der Ökonomie und ihre Klassenkonflikte überblendet werden.

»Ich knurre, obwohl ich nie knurre«: Das Automobil in der Spätmoderne Barthes hat die Einführung des DS 19 und seine ästhetisch-technische Heranführung an den alltäglichen Bereich des Menschen – kurz: die Humanisierung des Automobils – als »Wendepunkt in der Mythologie des Automobils« (Barthes 2010: 197) bezeichnet. Mit der Inszenierung des Autos als übernatürliches, hochästhetisches Zauberobjekt statt als maschinisierte Bestie, begann für Barthes eine neue Zeit, deren Konturen er gleichwohl nur erahnen konnte. Nicht nur liegen zwischen seiner Beobachtung und unserer Gegenwart 65 Jahre; in Deutschland befindet sich das Auto zudem in einem ideologischen Kraftfeld ganz anderer Art. Mehr noch als in anderen Ländern ist das Automobil in Deutschland das Sinnbild eines verstockt-kleinbürgerlichen Freiheitsverständnisses. Als die Band Kraftwerk 1974 »Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn« sangen, war das zugleich Ausdruck von Technikbegeisterung, die Kraftwerk auch in ihrem Sound verarbeiteten, wie ironischer Kommentar auf eine deutsche Volksseele, die sich ein Jahr zuvor, als es aufgrund der Ölkrise erstmals Fahrverbote gegeben hatte, in eine tiefe Krise gestürzt sah. Autofreie Sonntage, streckenweise Begrenzung auf Tempo 100 sowie die 1976 unter großem Protest eingeführte Anschnallpflicht, all dies galt einem beträchtlichen Teil der Bundesrepublik als nicht hinzunehmende Einschnitte in das Recht auf »Freie Fahrt für freie Bürger«, wie der Slogan des ADAC damals laute. Wie aber lässt sich das ideologische und politisch-ökonomische Feld, in dem sich das Automobil heute befindet, beschreiben? Wir fahren eine dunkle Straße in einer anonymen, menschenleeren Vorstadt entlang, über uns Stromleitung und Autobahnbrücken. In kurzen Einblendungen dazwischen erkennen wir schnell das mutmaßliche Fahrersubjekt: Ein bärtiger junger Mann, offenbar ein Fotograf, dessen Spezialität

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Aufnahmen von Extremsportlern in der Natur sind, zu sehen sind Downhill-Fahrer, Kletterer etc. Früh am Morgen beginnt er, seine Tasche zu packen, alles ist begleitet von einer zunächst ruhigen, sich dann aber steigernden, orchestral unterlegten Klaviermusik. Szenen, in denen er sich seinem Auto nähert, mit dem Fuß den Kofferraum öffnet und seine Taschen verstaut, gehen über in Nahaufnahmen des Wagens, dann wieder aufgewirbeltem Dreck, der in die Kamera spritzt, weitwinklige Bilder von strahlenden Seen und mächtigen Bergketten. Touchscreens am Armaturenbrett werden bedient, die die Verknüpfung mit verschiedenen Smartphones suggerieren, auch der Kollege macht sich bei Tagesanbruch auf den Weg, um von dem Fotografen abgeholt zu werden. Sodann sehen wir die beiden Männer im Freien, unterbrochen von Bildern, in denen das Auto geradezu durch die Landschaft gleitet. Mountain-Bikes werden den Berg hochgetragen, waghalsige Sprünge gemacht, während dazwischen immer wieder Bilder des Autos – entweder durch über ihm schwebende Luftaufnahmen oder Close-ups aus dem Innenraum – eingeblendet werden. In die Oberfläche eingelassene, sensible Knöpfe werden gedrückt, mehrfarbige Bedienfelder leuchten; am Ende zeigt sich, dass das Auto sogar fast von selbst fahren kann, während die Hand in einer fast schon zärtlichen Geste, nicht steuernd, sondern lediglich prüfend am Lenkrad liegt. Wir werden durch den Tag geführt, ein FotoShoot nach dem anderen, dazwischen die energetisierten, euphorischen Männer, immer wieder werden die den Berg hinabrasenden Mountain-Bikes mit dem durch die Landschaft jagenden Wagen optisch analogisiert. Am Ende fährt das Auto einer Bergkette entgegen, wir sind inzwischen so weit von ihm entfernt, dass es kaum noch zu erkennen ist. Mit diesem Spot bewarb BMW 2017 die dritte Generation seines SUV-Modells, den X3. Mit 4,716 Metern war das Modell wieder ein wenig größer als der Vorgänger, auch der charakteristische BMW-Grill – die in einer biologisierenden Metaphorik sogenannte Niere – war noch einmal gewachsen und förderte den Eindruck eines riesigen Rachens an der Front des Wagens. Auch die Karosserie erinnert eher an weichgezogene, aber dennoch definierte Muskeln, die im Verbund mit der gesichtsähnlichen Front etwas durchaus Bedrohliches vermitteln. Gleichsam als Affirmation der herausgehobenen Stellung des Fahrers ist die Mittelkonsole einzig der Fahrerseite zugewandt. Raffiniert verbauter Stauraum, den der Werbespot durch das reichliche Gepäck noch einmal betont, in die Flächen eingelassene Druckknöpfe und robuste Ledersitze suggerieren Modernität, Effektivität und die hermetische Professionalität eines Büros. Der Werbespot jedoch

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setzt vor allem auf die Neutralisierung von Mühe, Arbeit und Anstrengung. Nicht zufällig wird mit dem Protagonisten ein Extremsport-Fotograf gewählt: Lohnarbeit ist keine Mühe, keine Pflicht, sondern eher bezahltes Hobby und Berufung. Die interaktive und digitale Vernetzung suggeriert die einfache Benutzung, wie der Kofferraum, der sich mit dem Fuß öffnen lässt. Beim Autoschlüssel handelt es sich weniger um einen klassischen Schlüssel, sondern um ein digitales Steuergerät im Handyformat, genannt Displayschlüssel. Die sanfte Taktilität von Smartphones bestimmt auch den Innenraum des Wagens; Ecken und Kanten, herausgehobene Schalter wurden – wie einst bei der DS 19, vermieden. Imitiert diese Formsprache einerseits gewissermaßen die Fugen- und Nahtlosigkeit der Natur, wird der Wagen andererseits als effektives Mittel der Naturbeherrschung inszeniert. Die Stadt – in der sich die Größe von SUVs durchaus zum Nachteil auswachsen kann, beispielsweise bei der Parkplatzsuche – ist wiederum nur als etwas präsent, dem man entflieht. Dem Terrain der Berge, sei es diesseits oder jenseits der Straßen, ist der X3 ebenso gewachsen wie die beigestellten Mountainbiker. Hier – so die Suggestion – handelt es sich um ein Auto für die Extreme, ohne jedoch deren Gefahr zu erliegen: eine paradoxe Message von Sicherheit und Risiko. Und schließlich wirbt der Spot mit dem in den Begriff des Automobils eingelassenen Versprechen der autonomen Bewegung; während andere Kennzeichen des Wagens bildlich begründet werden – Stauraum für großes Gepäck, digitale Vernetzung zur leichteren Koordination – bleibt die Eigenschaft des autonomen Fahrens unerklärt. Wir sehen weder, warum der Autopilot genutzt werden soll – beispielsweise um in die Landschaft, statt auf die Straße zu schauen oder um sich mit dem Beifahrer zu unterhalten –, noch traut sich die Werbung, das autonome Fahren verbindlich zu versprechen. Immer noch muss die Hand leicht am Lenkrad gelassen werden, eine Handlung, die deutlich komplexer wirkt als das eingeübte Steuern eines Autos. Es handelt sich, mit anderen Worten, um die von Zwecken freie Suggestion von Fortschritt und Modernität – der Autopilot existiert, weil er existieren kann. Fragt man nach dem ökonomischen, politischen und ideologischen Kräftefeld, in dem sich das Automobil zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet und dessen Ausdruck es zugleich ist, zeigt sich ein eigentümliches Bild. Zwar sind, nimmt man beispielsweise den Zeitraum zwischen 2010 und 2017, die Nutzung von Eisenbahn und Flugzeug prozentual am meisten gestiegen. Trotzdem ist, in absoluten Kilometern und mit großem Abstand, immer noch der PKW das meist genutzte Fortbewegungsmittel (Bundesmi-

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nisterium für Verkehr 2018: 218f.). Seit das Kraftfahrtbundesamt SUVs offiziell in seine Statistiken aufgenommen hat, lässt sich ein deutlicher Anstieg der Käufe verzeichnen. 21,1 Prozent aller Neuzulassungen des Jahres 2019 entfielen auf die SUV-Klasse, die zudem den deutlichsten Zuwachs hatte (Kraftfahrtbundesamt 2020); erst die mit dem Corona-Virus entstandene Krise konnte diesen Trend stoppen, wenngleich deren mittelfristige Auswirkungen im Bereich der Mobilität derzeit noch nicht abzusehen sind. Besonders verbreitet waren SUVs bis 2018 vor allem in den ostdeutschen Ländern; unter den Berufsgruppen hatten Landwirte und pensionierte Beamte mit jeweils gut 19 Prozent den höchsten Anteil, gefolgt von Freiberuflern, Selbstständigen und Rentnern (Külahci 2018). Zugleich scheint das Automobil seine Aura des Modernen immer hyperbolischer und krampfhafter evozieren müssen; denn inzwischen haftet ihm zuweilen die Aura des Unzeitgemäßen an, mithin des Bedrohlichen, ganz so als handele es sich um das Symbol jener vor allem ökologischen Gestehungskosten der Modernisierung. Anders gesagt, kaum ein anderer Alltagsgegenstand verkörpert noch derart das industrielle Zeitalter in der postindustriellen Gesellschaft wie das Automobil. Tatsächlich scheinen es derzeit vor allem zwei Konfliktlinien zu sein, die durch das Auto hindurch gehen: Die ökologische und die soziale Frage. Wie in einem Brennglas verdichtete sich dies in den Protesten der Gelbwesten 2018 gegen die geplante höhere Besteuerung von fossilen Brennstoffen, unter anderem Diesel. Galt einer akademischen Mittelklasse dies anfänglich als kleinbürgerlicher Ausweis fehlenden ökologischen Bewusstseins, wurde die Nutzung des PKW für die vornehmlich ländliche Bevölkerung in Frankreich zu nicht weniger als dem Kristallisationspunkt der sozialen Frage. Inzwischen wird versucht, teils durch staatliche Kaufanreize, dem Kauf von Automobilen eine ökologische Wende zu geben. So rief die Bundesregierung im Juli 2016 eine – sogar rückwirkende – Kaufprämie für Elektroautos aus, um die damals rund 25.000 Elektroautos auf eine Million im Jahr 2020 zu bringen (Häntzschel 2016); zwar stiegen die Zulassungszahlen, der Marktanteil insgesamt belief sich allerdings weiter bei rund 1,8 Prozent (Wilkens 2020). Als Gründe, warum trotz leicht steigender Käufe von Elektroautos und Hybriden der immer wieder angekündigte Durchbruch sich bisher nicht eingestellt hat, werden neben einer generellen Skepsis gegenüber Elektroautos und den vergleichsweise hohen Preisen immer wieder infrastrukturelle (es fehlt an Ladestationen) und technologische (es fehlt an Reichweite) Faktoren genannt. Dass Elon Musks Firma Tesla versucht, beides ökonomisch zu vereinen – die

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Fahrzeugherstellung und die Bereitstellung einer Infrastruktur –, ist dahingehend nur folgerichtig. Vor dem Hintergrund, dass die SUVs gemeinhin als das unökologischste Fortbewegungsmittel gelten – tatsächlich ist der Treibstoffverbrauch aufgrund des zuweilen doppelt so hohen Gewichts deutlich höher als bei Kleinwagen –, eine Kritik, die den Trend von Beginn an begleitet hat, worin besteht der Reiz der oft als »panzerähnlich« paraphrasierten, wuchtigen Boliden, deren Design eher an den Geländewagen als den klassischen PKW erinnert? Was verursacht den Siegeszug jener »Automarken mit Erlebnisqualität« (Reckwitz 2019: 116), die Wagen produzieren, deren Praktikabilität für den Straßenverkehr in Städten durchaus bezweifelt werden kann? Es scheint, als handele sich in erster Linie um die Verknüpfung zweier ideologischer Momente oder Versprechen, die sich im SUV materialisieren: Autonomie und Sicherheit – und zwar nicht zufällig in einer Zeit, in der beide immer fragwürdiger und in Teilen von der Modernisierung des Automobils selbst untergraben werden. Das Versprechen nach Autonomie kommt dabei zunächst in dem immer wiederkehrenden Motiv der Flucht aus der Stadt zum Ausdruck. Kaum ein Werbespot, in dem SUVs nicht in Off-Road-Szenen gezeigt werden, wobei anzunehmen ist, dass gerade diese Erlebnisse realiter eher die Ausnahme der Fahrpraxis darstellen. Die Natur wird darin einerseits als Gegenteil des urbanen Raums dargestellt, andererseits als etwas, das sich mithilfe des wuchtigen Gefährts bezwingen lässt. Zugleich hält die Natur – und darin liegt eine Parallele zur Analyse Barthes‘ – Einzug in das Design. Während beim klassischen Geländewagen die maschinelle Funktionalität noch deutlich sichtbar ist – höhergelegte Karosserie zur Bewältigung holperiger Straßen, widerstandsfähige, große Reifen, kombinierte Kastensysteme statt runder Formen – harmonisiert das SUV-Design diese zunehmend willkürlich applizierte Funktionalität. Stellvertretend für diesen Trend können sind die »Muskeln«, die neuere Fahrzeugdesigns immer wieder aufweisen: rundliche, konvex oder konkave Partien, die dem Auto den scheinbar natürlichen Look eines definierten Körpers verleihen. Autonomie verspricht auch der ausgreifende und zunehmend digital vernetzte Innenraum des Wagens, der sich einem geräumigen Zimmer statt einer Fahrzelle annähert. Eine paradoxe Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Autopilot und das Versprechen des autonomen Fahrens – handelt es sich hierbei doch um eine Autonomie des Fahrzeugs, nicht des Fahrers. Schon das Navigationsgerät lässt sich als Element einer schleichenden Entmachtung der Fahrerin deu-

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ten; es steuert den Blick, unterläuft Spontaneität und steht im Zeichen der Rationalisierung des Fahrens. Auch die inzwischen von verschiedenen Versicherungen angebotenen Telematik-Tarife, in denen sich die Beitragszahlung nach dem Schadensrisiko der Fahrpraxis bemisst – bspw. dem Einhalten von Geschwindigkeitsbegrenzungen – und die mit einer sanktionierten und erforderlichen Überwachung und Aufzeichnung einhergehen, lassen sich in dieser Hinsicht verstehen. Journalistisch inszeniert diesen Verlust von Kontrolle bei gleichzeitigem Versprechen absoluter Unabhängigkeit ein feuilletonistischer Selbstversuch von Jan Stremmel: »Nach zwei Tagen hat der Wagen gewonnen. Ich zimmere die A9 runter, linke Spur, da schert ein silberner Kombi vor mir ein. In den Rückspiegel gucke ich zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Wer 225 Kilometer pro Stunde fährt, muss nicht mit vielen Überraschungen von hinten rechnen. Aber vor mir mit 150 in die Überholspur ziehen? Ich knurre, obwohl ich nie knurre. Ich ziehe den Hebel für die Lichthupe, obwohl ich nie die Lichthupe betätige. Ich bin ein rücksichtsloser Arsch. Das Auto hat gesiegt.« (Stremmel 2015)

Nicht unähnlich dem von Melanie Klein mit Blick auf die psychische Entwicklung beschrieben Prozess der »projektiven Identifikation«, in dem ein äußeres Objekt zum »Ausläufer des Selbst«4 (Klein 1960: 291) wird – Projektion nicht auf ein Objekt, sondern in ein Objekt –, beschreibt Stremmel hier eine eigentümliche Verschmelzung mit dem Wagen, wobei die Kontrolle über Selbst ausgelagert erscheint. Zwar steht auf einem anderen Blatt, inwiefern aus dem Subjekt der Verführungsgewalt des Wagens etwas entgegenkommen muss, um sie zu realisieren – fraglich also, ob Jan Stremmel »niemals knurrt« –, unbestreitbar ist dennoch, dass dieses Gefühl von Kontrolle seine Wirkmächtigkeit aus dem Gefühl von maschineller Leistung und Sicherheit zugleich bezieht. Sicherheit verspricht vor allem das wuchtige Design, das im Falle eines Unfalls das Risiko für den SUV-Fahrer, verletzt zu werden, tatsächlich vermindert. Als materialisierte Wagenburg – nicht zufällig wählt Cornelia Koppetsch diese Metapher für das gegenwärtige Bewusstsein der bedrohten Mittelklasse (Koppetsch 2013: 172) – vermittelt der SUV damit ein Moment der Kontrolle, das vor dem Hintergrund spätmoderner Flexibilisierung und Prekarisierung gemeinhin als immer geringer eingeschätzt wird. Über die anderen Verkehrsteilnehmer herausgehoben,

—————— 4 Auch wenn Klein diesen Prozess mit Blick auf das Kleinkind beschreibt, geht sie doch durchaus davon aus, dass sich diese Prozesse – konkret das Pendeln zwischen paranoid-schizoider und depressiver Position – ein Leben lang vollziehen, weswegen es nicht unangebracht ist, diesen Vergleich zu ziehen.

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von der massiven Karosserie geschützt, thront der Fahrer eines SUV in seinem Kleinpalast; er ist unter anderen, aber zurückgezogen und abgeschottet, abgegrenzt nicht von ›denen da oben‹, sondern von ›denen da unten‹. Entsprechend ist die Debatte, die sich im Spätsommer 2019 nach dem tödlichen, durch einen SUV verursachten Unfall in Berlin entfachte, auch als Reaktion auf ein ungleich verteiltes Moment der Sicherheit zu verstehen, verbunden mit immer wieder vorgebrachten ökologischen Argumenten gegen die SUV. Nicht, dass das Bedürfnis nach Sicherheit nicht nachzuvollziehen wäre. Die stellenweise Verwilderung und Verrohung des Straßenverkehrs in Großstädten und immer kürzere Geduldsfäden bei allen Beteiligten – wofür sich im Internet unter der Genrebezeichnung road rage reichlich Belege finden – machen den Wunsch nach einer sicheren Fahrgastzelle durchaus verständlich. Allerdings: Nachweisen lässt sich ein höheres Unfallrisiko für Fußgänger bei SUVs nicht (Hombach 2019) – ausschlaggebend ist letztlich die Geschwindigkeit, nicht die Wagengröße –, wenngleich SUVs beim Aufprall auf einen kleineren PKW nachvollziehbarerweise tendenziell weniger Schäden davontragen als verursachen. Somit ist zu vermuten, dass es bei dem spontanen wie kurzlebigen Ausbruch an Ressentiment gegen die »Klimakiller« und die »tödliche Gefahr« 2019 um mehr ging als die vorgebliche Sorge über Klima und körperliche Unversehrtheit. Nicht zufällig entzündete sich die Debatte in der Großstadt Berlin, wo das ökologische Bewusstsein zum Distinktionsmerkmal der »neuen Mittelklasse« (Reckwitz 2019: 274) gehört, die ihr Selbstverständnis aus der nicht zuletzt ökologisch bestimmten kulturellen Singularisierung ihrer spezifischen Lebensform bezieht (bspw. dem Kauf von Bioprodukten und nachhaltig produzierten Waren); dass auch SUVs inzwischen serienmäßig mit Hybridantrieben produziert werden, reagiert auf dieses Bewusstsein. Das Feindbild des SUV erlaubt die Konkretisierung einer paradoxen Bedrohung: Paradox deswegen, weil ihr einerseits ein globales Ausmaß und eine Unabänderlichkeit zugeschrieben wird, während andererseits suggeriert wird, kleine Alltagshandlungen – wie Mülltrennung oder ökologisch bewusster Konsum – könnten den Klimawandeln aufhalten. Doch im Kern scheint es sich vor allem um eine projektive Abwehr des mit dem SUVs assoziierten Sicherheitsbedürfnisses zu handeln, der gleichsam maschinellen Abschottung und Überhöhung der allgemein verachteten SUV-Fahrer zu handeln. Negativ berühren sich an dieser Stelle die Kritiker und die SUV-Fahrer. Denn es ist davon auszugehen, dass das Versprechen der Sicherheit nicht auf eine tatsächlich höhere Gefahrenlage im Straßenverkehr

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reagiert, sondern vermittels einer phänomenologischen Verschiebung soziale Unsicherheit zu kompensieren versucht, die sich allerorten – vor allem im Nachgang der Finanzkrise 2008 – verbreitet hat. Vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen, zur Konkretion drängenden Gefahr des sozialen Abstiegs, suggeriert der SUV Selbstbewusstsein und Sicherheit, eine Suggestion, die paradoxerweise vor allem von denjenigen angenommen wird, die tendenziell nicht zu den am härtesten Betroffenen ökonomischer Verwerfungen zählen. Eine absolutes Ende des SUV-Trends ist derzeit freilich nicht abzusehen, auch wenn die mit dem Covid-19-Virus eingetretene Krise zu einem starken Rückgang der Kaufzahlen geführt hat – und zwar vielleicht auch deswegen, weil der enge Raum, den das Automobil bietet, ebenso wie die eigene Wohnung, dessen Verlängerung es darstellt, das Versprechen der Sicherheit nur für den Einzelnen, allerhöchstens noch die sogenannten »Nahpersonen« einlösen kann; tritt der oder die Fremde ein, wird auch das Auto zum Ort der Gefahr. Weil aber zugleich der öffentliche Nahverkehr, also dort wo sich Menschen in einer Masse der Vereinzelten begegnen, als nicht minder großer Risikofaktor evoziert wurde, ist nicht unvorstellbar, dass das Auto mittelfristig wieder eine Stellung zukommt, die es angesichts des immer hegemonialer werdenden Klimabewusstseins gerade dabei war, schrittweise einzubüßen. Am Automobil lässt sich darüber hinaus ablesen, dass ein lediglich auf die Sphäre der Ideen und des Bewusstseins abzielender Ideologiebegriff dort scheitert, wo er versucht, die Sphäre des Alltags zu begreifen, die nicht zuletzt eine Sphäre der Dinge und der Praktiken ist. Um auch aus dem vermeintlich nebensächlichen, banalen Ding des Alltags das Ganze der Gesellschaft samt ihren ideologischen Konstellationen zu entfalten, braucht es ein Denken, das sich weder bloß auf Begriffe und Ideen noch rein deskriptiv auf die Gegenstände verbleibt. Während Gorz das Automobil unvermittelt in eine marxistisch grundierte Theorie der Interessen und Klassen einfügt und damit Entscheidendes am Automobil verfehlt, überlässt sich Barthes zunächst dem Objekt und nimmt es als formenden und geformten Gegenstand ernst, ohne dabei vollständig auf Deutungen marxistischer Provenienz zu verzichten. Dass diese dennoch tendenziell in den Hintergrund treten, mag nicht nur mit der Eigenlogik der semiologischen Methode zu tun haben, sondern ließe sich auch als unbewusste Reflexion realer gesellschaftlicher Verhältnisse im Frankreich der Nachkriegszeit, nämlich der Neutralisierung des Klassenkonflikts, deuten. Dass gerade in jener Zeit in Frankreich, wofür

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nicht zuletzt Roland Barthes frühes Werk sowie die Schriften von Henri Lefebvre und anderen stehen, eine Tradition des Denkens und der Kritik des Alltags entstand, ist insofern nur folgerichtig.

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(Rechts-)Populismus als Ideologie? Überlegungen zu einem wiederkehrenden Strukturdefekt der Demokratie Oliver Hidalgo

1. Populismus als ›normales‹ Phänomen der Demokratie? Der Begriff Populismus trägt seine Affinität zur Ideologie im Grunde bereits etymologisch zur Schau. Jedenfalls drückt das Suffix »-ismus« in diesem Fall keine Art der Derivation aus, der eine neutrale Bedeutung innewohnen würde, sondern eine Geisteshaltung, die üblicherweise mit einem grundlegenden, verallgemeinernden Charakter des ›Volkswillens‹ beziehungsweise der ›Volksherrschaft‹ assoziiert wird – bis hin zur Kennzeichnung von deren dogmatischen Entartungsformen. Dass der Populismus ideologische Züge besitzt und im Prinzip eine (positive oder negative) ›Übersteigerung‹ oder auch ›Übertreibung‹ der Demokratie etikettiert, kann demzufolge als weitgehend unstrittig gelten. Gleichwohl ist die Auffassung des Populismus als Ideologie keineswegs selbstevident oder unproblematisch. Zwei Hauptgründe sind hierfür zu nennen. Zum einen ist der Populismus offenkundig an keinen konkreten ideologischen Inhalt gebunden, sondern es lassen sich letztlich alle Positionen im Spektrum der politischen Auseinandersetzung auf eine ›populistische‹ Weise vertreten oder forcieren. Im Gegensatz zu anderen politischen Akteuren, die (wie zum Beispiel Kommunisten, Liberalisten, Sozialisten, Anarchisten, Militaristen etc.) mit einem bestimmten »-ismus« in direkter Verbindung stehen, bezeichnen Populisten daher kein Kollektiv, das einer bestimmten Ideologie notwendig anhängt, sondern das sich im Gegenteil eher durch die (programmatische) Flexibilität auszeichnet, politische Inhalte je nach Opportunitätsgesichtspunkten zu lancieren und/oder zu variieren. Damit verbunden ist zum anderen, dass bis auf Weiteres unklar bleibt, worin eigentlich der Unterschied zwischen einer ›demokratischen‹ und einer ›populistischen‹ Agenda oder Haltung besteht. Signifikante Schnittmengen scheinen diesbezüglich unvermeidlich und erschweren es im Umkehrschluss, den Populismus als Form der Ideologie von der Volksherrschaft

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beziehungsweise den im Rahmen der Demokratie legitim repräsentierten Meinungen und Positionen abzuheben. Gegen eine kategoriale Trennlinie zwischen Populismus und Demokratie spricht wiederum schon der jeweilige Wortstamm, der sowohl im Hinblick auf das lateinische »populus« als auch das griechische »Demos« nichts anderes als die Gesamtheit der Bürger, das heißt das zu einem abstrakten politischen Körper zusammengefasste ›Volk‹ zu bezeichnen beansprucht. Ob und gegebenenfalls wie sich in diesem Zusammenhang die populistische von einer demokratischen Berücksichtigung des ›Volkswillens‹ differenzieren lässt, bedeutet daher eine erhebliche theoretische Herausforderung. Letztere wäre mitnichten dadurch einzulösen, den Populismus als Ideologie und die Demokratie als ideologieferne Weise der rationalen Entscheidungsfindung auszumachen. Wie nah die Dinge vielmehr beieinander liegen, lässt sich allein daran ermessen, wie leicht einschlägige Definitionsversuche zum Scheitern verurteilt sind. Insbesondere der gängige, vielfach beschworene Elite-Volk-Antagonismus (Manow 2019: 26ff.) scheint für sich genommen kaum geeignet, ein Alleinstellungsmerkmal des Populismus zu identifizieren,1 ist die Demokratie doch keineswegs abseits einer Elitenherrschaft zu denken und würde eine gegenteilige Auffassung lediglich Zweifel an ihrer Realisierbarkeit säen (Zolo 1998). Auch das Bemühen, dem Populismus im Gegensatz zur Demokratie eine prinzipielle Nähe zum politischen Extremismus zu attestieren (so zum Beispiel Schieren/Diewald-Kerkmann 2014; Brömmel u.a. 2017; Finchelstein 2017), darf nicht verkennen, dass das mögliche Umschlagen der Volksherrschaft in eine tyrannische Diktatur bereits in den frühesten demokratiekritischen Überlieferungen von Pseudo-Xenophon2 und Platon3 thematisiert wurde und mithin einen inneren Selbstzerstörungsmechanismus bezeichnet, der jeder Demokratie unvermeidlich inhärent ist.4 Und wenngleich für die Praxis zuzugeben ist, dass – wie beispielsweise in der Weimarer Republik – populistisch-demagogische Prozesse die extremistische Zerstörung einer demokratischen Verfassung nicht selten vorbereiten, indem sie den bis dato rechtsstaatlich geschützten Pluralismus aufkündigen,

—————— 1 Hierzu bereits Müller (2016). 2 Siehe hierfür den im Nachlass Xenophons entdeckten Traktat Athenaion Politeia. 3 Siehe Politeia 563e–567d. 4 Derrida (2006: 55) verweist entsprechend auf den suizidären Grundcharakter der Demokratie, deren »selbstmörderische Autoimmunreaktion« sich vor allem im Zuge der formell demokratischen Machtübernahmen des faschistischen Totalitarismus in Europa während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offenbart habe.

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ist der Populismus als vorrangiger Politikstil charismatischer Volkstribunen, die sich medienwirksam zu inszenieren und vor allem Krisensituationen für sich zu nutzen wissen, mit einem Extremismus – verstanden als Antithese zum demokratischen Verfassungsstaat – keineswegs kongruent (Jesse/ Panreck 2017). Stattdessen ist aufmerksam zu registrieren, wie populistische Agitationen meist ihrerseits auf demokratische Errungenschaften wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Parteienvielfalt und Wahlentscheidungen angewiesen sind und sich deswegen nicht selten offensiv zur Demokratie bekennen. Auch weitere Beschreibungen und Interpretationen populistischer Phänomene, Akteure und Kommunikationsweisen sind eher dazu geeignet, die vorhandene Nähe zur Demokratie zu unterstreichen als letztere in Zweifel zu ziehen. Wenn zum Beispiel Florian Hartleb (2011: 19) den Populismus als Mobilisierungsstrategie deutet, mit der bis dato politisch Desinteressierte gewonnen werden können und sollen, dann beinhaltet dies ebenso einen vergleichsweise ›normalen‹ Vorgang im Rahmen der demokratischen Auseinandersetzung wie die Identifikation eines populistischen Politikstils, der »personalisierend und auf Selbstinszenierung des charismatischen Parteiführers im Spiel mit der Mediendemokratie sowie auf populäres Agenda Setting ausgerichtet« ist (Frölich-Steffen/Rensmann 2005: 11). Jene Überlappung von populistischen und demokratischen Kommunikationsformen bestätigt nicht zufällig die klassischen Analysen aus der Ideengeschichte, die wie Alexis de Tocqueville (1984: 63ff., 198ff., 206ff., 225ff., 284ff.) den Prinzipen der Volkssouveränität, des pluralen Parteienwesens, der Pressefreiheit, der demokratischen Wahlen sowie der Mehrheitsregel eine populistische Grundnote attestieren, wie Max Weber (1988: 320-406) den charismatischen politischen Führer zum zentralen Protagonisten der parlamentarischen Demokratie stilisieren oder wie Walter Lippmann die politische Kommunikation in modernen, pluralistischen Massendemokratien allgemein auf die Bedienung von Stereotypen und Allgemeinplätzen sowie eine Form der top-down Manipulation angewiesen sehen, um aus diffusen Meinungs- und Willensquanta eine öffentliche Meinung beziehungsweise einen kollektiven ›Volkswillen‹ herzustellen.5 Wenn deswegen – und nicht zu Unrecht – behauptet wird, die Attraktivität des Populismus bestünde primär in seinem Anspruch, allen realen Differenzen und Divergenzen in der modernen pluralistischen Gesellschaft

—————— 5 Siehe dazu Lippmanns demokratiekritische Schriften Public Opinion (1922) und The Phantom Public (1925). Erläuternd Jörke (2013: 332ff.).

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zum Trotz einen einheitlichen Volkswillens generieren zu können, dessen populistische Politiker sich bemächtigen, indem sie ihren Wählern in spe »einfache Lösungen« anbieten (Decker 2004: 34f.), so gilt es im gleichen Atemzug zu erwähnen, dass Joseph Schumpeter (1993: 427ff.) einen solchen einheitlichen Volkswillen als (notwendige) Fiktion der ›klassischen‹ Demokratietheorie überhaupt entlarvt hat. Wie Jacques Rancière diesbezüglich ergänzt hat, kommt indes auch keine Demokratie um eine solche ›populistische‹ Subjektivierung des Volkes herum. Wann immer sich daher zum Zweck der unvermeidlichen Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen ein Teil des ›Demos‹ mit dessen Ganzen (»die Versammlung anstelle der Gemeinschaft, die Mehrheit anstelle des Parlaments, die Armen anstelle der Polis«; Rancière 2010: 126f.) identifiziert, beinhaltet dies streng genommen einen usurpatorischen Vorgang, der die Grenzen zwischen einer ›authentischen‹ und einer populistisch deformierten Demokratie verwischt. Mithin stellt nicht einmal die Emphase auf dem ideologisch aufgeheizten, ausgrenzenden, antipluralistischen Charakter des Populismus, der auf den scharfen Gegensatz »zwischen einem moralisch reinen, homogenen Volk« und einer angeblich »korrupte[n] und parasitäre[n] Elite« hinausläuft (Müller 2016: 26, 42), ein Merkmal dar, anhand dessen sich die Demokratie unmissverständlich abgrenzen ließe. Zumal nicht zu ignorieren ist, dass Demokratien eine Art der sozialen Homogenität durchaus dringend benötigen – im Sinne eines fiktiven »sozialpsychologischen Zustand[s]« »in welchem die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe gebunden erscheinen, durch ein Wirbewusstsein und -gefühl, durch einen sich artikulierenden Gemeinschaftswillen« (Heller 1971: 428). Die an dieser Stelle lediglich unsystematisch zu hypostasierende Nähe zwischen Populismus und Demokratie verlangt es, die Frage der Ideologie in diesem Zusammenhang in neuartiger Weise aufzuwerfen. Denn obwohl – wie eingangs schon erwähnt – kaum zu bestreiten ist, dass der Populismus durch keinen konkreten ideologischen Inhalt gekennzeichnet ist, der von einer bestimmten sozialen Schicht getragen wäre und vorhandene soziale Ressentiments widerspiegelt (Müller 2016: 9ff.), wäre es im Gegenzug gleichermaßen unbefriedigend, den Populismus deswegen als vollkommen inhaltsleer oder aber als reinen Politikstil zu klassifizieren (Taggart 2000: 5; ähnlich Moffitt/Tormey 2014; siehe Moffitt 2016). In der Literatur wurde deshalb vorgeschlagen, den Populismus als sogenannte »dünne« (Mudde 2004: 544; Stanley 2008; Mudde/Kaltwasser 2017: 6; Panreck 2019) beziehungsweise »komplementäre« Ideologie zu verstehen (Stanley 2008: 107), die

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sich mit anderen Ideologien wie Nationalismus, Konservatismus, Rassismus, Sozialismus oder Liberalismus amalgamiert (Albertazzi/McDonnell 2008: 4) und eben dadurch Inhalt und Form zu einer Art der Übereinstimmung bringt. Der hier auszuführende Gedanke, den Populismus demgegenüber als »Strukturdefekt« der Demokratie zu identifizieren,6 ist damit zwar einerseits kompatibel, löst den Populismus aber zugleich von einer (zu) einseitig prozeduralen Lesart und konzentriert sich darauf zu erläutern, was de facto jenes inhaltlich-ideologische Moment ausmacht, das als Spezifikum populistischer Agenden, Programme und Akteure auftritt. In diesem Kontext ist unbedingt in Betrachtung zu ziehen, dass sich Populisten unterschiedlichster Couleur in ihren Agitationen und Sprachmustern keineswegs willkürlich, sondern in durchaus authentischer Manier auf Ideale der Demokratie beziehen. Wie im weiteren Verlauf der hier entfalteten Argumentationslinie zu demonstrieren sein wird, liegt das Problem für die Demokratie jedoch nicht darin, dass Populisten ihre Prinzipien de facto (wenigstens partiell) teilen, sondern auf welch einseitige Weise sie dies tun. In dieser Einseitigkeit kommt zugleich die Gefährdung der Demokratie zum Vorschein, die eine populistische Unterwanderung der Volksherrschaft zweifelsohne impliziert. Um jene folgenschwere Ambivalenz nachvollziehbar zu machen, legt der nächste Abschnitt 2 zunächst (nochmals) die komplexe Widersprüchlichkeit der Demokratie selbst offen, um hiervon im Anschluss systematisch auf ihre normativen Eigenheiten, aber auch Stressfaktoren und selbstzerstörerischen Potenziale zu schließen. Vor solch elaboriertem Hintergrund sollte danach auch das zweischneidige Verhältnis zwischen Demokratie und Populismus transparent werden – mitsamt den ideologischen (Ver-)Formungen, die sich in diesem Zusammenhang abspielen (Abschnitt 3).

—————— 6 Allgemein zu diesem Ansatz siehe bereits Hidalgo (2018), zur einschlägigen Applikation des Populismus zudem Mannewitz (2018) sowie Lauth/Schlenkrich (2018).

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2. Von den Antinomien zu den Strukturdefekten der Demokratie7 2.1 Theoretische und begriffsgeschichtliche Klärungen Die Demokratie hat ideenhistorisch sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche semantischen Bedeutungszuschreibungen erfahren. Im Urteil der Experten hat dies dazu geführt, dass der Demokratiebegriff häufig zu den »essentially contested concepts« gezählt wird (Gallie 1956), für deren sprachlichen Gebrauch sich keine eindeutigen Maßstäbe und Standards herauskristallisiert haben. Wie eine aufwendige Genealogie des Demokratiebegriffs zu zeigen vermag,8 sperrt sich die nicht wörtlich zu nehmende »Volksherrschaft«9 allerdings nur gegen eindeutige Definitionen. Intersubjektiv nachvollziehbar anzugeben aber ist immerhin ein Diskursrahmen, in dessen Konturen sich Demokratien mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen konstituieren können. Jener Diskursrahmen wird von den unauflösbaren Widersprüchen aufgespannt, der den unendlichen Streit um den Demokratiebegriff seit jeher ausmacht. Solche Widersprüche, die auch als Antinomien aufgefasst werden können, lassen sich genealogisch aus der Ideen- und Begriffsgeschichte der Demokratie herausfiltern. Zumindest sechs Gegensatzpaare, um welche die demokratische Idee oszilliert, ohne sie in eine Form der Synthese überführen zu können, die den Widerspruch auf höherer Ebene aufhebt, lassen sich hier identifizieren: Gleichheit und Freiheit (1), Volkssouveränität und Repräsentation (2), quantitatives (Mehrheits-) und qualitatives (Rechtsstaats-)Prinzip (3), soziale Einheit und Pluralität (4), Gemeinschaftsverantwortung und individuelle Ansprüche (5) sowie schließlich Universalität und Partikularität (6). Ohne dies hier näher ausführen zu können, lässt sich zeigen, dass die theoretische und praktische Debatte über die Demokratie seit ihren expliziten Anfängen in der griechischen Antike bis in die Gegenwart um eben die genannten Gegensätze kreist, ohne dass eine begründete Entscheidung darüber, welcher der erwähnten antinomischen Pole die Demokratie ›adäquater‹ beziehungsweise ›legitimer‹ abbildet als der andere, eindeutig und überzeu-

—————— 7 Im folgenden Abschnitt greife ich in wesentlichen Passagen auf meine Ausführungen in Hidalgo (2018) zurück. 8 Dazu Hidalgo (2014). 9 »Nimmt man den Begriff im strengsten Sinne, so hat es nie eine wahre Demokratie gegeben, und es wird auch niemals eine solche geben. Es ist wider die Ordnung der Natur, daß die größere Zahl regiert und die kleinere regiert wird« (Rousseau 1996: 324).

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gend zu treffen wäre. In der Praxis weist eine legitime Demokratie deshalb stets Affinitäten zu jeweils beiden Polen der genannten Antinomien auf, so dass die angeführten widersprüchlichen demokratischen Prinzipien institutionell und politisch koexistieren. Dies führt zum einen zu einer variablen Ausgestaltung der Demokratie infolge der innerhalb ihres Diskursrahmens möglichen unterschiedlichen Gewichtungen der Freiheit gegenüber der Gleichheit, der Volkssouveränität gegenüber der Repräsentation, der Mehrheitsentscheidung und Partizipation gegenüber den rechtsstaatlichen Bindungen und Fachkompetenzen etc. sowie zum anderen zur normativen Gleichrangigkeit divergierender Demokratietypen. Gemeint sind die Gegensätze zwischen republikanischer vs. liberaler (1), direkter vs. repräsentativer (2), partizipatorischer vs. elitärer (3), konsensueller vs. pluralistischer (4), antiker vs. moderner (5) sowie westlicher vs. Nicht-westlicher (6) Demokratie. Konkret heißt dies, dass beispielsweise eine liberale, auf das freie Spiel der Kräfte fixierte Demokratie nichtsdestoweniger ein auf Gleichheit ausgerichtetes (meist sozialstaatliches) Gegengewicht benötigt (1); dass in jeder repräsentativ organisierten Demokratie die grundsätzliche Legitimität von Referenden, Bürgerinitiativen etc. nicht in Frage steht beziehungsweise das klassische demokratische Prinzip one man, one vote mit einer organisierten Interessensvertretung korrelieren kann (2); dass jeder Mehrheitsentscheid beziehungsweise sogar jede öffentliche Diskussion unter dem Vorbehalt qualitativer Normen, Werte und (rechtsstaatlicher) Prinzipien (im Sinne einer kontinuierlich mitzudenkenden Schranke für alle Arten demokratischer Entscheidungsfindung sowie im Ganzen für die Verfügungsgewalt des Volkes) steht (3); dass jede noch so pluralistische Demokratie Ressourcen des sozialen Zusammenhalts und der kollektiven Identität aufweisen muss (4); dass individuelle Rechte in der Demokratie in den Belangen der Gemeinschaft beziehungsweise den Anforderungen bürgerlicher Solidarität eine Grenze finden, ohne dass das eine dem anderen prinzipiell übergeordnet wäre (5); und schließlich, dass sich die diversen Demokratien einerseits ebenso ähneln wie jede empirische Demokratie zugleich ein einzigartiges, unverwechselbares politisches Gebilde darstellt (6). Das Gleiche ließe sich jeweils auch umgekehrt formulieren (1–6). Aus den einschlägigen politischen Prozessen in den Demokratien, die jeweils eines oder mehrere der demokratischen Prinzipien gegenüber ihrem antinomischen Gegenprinzip forcieren, resultieren folgerichtig permanent neue Dynamiken, die dann gegebenenfalls in weiteren politischen Prozessen und Auseinandersetzungen zu kom-

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pensieren sind. Insofern wäre es ein immerhin vager Anhaltspunkt für eine sich im Gleichgewicht ihrer Antinomien befindliche, konsolidierte Demokratie, wenn die Fülle der diesbezüglich relevanten demokratischen Entscheidungen mittel- und langfristig um das arithmetische Mittel der jeweiligen Gegenpole oszilliert. Auch Kompromisslösungen wären selbstverständlich denkbar, in politischen Einzelfragen sind diese aber oftmals schwierig oder auch gar nicht zu erreichen. Die Koexistenz oder (Herstellung einer) Balance zwischen den demokratischen Antinomien stellt entsprechend das geeignetere Narrativ dar, um ein Kriterium für die normative Legitimität von Demokratien anzugeben. Außerhalb des skizzierten Rahmens der demokratischen Antinomien sind hingegen die vielförmigen Verfallsformen und Selbstzerstörungen des Demokratischen anzusiedeln, wann immer der Fokus auf eine der widersprüchlichen Seiten der Demokratie verabsolutiert und demnach das notwendige Gegenprinzip der Antinomie wenigstens der Tendenz nach absorbiert wird. Dies wäre etwa der Fall, wenn mithilfe des demokratischen Wahl- und Majoritätsprinzips (die) andere(n) Prinzipien der Demokratie ausgehebelt werden (3). Gleiches gilt, wenn eine alles umspannende Bürokratie den von Tocqueville oder Max Weber befürchteten Verlust von Freiheit (1) provoziert; Lobbygruppen und Machtkartelle die Volkssouveränität de facto ruinieren (2); sich in einer (multikulturellen) Gesellschaft Desintegrations- und Auflösungstendenzen zeigen (4); die Individuen im Namen der Gemeinschaft unterdrückt/in ihrer Privatsphäre substantiell beschnitten werden (5); oder etwa auch, wenn (westliche) Demokratieideen gewaltsam exportiert werden sollen (6).10 Hieraus folgt, dass in jeder (funktionalen wie normativ legitimen) Demokratie letztere gleichzeitig als Methode beziehungsweise als Gewährleistung politischer Prozesse aufzufassen ist, um die notwendige Koexistenz der antinomischen Prinzipien zu organisieren und in kollektiv verbindliche Entscheidungen zu überführen. Und da es in dieser Hinsicht primär um die Institutionalisierung einschlägiger Auseinandersetzungen und Konflikte geht, ist die genannte vierte Antinomie auch als eine Art pars pro toto der antinomisch gedachten Demokratie zu interpretieren.11

—————— 10 Bei diesen Beispielen wären alle genannten Degenerationen der Demokratie wiederum auch in spiegelbildlicher Manier zu formulieren. 11 Aus diesem Grund tendiert die (verfrühte) Einführung von Wahlen in Gesellschaften ohne gewachsene kollektive Identität und mit nur unzureichender Gewöhnung an demo-

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Die nachfolgende Abbildung 1 fasst den eruierten Zusammenhang zwischen den demokratischen Antinomien, den damit korrespondierenden gegensätzlichen Demokratietypen, dem Bedarf an Gleichgewicht zwischen den konträren Polen sowie den verschiedenen Degenerationen (in Richtung jeweils beider Extreme) zusammen und erweitert die Perspektive im Hinblick auf die beiden letztgenannten Punkte zugleich um einige Aspekte, die aus Platzgründen an dieser Stelle nicht ausführlicher zu behandeln sind. Deutlich wird daran in jedem Fall, dass die innere Statik von Demokratien permanent gefährdet und die erforderlichen Balancen zwischen den gegensätzlichen Prinzipien mühsam zu generieren beziehungsweise zu bewahren sind.

Abbildung 1: Balance und Autoimmunität demokratischer Antinomien (Darstellung nach Hidalgo 2018: 39f.) Ebenfalls anhand der tabellarischen Abbildung verdeutlicht sich als eigentliche Schwäche der Demokratie, dass aus ihren authentischen Prinzipien eine autoimmune Dynamik hervorzugehen droht, wann immer diese Prinzipien einseitig und ohne Respekt vor der Legitimität des jeweiligen Gegen-

—————— kratische Konfliktregelungsmechanismen eher zur Verschärfung der vorhandenen ethnischen, sozialen und religiösen Gräben (vgl. Collier 2009).

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prinzips forciert werden und dadurch die notwendigen Spannungen und Gegengewichte entfallen, die die Demokratie für ihre Statik benötigt. Evident ist dies vor allem hinsichtlich der dritten Antinomie, bei der ein (zu) kompromissloses Eintreten für das demokratische Majoritätsprinzip ohne Respekt für Minderheitenschutz, rechtsstaatliche Bindungen und ›Qualitätssicherung‹ demokratischer Entscheidungsfindung jene (Selbst-) Zerstörung der Demokratie provoziert, von der bereits im ersten Abschnitt die Rede war. Das offenkundige Strukturdefizit der Demokratie, dass sie sich per Mehrheitsdekret (und unter der Voraussetzung fehlender qualitativer Vorkehrungen) selbst abzuschaffen vermag, ist dabei nicht nur ein historischer Dauerbrenner, der neben dem Fall der Weimarer Republik ebenso der Herrschaft der Dreißig in Athen 404 bis 403 v. Chr. oder dem Untergang der Zweiten Französischen Republik 1851 Vorschub leistete,12 sondern bisweilen auch eine bewusste politische Strategie zur scheinbar legitimen Abschaffung der Volksherrschaft.13 Doch auch ein ›zu Tode Schützen‹ der Demokratie aus Furcht vor der Verführbarkeit des ›Volkes‹ durch Demagogen liegt umgekehrt im Bereich des Möglichen, sobald demokratische Teilhaberechte unverhältnismäßig beschnitten werden und die Anwendung ›undemokratischer‹ Maßnahmen wie Parteienverbote, Aussetzung des Wahlrechts oder Begrenzung der Meinungsfreiheit politische Prozesse signifikant und dauerhaft unterbindet oder tabuisiert. Schließlich wird die Demokratie stets performativ delegitimiert und diskreditiert, sobald der Bevölkerung nicht (mehr) zugetraut wird, in ihrer Urteilskraft und ihrem nicht vorgeformten Votum zu legitimen Entscheidungen zu gelangen. Hinzu kommt, dass allen Einschränkungen des quantitativen Prinzips zugunsten einer ›wehrhaften‹ Volksherrschaft die Aporie anhaftet, dass die bezweckten temporären Suspendierungen des Demokratischen von keinem archimedischen Punkt aus zu justieren sind, der seinerseits unbezweifelbar ›demokratisch‹ wäre. Im Gegenzug aber vermag selbst der Wille einer noch so großen Mehrheit ›die‹ Demokratie nicht authentisch abzubilden. Exakt im Moment der periodischen Wahl, an dem »die Zahl« an die »Stelle der Substanz« der Demokratie tritt, wird stattdessen das Paradox (beziehungs-

—————— 12 1848 war der schon zuvor als Putschist aufgefallene Louis Bonaparte, der ab 1852 als Napoleon III. dem Zweiten Kaiserreich in Frankreich vorstand, mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden. 13 Siehe dazu das Statement von Joseph Goebbels (1935: 71), der es 1928 als Ziel der Reichstagsabgeordneten der NSDAP ausgab, sich »im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen«.

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weise die Antinomie) offenkundig, dass jeder Volkssouverän fragmentiert ist und sich qua Abstimmung gerade kein einheitlicher Volkswille ausdrücken lässt (Lefort 1990: 295). Neben den besonders auffälligen Strukturdefekten der Demokratie, die entlang der dritten Antinomie zu decodieren sind (wobei die Überschneidung zur zweiten Antinomie evident sein sollte), lassen sich in analoger Manier vergleichbare Defizite der Demokratie hinsichtlich der weiteren sie ausmachenden immanenten Gegensätze durchspielen.14 Ein paar zusätzliche Beispiele mögen zur Illustration des Arguments genügen: Bezüglich der ersten Antinomie wäre es etwa vorstellbar, wie das Eintreten für mehr Gleichheit und soziale Umverteilung ohne ausreichende Berücksichtigung ihres Gegenprinzips der Freiheit für einen (illiberalen) bürokratischen Moloch sorgt beziehungsweise wie umgekehrt aus einem neoliberalen laissez-faire in der Konsequenz eine Form der ›exklusiven‹ Demokratie resultiert, die sich zwar nicht gegen die Freiheit, wohl aber gegen das für jede Demokratie nötige Maß an Gleichheit richtet.15 Eine ganz auf die Souveränität des (als homogen angenommenen) Volkes ausgerichtete Demokratie, die die Repräsentation von partikularen Interessen sowie die Prinzipien von Vielfalt, Proporz und Subsidiarität verdrängt, droht hingegen, wie bereits der Entwurf Rousseaus im Contrat social suggeriert, in eine nahezu totalitäre Fassung umzuschlagen (Talmon 1961). Demgegenüber degeneriert eine einseitig auf Wahlen und Repräsentation ausgerichtete Demokratie ohne faktische/direkte Einflussmacht des Volkes als einer gedachten politischen Entität zu einer elektoralen, delegativen oder auch Lobby-Demokratie (Antinomien 2 und 4).16 Im Hinblick auf die vierte Antinomie als solcher springen indes vor allem die spiegelbildlichen Verfallsformen zu einer identitären beziehungsweise fragmentierten und sozial desintegrierten Demokratie ins Auge. Beide Optionen sind überaus gefährdet, in Gewaltexzesse umzuschlagen: zum einen im Zuge der bezweckten ›Herstellung‹ oder ›Sicherung‹ eines homogenen Volkskörpers (Mann 2005), zum anderen im Hinblick auf einen Bürgerkrieg, in den ein

—————— 14 Siehe hierfür nochmals die äußere rechte Spalte von Abbildung 1. 15 Zur Kennzeichnung zunehmender sozialer Ungleichheit als »ungewollte Folge der neoliberalen Utopie des freien Marktes« wurde von Ulrich Beck (1999: 7ff.) der Begriff »Brasilianisierung« in die Sozialwissenschaft eingeführt. 16 Zu dieser Begrifflichkeit, die bislang bevorzugt in eine Theoretisierung und Konzeptionalisierung »defekter« Demokratien mündet, siehe auch Merkel u.a. (2003).

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Gemeinwesen ohne zureichende kollektive Identität und damit Toleranz/Akzeptanz des politischen Gegners zu geraten droht.17 Was die fünfte Antinomie betrifft, so wäre eine individualismusfeindliche, kollektivistische Spielart der Demokratie (wofür historisch vor allem einige sozialistische/kommunistische Volksrepubliken Pate stehen) ebenso jenseits des demokratischen Rahmens angesiedelt wie eine Form der sozialen Anarchie, die den Anspruch des Individuums gegenüber der Gemeinschaft totalisiert (wie es ideengeschichtlich vor allem Max Stirner vorschwebte). Bei beiden Varianten sticht neuerlich die Gleichzeitigkeit von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, Kontinuitäten und Brüchen zwischen ›antinomischer‹ und ›defekter‹, das heißt im Sinne der Antinomen vereinseitigter Demokratie heraus, was sowohl die Überschneidungen zwischen ihnen plausibel erläutert wie eine trotz allem intersubjektiv nachvollziehbare Demarkationslinie erlaubt. Im Gefolge der sechsten Antinomie ist schließlich darauf zu verweisen, dass eine Demokratie, die sich in einem hermetischen Rückzug in die eigene kulturelle Identität ohne Bezug zu universalen Idealen wie den Menschenrechten befindet, in »Selbstapartheid« zu verfangen droht (Laclau 2007: 60). Ihre Legitimität, ihr normativer Anspruch steht und fällt damit, dass Demokratien nicht radikal kontingent und damit auch nicht beliebig sind. Zugleich aber bildet jedes konkrete demokratische System ein unverwechselbares Unikat, das seine besonderen Eigenheiten ausbildet, die vor allem historisch-kulturell beziehungsweise auch sozialpsychologisch bedingt sind. Deswegen ist das bisweilen zu beobachtende Bestreben, eine Demokratie nach eigenem (westlichem) Vorbild zu exportieren oder gar gewaltsam einer Gesellschaft aufzuoktroyieren, als ›Defekt‹ zu interpretieren, welcher einer Verabsolutierung des normativen Universalanspruchs der Demokratie immanent ist. Die Diversität und Bandbreite, die sich zwischen westlichen und nicht-westlichen Volksherrschaften (sowie auch innerhalb beider Spektren) empirisch feststellen lässt, ist demgegenüber als authentische ›Vielfalt‹ der Demokratie zu akzeptieren, solange es sich lediglich um unterschiedliche Schwerpunktsetzungen innerhalb ihres

—————— 17 Zu dieser Diagnose, die die notwendigen Grenzen des Pluralismus auslotet, siehe erneut Heller 1971. Ähnlich argumentiert Fraenkel (2011: 250–253, 256–280, bes. S. 259), der die Existenz eines »nicht-kontroversen Sektors« sowie einen allgemein akzeptierten Wertekodex zur Regelung der politischen Auseinandersetzung in der Demokratie hervorhob. Sogar in der Theorie der agonalen Demokratie wird qua Unterscheidung zwischen Antagonismus und Agonismus auf einen vergleichbaren Sachverhalt verwiesen (vgl. Mouffe 2007: 29ff.).

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antinomischen Diskursrahmens und um keine Aufhebung der entsprechenden Spannungen handelt.18 Ein Strukturdefekt der Demokratie liegt infolgedessen immer dann vor, wenn die dynamische Balance zwischen den gegensätzlichen Polen derart massiv gestört ist, dass die Statik des Gesamtgebildes ins Wanken gerät. Letzteres ist der Fall, wenn wenigstens eine der genannten Antinomien absorbiert, sprich: die eine Seite so sehr auf die Spitze beziehungsweise ins Extrem getrieben wird, dass der jeweilige Gegenpol davon konterkariert, ausgesetzt oder schlimmstenfalls auch beseitigt wird. Damit ist nicht gemeint, dass jede ›Schieflage‹ zwischen den antinomischen Polen bereits einen Defekt anzeigt, können vorhandene Ungleichgewichte doch sehr wohl das Ergebnis politischer Prozesse innerhalb der widersprüchlichen Konturen der Demokratie sein. Sobald jedoch aufgrund fehlender beziehungsweise aufgehobener demokratischer Institutionen gar keine Chance (mehr) besteht, dass die Fülle von relevanten demokratischen Entscheidungen mittel- und langfristig um das arithmetische Mittel der antinomischen Gegenpole oszilliert, weil sich die dahinter stehenden politischen Interessen erst gar nicht artikulieren können und die einschlägigen politischen Auseinandersetzungen somit faktisch vorabentschieden sind, verstetigt sich die Schieflage und rechtfertigt es zugleich, von einer »defekten Demokratie« zu sprechen. Eine legitime Demokratie ist demgegenüber darauf angewiesen, einen modus vivendi oder auch »Trade-Offs« zwischen ihren konträren Prinzipien finden, um erkennbare Schieflagen zumindest mittel- und langfristig auszutarieren (Hidalgo 2019).

2.2 Der Populismus als übergreifender Strukturdefekt (und Korrektiv) der demokratischen Idee In Abbildung 1 aus dem vorangegangenen Unterkapitel wurde der Populismus in erster Linie als Strukturdefekt der Demokratie veranschlagt, der sich entlang der vierten Antinomie manifestiert. Dieser Einteilung liegt die plausible Beobachtung von Jan-Werner Müller (2016: 26) zugrunde, dass Populisten für gewöhnlich zu einer antipluralistischen, bestimmte Gruppen diskriminierenden Überbetonung der Homogenität (»Wir – und nur wir – repräsentieren das wahre Volk«) neigen, die in ihren Konsequenzen rechts-

—————— 18 Ausführlich dazu Hidalgo (2016a).

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staatliche Regeln des Minderheitenschutzes aushebeln und somit das Majoritätsprinzip der Demokratie verabsolutieren. In dieser Hinsicht wird jedoch schnell evident, dass der Populismus in seiner Tendenz ebenso als Absorption der Spannung zwischen Qualität und Quantität, das heißt der dritten Antinomie zu interpretieren ist. Bestätigt wird dies davon, dass sich der in allen Spielarten des Populismus mitschwingende Gegensatz zwischen dem (wahren) Volk und der (korrupten) Elite auch als Ausdruck einer gestörten Balance innerhalb der dritten und zweiten (sowie mit Abstrichen der ersten) Antinomie der Demokratie lesen lässt. Eingedenk der weiteren prinzipiellen Spannungsmomente, die die Volksherrschaft wie gesehen konstituieren, ist die Analyse nunmehr dahingehend weiterzuführen, dass der Populismus letztlich einen Strukturdefekt bezeichnet, der die Antinomien der Demokratie gleichsam in übergreifender Weise attackiert.19 Als Politiker*innen, die (angeblich) selbst aus dem Volk stammen und nicht dem (als inkompetent, degeneriert eingestuften) ›Establishment‹ angehören (1), legen Populist*innen das Prinzip der Volkssouveränität (2) sowie die demokratische Mehrheitsregel (3) häufig auf eine Weise aus, die rechtsstaatliche Bindungen der Verfügungsgewalt des Volkes respektive der gewählten Volksvertreter*innen in Frage stellt. Vor dem Hintergrund jener Entfesselung eines mehr oder weniger unumschränkten Volkswillens, den Populist*innen zu repräsentieren beanspruchen, sowie der massiven Diffamierung von politischen Gegnern, wird das Volk zumeist als eine homogene Einheit und (Kultur-)Gemeinschaft (4) beschworen, die von pluralistischen Elementen und Entwicklungen (zum Beispiel zugewanderten Migrant*innen, Multikulturalität etc.) gefährdet wird und der sich alle Einzelinteressen und individuellen Freiheiten (5) entsprechend unterzuordnen hätten.20 Schließlich bestreiten Populist*innen im Normalfall auch die Ausrichtung der Volksherrschaft an universalen Werten und betonen die partikulare, nationalgeprägte Charakteristik der eigenen Demokratie – bis hin zu radikal nationalistischen und chauvinistischen Tönen (6), die gerade angesichts des im globalen Zeitalter verbrei-

—————— 19 Der folgende unvollständige, aber dennoch prägnante Merkmalkatalog des Populismus deckt sich weitgehend mit den Ausführungen bei Mény und Surel (2000), Mudde (2004; 2007), Priester (2007; 2012), Mudde/Kaltwasser (2012; 2017), de la Torre (2015), Albertazzi und McDonnell (2015) sowie Müller (2016). 20 Beispiele hierfür wären etwa die identitäre Bewegung in Deutschland, der französische bloc identitaire, das GRECE unter der intellektuellen Führung des Neoschmittianers Alain de Benoist sowie viele weitere ›identitäre‹ Gruppen, die ein antiindividualistischer Kampf gegen liberale Menschenrechte vereint.

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teten kollektiven Ohnmachtsgefühls neue politische Handlungsfähigkeit demonstrieren sollen (Koppetsch 2019; Manow 2019: 38ff.). Als Phänomen, dessen Agent*innen und Agenden die antinomisch strukturierte Demokratie im Ganzen (und nicht nur in Teilbereichen) unterhöhlen, ist der Populismus deshalb seinerseits (und unabhängig von der jeweiligen inhaltlich-ideologischen Einfärbung) geeignet, die in Kapitel 2.1 verhandelten ›Entartungen‹ der Demokratie auf einen gemeinsamen Begriff zu bringen. Denn die geschilderte Einseitigkeit, mit der Populisten*innen demokratische Ideale wie Gleichheit, Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip, gesellschaftlichen Zusammenhalt/Homogenität, Gemeinwohl oder Partikularität für sich in Anspruch nehmen (und dabei gleichzeitig die ebenfalls demokratischen Gegenpole wie Freiheit, Repräsentation, Rechtsstaatlichkeit, Pluralität, Individualismus und Universalismus distanzieren oder sogar verleugnen), sorgt im Ergebnis dafür, dass der Populismus die gebotene Balance zwischen den widersprüchlichen Idealen der modernen Volksherrschaft verfehlt. Hierauf ist es zugleich zurückzuführen, weshalb dem Begriff ›Populismus‹ - zumindest dem in Europa geprägten Sprachgebrauch nach - stets eine pejorative Note anhaftet. So lässt die Einseitigkeit, mit der Populisten die genannten demokratischen Ideale beschwören, beim Gebrauch des Populismusbegriffs die Konnotation der Verführbarkeit des Volkes, die mögliche Entgleisung der Massen, die Gefahr einer ›Tyrannei der Mehrheit‹ etc. beinahe unweigerlich mitschwingen. In der populistischen Instrumentalisierung der Demokratie, die eine unmögliche Repräsentation der Gesamtheit des Volkes für sich reklamiert, geht somit eines der wichtigsten Kennzeichen des demokratischen Diskurses verloren: Dass politische Ziele im Rahmen eines solchen Diskurses nur auf eine Weise vertreten und durchgesetzt werden dürfen, welche die Legitimität von konträren Zielen und Gegenmeinungen nicht grundsätzlich leugnet (Hidalgo 2016b: 64ff.). Die hier als ›vereinseitigt‹ beschriebene und in spezifischer Hinsicht als ›degeneriert‹ zu titulierende Form des Demokratischen, die der Populismus adressiert,21 ist bis zu einem gewissen Grad kompatibel mit dem, was Ralf Dahrendorf (2003: 157) als diesbezüglich »wichtigste[s] Unterscheidungsmerkmal« ausgegeben hat: »Populismus ist einfach, Demokratie ist komplex«. Die Vereinfachung und Vereinseitigung, die der Populismus im Ver-

—————— 21 Zum Populismus als ›entartete‹ Form der Demokratie im Gefolge Carl Schmitts, die von einer (agonalen und antinomischen) Demokratievorstellung Claude Leforts abzugrenzen sei, siehe auch Abts und Rummens (2007).

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gleich zur Demokratie bedeutet, wird ebenso von Jan-Werner Müller (2016: 30) und Pierre Rosanvallon (2011) betont. Die diesbezüglich von Rosanvallon angesprochenen Aspekte - die simple Entgegensetzung zwischen dem Kollektivsubjekt des Volkes und der politischen Elite, der exklusive prozedurale Fokus auf Wahlen und Referenden sowie die (unhaltbare) Annahme einer rein homogenen Identität des ›demos‹ - lassen sich dabei unschwer mit dem hier vorgestellten Ansatz reformulieren. Jene selbstzerstörerische, antinomienfeindliche Vereinfachung der Demokratie durch den Populismus, der keineswegs mit üblichen Formen des Opportunismus gleichzusetzen ist, mit dem demokratische Politiker und Parteien um die Gunst der Massen buhlen, darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Risiko für die Demokratie in diesem Fall nicht von außen an sie herangetragen wird, sondern dass der Populismus die Demokratie von innen zu zerstören droht, indem er ihre Prinzipien aus der Balance nimmt und einseitig verabsolutiert. Ein solcher Populismus, der die Autoimmunität der Demokratie schonungslos vorantreibt, unterscheidet sich ganz erheblich vom ›normalen‹ Aufgreifen populärer Meinungen, Stimmungslagen und Ängsten zur Erhöhung eigener Wahlchancen. Mithilfe von vereinseitigten, krass vereinfachenden Darstellungen agieren Populisten der beschriebenen Art nicht nur gegen Pluralität und Meinungsvielfalt, sondern stilisieren auch diejenigen zu Feindbildern und Sündenböcken, die entweder nur andere politische Positionen vertreten oder aber die mithilfe von Pauschalurteilen als ›Störfaktoren‹ für die reine Homogenität des Volkskörpers identifiziert werden. Solchen ›störenden‹ Individuen und Gruppen sollen nach dem Gusto von Populist*innen oftmals sogar verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte entzogen werden. Die Kehrseite der These, dass der Populismus einen Strukturdefekt bezeichnet, welcher der Demokratie inhärent ist und der sich nicht etwa durch seine Gegensätzlichkeit zu legitimen demokratischen Prinzipien, sondern lediglich durch ihre Vereinseitigung auszeichnet, ist, dass sich die eingangs thematisierte Überlappung von Demokratie und Populismus bestätigt. Pointiert könnte man dies sogar dahingehend artikulieren, dass jede Demokratie nicht nur eine genuin populistische Seite besitzt, sondern ihre populistischen Pole als Teil des sie konstituierenden antinomischen Diskursrahmes auch benötigt. Immerhin könnte die Vereinseitigung der Demokratie ja ebenso in der Gegenrichtung, das heißt durch Verabsolutierung der nicht-populistischen, überwiegend ›liberalen‹ Pole der Demokratie – Freiheit, Repräsentation, Qualität, Pluralität, Individualität

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und Universalität – erfolgen. Eine solche Art der Vereinseitigung der (neo-liberalen) Demokratie wird im politikwissenschaftlichen Diskurs seit geraumer Zeit als ›Post-Demokratie‹ (Crouch 2008) tituliert, die in diesem Zusammenhang nicht zufällig als Provokateurin (rechts-)populistischer Strömungen gilt (Mouffe 2007: 87ff.), denen wiederum ein alternativer (Links-)Populismus entgegenzusetzen sei (Mouffe 2015; 2018). Zahlreiche Autor*innen sehen populistische Bewegungen, Akteur*innen und Strategien daher – mit durchaus überzeugenden Argumenten – als bisweilen nützliches »Korrektiv«, um einer Entfremdung zwischen der politischen Klasse und dem Volk zu begegnen, bürokratische Verkrustungen aufzubrechen, Politikverdrossenheit und Ohnmachtsgefühle der Bürger*innen zu bekämpfen sowie im Ganzen demokratische Prozesse neu zu beleben (Decker 2006; Mudde u.a. 2012; Hartleb 2012; de la Torre 2015). Gegebenenfalls lässt sich der Populismus auch als mehr oder weniger verständliche Reaktion auf nicht gehaltene ›Versprechen‹ der Demokratie (Bobbio 1988)22 sowie die Missachtung von (berechtigten) Forderungen aus dem Volk deuten (Laclau 2005; Jörke/Selk 2017). Zusammengefasst verdichtet sich diese Analyse zu der Feststellung, dass die Ambivalenz des Populismus mit den Antinomien der Demokratie eng verwoben ist. Sowohl als Strukturdefekt der Volksherrschaft als auch als korrigierendes Gegengewicht zu postdemokratischen Tendenzen ist der Populismus vorstellbar. Die antinomischen Pole der Demokratie aber lassen sich folglich als parallele Seiten der Demokratie reformulieren, die einerseits eklatante Affinitäten zum Populismus aufweisen, einer populistischen Deformierung der Demokratie jedoch ebenso widerstreben und widerstehen. Die nachfolgende Abbildung 2 versucht diese komplexe Synchronizität der populistischen und nicht-populistischen Demokratie gemeinsam mit der Auffassung des Populismus als destruktive Vereinseitigung der Demokratie zu veranschaulichen:

—————— 22 Zu diesen zählen nach Bobbio vor allem die in der (egalitären) Demokratie fortbestehenden Hierarchien, intermediären Instanzen, Interessensgruppierungen, Oligarchien und unsichtbaren Machtkonfigurationen sowie die mangelnde demokratische Durchdringung der Gesamtgesellschaft beziehungsweise Einbeziehung der Bürgerschaft.

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Abbildung 2: Populismus als übergreifender Strukturdefekt der Demokratie (eigene Darstellung) Die kursive rechte Seite der linken Spalte illustriert hier nochmals die antinomischen Prinzipien der Demokratie, die eine starke Affinität zur Logik des Populismus besitzen, während die nicht kursiven Prinzipien auf der linken Seite die gleichzeitig geltende Distanz der Demokratie zum Populismus zum Ausdruck bringen. Die kursive rechte Spalte wiederholt zudem die weiter oben genannten Merkmale und Charakteristika eines Populismus, der sich gegen eine Balance/Trade-Offs zwischen den demokratischen Antinomien richtet und demzufolge die autoimmunen Übertreibungen der (populismusaffinen) Prinzipien der Gleichheit, Volkssouveränität, Mehrheit, Homogenität, Kollektivität und Partikularität anzeigt.23

—————— 23 Zuvor noch nicht genannt und mit Blick auf Abbildung 2 deshalb erläuternd zu ergänzen ist zum einen lediglich der Umstand, dass die (tendenziell links-)populistische Übertreibung des Gleichheitsprinzips (1) meist mit einem Plädoyer für den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme einhergeht (Hidalgo 2019: 273f.), wobei Rechtspopulist*innen dies bevorzugt als exklusiven Anspruch der ›einheimischen‹ Bevölkerung proklamieren. Zum anderen setzt sich die antipluralistische Priorität, die (Rechts-)Populisten auf die (kulturellethnische) Homogenität des Volkes legen (4), oftmals in Form einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber den liberalen Errungenschaften der Moderne fort, die in den letzten Jahrzehnten, die Rechte von Frauen, Homosexuellen und anderen Minderheiten massiv gestärkt haben (5). Gerade Rechtspopulist*innen verweisen in diesem Zusammenhang gern auf eine vormodern anmutende, natürlich-religiöse Ordnung sowie ein traditionelles Geschlechter- und Familienbild, die durch den exzessiven Liberalismus und Multikulturalismus der vergangenen Dekaden unterlaufen worden seien. Dazu etwa Hark und Villa (2015), Kuhar und Paternotte (2017) sowie Hennig (2018). Die Grenzen zum Rassismus sind hierbei oft fließend.

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3. (Rechts-)Populismus als Ideologie? 3.1 Phänotypische Einsichten Als zu identifizierender Strukturdefekt der Demokratie ist der Populismus inhaltlich weiterhin nicht festgelegt. Insofern bestätigt die bisherige Analyse, was oben bereits angedeutet wurde, nämlich, dass sich der Populismus – eben weil er in erster Linie als entwertende Übertreibung der Demokratie sowie tendenzielle Überschreitung des demokratisch gesetzten Rahmens zu verstehen ist – mit unterschiedlichen ideologischen Mustern amalgamieren kann. Als potenzielles Korrektiv postdemokratischer Entwicklungen kann der Populismus die Demokratie jedoch gegebenenfalls auch wieder zur Balance zwischen ihren Antinomien zurückbringen und sich hier abermals inhaltlich-ideologischer Flexibilität befleißigen. Auch aus diesem Grunde wurde im vorliegenden Beitrag bislang kaum zwischen Rechts- und Linkspopulismus unterschieden. Mit der nun erfolgenden Applikation dieses Begriffspaars wird indes etikettiert, dass gerade auch auf inhaltlicher Ebene markante Differenzen und Divergenzen im Spektrum des Populismus wahrgenommen werden müssen, selbst wenn sich der Rechts- und Linkspopulismus ideologisch in einer illiberalen Grundausrichtung ähneln (Hennig/Hidalgo 2020). Wie vor allem Karin Priester (2012) herausgearbeitet hat, sind links- und rechtspopulistische Akteure daher zwar in ihrem Stil der politischen Kommunikation, der bevorzugt auf die Methoden der Moralisierung, Emotionalisierung,24 Personalisierung und Polarisierung setzt, sowie in ihrer illiberalen, antielitären, anti-institutionalistischen und auf die kollektive Identität des Volkes abzielenden Agenda eng miteinander verbunden; doch weichen sie andererseits nicht nur in den jeweils kultivierten Feindbildern, sondern auch in einem zentralen inhaltlichen Aspekt voneinander ab. Die Rede ist von dem Umstand, dass Rechtspopulist*innen im Zweifelsfall die Exklusion bestimmter (Fremd-)Gruppen und Individuen auf der materiellen, politischen und auch symbolischen Ebene vorantreiben,25 während Linkspopulist*innen auf allen diesen Levels umgekehrt meist nach der größtmöglichen Inklusion streben.26 Hierin spiegelt sich das Kriterium, das Norberto Bobbio (1994: 78) einst als wesentliches Unterscheidungsmerkmal von ›Rechten‹ und

—————— 24 Zum (Rechts-)Populismus als Geschäft mit der »Angst« siehe außerdem Wodak (2017). 25 Dazu auch Mudde (2004), Mudde/Kaltwasser (2012) sowie Pirro (2015). 26 Auch in der Stellung zu Intellektuellen/einem Intellektualismus scheinen Rechts- und Linkspopulist*innen im Übrigen alles andere als deckungsgleich.

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›Linken‹ überhaupt konstatiert hat: Dass sich beide grundsätzlich anhand der Frage der Gleichheit entzweien, sodass die linken Egalitarier »dem größere Bedeutung beimessen, was [die Menschen] gleich statt ungleich macht«, während die rechten Nichtegalitarier darauf insistieren, »was die Menschen ungleich statt gleich macht.« Während deshalb das politisch ›rechte‹ Lager zumeist das freie Spiel der Kräfte, die Berechtigung oder auch Unabänderlichkeit und Inkompatibilität sozioökonomischer, kultureller und religiöser Unterschiede, die Notwendigkeit traditioneller Geschlechterrollen oder die Priorität beziehungsweise Überlegenheit der eigenen Nation und ihrer Interessen betont, ist das linke Lager vorwiegend internationalistisch und universalistisch aufgestellt, will Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen aufgrund von ethnischer Herkunft, kulturell-religiöser Prägung, geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung abbauen und verschreibt sich generell einer Sozialpolitik der Umverteilung und des sozialen Ausgleichs. Und auch wenn sich im Kontext des Populismus rechte und linke Positionen bisweilen inhaltlich doch recht stark überschneiden,27 sind die Beispiele, bei denen sich Rechts- und Linkspopulist*innen gerade anhand ihrer Einstellung zu Gleichheit und Ungleichheit unterscheiden lassen, dennoch sehr markant. Rechtspopulistische Bewegungen wie die Tea Party in den Vereinigten Staaten oder die Fremskrittspartiet (Progress Party) in Norwegen verfolgen daher nicht zufällig eine dezidiert nicht-egalitäre, antiwohlfahrtsstaatliche, libertäre Programmatik, während etwa Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien sich einen strikt anti-chauvinistischen, internationalistisch ausgerichteten Kurs verordnet haben.28 In diesen Beispielen kommt jedoch zugleich ein programmatisch-ideologischer Spagat zum Vorschein, zu dem Populist*innen immer dann gezwungen sind, sobald sie – als Rechte im Grunde für das Prinzip der Ungleichheit argumentierend – im Namen des Egalitätsprinzips der Demokratie die Anliegen des gemeinen Volkes zu vertreten beanspruchen oder aber als Linke für die Prinzipien der Universalität eintretend eben doch plausibel machen müssen, warum sie als die wahren Repräsentant*innen der nationalen Interessen anzusehen sind. Rechtspopulisten vom Schlage

—————— 27 Dies war und ist insbesondere bei autoritär-charismatischen Führerfiguren in Lateinamerika wie Juan Domingo Péron, Fidel Castro, Hugo Chávez, Evo Morales, Andrés López Obrador u. a. zu bemerken. 28 Dass etwa die rechtspopulistische, islamfeindliche Lijst Pim Fortuyn in den Niederlanden für die Rechte von Homosexuellen eintrat, kann in diesem Zusammenhang getrost als Ausnahme gelten.

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Donald Trumps, Silvio Berlusconis, Victor Orbáns und Andrej Babiš versuchten und versuchen sich daher mehr schlecht als recht als »Männer aus dem Volk« zu inszenieren, obwohl sie zur ökonomischen Hochelite ihrer Länder zählen. Linkspopulisten wie Hugo Chávez, Evo Morales, Rafael Correa, Andrés López Obrador, Nicolas Maduro u.v.m. haben sich hingegen aus vergleichbaren Gründen von der internationalistisch ausgerichteten klassischen Doktrin des Sozialismus gelöst und stehen in erster Linie für eine Art des ›Linksnationalismus‹. Die Amalgamierung des Populismus mit (herkömmlichen) Ideologien aus den rechten und linken politischen Spektrum führt somit offensichtlich in nicht wenigen Fällen zu einer programmatisch-ideologischen Wende, die ihrerseits ohne die vom Populismus beigefügten Ingredienzien nicht verständlich wäre. Dies rechtfertigt es, unabhängig von seiner zu konzedierenden inhaltlichen Bandbreite in etwas tiefgründigerer Manier als bisher nach dem eigenständigen ideologischen Charakter des Populismus zu fragen, das heißt, die oben genannte These von der »dünnen« Ideologie des Populismus zu spezifizieren. Aus konzeptionellen Gründen wird sich die Einlösung dieses Unterfangens im anschließenden Unterkapitel 3.2 weitgehend auf das Thema des Rechtspopulismus konzentrieren, wiewohl das Gleiche sicherlich auch anhand des Linkspopulismus gezeigt werden könnte. Mit Blick auf den im europäischen Kontext dominierenden Rechtspopulismus ist diese Auswahl aber gewiss nachzuvollziehen.

3.2 Chancen und Risiken der (rechts-)populistischen Ideologie innerhalb und außerhalb der Demokratie Im Verlauf der Argumentation wurde die Ambivalenz des Populismus als Strukturdefekt und mögliches Korrektiv der Demokratie nachgezeichnet. Für Ideologien – die in Anlehnung an den wissenssoziologischen Ansatz von Karl Mannheim an dieser Stelle allgemein als abstrakte, sozialpsychologische Überzeugungssysteme mit spezifischem Wahrheitsanspruch verstanden werden, die für Individuen wie Gesellschaften sinnstiftend wirken, indem sie eine bestimmte kohärente Deutung von Einzelphänomenen und damit eine dynamische ›Realitätsorientierung‹ zulassen29 – ist zunächst eine

—————— 29 Vgl. Noetzel (2007: 113). Zur komplexen, mit (der Kritik an) Destutt de Tracy beginnenden ideengeschichtlichen Verortung des Ideologiebegriffs zwischen dem Anspruch, einen

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sehr ähnliche Feststellung vorauszuschicken: Auch Ideologien ist im Hinblick auf die Demokratie dezidiert zu attestieren, dass sie neben negativen auch positive Implikationen für deren politischen Gestaltungsraum besitzen. Indem der für Ideologien typische Antagonismus zwischen dem (empirisch) ›realen‹ und dem (ideologisch) ›interpretierten‹ Sein nicht allein als Verzerrung (oder gar Vergewaltigung) der sozialen Wirklichkeit, sondern auch im Sinne eines ›Bewegungsbegriffs‹30 gedeutet werden kann, der dem ›gegebenen‹ ein ›mögliches‹ Sein entgegensetzt, ist Ideologien jenseits ihrer konkreten inhaltlichen Ausrichtung ein Potenzial zur Veränderung und Überwindbarkeit der historisch-politisch herrschenden Zustände zuzuschreiben (Hidalgo 2020: 89f.). In dieser Hinsicht übernehmen Ideologien in der Demokratie die wichtige Funktion, durch Komplexitätsreduzierung und allgemeingültige Darstellung von eigentlich partikularen politischen Programmatiken qua Vereinfachung, Zuspitzung, Immunisierung gegenüber (sachlichen) Einwänden, Über- und Untertreibungen etc. eine Art der politischen Willensbildung zu ermöglichen, deren Resultate im Anschluss einen ausreichenden Grad an gesamtgesellschaftlicher Legitimität entfalten.31 Letzteres funktioniert indes nur unter der wiederum von Karl Mannheim betonten Voraussetzung,32 dass am Ende nicht eine Ideologie in doktrinär-dogmatischer Weise die Deutung der politischen und sozialen Welt übernimmt, sondern die Pluralität von liberalen, konservativen, sozialistischen etc. Weltanschauungen jenseits der kollektiv verbindlichen Entscheidungen koexistieren, die mithilfe demokratischer Verfahrensweisen zu erzielen sind. Die (potenzielle) politische Wirksamkeit pluraler ideologischer Wahrheits-

—————— allgemeinen Zugang zur (postmetaphysischen) ›Wahrheit‹ zu generieren und dem steten Verdacht, damit allenfalls ein ›falsches‹ Bewusstsein zu erzeugen, siehe Hidalgo (2020: 86ff.). 30 Gegen den Strich ihres ideologiekritischen Ansatzes gelesen, ließe sich hierunter sogar der von Marx und Engels (1961: 35) gerade nicht als Ideologie bezeichnete Kommunismusbegriff als eine ebensolche »Bewegung« hin zur klassenlosen Gesellschaft deuten (vgl. auch Marx/Engels 1959: 475). Zu trennen ist hiervon die beanspruchte ›Wissenschaftlichkeit‹ materialistischer und sozialistischer Analysen, die Marx und Engels als notwendigen Kontrast zur ›Ideologie‹ des deutschen Idealismus beziehungsweise des politisch-intellektuellen ›Überbaus‹ der kapitalistischen Gesellschaft artikulierten. 31 Siehe diesbezüglich vor allem die Ausführungen von Karl Mannheim in Ideologie und Utopie (1929), die sich in dieser Verdichtung in der einschlägigen Einleitung von Kaube (2015: VIII–IX) finden. 32 Für Mannheim (2015: 65) korreliert die Diversität und Divergenz politisch-weltanschaulichen Positionierungen dabei unvermeidlich mit dem »Verschwinden des göttlichen Bezugspunkts« in der modernen Gesellschaft.

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ansprüche jenseits einer ›objektiv‹ feststellbaren Wirklichkeit bildet insofern die epistemologische Voraussetzung dafür, dass die Demokratie ihren ›Sinn‹ nicht von vornherein einbüßt.33 Im Umkehrschluss sind die auffälligen Analogien zwischen postdemokratisch und postideologisch imprägnierten Gesellschaften, die sich insbesondere durch die dort artikulierte, angebliche ›Alternativlosigkeit‹ getroffener Entscheidungen auszeichnen (Mouffe 2007: 64ff.; Séville 2017; Rippl/Seipel 2018), nur allzu folgerichtig. Dass sich der Populismus im Rahmen der Demokratie für die Übernahme einer solchen den Ideologien zugeschriebenen Funktion eignet und dabei gegen die (meist von Experten) diagnostizierten Sachzwänge politische Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen vermag, liegt nach den Ausführungen in Abschnitt 2 auf der Hand. Das Problem des Populismus als Ideologie stellt sich für die Demokratie jedoch abermals dort, wo ihr (antinomischer) Rahmen überschritten zu werden droht. Im Hinblick auf den Rechts- und Linkspopulismus gilt in dieser Hinsicht das, was für rechte und linke Ideologien, Programme und Bewegungen insgesamt gilt, nämlich dass sie sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des demokratischen Rahmens bewegen können. Der schon mehrfach zitierte Norberto Bobbio (1994: 83ff.) machte in dieser Hinsicht darauf aufmerksam, dass sich die ideologische Auseinandersetzung, die ›Rechte‹ und ›Linke‹ über das jeweilige Ausmaß und die Grenzen von Gleichheit und Ungleichheit führen, zwar in einer demokratischen, das heißt für ihn gewaltlosen, nach rechtsstaatlichen Regeln ablaufenden und mit einem allgemeinen Respekt vor der (Meinungs-)Freiheit der anderen ausgestatteten Weise ablaufen kann, dies aber nicht unbedingt tun muss. Stattdessen ist der Gegensatz zwischen ›Rechts‹ und ›Links‹ ebenso in einer extremistischen Version denkbar, die einer solche Kanalisierung des politischen Kampfes entbehrt. Der oben skizzierte antinomische Rahmen, in dem sich die diskursiven Auseinandersetzungen in der Demokratie bewegen, verhält sich dazu kompatibel und kann in diesem Zusammenhang schlicht als Verfeinerung und Präzisierung von Bobbios Ansatz gelten. Das Argument läuft hier darauf hinaus, dass das Eintreten von ›Linken‹ und ›Rechten‹ für das, was Menschen gleich oder

—————— 33 Zur Illustration dieses Sachverhalts sei zudem an ein berühmtes Zitat von Hans Kelsen (2006: 236) erinnert: »[W]enn die Frage nach dem, was sozial richtig, was das Gute, das Beste ist, in einer absoluten, objektiv gültigen, für alle unmittelbar verbindlichen, weil unmittelbar einleuchtenden Weise beantwortet werden könnte: dann wäre die Demokratie schlechthin unmöglich. Denn was könnte es für einen Sinn haben, über die Maßnahme, deren Richtigkeit über allem Zweifel erhaben feststeht, abstimmen und die Mehrheit entscheiden zu lassen?«

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ungleich macht, mit Respekt vor den unauflöslichen Widersprüchen der Demokratie und damit unter Anerkennung der in ihr jederzeit möglichen Alternativen geschehen muss. Indem der Rechts- wie der Linkspopulismus jedoch wie gesehen in erster Linie als (mehr oder weniger radikale) Vereinseitigung der Demokratie respektive als einseitige Verabsolutierung der einen Seite von demokratischen Prinzipien zu Lasten der anderen aufzufassen ist, wohnt ihm per se eine Dynamik inne, die ihrer Tendenz nach den demokratischen Rahmen eher sprengt als bestätigt, liegt in jeder Art der Vereinseitigung doch eine prekäre Nähe zur Kultivierung von Freund-Feind-Dichotomien34 sowie zur mangelnden Ausprägung von Ambiguitätstoleranz (Bauer 2018). Mithin ist nicht nur die empirisch des Öfteren bestätigte Beobachtung, dass populistische Agenden und Kommunikationsstile mitsamt ihrem Hang zur Vereinfachung und Polarisierung als Nährboden für extremistische Ideologien dienen können, unbedingt ernst zu nehmen (und nicht nur als Ausnahmeerscheinung abzutun). Als beinahe noch größere Gefahr rechtspopulistischer Ideologien ist vielmehr zu nennen, dass sie entlang der zuzugebenden Nähe zwischen Populismus und Demokratie politisch extremistische Meinungen und Argumente innerhalb des demokratischen Diskurses ›salonfähig‹ machen (Wodak 2015). Dadurch siedelt sich rechtsextremes Gedankengut als scheinbar ›normale‹ Positionierung umso leichter in der »Mitte« der Gesellschaft an (Decker u.a. 2016). Der prekäre Haupteffekt der häufig beobachtbaren ideologischen Vermischung rechtspopulistischer Positionen mit Momenten des Rassismus, der Islamfeindlichkeit, des Chauvinismus usw. ist demnach in einer Tendenz der Verharmlosung zu sehen. Perspektiven und Argumente, die im Grunde erkennbar jenseits des pluralistischen Meinungsspektrums in der Demokratie angesiedelt sind, werden (scheinbar) in die Logik der Volksherrschaft überführt, indem die populistische Komponente des ideologischen Giftcocktails explizit und formal zentrale Prinzipien der Demokratie akzeptiert und sogar forciert. Durch die Verknüpfung des Rechtspopulismus mit Aspekten extremistischer Ideologien, so könnte man sagen, wird das entstehende Gemisch für die Demokratie umso gefährlicher, weil es sich nicht als Feind von außen nähert, den eine wehrhafte Volksherrschaft entschieden bekämpfen könnte, sondern weil jenes Amalgam sich des inneren Selbstzerstörungs-

—————— 34 Siehe dazu in Abbildung 2 die Zeile zur 4. Antinomie.

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mechanismus der Demokratie bedient – deren Normen wenigstens zum Teil für sich selbst lautstark reklamierend. Jene extremistische ideologische Dynamik des aktuellen Rechtspopulismus wird noch weiter kaschiert durch den europaweit seit Längerem feststellbaren Trend, dass sich rechtspopulistische Politiker und Parteien zunehmend auf christliche Traditionsbestände und Werte berufen (Marzouki u.a. 2016; Brubaker 2017; Hennig/Weiberg-Salzmann 2020). Indem eigentlich säkular ausgerichtete rechtspopulistische Gruppen und Parteien wie PEGIDA, die AfD, die FPÖ, das Rassemblement National, die Lega, die Partij voor de Vrijheid und viele mehr heute im Kontext ihrer migrationsfeindlichen Ausländerpolitik den narrativen Gegensatz zwischen Orient und Okzident, ›christlichem Abendland‹ und ›muslimischem Morgenland‹ (vgl. Lewis 1996) von Neuem heraufbeschwören, gelingt es ihnen, ihre Doktrin in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen, von dem sie einen Legitimitätszuwachs erwarten dürfen. Die extremistische ideologische Note, die dem Rechtspopulismus insgesamt anhaftet, obwohl seine Nähe zur Demokratie wie erwähnt gar nicht in Frage steht, zeigt sich abschließend auch darin, dass sowohl der Populismus als auch der Extremismus jene »großen Erzählungen« reanimieren, die die postmodernen Reflexionen einstmals verabschiedet hatten. Mithilfe von (neuen) Verschwörungstheorien und weltpolitischen Gegensätzen wollen solche Ansätze die politische Unübersichtlichkeit der Gegenwart überwinden und dafür (alte) Orientierungsmuster anbieten (Schellhöh u.a. 2018). In der von Rechtspopulist*innen zunehmend entlang der Ideologie des Ethnopluralismus gedachten Realität, gemäß der sich weitgehend homogene Bevölkerungen feindlich und ohne Aussicht auf gemeinsame Wertvorstellungen gegenüberstehen (vgl. Holmes 2000; Spektorowski 2003; Rydgren 2007), sind die Parallelen, die sich zum Weltbild radikaler Islamist*innen und Salafist*innen auftun, keineswegs überraschend. Das ideologische Angebot von Rechtspopulist*innen passt also offenbar wie die Faust aufs Auge zum Gebot der Stunde, auf die ökonomischen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Grenzöffnungen zu reagieren, die in weiten Teilen der bis dato demokratisierten Welt für erhebliche Verunsicherung gesorgt haben (Koppetsch 2019). Ob die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen allerdings wirklich in der rechtspopulistischen Politik der Exklusion und Abschottung liegt, ist nicht nur zweifelhaft, sondern praktisch ausgeschlossen.

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4. Fazit Im vorliegenden Aufsatz wurde versucht, ein differenziertes Porträt des (Rechts-)Populismus, seines ideologischen Gehalts sowie seines komplexen Verhältnisses zur Demokratie zu entwerfen. Die dabei festgestellten Ambivalenzen sollten indes nicht darüber täuschen, dass das Risiko der (rechts-) populistischen Agenden ihre Chancen bei weitem überwiegt. Letzteres folgt vor allem aus dem Umstand, dass der (Rechts-)Populismus sich in seiner Tendenz gegen den antinomischen Diskursrahmen der Demokratie wendet, wenngleich unter bestimmten (postdemokratischen) Voraussetzungen auch positive Effekte nicht ausgeschlossen sind. Die demokratischen Prinzipien, die (Rechts-)Populist*innen bis zu einem bestimmten Grad zu Recht für sich reklamieren, können in diesem Zusammenhang angesichts der Autoimmunität der Demokratie jedenfalls schwerlich beruhigen. Das gegenwärtig europa-, ja weltweit festzustellende Erstarken (rechts-) populistischer Strömungen sollte daher zwar nicht einseitig als bedrohliches Menetekel stigmatisiert werden; es ist aufgrund seiner eigenen radikalisierenden und polarisierenden Vereinseitigungen als Gefahr aber keinesfalls zu unterschätzen. Die nachweisbare begriffsgeschichtliche und semantische Überschneidung zwischen Populismus und Demokratie ist daher kein Anlass, sich beruhigt in Sicherheit zu wiegen. Gerade seine prinzipiengeleitete Nähe zur Demokratie erweist den Populismus nämlich weniger als Politik- und Kommunikationsstil, der sich bevorzugt im Inneren der Volksherrschaft abspielt, sondern als massiv ideologisierte Veranstaltung, die in selbstzerstörerischer Manier aus dem (antinomischen) Diskursrahmen der Demokratie herausdrängt. Was die hier angestrengte, komplexe Analyse zudem gezeigt haben sollte, ist, dass die semantische Überlappung zwischen Populismus und Demokratie, populus und demos weniger als Signatur mangelnder analytischer Trennschärfe, sondern als entscheidendes Indiz für ein adäquates Verständnis populistischer Phänomene sowie das ›Double Bind‹ der Demokratie (Derrida 2006) zu interpretieren ist. Das Pejorative, das dem Populismus als Ideologisierung des ›Volkes‹ zumindest innerhalb des innereuropäischen Diskurses anhaftet, ist begriffsgeschichtlich der Demokratie jedenfalls selbst eingeschrieben, sodass sich eine Dichotomie zwischen der ›guten‹ Demokratie und dem ›bösen‹ Populismus von vornherein verbietet. Auf der anderen Seite ist jedoch ebenso wenig zu verkennen, dass die Demokratie nur darum zur zentralen Legitimitätschiffre der politischen Moderne

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avancieren konnte (Buchstein 2006: 57f.), weil es dem einschlägigen Diskurs gelang, die selbstzerstörerischen Verfallsformen der Volksherrschaft gleichsam auf den Populismusbegriff zu verlagern. Seitdem kann und muss es als eigentliche Gefahr des (Rechts-)Populismus gelten, die realen Schattenseiten der (autoimmunen) Demokratie ideologisch gleichermaßen zu entfesseln wie zu verbrämen.

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»Das waren noch gute Zeiten…« Zur Bedeutung der Ideologiekritik Kritischer Theorie für Rassismuskritik heute Ulrike Marz

Es sind vor allem die extremen, gewaltvollen Facetten des Rassismus, die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit, Medien und Politik auf sich ziehen: Angriffe auf Menschen, brennende Unterkünfte für Geflüchtete, die Tötung von Menschen auch durch Repräsentant*innen des Staates. Eine kontinuierliche Problematisierung und Kritik von Rassismus, besonders in seinen alltäglichen und strukturellen Dimensionen, bleibt zumeist den Betroffenen, politischen Akteuren und akademischen Auseinandersetzungen mit Rassismus überlassen. Im Handgemenge politischer Kontroversen wird Rassismus als Ideologie bezeichnet; in der Ideologiekritik ist allerdings strittig, ob Rassismus eine Ideologie ist. Weil Rassismus weder mit einer Rationalitätsbehauptung noch mit dem Anspruch auf Wahrheit auftritt, ist er – gemessen an den Überlegungen bei Marx und deren Aufnahme in Kritischer Theorie – keine Ideologie im strengen Sinn. Ich möchte zunächst zeigen, was der Kern des klassischen, von Marx entwickelten Ideologiebegriffs ist und welche darüber hinausweisenden Aspekte ein materialistischer Ideologiebegriff birgt. Der Beitrag behandelt das Spektrum verschiedener Ideologiebegriffe innerhalb der Kritischen Theorie um Adorno und Horkheimer und anschließend einige Einwände gegen diese Bestimmungen. Kritische Theorie hat ihren Ideologiebegriff stets an die Veränderungen der Gesellschaft angepasst. Auch der Rassismus wandelt sich, so wie sich die Gesellschaften verändern, in denen er existiert. Darum entwickle ich im Verlauf auch eine Bestimmung dessen, was Rassismen über die verschiedenen historischen und sozialen Formen hinweg verbindet. Zudem wird untersucht, wie eine Ideologiekritik des Rassismus die Wahrheitsproblematik des Ideologiebegriffs bearbeiten könnte. Der Schwerpunkt des Artikels liegt auf einer Diskussion der Verzahnung von Ideologiebegriff(en) und Rassismuskritik.

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Ideologie und Wahrheit in der Kritischen Theorie Ideologien sind keine Lügen oder betrügerische Absichten. Ideologiekritik ist auch nicht nur Sprachkritik, die Trugtendenzen des Gesellschaftlichen an der Sprache ablesen will; weder ist sie »Interessenpsychologie« noch Propagandaanalyse. Der klassische Ideologiebegriff setzt dagegen einen »emphatischen Begriff von Wahrheit« (Adorno 2011: 151) voraus; er unterstellt zunächst die Differenz von objektiv gültiger und einer verzerrten Form von Wahrheit. Im Ideologiebegriff von Marx1 verbindet sich die objektive Notwendigkeit und die Unwahrheit von Ideologien. Adorno nennt diese Marxsche Bestimmung die strenge, klassische Gestalt der Ideologienlehre2. Formen des Bewusstseins entstehen aus objektiven sozialen Prozessen, durch das Verhältnis von Produktivkräften (menschliche Arbeitskraft und Technik als Mittel zur Auseinandersetzung mit der Natur) und Produktionsverhältnissen als »Inbegriff der gesellschaftlichen Beziehungen« (ebd.: 153) mit Blick auf das Eigentum an Produktionsmitteln. Ideologien entstehen nach Adorno dort, wo den Menschen die Produktionsverhältnisse zur zweiten Natur werden, in deren Rahmen sie denken und agieren – wo also Soziales zum geschichtslosen, unabänderlichen Naturzusammenhang wird. Als »universalen Verblendungszusammenhang« (ebd.: 156) bezeichnet Adorno dieses Eingeschlossensein des Denkens in den Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Bewusstseinsbildung ist allerdings keine Einbahnstraße von der Basis zum Bewusstsein, sondern sowohl ist Objektivität vermittelt durch die erkennenden Subjekte als auch sind die Bewusstseinsformen der Subjekte stets schon durch die gesellschaftliche Realität vermittelt. Ideologie ist »gesellschaftlich notwendiger Schein« (ebd.: 219). Das heißt, in der Objektivität des Ideologiebegriffs liegt auch ein »Moment von dessen eigener Wahrheit« (ebd.: 220). Denn wenn ein Bewusstsein notwendig ist, dann

—————— 1 Marx und Engels haben ihre Ideologiebegriffe vor allem in Die Deutsche Ideologie (1969 [1845/46]), Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1975 [1888]), Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1975 [1884]) und in Das Kapital, Band 1 (1984 [1867]) entwickelt. 2 Die Kritische Theorie grenzt sich vom totalen Ideologiebegriff der Mannheimschen Wissenssoziologie ab. Dieser sei unendlich erweitert und über die »klassische Formulierung hinausgetrieben« (Adorno 2011: 171). Die relativistische Bestimmung von Ideologie als »Seinsgebundenheit«, so auch Horkheimer, mache eine Perspektive auf die »geschichtlichen Verhältnisse der Träger dieses [ideologischen, U.M.] Denkens, ihre Beziehungen zu anderen Gesellschaftsschichten und die politische Gesamtlage« (Horkheimer 1987: 294) unmöglich.

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kann es nicht nur im einfachen Sinne falsch sein. Es ist falsch und zugleich adäquat. Marx hat dies an der Lehre des freien und gleichen Tauschs im Liberalismus, der »Ideologie par exellence« (Adorno 2011: 222) expliziert. Diese Ideologie beruft sich auf Freiheit und Gleichheit, und das eben nicht einfach lügend, falsch. Der Tausch ist wirklich einer der gleichen Vertragspartner – nur dass eben der eine Partner hier seine Ware Arbeitskraft in den Tausch einzubringen genötigt ist, der doppelt freie Arbeiter – während der andere mit diesem gleichen und gerechten Tausch von Äquivalenten seinen Profit vorbereitet – die Mehrwertproduktion durch die Anwendung der erworbenen Arbeitskraft. Ideologiekritik braucht solche Wahrheitsmomente im Unwahren der Ideologie. Adorno formuliert daher als Ziel von Ideologiekritik, dass sich die Ideologie verwirkliche (ebd.: 221). Ideologie ist, was seinem selbst gesetzten Anspruch nicht oder nicht mehr genügt. Ideologiekritik nimmt begriffliche Ansprüche beim Wort. In dem Moment, in dem gesellschaftliche Realität und gesellschaftliche Postulate, Normen und Werte auseinanderlaufen, dennoch aber der Schein von deren Verwirklichung erzeugt wird, haben wir es, nach Marx und Adorno, mit Ideologie zu tun. Ideologie in ihrer klassischen Form ist geknüpft an die bürgerlich-liberale Gesellschaft. Nur hier kann der immanente Zusammenhang zwischen den Ansprüchen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit und die soziale Realität dieser Ansprüche als Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Ungleichheit ideologiekritisch sichtbar gemacht werden. Ideologiekritik hat den Bezug auf diese Ideen (das ist das Wahre an Ideologien) und die Unterminierung dieser Ideen in der Ideologie aufzuzeigen. Ideologie ist also nicht das, was wir inhaltlich falsch finden, nicht mögen oder was wir per se einfach einem politischen Lager zurechnen könnten. Was Ideologie ist, lässt sich nur immanent in der Beschäftigung mit dem Gegenstand bestimmen. In Auseinandersetzung mit den Einwänden von Seiten positivistischer Theorien, die sich gegen den Begriff der Totalität3 in der Kritischen Theorie, also gegen die Vorstellung eines gesellschaftlichen Ganzen und die Möglichkeit von Theoriebildung überhaupt wenden, kommt Adorno auf die Gren-

—————— 3 Die Kritische Theorie übernimmt von Georg Lukács dessen Vorstellung einer gesellschaftlichen Totalität, die als von der Warenform vollständig usurpiert betrachtet wird und dessen Begriff der Verdinglichung, den Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein entwickelt. Als Verdinglichung wird die Tendenz kapitalistischer Gesellschaften bezeichnet, alle Produkte und menschliche Beziehungen als Ware zu betrachten. Die Warenform durchdringe demnach alle »Lebensäußerungen« der Gesellschaft und forme diese nach ihrem Ebenbild (Lukács 1967: 96).

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zen des klassischen Ideologiebegriffs zu sprechen. Je mehr nämlich die partikulare Rationalität in der Gesellschaft bei fortgesetzter Irrationalität des gesellschaftlichen Ganzen wächst, desto stärker werden die Widersprüche. Irrational wird die Gesellschaft durch den »Widerspruch zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen« (Adorno 2011: 197). Wenn Gesellschaft aber im Spätkapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts immer irrationaler wird, sie immer mehr in »unverbundene Einzelansichten« (ebd.: 199) zerfällt, dann hat das auch Konsequenzen für den Gesellschafts- und den Ideologiebegriff, denn dieser ist angewiesen auf ein rationales Substrat. Adorno betont, wo »die Gesellschaft, von ihrer Ratio verlassen ist, das heißt, wo eigentlich die Unvernunft im Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Formen der Produktion und dem Stand der Produktivkräfte offenbar geworden ist, […] die Theorie ihr Recht verloren hat […], weil Theorie immer heißt, eine Sache mit ihrer eigenen Vernunft oder vielmehr mit dem Anspruch den sie auf Vernünftigkeit erhebt, zu konfrontieren« (ebd.: 203f.). Interessant ist hier, dass Theoriebildung und Ideologiekritik als Verfahren zusammenfallen. Und interessant ist, dass Adorno mit dem liberalen Kapitalismus und seinen Rationalitätsansprüchen auch die Hochzeit der »Ideologie« zerfallen sieht. »Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm.« (Adorno 1997c: 284)

Ideologien und deren Funktionen sowie überhaupt der Status des Ideologischen ändern sich also mit der Geschichte. Typisch für Ideologien ist nun, dass sie den geschichtlichen Charakter, den sie selber tragen, an gesellschaftlichen Zuständen, Einsichten, Verhaltensweisen usw. verleugnen. Die »Verabsolutierung des Gewordenen« (Adorno 2011: 226), sprich die Naturalisierung des Sozialen gehört zum Wesen von Ideologien. Ideologien erzeugen den Schein eines »An-Sich Seiende[n]« (ebd.). Sie tragen so dazu bei, dass die Gesellschaft als unveränderlich angesehen und tendenziell der Kritik entzogen wird. Voraussetzung für den klassischen Ideologiebegriff war eine »durchgebildete Theorie« (ebd.: 148) wie der politische und ökonomische Liberalismus. Ideologien haben objektive und subjektive Voraussetzungen. In objektiver Hinsicht müssen Gesellschaften sich gegenüber den Menschen verselbständigt haben – der Unterbau braucht gewissermaßen einen »geschlossenen Motivationszusammenhang« (ebd.: 228). In subjektiver Hin-

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sicht braucht es einen Anspruch auf Rationalität, Legitimierbarkeit und Begründbarkeit der Gesellschaft, die dort universal gilt. Ergo kann es Rechtfertigungsideologien nur dort geben, wo die herrschenden Zustände eine solche Rationalität überhaupt zulassen und wo sie überhaupt der Selbstrechtfertigung bedürfen. Ideologie, so klassisch verstanden, ist demnach kein »abstrakter Universalbegriff« (Adorno 2011: 229), sondern gilt nur für die bürgerliche, nicht aber beispielsweise für die feudale Gesellschaft oder für den Nationalsozialismus4. Das heißt, dass wir unter diesem klassischen Ideologiebegriff nicht alle »falschen Bewusstseinsformen« subsumieren können. Adorno spricht davon, dass Ideologien heute dünn und brüchig geworden seien und dass sich der Begriff von Ideologie im Sinne »eines notwendig falschen Bewusstseins« (ebd.: 231) aufzulösen beginne. Die Strukturveränderungen im Ideologiebegriff seien auf die Strukturveränderungen in der Gesellschaft zurückzuführen (ebd.: 266). Welche Strukturveränderungen das sind, skizziert Adorno in seinem Einleitungsvortrag Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (1997g [1968]) auf dem 16. Deutschen Soziologentag. Diese Veränderungen betreffen erstens, die zunehmende Irrationalität der Gesellschaftsstruktur (ebd.: 359); zweitens, die Steigerung von Unfreiheit, Abhängigkeit und Unterdrückung durch eine verselbständigte Apparatur (ebd.: 360); drittens, die Kennzeichnung der heutigen Gesellschaft nach dem Stand ihrer Produktivkräfte als Industriegesellschaft und als Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen (ebd.: 361); viertens, die verselbständigte Rolle von Technik ausschließlich zu Zwecken des Profits und nicht der Verwirklichung eines guten Lebens für alle Menschen (ebd.: 369); fünftens, das Übergreifen ökonomischer Verfahrensweisen auf »andere Bereiche der materiellen Produktion, auf Verwaltung, auf die Distributionssphäre« (ebd.: 361) und auf die Kultur sowie sechstens, die Verschränkung von ökomischen mit massenmedialen Momenten zur »Gleichschaltung« (ebd.: 367) von Menschen. Warum aber führen diese Strukturveränderungen zu einer Veränderung von Ideologie? Viele dieser Veränderungen bilden die Grundlage für die Charakterisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft als »verwaltete Welt« mit deren »Primat der Administration« (Adorno 1997i: 372) und der »Verselbständigung exekutiver Instanzen« (Adorno 1997e: 145). Die Menschen werden in den »Bann« (Adorno 1997g: 370) des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges gezogen und nicht mehr nur einer ausgearbeiteten

—————— 4 Darauf komme ich später unter dem Punkt der Grenzen von Ideologiekritik zurück.

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Theorie. Entsprechend übernehme die Funktion der einst relativ selbständigen Ideologien nun das »Bestehende selbst« (Adorno 2011: 234), welches sich so fest, unveränderlich und erfolgreich darstellt, dass jede Utopie einer anderen Gesellschaft unmöglich erscheint. Die gesamte Gesellschaft sei ideologisch geworden, insofern sich die Funktionen von Ideologien – Rechtfertigung und Komplementierung von sozialen Verhältnissen5 – auf den gesamten Gesellschaftszusammenhang übertragen (ebd.). Vielleicht, so Adorno, beginnen die Komplementärideologien dort zu überwiegen, wo gesellschaftliche Ordnungen als zweite Natur6 erscheinen und gar nicht mehr zur Disposition stünden (Adorno 2011: 251). Komplementierend wirken Ideologien, wenn sie die soziale Realität zu einer »postulierte[n] Idealsphäre« (Lenk 1971: 27) verklären. In Komplementärideologien werden, stärker als in Rechtfertigungsideologien, »Herrschende wie Beherrschte« (ebd.: 26) Träger der Ideologie. Diese Einsicht verbietet es, Ideologie nur auf partikularistische Interessen zurückzuführen. Auch bei diesem neuen Ideologiebegriff könne, so Adorno, von einem notwendig falschen Bewusstsein gesprochen werden, weil gesellschaftliche Veränderung als unmöglich gilt. Ideologie zerteile sich nun in

—————— 5 »Ideologie ist Rechtfertigung« (Adorno 1997a: 465; Hervorhebung im Original). Adorno unterscheidet neben Rechtfertigungsideologien noch Komplementär- und Verschleierungsideologien (2011: 249f.; 262f.). Kurt Lenk arbeitet in Volk und Staat (1971) diese Typologie politischer Ideologien weiter aus und ergänzt sie um den Typ der Ausdruckideologie. 6 Der Begriff der zweiten Natur ist freilich kein eigens für die spätkapitalistische Gesellschaft entwickelter Begriff – er reicht bis in die antike Philosophie zurück, wo er einen Gewöhnungsprozess beschrieb (Rath 1984: 484ff.). Auch bei Hegel findet sich noch dieses Moment von Gewohnheit. In der Unterscheidung von subjektiver und objektiver, zweiter Natur bekommt er zwei Bedeutungsmomente: subjektiv beschreibt hier die in Sozialisationsprozessen gebildeten leiblichen und geistigen Aspekte des Menschen; objektiv hingegen erfasst die »Eigengesetzlichkeit des sozialen Lebens und seiner Institutionen« (Hogh/König 2011: 421). Marx verwendet, zumindest dem Sinn nach, den Begriff prominent im Fetischkapitel (vgl. MEW 23: 86) und Lukács kombiniert ihn mit dem Verdinglichungstheorem (1967: 97). Sowohl bei Marx als auch bei Lukács, Adorno und Horkheimer meint zweite Natur die Verselbständigung sozialer Entwicklungen und Prozesse, die weitestgehend entkoppelt sind von konkreten Handlungen der Menschen und als naturwüchsig erscheinen. Adornos erweiterter Ideologiebegriff reagiert auf die Steigerung einer bereits bei Marx und Lukács beschriebenen Tendenz kapitalistischer Gesellschaften zur Verselbständigung. In der »durchvergesellschaften Gesellschaft« (Adorno 1997b: 59), der »verwalteten Welt«, die die Menschen in ihren »totalen gesellschaftlichen Bann« (Adorno 1997i: 342) zieht, sei das Gleichgewicht von Individuum und Kollektiv zugunsten des Kollektivs verschoben. Die Suggestion, dass Gesellschaft nur so und nicht anders möglich sei, ist die Erscheinung, in der sich der ausweglose gesellschaftliche Einschluss offenbart (ebd.: 342).

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Anbetung, und das, was sie dem klassischen Ideologiebegriff nach nie war: Lüge. Nicht jedoch am subjektiven Bewusstsein entscheide sich, ob etwas Ideologie sei, sondern anhand der Strukturen der Kategorien in denen ein Mensch denke und handele (Adorno 2011: 241f.) Als zentraler Vermittler der Ideologie gilt der Kritischen Theorie seit der Dialektik der Aufklärung die Kulturindustrie, deren Objekte die Menschen sind. Im so genannten »Kulturindustriekapitel« stellen Horkheimer und Adorno (1997) heraus, dass Wahrheit keine Referenz mehr sei. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden hier gerade nicht hinterfragt; sie werden als unveränderlich dargestellt und gerechtfertigt – »positivistisch zu unveränderlichen Tatsachen erhoben« (Rehmann 2016: 14), als naturhaft dargestellt. Der vorher noch emphatisch verteidigte klassische Ideologiebegriff erfährt nun mit einem »freien Ideologiebegriff« (Adorno 2011: 255) eine Ausweitung auf die gesamte Gesellschaft. Über die Probleme solcher Abstraktion war sich Adorno mit Walter Benjamin einig (ebd.: 253f.). Zentral für die Verallgemeinerung des Ideologiebegriffs ist zudem dessen Ausweitung auf die instrumentelle Vernunft. Instrumentelle Vernunft ziehe sich durch die gesamte menschliche Herrschaftsgeschichte. Vernunft ist einerseits der Ausgangspunkt für die Reflexion und Infragestellung von vorgeschriebenen Zwecken und andererseits, in ideologischer Hinsicht, Begründung für die »notwendige« Unterordnung und Einpassung in bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse (Rehmann 2016: 11). Der Modus der instrumentellen Vernunft ist das identifizierende Denken, welches subsumiert und das Andere, nicht Einzuordnende, einfach weglässt. Identitätsdenken sei dann ideologisch, wenn behauptet wird, dass etwas Dargestelltes vollständig in Wirklichkeit aufgehe (ebd.: 23f.). Horkheimer und Adorno stellen fest, dass instrumentelle Vernunft in dem Bedürfnis, die Natur und andere Menschen zu beherrschen, seinen Ursprung habe (vgl. Horkheimer 1991: 176f.; Horkheimer/Adorno 1997; Adorno 1997f.). Kennzeichnend für Adornos und unsere Gegenwart seien »triebferne Kälte, Kalkulation und Strenge« (König 2016: 124). Im Arbeitsprozess werde das unterdrückt, was Horkheimer und Adorno mit Mimesis beschreiben; also jene Verhaltensweisen, wo sich Menschen der ersten äußeren Natur hingeben, wie in archaischen Phasen der Naturbeherrschung. Die bürgerliche Produktionsweise brauche diese Hingabe nicht; sie brauche lediglich die Anpassung an die zweite äußere Natur (die künstlich produzierte Umwelt). Die Schmähung mimetischer Verhaltensweisen steht im Zentrum zivilisatorischer Maßgaben: Fallenlassen, Hingabe und Über-

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antwortung wirken bedrohlich. Mimesis habe etwas von Mitempfinden, Mitleid, Liebe zu anderen Menschen, Hingabe und Anverwandlung7 (Gebauer/Wulf 1998: 395). Gegen dieses Verhalten geht das bürgerliche Subjekt an: »In der Verhärtung dagegen ist das ICH geschmiedet worden« (Horkheimer/Adorno 1997: 205).

Grenzen der Ideologiekritik Die Ideologiekritik steht mit ihrer marxistischen Tradition und deren Frankfurter Fortführung sowohl als theoretisches Konzept wie auch als Methode in der Kritik. Als zentral für die Ablehnung des Ideologiekonzeptes müssen Verschiebungen in den konzeptionellen Bezugspunkten von Gesellschaftstheorien gelten, die neben dem Ökonomismusvorwurf8 zu zwei zentralen Einwänden führten, denen hier nachgegangen werden soll. Der Ideologiekritik liege (1.) ein überholtes Verständnis von Wirklichkeit und Wahrheit sowie (2.) die Vorstellung eines Erkenntnisprivilegs zugrunde. Aber auch innerhalb der Kritischen Theorie kam es (3.) zu einer Problematisierung des Ideologiebegriffs, die bereits angedeutet und hier noch weiter vertieft werden soll. (ad 1) Wenden wir uns zunächst dem Wahrheitsproblem zu: Vor allem aus postmoderner Perspektive wurde die Ideologiekritik für unbrauchbar erklärt. Die Vorstellung eines notwendig falschen Bewusstseins ist der zentrale Gedanke dieses Ideologiebegriffs und wird nun zu einem epistemologischen Problem. Dieses Problem resultiert maßgeblich aus der postmodernen Ablehnung der Vorstellung, dass es eine objektiv erkennbare materielle Realität gebe, deren Erkenntnis durch ein falsches Bewusstsein verhindert werde: zwei Auffassungen, die den Kern von Ideologie Marxscher Prägung bilden. Dass in der Zurückweisung eines deterministisch gedeuteten Basis-Überbau-Modells sicher auch »die marxistische Ideologiekritik unter Wert gehandelt wird« (Reitz 2004: 709) überrascht kaum

—————— 7 Für den Mimesisbegriff gilt dessen Abhängigkeit von Konstellationen, »die sein Umschlagen von zwanghafter Anpassung in spielerische Anverwandlung« (Koch 1992: 19) regelt. 8 Der Vorwurf des Ökonomismus, auf den hier nicht näher eingegangen wird, kritisiert die Vorstellung, dass allein aus der Wirtschaftsweise einer Gesellschaft, nicht aber beispielsweise auch aus kulturellen Faktoren soziale Formen, menschliche Beziehungen und Bewusstseinsstrukturen sowie soziale Praxen abgeleitet werden könnten.

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angesichts der Vielzahl von Marxist*innen, die Marx tatsächlich reduktionistisch, rein ökonomistisch und funktionalistisch ausgelegt und angewendet haben (zum Beispiel in der Dimitroff-Formel). In postmodernen Theorien nun sind nicht mehr ökonomische Verhältnisse prägend für die Theoriebildung, sondern Narrative, Episteme und Diskurse. In das Zentrum der Kritik rücken hier Wissen, Blicke, Identitäten und soziale Verkehrsformen des Alltags. Ein Ende von Ideologien (post-ideologisches Zeitalter) proklamieren daher nicht nur jene Theoretiker*innen (beispielsweise Bell 1960; Aron 1957) seit den 1950er Jahren, die damit die zunehmende Bedeutungslosigkeit großer Weltanschauungssysteme, wie den so genannten »realexistierenden Sozialismus«, meinen, sondern auch Vertreter*innen jener Theorien, die davon ausgehen, dass sich mit der Infragestellung von objektiver Wahrheit jede Frage nach Ideologie und der Angemessenheit von Wirklichkeitsbeschreibungen erledigt. Lyotard beispielsweise begründet die Irrelevanz von Ideologien mit der zunehmenden Skepsis der Menschen gegenüber der Möglichkeit von Letztbegründungen (Lyotard 1999). (ad 2) Ein weiterer Einwand kritisiert den Ideologiebegriff in seiner Bestimmung als »falsches« Bewusstsein, weil von einem elitären Erkenntnisprivileg einiger Intellektueller ausgegangen werde, die spiegelbildlich ein richtiges Bewusstsein hätten. Aus den Reihen der Cultural Studies, die sich nach ihrer Adaption linguistischer Theorieangebote von ihren marxistischen Bezügen entfernten (Hall 2004: 45), wurde infrage gestellt, dass ein Großteil der Menschen sich in einer Gesellschaft systematisch über ihre Interessen täuschen könne (Hall 1989: 186). Auch der der neueren Kritischen Theorie verbundene Robin Celikates wendete sich jüngst gegen die Vorstellung, dass soziale Akteure über keinerlei Reflexionsvermögen verfügten und sucht darum, Ideologiekritik mit ethnomethodologischen Prämissen anzureichern (Celikates 2009). Damit verbunden ist die Frage, wie Emanzipation überhaupt denkbar sein sollte, wenn ein Großteil der Menschen verblendet ist. (ad 3) Es wurde bereits gezeigt, dass die Kritische Theorie um Horkheimer und Adorno seit den 1940er Jahren den klassischen Ideologiebegriff selbst als unangemessen für die Beschreibung und Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft charakterisierte. Unangemessen erschien Ideologiekritik aufgrund einer neuen Gesellschaftsdiagnose, die die vollständige ideologische Überformung der Gesellschaft beschrieb – eine Vorstellung, die in dem Begriff des universellen »Verblendungszusammenhangs« (Adorno 1997h: 582) konzeptionell erfasst wurde. Darüber hinaus habe klassische Ideologiekritik, so Adorno, nur dort noch einen Gegenstand, wo die Einrichtung einer

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vernünftigen Gesellschaft überhaupt zur Disposition steht. Dort, wo diese Bedingungen von Kritik nicht mehr gegeben sind, könne auch Ideologiekritik selbst nichts mehr ausrichten. Das trifft aus Sicht der Kritischen Theorie vor allem auf totalitäre Gesellschaften, wie den Nationalsozialismus, zu, der durch seine objektive Gewaltförmigkeit in der Lage war, eine bestimmte Weltanschauung durchzusetzen. Wo die Weltanschauung nur noch »von oben« diktiert werde, »ist in der Tat Ideologiekritik zu ersetzen durch die Analyse des cui bono« (Adorno 1997a: 466). Adorno geht es darum zu zeigen, dass unter dem Eindruck totalitaristischer Gesellschaftsformationen der Ideologiebegriff zunehmend überflüssig wird. Der Vernichtungswunsch, die autoritäre Wut ist für Adorno gerade keine Ideologie mehr. Eine totalitäre, undemokratische Gesellschaft muss die Legitimierung von Ungleichheit nicht hinter Ideologien verstecken; sie kann sie nahezu offen propagieren, weil sie weitgehend auf rationale Rechtfertigungen verzichten kann. Der Liberalismus ist, als Leitbeispiel für Ideologie, Gegenstand der Ideologiekritik; der Nationalsozialismus und der rassistische Antisemitismus sind es aber nicht mehr. Ihnen fehlt die immanente Rationalität, die kritisch beim Wort zu nehmen wäre. Wo psychologische und nicht sachliche Logik vorherrscht, da kommt Ideologiekritik an ihr Ende. Tilman Reitz meldet gegen diese von Adorno gesetzte Grenze des Ideologiebegriffs Bedenken an: Denn wird beispielsweise völkisches Denken im Nationalsozialismus dadurch weniger ideologisch, weil die »Herrschenden« davon auch einen Nutzen hatten (Reitz 2004: 705)? Wenn Ideologiekritik also voraussetzt, dass Herrschaft noch legitimiert werden muss, so ist Ideologiekritik auch in demokratischen Gesellschaften ein durchaus probates Instrumentarium, denn Demokratien sind beständig gezwungen ihre Herrschaft zu legitimieren. Ideologien walten dort, wo ihre Apologeten noch den Anspruch auf »Autonomie und Konsistenz« (Adorno 1997a: 466) erheben – also dort, wo rassistisches Denken beispielsweise mit dem Anspruch auftritt, gerade nicht rassistisch zu sein. Ideologien sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht vollständig in ein totalitäres Gesellschaftssystem eingemeindet sind, sondern es in ihnen noch formulierte Ansprüche auf Begründung, Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit gibt.

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Aspekte des Rassismus So wenig es der klassische Ideologiebegriff hergibt, Ideologie als Manipulationsinstrument oder Interessenpsychologie zu denken, so wenig sollte auch eine ideologiekritische Bestimmung Rassismus als funktionalistische Manipulationstheorie; als intentional eingesetztes Werkzeug zum Zwecke der Ausbeutung von Arbeitskraft; als Mittel der Bourgeoisie zur Aufrechterhaltung von Herrschaft und zur bewussten Spaltung der Arbeiterkasse analysieren. Auch Rassismus ist nicht über »cui bono« Erklärungen zum Instrument der Herrschenden zu erklären, wie es in einigen marxistischen Rassismuskritiken geschehen ist (zum Beispiel Callinicos 1999; Osterkamp 1989; Cox 2000 [1948]). Es gibt funktionalistische Aspekte in jedem Rassismus, aber die Verselbständigung rassistischer Vorstellungen im Alltagsbewusstsein und der Vollzug rassistischer Praxen sind damit nicht zu erklären. Zweifellos gibt es einen immanenten Zusammenhang von kapitalistischer Überausbeutung und Rassismus sowohl im Verhältnis von Peripherie und Zentrum wie innerhalb des Zentrums (vgl. beispielsweise Schmitt-Egner 1976; Wallerstein 1998; Melber 1992; Ruf 1989). Rassismus bildet die Legitimationsgrundlage für die Einrichtung und Aufrechterhaltung »ökonomischer Sondersphären« in den Zentren selbst. Jene Sphären – in der Landwirtschaft, Sexarbeit, dem Pflege- und Gesundheitswesen, Bauwesen und in der Gastronomie – sind weitestgehend entkoppelt von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und deren Standards. Die Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten, sind häufig illegalisiert (Zinflou 2016: 63) und durch die Struktur der Arbeitsverhältnisse nicht nur überausbeutbar, sondern auch gesundheitsgefährdet, in ihrer Unterbringung kaserniert und ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Doch in dieser ökonomischen Dimension erschöpft sich Rassismus nicht. Um Rassismus als Ideologie zu kritisieren, müssen wir wissen, worüber Rassismus spricht. Auch wenn die Bestimmung dessen, was Rassismus ist, in verschiedenen Rassismuskritiken strittig ist, so lassen sich doch die folgenden sechs Vorstellungen herausstellen, die zentral für viele Formen von Rassismus sind: Der Rassismus lebt erstens von der Vorstellung, dass das »Andere« und »Fremde« eine Bedrohung für die eigene Identität und eine Konkurrenz in sowohl identitärer wie ökonomischer Hinsicht sei. Dem Rassismus gilt zweitens die Separierung von Gruppen im Kern als Strategie zur Befriedung der Welt, weil sie soziale Konflikte und als schädlich angesehene Vermischungen von »Rassen« und »Kulturen« ver-

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hindere. Dem Rassismus ist drittens die Vorstellung immanent, dass es eine Essenz (»Rasse« oder »Kultur«) im Menschen gäbe, die unveränderlich sei und die das Verhalten und die Entwicklungspotentiale von Menschen bestimme. Rassismus naturalisiert daher das Soziale. Die vierte Vorstellung stellt die Gemeinschaft in pseudo-biologischen Gruppen (Familie, »Volk«, »Ethnie«, »Rasse«, »Kultur«) vor das Individuum. Ungleichheit, so die fünfte Vorstellung, hänge mit jener Essenz zusammen und nicht mit sozialen Faktoren. Schließlich umfasst Rassismus, sechstens, immer die Vorstellung, dass menschliches Erbgut verbessert oder wenigstens geschützt werden solle (Marz 2020: 48). Trotz dieses Versuches, einige universal geltende Merkmale zu bestimmen, bleibt es für jede Rassismuskritik wichtig, die historisch spezifische Ausprägung und die jeweiligen Entstehungskontexte des zu untersuchenden Rassismus herauszuarbeiten. In der Rassismusforschung werden in analytischer Hinsicht vor allem fünf parallel existierende Formen von Rassismus unterschieden. Neben dem biologistisch und dem kulturalistisch argumentierenden Rassismus sind dies der institutionelle, strukturelle und alltägliche Rassismus, auf die ich später zurückkomme. Der Rassismus ist partikularistisch, aber im Zusammenhang mit der Verbreitung von Universalismen entstanden. Rassismus bestreitet die Einheit der Menschheitsgattung und befürwortet in der Theorie und in der sozialen Praxis Spaltungen, Wertungen und Hierarchisierungen. Das schließt auch den Neo-Rassismus ein, der sich durch einen ausgeprägten Ethnopluralismus begründet. Der Rassismus ist universalistisch einzig in seiner Forderung nach Differenz. Jede*r wird einer »Rasse« oder »Kultur« oder einem »Volk« zugeschlagen, es kann gemäß der Logik des Rassismus niemanden geben, der*die als Subjekt von dieser kollektiven Zuordnung ausgeschlossen bleibt. Der Rassismus setzt die ubiquitäre Existenz von »Rassen« unveränderlichen Kulturen weltweit voraus oder spannt die »Rassen«/»Kulturen« in ein gemeinsames Entwicklungskontinuum ein. Rassismus leugnet die Sozialität der menschlichen Existenz, indem er Menschen in wesenhaft und unveränderlich scheinende Gruppen zusammenfasst (ebd.: 226f.).

Das »Wahre« des Rassismus Die Bestimmung von Ideologie als notwendig falschem Bewusstsein hat, wie bereits erwähnt, Kritik auf sich gezogen. Die Wahrheitsproblematik des Ide-

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ologiebegriffs soll hier noch einmal aufgegriffen und im Zusammenhang mit dem Rassismus besprochen werden. Ich werde zeigen, dass der Wahrheitsbegriff zwei voneinander zu trennende Ebenen enthält, deren Vermischung das Unbehagen am Begriff des falschen Bewusstseins erklären kann. Der Rekurs auf Wahrheit in der Ideologiekritik operiert, erstens, auf einer epistemologischen Ebene. Zweitens ist dieser Rekurs auf Wahrheit auch Teil des Anspruchs eines dialektischen Verfahrens, das sich seinem Gegenstand nähert. (ad 1) Ideologiekritik hat den »Anspruch auf Wahrheit im Kritisierten« (Adorno 1997a: 466). Braucht Ideologiekritik also das Kriterium der nicht nur in sozialwissenschaftlichen Theorien weithin diskreditierten Idee von »Wahrheit«? Kritische Theorie arbeitet nicht mit absoluten Wahrheitsansprüchen, aber eben doch mit dem Anspruch, der Idee von Wahrheit vermittels der Kritik am Unwahren indirekt genügen zu können. In ihrer Ideologiekritik geht es um die Darstellung der Struktur des ideologisch überformten Weltverständnisses. Tilman Reitz plädiert für einen reduzierten – dafür aber die unmittelbare Existenz und Unversehrtheit der Menschen berührenden – Wahrheitsrekurs in der Ideologiekritik, wenn er schreibt, dass der Anspruch, herrschaftsfrei Ideologiekritik zu betreiben, nicht vollständig verwirklichbar sei: »Gerade hier liegt aber wohl der entscheidende Einwand gegen die Assoziation von Ideologiekritik mit absoluten Wahrheitsansprüchen: Ihr geht es ohnehin nie allein um Erkenntnis, sondern v.a. um Befreiung. Die Wahrheit und die Objektivität, die dabei im Spiel ist, beschränkt sich auf einsichtige Annahmen der Art, dass Menschen in bestimmten Lagen ein Interesse daran haben, nicht mehr derart ausgebeutet, herumkommandiert und bevormundet zu werden.« (Reitz 2004: 713)

Auch Adorno sucht zur Begründung von Wahrheit und Falschheit die Nähe zu den konkreten Menschen und ihrem Leiden, wenn er schreibt, dass die Wahrheit bei den Produktivkräften läge, also bei den Menschen, an dem Ort, wo sich deren Leben produziert und reproduziert (Adorno 2011: 155). Ideologiekritik versucht das, was gesagt wird, auf dem Terrain des Wahrheitskampfes zu widerlegen und immanente Falschheit mit externalen sozialen Produktionsbedingungen zusammenzudenken. Ein Beispiel wäre der politische Umgang mit den formulierten Ängsten und Sorgen von »besorgten«, deutschen Bürger*innen in der Migrationsdebatte. Eine Ideologiekritik würde diese Ängste nicht per se als erlogen zurückweisen. Sie würde auf jene Mechanismen schauen, die Angst und Ohnmacht im kapitalistischen Gesellschaftszusammenhang systematisch produzieren und jene Verarbeitungs-

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formen beschreiben, die gesellschaftlich produzierte Ängste beispielsweise über das umstrittene Konzept der Fremdenfeindlichkeit9 erklären und als natürlich legitimieren. Die Aufgabe von Ideologiekritik wäre hier eine Kritik an der Naturalisierung von Angst in manchen Konzeptionen von Fremdenfeindlichkeit als normales Abwehrverhalten gegen »verfremdete« Menschen10 bei gleichzeitiger Zurückweisung oder Ignorierung von historisch-spezifischen Bedingungen der Produktion von Angst und Unsicherheit in der kapitalistischen Konkurrenz, zum Beispiel um Lohnarbeit oder Wohnraum. Der bloße Aufweis eines sozialen Ortes oder eines sozialen Interesses hinter einer konkreten Wissensproduktion hingegen genügt Ideologiekritik nicht. Eine partikulare Wahrheit, die nur authentifiziert wird über Erfahrungswissen, wäre darum für Ideologiekritik nicht ausreichend. (ad 2) Kommen wir nun zur zweiten Ebene des Wahrheitsbegriffs in der Rede vom notwendig falschen Bewusstsein: der Ideologiekritik als dialektischem Verfahren. Rassismus hat ein wahres Element: ja, es gibt Unterschiede zwischen den Menschen. Falsch ist jedoch der Versuch des Rassismus, diese Unterschiede biologisch herleiten und ordnen zu können sowie sie mit weiteren Zuschreibungen anzureichern. Dieser rassistische Ordnungsversuch differenziert nicht nur willkürlich; er differenziert nach gesellschaftlich geeignet erscheinenden Kriterien. Rassistische Kategorien stellen deshalb nicht eine negative Bewertung bereits vorhandener Kategorien dar. Rassismus stellt diese Kategorien erst her. Bei Robert Miles ist dies im Begriff der Bedeutungskonstitution gefasst. Das heißt, nur diejenigen körperlichen Merkmale werden zu Bedeutungsträgern, die sich als sozial relevantes Distinktionskriterium anbieten. Miles zeigt, dass nicht die Hautfarbe Grund der Unterscheidung ist, sondern dass bestehende soziale Unterschiede über die Hautfarbe erklärt werden sollen. Die Wahrnehmung des Sozialen nach Hautfarbe macht klar, wo ein*e jede*r hingehört. Miles betont jedoch auch, dass sich die Merkmale, die zu Bedeutungsträgern werden, historisch verändern. Der Kern der Rassenkonstruktion besteht darin, dass die definierte Gruppe für »eine von Natur aus existierende Gruppe gehalten [wird], die sich entsprechend biologisch reproduziert« (Miles 2000: 21). Ideologisch wird dieser Ordnungsversuch, wenn damit Herrschaftsverhältnisse verschleiert werden sollen, um sie der Kritik zu entziehen. Ein anderes Moment der Wahrheit von Ideologien ist zudem der Umstand, dass Ideologien sich trotz ihrer objektiven Falschheit selbst wahr

—————— 9 Vgl. hierzu die Diskussion um das Konzept der Fremdenfeindlichkeit Marz 2020: 57–61. 10 Vgl. zum Vorgang der Verfremdung Dahmer 2020: 38f.

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machen. Sie übersetzen sich in soziale Praxis und zeitigen Folgen: Menschen werden getötet als Repräsentant ihrer vermeintlichen »Rasse«; sie werden institutionell benachteiligt; ein etwaiger marginalisierter sozialer Status wird nicht durch die ihnen verweigerte gesellschaftliche Teilhabe erklärt, sondern ideologisiert als Ausdruck von Faulheit. Rassismus als Ideologie kann aber auch mit der Begründung als falsch charakterisiert werden, weil auch »normative Aussagen rationaler Kritik zugänglich sind und die Entscheidung für oder gegen Unterdrückung keine bloß idiosynkratische Geschmackssache ist« (Biskamp 2018: 71). Diese Erläuterungen des Wahren und Falschen am Rassismus lassen noch ungeklärt, was notwendig am rassistischen Bewusstsein ist. »Notwendig« heißt eben nicht, dass diesem Bewusstsein niemand entkomme. Die Produktionsweise ist zwar prägend, aber historisch gesehen unterschiedlich stark und nicht umfassend determinierend. Ideologien sind gewissermaßen realitätsadäquate Denkweisen, die sich in die soziale Praxis einschreiben und aus bereits bestehenden gesellschaftlichen Manifestationen solcher Praxen hervorgehen. Ideologien sind die »gedankliche Widerspiegelung einer Gesellschaft, deren innere Organisation und äußere Erscheinung auseinanderklaffen» (Schnädelbach 1969: 89; auch Jaeggi 2009: 275). Gerade in dieser Realitätsadäquanz von Ideologien liegt eben ihre Wahrheit. »Notwendig« meint darüber hinaus auch die Feststellung, dass ohne rassistische Strukturen und Menschen, die sich der Herrschaft unterwerfen und die im Alltag rassistische Praxen reproduzieren, diese Gesellschaft nicht bestehen könnte. Gäbe es keine rassistische Ideologie, die Menschen glauben lässt, alles gehe gerecht zu, eine schlechtere soziale Position sei das Ergebnis von schlecht genutzter Chancengleichheit, gefährliche und schmutzige Jobs führten diejenigen aus, die von ihrer intellektuellen und körperlichen Veranlagung zu nichts anderem in der Lage seien und so weiter, es gäbe vielleicht andere soziale Verhältnisse, weil dann Ausbeutung, Unterdrückung »nur durch Zwang und Gewalt aufrechterhalten werden« (Biskamp 2018: 72) könnten. Soziale Verhältnisse, der Zusammenhang von der besseren Stellung der einen und der inferioren Position der anderen, lägen offen zu Tage, könnten kritisiert und verändert werden. Es sind folglich nicht nur die Denkweisen, die falsch sind, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie entstammen. Deshalb zielt Ideologiekritik immer auch auf die Veränderung gesellschaftlicher Praxis, und nur so überwindet die Frage nach dem »cui bono« des Rassismus ihre

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tendenziell personalisierende Verkürzung. Ideologiekritisch betrachtet ist der Rassismus mehr als nur eine Weltanschauung; er ist eine soziale Praxis.

Ideologiebegriff und Rassismus Die Bestimmung dessen, was Ideologie sei, ändert sich in der Kritischen Theorie in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Entwicklung. Es wurde im ersten Abschnitt gezeigt, dass sich Kritische Theorie einerseits auf einen engen, klassischen Ideologiebegriff bezieht: Eine Theorie beziehungsweise ein Weltanschauungssystem tritt hier mit einem Rationalitäts- und Wahrheitsanspruch auf. Die Funktion der Ideologie ist Rechtfertigung und die Verabsolutierung des Gewordenen. Zum anderen wird ein freier, erweiterter Ideologiebegriff entwickelt, der auf die gesellschaftlichen Veränderungen im Spätkapitalismus rekurriert. Dieser wird auf die Gesellschaft als Ganzes angewendet und weist kaum noch konkrete Inhalte auf. Zentral ist vielmehr die Vorstellung, dass bestehende Verhältnisse nicht mehr hinterfragt werden, unveränderlich, gleichsam als zweite Natur erscheinen. Schon Marx hat Naturvokabeln (»gesellschaftliche Natureigenschaft«; »Naturgesetze der Produktion«) verwendet, um die kapitalistische Gesellschaft seiner Zeit und deren Rechtfertigungsverhältnisse zu kritisieren. Das Credo von Rechtfertigung im 19. Jahrhundert war, dass die Verhältnisse gut und richtig sind. Adorno spricht zur Charakterisierung des Spätkapitalismus im 20. Jahrhundert von der zweiten Natur, weil die Rechtfertigungsansprüche viel loser geworden sind als noch zu Marxens Zeit; soziale Verhältnisse sind legitim allein deshalb, weil sie eben da sind. Nicht nur niedere Schichten – bei Marx die Arbeiter*innen – leben ein Leben in einer »ungeheuerlichen gesellschaftlichen Maschinerie« (Adorno u.a. 1989: 123), sondern alle sozialen Schichten seien eingespannt in gesellschaftlich vorgegebene Formen, deren Irrationales rationalisiert und fixiert wird, ohne im Ernst noch darüber nachzudenken, wie soziale Verhältnisse geändert werden könnten. Dem entspreche die autoritäre Persönlichkeit, die die Verwaltung der Welt in ihr Innerstes integriert habe (ebd.: 124–127; 136). In diese Verallgemeinerung des Ideologiebegriffs fallen auch die Überlegungen zur instrumentellen Vernunft und zum identifizierenden Denken. Unverändert präsent bleibt in beiden Varianten – dem klassischen und dem neuen Ideologiebegriff – die Idee eines objektiv notwendigen und zugleich falschen Bewusstseins. Im

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Folgenden werden die in der Rassismusforschung etablierten fünf Formen des Rassismus mit der Diskussion um den Ideologiebegriff zusammengeführt. Für die Charakterisierung des Rassismus als Ideologie sprechen zahlreiche Gründe: Er ist Herrschaftsform und Rechtfertigung, er ist die Naturalisierung des Sozialen. Als Herrschaftsform wirkt Rassismus, weil er systematisch den herrschaftsförmigen Charakter von Bildungszugängen und Verteilungen auf dem Arbeitsmarkt mitreguliert, aber die Frage nach der Genese der Ungleichverteilungen ausblendet. Die alte rassistische Vorstellung von der »Dummheit der Schwarzen« ist für Rassist*innen überzeugend, weil sie etwaige Bildungsgunterschiede als Ausdruck natürlicher Anlagen wertet und nicht als Resultat sozialer Prozesse, wie zum Beispiel dem verweigerten Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe – etwas, was bei Adorno im Begriff der Verschleierungsideologie mitgedacht wird (Adorno 2011: 262). Diese Überlegungen haben, wenn auch ohne Verweis auf die Ideologiekritik, Eingang in die Rassismusforschung gefunden. Weiter oben wurden die Begriffe des strukturellen Rassismus und des institutionellen Rassismus (1.) bereits erwähnt. Diese Begriffe werden in der wissenschaftlichen Diskussion vielfach synonym gebraucht, um jene Fälle von rassistischer Ausgrenzung und Ungleichbehandlung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, im Bildungssystem und in der politischen Repräsentation zu erfassen, die aus den Normen, Gesetzen und verschiedenen Logiken in den Institutionen einer Gesellschaft erwachsen. Sie hängen weniger mit konkreten einzelnen rassistischen Akteur*innen, sondern mit systematisch ausgrenzenden Effekten von Bestimmungen, Verfahrensweisen und Gesetzen in Institutionen zusammen. Die Frage, ob Rassismus ohne Intentionalität funktioniert, ist in der Forschung umstritten. Insbesondere Miles hat auf die Notwendigkeit des Nachweises einer vorgängigen expliziten rassistischen Praxis hingewiesen, die in Institutionen weiter unentdeckt fortwest (Miles 1999: 113). Ideologiekritik deutet auf den Zusammenhang zwischen normativen Idealen und der tatsächlichen Verfasstheit einer Institution, die von diesen Idealen geleitet ist (Jaeggi 2009: 278). Institutioneller Rassismus wäre dann gegeben, wenn sich ein vorgängiger rassistischer Diskurs nachweisen ließe, sich daneben aber auf Gleichheits- und Gerechtigkeitsideale bezogen würde – und wenn die Akteure in diesen Institutionen keinerlei persönliche rassistische Motivation hätten. Gewiss: Menschen handeln stets unter gesellschaftlichen Bedingungen. Auch wenn das reflektierte Handeln Einzelner in diesen Institutionen den ausgrenzenden Charakter dieser Institution nicht

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aufheben kann, sollte doch auch in der Kritik des institutionellen Rassismus eben jene Widerstandskraft von Einzelnen in Ausländerbehörden, bei der Polizei oder an den Gerichten nicht als unbedeutend angesehen werden. Meines Erachtens ist die analytische Unterscheidung vom soeben skizzierten, institutionellen Rassismus und einem davon verschiedenen strukturellen Rassismus (2.) sinnvoll, will man den Blick auch auf die immanenten rassistischen Effekte kapitalistischer Gesellschaften richten. Dann nämlich wäre Rassismus als strukturell angelegter, notwendiger Effekt kapitalistischer Eigenlogiken – insbesondere des Zusammenhangs von Kapitalvermehrung und Arbeit – makrosoziologisch analysierbar. Diese Perspektive wäre wieder im Zentrum klassischer Ideologiekritik: Für den Rassismus hat Schmitt-Egner eine an Marx orientierte Ideologiekritik vorgelegt, in der er zeigt, wie Ideologien aus der Totalität der Warenproduktion entspringen. Demnach müsse, erstens, gezeigt werden, worin die »Kerngestalt der Verhältnisse« besteht, die zu einer bestimmten Bewusstseinsform führe, und zweitens müsse die »Realität des Scheins« im gesellschaftlichen Bewusstsein aufgedeckt werden (Schmitt-Egner 1976: 356; Hervorhebung U.M.). Mit Blick auf den Rassismus ist die Beschreibung von Ideologie als Rechtfertigung (Adorno 1997a: 465) von Herrschaft und von Machtverhältnissen geeignet. Ideologie selbst tritt hier mit einem Wahrheitsanspruch auf. Dieses Ideologieverständnis ermöglicht es, die Verbreitung und Beständigkeit von Rassismus in seinen vielen Facetten zu erfassen – ob in den ökonomischen Strukturen (die Verteilung von Produktionsmitteln, gesellschaftlichem Reichtum), in gesellschaftlichen Institutionen (institutionelle Einrichtungen, Anordnungen), im Alltagsleben (Orthopraxie), in Bereichen der Kulturindustrie und der offenen Propaganda. Zentral für dieses Verständnis von Ideologie ist eine geschichtsmaterialistische Rückbindung, die Ideologien nicht nur als Bewusstseinsphänomen oder als Resultat identifizierendes Denken ausweist, sondern als Konsequenz historisch spezifischer Produktionsweisen. Verbunden mit diesem Ideologieverständnis ist die Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse – ein zentraler Topos von Ideologien, der sozial produzierte Objektivitäten als natürlich, angemessen und unveränderlich ausweist. »[…] [D]ie vollkommene Anpassung des Bewußtseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart« (Schnädelbach 1969: 91). Exemplarisch lässt sich diese Naturalisierung sozialer Verhältnisse als ein argumentatives Mittel zur Rechtfertigung unter

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Rückgriff auf die weiter oben genannten Formen des biologistischen und des kulturalistisch argumentierenden Rassismus aufzeigen. Historisch wurde Hautfarbe zur Legitimierung sozialer und ökonomischer Unterschiede benutzt, die durch diese Zuweisung wieder und wieder hergestellt werden. Der biologistisch argumentierende Rassismus (traditioneller Rassismus) (3.) betont die Abwertung und Hierarchisierung von Menschen aufgrund biologischer Merkmale und die Ausbeutung von Menschen mit der Begründung »rassischer« Differenz. Eng verbunden mit der Herausstellung bestimmter körperlicher Merkmale ist die Behauptung einer natürlichen Überlegenheit einer (konstruierten) Gruppe; meist jener, die auch die Kriterien der »Rasse« bestimmt hat. Im Zusammenhang mit dem Kolonialismus gelten die im, 19. Jahrhundert entwickelten Theorien, die Menschen in »Rassen« hierarchisieren, vielfach als eine nachträgliche Legitimation von Ausbeutung, Sklaverei und Kolonialismus. Das heißt, die Konstruktion von »Rassen« nach Hautfarbe ist ihrer objektiven Stellung in den sozialen Verhältnissen entnommen (das ist das »Wahre« im Rassismus). Der Schein, dass die Hautfarbe ursprünglich für den Unterschied in den Arbeitsverhältnissen verantwortlich ist, verdeckt, dass mittels der Rassifizierung die sozialen und ökonomischen Unterschiede, die es bereits vor der Rassifizierung gab, nur verteidigt und plausibel gemacht werden sollen. Diese Verteidigung wurde nötig, weil zu erklären war, warum manche Menschen so offensichtlich von der postulierten Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Die behauptete Minderwertigkeit und Kulturlosigkeit der Menschen in den Kolonien wurde ebenfalls an den objektiven Verhältnissen abgelesen: Objektiv minderwertig waren vor allem die kolonisierten Arbeiter*innen durch die Ausdehnung der Arbeitszeit (zur Steigerung der absoluten Mehrwertrate) und die Bezahlung in Naturalien oder mit geringem Lohn, wodurch soziale und kulturelle Aktivitäten der Arbeitenden unmöglich wurden. Fehlende Möglichkeiten zur kulturellen Reproduktion und die Zerstörung kultureller Institutionen führte dazu, dass die Kolonisierten als kulturlos, als tiergleich galten (Schmitt-Egner 1976: 389–395). Rassismus produziert selbst die Verhältnisse, die er bloß deskriptiv zu erfassen behauptet. Heute spielen neben der Hautfarbe weitere Kategorien wie »Kultur«, »Ethnie«, Identität, Religion oder Vernutzbarkeit/Verwertbarkeit eine Rolle, um Differenz überzubetonen beziehungsweise erst herzustellen. Nach dem Nationalsozialismus hat sich in Deutschland und in vielen anderen Gesellschaften ein kulturalistisch argumentierender Rassismus (4.) durchgesetzt. Der

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biologistisch argumentierende Rassismus galt als diskreditiert und der Bezug auf »Rasse« oder die damals als fortschrittlich angesehene Eugenik waren und sind ein Tabu. Zentrales Argument des kulturalistischen Rassismus ist hingegen die Behauptung, Menschen oder Gruppen seien in kultureller Hinsicht so stark determiniert, dass dies einem unveränderlichen Wesensmerkmal gleichkomme. Wo der biologistisch argumentierende Rassismus Menschen auf »›rassebedingte‹« Eigenschaften festschreibt, interpretiert der kulturalistische Rassismus Verhalten als essentielle und unveränderliche Eigenschaften einer »Kultur«. Der biologistische Rassismus enthielt stets kulturalistische Zuschreibungen, der kulturalistische verwendet immer wieder auch biologistische Argumente. Die Dominanz eines kulturalistisch argumentierenden Rassismus heute hat aber nicht nur etwas mit der Tabuisierung des alten Rassismus zu tun, sondern auch mit einer Veränderung in den Produktionsbedingungen seit den 1950er/1960er Jahren.11 Aufgrund eines Arbeitskräftemangels wurden über eine befristete Arbeitsmigration so genannte »Gastarbeiter*innen« angeworben. Die Arbeiter*innen kamen auf der Grundlage von Anwerbeabkommen in die BRD und die DDR. Die Arbeitskräfte wurden vor allem in den unteren Sektoren des Arbeitsmarktes eingesetzt (Fließbandarbeit, Akkordlohn, Schichtarbeit) und schlechter bezahlt als ihre »einheimischen« Kolleg*innen (Ulrich 2001: 213). Die Existenzbedingung ist für diesen Rassismus, wie für den alten Rassismus auch, die unterschiedliche Arbeits- und Lebenssituation von deutschen und ausländischen Arbeitskräften. Wie im kolonialen Rassismus ist auch für die ausländischen Arbeitskräfte in der BRD die Möglichkeit zur kulturellen Reproduktion nicht gegeben und auf die physische Reproduktion durch Über-Ausbeutung reduziert. Für die deutschen Arbeiter*innen, die vorher im Niedriglohnsektor beschäftigt waren, hatte die »Unterschichtung« mit ausländischen Arbeitnehmer*innen positive Folgen: Sie stiegen überwiegend in Angestelltenpositionen auf (Hoffmann-Nowotny 1973). Auch aktuellere Studien belegen positive Auswirkungen der Einwanderung auf die durchschnittlichen Löhne der Einheimischen (Dustmann u.a. 2013: 163–166) und

—————— 11 Seit den 1970er Jahren hat der Kapitalismus weitere Transformationen erfahren: ein fortschreitender Abbau der für die Produktion benötigten Arbeitsleistung, begleitet von einer zunehmenden Subjektivierung von Arbeit mit dem Effekt der Selbstausbeutung (Kaindl 2009: 94; siehe auch Boltanski/Chiapello 2003), mehr prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, befristete Arbeitserträge); einer Digitalisierung nicht nur der kapitalistischen Produktion, sondern der gesamten Gesellschaft und einer Finanzialisierung des Kapitalismus (Magdoff/Sweezy 1983).

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deren Bereitschaft, Beschäftigungen unter prekären Bedingungen aufzunehmen (Khalil u.a. 2020). Rassismus rechtfertigt aber nicht nur Systeme und Institutionen, er rechtfertigt auch das kollektiv entwickelte, aber individuell wirkende Ressentiment im Einzelnen. Er naturalisiert nicht nur das Soziale, er sozialisiert auch die Natur (die dem rassifizierenden Denken nach von »Rasse« zu »Rasse«, von »Kultur« zu »Kultur« variiert), indem Natur zum Ermöglichungsgrund aller kulturellen Hervorbringungen erklärt wird. Des konkreten Menschen (kulturelles) Potential ist ihm vorgeblich vermittels seiner natürlichen Anlagen vorgegeben. Gerade diese alltagsweltlichen Überlegungen können mit dem Begriff des Alltagsrassismus12 (5.) bezeichnet werden. In diesem Begriff werden all jene rassistischen Ausprägungen mikro-soziologisch erfasst, die vor allem unreflektiert und oft subtil im Alltag der Menschen geschehen. Meist nicht der eigenen Erfahrung entstammend, erlernt über Geschichten, Gerüchte, Medien, bilden sich Vorstellungen von denjenigen, die als nicht-dazugehörig angesehen werden. Diese rassistischen Vorstellungen bleiben geschützt gegenüber dem reflektierten Zugriff der Subjekte – sie entziehen sich der rationalen Überprüfung, gelten als selbstverständlich, sind damit häufig immun gegenüber Kritik und verfestigen sich zu einer Form des Meinens. Auch das, was in den letzten Jahren zunehmend unter dem Begriff des »Extremismus der Mitte« der Gesellschaft erforscht wurde, gehört zum Phänomen des Alltagsrassismus. Gegenwärtig wird die gesellschaftliche Mitte seit 2002 in den so genannten Mitte-Studien13 untersucht. Dass antidemokratische Einstellungen, zu denen auch der Rassismus gehört, in der Mitte der Gesellschaft viel gefährlicher seien, als die Parolen an den »extremen« Rändern, erkannte auch Adorno (1997d: 555f.). Der Alltagsrassismus entfaltet seine Wirkung nicht nur als Bewusstseinsphänomen, sondern wirkt subtil als Ausweichen, Ignorieren und als ausgrenzende und gewaltvolle Praxis. Zu klären bleibt schließlich, wie und ob sich Rassismuskritik auf einen extrem ausgedehnten »freien« Ideologiebegriff beziehen kann, wie er beispielsweise im theoretischen Kontext der Kulturindustriethese, der Kritik

—————— 12 In manchen Schriften werden unter Alltagsrassismus auch die Mechanismen des institutionellen Rassismus gefasst. Einflussreich für die Rassismusforschung wurde Philomena Essed mit ihrem Buch Everyday Racism. 13 Seit 2002 werden von der Leipziger Arbeitsgruppe um Elmar Brähler und Oliver Decker repräsentative Erhebungen zu autoritären, rassistischen und antisemitischen Einstellungen in Deutschland durchgeführt (vgl. zuletzt Decker/Brähler 2018).

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instrumentellen Vernunft oder des identifizierenden Denkens zu Grunde gelegt wird. Gilt für die Kritische Theorie auch, was Schnädelbach über den totalen Ideologiebegriff der Mannheimschen Wissenssoziologie sagte, dass ein Ideologiebegriff, der sich weder eine gewisse Selbstständigkeit des Bewusstseins von den materiellen Bedingungen noch von psychischen Prozessen und Bedürfnissen vorstellen kann, analytisch bedeutungslos wird (Schnädelbach 1969: 89)? In der hier eingangs referierten Vorlesung zu Philosophie und Soziologie kritisiert Adorno (2011) die Inflationierung des Ideologiebegriffs vor allem in der Alltagssprache, wenn man »ihn in etwas verwandelt, was man für alle Zwecke und darum für keinen Zweck mehr eigentlich sinnvoll verwenden kann« (Adorno 2011: 148). Zunächst scheinen diese Diagnosen, die Ideologie als allumfassend beschreiben, für eine Rassismuskritik unbrauchbar, denn ein spezifischer gesellschaftlicher Grund für Rassismus, der seine historische Verankerung und Spezifik ausweisen kann, lässt sich aus solchen Diagnosen nicht gewinnen. Allein der Wille zum Erhalt des Bestehenden wäre noch ideologisch. Dennoch bietet sich eine Anschlussmöglichkeit an jene Rassismusanalysen, die den Rassismus als strukturell verankert sehen. Wenn Rassismus kein subjektives Bewusstseinsproblem ist, erklärt sich, warum struktureller Rassismus in einer Gesellschaft weithin nicht als solcher erkannt wird. Damit hinge auch die Überwindung des Rassismus nicht nur an den Subjekten, sondern an der Änderung der Gesellschaft. Ein Manko dieser Ansätze ist augenscheinlich, dass sie Möglichkeiten zur Reflexion oder des Widerspruchs nicht mehr denken können. Mit der Kritik der instrumentellen Vernunft zeigen Horkheimer und Adorno, dass Rassismus, mehr noch der Antisemitismus, nicht das hässliche, barbarische Außen der Vernunft, sondern ein anderer Teil dieser sind. Es ging nie darum, nur zu zeigen, welche totalisierenden Formen Vernunft annehmen kann, sondern auch darum, welche anti-totalitären und anti-autoritären Formen aus Aufklärung und Vernunftdenken entstehen können. Fokus der Kritik bilden die destruktiven Potentiale des (instrumentellen) Vernunftdenkens. Die Schmähung mimetischer Verhaltensweisen steht im Zentrum zivilisatorischer Maßgaben: Mit der Auffassung Horkheimers und Adornos, dass die instrumentelle Vernunft zur »Zerstörung bzw. Nivellierung des Anderen, Heterogenen« (Rehmann 2016: 23) führt, bekommt der Ideologiebegriff eine weitere Dimension. Denn das mit instrumenteller Vernunft verbundene Identitätsdenken werde ideologisch, wo behauptet wird, dass etwas Dargestelltes vollständig in Wirklichkeit aufgehe (ebd.: 23f.). Das hat nicht nur Konsequenzen für die

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wissenschaftliche Begriffsbildung, sondern übersetzt sich im Rassismus in die Abwertung, Unsichtbarmachung und Zerstörung des »Anderen«. Dialektisches Denken weiß um die Nichtidentität; es weiß, dass Bestimmungen in Begriffen niemals ganz aufgehen. Aus rassismuskritischer Perspektive führt instrumentelle Vernunft dazu, dass das »Andere« verschmäht wird. Damit bieten auch ideologiekritische Perspektiven die Möglichkeit den so zentralen Status von Alterität im Rassismus zu bearbeiten, die aber nicht in abstrakten Vorstellungen von Gleichheit aufzulösen wäre: »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte stattdessen auf die schlechte Gleichheit heute […] deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.« (Adorno 1997: 113f.)

Auch der mit der Kritik der instrumentellen Vernunft verbundene Gedanke der Naturbeherrschung ist für die Rassismuskritik überaus plausibel: wo, wenn nicht im Rassismus geht es augenscheinlich um die Beherrschung und Unterwerfung von Menschen; wo, wenn nicht im Rassismus werden rassifizierte Menschen mit der Natur identifiziert; wo, wenn nicht im Rassismus geht es auch um die nötige »Zivilisierung der Wilden«, darum ihre produktive Verwertbarkeit sicher zu stellen? Andererseits ist diese allgemeinhistorische Perspektive für eine Analyse des Rassismus nur eingeschränkt brauchbar, weil die Rolle der Durchsetzung des Kapitalismus nicht erfasst werden kann. Die Erweiterung des Ideologiebegriffs auf den gesamten Komplex der Kritik instrumenteller Vernunft kann so zum Einfallstor für Relativismen und ahistorische Analysen werden, wenn nicht konkrete, historische Analysen den spezifischen Inhalt zusätzlich einfangen.

Wer erkennt Rassismus? Ich möchte hier abschließend einen letzten Punkt ansprechen: den Einwand gegen die Ideologiekritik, dass sie ein Erkenntnisprivileg für sich in Anspruch nehme. Im Zusammenhang mit dem Rassismus kann die Frage, wer denn zur Gesellschaftskritik grundsätzlich in der Lage sei, abgewandelt werden, zu der in der Rassismuskritik heftig diskutierten Frage, wer Rassis-

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muskritik betreiben könne und dürfe. Die mit dem Begriff der Totalität verbundene Vorstellung eines allumfassenden, systematischen und einheitlichen gesellschaftlichen Zusammenhangs, maßgeblich bestimmt durch dessen kapitalistische Einrichtung, provoziert die Frage, wie und von wem Rassismuskritik formuliert werden kann. Eine Asymmetrie zwischen Theorie und sozialen Akteuren wird der Ideologiekritik hier vorgeworfen. Auch wenn gesellschaftliche Totalität im Denken der Kritischen Theorie nicht so dicht und unzerbrüchlich vorgestellt wird, wie manche Kritiken behaupten (Habermas 1981: 557f.; Celikates 2009), so ist zu fragen, wer Akteur von Rassismuskritik sein kann. Denn wenn die Kritik des Rassismus, die auf Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zielt, nicht nur Utopie sein soll, muss reflektiertes und widerständiges Handeln zumindest theoretisch möglich sein. Dass insbesondere vom Rassismus negativ betroffene Personen aufgrund dieser Leiderfahrung häufig diejenigen sind, die diese Kritik als erste, oft ungehört von der Mehrheitsgesellschaft formulieren, führt zur Frage nach der Bedeutung von Betroffenheit für Kritik – ein Aspekt, den Ideologiekritik nicht einfangen kann, aber Kritische Theorie sehr wohl reflektiert. Für Adorno gehört subjektive Leidenserfahrung zwingend zur Erkenntnis: »Das Bedürfnis, Leiden beredet werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt« (Adorno 1997f: 29). Die Mehrheitsgesellschaft nimmt den (eigenen) Rassismus, der auf andere wirkt, nicht wahr und will ihn deshalb auch nicht abschaffen. Eine Person, die in einer Gesellschaft systematisch leidet, unterdrückt, ausgebeutet und ausgegrenzt wird, hat ein vitales Interesse zu verstehen, wie diese Gesellschaft funktioniert, die gegen ihre Interessen arbeitet. Lässt sich daraus aber der Schluss ziehen, dass nur die von Rassismus negativ betroffenen Personen diesen kritisieren können? Richtig ist: Nur von Rassismus betroffene Menschen können der rational gut begründbaren Zurückweisung des Rassismus und dem Interesse an einer emanzipierten Gesellschaft eine sprengende Erfahrung hinzufügen. Sie erfahren die Gewalt und Diskriminierung als Individuen. Rassismus ist kein individuelles Problem – er ist eine kollektive Erfahrung rassifizierter Menschen –, er trifft viele Menschen und wird von vielen Menschen und gesellschaftlichen Strukturen getragen. Leid zeigt an, dass ein gesellschaftlicher Zustand falsch ist. Die Leiderfahrung bringt Adorno sodann mit der Kritik an einem materiellen

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Zustand zusammen, den es zu verändern gilt – verändernde Praxis. Postkoloniale Rassismuskritiken, vor allem in deren Variante der Critical Whiteness Studies, setzen vor allem auf individuelle Selbstreflexion der weißen Mehrheitsgesellschaft über ihre »Privilegien« (Frankenberg 2000: 447; McIntosh 2015) und einer »zählbaren Dividende« (Dietze 2006: 224), die aus rassistischen Verhältnissen gezogen werde. Einen Einspruch dagegen, dass allein den von Rassismus negativ Betroffenen die Beschäftigung mit Rassismus zusteht,14 wie es insbesondere in den Critical Whiteness Studies gefordert wird, ist bei Adorno so formuliert: »Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv sich von ihr lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objekts gedrängt wird. […] Eine solche Einrichtung [einer befreiten Gesellschaft, U.M.] hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade einzig durch eine sich selbst und jedem Lebenden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen.« (Adorno 1997f: 203f.)

Die Kritik und Bekämpfung des Rassismus wie anderer Formen leidbringender gesellschaftlicher Ideologien und Praxen wird so zur solidarischen Menschheitsaufgabe, die nur in der Einrichtung einer befreiten Gesellschaft lösbar scheint. Das ist ein sehr magerer Trost, der die Freiheit von Leid in eine ungewisse Zukunft verlegt, aber konsequenter wie radikaler Endpunkt des negativen Denkens Kritischer Theorie ist.

Fazit Ein Festhalten am klassischen Ideologiebegriff zur Kritik des Rassismus – ein Ideologiebegriff, der von Marx am Beispiel des Liberalismus entwickelt und von der Kritischen Theorie verteidigt wurde – ist nur eingeschränkt möglich. Der klassische Ideologiebegriff tritt mit dialektischem Anspruch auf, die Wahrheit und Falschheit ihren Gegenständen immanent zu entnehmen. Das ist am Rassismus nicht gut möglich, weil er weder als geschlossenes Weltanschauungssystem auftritt, noch mit einem rationalen Anspruch

—————— 14 »There is NO SUCH THING AS A WHITE ANTI-RACIST. The term itself, ›white antiracist‹ is an oxymoron« (Nopper 2003; Hervorhebung im Original).

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auf Wahrheit. Mit einem anderen Wahrheitsbegriff jedoch, der sich eher über die Adäquatheit des Bewusstseins mit den Produktionsbedingungen und der Leiderfahrung der Menschen bestimmt, kann Rassismus durchaus als Ideologie untersucht werden. Rassismus ist Ideologie im klassischen Sinne: Rechtfertigung und insofern Herrschaftsform, die sich im Alltagshandeln, institutionellem Handeln und auf struktureller Ebene abbildet. Ein Mittel dieser Rechtfertigung ist die Naturalisierung des Sozialen, um Ungleichheit zu erklären. Ideologisch am Rassismus ist, die Menschen glauben zu machen, dass Ungleichheit aus (verlorenem) Wettbewerb oder (verpasster) Chancengleichheit entsteht. Der Kern des Rassismus ist dessen Legitimationsfunktion. Der Rassismus ist in dieser Hinsicht eine Ideologie, weil er soziale Ungleichheit rechtfertigt, also ihr Sinn verleihen muss. Er soll über die Natur Kultur erklären und negiert sogleich Kultur als sozial Hergestelltes, da er diese naturalisiert (Marz 2020: 220). Rassismus ist auch deshalb ideologisch, weil er die Selbstverständlichkeit verständlich macht. Er versucht uns zu überzeugen, dass es so, wie es ist, gut ist bzw. dass es so wie es war, besser war. Seine »Kritik« ist stets nur verkleidetes Ressentiment. Selbst mit einem verallgemeinerten Ideologiebegriff, wie er in den Überlegungen zur instrumentellen Vernunft und dem identifizierenden Denken sichtbar wird, lassen sich überzeugende Anschlüsse an die Rassismuskritik herstellen. Was aber fügt die Perspektive der ideologiekritischen Analyse des Rassismus anderen Rassismusanalysen hinzu? Ideologiekritik zeigt den Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen, Bewusstseinsformen und sozialen Praxen, die diese Ideologien transportieren, ihnen Gestalt verleihen und wiederum auf die sozialen Verhältnisse zurückwirken. Sie öffnet den Blick der Rassismuskritik, der sich in den letzten Jahrzehnten stark auf die Rolle von Diskursen und Identitäten konzentriert hat, (wieder) für die notwendige ökonomische Analyse der Warengesellschaft. Sie kann ein Gegenangebot zu postmodernen Deutungen sein, die ihre Analysen mit einem immanenten Relativismusüberhang belasten. Gerade weil davon ausgegangen werden muss, dass nicht allein ökonomische Verhältnisse sämtliche Bewusstseinsformen hervorbringen, sollte sich eine Kritische Theorie des Rassismus nicht allein auf das Konzept der Ideologiekritik stützen. Sie kann Ideologie aber zum Ausgangspunkt ihrer Analysen machen. Es ist Lukas Egger zuzustimmen, dass Ideologiekritik vor allem eine »Metakritik ideologischer Bewusstseinsformen« ist und die »Bedingungen der Möglichkeit von konkreten Ideologien« herausstellt (Egger 2019: 24; Hervorhebung im Original).

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Ideologiekritik allein bleibt allerdings blind gegenüber der Frage, auf welche Dispositionen Rassismus im Subjekt trifft. Jede Rassismuskritik mit Anspruch auf soziale und historische Spezifik sollte daher ihren Ausgang bei der Analyse der Struktur der Warengesellschaft nehmen und sie fortsetzen mit der Untersuchung von Subjektivierungsprozessen und konkreten inhaltlichen Formationen des Rassismus.

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Intersektionalität zwischen Ideologie und Kritik Karin Stögner

Intersektionalität im Zusammenhang mit Ideologie zu behandeln umfasst zumindest zwei divergierende Aspekte: Intersektionalität als analytischen Ansatz einerseits für Ideologiekritik fruchtbar zu machen und andererseits kritisch nachzuzeichnen, wenn Intersektionalität selbst in Ideologie kippt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist eine Einbettung von Intersektionalität in die dialektische Gesellschaftstheorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Gefragt wird, ob ein bestimmter intersektionaler Zugang der Grunderfahrung von Dialektik, dem »Weitertreiben der Begriffe durch Konfrontation mit dem, was von ihnen ausgedrückt wird« (Adorno 2010: 10), nahekommt und ein Beitrag zu einer feministischen kritischen Theorie sein kann. In Schriften der Kritischen Theorie, etwa in Dialektik der Aufklärung oder in Authoritarian Personality, wird eine Form von Ideologiekritik entwickelt, die in der Folge auch intersektional gedacht werden kann – als eine Reflexion über das Ineinandergreifen von Ideologien wie Antisemitismus, Sexismus, Rassismus, Nationalismus und Homophobie. Dieses dialektische Verständnis von Intersektionalität im Sinn der Kritischen Theorie unterscheidet sich grundlegend von anderen Verständnissen, in welchen die gesellschaftliche Dialektik aufgelöst wird. Das ist insbesondere bei identitätspolitischen Zugängen der Fall, die Identifizierungen und Kategorisierungen als gesellschaftliche Zwänge zuweilen wiederholen, wodurch Identität verabsolutiert wird und immer neue Ausschlüsse und Essentialisierungen entstehen. Demgegenüber heben queertheoretisch orientierte Richtungen innerhalb intersektionaler Forschung und Praxis das Nichtidentische gegenüber dem Identischen hervor, jedoch weniger als negatives Moment des Eingedenkes, sondern wiederum essentialisiert als positives Moment. Die in der intersektionalen Perspektive aufgehobenen Momente Identität und Nichtidentität werden jeweils gegeneinander verselbständigt, anstatt zu einander in Beziehung gesetzt.

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Damit korrespondierend lehnen beide Varianten meist einen jeglichen Universalismus ab, da dieser einer Stärkung marginalisierter Partikularitäten entgegenzustehen scheint. Die Folge ist eine Auflösung des Allgemeinen in eine Vielzahl von Partikularitäten oder special interests, welche unvermittelt an die Stelle eines gemeinsamen Interesses treten und deren Intersektionalität von außen hinzugedacht wird. Indem die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem weder analytisch noch praktisch nachvollzogen wird, verunmöglichen beide Varianten falscher Intersektionalitäts-Adaption, sich positiv auf einen interaktiven oder reflektierten Universalismus (Benhabib 2007; 2012) zu beziehen, der nicht repressiv gegenüber dem Besonderen ist und dessen Realisierung Ziel emanzipatorischer Politik sein sollte. Die Auflösung der Dialektik lässt Intersektionalität zuweilen selbst in Ideologie kippen, indem die Welt manichäisch nach einem Freund-FeindSchema beurteilt wird. Das wird beispielsweise deutlich an intersektionalen Aktivismen, die den Zionismus als »weiße Suprematie« und als Rassismus verurteilen und darin eine offene Flanke zum Antisemitismus zeigen. Paradigmatisch dafür steht die Aktivistin und feministische Theoretikerin Angela Davis, die in einer »intersectionality of struggles« (Davis 2016a) politische Kämpfe marginalisierter Gruppen willkürlich zusammendenkt und so zu einer fragwürdigen politischen und theoretischen Position gelangt, in welcher Jüdinnen und Juden aus dem intersektionalen Analyserahmen ausgeschlossen werden und Intersektionalität zur ideologischen Delegitimierung des Staates Israel instrumentalisiert wird. Dass dabei das Gegenteil dessen stattfindet, wofür Intersektionalität eigentlich steht, wird an der Kampagne Queer BDS deutlich. Abschließend wird in der Absicht, Intersektionalität für feministische Ideologiekritik und emanzipatorische Praxis zu retten, noch einmal auf das Potential einer intersektional ausgerichteten Ideologiekritik eingegangen, die ihren Ausgang bei der Analyse des Antisemitismus als intersektionaler Ideologie nimmt.

1. Intersektionalität und Kritische Theorie – dialektischer Zugang Intersektionalität ist ein analytisches Instrument zur kritischen Durchdringung der Mehrdimensionalität von Herrschaftsverhältnissen, das sich in den

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USA der 1970er Jahre in den Debatten des Black Feminism herausbildete und einen Kampf an zwei Fronten signalisierte: gegen den Sexismus innerhalb des Civil Rights Movement ebenso wie gegen den Rassismus innerhalb der Zweiten Frauenbewegung. Insofern war Intersektionalität von Beginn an immer beides: analytisches Konzept und politische Praxis. Als methodologischer Zugang hat Intersektionalität das Potential, die ideologische Trennung gesellschaftlicher Kategorien kritisch zu überwinden: Ethnizität/race, Gender/Sexualität und Klasse erscheinen in der fortgeschrittenen Moderne als getrennte Kategorien der gesellschaftlichen Stratifizierung und Normierung, Inklusion und Exklusion, hängen real aber durch vielschichtige strukturelle Vermittlungen hindurch zusammen. Ihre Bedeutung geht auf den Kapitalismus, die nationalstaatliche Ordnung der modernen Welt sowie die koloniale und patriarchale Ordnung zurück (vgl. Klinger 2008). Sie bilden Konfliktkonstellationen ab, welche die Gesellschaft strukturieren und denen sich niemand entziehen kann. Intersektionalität versteht gesellschaftliche Kategorisierungen nach Gender, Ethnizität und Klasse wie Koordinaten, nach denen Individuen in einem mehrdimensionalen gesellschaftlichen Positionsgefüge geordnet werden. Sie bilden damit reale Macht- und Herrschaftsverhältnisse ab. Intersektionalität geht der Komplexität von Herrschaft und Unterdrückung auf den Grund, indem in »intersektionaler Gegenrede« (Maan 2019) in unterschiedlichen Kontexten die »andere Frage« gestellt wird: Wenn es um Rassismus geht, wird gefragt, wo sich darin die Klassenlage widerspiegelt, wenn es um Geschlechterverhältnisse geht, wird nach der Rolle von Ethnizität gefragt, wenn es um die Klassenlage geht, wird danach gefragt, wie sich die Geschlechterverhältnisse in ihr niederschlagen und so fort (Matsuda 1991: 1189). Das Erkenntnisinteresse liegt auf den strukturellen Vermittlungen von Unterdrückung, Ausgrenzung, sozialer Ungleichheit und Diskriminierung. Intersektionalität ist dabei nicht im Sinn eines Kreuzungs- und Schnittmengenmodells zu verstehen, sondern als umfassender gesellschaftlicher Prozess, in dem die einzelnen Kategorien durchgängig ineinander verwoben sind (Hornscheidt 2007; Walgenbach 2012). Wesentlich ist eine Reflexion darüber, »Kategorien als Prozess zu begreifen und nicht einfach zu setzen« (Lorey 2012: 5; vgl. Dietze u.a. 2012). Intersektionalität in diesem Verständnis besteht im analytischen Nachvollzug einer dialektischen Bewegung, die real in der Gesellschaft stattfindet.

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Dieses Verständnis von Intersektionalität verknüpft eine bestimmte feministische Tradition mit Theoremen der Kritischen Theorie (vgl. Knapp 2008; Klinger 2008; Becker-Schmidt 2008). Charakteristisch ist ein dialektisches Offenhalten der Begriffe, das Bewegung in festgefahrene Kategorien bringt und damit die Realität in ihrer Vielschichtigkeit nachzuvollziehen und adäquat zu analysieren und kritisieren vermag. Wesentlicher theoretischer wie praktischer Kritikpunkt sind die einheitlichen und vereinheitlichenden Begriffe und Konzepte, mit denen traditionelle Theorie an ihren Gegenstand herangeht. Das betrifft auch kritisch aufgeladene Begriffe wie den des Geschlechts in Frauenforschung und feministischer Theorie. Intersektionalität kritisiert, wenn traditionelle feministische Theorie Geschlecht unreflektiert als homogene Kategorie fasst und fragt, wer denn gemeint ist, wenn von »der Frau« die Rede ist. Der offene, beweglich gehaltene Begriff löst im Gegensatz zum kategorial gebrauchten den Gegebenheitscharakter des darunter Befassten auf und lässt dieses als Resultante eines historischen Prozesses sichtbar werden. Die Kritik zielt auf das Spannungsverhältnis von Aus- und Einschlüssen und auf die Herrschaftsverhältnisse, auf denen ein solcher Allgemeinbegriff beruht. Diese werden reproduziert, wenn er ungeachtet der empirischen Mannigfaltigkeit und Heterogenität als vereinheitlichter und geschlossener Begriff angewendet wird. Die Frage nach der Multidimensionalität gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Exklusionsmechanismen geht einher mit jener nach der Situiertheit von Identitäten, die vor dem Hintergrund fragmentierter gesellschaftlicher Erfahrung nicht einheitlich und starr zu fassen sind, sondern in denen sich gesellschaftliche Brüche und Konfliktlinien abzeichnen. Eine mit der Kritischen Theorie vermittelte Intersektionalität lehnt deshalb einen eingeschränkten Fokus auf die Opfer von Diskriminierung und Unterdrückung ab und weist auch die damit verbundene Vorstellung der Betroffenenperspektive als eines privilegierten, weil situierten Erkenntnisstandorts zurück. Der aus einer eingeschränkten Betroffenenperspektive häufig resultierende Opferwettbewerb lässt sich vermeiden, indem der Fokus quasi auf die »andere« Seite gelegt wird, nämlich auf die autoritäre Persönlichkeit als Ausdruck der strukturellen Beschädigungen der Lebensform (Jaeggi 2005). Adorno folgend muss, »wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen« (Adorno 1997a: 13). Indem die Kritik an den Ideologien und an der autoritären Persönlichkeit als deren Verkörperung ansetzt, wird zugleich ein Beitrag geleistet, die

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»intersektionale Unsichtbarkeit« derer offenzulegen, die ausgrenzenden Ideologien bereitwillig folgen und das vorgeblich Allgemeine gegen die ausgegrenzten Partikularitäten vertreten (Knapp 2010; Stögner 2020a). In diesem spezifischen Verständnis hat Intersektionalität eine Affinität zur Kritischen Theorie. Sie fokussiert auf die Relationen unterschiedlicher gesellschaftlicher Widersprüche, die nicht homogen, sondern vielgestaltig sind und darin unterschiedliche Aspekte der gesellschaftlichen Realität manifestieren. Die Gesellschaft ist geprägt von aufeinander bezogenen Antagonismen, die jedoch nicht auf einen einzigen Nenner reduzierbar sind. Solche Intersektionalität löst das Verhältnis nicht in Haupt- und Nebenwidersprüche auf, sondern sieht den Widerspruch als Pluralbegriff und alle seine Manifestationen quasi gleich weit vom Zentrum, Herrschaft, entfernt. Damit die einzelnen Widersprüche aber nicht unverbunden bleiben, ist ein Begriff gesellschaftlicher Totalität vorausgesetzt, der in sich beweglich gehalten ist. Die Einheit einer historisch spezifischen Gesellschaft, also ihre Totalität, wird als uneinheitlich und gebrochen aufgefasst, ohne dass das Ganze dabei aber in seine Einzelteile zerfallen würde und keine Aussage mehr darüber getroffen werden könnte, wie die Einzelphänomene miteinander in Beziehung stehen und wie das Ganze in seiner wie sehr auch brüchigen Einheit aufrechterhalten wird. Der Widerspruch, dass die Gesellschaft eins und uneins zugleich ist, hat einen realen Hintergrund und entspricht der alltäglichen empirischen Erfahrung mit sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und Unterdrückung. Mit der Kritischen Theorie ist Gesellschaft als umfassender Verstrickungszusammenhang zu bestimmen, der mehr ist als die Summe seiner Teile. Auf Intersektionalität umgelegt bedeutet das, dass die unterschiedlichen Ungleichheits- und Diskriminierungsformen nicht einander aufaddiert werden, sondern die Spezifik im Ineinanderwirken von zum Beispiel race und Gender gesucht wird. Totalität ist beweglich und ein Prozess, der durch die Heterogenität der unterschiedlichen Diskriminierungen, Ausschlüsse und Unterdrückungsformen hindurch eine die gesamte Gesellschaft durchdringende Logik sichtbar macht. Erst in diesem Gesamtzusammenhang werden die Kategorien als solche überhaupt hervorgebracht, und zwar in Wechselwirkung der strukturellen und subjektiven Ebene (Adorno 2010). Im Sinne einer dialektischen Erkenntnis hat die Totalität keine Existenz ohne das auf sie bezogene Einzelne, und das Einzelne hängt vom Ganzen ab, ist also bestimmbar nur im Zusammenhang mit anderen Momenten innerhalb der Totalität. Diese Denkbewegung geht von den Teilen zum Ganzen und umgekehrt und ist somit nicht in sich

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geschlossen, sondern Situierung, Kontextualisierung, Herstellen von Zusammenhängen und Beziehungen (vgl. Dubiel 1978). Diese Denkart lässt sich in eine intersektionale Perspektive integrieren, die auf die der modernen Vergesellschaftung zugrundeliegenden strukturellen Zusammenhänge und deren motivationale Entsprechungen im Individuum fokussiert. Dieser Zugang lässt sich insbesondere auf die Analyse und Kritik von Ideologien anwenden. Auch das ist in der Kritischen Theorie vorgezeichnet: Antisemitismus wird zum Schlüssel des Verständnisses der Gesellschaft als ganzer – in dieser speziellen Ideologie bildet sich die widersprüchliche Struktur der Gesellschaft und deren Abwehr ab (Horkheimer/Adorno 1997: 192–234). Auch die Geschlechterverhältnisse und das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur sind nicht bloß Manifestationen des Klassenverhältnisses, sondern das Ganze wird erst ersichtlich aus der vielschichtigen Durchdringung dieser einzelnen Momente (ebd.: 100, passim). In der Dialektik der Aufklärung finden sich verstreut Ausführungen über die strukturelle und motivationale Nähe zwischen Antisemitismus und Sexismus, an die eine intersektionale Ideologiekritik anschließen kann. Nicht nur im Antisemitismus gibt die Gesellschaft ihr Wesen preis, sondern auch in den ungleichen Geschlechterverhältnissen und in der daraus resultierenden Verachtung von Frauen: »Die Erklärung des Hasses gegen das Weib als die schwächere an geistiger und körperlicher Macht, die an ihrer Stirn das Siegel der Herrschaft trägt, ist zugleich die des Judenhasses. Weibern und Juden sieht man an, daß sie seit Tausenden von Jahren nicht geherrscht haben.« (Ebd.: 132)

Ideologien werden somit zum Schlüssel für das Verständnis von Gesellschaft als Totalität, das heißt als umfassender und historisch sich wandelnder Herrschaftszusammenhang. An ihnen kann abgelesen werden, wie Gesellschaft funktioniert und wie die Einzelnen trotz permanenter Versagung bei der Stange gehalten werden. Ideologien funktionieren als sozialer Kitt. Ein an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule anschließender intersektionaler Zugang setzt an der Vielgestaltigkeit gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte an und verortet sie dennoch in einer Totalität, verstanden als bewegliche Konstellation. Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus, Ethnozentrismus, Sexismus, Antifeminismus, Homophobie, Transphobie werden so als unterschiedliche und doch durcheinander vermittelte Ideologien benennbar. Sie sind Momente eines größeren ideologischen Rahmens, des antidemokratischen ideologischen Syndroms (Adorno 1997b). In ihm stehen die Ideologien beweglich zu einander, ver-

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schränken und verstärken sich gegenseitig und nehmen einen spezifischen Durchdringungs- und Überblendungscharakter an, aus dem sie ihre zähe und flexible Wirksamkeit beziehen. Der Antisemitismus sticht dabei als eine durch und durch intersektionale Ideologie hervor, das heißt er integriert und wirkt über Momente, die für sich genommen nicht antisemitisch sein mögen, sondern sexistisch, homophob, rassistisch, nationalistisch und dergleichen. Obendrein spiegelt er das Klassenverhältnis in verzerrter Weise wider und maskiert sich zuweilen als Kritik von Kapitalismus und Imperialismus. So finden sich im Antisemitismus unzählige Bilder defizienter Körperlichkeit, die durchwegs einen Mangel an Männlichkeit bis hin zu Effeminierung ausdrücken und die Juden unterstellen, sie würden die vorherrschende heteronormative Ordnung unterminieren (vgl. Gilman 1993; Stögner 2014). Solche Überschneidungen von Antisemitismus und Sexismus machen es auch möglich, dass der Antisemitismus etwa von einem Antigenderismus vertreten wird, wenn die politisch-gesellschaftliche Gelegenheitsstruktur den Antisemitismus mit einem Tabu belegt (Stögner 2017b). Zudem sind Überschneidungen mit dem Rassismus im Antisemitismus ebenso deutlich (Cousin/Fine 2012) wie solche mit dem Nationalismus, was sich in der Figur des »antinationalen Juden« ausdrückt, der eine Bedrohung für das Nationsprinzip darstellt (Holz 2004). Dass den Juden die Schuld für die kapitalistische Ausbeutung zugeschoben wird und sie mit der abstrakten Seite des Kapitalverhältnisses, dem freischwebenden Finanzkapital, identifiziert werden, ist ein weiterer fixer Bestandteil der antisemitischen Ideologie (Postone 1988; Grigat 2007). Durch diese vielschichtigen Durchdringungen mit anderen Ideologien drückt der Antisemitismus eine gesamte Weltsicht aus und verdichtet oder erweitert sich zu einer Welterklärung. Das gelingt, indem er quasi intersektional Momente anderer Ideologien integriert (Stögner 2014; 2017a). Ziel einer intersektionalen Ideologiekritik ist also, das Wechselverhältnis von Ideologien als sozialer Tatbestände aufzuschlüsseln und sie als individuelle und gesellschaftliche, das heißt klassenmäßige, gegenderte und ethnisch und national vermittelte Prozesse zu bestimmen, deren Wirksamkeit sich von den anderen nicht restlos isolieren lässt. Die eine Ideologie wirkt in der anderen. Das wurde bereits von Max Horkheimer 1937 in Traditionelle und Kritische Theorie thematisiert (1988). Intersektionalität in diesem Sinn impliziert sowohl das Herausarbeiten ungelöster gesellschaftlicher Konflikte, die in allen auf Exklusion gerichteten Ideologien wirken, als auch die Analyse des Verhältnisses zwischen den Ideologien, das eines von

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gegenseitiger Verstärkung, Vertretung und Durchdringung sein kann, in dem sie sich als einzelne beständig neu formieren. Für das Verständnis von Ideologien bedeutet ein intersektionaler Zugang, dass sie als bewegliche und sich gegenseitig durchdringende Momente innerhalb eines weiteren ideologischen Rahmens wahrgenommen werden. Dafür ist es notwendig, Ideologien nicht als bloße Tatsachen des individuellen Bewusstseins zu begreifen und als Mentalitäten ins Subjekt zu verlegen, sondern im Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Individuum zu verorten. Derart sind Ideologien nicht nur politische Orientierungen oder Machinationen der in der Gesellschaft Mächtigen – Nietzsches Priestertrug –, sondern falsches Bewusstsein, das seinerseits aber nicht etwa zur strukturellen Konstante gerinnt, das dem bewussten und gestaltenden Handeln der Einzelnen vollständig entzogen wäre. Ideologien als verselbständigte Ideen sind mit der realen geschichtlichen Bewegung der Gesellschaft selbst zusammenzudenken und so nicht bloß als Lüge abzutun, so falsch und unwahr sie auch sind. Sie sind jedoch gerade in dieser Unwahrheit und Falschheit auf ihre Funktion in der Gesellschaft zu befragen, die wesentlich die Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit ist. Wenngleich sich das Moment des Betrugs in Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Sexismus in den Vordergrund drängt, verdanken diese Ideologien sowohl ihre Hartnäckigkeit und Flexibilität wie ihre Evidenz für ihre Anhänger*innen einem problematischen gesellschaftlichen Zustand, der aber nicht bewusst reflektiert, sondern verschleiert, verschoben und damit gerechtfertigt wird (Institut für Sozialforschung 1956: 162–181; siehe auch Lenk 1984; Ritsert 2002). Die Ideologie der Rasse und der Nation oder des Geschlechts verdeckt die Wirklichkeit der klassenmäßigen Sozialstruktur. Schein und Wirklichkeit amalgamieren sich in der Ideologie. Es ist bei der Erforschung von Ideologien ein Schwerpunkt darauf zu legen, in welcher Form sich soziale Gesetzmäßigkeiten in ihnen niederschlagen. Der Hass auf die Differenz, den sie ausdrücken, verweist negativ noch auf den neoliberalen Trug, dass es in der Gesellschaft auf Besonderes ankäme, wo doch jeder insgeheim weiß, dass Anpassung an entfremdete und verdinglichte (Arbeits-)Prozesse conditio sine qua non des gesellschaftlichen Überlebens ist. Eine intersektionale Perspektive, welche die Zusammenhänge und Verschränkungen von Ideologien in den Blick nimmt, bringt die ideologischen Ismen in Bewegung und wirkt so als ein Korrektiv gegenüber der Gefahr von Verdinglichungstendenzen in der Ideologieforschung.

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2. Intersektionalität und Identität – inter- und intrakategorialer Zugang Dieses an der Kritischen Theorie orientierte Verständnis von Intersektionalität unterscheidet sich grundlegend von vorherrschenden Modellen der Intersektionalität, was insbesondere an der Konzeptualisierung und Beurteilung von Identität sichtbar wird. Während Kritische Theorie für ihre radikale Kritik der Identitätslogik bekannt ist, werden in vielen Strängen von Intersektionalität die Kategorien, nach denen Gesellschaft strukturiert ist, zur Grundlage von kollektiven Identitäten, welche zur Stärkung marginalisierter Gruppen zelebriert werden. Grundsätzlich jedoch reagiert Intersektionalität auf empirische Verstrickungen, die homogene Kategorien ins Wanken bringen. Der interkategoriale Zugang der Intersektionalität fokussiert dabei auf die Vermittlungen und das funktionale Zusammenwirken von repressiven Differenzierungskategorien, klassischerweise auf das Verhältnis von Ethnizität, Klasse und Geschlecht. Demgegenüber legt der intrakategoriale Zugang das analytische Gewicht auf Ungleichheiten und Widersprüche innerhalb einer sozialen Kategorie und zeichnet somit einen bewegten Begriff von Geschlecht, Klasse und Ethnizität. Beide Zugänge betonen die Bedeutung gesellschaftlich vorgenommener Kategorisierung. Während im interkategorialen Zugang die Kategorien race, class, gender vorläufig als analytische Instrumente zur Beschreibung komplexer gesellschaftlicher Wirklichkeiten herangezogen werden, scheinen sie im intrakategorialen Zugang eine Lebenswirklichkeit von Gruppen zu beschreiben: »[A]uthors working in this vein tend to focus on particular social groups at neglected points of intersection […] in order to reveal the complexity of lived experience within such groups.« (McCall 2005: 1774; vgl. Dietze u.a. 2012: 114)

In unterschiedlichem Ausmaß bleiben so beide Zugänge im gesellschaftlichen Druck des Kategorisierens und in der repressiven Logik des Identifizierens befangen. Mit der Feststellung, dass die Gesellschaft entlang strukturgebender Kategorien wie race, class und gender organisiert ist und mit der Einsicht, dass diese Kategorien durcheinander vermittelt sind, ist der gesellschaftliche Zwang, der in der Identitätslogik und im Prinzip des Kategorisierens wirkt, noch nicht durchschaut und auch nicht kritisiert. In der politischen Praxis sozialer Bewegungen, die sich auf Intersektionalität berufen, ist zu beobachten, dass die gesellschaftlich vorgegebenen Kategorien

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zuweilen unkritisch übernommen und positiv besetzt werden – als Identitätsmarker für die Einzelnen, die darin nicht mehr vordringlich einen ihnen von außen zugefügten Zwang erkennen, sondern als Momente ihres Selbstverständnisses und der Ermächtigung im politischen Kampf um Anerkennung aktiv bekräftigen und eine Identität darauf begründen sollen. Mit Naomi Wolf ist dem zu entgegnen: »There is nothing wrong with identifying one’s victimization. The act is critical. There is a lot wrong with moulding it into an identity« (Wolf 1994: 148; zitiert nach Jacoby 2015: 529). Was den Menschen unter herrschaftlichen Bedingungen angetan wird, nämlich nach repressiv vorgefertigten Kategorien identifiziert zu werden, wiederholen sie nun selbst noch einmal. Die Subjekte haben das Herrschaftsinstrument des repressiven Kategorisierens erfolgreich internalisiert. Deutlich wird solcher, auf repressive Kategorien zurückgehender Identitätszwang etwa in Vorwürfen der Cultural Appropriation, welche besagen, dass bestimmte kulturelle Praktiken oder ein bestimmter kultureller Lifestyle nur den scheinbar »ethnisch« dafür vorgesehenen Menschen offen stehen sollen. Dadurch wird Kultur ebenso essentialisiert und homogenisiert, wie Individuen in autoritärer Geste, aber scheinbar antirassistisch ein- und ausgeschlossen werden (vgl. Pofalla 2017; L’Amour Lalove 2017). Diese Tendenz ist Teil der identitätspolitischen Verengungen, die Intersektionalität insbesondere seit der Jahrtausendwende kennzeichnen. Dabei stehen nicht personale, sondern kollektive Identitäten von Gruppen und Communities im Vordergrund. Es werden gruppenbezogene Antworten auf die virulente und für viele immer schwerer zu beantwortende Frage nach dem »Wer bin ich? « (Brubaker 2016) gegeben. Die Antwort ist aber »weniger durch die Form der Gesellschaft definiert, die es zu schaffen gilt, als durch die Geschichte und das kulturelle Erbe, zu dem man angeblich gehört« (Malik 2019). Der neue Identitätsdruck in gegenwärtigen Identitätspolitiken ist Gleichmacherei und paradoxes Resultat von Rhetoriken und Politiken um Anerkennung von Differenz beziehungsweise »Diversity« (Fukuyama 2018). Als Ursachen der vielschichtigen Ausgrenzungen und Exklusionen, die intersektionale Zugänge in Überkreuzungen und Verdichtungen erkennen, werden insbesondere ethnische Zugehörigkeiten, Genders und sexuelle Orientierungen erkannt – Differenzen also, die zwar mit herrschaftlichen Zuschreibungen zusammenhängen, die jedoch auch umgewertet werden können. Black wird so zur positiven Identitätskategorie, die deren Träger*innen Würde – dignity – verleihen soll: Black is beautiful, powerful etc., womit ein different knowledge und eine different kind of literacy (Nilma Lino

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Gomes) ausgedrückt werden soll, womit aber zugleich die Geltung der repressiven color line bestätigt wird. Gender und Sexualität sind in ähnlicher Weise in einer »anderen« Wiederholung der gesellschaftlichen Performanz parodistisch wandelbar und können die Quelle von Widerstand sein (Butler 1991). Durch solche Praktiken wird jedoch weder der Rassismus noch der Sexismus aus der Welt geschafft, sondern eher die Rolle der von Rassismus und Sexismus Betroffenen überbetont, während die Rolle derer, die rassistisch und sexistisch agieren und darin die rassistischen und sexistischen Strukturen der Gesellschaft reproduzieren, außen vor bleibt. Zudem bleibt die wesentliche Ursache sozialer Ungleichheit, die Klassenstruktur der Gesellschaft, von solchen Diversity-Ansätzen unberührt, denen es um die wertschätzende Anerkennung und Umdeutung von Differenzen geht. Ökonomische Unterschiede sind von anderer Art als Differenzen nach Ethnizität und Gender. Während mit letzteren gespielt werden kann (im Sinn einer performativen anderen Wiederholung und Ermächtigung), beruht ökonomische Benachteiligung nicht auf einer klassistischen Konstruktion und der mangelnden Wertschätzung von Menschen, die arm sind. Arme Menschen werden nicht weniger benachteiligt im Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, wenn ihre Armut anerkannt wird – hier bedarf es nicht der Anerkennung von Differenz, sondern der Abschaffung von Differenz in gesellschaftlicher und ökonomischer Umverteilung (Fraser 2013).1 Die Tendenz zur ideologischen Überblendung von sozialer Ungleichheit durch ethnische, sexuelle, geschlechtsspezifische oder religiöse Diskriminierung, welcher mit Anerkennung jener Differenzen begegnet werden könne, an welchen sich die Diskriminierung festmacht (ethnic, racial, cultural, gender/sexual, religious identities), wurde von Walter Ben Michaels unter dem Titel The trouble with diversity. How we learned to love identity and ignore inequality (2016) treffend kritisiert. Auch Donna Haraway forderte von intersektionalen Zugängen, zwischen Differenzen differenzieren zu können, als sie lakonisch feststellte: »Some differences are playful; some are poles of world historical systems of domination. Epistemology is about knowing the difference« (zitiert nach Tuider 2013: 91). Dieser Kritik folgend, ist in der Intersektionalitätsforschung immer wieder daran zu erinnern, dass reale ökonomische Ungleich-

—————— 1 Es gibt aber durchaus Versuche, Prekarität und Armut in ähnlichem Sinn umzudeuten wie race und Gender. Dies ist der Fall, wenn Armut als »sexy« bewertet oder als »authentisch«, »unentfremdet«, »alternativ« usw. essentialisiert wird. Ich danke Heiko Beyer für diesen Hinweis.

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heit nicht mit Diskriminierung zu verwechseln ist, der durch Anerkennung beizukommen wäre. Darüber hinaus muss betont werden, dass auch race und Gender nicht einfach Differenzen sind, die anzuerkennen und zu würdigen wären, sondern zu jenen von Haraway genannten »poles of world historical systems of domination« gehören. Identitätspolitisch ist dem Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz nicht beizukommen. Vielleicht ist es dieser Ungereimtheit zuzuschreiben, dass in gegenwärtigen intersektionalen Analysen der Klassenaspekt immer weniger behandelt wird, während jene Diskriminierungsachsen, die auf ein patriarchales und koloniales gesellschaftliches Erbe zurückzuführen sind, in den Vordergrund treten: »Das Diagnostizieren von Unterschieden, die als Eigenschaften verstanden werden, ist wesentlich attraktiver als das explizite Ansprechen von Machtungleichheit, die Herrschaft erst möglich macht.« (Messerschmidt 2016: 172) Selbst wenn Gender und Ethnizität einwandfrei als gesellschaftliche Konstruktionen entlarvt worden sind, die ihre Bedeutung insbesondere durch tradierte und intersubjektiv geteilte Interpretation erlangen, benennen sie in ihrem scheinbaren Gegebenheitscharakter doch gesellschaftliche Strukturen und kommen so der Klassenlage nahe. Der englische Ausdruck classism impliziert, dass Menschen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit besonderen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Nicht nur das Privateigentum als Marker der Klassenzugehörigkeit wird vererbt, sondern auch der damit verbundene Zugang zu Bildung. Durch den Ausschluss von sozialer Mobilität wirkt die Klassenlage ähnlich naturalisiert wie race und Gender. Bei allen drei Kategorien gilt es also, ihren Gegebenheitscharakter zu durchbrechen und die in ihnen wirkenden objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse sichtbar zu machen. Solche Analysen sind mittlerweile in der Intersektionalitätslandschaft selten geworden. Vorherrschend sind solche, die aus der Betroffenenperspektive das Ineinandergreifen unterschiedlicher Identitätsmarker in den Blick nehmen (vgl. Lutz u.a. 2010). Gerade in der Gewichtung und Beurteilung von Identität zeigen sich Brüche zum dialektischen, an der Kritischen Theorie angelehnten Konzept von Intersektionalität. Identitätspolitik gilt in heute vorherrschenden Richtungen von Intersektionalität als geeignete Strategie, um marginalisierte Partikularitäten gegen das repressiv Universelle zu stärken. Für Kritische Theorie ist es umgekehrt: Identität – als Manifestation von historisch-gesellschaftlichen Verdinglichungs- und Entfremdungsprozessen – ist eher ein Zeichen des Triumphs des falschen Allgemeinen über das Besondere: »Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es

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Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist« (Adorno 1997c: 152). Die identitätspolitische Kontraktion von Intersektionalität stärkt aus kritisch theoretischer Perspektive also gerade jenes Prinzip, das der instrumentellen Vernunft zugrunde liegt – die binäre Identitätslogik, die das Nichtidentische ständig als ihr Anderes produziert. Die von Horkheimer und Adorno entfaltete Identitätskritik verweist insbesondere auf die allumfassende Beherrschung der Natur, die auch den menschlichen Beziehungen nicht äußerlich ist. Identität – Grundstein dieser Zivilisation – ordnet und vereinheitlicht eine Welt, die von Vielfalt und Mannigfaltigkeit (Natur) geprägt ist. Um diese Vielfalt in eine Ordnung zu bringen, bedarf es der Kategorisierung, was Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung Entmystifizierung genannt haben, die direkt zur Remystifizierung führt. Durch den Prozess der Abstraktion (das heißt des Denkens) wird die ganze Welt auf die Formel verengt, die nur die 0 und die 1 enthält. Dies ist die grundlegende Binarität, für die die Geschlechtsbinarität gesellschaftlich als Modell dient. Urbild aller Identität ist das Selbst als ein identisch sich durchhaltendes, das alles sich selber gleichsetzt. Das identifizierende Prinzip ist immer auf der Subjektseite, auch in einem Denken, das alles, was ist (vermeintlich anti-idealistisch) schlechterdings dem Nicht-Ich, dem Prinzip der Materie zuschlägt. Einheit, Vereinheitlichung, gibt es nur vermittelt durch die Subjektivität. Naturbeherrschung ist das Prinzip, an dem der Subjektbegriff sich bildet und Integration ihrerseits die begriffliche Gestalt der Naturbeherrschung. »Identifizierung ist die Voraussetzung der Beherrschung«, schreibt Horkheimer. »Sobald diese freilich gelingt, verschwindet die Identifizierung: das Beherrschte wird zur Sache und nur das Beherrschte.« (Horkheimer 1991: 192) In der Dialektik der Aufklärung zeichnen Horkheimer und Adorno den Prozess der Subjektivierung als einen kontinuierlicher (Natur-)Beherrschung nach. Im Anfang ist die Furcht vor dem Mannigfaltigen, Vielen, Andrängenden. Identitätsdenken reduziert das Mannigfaltige, das also, was ihm gegenübersteht und sich ihm entzieht, auf Eines. Das Prinzip, das sich dabei durchhält, das Eine bleibt, ist das Selbst. Durch die Begriffe prägt das Selbst dem, was es nicht selber ist, Identität auf. Daher lässt sich dieser Sachverhalt auch so ausdrücken, dass das Prinzip der Identität, wie eigentlich jedes Prinzip, ein Denkprinzip ist und nicht unmittelbar in der Sache selbst liegt: es setzt die Identität von Denken und Sein voraus. Alles Identitätsdenken ist also implizit Idealismus, wie umgekehrt Idealismus immer Identitätsdenken ist.

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Gleichzeitig zeigt die dialektische Theorie, dass dieses identische Selbst scheitert und sich auflöst, gerade weil es das Nichtidentische kategorisch ausschließt und das Vielfältige nach innen und außen leugnet und beherrscht. Unter den Bedingungen des Spätkapitalismus verliert sich Identität – diese Resultante des schwierigen und ambivalenten Integrationsprozesses im Ich, das in der Lage ist, Widersprüche auszuhalten – in Konformismus, Außengerichtetheit, unreflektiertem Funktionieren, Subsumtion unter bestehende Kategorien und Anpassung an die herrschenden Mächte: »Identität wird zur Instanz einer Anpassungslehre, in welcher das Objekt, nach dem das Subjekt sich zu richten habe, diesem zurückzahlt, was das Subjekt ihm zugefügt hat.« (Adorno 1997c: 151) Paradox triumphiert Nichtidentität über Identität, gerade weil Identität vom Nichtidentischen reingehalten wird.

3. Intersektionalität und Nichtidentität – antikategorialer Zugang Kritik an identitätspolitischen Verengungen von Intersektionalität, in welchen Kategorien ungeachtet ihres repressiven Herrschaftszusammenhangs positiv umgewertet werden, kommt insbesondere von Seiten der Queer Theory. So wird gefordert, Intersektionalität und Identität radikal voneinander zu trennen und Intersektionalität »im Sinne einer Durchkreuzung von Herrschaftsverhältnissen und Machtrelationen und nicht von Identitätspositionen zu verwenden. Andernfalls kann ein Verständnis verdinglichter (reifizierter) Identitätsmomente bestehen bleiben, die zwar unterschiedlich angeordnet, aber die nicht als Effekt ihrer gegenseitigen Konstitution betrachtet werden« (Engel u.a. 2005: 12; zitiert nach Dietze u.a. 2012: 115). In eine ähnliche Kerbe schlägt Roderick Fergusons Queer of Color Critique (2004), die Intersektionalität explizit als einen nicht-identitären Ansatz fasst (Dietze u.a. 2012: 117). Nicht die marginalisierten oder unsichtbaren Identitäten von Gruppen und Kollektiven stehen im Vordergrund der theoretischen und praktischen Arbeit, sondern gerade die Verweigerung der Identifikation mit jenen kategorialen Zuschreibungen, die aus Herrschaft stammen und diese reproduzieren: »To assume that categories conform to reality is to think with, instead of against, hegemony« (Ferguson 2004: 5; zitiert nach Dietze u.a. 2012: 118). Im Gegensatz zum inter- und intrakategorialen

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Zugang, der dazu tendiert, Differenzen ungeachtet ihrer herrschaftlichen Begründung zu zelebrieren und zur Grundlage von Identitäten zu machen, weigert sich ein antikategorialer Zugang (McCall 2005) nicht nur, Kategorien wie race, Ethnizität, Gender, Sexualität, Klasse, Religion etc. als Grundlage von Identitätsbildung heranzuziehen, sondern darüber hinaus Identität als normativen Rahmen überhaupt noch anzuerkennen (vgl. Knapp 2013a; Löffler 2013). Gerade diese gesellschaftliche Instanz soll bedingungslos dekonstruiert werden, indem die »Nicht-Kohärenz, Nicht-Identität der intersektional gedachten Subjektivierungsprozesse« (Dietze u.a. 2012: 118) hervorgehoben werden. Das ist ein radikaler Einspruch gegen Identitätspolitiken jeglicher politischen Couleur und zudem Ausdruck eines radikalen Individualismus. Diese Form der Anti-Identitätspolitik wird jedoch auch kritisiert als »politics of indeterminacy […], which goes hand in hand with a general fetishization of the concept of non-identity in contemporary feminist thought, and which is responsible for abstract theorizing« (Leeb 2017: 56f.). Denn wenn Nichtidentität unvermittelt in den Vordergrund gerückt wird, droht die Dekonstruktion von Identität übers Ziel hinauszuschießen und das Gegenteil dessen zu erreichen, was sie intendiert. Hinsichtlich des zunehmend in Bedrängnis geratenen politischen Subjekts Frau in postmodernen Strömungen des Feminismus, oder Postfeminismus, reagierte Nancy Fraser bereits in den frühen 1990er Jahren skeptisch und kritisierte, »dass die gegenwärtig überhandnehmende Vermehrung von die Identität entdinglichenden, austauschbaren, warenförmigen Bildern und Signifikationen eine ebenso große Bedrohung für die Frauenbefreiung darstellt wie fixierte, normative Identitäten. In der Tat sind entdinglichende Prozesse und verdinglichende Prozesse zwei Seiten derselben postfordistischen Medaille« (Fraser 1993: 76). Anders Adornos radikale Identitätskritik: Aus der ihr impliziten Wendung zum Nichtidentischen ist nicht zu schließen, dass das Nicht-identische das unbedingt zu befürwortende Partikulare sei, das da tatsächlich existieren würde, aber unter der Herrschaft des schlechten Allgemeinen keinen Ort als den des Unbenannten habe. Nichtidentität ist nicht per se befreiend und auch nicht einfach der Gegenpol zur verdinglichten Identität, sondern gehört ihr negativ zu. Queere Anti-Identitätspolitik vermittelt jedoch den Eindruck, als müsse nur das Nichtidentische gegenüber dem Identischen gestärkt und autonom gemacht werden, um die repressiven Fallstricke des Identitätsdenkens zu überwinden. Dabei wird

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übersehen, dass gelungene Identität selbst die widerspruchsvolle Einheit von Identität und Nichtidentität ist, ein Spannungsverhältnis zwischen zwei nur scheinbar entgegengesetzten Polen. Wird dieses Spannungsverhältnis auf eine Seite hin aufgelöst, indem Nichtidentität vergötzt und Identität verworfen wird, droht das Nichtidentische gerade den Identitätszwängen subsumiert zu werden, die es doch eigentlich dekonstruieren sollte. Das Problem liegt einmal mehr im tertium non datur, als gäbe es nur Identität oder Nicht-Identität und als würde diese Opposition obendrein jener von Repression und Widerständigkeit entsprechen: »Es gibt auf der einen Seite diejenigen, die die Norm infrage stellen, und auf der anderen Seite diejenigen, die diese repräsentieren. Von Butlers früher Erkenntnis, dass letztere in ihrem Denken und Handeln deutlich weniger an die herrschenden Verhältnisse angepasst sein könnten als erstere, wenn sie ihre eigene Instabilität und Uneindeutigkeit reflektieren, ist nichts mehr übrig geblieben. Es gibt jetzt nur noch widerständige Identitätsformen, die supportet gehören, und angepasste, deren Vertreterinnen und Vertreter keinerlei kritisches Potential haben.« (Trumann 2018: 133)

Solcherart kippt queere Identitätsverweigerung unversehens in die Affirmation beschränkter Identitäten, die warenförmig immer kleinteiliger organisiert sind, sodass die vielen Differenzen letztlich wieder indifferent zu werden drohen. Solche flexiblen Subjekte lösen sich auf in »shifting pluralities« (Brown 1995: 37) und passen sich so an die Erfordernisse neoliberaler Ökonomie an. Während die kritisierte intersektionale Identitätspolitik das Subjekt mitunter zum bloßen Anhängsel kollektiver Identität macht, wird es im queeren Unbehagen mit Identität unvermittelt ins Zentrum der Bespiegelung gestellt und die Frage nach der Passfähigkeit von gesellschaftlichen Kategorien wird individualisiert. Dass eine Person, die sich als Frau liest, sich nicht mit den gesellschaftlichen Bedeutungen von Weiblichkeit (im Sinne des weiblichen Charakters, den Adorno in den Minima Moralia [1997a: 107] dialektisch als männlichen Charakter liest) in Übereinstimmung weiß, wird in solchen Diskursen Untergrund der Unmöglichkeit von Identität überhaupt, da diese allzu wörtlich und strikt – als Einheit – verstanden wird. »Ich bin eine Frau« schillert dann nicht in unterschiedlichen Farben, die die »Perspektive auf uneindeutige Begehrensformen« öffnen (Messerschmidt 2016: 169), sondern wird in einem begrifflichen Abbildrealismus auf das gesellschaftlich vorherrschende Bild von Frau eingeengt und entspricht insofern negativ der Sehnsucht nach eindeutigen Identitäten und folgt der impliziten Essenzialisierung des Frauseins, die doch eigentlich unter Kritik steht. Demgegenüber werden in der Authoritarian Personality

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solche Einstellungen zu Geschlechtlichkeit, die sich gegenüber der Verwischung der eingefahrenen Geschlechtergrenzen unduldsam zeigen und die Züge des anderen Geschlechts im eigenen vehement verleugnen, als Pseudofeminität und Pseudomaskulinität bezeichnet, womit negativ die reale Pluralität und Uneindeutigkeit von Geschlechtsidentität als Normalität benannt wird (Adorno u.a. 1967: 428; vgl. Stögner 2014: 41–47). In queerer Perspektive hingegen kann man sich aus dem Dilemma der Festsetzung in Identitäten nur durch die Absage an Identität überhaupt lösen. Auch das ist eine Folge der gesellschaftlichen Vereinzelung. Demgegenüber wäre Identität als das Spannungsverhältnis von Identität und Nichtidentität zu reflektieren und so zu reformulieren, dass dem Nichtidentischen Gerechtigkeit widerfährt. Gelungene Identität wäre eine, die das Nichtidentische nicht ausschließt. Das Nichtidentische »fällt nicht mit dem Different-Sein zusammen«, wie Christoph Menke betont, »sondern es ist das Moment der Differenzierung einer Identität, der Modalität des Differenzierungsgeschehens eines mit sich identischen Subjektes, von dem man im weitesten Sinne sagen kann, dass es die gelungene Variante ist« (Menke 2016: 37). Aus dieser Perspektive ist Identität gelungen, wenn sie dem Nichtidentischen eingedenk ist und »wo ein differenzierendes Über-SichHinausgehen einer Identität, eines identischen Subjektes geschieht, und zwar in dem Zusammenspiel von Aktivität und Passivität, ohne in Dissoziation oder Auflösung umzuschlagen« (ebd.). Nach Adorno ist »das Nichtidentische durch die Identität hindurch« erkennbar, nicht als ein isoliertes Moment der Differenz (Adorno 1997c: 189). Kritisches Differenzdenken sollte sich also nicht so sehr gegen ein identisches Subjekt wenden, das identisch nur sein kann, indem es des Nichtidentischen eingedenk ist, sondern gegen Identität im Sinn der »Kritik an der Verwendung begrifflicher Klassifikationssysteme als vorgefertigte und starre Sortierraster, an dogmatischen Urteilen, insgesamt am Identifizieren im Interesse des Willens zur Macht sowie als Mittel zur Stabilisierung verdinglichter und entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse« (Ritsert 2016: 189). Wenn Adorno schreibt, dass Identität die »Urform von Ideologie« sei (1997c: 151), dann trifft dies insbesondere auf die von Ritsert genannten Charakteristika zu. Wann wird Identität ideologisch? Wenn sie das Werdende in sich und das, was sie nicht ist, ausschließt und zum Motto »werde, was du bist« gerinnt. Aber bei aller notwendigen Kritik an Identitätspolitiken, »die Pluralität und Vielfalt einebnen oder die sich für Gruppen einsetzen, die ihre Besonderheit allgemeinverbindlich machen wollen« (Becker-Schmidt

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2016: 182), sollte sich kritisches Differenzdenken doch nicht per se all jenen Gruppenidentitäten verschließen, auf welche sich politische Kämpfe berufen und die immer auch gesellschaftlich vorgenommene Kategorisierungen übernehmen, weil diese Kategorisierungen negativ ein gemeinsames Interesse ausdrücken. Es kommt also darauf an, wie die Kategorien übernommen werden – als wesenhaft und essentialisiert, oder als gesellschaftliche Positionszuweisungen, aus denen gemeinsame Probleme und Interessen resultieren. Solidarität kann derart einen partikularen Ausgangspunkt in Gruppenidentitäten haben, und dennoch über die Partikularität hinausweisen und »eine regulative Idee sein, die in historischen Prozessen Gemeinwesen hervorbringt, in denen deren Mitglieder – befreit von geschlechtlicher, klassenspezifischer und soziokultureller Diskriminierung – ihre sozialen Belange in wechselseitiger Abstimmung miteinander regeln« (ebd.). Sowohl Differenz als auch Identität können somit repressiv sein, aber andererseits, je nach Konstellation, auch emanzipatorisch wirken. Wo inter-, intra- und antikategoriale Intersektionalität am gesellschaftlichen Widerspruch von Gleichheit und Differenz, Identität und Nichtidentität, Allgemeinem und Besonderem scheitert, zieht die dialektische Intersektionalität gerade aus dem Widerspruch die analytische Schärfe, weil sie ihn nicht auf eine Seite hin aufzulösen versucht, sondern als realen Widerspruch erkennt, der begrifflich wie praktisch nicht einfach beseitigt werden kann.

4. Intersektionalität und Universalismus Tatsächlich geht es beim Konzept der Intersektionalität um die Betonung der Differenz, aber gleichzeitig auch um die Überwindung der Vereinzelung, die mit den Formen von Vergesellschaftung in der neoliberal ausgerichteten Gesellschaft einhergeht. Diese Überwindung der Vereinzelung findet häufig in Form von Kollektivierung oder Gruppenzugehörigkeit statt, die Pluralität ebenso wie Individualität einebnen. Das muss aber nicht notwendig so sein. Wenn Bewusstsein über die Differenzen besteht, kann die Vereinzelung auch in einer Solidarität überwunden werden, die die unmittelbare Gruppenzugehörigkeit transzendiert und sich auf Grundlage eines gemeinsamen Interesses nach Emanzipation bildet. Um der Tendenz der Essentialisierung von Verschiedenheit nicht nachzugeben, »kann es hilfreich sein, nach der Geschichte sozialer Kämpfe um Repräsentation und Partizipation zu fragen,

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die Differenz als emanzipatorische Kategorie beansprucht haben« (Messerschmidt 2016: 167). Intersektionale Analysen sollten sich also nicht darauf beschränken, moderne westliche Gesellschaften durch die Wechselwirkung verschiedener Unterdrückungsverhältnisse zu charakterisieren. Damit sind diese Gesellschaften noch nicht hinlänglich beschrieben. Denn sie verdanken ihre politische Verfasstheit und ihr Selbstverständnis doch gerade auch den Kämpfen gegen Unterdrückung und Ungleichheit (Knapp 2013b). Noch vor postkolonialen Theorien hat die Kritische Theorie den Widerspruch herausgearbeitet, dass der Universalismus der Aufklärung im Namen von Gleichheit unter ungleichen Bedingungen Ungleichheit erzeugt, dass der Universalismus also Allgemeinheit einfordert, die praktisch aber nicht für alle gleichermaßen gilt (Horkheimer/Adorno 1997). Das vorgeblich Universelle wird als eine spezifische Partikularität dechiffriert, die sich gegen andere Partikularitäten durchgesetzt hat: ein dominant beziehungsweise hegemonial gewordenes Partikulares, wie es später Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985) oder Judith Butler (1993) ausdrückten. Gleichzeitig ist aber mit der Kritischen Theorie gegen Laclau, Mouffe und Butler einzuwenden, dass das Universelle noch mehr als eine bestimmte hegemoniale Partikularität und auch mehr als ein Effekt in einer Bezeichnungskette und einer diffusen Macht ist (vgl. Benhabib 2012). Im Universellen ist zugleich die geschichtlich gewordene Idee des Allgemeinen aufgehoben – etwa im Sinn des Drangs und der Hoffnung auf Freiheit und Emanzipation. Es ist also mehr als eine bloße Leerstelle, die jeweils hegemonial gefüllt wird. Denn im Universellen drückt sich ein allgemein Menschliches aus, das sich nicht hegemonial durchgesetzt hat, sondern als Idee, negativ und unterirdisch gegen das falsche Allgemeine beharrt. Gleichzeitig gilt es darüber nachzudenken, inwiefern Emanzipation und Freiheit unter bestimmten historischen Bedingungen in ihr Gegenteil kippen können (Knapp 2013b). Kritische Theorie zeichnet nach, dass die Universalien ihre eigene Negation historisch in sich tragen und bemüht sich dennoch um eine rettende Kritik des Universalismus, sodass er nicht mehr bloß eine hegemoniale Partikularität umfasst, die andere, nicht-hegemoniale Partikularitäten ausschließt, sondern als Rahmen für die Entfaltung und Erfahrung des Besonderen dienen kann und von Adorno – viel zitiert – als der bessere Zustand beschrieben wurde, »in dem man ohne Angst verschieden sein kann« (1997a: 116). Aus dieser Sicht ist die konflikthafte Spannung zwischen Universellem und Partikularem keine ewige anthropo-

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logische Konstante, sondern im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass das Universelle in seiner bisherigen Form nicht universell genug war. Die Notwendigkeit der kritischen Rettung des Universellen betont auch Susan Buck-Morss in ihrem Buch Hegel, Haiti and Universal History (2009). Darin schreibt sie, dass die Idee des Universellen vom falschen Gebrauch im Kolonialismus zu befreien sei. Ganz im Sinne Walter Benjamins sollen die historischen Fakten und Zusammenhänge über die Freiheit aus dem Kontinuum der Sieger-Narrative herausgeschlagen und in unsere Zeit herübergerettet werden. Dann würde etwa das Projekt universeller Freiheit nicht mehr unversehens auf der Unfreiheit und Unterdrückung derer basieren, die vom Universellen ausgeschlossen waren, sondern könnte auf einer tatsächlich allgemeinen Basis wiederhergestellt und vielleicht eingelöst werden (vgl. Buck-Morss 2009: 74f.). Der Tyrannei des Allgemeinen gegen das Besondere ist mit krudem Anti-Universalismus nicht beizukommen. Allgemeinbegriffe wie Individuum, Subjekt, Menschenrechte sind zweifellos Ausdruck bestehender Herrschaftsverhältnisse und waren die Geschichte hindurch mehr oder weniger offenkundig ethnisiert und vergeschlechtlicht (Davis 2016a: 87): Schwarze und Frauen, aber auch Juden/Jüdinnen waren allzu lang nicht als Personen anerkannt, denen ein grundlegendes moralisches Recht zukommt: »Das Recht, Rechte zu haben«, wie Hannah Arendt es ausdrückt (1955: 614; vgl. Benhabib 2007). Sie waren nicht gemeint, wenn von dem Menschen und seinen unveräußerlichen, gesetzlich geschützten Rechten die Rede war. Und wenn heute die Rede davon ist, dass Juden, Frauen oder Schwarze doch auch Menschen sind, klingt diese historische Exklusion noch deutlich an. Und dennoch ist es der falsche Weg, den universellen Begriff des Menschen fahren zu lassen und das Allgemeine aufzulösen in eine Vielzahl unzusammenhängender Besonderheiten. Denn gerade vor dem Hintergrund einer universellen Kategorie, die Allgemeinheit beansprucht, sind die damit verbundenen unveräußerlichen Rechte auch von allen einklagbar. Nur vor dem Hintergrund einer universellen Kategorie Mensch ist das Menschsein derer, die real davon ausgeschlossen sind, offensichtlich. Derart werden die zurecht gescholtenen Allgemeinbegriffe als Kampfbegriffe gegen die ungleichen und knechtenden gesellschaftlichen Verhältnisse lesbar. Intersektionale Kritik sollte deshalb in allem, was sie für die zuweilen dringend notwendige Anerkennung und Stärkung von marginalisierten und ausgebeuteten Partikularitäten tut, im Sinn behalten, dass die Sorge ums Partikulare nicht mit Partikularismus zu verwechseln ist (Fine/Spencer 2017:

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108). Ebenso wie Identität und Nichtidentität bilden auch das Allgemeine und das Besondere ein dialektisches Spannungsverhältnis, das Intersektionalität nicht begrifflich auflösen kann.

5. Intersektionalität als Ideologie: Queer BDS, Antisemitismus und die Delegitimierung Israels Die Auflösung der Dialektik zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen bleibt in der Praxis nicht folgenlos, sondern resultiert in einer manichäischen Einteilung der Welt in Freund und Feind. Das lässt sich an globalen politischen Bewegungen beobachten, die gegen den Imperialismus und seine Folgen kämpfen, dabei aber die Komplexität der Lage ignorieren und globale Herrschaftsverhältnisse auf simple Gut vs. Böse-Relationen reduzieren. Je mehrfach diskriminiert eine Gruppe oder eine Bevölkerung ist, desto untadeliger erscheint sie. Intersektionalität droht hier, selbst in Ideologie zu kippen. Das wird paradigmatisch an einem eigentümlichen Trend, der sich seit einigen Jahren auf internationaler Ebene in bestimmten Bereichen des Feminismus und der Gender Studies herausgebildet hat: die Instrumentalisierung von Intersektionalität zur Legitimierung von Antizionismus und der Kampagne Boykott, Divestment, Sanctions (BDS). Es ist auffällig, wenn auch keineswegs selbstverständlich, dass eine wachsende Zahl von Feminist*innen und Wissenschaftler*innen der Gender Studies sich zunehmend hinter BDS stellen und damit Israel delegitimieren.2 Der akademische Boykott Israels geschieht häufig unter Berufung auf Intersektionalität, was an der feministischen Theoretikerin und Aktivistin Angela Davis deutlich wird, einer Ikone der Bürgerrechtsbewegung und des Black Feminism, die zugleich vehemente Verteidigerin des autoritären Staatssozialismus war. Bereits in den frühen 1970er Jahren beschäftigte sie sich mit dem Ineinandergreifen unterschiedlicher Herrschaftsmechanismen in Form von Rassismus, Sexismus und Klassenherrschaft (Davis 1972; 1983). Sie ist emeritierte Professorin an der University of California, Santa Cruz. In

—————— 2 Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Jahr 2015 entschied sich die National Women’s Studies Association, die größte und einflussreichste feministische Wissenschaftsorganisation der USA, BDS zu unterstützen. (National Women’s Studies Association, November 16, 2017, http://www.nwsa.org/statements). Zum akademischen Boykott von Israel vgl. Nelson/Brahm 2015; Nelson 2019.

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den 1960er Jahren studierte sie bei Herbert Marcuse in San Diego und bei Adorno und Horkheimer in Frankfurt und verortete ihre Arbeit anschließend in der Kritischen Theorie. Sie engagierte sich führend in der Kommunistischen Partei der USA mit engen Beziehungen zur Black Panther Party. Heute ist Angela Davis ist prominente Unterstützerin von BDS und bringt in Vorträgen und Interviews regelmäßig BDS-Positionen gegen Israel vor. Sie bietet damit ein prominentes Beispiel für den politischen Gebrauch des Begriffs der Intersektionalität. In neueren Schriften wie dem Band Freedom Is a Constant Struggle (2016) verwirft sie das Universelle pauschal als Inkarnation der weißen, männlichen Vorherrschaft und zelebriert demgegenüber undifferenziert das Partikulare, das in globaler Opferposition verortet wird. Die Frage, welche Partikularitäten in diesem Rahmen anerkannt und gestärkt werden, ist von wesentlicher Bedeutung. Im Zentrum von Davis’ Vorstellung von Intersektionalität stehen ethnische Minderheiten und solche Bevölkerungen, die als Opfer von westlichem Imperialismus und Kolonialismus gesehen werden. Juden und Jüdinnen fallen bei ihr nicht unter eine dieser Kategorien und werden folglich nicht als Minderheit mit besonderen Interessen wahrgenommen, die geschützt und gefördert werden müssen, sondern sie erscheinen implizit als Vertreter*innen der weißen Vorherrschaft, das heißt des primären Angriffspunkts einer so (miss-)verstandenen Intersektionalität. Das ansonsten inklusive Programm der Intersektionalität wird exkludierend, repressiv kategorisierend und identifizierend, wenn es Jüdinnen und Juden das Recht auf Partikularität verweigert. Dementsprechend gilt der Zionismus auch nicht als nationale Befreiungsbewegung mit einem bestimmten historischen Hintergrund – der Shoah und der antisemitischen Verfolgungen in den arabischen Ländern (Weinstock 2019; Bensoussan 2019) –, sondern lediglich als eine Bastion des westlichen Imperialismus und Kolonialismus. Dadurch findet eine fundamentale Delegitimierung Israels statt. Zu den hierfür angewandten Strategien gehört auch der Vorwurf des Pinkwashing, was bedeutet, dass das gay-friendly Image und die Rechte für LGBTIQ in Israel bloße Heuchelei, Zynismus und eine neoliberale Maske seien, durch die ein rassistisches und apartheidähnliches System ideologisch verdeckt werde. Cary Nelson (2015) betont, dass in solchen Zugängen Intersektionalität von einem theoretischen Zugang zu einem Slogan und Aufruf zur politischen Mobilisierung wurde. Dementsprechend verlagerte sich der Schwerpunkt von der Analyse ineinandergreifender Formen von Unterdrückung und unterschiedlicher Antagonismen und Ideologien innerhalb einer Gesell-

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schaft hin zu der weitaus spekulativeren Behauptung, dass sich politische Kämpfe intersektional überschneiden, auch wenn sie in verschiedenen Teilen der Welt, in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen, in verschiedenen politischen Systemen und in verschiedenen historischen Kontexten auftreten. »Then the intersection often occurs only in the mind of the beholder or in a political manifesto, and it begins to function like a conspiracy theory.« (Nelson 2015) Unter solchen Umständen weicht die gesellschaftstheoretische und historisch eingebettete Analyse einer politisch grundierten Willkür in der Auswahl der Momente, die intersektional verbunden sein sollen. Dieser Wandel von Intersektionalität wird deutlich, wenn Angela Davis über die »intersectionality of movements and struggles« (2016a: 16) und nicht mehr von Unterdrückungsformen schreibt. Sie stützt dieses Konzept auf eine Ablehnung des westlichen Universalismus und Individualismus als eurozentrische Ideen, denen gegenüber sie die Bedeutung partikularer Interessen und den Geist der Gemeinschaft betont.3 Dabei kommt es nicht zu einer kritischen Durchdringung der Dialektik von Universellem und Partikularem, sondern zu einer vehementen Abwehr des Universellen, das einer Reihe von special interests weicht (Frauen, Queers, Schwarze, PoC, Palästinenser*innen, Muslime, Arbeiter*innen). Jüdische Interessen spielen hier wieder keine Rolle. Implizit werden Jüdinnen und Juden mit der »tyranny of the universal« (Davis 2016a: 87) zusammengedacht – also mit der weißen, männlichen, heterosexuellen Hegemonie. Das wird etwa an ihrer Darstellung von Intersektionalität deutlich: »Black feminism emerged as a theoretical and practical effort demonstrating that race, gender, and class are inseparable in the social worlds we inhabit. At the time of its emergence, Black women were frequently asked to choose whether the Black movement or the women’s movement was most important. The response was this was the wrong question. The more appropriate question was how to understand the intersections and interconnections between the two movements. We are still faced with the challenge of understanding the complex ways race, class, gender, sexuality, nation, and ability are intertwined – but also how we move beyond these categories to understand the interrelationships of ideas and processes that seem to be separate

—————— 3 In einem Vortrag im Panel »Queer Visions« beim »World Social Forum: Free Palestine« in Porto Allegre im Dezember 2012 sagte sie, es sei »refreshing to be out of the USA where we don’t always have to challenge the constant individualization that happens especially under the impact of neoliberal ideologies. We talk about collectivities and communities.« (Angela Davis, »What Is Queer BDS? Pinkwashing, Intersections, Struggles, Politics«, https://vimeo.com/55886232 letzter Zugriff 2.1.2020.)

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and unrelated. Insisting on the connections between struggles and racism in the US and struggles against the Israeli repression of Palestinians is a feminist process.« (Davis 2016a: 4)

Diese Passage, die den israelisch-palästinensischen Konflikt mit dem Civil Rights Movement und dem schwarzen, intersektionalen Feminismus in den Vereinigten Staaten verbindet, ist nur verständlich, wenn Israelis als Weiße und Palästinenser*innen als PoC gelesen werden. Solche Unterscheidung macht ihrerseits nur Sinn, wenn Israelis nicht auch als arabisch gedacht werden, sondern nur als jüdisch. Wenngleich oder vielleicht gerade weil Davis nicht darauf eingeht, wie sie zu dieser Verbindung kommt, wirkt die Assoziation umso direkter und unhinterfragt. Wenn jüdische Israelis als Vertreter*innen von weißer Hegemonie erscheinen, ist es in diesem Verständnis logisch, ihnen besondere Interessen einer Minderheit, die zu unterstützen sind, abzusprechen. Der Antisemitismus kann aus dieser Sicht als ein Problem zwischen Weißen erscheinen, die Shoah gar als »little family quarrels between Europeans« (Frantz Fanon, zitiert nach Cousin/Fine 2002: 172). Antisemitismus und Shoah fallen somit aus einem eingeschränkten intersektionalen Relevanzrahmen hinaus, da sie nicht nach der color line zu beurteilen sind (Stögner 2020b). Intersektionale Feministinnen fühlen sich verpflichtet, sich mit Opfern imperialer und kolonialer Unterdrückung zu solidarisieren, da auch die Unterdrückung von Frauen nie nur einem Muster folgt, sondern sich mit anderen Formen der Unterdrückung überschneidet. Die Weigerung, jüdische special interests anzuerkennen, ist bei Angela Davis eine wiederkehrende Charakteristik, etwa wenn sie aus Anlass der Verteidigung von Black Lives Matter eine lange Liste von speziellen Interessen und Leben aufzählt, die von Bedeutung sind, und jüdische Leben nicht erwähnt: »If indeed all lives mattered we would not need to emphatically proclaim that ›Black Lives Matter‹. Or, as we discover on the BLM website: Black Women Matter, Black Girls Matter, Black Gay Lives Matter, Black Bi Lives Matter, Black Boys Matter, Black Queer Lives Matter, Black Men Matter, Black Lesbians Matter, Black Trans Lives Matter, Black Immigrants Matter, Black Incarcerated Lives Matter. Black Differently Abled Lives Matter. Yes, Black Lives Matter, Latino/ Asian American/ Native American/ Muslim/ Poor and Working-Class White People’s Lives Matter. There are many more specific instances we would have to name before we can ethically and comfortably claim that All Lives Matter.« (Davis 2016a: 87)

Dass sie jüdische Leben ausblendet oder zumindest verschweigt, ist auch deshalb auffällig, da Black Lives Matter zu Beginn eine sehr diverse Bewegung

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war, in der sich auch Jüdinnen federführend für Bürger*innenrechte einsetzten (Isaacs 2016). Bei Davis aber scheinen jüdische Leben zu den »all lives« zu gehören, das heißt zum Universellen, das weiß und männlich geprägt ist. Selbst diese implizite Subsumption von Jüdinnen und Juden unter das Universelle ist eine deutliche Umkehrung des Diskurses der Aufklärung. Dieser zielte in den Debatten um die »Judenfrage« auf jüdische Partikularität und unterstellte Juden und Jüdinnen, sie würden aufgrund der Gebundenheit an ihre partikulare Gemeinschaft den Kriterien des Allgemeinen nicht gerecht werden können. Dieses Allgemeine war implizit immer weiß, männlich und christlich markiert, wenngleich der aufklärerische Universalismus vorgab, alle Partikularitäten zu überwinden, um zum Gemeinwesen finden zu können. Die »Judenfrage« war also eine Frage um unerwünschte Partikularität, die im Universellen bestenfalls aufgelöst oder im Falle des Antisemitismus ausgelöscht werden sollte (vgl. Fine/Spencer 2017). In Angela Davis’ Denkweise scheint dieses Verhältnis umgekehrt zu sein – sie sieht in Israel nicht einen zu überwindenden Partikularismus, sondern implizit die Tyrannei des Universellen. Die Überwindung von Rassismus und Antisemitismus ist an die Überwindung des repressiven Universellen und an die Stärkung der Partikularitäten in Gestalt von Communities und Collectivities gebunden. Dies wird explizit am Konflikt zwischen Israel und Palästina festgemacht: »We cannot call for an end to racism and to antisemitism without calling for an end to the occupation of Palestine«, sagte sie in einem Vortrag im Mai 2016 in Paris.4 Die Schaffung von Frieden in der Welt ist mit der Überwindung von Rassismus und Antisemitismus verbunden, was Angela Davis wiederum explizit von einem Ende der »Besatzung Palästinas« abhängig macht. Das impliziert, dass die israelische Politik für den Antisemitismus und Rassismus in der Welt verantwortlich sei – eine klassische Figur von Täter-Opfer-Umkehr. Das Ende von Rassismus und Antisemitismus wird an die Lösung der »Israel-Frage« geknüpft – eine neue Variante der alten »Judenfrage«, die belegt, dass Jüdinnen und Juden alles verkörpern können, was falsch ist, sei es das Partikulare, das falsche Universelle (manchmal mit Kosmopolitismus gleichgesetzt) oder sogar den Universalismus selbst, wenn er als tyrannisch und repressiv gegenüber dem Partikularen angesehen wird.

—————— 4 Angela Davis, »Race et impérialisme, intervention lors des 10 ans de la Parti des Indigènes de la République (PIR),« Paris, 8. Mai 2016, http://indigenes-republique.fr/race-et-imperialisme-intervention-dangela-davis-race-et-imperialisme-lors-des-10-ans-du-pir/ (letzter Zugriff 2.1.2020).

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Dabei lässt Davis offen, ob es sich bei der geforderten »Dekolonisierung« um die palästinensischen Gebiete innerhalb der Grenzen von 1967 oder um den Teilungsplan von 1947 handelt, ob sie also eine Zweistaatenlösung oder die Auflösung Israels fordert. Das Freund-Feind-Schema wird jedoch eindeutig, wenn es um das Recht auf Selbstbestimmung geht: »The important issues in the Palestinian struggle for freedom and self-determination are minimized and rendered invisible by those who try to equate Palestinian resistance to Israeli apartheid with terrorism« (Davis 2016a: 8). Die Gleichsetzung von Israel mit dem Apartheidsregime in Südafrika hat die Funktion, den palästinensischen Kampf gegen Israel nicht als Terrorismus, sondern als antirassistischen Widerstand erscheinen zu lassen. Offensichtlich nimmt Davis nicht zur Kenntnis, dass Hauptakteure im palästinensischen Kampf für ein Palästina »from the River to the Sea« eintreten, was die Zerstörung Israels als zionistischen Staat und damit das Ende Israels als einzigem potentiellen Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden weltweit zur Folge hätte. Dieses Ziel steht auch auf der Agenda der BDS-Kampagne, wie deren Gründer Omar Barghouti5 festhielt: »Definitely, most definitely we oppose a Jewish state in any part of Palestine. No Palestinian, rational Palestinian, not a sell-out Palestinian, will ever accept a Jewish state in Palestine.«6 Davis distanziert sich nicht von dieser Art des politischen Denkens. So wird jüdische Selbstbestimmung verleugnet, um manichäisch jene von Palästinenser*innen zu betonen. Letztlich ist sich Angela Davis der Problematik der Auflösung des Universellen in eine Reihe von Partikularitäten und Partikularinteressen bewusst. Der Bezug auf ein gemeinsames Interesse und die Idee von Solidarität, die Partikularitäten transzendiert, geht verloren. Auf dem »World Social Forum: Free Palestine« plädierte sie für eine Überwindung der Vereinzelung, die mit identitätspolitischer Intersektionalität einhergeht: »The more we try to complicate ideas of struggle using concepts of race, class, gender, sexuality, nation, ability etc., it seems that we move from broad categories to more restrictive ones. It seems that we are constantly narrowing our focus.«7

—————— 5 Eine alternative Lesart von BDS als eine Gründung nicht von palästinensischen Aktivisten, sondern von britischen Intellektuellen, die die Boykott-Idee populär gemacht und in die palästinensischen Gebiete exportiert haben, findet sich in Hirsh 2018: 100f. 6 Omar Barghouti, »Strategies for Change«, https://vimeo.com/75201955 (letzter Zugriff: 2.1.2020). 7 Angela Davis, »What Is Queer BDS? Pinkwashing, Intersections, Struggles, Politics«, https://vimeo.com/55886232 letzter Zugriff 2.1.2020.

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Um die Idee der Solidarität gegen intersektionale Kleinteiligkeit aufrechterhalten zu können, fordert Davis eine Erweiterung des Fokus in einer »intersectionality of struggles« (Davis 2016a: 16). Die Auswahl der Kämpfe, die sie als intersektional verbunden anführt, folgt aber weniger einer inneren Logik als einer antizionistischen Agenda. Sie sind willkürlich gewählt, ohne Rücksicht auf historische, politische, religiöse und soziale Unterschiede. So zieht sie eine direkte Verbindung zwischen Ferguson und den palästinensischen Gebieten und führt als Beleg dafür an, dass an beiden Orten Tränengas verwendet wurde (hergestellt von der US-Firma Combined Systems) und dass die US-Polizeieinheiten von israelischen Einheiten trainiert wurden (ebd.: 140). Es werden ansonsten keine historischen, politischen oder religiösen Verstrickungen genannt, welche eine Intersektionalität von Kämpfen plausibel machen würde. Bei Davis’ Vorstellung der »intersectionality of struggles« wird Intersektionalität zu einem ideologischen Kitt, der eine Reihe von historisch, kulturell und gesellschaftlich nicht zusammenhängenden politischen Ereignissen zusammenhält und auf dieser Grundlage Allianzen bildet (vgl. Nelson 2015). Das ist auch der Fall bei BDS im allgemeinen und Queer BDS im besonderen. Die Kampagne ist äußerst geschickt darin, Aufstände im »Globalen Süden«, insbesondere in Lateinamerika, gegen vorgebliche oder tatsächliche Eliten und gegen repressive politische Systeme zu kapern und mit der Agenda von BDS zu verknüpfen. Queer BDS beruht auf der Annahme, dass der weltweite Kampf von LGBTIQ-Communities für ihre Rechte der sexuellen Selbstbestimmung intersektional mit dem Kampf der Palästinenser*innen gegen die Israelische Besatzung verbunden sei. Dabei gilt das Interesse jedoch nicht speziell den palästinensichen Queers, sondern BDS, wie Angela Davis deutlich macht: »Queers for BDS not only directs its message at people who identify into LGBTQ communities and it’s important to direct our messages in that direction. But it is not a question of saying simply support queer individuals in Palestine and in fact it’s clear about not wanting support from those who refuse to see that cynicism and that contemptuousness behind Israel’s pro-gay image, but rather it directs its message at anyone who is a potential supporter of BDS.«8

So folgte etwa die brasilianische queere Künstlerin Linn da Quebrada im Mai 2018 der öffentlichen Aufforderung von Angela Davis, ein queeres Film-

—————— 8 Angela Davis, »What Is Queer BDS? Pinkwashing, Intersections, Struggles, Politics«, https://vimeo.com/55886232 letzter Zugriff 2.1.2020, Hervorhebung K.S.

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festival in Tel Aviv zu boykottieren, auf dem ihre Arbeit geehrt werden sollte. Sie sprach ihre Solidarität dabei nicht explizit gegenüber palästinensischen Queers aus, die sie ohnehin nur »palästinensische Körper« nannte, sondern gegenüber Palästina ganz allgemein, also implizit auch gegenüber der palästinensischen Führung und islamistischen Gruppen, die bekanntermaßen feindlich und hasserfüllt gegenüber queeren Lebensweisen eingestellt sind und das Leben von LGBTIQ Personen laufend existentiell bedrohen.9 Die »intersectionality of struggles« und Queer BDS beruhen in erster Linie auf einem blanken Freund-Feind-Schema, in dem das Gemeinsame und Verbindende nicht ein geteiltes, aus den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen stammendes Problem und Interesse ist, sondern ein gemeinsames Feindbild, das in Israel und im Zionismus gesehen wird. Dabei geschieht das Gegenteil dessen, wofür Intersektionalität steht: die Komplexität der realen Situation wird reduziert auf ein homogenes Schema von gut und böse; die vielschichtigen Zusammenhänge von Diskriminierung, Unterdrückung und Herrschaft werden eingeengt auf eine einzige Ursache – nämlich Israel, das als ›künstlicher Fremdkörper‹ inmitten vorgeblich authentischer »lands of historic palestine« imaginiert wird.10 Wie Seyla Benhabib nachzeichnet, ist solche Dichotomisierung von einem stark vereinfachenden Blick auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse geprägt, wodurch die palästinensische Widerstandsbewegung als unschuldig und untadelig anti-kolonial erscheint. Aber wir wissen, merkt Benhabib an, dass anti-koloniale Bewegungen nicht immer emanzipatorisch sind, sondern dass Politik, die im Namen der Unterdrückten geführt wird, selbst zu Unterdrückung führen kann (Benhabib 2013: 157). Von solchen Verstrickungen und Uneindeutigkeiten aber will der manichäische Jargon der BDS-Kampagne nichts hören. Bei Queer BDS geht es um eindeutige Zugehörigkeiten, die weniger auf sexueller Identität als auf der Feindschaft zum Zionismus beruhen. Das ist der Grund, warum die Aktivist*innen der palästinensischen queeren Gruppe alQaws nicht mit Israelischen LGBTIQ zusammenarbeiten, da es sich um zwei unterschiedliche Gesellschaften mit unterschiedlichen Kulturen handle. Kultur scheint hier sexuelle Orientierung auszustechen,

—————— 9 https://twitter.com/linndaquebrada/status/1001273938125705221, letzter Zugriff 2.1.2020. 10 So geschehen im Juni 2017 von den Organisator*innen des lesbischen Chicago Dyke-March in einem mittlerweile gelöschten Eintrag (https://chicagodykemarch collective.org/2017/06/27/chicago-dyke-march-official-statement-on-2017-march-andsolidarity-with-palestine/, letzter Zugriff 13.2.2018).

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selbst wenn diese in der anderen Kultur bessere Bedingungen der Anerkennung finden würde. Queer BDS bietet palästinensischen Queers die Möglichkeit, ihre Unterdrückung, Bedrohung und Ausgrenzung zu thematisieren und dabei eine queer-feindliche Kultur zu schonen, indem die sexuelle Unterdrückung auf einen Schuldigen – Israel – externalisiert wird, der die eigene Kultur bedroht. Mithilfe dieser Projektionsfläche kann der vielschichtige und komplexe gesellschaftliche Konflikt um sexuelle Selbstbestimmung, Rechte und Freiheit scheinbar gelöst werden: der Anspruch auf sexuelle Freiheit und auf Selbstbestimmung einer unfreien Kultur werden gleichermaßen aufrecht erhalten, denn es sind in dieser Sicht einzig Israel und die Besatzung, die der Entfaltung von beiden im Weg stehen. Dabei gibt Queer BDS vor, dass in einer intersektionalen Perspektive Homophobie nicht außerhalb der Bedingungen von Besatzung und Kolonisation gesehen werden könne. Aber bei aller notwendigen Kritik an kolportierten Erpressungen palästinensischer Queers durch israelische Geheimdienste funktionieren diese doch nur aufgrund der extremen Feindschaft gegenüber LGBTIQ in der palästinensischen Gesellschaft, der von palästinensischer Politik nichts entgegengesetzt wird. Es geschieht genau das Gegenteil von Intersektionalität: Die höchst komplexe Problematik der Möglichkeit und Unmöglichkeit queerer Lebensweise von Palästinenser*innen wird eingeengt auf die Besatzung, ohne dass jedoch rational argumentiert würde, warum und in welcher Weise ausschließlich dieser Konflikt den Konflikt um Geschlecht und Sexualität innerhalb der palästinensischen Gesellschaft strukturiert.

6. Ausblick: Intersektionalität von Ideologien Angesichts solchen politischen Missbrauchs sehen viele Antisemitismusforscher*innen in Intersektionalität heute vor allem eine politische Parole, deren Beschäftigung nicht weiter lohnen würde. Demgegenüber plädiere ich für ein kritisches Reclaiming des Ansatzes, da er eine analytische Stärke für eine dialektische Analyse zeitgenössischer Gesellschaften haben kann. Gerade für die Ideologiekritik kann ein intersektionaler Zugang fruchtbar sein. So ist für die Entschlüsselung der komplexen Struktur des Antisemitismus ein intersektionaler Ansatz hilfreich, der es ermöglicht, die Momente von Rassismus, Sexismus, Homophobie und Nationalismus zu erkennen,

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die im Antisemitismus wirken (vgl. Stögner 2014; 2017a; 2018). Der Antisemitismus ist selbst als eine Konstellation zu begreifen, in der unterschiedliche Momente intersektional ineinander verwoben sind. Zudem spiegelt er den Klassenantagonismus in verzerrter Weise wider und sieht im Judentum gleichzeitig den Bolschewismus als auch den Kapitalismus repräsentiert. Diese spezifische Verschränkung von ideologischen Versatzstücken macht die Wirksamkeit des Antisemitismus als umfassende Weltanschauung aus, die reale soziale Konflikte und Antagonismen überdeckt. Vor diesem Hintergrund bezeichne ich den Antisemitismus als die intersektionale Ideologie schlechthin. Intersektionale Ideologiekritik analysiert Ideologien in Konstellationen und als hartnäckige, aber flexible Momente innerhalb eines umfassenden, anti-emanzipatorischen ideologischen Syndroms. Je nach politischer Opportunität kann eine Ideologie in den Vordergrund treten und andere überdecken, ohne dass diese ihre Wirksamkeit völlig verlieren würden. Vielmehr ist in intersektionaler Perspektive zu beobachten, dass die unterschiedlichen Ideologien gerade durch die Verschränkung mit anderen Ideologien ihre jeweilige Eigenart gewinnen und beständig erneuern. In der kritischen Antisemitismusforschung ist eine der wichtigsten Fragen, warum und wie der Antisemitismus durch den gesellschaftlichen Wandel fortbesteht, das heißt wie und warum der Antisemitismus so flexibel sein und sich an verändernde Bedingungen anpassen kann. Durch die Verwendung eines intersektionalen Ansatzes wird deutlich, dass dies möglicherweise auf die besondere Struktur des Antisemitismus zurückzuführen ist: Er ist eine flexible Ideologie in Wechselbeziehung zu anderen Ideologien und vermischt sich mit ihnen. Er kann auch von anderen Ideologien überdeckt werden, die eine strukturelle Affinität aufweisen. So kann der Nationalismus einen Antisemitismus überblenden, der aufgrund des partiell wirksamen Tabus nach 1945 nicht mehr so manifest geäußert wird. In ähnlicher Weise kann auch der Antizionismus als eine bestimmte Form des Antinationalismus den Antisemitismus überdecken. Antisemitismus kann sodann durch Anti-Feminismus, Anti-Genderismus und Sexismus überdeckt werden, evident etwa in den Anti-Gender-Diskursen rechtspopulistischer Parteien in Europa, den USA und Lateinamerika (Stögner 2017b). Umgekehrt impliziert die Fokussierung auf Ideologien für Theorien der Intersektionalität eine zusätzliche Selbstreflexion, die deutlichen Anzeichen von terminologischer und konzeptueller Stagnation und identitätspolitischen Kontraktionen entgegenwirken kann. Ein intersektionaler Ansatz

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darf sich nicht auf die Einsicht beschränken, dass die Gesellschaft durch bestimmte Kategorien strukturiert ist, sondern muss in einer radikalen Herrschaftskritik die gesellschaftlichen Gründe und Bedingungen dieser Kategorien aufdecken. Ebenso müssen der Prozess des perennierenden Kategorisierens von Menschen in der Gesellschaft und die zugrunde liegenden überkommenen Identitätslogiken kritisiert werden. Der hier vorgeschlagene Ansatz einer Intersektionalität von Ideologien ist deshalb kritisch gegenüber intersektionalen Zugängen, die einen identitären und kulturrelativistischen Diskurs unterstützen und unter dem Deckmantel des Antirassismus selbst in antisemitische oder homophobe Praxen münden können. Die hier vorgebrachte Kritik an Intersektionalität ist der Intention nach eine rettende, die den Ansatz für eine feministische dialektische Theorie und für eine emanzipatorische Praxis öffnen soll. Aus diesem Blickwinkel kann auch Intersektionalität als ein Versuch gesehen werden, Pluralität zu erfahren und zu denken, ohne das Allgemeine im Sinn des Verbindenden und Gemeinsamen zu negieren.

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Die Ideologie des Antisemitismus: Zur Gegenwart der Judenfeindschaft als Ressentiment und Weltdeutung Lars Rensmann

1. Einleitung: Antisemitismus und die Beharrlichkeit des Ideologischen In den letzten Jahrzehnten wurde in politik- und sozialwissenschaftlichen Debatten zu Phänomenen der Judenfeindschaft einerseits zurecht grundsätzlich die veraltete Vorstellung in Frage gestellt, bei Antisemitismus handele es sich um bloße »Vorurteile« (vgl. u.a. kritisch Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013; Schwarz-Friesel 2019; Salzborn 2010; Wistrich 1991; Nirenberg 2014). Andererseits wurde jüngst in Teilen der Forschung aber auch bezweifelt, dass man beim subjektiv und objektiv widersprüchlichen Ressentimentkonglomerat der Judenverachtung jenseits von politischen Agitatoren des Rechtsextremismus (noch) von »antisemitischer Ideologie« sprechen sollte – da dies eine ideationelle Geschlossenheit suggeriere, die empirisch so kaum existiere. In der Tat ist in Teilen der Sozialwissenschaften der Begriff der »Ideologie« in jüngerer Zeit in Verruf geraten; er wird mithin als antiquiert erachtet. Dies hat zum Teil mit seiner langen, komplexen Begriffsgeschichte zu tun, sowie den konzeptionellen Verwirrungen, die mit der Kategorie der Ideologie verbunden sind. Zunächst war der Begriff der »Ideologie« Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Kunstwort für eine säkular begründete Ideenlehre entstanden, »der die Aufgabe zugewiesen wurde, die moralische wie intellektuelle Erziehung der französischen Eliten anzuleiten« (Kaube 2015: X). Seit dem Zeitalter der großen modernen politischen Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert – Sozialismus, Konservatismus, Liberalismus, Faschismus etc. – wurde dann ein zunächst insbesondere in der Marxschen Tradition stehender kritischer Begriff von Ideologie sowie an ihn gekoppelte materialistische Ideologiekritik von einem eher beschreibenden Verständnis unterschiedlicher moderner politischer »Weltanschauungen« oder Ideengebäude flankiert. Zu Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff zum

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einen in marxistischen Kontexten zunehmend seines pejorativen Klangs beraubt – von der »Ideologiekritik« ging man über zur Kritik allein der »bürgerlichen Ideologie« im Unterschied zur »richtigen« ideologischen »Schulung« im starren Staats- und Kathedermarxismus. Aber auch etwa im Begriff der »organischen Ideologie« bei Antonio Gramsci verliert der Begriff bereits seinen kategorisch kritischen oder negativen Charakter. Gramsci suchte mit dem bis dato im Marxismus gängigen Epiphänomalismus und Klassenreduktionismus des Ideologiebegriffs zu brechen, welcher Ideologien als bloße Illusionen und falsches Bewusstsein erachtete, die aus den materiellen Bedingungen quasi mechanisch determiniert würden. Und auch Teile der frühen modernen Soziologie, wie die Wissenssoziologie Karl Mannheims, mühten sich um einen funktional-deskriptiven Begriff von Ideologie, in dieser Tradition heute verstanden als »motivkräftige Gesellschaftsdeutungen, die politische Entscheidungen […] rechtfertigen sollen« (Kaube 2015: XI).1 Auf der anderen Seite hat sich die Kritik an Ideologien und »Ideologen« im 20. Jahrhundert im liberalen Kontext und im landläufigen Gebrauch von Politik, Öffentlichkeit sowie auch der politischen Wissenschaft erweitert, ohne dabei notwendig zu »Ideologiekritik« zu mutieren. Die Kritik von Ideologien oder Warnung vor Ideologen richtet sich seither im Mainstream gegen anti-liberale, dogmatische Formen von Ideologien und Ideen, die unter einem solchen Verdacht stehen. Im Besonderen in Antwort auf den Aufstieg autoritärer und schließlich totalitärer Regime und ihrer umfassenden, totalisierenden weltanschaulichen »Ideo-Logik[en]« (Arendt 1951), deren Gesetze und Allmachtsansprüche keinen Raum für Individualität, Differenz und Abweichung ließen und jeweils innig mit antisemitischen Phantasmen verbunden waren, wurde »Ideologie« zunehmend mit geschlossenen, anti-liberalen Gesellschafts- und Politikverständnissen beziehungsweise Weltanschauungssystemen identifiziert. In diesem Kontext hat sich auch die kritische Auseinandersetzung mit rassistischen und antisemitischen gesellschaftlichen Ideologien über Jahrzehnte entwickeln können – eingedenk der Erkenntnis, dass Antisemitismus zugleich seit dem 19. Jahrhundert ein Element insbesondere – aber keines-

—————— 1 Für die Mannheimsche Wissenssoziologie geht es bei Ideologien nüchtern um Wissenssysteme und um die Erforschung von Leitbildern, Ideen und Wertvorstellungen sozialer Organisationen zur Legitimierung ihres Handelns. Politische Ideologien beziehen sich entsprechend auf politische Parteien, Organisationen und Bewegungen. Allerdings erkennt Mannheim die den Ideologien inhärente Gefahr, sich als in sich geschlossene Sinnsysteme und Welterklärungsmodelle von der sozialen Wirklichkeit zu entkoppeln.

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wegs ausschließlich – rechtsradikaler politischer Ideologie gewesen ist, welche ideologische gesellschaftliche Vorstellungen und Deutungssysteme in politische Zielsetzungen einspannt (zu ›rechtem‹ und ›linkem‹ Antisemitismus Botsch 2019; Rensmann 2008; Kloke 2006; Haury 2002; Kistenmacher 2016; Herf 2016).2 Als modernen politischen Antisemitismus kann man vor diesem Hintergrund seit dessen Aufstieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine politische Ideologie oder ein Element derselben seitens von Parteien, Bewegungen oder Gruppen bezeichnen, welche die politisch-programmatische Mobilisierung und organisierte Umsetzung judenfeindlicher Inhalte und Ziele bezweckt (Rensmann 2020). Dieser politische Antisemitismus konnte auf lang bestehende Ressentiments gegen Juden in der Gesellschaft bauen. Dabei kommt Antisemitismus ein besonderer Status für die kritische Analyse von gesellschaftlichen wie auch politisch mobilisierten Ideologien insgesamt zu. Denn kaum ein ideologisches Phänomen hat die kritische Theorie über Ideologien im 20. und 21. Jahrhundert ähnlich nachhaltig geprägt wie die Ideologie des Antisemitismus. Moderner Antisemitismus, und nicht erst der totalitäre des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms, ist mithin der Idealtypus totaler Ideologie – der Ideologie als hermetisches topologisches Denken, als von der Wirklichkeit entkoppeltes, geschlossenes, welterklärendes, weltumspannendes und weltanschauliches Deutungsmuster par excellence, das a priori keine empirische Widerlegung zulässt; und dem die reine, totale Utopie einer von Juden ›befreiten‹ menschlichen Gesellschaft oder nationalen respektive religiösen Gemeinschaft inhärent ist. Allerdings ist die These aus den Anfängen der Antisemitismusforschung, beim Antisemitismus handele es sich ausschließlich um eine moderne rassistische Form des Judenhasses, in der Wissenschaft überholt. Antisemitismus und antise-

—————— 2 Als eher neutral-deskriptiver Begriff hat der Begriff der Ideologie in der vergleichenden Politikwissenschaft und insbesondere in der politikwissenschaftlichen Parteienforschung freilich nach wie vor einen gut etablierten Status. Stellvertretend für viele nennt der Parteienforscher Frank Decker die »ideologisch-politische Zugehörigkeit und Programmatik« als das wichtigste Kriterium, um politische Parteien zu kategorisieren und klassifizieren (Decker 2011; 2018). Die »politische Ideologie« einer Partei, verstanden als Gesamtheit der inhaltlichen politischen Positionierungen, programmatischen Ideen, Doktrinen, Prinzipien, stabilen politischen Überzeugungen sowie das Verhältnis zum politischen System, erscheint weithin als maßgebliches Untersuchungskriterium zur Analyse einer Partei und ihrer Einordnung in ein Parteiensystem (Decker 2011; Detterbeck 2020; Lucardie 2018; Mudde 2003; Rensmann 2018). In diesem Kontext kann auch weiterhin Antisemitismus als Element politischer Ideologie einer Partei oder Bewegung verstanden werden.

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mitische Ideologie können verschiedenste Formen annehmen – darunter israelbezogene, sekundäre oder auch codierte. Und obschon der Begriff modernen Ursprungs ist wie auch die Verdichtung zu einer Ideologie als umfassender verschwörungsmythischer Welterklärung eine Zäsur der politischen Moderne darstellt, hat Antisemitismus eine lange, vielschichtige Geschichte als jahrhundertealte Deutungsfolie der Judenfeindschaft, welche die rigorose Trennung zwischen zum Beispiel religiösem Antijudaismus und modernem Antisemitismus verkompliziert.3 Ließ sich indes noch vor zwei Jahrzehnten mit gewisser Berechtigung die These vom »post-ideologischen« Zeitalter im Angesicht des Triumphzugs des Liberalismus und der issue politics diskutieren, insofern zwar nicht Ideologien überhaupt, aber zumindest umfassende Heils- und Erlösungsideologien und -utopien zeitweise nahezu global politisch in der Defensive waren oder sich als obsolet darstellten (Fukuyama 1992), so scheint diesem Argument heute jedwede Berechtigung zu fehlen. Unterschiedlichste gesellschaftliche Fragen werden im Zeitalter sozialer Medien in hohem Maße re-politisiert, polarisiert und re-ideologisiert. Radikale politische Ideologien oder Teilideologien, etwa des Islamismus, ethnischen Nationalismus oder Autoritarismus, reüssieren auch innerhalb liberaler Demokratien. Eine nachhaltige kritische Durchdringung kulturell sedimentierter antisemitischer Ideologeme und Ideologien hat, trotz einer über Jahrzehnte erfolgten öffentlichen Auseinandersetzung insbesondere in westlichen Demokratien mitsamt einer zwischenzeitlich mühsam etablierten, stets umkämpften politischen Diskreditierung und entsprechenden diskursiven Grenzziehungen, in den Gesellschaften nur bedingt stattgefunden. Auf die Beharrlichkeit antisemitischer Stereotype und Gefühlswelten setzt auch die Rückkehr eines politischen Antisemitismus auf globaler Ebene und selbst innerhalb von Demokratien. Darauf verweisen empirische Befunde in den letzten beiden Jahrzehnten (vgl. u.a. Rensmann 2020; Salzborn 2018). Parteien, Gruppen, Bewegungen und Staaten, die Antisemitismus politisch mobilisieren, treten dabei

—————— 3 Weder geht die Ideologie des modernen Antisemitismus als verschwörungsmythische Welterklärung in geschichtlichen Vorgängern des Antijudaismus auf, noch ist jene von diesem in modernen Formen entkoppelt. Insofern ist sowohl die These einer radikalen Differenz zwischen Antijudaismus und Antisemitismus (u.a. Arendt 1951) also auch eine allzu prononcierte Kontinuitätsthese (u.a. Wistrich 1991) problematisch. Dies lässt sich am Beispiel des gegenwärtigen islamischen Antisemitismus illustrieren, der einerseits auf einer jahrhundertelangen Verächtlichmachung und Erniedrigung von Juden beruht, sich andererseits mit einer importierten europäischen Weltverschwörungsideologie zu etwas spezifisch Neuem amalgamierte (vgl. Küntzel 2019).

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zunehmend selbstbewusster in Erscheinung. Samuel Salzborn (2018) spricht von einer »antisemitischen Revolution« seit 9/11. Mit einer dergestalt diagnostizierten neuen Radikalisierung, Entgrenzung und wirkungsmächtigen Normalisierung von Antisemitismus als gesellschaftliche und politische Ideologie – mithin seines partiellen mainstreaming zumindest in codierten Formen wie der Israelfeindschaft oder in neuen Verschwörungsmythen, die beispielsweise den jüdischen Philanthropen George Soros als »Strippenzieher« globaler Migration und eines »großen Bevölkerungsaustausches« ausmachen und unter anderem vom Weißen Haus unter Trump oder dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán vertreten werden – feiern auch affine Ideologien des Nationalismus, Rassismus, Autoritarismus fröhlich Urständ. Wiederaufgelegte sozialwissenschaftliche Thesen vom »Ende der Ideologien« – und der antisemitischen Ideologie zumal – erscheinen vor diesem Hintergrund entweder empirisch unbelegt oder künden von einem problematisch verengten Verständnis von »Ideologie« als kohärentem Überzeugungs- und Weltanschauungssystem.4 Vielmehr zeigt sich heute einerseits die Beharrlichkeit des Ideologischen und politischer Ideologien im Allgemeinen und andererseits die Beharrlichkeit der Ideologie des Antisemitismus im Besonderen – sowie die Notwendigkeit seiner erneuerten (Ideologie-) Kritik. Im Folgenden sollen drei Aspekte näher beleuchtet werden, die für eine aktuelle Forschung zu Antisemitismus als Ideologie relevant sind und die zugleich über die kritische Analyse des Verhältnisses von Antisemitismus und Ideologie einen Beitrag zu Theorien des Ideologischen in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts leisten sollen. Zunächst wird das spezifische Phänomen des modernen und modernisierten Antisemitismus kritisch konzeptionalisiert und an Beispielen skizziert, wobei im Besonderen der ideologische Charakter des Antisemitismus herausgearbeitet wird. Daraufhin wird Antisemitismus als Element politischer Ideologie in der Gegenwart am Beispiel des aktuell weltweit reüssierenden autoritär-nationalistischen Rechtspopulismus beschrieben und rekonstruiert. Zum Abschluss wird der Faden einer Ideologiekritik des Antisemitismus als Kritik der Gesellschaft und Kritik der Politik in analytischen Skizzen aufgegriffen. Diese fragmentarischen Überlegungen fragen theoriegeleitet nach gesellschaftlichen, sozi-

—————— 4 Schon in der ersten, früheren Hochphase des Diskurses vom Ende der Ideologien in den 1960er Jahren hatte diese These wenig Triftigkeit, Plausibilität und empirische Validität – und wurde auch in den Demokratien unmittelbar mit der Neuen Linken und der Studierendenbewegung beantwortet (vgl. u.a. Lane 1966; Bell 1962).

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alen und politisch-kulturellen Ursachen für die Beharrlichkeit sowie die – auch politische – Wiederbelebung und Ausweitung antisemitischer Ideologie im globalisierten 21. Jahrhundert.

2. Phantasma der Weltverschwörung und kategorischer Vernichtungswunsch: Zur Ideologie des Antisemitismus zwischen Weltanschauung, Codierung und Fragmentierung Keiner anderen Ideologie sind der totalisierende Charakter einer umfassenden, hermetischen, personifizierend verschwörungsmythischen Welterklärung sowie der unabdingbare Wunsch nach Vernichtung des ausgemachten »Feindes« (der Nation, der Religion oder der Menschheit) in ähnlicher Intensität eingeschrieben wie dem modernen Antisemitismus. Jene Dimensionen einer Weltverschwörungsfantasie und der exterminatorischen Vorstellung, von Juden hängten das Unglück und der Unfrieden der Welt ab und deshalb sei die Auslöschung oder Vernichtung jüdischen Lebens erforderlich, machen die Besonderheit des Antisemitismus aus.5 Dieser hatte sich in den modernen Gesellschaften vom fest verankerten Ressentiment gegen Juden vollends zu einer totalen Ideologie entwickelt. Dergestalt stellt Antisemitismus nicht nur, aber auch die konstitutive Grundlage für die Vernichtungsideologie des Nationalsozialismus und seiner neo-nazistischen Reproduktionen nach dem Holocaust. Zugleich lässt sich antisemitische Ideologie eben nicht auf den Extremfall Nationalsozialismus und Shoah reduzieren, wie dies vor einigen Jahren zum Beispiel der Linken-Politiker Dieter Dehm – Antisemitismus sei »Massenmord und müsse dem Massenmord vorbehalten bleiben« – oder jüngst der Jugendfor-

—————— 5 Auch Rassismus kann exterminatorische Züge annehmen, wie die Geschichte moderner Genozide und rassistischer Verfolgungen nicht nur durch Kolonialregime zeigt. Die Praxis des Auslöschens und des Mordens, zum Beispiel in Manifestationen der Lynchjustiz, ist Teil der globalen Geschichte des Rassismus, die sich nie nur auf Unterdrückung und Diskriminierung beschränkte (vgl. u.a. Priester 2003). Die Spezifik antisemitischer Vernichtungsideologie ist indes die Erlösungs-Vorstellung, die ganze Welt müsse von Juden ›gereinigt‹ werden, um das Überleben der Welt zu retten (im Begriff Saul Friedlanders: »redemptive antisemitism«; Friedlander 1998).

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scher Michael Kohlstruck insinuiert haben.6 Allerdings wird umgekehrt ein Schuh daraus: die Ideologie- und Realgeschichte des Antisemitismus, der den Genozid an den europäischen Juden motivierte, ist allen neuen und historischen Äußerungsformen der Judenfeindschaft eingeschrieben und kann nicht mehr aus der Welt eskamotiert werden. Wer sich antisemitisch äußert, ob bewusst oder nicht, aktualisiert auch den ideologiehistorischen Horizont, der mit der Geschichte der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis verbunden ist und die als praktische Möglichkeit, die Realität geworden ist, seither immer präsent ist.

Stereotypbildung und reine Phantasmatik: Generalisierbare und spezifische Dimensionen antisemitischer Ideologie in der politischen Moderne Antisemitische Ideologeme beziehungsweise Ideologie sind hierbei in ihren generalisierbaren Dimensionen und in ihrem spezifischen Charakter zu analysieren. Analog zu kolonialen Rassismen diskriminiert und entmenschlicht Antisemitismus einerseits mittels Stereotypbildung Juden als Gruppe, indem projektiv und falsch generalisiert wird, um Juden kollektiv abzuwerten. Antisemitismus speist sich aus der Identität und Fantasie des Antisemiten; ihn aus einem empirischen Kausalfaktor, einer »Erfahrung« oder gar jüdischem Verhalten selbst abzuleiten, rationalisiert den Antisemitismus und übernimmt dabei seine Prämissen (dies trifft auch auf andere Formen kollektiver Diskriminierung und des Rassismus zu). Doch darin geht Antisemitismus nicht auf. Anders als andere Diskriminierungsformen beruht Antisemitismus nicht (nur) wesentlich auf Stereotypen, kollektiver Abwertung, Gruppenfeindschaft oder falscher Verallgemeinerung, sondern konstituiert eine

—————— 6 Kohlstruck kritisiert, dass in Forschung und Öffentlichkeit der Begriff des Antisemitismus auch auf Phänomene angewendet wird, die nicht im Kontext des Makroverbrechens des Holocaust stehen. So bewertet Kohlstruck den unvermittelten gewalttätigen Angriff auf einen Kippa-Träger mit einem Gürtel bei wiederholten »Yahud«(Jude)-Rufen auf den Straßen Berlins nicht als Antisemitismus, sondern »differenzierter« als »leichte Kriminalität« respektive »jungmännertypisches Macht- und Selbstdarstellungsgebaren im politisierten Kontext des Nahost-Konflikts« (Kohlstruck 2020: 142). »Unter dem Dach des Allgemeinbegriffs ›Antisemitismus‹« werde »ein unausgewiesener Objektwechsel vom Makroverbrechen des Holocaust zu Vorfällen vorgenommen, die man ohne diesen Bedeutungsrahmen der leichten Kriminalität zuordnen würde.« (Kohlstruck 2020: 141f.; vgl. zur Kritik Lelle/Uhlig 2020) Folgte man dieser Argumentation, dann dürfte etwa auch die Kategorie Rassismus außerhalb der rassistischen Kolonialverbrechen und des entsprechend motivierten kolonialen Sklavenhandels bis zum 19. Jahrhundert kaum Anwendung finden.

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»reine Fantasie« (zur Kritik der These von der »falschen Verallgemeinerung« vgl. u.a. Schwarz-Friesel 2019).7 Denn antisemitische Ideologie besteht nicht aus bloßen Vorurteilen, sondern bietet spätestens seit dem modernen Zeitalter eine schier grenzenlose Projektionsfläche, die von jeglicher empirischer Wahrnehmung entkoppelt ist. Als Teil der politischen Moderne und ihrer Ideologien hat der moderne Antisemitismus implizit und explizit Weltbildcharakter: Er fungiert als eine umfassende anti-moderne Welterzählung, als »verdinglichte, personifizierende Welterklärung aller unverstandenen ›Übel‹ der Moderne und aller negativ bewerteten soziokulturellen Veränderungsprozesse« – worin sich Antisemitismus von anderen Ressentimentstrukturen unterscheidet (Rensmann 2004: 31, 128). Antisemitische Ideologie bewegt sich, mit Eva Horn gesprochen, »in einem Raum der reinen Projektion, der völlig offenen, referenzlosen Phantasmatik […], einer Phantasmatik, die nicht einmal mehr der bösen Bilder oder der expliziten Verleumdung bedarf. Sie bewegt sich bequem in der leeren Luft der puren Behauptung, unbeweisbar, unbelehrbar und damit auch unwiderlegbar« (Horn 2012: 25).8

—————— 7 Ein differenziert-komparatives Verständnis antisemitischer Ideologie(n) analysiert möglichst genau Gemeinsamkeiten, Parallelen und Differenzen zwischen verschiedenen Vorurteilen und Ressentiments – und vermeidet grundsätzlich die unwissenschaftliche, pauschale und überzeitliche Gleichsetzung von allen möglichen »Vorurteilen«, die alles in einen Topf rührt und damit Differenzen nicht mehr erkennen kann; siehe zum Beispiel die weitreichende Gleichsetzung von Antisemitismus und »Islamophobie« bei Bunzl (2005) sowie jüngst Benz (2020), der einerseits gleichsetzt, andererseits bereits im Titel – »darf man Ressentiments gegenüber verschiedenen Minderheiten miteinander vergleichen?« – suggeriert, Vergleiche zwischen Ressentiments seien verboten. Dies stellt eine Schimäre dar; ein solches Verbot existiert weder in der Wissenschaft, noch in der Öffentlichkeit. Eine genaue Analyse der Flüchtlingsdebatten in Deutschland zu Beginn der 1990er Jahre indizierte etwa vereinzelte Übertragungen antisemitischer Fantasien und Stereotype auf illegalisierte Flüchtlinge (Rensmann 1998: 224). Entsprechend kann sich Antisemitismus im strukturellen Sinn nicht nur konkret gegen das Judentum und den jüdischen Staat Israel richten, »sondern gegen alles, was als jüdisch imaginiert wird« (Grigat 2007: 311; vgl. auch Klävers 2019: 205). Wissenschaft insgesamt kann, im Unterschied zum gleichmacherischen und abschließenden Charakter von Ideologie, unter anderem als heuristische Fähigkeit verstanden werden, Unterschiede zu erkennen. Dies gilt auch für Unterschiede in Form, Wesen, Ausmaß und historischer Gewalt zwischen anti-muslimischem Rassismus und Antisemitismus. 8 Siehe mit ähnlichem Befund auch die linguistischen Studien zum Antisemitismus von Schwarz-Friesel und Reinharz (2013).

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Wer im Rahmen dieser wilden Phantasmatik als Jude identifiziert wird, bestimmt dabei der Antisemit. Auch hierin findet sich eine Spezifik der antisemitischen Ideologie gegenüber anderen Rassismen. Antisemitismus funktionierte in der Geschichte stets gut in Präsenz von Juden. Er funktionierte indes stets noch besser ohne Juden, da antisemitische Ideologie eben zu deren realem Verhalten, also den empirischen Objekten antisemitischer Vorstellungen, keinen Bezug hat. In dieser Hinsicht gibt es wiederum Parallelen zur Wirkungsmacht rassistischer Ideologeme. Zahlreiche internationale Studien haben etwa belegt, dass Rassismus in ländlichen Gebieten mit hohem Grad an ethnischer Homogenität verbreiteter ist als in metropolitanen Regionen mit höherer kultureller Diversität – dass also Angst, Fantasien und medial vermittelte Bilder die Wahrnehmung zu überwölben tendieren, gerade wenn Erfahrungen mit Minderheiten weitgehend fehlen (Ahlheim/Heger 1999).9 Insofern sich Antisemitismus gänzlich von der realen Objektwelt entkoppelt hat, hat auch die These Theodor W. Adornos vom Verschwinden der alten Judenfeindschaft – ein triftiges Moment (Schulze Wessel/Rensmann 2012). Als reine Phantasmatik ist Antisemitismus allerdings zugleich, ideologietheoretisch gesprochen, nicht nur durch Stereotypie, Diskriminierungspraxis, Ausschluss und falsche Verallgemeinerung charakterisiert, sondern »reine Ideologie«. Im Grunde ist Antisemitismus ein einziges geradezu völlig amorphes Ressentimentamalgam, das eine schrankenlose Vielfalt subjektiver psychischer und gesellschaftlicher Funktionen übernehmen kann, welche sich in einer Juden kollektiv dämonisierenden und entmenschlichenden Ideologie spiegeln und Erfüllung finden. Im Unterschied zu Vorurteilen gegenüber Minderheiten – der generalisierbaren Dimension des Antisemitismus, die auch für andere, rassistische Diskriminierungen und Ressentiments typisch ist – besitzt die Ideologie des Antisemitismus also zusätzlich zwei spezifische Dimensionen. Die Ideologie des Antisemitismus fungiert als amorpher, halt- und grenzenlos belehnbarer Container für alle möglichen, flexiblen und widersprüchlichen subjektiven Projektionen und Fantasien. Sie besitzt außerdem die besondere Funktion einer totalen, phantasmagorischen Welterklärung (Rensmann 2004; Rensmann 2017: 158–171). Antisemitische Ideologie kann insofern, im Unterschied zum Beispiel zum (Kolonial-)Rassismus, als eine besondere, reine

—————— 9 Ahlheim und Heger zeigen zum Beispiel, dass rassistische Vorurteile gerade in Regionen Ostdeutschlands besonders ausgeprägt sind, wo es praktisch keine ethnischen Minderheiten oder Immigrant*innen gibt. Abwesenheit von ethnischen Minderheiten (respektive Juden) korreliert signifikant mit Rassismus respektive Antisemitismus.

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Wahnvorstellung und Phantasmatik verstanden werden, welche Juden nicht nur als Minderheit diskriminiert und ausgrenzt, sondern in toto erfindet – ihnen eine unheimliche globale Verschwörungsmacht zuschreibt und sie zu Feinden der Menschheit erklärt, die zu beseitigen sind. Dabei verweisen alle antijüdischen Stereotype, die zirkulieren, direkt oder indirekt auf diese vermeintliche besondere, unheimliche Macht der Juden (in Differenz zu nahezu allen anderen Ressentiments gegenüber Minderheiten).

Fantasien von »Strippenziehern« des Weltgeschehens: Antisemitismus als welterklärende Verschwörungsideologie Weltumspannende Verschwörungsfantasien sind deshalb ein spezifisches Markenzeichen des Antisemitismus, das seine gesellschaftshistorische Bedeutung mit erklärt. Dies gilt indes nicht ausschließlich für den modernen Antisemitismus, obschon die antisemitische Fantasie von der »jüdischen Weltverschwörung« in der komplexen und globalisierten Politik, Gesellschaft und Ökonomie des modernen Zeitalters seit dem 19. Jahrhundert besondere Bedeutung gewonnen hat. Antisemitismus ist in der Tat das historische Verschwörungsphantasma par excellence, der Verschwörungsmythos sui generis: Im historisch generierten und kulturell sedimentierten sowie reproduzierten Bild von der «jüdischen Verschwörung« laufen alle Fäden zusammen. Die Lügen von der jüdischen Verschwörung, die hinter jeder Malaise das Wirken »der Juden« entdecken, sind insofern zugleich die Fake News sui generis seit der Antike. Und wer anfängt, von globalen Verschwörungen zu fantasieren und mittels wilder Verknüpfungen heimliche Verbünde auszumachen, die vermeintlich das gesamte Weltgeschehen kontrollieren, oder jedes mögliche individuelle und soziale Problem auf jene imaginierten Verschwörungen zurückführt – von einer Wirtschaftskrise über die weltweite Migration bis hin persönlichen Enttäuschungen oder zur globalen Pandemie – landet meist bei antijüdischen Bildern. Zu präsent sind in der anhaltenden, transnationalisierten und globalen Kulturgeschichte und ihrer heute internet-basierten Reproduktion die antijüdischen Bilder von den »Rothschilds«, von «jüdischen Geheimplänen«, von »heimatlosen Juden« als kosmopolitische, verschlagene und »verschworene Gemeinschaft«, von der »jüdischen Weltverschwörung«. Der welterklärende Mechanismus der Personifizierung hat in vielen Gesellschaften eine Verankerung in antisemitischen kulturellen Vorstel-

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lungen – auch im spätmodernen Zeitalter: Er gibt Halt und sorgt im Sinne eines topologischen Weltbildes dafür, dass man im Vorhinein alles weiß und lässt keinen Zweifel zu, wer der Schuldige ist und wer »hinter« allen gesellschaftlichen Problemen steckt. Vor dem Hintergrund der tradierten judenfeindlichen Deutungsfolien wird das komplexe, abstrakt vermittelte gesellschaftliche und politische moderne Weltgeschehen personifiziert, um damit das, was die Welt vermeintlich im Innern zusammenhält respektive zerstört, mit dem sinistren Wirken von Juden zu erklären – beispielhaft in den bekannten antisemitischen Protokollen der Weisen von Zion, aber keinesfalls auf sie begrenzt. Die Vorstellungswelten, die insbesondere mit einer globalen Verschwörungsfantasie verbunden sind, sind dergestalt zugleich ideengeschichtlich aufs Innigste mit den Bildern von Juden aus der langen Geschichte der Judenfeindschaft verknüpft (Kampling 2017; Wistrich 1991). Denn das ideologische Bild von Juden als verschworene Gemeinschaft, die hinter den Problemen der Gesellschaft und allem menschlichen Unheil und Unfrieden stecke, ist eine eingeschliffene, soziokulturelle Ressource moderner Gesellschaften. Insgesamt kann sich die phantasmagorische Projektionsfläche, die antisemitische Ideologie darstellt, auf unterschiedlichste und widersprüchlichste historische Sedimente und Motive stützen, durch die Judenfeindschaft historisch transportiert und regeneriert worden ist. Als jahrhundertealte gesellschaftliche Deutungsfolie kann die Phantasmagorie der »jüdischen Weltverschwörung« leicht sozial aktiviert, aktualisiert und politisch mobilisiert werden – wie jüngst die Coronaproteste dokumentieren. Der Schritt vom Glauben an Verschwörungsmythen, zur offenen Judenfeindschaft ist insbesondere vor dem Hintergrund dieser Geschichte so stets nur ein kleiner. Antisemitische Verschwörungsmythen bieten also die Möglichkeit, komplexe Phänomene und Prozesse der sozialen Welt griffig zu identifizieren, zu personifizieren und damit vermeintlich ›handhabbar‹ zu machen. Sie bieten einen einfachen »Schlüssel« zur Welt und zur Welterklärung: Sie erlauben es der Fantasie, schwer durchschaubare, abstrakte, unverstandene, widersprüchliche und hochkomplexe Gesellschaftsentwicklungen mit dem vorsätzlichen und böswilligen Handeln einer im Verborgenen agierenden Gruppe von Juden zu deuten, die angeblich das Weltgeschehen manipulieren und orchestrieren. Damit können auch strukturelle, komplexe und abstrakte Aspekte der Vergesellschaftung stets auf das imaginierte Handeln und die Absichten von konkreten Personen zurückgeführt werden. Insofern bieten antisemitische Verschwörungsmythen, die die wildesten Verknüpfungen

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und Gedankenkonstruktionen zulassen, mit dem Mittel der Personifizierung eine enorme Komplexitätsreduktion in einer zunehmend komplexen und widersprüchlichen Welt – und damit auch Sicherheit, Orientierung und das Gefühl, die Komplexität beherrschbar zu machen. Zudem bietet die vermeintliche Erkenntnis einer »jüdischen« oder »zionistischen« Verschwörung, die hinter den Medien und ihren vermeintlichen Lügen und Manipulationen, hinter dem demokratischen Staat, hinter der Wissenschaft stattfände, die Selbst-Aufwertung der die Wahrheit Wissenden, die sich nicht betrügen lassen (wie zuletzt unter anderem auch bei den Demonstrationen der Corona-Negationist*innen, die ein »Aufwachen« und »Nachdenken« einfordern, das sie selbst als Produzent*innen oder Konsument*innen alternativer Verschwörungsmythen für sich reklamieren).

Antisemitismus als projektiver Container: Zur Affektlogik judenfeindlicher Ideologie Antisemitische Ideologieproduktion wirkt dabei, wie angedeutet, zugleich als spezifischer (im Grunde endlos neu mit Fantasien und Projektionen auffüllbarer) Container für Phantasmagorien. So können Juden reiner Affektlogik folgend in einer von jeglicher Empirie ungebundenen Fantasie projektiv alle erdenklichen eigenen, ambivalenten, verhassten oder beneideten Eigenschaften, Sehnsüchte, Ängste und Mächte zugeschrieben werden. Durch diese projektive Matrix werden Juden in spezifischer Weise mannigfach sowohl ab- als auch aufgewertet, wobei verschiedenste Ambivalenzen, Erhöhungen und Erniedrigungen kombiniert werden (vgl. Rensmann 1998; ausführlich Rensmann 2017: Kapitel 4). Es geht um eine besondere psychologische Dialektik aus Bewunderung und Verachtung, die dem modernen Antisemitismus zueigen ist (Bauman 1993). In den fixen Ideen von antisemitischen Diskursen und Ideologemen erscheinen Juden physisch schwach und doch mächtig, hinter der Zivilisation zurück und allzu weit voran (Adorno/Horkheimer 1969: 181, 196 und 209). Juden werden in antisemitischen Bildern ähnlich rassistischen Bildern von Schwarzen mit niederen Instinkten und Gier assoziiert (etwa im Imago von Juden als Schweinen oder Heuschrecken), jedoch zugleich mit übermäßiger Intelligenz und Intellektualität, mit sozialer Regression und bedrohlicher Modernität (vgl. Schoeps 1998). So wird hemmungslose Lusterfüllung, der man mithin selbst entsagt oder zu entsagen gezwungen ist, genauso auf Juden

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projiziert wie materieller, geistiger oder beruflicher Erfolg. Antisemitische Deutungen können Juden für Arbeitslosigkeit genauso verantwortlich machen wie für kulturellen Verfall. Juden verkörpern in antisemitischen Diskursen und Ideologien eine Vielfalt von negativen und bedrohlich wahrgenommenen Erscheinungen und Phantasmen: Verschwörungsmacht, Geldmacht, Heimat- und Ruhelosigkeit, gesellschaftliche Transformationen, eine geschlossene, partikularistische Gemeinschaft und ›heimatlosen‹ Kosmopolitismus, ›kulturelle Dekadenz‹ und Geist, die Sphäre der Vermittlung, des Handels und der Medien; aber eben zugleich auch ›niedere‹ Existenz und Motive, sexuelle Grenzenlosigkeit oder generell Triebhaftigkeit. Das logisch widersprüchliche Ressentimentamalgam und der mithin amorphe Charakter antisemitischer Ideologie scheinen so bis heute die zugrundeliegenden psychischen Dynamiken projektiv zu spiegeln, welche auf regressive Spaltungsprozesse, verdrängte Wünsche, Projektionen der eigenen Schwächen und unerfüllten Sehnsüchte verweisen.10 Die antisemitische Projektion ermöglicht dem emotional überforderten Subjekt Entlastung von inneren Spannungen und Ambivalenzen, genauso wie die Lust in ansonsten unerlaubten Fantasien der Vernichtung zu schwelgen, die den Juden zugeschrieben werden. Die Ideologie verschafft klare Orientierung in einer Welt mit Gut und Böse, die vermeintlich hinter der Komplexität sozialen Lebens bei denen zum Vorschein kommt, die die Welt durchschaut zu haben meinen. Und das antisemitische »Wissen« bedeutet in der Selbstwahrnehmung die Macht und Überlegenheit desjenigen, der es meint besser zu wissen. Die Rationalisierungen und Verharmlosungen antisemitischer Ideologie und ihrer bestimmenden Affektlogik sind dabei so vielfältig, in sich brüchig, und teils offen widersprüchlich wie die konstituierenden Projektionen phantasmagorischer antisemitischer Fehlwahrnehmung selbst. In sich antagonistische Vorstellungen von ›den‹ Juden und ihrem angeblichen Handeln hemmen dabei offenkundig nicht die Anziehungskraft von Antisemitismus. So

—————— 10 Schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erkannten in der Haltlosigkeit von logisch widersprüchlichen Zuschreibungen, die am Ende indes allesamt Juden für objektives oder subjektives Leid auf der Welt, gesellschaftliche und individuelle Enttäuschungen, unerfüllte und ›unerlaubte‹ Lust sowie insgesamt Abweichungen von der kollektiven Norm verantwortlich machen, eine besondere Qualität des Antisemitismus. »Grenzenlos belehnt [das Subjekt] die Außenwelt mit dem, was in ihm ist« (Horkheimer/Adorno 1969: 199). Im Antisemitismus projiziert das Subjekt die »gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden« (Horkheimer/Adorno 1969: 201).

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wird in antisemitischen Deutungsmustern beispielsweise Juden zugeschrieben, hinter den Terrorattentaten vom 11. September 2001 zu stehen – um andererseits in einem Atemzug eben diese als gerechtfertigte Reaktion auf die Umtriebe eines »jüdisch kontrollierten Amerika« zu deuten (vgl. hierzu Jaecker 2004). Auch die empörte Zurückweisung eines vermeintlich ebenso ungerechtfertigten und ubiquitären Antisemitismusvorwurfs, noch bevor dieser von irgendjemand erhoben wird (aber von dem man sich bedrängt und umzingelt sieht), während man über mächtige, weltumspannende jüdische oder zionistische Lobbygruppen lamentiert, welche vorgeblich die öffentliche Meinung und Regierungen kontrollierten – solche Abwehr eines imaginierten Antisemitismusvorwurfs gehört genauso zum Grundarsenal antisemitischer Ideologieformen wie die Vorstellung, ›die Juden‹ konstruierten Antisemitismus in bad faith für materielle oder politische Zwecke und profitierten von ihrer eigenen Verfolgung, oder das antijüdische Ressentiment, Juden seien an der Entstehung von Antisemitismus selbst schuld. Idealtypische Beispiele finden sich in der Wahlkampfkampagne des FDP-Politikers Jürgen Möllemann 2002. Möllemann behauptete, der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon und der jüdische Fernsehjournalist, Rechtsanwalt und Politiker Michel Friedman seien mitverantwortlich für den Antisemitismus, ja »dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland leider gibt und die wir bekämpfen müssen, mehr Zulauf verschafft hat als Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art« (zitiert nach Rensmann 2004: 453; Salzborn/Schwietring 2019). Die antisemitische Ideologie als paranoide Vorstellung eines globalen Feindes von Nation oder Menschheit und die korrespondierende manichäische Interpretation der komplexen modernen Welt korrelieren zudem historisch mit unterschiedlichen Formen des (ethnischen) Nationalismus (Adorno 1963)11 sowie des modernen Autoritarismus – verstanden sowohl als sozialpsychologische Grundierung, aber auch als Ideologie antidemokratischer, autoritärer gesellschaftlicher Organisation und politischer Ordnung (Claussen 1987; Rensmann 1998; 2013). Politisch-ideologisch markieren moderner Autoritarismus und Antisemitismus eine anti-moderne Reaktionsbildung gegen soziale Abweichung, soziokulturelle Modernität und Pluralität,

—————— 11 Juden fungieren im Antisemitismus als »Gegenrasse«, beobachteten Horkheimer und Adorno, im kategorischen Unterschied zum bloßen Vorurteil. Sie wurden im modernen, totalisierten Antisemitismus dem nationalen, faschistischen oder rassistisch konstruierten Kollektiv kontrastiert (Horkheimer/Adorno 1969).

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Liberalität, Individualität sowie kosmopolitische Normen, mit denen Juden identifiziert werden (Rensmann 2004; Salzborn 2011; zur demokratiefeindlichen Dialektik von Moderne und Anti-Moderne jüngst auch Jander/ Kahane 2020). Diese anti-moderne ideologische autoritäre Reaktion ist selbst in spezifischer Weise Teil der politischen Moderne und moderner Vergesellschaftung. Moishe Postone hat Antisemitismus als verdinglichte Konkretisierung des realgesellschaftlichen Abstrakten und als »verkürzten Antikapitalismus« gedeutet. Er hat dabei ideologiekritisch auf einem innigen Zusammenhang zwischen moderner antisemitischer Alltagsideologie und den Erscheinungsformen kapitalistischer Verwertung insistiert (Postone 1986). Die antisemitische Identifikation von Juden mit Modernität, Globalität und Kapitalismus deutet zudem auf eine große Nähe zu Ideologien des Antiamerikanismus (Markovits/Beyer 2018), der auch auf Ebene individueller Einstellungen hoch mit Antisemitismus korreliert (Beyer 2019). Ähnliches gilt für die populistische Ideologie, welche die soziale Welt in das »gute Volk« und die »(globale) korrupte Elite« einteilt (Mudde 2007) und den häufig an diesen populistischen Manichäismus gekoppelten nationalistischen Affekt gegen Globalisten und Intellektuelle. Bei diesen ideologischen Affinitäten und Überschneidungen zeigt sich allerdings auch immer wieder das virulente kulturell-gesellschaftliche Reservoir des Antisemitismus, der sein Potenzial und seine destruktive Attraktivität als anti-zivilisatorische politische Kraft in der politischen Moderne nie ganz verloren hat. Selbst wenn Juden nicht als Juden benannt werden, kann die antisemitische Vorstellungswelt, die sich in der modernen Geschichte zur Ideologie verdichtet hat, aktualisiert werden. Ein Beispiel ist die aus den USA stammende und auch in Europa Resonanz findende »QAnon«-Bewegung, die das antisemitische Bild von heimlich wirkenden teuflischen Eliten eines »Deep State« verbreitet. Dessen Eliten trinken angeblich das Blut von Kindern, die sie quälen (vgl. dazu Kahane 2020).

Modernisierungen antisemitischer Ideologie: Post-kolonial, postmodern, sekundär Mühsam über öffentliche Konflikte etablierte Standards der sozialen Erwünschtheit und der Grenzen des legitim Sagbaren haben offenen Antisemitismus mithin lange weitgehend aus dem Mainstream der Öffentlichkeit gedrängt (vgl. Bergmann 1997; Rensmann 2004). Unter den Bedingungen

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der Demokratie und ihrer öffentlichen Normen treten verbalantisemitische Ideologeme und entsprechende Gewalt- und Verfolgungsfantasien deshalb oft verhüllt in Erscheinung.12 Dies bedeutet mitnichten notwendig eine Diffusion oder Auflösung antisemitischer Ideologie als Weltdeutung. Der Begriff des modernisierten Antisemitismus verweist dabei auf die Wandelbarkeit antisemitischer Ausdrucksformen, die auf die »veränderten demokratischen Ansprüche nach dem Holocaust mit ideologischen Codierungen und Modifikationen reagieren (und etwa auf der Angebotsseite neue, ›legitime‹ antisemitische Mobilisierungsstrategien entwickeln), ohne notwendig mit dem modernen Antisemitismus als Weltdeutung zu brechen« (Rensmann 2004: 79; 2017: 169).13 Im Besonderen finden solche Modernisierungen antisemitischer Ideologieproduktion und Tropen in den Feldern Verschwörungsfantasien, Holocaustrelativierung, und Israelfeindschaft respektive einem israelbezogenen Antisemitismus ihren Niederschlag. Ein eingeschliffenes Chiffrierungs- und Modernisierungsmuster antisemitischer Ideologie ist es folgerichtig, statt von »den Juden« schlicht von »den Zionisten«, oder anstatt von einer »jüdischen Weltverschwörung« von einer »weltweiten Israel-Lobby« zu sprechen, dabei ansonsten aber in (Sprach-)Bildern das kulturelle Arsenal antisemitisch-verschwörungsmythischer Ressentiments zu bedienen – vom antijüdischen Stereotyp der »Skrupellosigkeit« oder der »Rachsucht« bis hin zur vermeintlichen besonderen Verschworenheit, Intrigenhaftigkeit und einer vermeintlich medial gestützten »Manipulationsmacht«. Variationen eines solchen modernisierten Antisemitismus finden sich auch in Rechtfertigungen von Gewalt gegen Juden, die auf offen judenfeindlich-rassistische Begründungen verzichten: beispielsweise, wenn Terrorakte auf Bürger*innen des jüdischen Staates Israel als »Reaktion auf den israelischen Staatsterrorismus« gerechtfertigt werden oder, so ein Gericht nach einem Brandanschlag auf die Wuppertaler Syna-

—————— 12 Allerdings ist dies im Kontext unregulierter und enthemmter sozial-medialer Kommunikation zunehmend anders – zuletzt in Deutschland signifikant in den auch die Corona-Proteste begleitenden »alternativen Medien« via YouTube. Bis heute werden antisemitische Ideologeme indes teils chiffriert. Dabei ist es für den objektiven antisemitischen Sinngehalt der Rede irrelevant, ob ein(e) Sprecher*in die Aussage ›antisemitisch intendiert‹ hat oder nicht und sich frei von Antisemitismus fühlt (oder ob die/der Sprecher*in selbst jüdisch ist). 13 Als Post-Holocaust-Antisemitismus sind dabei alle Manifestationen von Judenfeindschaft zu verstehen, die trotz der Erfahrung der NS-Vernichtungspolitik und der Ermordung der europäischen Juden in Erscheinung treten (Rensmann 2004: 26).

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goge, behauptet wird, die männlichen Täter hätten lediglich die »Aufmerksamkeit auf den Gaza-Konflikt lenken wollen«, für eine antisemitische Tat gäbe es »keine Anhaltspunkte« (zitiert nach taz 2015) – und damit Antisemitismus geleugnet und antisemitisches Handeln relativiert wird. Antisemitische Ideologeme haben dabei über solche Modernisierungen (welche freilich antizionistische Vorstellungen vom jüdischen Staat als »Hochschule« der »internationalen Lumpereien« adaptieren, die schon Hitler ventilierte, zitiert nach Phelps 1968: 406) auch wieder verstärkt Eingang in Öffentlichkeit und gesellschaftliche Alltagskultur gefunden. Das Geraune über eine vermeintlich übermächtige und global operierende »Israel-Lobby«, welche die Öffentlichkeit manipuliere und die »Israelkritiker« verfolge, findet sich zum Beispiel in obskuren Desinformationsquellen »alternativer Medien«. Es hat aber auch insgesamt gestiegene Akzeptanz und Normalisierung erfahren – unter anderem in etablierten, seriösen Qualitätsmedien und keinesfalls nur am Rand der Gesellschaft. Die ideologisch-phantasmagorische Vorstellung, eine mächtige zionistische Macht beeinflusse das Weltgeschehen (»wenn Jerusalem anruft beugt sich Berlin dessen Willen«, behauptet zum Beispiel der linke Publizist Jakob Augstein 2012), ist dabei auch ein weit verbreitetes Dispositiv in vom Selbstverständnis her »kritischen«, linken oder progressiven Diskursen und Identitätskonstruktionen – nicht nur in der explizit israelfeindlichen, gegen jüdisch-israelische Staatsbürger*innen gerichteten politischen Boykottbewegung »BDS«.14 Untrennbar verbunden ist damit das genannte Ideologem, »die Zionisten« und ihre Helfershelfer*innen wollten zugleich »Israelkritik« mit »Antisemitismusvorwürfen« tabuisieren. Diese Trope, die auf die apriorische Leugnung eines israelbezogenen Antisemitismus zielt, operiert ungeachtet von empirischen wissenschaftlichen Befunden und der Tatsache, dass in allen westlichen Demokratien und weit darüber hinaus sowohl Kritik an Israels Regierung als auch fundamentale »Israelkritik« sowie offene Feindschaft gegen den jüdischen Staat als »Bedrohung für den Weltfrieden« eine überdurchschnittlich große mediale und gesellschaftliche Präsenz haben. In Ländern wie Iran, Katar, Indonesien oder Pakistan ist antisemitische Israelfeindschaft sogar öffentliche Staatsdoktrin, während israel-

—————— 14 Ein besonders radikales, jedoch nicht untypisches Beispiel ist die Labour-Abgeordnete Lisa Forbes, die antisemitische Facebook-Posts über Theresa May befürwortete, denen zufolge May eine »Zionist Slave Masters agenda« verfolge. Die Abgeordnete unterstützte auch den Verschwörungsmythos, der Mossad stecke hinter ISIS (Board of Deputies of British Jews 2019).

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bezogener Antisemitismus, der den jüdischen Staat aussondert, dämonisiert und in toto delegitimiert, selbst durch Körperschaften der UN verbreitet wird (vgl. Feuerherdt/Markl 2018). Solche ideologischen Modernisierungen des Antisemitismus, die Judenfeindschaft über die Umwegkommunikation der Israelfeindschaft und der Diskriminierung jüdisch-israelischer Menschen artikulieren, finden heute zudem unter anderem in zahlreichen manichäischen Varianten anti- und post-kolonialer Ideologien ihren Platz und finden dort eine relevante öffentliche Plattform (vgl. Elbe 2020; Klävers 2019). In etlichen post-kolonialen Deutungskontexten werden Juden von der unterdrückten und verfolgten Minderheit, die im Nahen Osten Zuflucht gefunden hat, nunmehr als »koloniale Weiße« par excellence umgedeutet. Und auch vermeintlich kosmopolitische und post-nationale Ideen sind nicht davor gefeit, partikularistisch antisemitische Ideologeme zu reproduzieren und zu modernisieren; etwa, wenn Juden nunmehr im Hinblick auf Israel der Vorwurf gemacht wird, nicht mehr zu global oder kosmopolitisch, sondern vielmehr zu nationalistisch zu sein – im Kontrast beispielsweise zur post-nationalen EU (Stögner/Höpoltseder 2013). Hierin zeigen sich Konturen einer Ideologie des postmodernen Antisemitismus und Antizionismus. Ein solcher beruht einerseits auf einer post-faktischen Kultur rechter wie linker anti-universalistischer, kulturrelativistischer und zugleich essentialisierender Identitätspolitik, die Menschen auf ihre Herkunftsidentität oder Hautfarbe festschreibt und ihr Denken und Handeln danach bewertet und kategorisiert. Jeweils qua verdinglichter Setzungen werden dabei spiegelbildlich mit Bezug auf Hautfarbe oder Geschlecht »gute« Herkunfts-Identitäten als Quelle von »Wahrheit« und Überlegenheit stilisiert. Diese Fixierung – rechtsnationalistisch als vermeintliche Überlegenheit der Weißen, linksnationalistisch/antiimperalistisch beziehungsweise in Teilen postkolonialistisch als bedingungslose Idealisierung diskreditierter Minderheiten beziehungsweise »unterdrückter Völker« (Kategorien, von denen in beiden Fällen Juden zumeist ausgeschlossen werden) – entzieht sich weitgehend der Logik von Argumenten und der Idee kritischer menschlicher Entwicklungsfähigkeit sowie individueller oder menschlicher Emanzipation (vgl. Nelson 2019). Ursprüngliche Konzeptionalisierungen intersektionaler Kritik hatten freilich den Anspruch, ideologiekritisch verschiedene Diskriminierungen und Diskriminierungserfahrungen reflexiv zu verknüpfen, anstatt in verengte Identitätspolitik zu verfallen, »die von

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Ausschlüssen ihren Ausgang nimmt und sie verstärkt« (Stögner 2020: 277).15 Als Teil einer linken Identitätsideologie werden dabei heute oftmals diskriminierte Juden und Israelis – einschließlich etwa schwarzer jüdischer Israelis aus Äthiopien oder sephardisch-jüdischer Flüchtlinge, die aus arabischen Ländern vertrieben wurden – global als »white supremacists« oder »settler colonialists« kategorisiert und Palästeninser*innen als kolonial unterdrückte »Schwarze« (vgl. u.a. Hirsh 2018).16 Für eine kritische Diskussion solcher binärer Zuordnungen ist dabei kaum Platz. Andererseits bemüht jener postmoderne Antisemitismus freilich partiell Fragmente eines universalistischen Anspruchs in einem Weltbild, das für sich ideologisch reklamiert, sich für den Weltfrieden und die universellen Menschenrechte einzusetzen, das aber – wie andere Formen des Antisemitismus – exklusiv auf vermeintliches jüdisches Fehlverhalten als Zentrum aller Dinge, die vermeintlich oder real problematisch sind in der Welt, zielt. Dabei wird in exklusiver menschenrechtlicher Solidarität die global winzige Minderheit der (israelischen) Jüdinnen und Juden ausgesondert und als singuläre Gefahr oder besonderes Hindernis auf dem Weg zum Weltfrieden konstruiert – als hätten sie »universale Bedeutung für die Menschheit« (Hirsh 2018; zum postmodernen Antisemitismus zuerst Rensmann 2004). Vor dem Hintergrund der kolonialen Geschichte Europas und der deutschen sowie europäischen Verantwortung für die Shoah übernimmt die Anklage gegen den »Unrechtsstaat« Israel dabei mithin ferner Funktionen eines »sekundären Antisemitismus« wegen Auschwitz (Adorno 1963), der kritische Erinnerung an die eigene Täter*innen-Geschichte abwehrt und Schuld auf die Opfer ideologisch zu übertragen sucht. Die dabei konstitutive Täter-Opfer-Umkehr ist indes nicht nur ein Element des sekundären Antisemitismus aus Erinnerungsabwehr, sondern ein Muster des Antisemitismus überhaupt – Juden erscheinen in der Ideologie

—————— 15 Gerade im Blick auf Überschneidungen antifeministischer und antisemitischer (sowie rassistischer) Ideologie gibt es hier zahlreiche Anknüpfungspunkte ideologiekritischer Forschung. 16 Insbesondere bei denjenigen linken Akteuren, welche analog zur nationalistischen Nostalgie der radikalen Rechten die Bewahrung autochthoner kultureller Identität ins Zentrum ihrer Politik rücken statt einer Kritik gesellschaftlicher Ausgrenzung und sozialer Ungleichheit, und dabei Juden kollektiv-identitär als Mächtige ohne »autochthone Wurzeln« imaginieren, erscheinen Juden unter anderem nicht selten in aufgeladener Affektlogik als »siedlerkolonialistische Unterdrücker« oder werden auch hier den kapitalistischen »Globalisten« zugeschlagen, welche mit Geld und Krieg tradierte kulturelle Gemeinschaften vermeintlich »siedlerkolonial« »zersetzen«.

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des Antisemitismus stets als Schuldige an ihrer eigenen Diskriminierung und Verfolgung und dieselbe als »Abwehr« oder Verteidigung gegenüber vermeintlicher jüdischer Macht. Selbst offen antisemitischer Terror wird zum Beispiel entsprechend als bloße »Reaktion« auf jüdischen oder »israelischen Staatsterrorismus« umgedeutet und legitimiert. Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen »Israelkritikern«, die sich von imaginierten »Antisemitismusvorwürfen« umzingelt und bedroht sehen und sich selbst zum Opfer oder gar zum Objekt der Vernichtung stilisieren, während sie selbst Juden oder den jüdischen Staat Israel mit antisemitischen Ressentiments belehnen. Freilich bedeutet all dies nicht, dass Antisemitismus stets nur als (politische) Ideologie in Erscheinung tritt, oder dass alle Akteur*innen, die etwa latente antisemitische Stereotype bedienen, ein geschlossenes antisemitisches Weltbild vertreten. Darauf zielt bisweilen zurecht auch die Kritik am Ideologiebegriff. Alltagskulturelle Stereotype, die Jüdinnen und Juden diskriminieren oder antijüdische Vorstellungen reproduzieren, können als fragmentierte Elemente der Kultur unreflektiert aktualisiert werden, ohne sich zu einer antisemitischen Weltdeutung zu verdichten. Allerdings ist erstens zu berücksichtigen, dass »Ideologie«, im Kontrast zu wissenssoziologischen Missverständnissen, keineswegs innere Kohärenz, Stabilität, mithin Widerspruchsfreiheit impliziert. Und zweitens sind dem Antisemitismus – auch dort, wo er zunächst nur als einzelnes Stereotyp oder fragmentarisch auftritt – die totalitäre Ideologie-Geschichte und die historische Erbschaft der praktischen Verfolgung, und damit die Möglichkeit ihrer Wiederholung, unwiderruflich eingeschrieben.

3. Ideologiehistorische Verbindungen und aktuelle empirische Befunde: Zur Bedeutung des Antisemitismus als politischer Ideologie am Beispiel von Parteien des autoritär-nationalistischen Rechtspopulismus in Europa Antisemitische Ideologie, Ideologeme und Ideologieelemente sind auch heute nicht auf bestimmte politische und soziale Akteur*innen oder Bewegungen beschränkt. Sie finden Ausdruck und Resonanz in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten, Milieus und Strömungen. Dazu zählen in ihrem Selbstverständnis linksradikal-antiimperialistische Antizionist*innen, die einem einzigen – nämlich dem jüdischen – Staat die Existenzberechti-

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gung absprechen oder diesen in Übernahme lokaler Kampfesrhetorik von der Landkarte tilgen wollen. Dazu zählen ferner religiöse christliche, muslimische und islamistische Milieus, islamistische Staaten sowie neo-nazistische Gruppen, die »Israel ist unser Unglück« (so die Partei Die Rechte) proklamieren, oder zahlreiche verschwörungsmythische Coronavirusleugner*innen. Umfragen zeigen zudem, wie sehr antisemitische Vorstellungen in der so genannten bürgerlichen Mitte Widerhall finden. Dass Juden insgesamt »viel Macht« haben und »reicher als der Durchschnitt« seien, meinen jeweils 56% der Befragten in Frankreich laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Ipsos vom März 2015. Rund 41% der französischen Bevölkerung finden, Juden seien »ein wenig zu präsent« in den Medien (vgl. Schmid 2016). Insbesondere, aber nicht nur in Deutschland ist die antisemitische und erinnerungsabwehrende Fantasie populär, Israel würde die Palästinenser*innen genauso behandeln wie die Nazis die Juden – 68,4% der Befragten stimmten vor einigen Jahren der Aussage eher oder sogar ganz zu, dass Israel einen »Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser*innen« führe, und 51,2% der Befragten meinten: »Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben« (Zick 2007: 70). Im Folgenden soll der empirische Fokus der Analyse aktueller antisemitischer Ideologie indes exemplarisch auf der autoritären »konformistischen Rebellion« von rechts (Claussen 1987; Lenk 1995; Rensmann 1998) liegen, die sich in den letzten Jahren in Europa und darüber hinaus formiert hat. Die autoritär-nationalistische populistische Revolte, die mittlerweile nahezu alle liberalen Demokratien affiziert hat und in Europa in spezifischer Weise virulent ist, wo sie in den 1980er und 1990er ihren Ausgangspunkt genommen hat, wird heute wesentlich von rechtspopulistischen Parteien getragen. Im Zentrum dieser politisch-kulturellen Revolte stehen bestimmte ideologische Kernbestände und deren stetige, repetitive Mobilisierung. Dazu zählen die politische Agitation gegen Einwanderer*innen, Minderheiten und im Besonderen Muslim*innen; ethnischer Nationalismus, Nativismus und die Politisierung ›kultureller Identität‹; die Artikulation einer Sehnsucht nach einschneidenden autoritären Lösungen komplexer Governance-Probleme; populistische Invektiven auf Seiten »des guten Volkes« gegen »das Establishment« oder gegen »die (korrupte) Elite«, soll heißen: diffus formulierte Attacken gegen »die da oben«, welche vermeintlich in der Gesellschaft das Sagen haben und die Meinungen kontrollierten. Obschon sich zahlreiche

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rechtspopulistische Parteien, die teils aus faschistischen Parteien hervorgegangen sind, seit den 1980er Jahren ideologisch und in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung modernisiert haben, ist der Antisemitismus, der seit dem 19. Jahrhundert immer ein Kernbestandteil rechtsradikaler Ideologien gewesen ist, auch heute noch ein weithin transnational bindendes Element – trotz vorgeblicher Unterstützung Israels bei einigen Akteur*innen. Autoritär-nationalistische, rechtspopulistische Akteure operieren dabei mittlerweile in weiten Teilen Europas als demokratisch gewählte Regierungsparteien wie zum Beispiel in Ungarn (Fidesz) oder Polen (PiS), als einflussreiche Juniorpartner in Regierungen wie beispielsweise in Österreich (FPÖ) oder jüngst als Juniorpartner in Italien (Lega Nord), oder als starke Oppositionsparteien in nationalen Parlamenten wie etwa in den Niederlanden (PVV), Frankreich (Front National, neuerdings umbenannt in Rassemblement National) und in Deutschland (mit der Alternative für Deutschland, die 2017 in den Bundestag eingezogen ist).

Ideologische Affinitäten, konkrete Verbindungen: Rechtspopulismus und Antisemitismus Die zur Schau getragene Lust an vermeintlich »mutigen Tabubrüchen« gegenüber einem zivilen demokratischen Diskurs verweist auf die Nähe der autoritär-nationalistischen Revolte nicht nur zu rassistischen Diskriminierungen und nationalistischen Glorifizierungen, sondern auch zur damit aufs Innigste ideologiehistorisch sowie strukturell verbundenen Judenfeindschaft (vgl. diskursanalytisch Wodak 2018). Es ist dergestalt kein Zufall, dass Rechtsextreme und Rechtspopulisten selbst hinter globalen Migrationsbewegungen in einer antisemitischen Wahnvorstellung Juden als Strippenzieher eines Plans für ein »great replacement«, einen großen Bevölkerungsaustausch, identifizieren. Prägende Elemente gegenwärtiger rechtspopulistischer Ideologie stehen teils in impliziter, teils in expliziter Nähe zum Antisemitismus, wie an mehreren Kernelementen gezeigt werden kann. Die (radikal) rechtspopulistische Ideologie ist konstitutiv von binärem, manichäischem Denken geprägt. Den für den Antisemitismus typischen existenziellen Feinderklärungen (»Volksfeinde«, »Volksverräter«) wird diffus ein oftmals implizit oder explizit ethnokulturell definiertes Volk entgegengesetzt. Mit diesem Nations- und Volksbegriff knüpfen Rechtspopulist*innen

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somit zugleich an ethno-nationalistische, völkisch-exklusive Gemeinschaftskonstruktionen an, die historisch aufs Engste mit Antisemitismus verbunden sind (Volkov 2000; Rensmann 2004; Salzborn 2010). Die Konstruktion hat eine entschiedene antisemitische politisch-kulturelle Traditionslinie im Imago der überlegenen ethnischen oder völkischen Nation, selbst wenn diese Traditionslinie bisweilen codiert erscheint: Bilder von kosmopolitischen, wandernden, heimatlosen Juden als Vertreter einer globalen Kabale oder Verschwörungsmacht verkörpern ideologiehistorisch die fundamentale Antithese zur ethnischen Nation und sind doch selbst angeblich kein Volk und keine Nation – so prägnant Zygmunt Bauman in seiner Analyse der Ideologie des modernen Antisemitismus (1992). Mehr noch als die Imago der Geflüchteten oder Migrant*innen ist diese heute oft mit Globalisierungsfeindschaft amalgamierte Antithese Teil radikal rechter Ideologieformen und fast aller ihrer Akteure in Vergangenheit und Gegenwart, einschließlich der nationalen Souveränitätsideologen des heutigen Rechtspopulismus. Dabei richten sich die Rechtspopulist*innen illiberal und nationalistisch gegen vermeintliche »Feinde des Volkes« in Medien, Kultur und Politik (weniger der Wirtschaft), die im Verborgenen wirkten und das Volk manipulierten. Das populistische Elitenbild – nicht nur, aber insbesondere in Formen des rechten, autoritär-nationalistischen Populismus – zeigt sich insofern ideologiestrukturell unmittelbar anschlussfähig an antisemitische Verschwörungsmythen, die historisch direkt mit der Trope einer verschworenen Elite, die vermeintlich Pläne zur ›Zersetzung‹ des Volkes verfolgt, verbunden sind – und so auch heute aktualisiert werden. Das affektiv aufgeladene Bild der volksfeindlichen »Globalisten«, gegen welche die Rechtspopulist*innen agitieren, ist ideologiegeschichtlich antisemitisch konnotiert (Friesel 2010: 174). Referenzen zu »den Globalisten« fungieren seit langem als Chiffre für das genannte Phantasma von der jüdischen Weltverschwörung. Der Zusammenhang zwischen ethnischem Nationalismus und einer verschwörungsmythischen »anti-globalistischen« Weltdeutung sowie daran anknüpfend Antisemitismus tritt heute in großer Breite neu in Erscheinung. In rechtsradikaler Agitation finden sich hierbei fast immer Phantasmen von vermeintlich geheimen, böswilligen »Drahtziehern«, verschworenen Mächten oder Eliten, welche die nationale Gemeinschaft ausbeuten, sie unterminieren, gegen sie arbeiten, sie »zersetzen« und für heraufbeschworene, mythologisch gedeutete große Gesellschaftskrisen verantwortlich seien (jüngst dazu Roepert 2020) – und sehr oft werden diese verschworenen Mächte explizit als Juden identifiziert und personifiziert. Eine besonders

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radikale Variante ist zum Beispiel die von der FIDESZ-Regierung propagierte Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung einer globalen Finanzelite, welche Ungarn vermeintlich vernichten wolle (vgl. Pfeifer 2020). Die autoritäre Regierung Viktor Orbáns und die von ihm ebenso autokratisch geführte Partei FIDESZ sieht Ungarn von »jüdischen Investoren« bedroht und behauptet unter anderem, Ungarn befinde sich in einem existentiellen Kampf gegen eine »Soros-Verschwörung«. Sie macht, wie andere rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien, den jüdischen Mäzen George Soros verschwörungsmythisch verantwortlich für Migrationsströme nach Europa und Ungarn im Sinne des »Great Replacement«-Verschwörungsmythos. Ein Wahlplakat von FIDESZ mit einem großen, grinsenden Konterfei von Soros deklarierte beispielsweise: »99 Prozent lehnen die illegale Migration ab: Lassen wir nicht zu, dass es Soros ist, der am Ende lacht!« (zitiert nach Thorpe 2019). Der Zusammenhang zwischen antisemitischen Verschwörungsfantasien und autoritär-nationalistischem Populismus zeigt sich unter anderem auch in Deutschland am Beispiel der Partei »Alternative für Deutschland« (AfD). Antisemitische Ideologeme sind bei AfD-Wähler*innen deutlich stärker verbreitet als bei Wähler*innen anderer Parteien. Einer Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach von 2018 zufolge meinen 55% der AfD-Wähler*innen, »Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss« – im Vergleich zu Werten zwischen 16% und 20% bei Wähler*innen aller anderen Parteien (Petersen 2018). Dieses Denken spiegelt sich auch in den Parteispitzen. Björn Höcke, Landesverbandsvorsitzender der AfD in Thüringen, mobilisiert beispielweise wie die ungarische Regierung die Verschwörungsfantasie, es drohe ein »bevorstehende[r] Volkstod durch Bevölkerungsaustausch« (zitiert nach Ingendaay 2019). Hiermit rekurriert Höcke auf die antisemitische Vorstellung, eine globale Elite organisiere einen weltweiten Austausch der autochthonen weißen respektive europäischen Bevölkerungen und, im Jargon des Nationalsozialismus, den »Volkstod«. In jener fantasierten globalen Verschwörung sieht auch Höcke Soros als »Strippenzieher«, der die EU als seine Marionette benutze. Letztere sei eine »Globalisierungsagentur«, welche den »als pervers zu bezeichnenden Geist eines George Soros« exekutiere (zitiert nach Siemens u.a. 2020). Solche antisemitischen Konspirationsmythen fügen sich ein in die neue, breite autoritär-nationalistische Revolte gegen die liberale Demokratie, die geschichtlich stets von judenfeindlichen Verschwörungsmythen und »Dolchstoßlegenden« begleitet war. Das im autoritär-nationalistischen Rechtspopulismus mobilisierte anti-plu-

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ralistische Bild einer global vernetzten, kosmopolitischen Elite, die angeblich das Volk »verrät« oder »betrügt« (so im verhassten Bild des »Davos man«), ventiliert personifizierende Verschwörungsmythen, von denen es zum offenen Antisemitismus nur ein kleiner Schritt ist. Wer eine sinistre globale und »volksfeindliche« Verschwörung transnationaler Eliten vermutet, kommt nahezu immer am Ende bei der Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung an (vgl. Friesel 2010: 174). Die Vorstellung vom »great replacement«, die Rechtspopulist*innen nahezu aller Länder von Matteo Salvini bis Donald Trump vertreten, wird nicht zufällig als Verschwörungsmythos konstruiert, der letztlich immer Juden als Drahtzieher ausmacht. In den USA hat der amtierende US-Präsident Donald Trump seinen Wahlkampf 2016 erfolgreich damit bestritten, gegen eine »internationale Elite« zu agitieren und ihr die Schuld am vermeintlichen Niedergang der USA zuzuschreiben – eine »Elite«, die im letzten Wahlkampfvideo fast ausschließlich aus Juden zu bestehen schien, wobei suggeriert wurde, wohlhabende Juden finanzierten heimlich das vermeintliche »Establishment« und verrieten »das amerikanische Volk«. Dies ist eine klassische antisemitische Vorstellungswelt. Der Verschwörungsmythiker und ehemalige Berater der russischen Regierung sowie des Trump-Wahlkampfes 2016, Michael Caputo, den Präsident Trump im Frühjahr 2020 zum Sprecher des Gesundheitsministeriums ernannte (Porter 2020), machte im selben Jahr seiner Ernennung mit antisemitischen Tweets auf sich aufmerksam. Caputo behauptete, Soros sei »der Virus hinter allem«, und nahm auch den Ökonom David Rothschild in Haftung. Überhaupt sehne sich dessen Familie, die »Rothschilds«, nach Kontrolle, so Caputo. Er reproduzierte damit das judenfeindliche Bild von einer vermeintlich allmächtigen Rothschild-Familie (zitiert nach Kampeas 2020). Dass David Rothschild mit der europäisch-jüdischen Rothschild-Familie nicht verwandt ist, ist für die antisemitische Verschwörungsfantasie auch hier irrelevant. Nicht zuletzt durch solche Äußerungen sind in den letzten Jahren in Bezug auf Antisemitismus die öffentlichen Grenzen des Sagbaren verschoben worden, und zwar im Sinne eines Mainstreaming. Rechtspopulistische, personalisierende Affekte gegen »die Eliten« verweisen in der Tat immer wieder auf das Arsenal alter antisemitischer Stereotype und Affekte, die sich gegen Juden als Minderheit richten, die von der modernen Gesellschaft profitiert habe, die aber die nicht zum »wahren Volk« gehöre. Im Besonderen sticht zudem in rechtspopulistischen Diskursen und Ideologien das althergebrachte und eingeschliffene antisemitische Stereotyp

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von den Medien als geschlossene, manipulierende, vermeintlich volksfeindliche »Lügenpresse« oder »Systempresse« hervor, die das Volk manipuliere und betrüge (vgl. Pittelkow u.a. 2018). Alle relevanten Rechtspopulist*innen heute bedienen dieses Ressentiment. Es insinuiert eine vermeintliche Unterdrückung der freien Rede (»Tabus«) durch etablierte Medien und den Staat – als gebe es keinerlei Meinungspluralismus und Interessenvielfalt, sondern nur eine von oben gesteuerte liberale Einheitsmeinung. Juden wird in antisemitischen Wahrnehmungen seit je eine Kontrolle der Medien und eine jüdische mediale Manipulationsmacht zugeschrieben. Das Ideologem wird sowohl von rechtsextremen Sammlungsbewegungen wie »Pegida« als auch von Vertreter*innen der AfD vielfach bemüht. Der antisemitisch konnotierte Begriff »Lügenpresse«, der unter anderem insbesondere in der judenfeindlichen Propaganda der NS-Zeit eine prominente Stellung einnahm und nun neuerdings in erstaunlichem Ausmaß in der radikalen und populistischen Rechten wieder floriert, stellt hierbei eine direkte Verbindung zum dabei mobilisierten Stereotyp von der ›jüdischen Medienmacht‹ her. Die tradierte ideologische Phantasmagorie, die Juden als Minderheit große Verschwörungsmacht zuschreibt, zeigt sich hier unter anderem in der Wut auf einen pauschal als »Staatsfunk« diffamierten öffentlich-rechtlichen Journalismus, der das wahre Volk nicht zu Wort kommen lasse und im Rahmen einer großen Verschwörung belüge (vgl. Seidler 2016).

Rechtspopulistische Modernisierungen, Innuendo und Antisemitismusverleugnung Auch die heutigen wirkungsmächtigen Rechtspopulist*innen arbeiten dabei bisweilen mit transformierten oder codierten antisemitischen Tropen – dem, was Adorno einst als »Krypto-Antisemitismus« und judenfeindliches Innuendo, das auf »oft nur leise verschleierte[n] Stereotype des Antisemitismus« zielt, bezeichnet hat (Adorno 1963: 132).17 So werden teils augenzwinkernd antisemitische Ressentiments gegen imaginierte sinistre und böse globalistische Eliten bedient, ohne offen gegen Juden zu agitieren, und zugleich etwa eine «Israelfreundschaft« demonstriert, die allerdings im Wesentlichen anti-muslimisch motiviert ist. Sie verweist auf den typischen

—————— 17 Dieser Krypto-Antisemitismus gilt hierbei auch als »eine Funktion der Autorität, die hinter dem Verbot offener antisemitischer Manifestationen steht. Es liegt aber in diesem Versteckten selbst ein gefährliches Potenzial.« (Adorno 1963: 109)

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Doppelcharakter antisemitischer Ideologie: der uneingestandenen Bewunderung und Verachtung. Schließlich eint Rechtspopulist*innen aller Länder, Rassismus und Antisemitismus beim angeblich «wahren Volk« herunterzuspielen und deren Thematisierung als falsche, elitäre «political correctness« gegen das «gesunde Volksempfinden« zu geißeln. Solche Abwehr- und Relativierungsstrategien sind ein »integraler Bestandteil des antisemitischen Diskurses« (Schwarz-Friesel 2019: 18). Wenn Antisemitismus thematisiert wird, dann nur bei «den Anderen« im Zuge einer Instrumentalisierung: namentlich bei Muslim*innen und Flüchtlingen. Analog zu einigen politischen Akteur*innen in der Linken, die Antisemitismus nur im Nationalsozialismus oder Neonazismus verorten, wird der eigene Antisemitismus dergestalt a priori externalisiert. Letztlich ist dies ein Ausdruck einer verbreiteten Antisemitismusverleugnung. Bei allen Rechtspopulist*innen sticht das Bemühen hervor, durch die unbeschränkte Idealisierung und Erhöhung der nationalen Gemeinschaft auf kollektiv-narzisstische Gewinne zu zielen. Dies impliziert in Europa – nicht nur in Deutschland – oftmals auch den Versuch, die Verbrechen des Holocaust oder von NS-Kollaborationen zu relativieren. Das bedeutet die Verleugnung oder Verharmlosung der Geschichte des Antisemitismus in Europa – und führt letztlich zu einer Täter-Opfer-Umkehr; zumal oftmals denjenigen falsche Antisemitismusvorwürfe unterstellt werden, die solche Verleugnung kritisieren und Antisemitismus als solchen benennen.

4. Ideologiekritik des Antisemitismus, Kritik der Gesellschaft und Kritik der Politik: Analytische Skizzen Die (ideologie-)kritische Analyse und Erforschung antisemitischer Ideologie im Kontext gegenwärtiger Gesellschaften und politischer Kulturen ist gerade heute eine relevante wissenschaftliche Herausforderung. Sie verweist neben der notwendigen Weiterentwicklung einer politikwissenschaftlichen auch auf die kritische Fundierung einer interdisziplinären Antisemitismusforschung (Rensmann 2004; Salzborn 2011; Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013; Wodak 2018), welche unter anderem Gesellschaftstheorie, Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Sozialpsychologie, Linguistik, Geschichtswissenschaft sowie Kulturwissenschaften miteinbezieht.

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Dabei ist die Rede vom Verschwinden der Ideologie gerade in Bezug auf die reine Phantasmatik, die pure Ideologie sui generis des Antisemitismus, im mindesten irreführend – auch wenn sich antisemitische Stereotype und Ideologeme im individuellen Fall nicht immer zur Weltdeutung verdichten. Vielmehr ist die Re-Politisierung und Globalisierung antisemitischer Ideologie heute kritisch in den Blick zu nehmen (Rensmann 2020). Wichtig für solch eine ideologiekritische Untersuchungsperspektive wäre die Rekonstruktion einer Globalgeschichte des Antisemitismus (in analytischen Anfängen unter anderen bereits bei Wistrich 1991) sowie inspiriert nach Michael Werner und Bénédicte Zimmermann (2006) einer »Verflechtungsgeschichte« (histoire croisée) antisemitischer Ideologie. Solch eine Perspektive hätte nicht nur eine komparative Sichtweise oder allgemeine Transnationalisierungsprozesse und Gemeinsamkeiten zu berücksichtigen. Sondern solch ein Ansatz zielt auch multiperspektivisch auf spezifische ideologiegeschichtliche beziehungsweise politisch-kulturelle Beeinflussungen und Akteure und deren Ineinandergreifen in gegenseitigen Verflechtungen. So wurden beispielsweise im 20. Jahrhundert ideologische Elemente antisemitischer Verschwörungsmythen – von den Protokollen bis zur NS-Ideologie – aus Deutschland und Europa in den Nahen Osten exportiert, aber auch – insbesondere im Post-Holocaust-Zeitalter – antisemitische Ideologeme, Rationalisierungen und Projektionen aus dem Nahen Osten in Europa rückimportiert. Dazu zählen zum Beispiel religiös-antisemitische politische Ideen in Koppelung mit religiös-glorifizierenden Erlösungs-Mythen etwa aus der Hamas-Charta; das Ideologem, Juden seien die Ursache des Unfriedens im Nahen Osten; die die Shoah relativierende Vorstellung, Juden begingen einen Genozid gegen die Palästinenser*innen; oder letztere seien heroische Akteure in einem »Volksbefreiungskampf« gegen »zionistische Faschisten« (der zunächst insbesondere von den antizionistischen Teilen der Neuen Linken und dem [Post-]Stalinismus absorbiert wurde; vgl. Herf 2010; 2016). In Abgrenzung zur These vom Verschwinden der Ideologie(n) des Antisemitismus sollen abschließend drei skizzenartige Schneisen zur Konzeption einer gegenwartsbezogenen Ideologiekritik des Antisemitismus geschlagen werden. Erstens scheint mir auch aktuell die Einbeziehung politisch-psychologischer Erkenntnisse, die ihren Ursprung in Freudschen und kritisch-theoretischen Einsichten nehmen, unabdingbar für eine ideologiekritische Analyse des Antisemitismus. Zentral ist hierbei die Erkenntnis vom grundlegend projektiven Charakter des Antisemitismus, der die innere Zerrissenheit des Subjekts ins Außen verlagert (Claussen 1987; Rensmann

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2013). Die Inkohärenz, Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit der antisemitischen Phantasmatik verweist zuvörderst auf psychosoziale Bedürfnisse, die antisemitische Ideologie erfüllt. Solche Bedürfnisse und Funktionen sind insbesondere mit einem »autoritären Syndrom« (Adorno) verwoben. Dessen Konstitutions- und Reproduktionsbedingungen mögen sich im Laufe der Spätmoderne bis zur post-industriellen Gesellschaft transformiert haben; dessen Aktualität steht indes im Angesicht der heutigen erfolgreichen Mobilisierungen einer transnationalen autoritär-nationalistischen Revolte durch populistische Parteien, die insbesondere auf psychische Schichten und emotionale Befriedigung zielen, außer Frage. Die anti-psychologische Tendenz etwa der Wissenssoziologie, die sich bemüht, vermeintliche semantische Logiken zu rekonstruieren, ohne das psychologische Wesen des Antisemitismus zu erkennen, erscheint in diesem Kontext hilflos gegenüber ihrem objektiv widersprüchlichen Gegenstand.18 Ähnlich begrenzt sind Versuche, die autoritäre konformistische Revolte und aktuelle Formen des Antisemitismus, die wesentlich projektiv sind und immer eine Auflehnung gegen einen als übermächtig imaginierten Feind implizieren, allein mit Befunden aus der Ökonomie und der Geschichte erklären zu wollen. Antisemitismus befriedigt Wünsche, Ängste und Vorstellungen, die dem Selbst nicht erlaubt sind, und die man doch projektiv ausagieren möchte. Er konstituiert sich wesentlich als das Projizierte abgelehnter und abgespaltener Selbstanteile, die neben sexuellen Projektionen von Promiskuität oder Fantasien zügelloser Gier auch beängstigende Macht-, Geist-, Verschwörungs- und Zersetzungsfantasien in Form von antisemitischem Hass gegen Juden als vermeintlich »Überzivilisierte« außerhalb des Selbst verlagern (Rensmann 1998; Winter 2013). Das gute Volk, mit dem man sich identifiziert, und die ehrlichen Führer*innen, die man verehrt, ermöglichen dabei genauso wie die Vorstellung, man begehre mit seinesgleichen mutig auf gegen ein – imaginiertes – mächtiges Tabu, Juden oder Israel nicht kritisieren zu dürfen. Nach Adorno kompensiert die Befriedigung eines solcherart ausgelebten kollektiven Narzissmus die Malaise eines gekränkten individuellen Narzissmus. Dem solcherart

—————— 18 Vgl. z.B. Weyand (2006). Entsprechende Konzeptionen von Antisemitismus scheitern bereits auf der Ebene der Beschreibung des Phänomens, da sie aussparen, was nicht in das von ihnen als immanent »logisch« rekonstruierte Gerüst des Antisemitismus passt; die tatsächliche Heterogenität, die dem Antisemitismus zu eigen ist, erfassen sie ebenso wenig wie dessen treibende Motive. Einher geht mit diesen deskriptiven und theoretischen Verkürzungen die Ablehnung dessen, was die Antisemitismusforschung am nötigsten hat: psychologische Zugänge und Interpretationen, die kritische Selbstreflexion ermöglichen.

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reingehaltenen Volk werden in autoritären und antisemitischen ideologischen Projektionen die vermeintlich Mächtigen, zersetzenden, die Wahrheit unterdrückenden, verschwörerischen »globalistischen Eliten« und letztlich immer wieder die Juden oder die »Zionisten« gegenübergestellt (vgl. Rensmann 2004; Winter 2013). Die ideologische Affektlogik des Antisemitismus, die in ihren multiplen Facetten zu analysieren ist, richtet sich dabei letztlich immer auch gegen pluralistische demokratische und liberale Institutionen; den Geist der nicht-konformistischen Kritik und die Entblößung des Antisemitismus, der gerade in Zeiten zunehmend offen agierender antisemitischer Milieus, eines immer salonfähigeren Antisemitismus und judenfeindlichen Terrors (vgl. Steinke 2020) zum bloßen böswilligen Vorwurf verharmlost werden muss; und bekämpft die Imagines vermeintlicher Partikularinteressen »heimlich« wirkender »Globalisten« und ihrer angeblichen liberalen Meinungsdiktatur. Ohne ein kritisch-reflexives Verständnis autoritärer Dispositionen, die solche objektiv grotesken Projektionen und Weltdeutungen erst attraktiv machen, und ihre Verbindungen zu antisemitischen Vorstellungswelten sowie den gesellschaftlichen Ursprüngen jener Dispositionen im Kontext von veränderten Reproduktionsbedingungen spätmoderner Gesellschaft kann Ideologiekritik des Antisemitismus heute m.E. nicht entwickelt werden. Daran schließt sich eine zweite ideologiekritische Schneise an, die auf die sozioökonomischen Strukturen, Prozesse und Transformationen der kapitalistischen Gesellschaften im 21. Jahrhundert rekurriert. Die neo-liberale Trias aus (1) kapitalistischer Privatisierung, die zu hoher globaler Kapital- und Machtkonzentration geführt hat, (2) systematischer Deregulierung von Wirtschaft und Arbeitswelt, die sozioökonomische Prekarisierungen und Entrechtungen produziert hat, sowie (3) dem Abbau von Sozialstaatlichkeit (welfare state regress), der eine Entsicherung sozialer Lebensbedingungen im Konkreten und eine gesellschaftliche Drohkulisse geschaffen hat, hat in den fortgeschrittenen post-industriellen Ökonomien einen verschärften, neuen neo-liberalen Autoritarismus mitbegünstigt (u.a. Gandesha 2019). Die gigantische Umverteilung von unten nach oben im globalisierten Kapitalismus geht einher mit einem nahezu universell gestiegenen sozialen Druck auf die abhängig Beschäftigten oder individuell prekarisierten Individuen, der autoritäre Dispositionen, Machtwünsche, Aggressivität und Konformismus befördert und so die Attraktivität antisemitischer Weltdeutungen, die soziale Veränderungsprozesse griffig personifizieren, verstärkt. Juden werden dabei traditionell in weltver-

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schwörungsmythischen antisemitischen Ideologemen stets mit gesellschaftlichem Wandel sowie im Besonderen mit den ökonomischen und kulturellen Krisen der Moderne identifiziert – umso naheliegender mag dies für die Krise einer ökonomisch und kulturell globalisierten Gesellschaft sein. An diesen Komplex könnte eine ideologiekritische Antisemitismusanalyse im Kontext einer Kritik politischer Ökonomie ansetzen, wie sie – wie oben angedeutet – etwa Postone mit seiner in der Analyse kapitalistischer Wertform und ihren Erscheinungen begründeten These vom Antisemitismus als »verkürztem Antikapitalismus« und fetischistische Konkretisierung des Abstrakten in theoretischer Skizze dargelegt hat. Das Potenzial fortschwelender antisemitischer Wahrnehmungsmuster wäre demnach in Teilen einer widersprüchlichen, komplexen modernen Verwertungsgesellschaft eingeschrieben, die auf der Objektifizierung sozialer Beziehungen beruht. Auch wären in der Tradition der Kritischen Theorie die veränderten Bedingungen des Verdinglichungsparadigmas im globalen Kontext ideologiekritisch zu gesellschaftlichen Krisen und zur Relevanz von Antisemitismus im öffentlichen Raum in Forschungen in Beziehung zu setzen. Solche reflektierten Vermittlungen im Sinne eines erweiterten Materialismus haben indes wenig gemein mit der hölzernen Ideologiekritik eines dogmatischen Traditionsmarxismus, der Ideologien und komplexes menschliches Verhalten aus materiellen Bedingungen im engen Sinne materieller Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft und der Produktionsverhältnisse ableiten möchte und Affekte gegen die kritische Introspektion durch Psychologie und Psychoanalyse hegt – wie gegen das Individuum überhaupt. Schließlich kann sich eine interdisziplinäre Forschung und Ideologiekritik zum Antisemitismus – den Entstehungsbedingungen und Fortschreibungen antisemitischer Ideologie(n) – im Horizont der Gegenwart nicht der empirischen Bedeutung des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit verschließen. Die vorgeblich »tabubrechende« Kraft einer »verfolgten Unschuld« (Löwenthal/Guterman 1949: 63) fühlt sich im Zeitalter sozialer Medien bestärkt und ermächtigt, Regeln ziviler Auseinandersetzung zu brechen und ohne negative Sanktion gegen Juden oder »die Zionisten« zu hetzen. Die Erosion der Grenzen des Sagbaren durch Desinformation – teils organisiert, teils demokratisch ›von unten‹ – und fake news, sowie die Normalisierung von Mobbing, Antisemitismus, Rassismus und hate speech auf medialen (Gegen-)Welten mit ihren postfaktischen Blasen, virtuellen Mobs und »echo chamber effects«, haben der demokratischen politischen Kultur bereits schweren Schaden zugefügt. Mit der Abnahme der Fähigkeiten

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seriöser journalistischer Medien, als »gatekeeper« zu fungieren und einer immer geringeren »media literacy« verschwimmen im öffentlichen Raum zunehmend die Grenzen zwischen Desinformation und Tatsachenwahrheiten (Bergmann 2020). »Das Gerücht über die Juden«, das Adorno (2001: 200) einst als Kern des Antisemitismus bezeichnete, sind dabei die fake news sui generis seit antiker Zeit, und erst recht sind sie es in der politischen Moderne, die bis in die Gegenwart reicht. Juden erscheinen oftmals, wie seit je in antisemitischen Konstruktionen, als die zu bekämpfenden, vermeintlichen Repräsentanten oder Drahtzieher medialer Kontrolle und der angeblichen Manipulationsmacht der »Lügenpresse«. So wirkt beispielsweise auch der immer wieder inszenierte Tabubruch derjenigen, die behaupten, »Israelkritik« werde unterdrückt. Mit der ideologischen Selbstinszenierung vermeintlich mutiger Brecher*innen eines Tabus, das es nicht gibt, wird dergestalt verstärkt auf sozialen Medien in Interaktion mit der allgemeinen medialen Öffentlichkeit ein klassisches Ressentiment über die Juden genährt, die angeblich heimlich Politik und öffentliche Meinung manipulierten respektive kontrollierten sowie mittels illegitimer Antisemitismusvorwürfe »Israelkritiker*innen« oder »Judenkritiker*innen« verfolgten und diskriminierten (Rensmann 2015). Welche Rolle bei der Tradierung und Ausbreitung von antisemitischer Ideologie heute genau die digitale Medienwelt spielt, wäre weiter zu erforschen (eine erste bahnbrechende Studie bietet Schwarz-Friesel 2019). Die Indikatoren sind zahlreich dafür, dass die neue digitale Kommunikationswelt die verstärkte Ausbreitung antisemitischer Ideologie im öffentlichen und halböffentlichen Raum – sowie entsprechende aggressive Transgressionen – mit befördert (Topor 2019; Hübscher 2020). Erfahrungen der Objekte des Antisemitismus – der Jüdinnen und Juden – werden dabei an den Rand gedrängt (zur Kritik vgl. Bernstein 2020; Botsch/Kopke 2012). Gehör finden vornehmlich vereinzelte «jüdische Kronzeugen«, die behaupten, die Juden seien selber schuld an der Judenfeindschaft oder der israelbezogene Antisemitismus sei nicht so schlimm (zur Kritik Rosenfeld 2006; Nelson 2019). Die Rekonstruktion einer Ideologiekritik des Antisemitismus zielt insofern auch auf eine Kritik der Gesellschaft, der Politik und der kommerziell restrukturierten, partiell globalisierten Öffentlichkeit. Diese ermöglicht es oder lässt es zu, dass antisemitische Ideologie – in ihren klassischen wie in ihren modernisierten Variationen – heute nahezu ungehemmt reproduziert, verbreitet und mobilisiert werden kann; in Deutschland, Europa, und global.

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Antisemitische Ideologie hat im 21. Jahrhundert längst wieder eine Rückkehr auf die globale politische Bühne gefunden, und dies betrifft nicht nur Staaten mit antisemitischer Staatsideologie – sondern auch die Demokratien im Post-Holocaust-Europa. Die Renaissance dieses Antisemitismus ist zugleich mit einer dritten globalen »Welle der Autokratisierung« (Lührmann/Lindberg 2019) verbunden, die mit der autoritär-nationalistischen Revolte ebenfalls in demokratischen Gesellschaften Resonanz hat. Die verbale Gewalt antisemitischer Ideologie findet in einem Zeitalter der globalen Re-Politisierung und Re-Ideologisierung von Antisemitismus als obsessive Weltdeutung, die in unterschiedlichen politischen Kontexten Widerhall findet, dabei zunehmend Ausdruck in judenfeindlicher Gewalt. Mit dieser Gefahr wachsen indes auch die Stimmen derjenigen, die suggerieren, die Zeit antisemitischer Ideologien sei vorbei. Die These des Verschwindens antisemitischer Ideologie ist insofern wie die These vom Verschwinden des Antisemitismus überhaupt, Teil des Problems, das einer ideologiekritischen Analyse bedürfte.

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Politischer Islam als globale Ideologie: Über »The Return of Islam« als Islamismus in einem »Global Jihad« für die Verwirklichung des »Dream of Former Glory« Bassam Tibi

Ideologen des »politischen Islam« verdunkeln, indem sie dreist behaupten, hierüber besteht keine wissenschaftliche Definition. Es bleibt »ein politischer Kampfbegriff« (vgl. NZZ-Bericht vom 3. August 2020: 5). Doch ist dieser eine globale Realität, die Gegenstand dieser Abhandlung ist. Darum weiche ich von der Methode ab, eine Hypothese zu präsentieren, die dann in einer Untersuchung mit dem Ziel getestet wird, sie zu verifizieren, beziehungsweise zu falsifizieren. Denn in diesem Text werden Ergebnisse einer bereits durchgeführten Forschung vorgelegt. Diese wurde in den USA in einer Buchtrilogie (Tibi 1998a; 2008; 2012a) beziehungsweise in Beiträgen zu Büchern, in denen der Befund von internationalen Großprojekten vorgelegt wird (Tibi in Marty/Appleby 1993a an der American Academy of Arts and Sciences und andere US-Projekte), veröffentlicht. Die Deutung des Gegenstandes, also des politischen Islam, ist oben in der Überschrift lapidar angegeben. In diesem Vorspann erkläre ich diese Überschrift, ehe ich dazu im ersten Teil übergehe, einleitend das Thema vorzustellen, den Stand der Forschung zu besprechen und im Sinne Karl Mannheims Wissenssoziologie meinen Zugang dazu als Muslim und Islamologe zu erläutern. Im Jahre 1976 veröffentlichte der Princeton Islam-Historiker Bernard Lewis seinen Essay »The Return of Islam« in der Zeitschrift Commentary (Lewis 1993). Welcher Islam? 38 Jahre hiernach schreibt Henry Kissinger (2014) in seinem Buch »World Order«, diese Rückkehr erfolge als Artikulation eines »dream of former glory« als politische Agenda. Im Artikel »ideologies« der Encyclopedia of Global Studies (Anheier/Juergensmeyer 2012: 860) erfahren wir, dass Islamismus eine »global ideology« sei, die einen »global jihad« für die Erfüllung eines »imaginary« dient, welcher Kissinger

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»dream« nennt. Manfred Steger, Autor des zitierten Enzyklopädie-Artikels schreibt »ideologies translate and articulate […] imaginary in compressed form as political doctrine«. Im selben Band 2 dieser »Encyclopedia« ist von mir der Artikel »Islam« enthalten, worin ich erkläre, worum es geht: »Contemporary Islamism […] claims a return of history to restore Islamic glory of the past« (Anheier/Juergensmeyer 2012: 967). Hieraus folgt die noch zu erläuternde Erkenntnis: Wir haben es weder mit dem »End of Ideology« (Bell 1960) noch mit dem »End of History« (Fukuyama 1992), sondern mit dem »Return of Islam« als einer »global ideology« und einer »Invention of Tradition« (Hobsbawm/Ranger 1983) zu tun, die das soeben angegebene Ziel verfolgt.

1. Einleitende Anmerkungen zum Gegenstand und zum involvierten Autor in einem »War of Ideas« zwischen dem »Enlightened Muslim Thought« und der Ideologie des politischen Islam Unser Thema ist auch Gegenstand der Forschung, ist also auch akademisch, wenn auch nicht im deutschen Sinne der »Weltfremdheit«, sondern im amerikanischen Verständnis der Verbindung von Wissenschaft zu »public policy«, das ich mir als syrischer Flüchtling aus Damaskus in den Jahren 1982 bis 2010 in Harvard, Princeton, Cornell und Yale angeeignet habe. Zudem kenne ich den anstehenden Gegenstand sowohl aus der Forschung als auch aus meiner Lebensgeschichte als Muslim der zwischen 1979 und 2009 in enger Tuchfühlung Islamisten als religiöse Fundamentalisten teilnehmend beobachtet und studiert hat. Mit diesem Hintergrund leite ich ein mit zwei Zitierungen: Erstens führe ich das Buch von Hubert Schleichert (1997) »Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren« an. Ich habe Islamisten in einer dreißigjährigen Erfahrung (1979–2009) in 22 islamischen Ländern von Indonesien in Südostasien, über alle Länder des Nahen Ostens bis hin zu Senegal in Westafrika als »True Believers« im Sinne des Buches von Eric Hoffer (1951) kennengelernt. Bei der Lektüre des Kapitels »Ideologie, Fanatismus und Argumentation« (Schleichert 1997: 63ff.) erinnere ich mich an meine Gespräche mit Islamisten als »true believers«, mit denen man nicht rational kommunizieren kann.

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Die zweite Zitierung ist aus dem bereits im Vorspann angeführten »Fundamentalism Project« der »American Academy of Arts and Sciences«, aus dem fünf Bände bei der University of Chicago Press hervorgingen, von denen ich Band 2 mitverfasste (Marty/Appleby 1993a). Die Direktoren des Projekts, Martin Marty und Scott Appleby schreiben im Vorwort zu Band 1: »Fundamentalists also fight […] the voices of fundamentalists are challenges for those who have held none- and counter-fundamentalist understandings of reason« (Marty/Appleby 1991: Xf.). Auf diese Zitierung folgen zwei wichtige Notizen. Erstens: Gerade an dieser Stelle der Beobachtung einer fehlenden Vernunft und Rationalität bei den Islamisten als religiöse Fundamentalisten muss die allerwichtigste Differenzierung in diesem Kapitel folgen, nämlich die zwischen »Islam and Islamism« (Tibi 2012a), die im Mittelpunkt meines soeben zitierten Yale-Buches steht. Nicht Islam und Muslimen, sondern Islamisten spreche ich Rationalität ab. Nicht nur »Islamists fight« (vgl. Marty/Appleby 1991: Xf.), auch wir dem Rationalismus von Ibn Ruschd/Averroes folgenden Anhänger des »Enlightened Muslim Thought« (Filali-Ansary 2003) kämpfen gegen den Islamismus in einem »War of Ideas« (Patterson/Gallagher 2009: Kapitel 11; Jasser 2010) und für »establishing social and political systems that promote individual freedoms, human rights and social justice« sowie für einen Islam »beyond political and cultural boundaries«, der »opens the way to a full respect for civic spheres in which Muslims can coexist as equal citizens with non-Muslims«. Dieser von Abdou Filali-Ansary (2003) beschriebene Islam leitet die Ideologiekritik am Islamismus. Die zweite Notiz betrifft meine Person gleichermaßen als Muslim sowie als Islamologen, der an ein Thema mitten in einer unerträglichen allgemeinen Links-Rechts-Polarisierung neben einer spezielleren, die vorliegende Thematik betreffende, Polarisierung zwischen Islamophilie und Islamophobie herangehen muss. Sehr früh beobachtete Siegfried Kohlhammer (1996) die Saat dieser Vergiftung in seinem Buch »Die Feinde und die Freunde des Islam«. Als junger Student las ich in Seminaren bei meinen Lehrern Theodor W. Adorno und Iring Fetscher, Karl Mannheims »Ideologie und Utopie«, hielt bei beiden Referate hierüber und lernte den Begriff der »Seinslage« als Bestimmung des Forschers. Meine Seinslage als ein rational denkender, für individuelle Menschenrechte eintretender, Muslim bestimmt meine Sicht bei dieser Untersuchung über den politischen Islam. Es folgen fünf Feststellungen, die den anstehenden Gegenstand, meine Perspektive, sowie meine Seinslage betreffen:

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1. In der Regel spreche ich hier sowie allgemein von »Islam« ohne definitiven Artikel. Islam genießt eine große Vielfalt; er ist aber eine Weltreligion sowie eine Weltzivilisation; beide lassen sich als eine Einheit in Vielfalt charakterisieren. »Islam« wurde in seiner Geschichte mehrfach als politische Legitimität eingesetzt, aber er war vor der Geburt des Islamismus weder eine Ideologie noch eine politische Religion. In seinem in der Überschrift und auf der ersten Seite zitierten Essay »The Return of Islam« (enthalten auch in Lewis 1993), beschreibt Lewis den politischen Islam als »powerful« in seiner Bestrebung »to overthrow and utterly destroy the old regime and to establish a new Islamic order in its place« (Lewis 1993: 154). Ich füge hinzu in meiner Kapazität als Wissenschaftler der Disziplin der Internationalen Beziehungen, dass der angestrebte »System Change« auch für die Weltordnung gilt. Dies gibt der Hauptideologe des politischen Islam Sayyid Qutb (1992) als politischen Anspruch auf eine islamische Weltordnung an. 2. Die Politisierung des Islam zu einem Islamismus fällt nicht vom Himmel, sondern erfolgt in einem Kontext. Dieser ist die »Krise der islamischen Zivilisation« (Tibi 1981). Nicht nur wird »Islam« politisiert, auch wird die Politik »religionisiert« (zum Begriff: Tibi 2007: Einleitung & Kapitel 3). Religionisierung schließt nicht nur die Artikulation von sozialen und wirtschaftlichen Belangen, sondern auch von Konflikten in religiös-islamischen Begriffen ein. 3. Die unter der zweiten Feststellung festgehalten Erscheinung wird global. Im Artikel »Ideologies« der vierbändigen »Encyclopedia of Global Studies« (Anheier/Juergensmeyer 2012: 859ff.) wird festgestellt: »Islamism represents one of the most potent religious globalisms of our time […] desired Islamization takes place in global space«. Deshalb sei der politische Islam »global jihad against the global kufr/unbelief«. »Unglauben« ist der islamische Begriff für den Westen. 4. In der Ideologie des Islamismus wird »Islam« zu einem politischen Faktor, aber dies als »Re-Islamisierung« zu benennen ist völlig falsch. Die Vorsilbe »Re-« unterstellt eine »De«-Islamisierung. Diese hat aber zu keinem Zeitpunkt stattgefunden; »Islam« als Religion und Kultur war immer all-präsent, verschwand nie. Was geschah, war aber eine oberflächliche Säkularisierung durch die Verbreitung säkularer westlicher Ideologien (zum Beispiel Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus), die jedoch ohne strukturelle Untermauerung unter den westlich gebildeten politischen Eliten grassierten. Die arabische Niederlage im Sechs-Tage-Krieg

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1967 delegitimierte diese säkularen Ideologien und ebnete den Weg für den Sieg des seit 1928 existierenden politischen Islam in den arabischen Ländern und von dort in den Rest der »Welt des Islam« (Tibi 1998a). Diese Aussagen sind auf den Sunni-Islam bezogen. Sunni-Muslime bilden 90% der ca. zwei Milliarden starken Umma des Islam. 5. Und nun komme ich zu meinem persönlichen Anteil an diesen Prozessen, die ich seit 1966 mit einflussreichen arabisch-sprachigen Veröffentlichungen in Beirut, Damaskus (vor dem faschistischen Putsch von 1970), Kairo, Bagdad und Tunis untersucht habe. Ich gehörte damals zu den »Voices« der säkularen arabischen Linken (Tibi 1969). Die in Washington D.C. erscheinende US-Zeitschrift The Middle East Journal schrieb im »Summer-1970«-Heft dies über mich: »Bassam Tibi is a prominent member of the New Left to whose leading journals […] he is a regular contributor. […] Tibi’s immunity from political pressures (he lives in self-imposed exile in Germany) makes him the most qualified among Arab intellectuals« (Sharabi 1970). Ich führe diese Zitierung als Dokumentation, nicht als »Selbstbeweihräucherung« wie manch meiner deutschen Feinde bösartig unterstellt, an. In jenem Jahr, 1970, kam die faschistische Ba’th-Partei durch einen Militärputsch schiitisch-alawitischer Offiziere zur Macht. Der Weg nach Damaskus war seitdem für mich versperrt. Ich entschied mich für eine akademische Laufbahn aus der die Islamologie hervorging, die diesem Kapitel zugrunde liegt. An dieser Stelle – nach den 5 Feststellungen – möchte ich Daniel Bell’s »The End of Ideology« (Bell 1960) anführen und mich auf das ca. 30 Jahre später erschienene »The End of History« von Francis Fukuyama (1992) mit folgender Verbindung beziehen: im Artikel »End of Ideology« in der dreibändigen »Encyclopedia of Political Theory« (Bevir 2010), werden beide Thesen aufeinander bezogen mit diesen Worten: »The end of ideology thesis was revived […] with Francis Fukuyama’s concept of the end of history«. Ich kenne beide Gelehrten persönlich, besitze ihre Bücher mit Widmung und habe mit ihnen auf gleicher Augenhöhe mit Widerspruch und Respekt über ihre Thesen in Bezug auf »Islam« und seine Politisierung zu einem politischen Islam mehrmals debattiert. Ich halte unvoreingenommen fest: Allein die »Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis« (Max Weber) einer globalen politischen Bewegung, die den Namen »Politischer Islam« trägt und von der entsprechenden globalen Ideologie getragen wird, belegt, dass wir heute weder von »End of Ideology«, noch von »End of History« reden können. Der politische Islam bringt eine globale Ideologie zum Ausdruck, die als »one of

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the most potent religious globalisms of our time« gilt (Anheier/Juergensmeyer 2012); diese Ideologie beansprucht »the return of history« zu verkörpern. In diesem Kapitel möchte ich sie vorstellen. Richtig stellt Henry Kissinger fest, politischer Islam sei nicht »glory«, sondern die Ideologie eines »prophetic absolutism«. Ich halte den Islamismus global für die drittwichtigste Ideologie des 20. Jahrhunderts nach Kommunismus und Faschismus. In diesem Sinne ist er auch der dritte, also »Der neue Totalitarismus« (Tibi 2004c), der im 21. Jahrhundert beide alten Totalitarismen überlebt. In der heutigen Weltpolitik rangiert die Ideologie des politischen Islam an erster Stelle. Nach einem unserer Gespräche in Harvard schenkte mir Daniel Bell mit Widmung seine Aufsatzsammlung »The Winding Passage« (1980). In der Einleitung hierzu spricht er von »my temperament«, das seinen Schreibstil prägt: »I do not write in the formal or abstract fashion of Parsons or Habermas […] my ultimate intentions are still theoretical« und so bin ich auch. Dies kläre ich für Leser, die hiermit nicht vertraut sein mögen und lege eine Schippe hierauf: das Argument meiner kulturellen Hybridität und Anerkennung von diversity. Ich fasse zusammen: Zwar gibt es keinen einheitlichen Islam, aber »Islam« ist eine Weltreligion, die gleichermaßen Einheit und Vielfalt vorweist; sie ist zugleich als Zivilisation binnendifferenziert. Darüber hinaus gilt eine demographische und politische Realität von zwei Milliarden Muslimen, die als Mehrheit in 57 Staaten und dazu überall auf der Welt auch als Minderheit, zum Beispiel mit ca. 35 Millionen Muslimen in Westeuropa, leben. Der populäre Ausdruck hierfür lautet »Welt des Islam«, fachlich nennt sie der US-amerikanische Historiker Marshall G.S. Hodgson »The Islamicate«.1 Die Muslime nennen ihre Entität Dār al-Islām (Haus des Islam). In Bezug auf den Gegenstand dieses Beitrages sowie des Buches, für das ich diese Untersuchung schreibe, stellt sich wiederholt die Frage: ist »Islam« (ich meide wieder den definitiven Artikel, weil es »den« Islam nicht gibt) auch eine politische Ideologie? Der Autor des vorliegenden Beitrages ist ein Muslim, der in seiner Kindheit und Jugend in Damaskus als ein sunnitischer Gläubiger sozialisiert worden ist. Eine weitere Sozialisation folgte im europäischen Denken als Schüler von Adorno, Horkheimer, Fetscher und Habermas in einem Prozess des

—————— 1 Diesen Begriff prägte Marshall G.S. Hodgson in seinem posthum veröffentlichten dreibändigen Werk: The Venture of Islam. Conscience and History in a World Civilization (vgl. Hodgson 1974: 56–60, Bd. 1 von 3).

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Wandels »vom Glauben zum Denken« in Frankfurt in den 1960er Jahren. Von 1982 bis 2010 lebte ich teils exklusiv, teils parallel in den USA (Reihenfolge: Harvard, Princeton, Ann Arbor, Berkeley, Stanford, Yale und Cornell) und durchlief hierbei eine dritte Sozialisation im US-Pragmatismus, weg von deutschem Wunschdenken hin zur »Feasability« Analyse des Realismus.2 Ab 1979 steht die Erforschung des politischen Islams, als Ideologie im Mittelpunkt meines Denkens und seit meinem 1981 erschienenen Buch »Krise des modernen Islams« (C.H.Beck) arbeite ich an der Grundlegung der neuen akademischen Disziplin »Islamologie« als Alternative zur Islamwissenschaft (Tibi 2017a). Mit diesem Hintergrund und mit der damit verbundenen wissenschaftlichen Biografie, gehe ich der Frage nach, ob aus dem Islam eine politische Ideologie hervorgegangen ist. Unser Gegenstand betrifft nach der Sachlage nicht nur allgemein die Wissenschaft beziehungsweise was US-amerikanische Sozialwissenschaftler »public policy« nennen, sondern spezifisch in Deutschland auch die Politik. Als Christian Wulff noch Bundespräsident war, machte er mit seiner Parole »Der Islam gehört zu Deutschland« große Schlagzeilen. Die amtierende Bundeskanzlerin übernahm diesen Spruch ohne Fragen zu stellen, vor allem nicht danach »welcher Islam?« – angesichts von Vielfalt und Fehlen eines einheitlichen Islam. 2019 kam der Widerspruch von CDU-Politiker Carsten Linnemann im Titel des von ihm herausgegebenen Buchs »Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland« (Linnemann/Bausback 2019). Die vorliegende Abhandlung geht der Frage nach »Ideologie« am Gegenstand des politischen Islam nach. Die zentrale Idee, dass ein einheitlicher Islam – im Gegensatz zu der Behauptung von Islamisten, orthodoxen Muslimen und sogar von Islamwissenschaftlern – nirgends in der Realität existiert, habe ich schon angeführt. Der zweite Gegenstand, den viele Deutsche scheinbar nicht verstehen, bezieht sich auf den Unterschied zwischen Islam als spirituellem Glauben und Islam als »fait social« im Sinne von Émile Durkheim. Bei dieser auf der Weber’schen »Objektivität« basierenden »sozialwissenschaftlichen Erkenntnis« spricht man auch vom »historischen Islam«. Die dritte Erkenntnis fußt auf der Unterscheidung von Islam und Islamismus. Islamisten sind im Sinne

—————— 2 Als hybrid sozilaisierter Muslim beanspruche ich für meine Lebensgeschichte, also auch für meine Autobiografie eine paradigmatische Relevanz. Diese stellte auch Michael Wolffsohn in seiner Laudatio »Deutschland, Deine Integration – Bassam Tibi als Paradigma« gehalten am 28. Oktober 2009 auf der Emeritierungsfeier in der Aula der Universität Göttingen fest. Meine Autobiografie, Von Damaskus in die Fremde, erscheint 2021.

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von Eric Hoffer (1951) »True believers«, also nicht solche Ideologen, die »den« Islam zynisch instrumentalisieren. In ihrer Ideologie religionisieren sie die Politik und die Konflikte in einem »War of ideas« (vgl. Patterson/ Gallagher 2009).3 Anders formuliert: Der Islamismus ist eine »religionisierte Ideologie«, deren Anhänger glauben; sie nimmt den Platz des Kommunismus nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein. Den neuen Konflikt nenne ich in meiner Forschung »den Zivilisationskonflikt«.4 Als Muslim und als Islam-Forscher wusste ich schon früh vom »politischen Islam« und von den Muslim-Brüdern, die ihn vertreten. Aber dieser Gegenstand gehörte bis 1979 nicht zu meinen Interessensschwerpunkten. Ich war, bin und bleibe ein islamischer Säkularist (arab. ilmani). Ein Wendepunkt erfolgte in Kairo im November 1979. Dort fand an der Ain Shams University »The First International Islamic Conference on Islam and Civilization« statt, an der ich als Teilnehmer mit dem Hauptreferat »Islam and Secularization« (Tibi 1980; 1982) mitwirkte. Das Organ der Muslim-Brüder »ad-Da’wa« griff die Konferenz und mich massiv an. Es wurde behauptet »Der Einsatz für eine Trennung zwischen Religion und Politik« sei eine westliche Idee, deren »Übertragung auf den Islam seine Vernichtung bedeutet«. Ich wurde wegen der in meinem Referat vorgetragenen Ideen auch physisch bedroht. Seit jenem November 1979 begleitet mich der Wunsch, die Ideologie, die hinter der in Kairo erfahrenen totalitären Aggressivität stand, wissenschaftlich zu erforschen und zu verstehen. Dies gehört zu meiner wissenschaftlichen Biografie. Ich wuchs in Damaskus als gläubiger Muslim auf, der im Islam eine Spiritualität, nicht Staatsordnung sah. Schon als Schüler war ich ein Säkularist, der Politik und Religion trennte. Politisch hing ich damals dem Panarabismus an, worüber ich Ende der 1960er Jahre im Geiste der Frankfurter Schule meine Dissertation anfertigte (Tibi 1971; US-Ausgabe 1997).5 Darin weise ich nach, dass selbst der Panarabismus aus der arabischen Rezeption der säkularen europäischen Idee der Nation hervorging. Die antiwestliche

—————— 3 Hier »idea« im Sinne von Weltanschauung. 4 Diesen Ansatz entfaltete ich im Projekt des Direktors der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Karl Kaiser (Spitzname damals für unser Fach als große Autorität »Kaiser der Internationalen Beziehungen«) nach dem Ende des Kalten Krieges (vgl. Kaiser/Maull 1995: 61–80). Zum Begriff »Zivilisationskonflikt« besonders Kaiser/Maull (1995: 78ff.). 5 Dieses Buch wird in den USA mit seiner dritten 1997-Ausgabe als Lehrbuch verwendet, in Deutschland dagegen gehört es zu den »Staubfängern« deutscher Bibliotheken, ist also in Vergessenheit geraten.

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Orientierung, die heute vom politischen Islam vertreten wird, gab es demnach nicht; nur politisch, nicht aber kulturell waren wir gegen Europa. Für meine Generation war der Islam unser Glaube, keine politische Idee. Den politischen Islam gab es erst seit 1928 (nach der Gründung der Bewegung der Muslimbrüder) nur am Rande; erst nach der arabischen Niederlage im Sechs-Tage-Krieg 1967 kommt es zu einem mächtigen Wandel von Spiritualität zur politischen Ideologie des Islamismus. Es ist daher falsch, wenn Susanne Schröter (2019) in ihrem Buch »Politischer Islam« diesen bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgt und nicht nur in Ibn Taimiya (1263–1328), sondern auch in den Revivalisten des 19. Jahrhunderts M. Abduh und J. al-Afghani seine Vordenker sieht. Es gilt hier die Frage zu stellen, was Religion begrifflich sei und wie diese eine Gestalt – hier der politische Islam als Islamismus – als Ideologie annimmt. Ich bin selber Muslim und in Damaskus islamisch in dem entsprechenden Wertesystem sozialisiert, aber auch durch mein Studium der Philosophie und Sozialwissenschaft in Deutschland bin ich europäisch sozialisiert und durch mein Doppelleben als Gastprofessor in den USA in den Jahren 1982–2010 amerikanisch geprägt. In dieser dreifachen Sozialisation und aus der Perspektive der hieraus erwachsenen kulturellen Hybridität habe ich den politischen Islam erforscht und ein umfassendes Werk hierüber vorgelegt, auf dem dieses Kapitel basiert. Meine zentralen vier Monografien hierüber habe ich als ein amerikanisch sozialisierter Muslim in den USA veröffentlicht (Tibi 1998a; 2001; 2012a; 2014). Die aus dieser Sozialisation resultierenden kulturellen Hybridität bestimmt nicht nur mein Leben, sondern auch mein wissenschaftliches Denken auch in diesem Beitrag. Viele Widersprüchlichkeiten gehören zu einer solchen Hybridität, die ich einleitend beispielhaft am Thema dieser Arbeit illustrieren möchte: wenn ich meine Analyse mit der Information einleite, dass sie auf Forschung über den politischen Islam in einem Zeitraum von vierzig Jahren (1980–2020) in 22 islamischen Ländern (von Indonesien in Südostasien über den Nahen Osten bis Westafrika) und auf Konzeptualisierung dieses vor Ort erwachsenen Wissens in zwei US-Projekten (The Fundamentalism Project der American Academy of Arts and Sciences 1988–19956 sowie The Culture Matters Research Project7 an der

—————— 6 Hieraus gingen fünf umfangreiche bei Chicago University Press veröffentlichte und von Martin Marty und Scott Appleby herausgegebene Bände hervor; ich bin Mitverfasser von Marty/Appleby 1993a. 7 Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes gaben Harrison und Kagan (2006) heraus.

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Fletcher School/Tufts University 2002–2006), dann gilt dies in den USA als »acknowledgement« also als normal, während ich in Deutschland der »Prahlerei« und der »Selbstprofilierung« bezichtigt werde, wenn ich dies tue. Kulturelle Hybridität macht das Leben in einer monokulturellen Wissenschaft unerträglich. Schon der Stil dieser Abhandlung macht den Unterschied, wofür ich um kulturelle Toleranz bitte. Die Norm der »diversity« gilt auch für die Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird; sie soll zum Bestandteil der Wissenschaftsfreiheit gehören. Mit der bereits skizzierten »Seinslage« (ein Begriff aus der Wissenssoziologie Karl Mannheims) und dem damit korrespondierenden »Erkenntnisinteresse« (Jürgen Habermas) gehe ich in den folgenden Abschnitten an meinen Gegenstand mit genau zu erläuternden Begriffen (Religion und Ideologie) sowie auch mit neuen Begriffen (Religionisierung der Konflikte und andere) heran. Ich habe hierbei die komplexe Erfahrung mit Lektoren, Lesern und auch mit wissenschaftlichen Autoren, die über diesen Gegenstand sehr fragwürdige Bücher (vgl. Schröter 2019; Koopmans 2020) schrieben, gemacht, dass die schon in diesem ersten Abschnitt erläuterte Komplexität schwer zu vermitteln ist: sowohl aus meinem Leben als Muslim, als auch aus den vielen Gesprächen in Harvard mit Wilfred C. Smith (vgl. Smith 1978), dem einstigen Direktor von Harvards Center for the Study of World Religions sowie aus Blochs Lektüre (Bloch 1960)8 weiß ich, dass Religion ein »Meaning« hat (das heißt Sinn stiften) und Spiritualität ist, also keine Ideologie. Zugleich kann aber hieraus eine politische Ideologie hervorgehen. Wie? In meinem Yale-Buch »Islamism and Islam« (Tibi 2012a) illustriere ich dies.9

—————— 8 Nach einer Begegnung mit Bloch in Frankfurt im November 1965 und der Lektüre seines mir zusagenden Buches (Bloch 1963), entdeckte ich den islamischen Rationalismus bzw. islamischen Humanismus (Tibi 2012c). Dieser gilt für mich als Alternative zum politischen Islam. 9 In den Büchern von Schröter (2019), Koopmans (2020) und anderen wird diese Yale-Monographie schlicht ignoriert.

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2. Politischer Islam ist ein binnen-differenzierter Islamismus, also eine Ideologie, die auf religiöser Grundlage die Politik und Konflikte global religionisiert Früher gab es einen Konsens hierüber, dass die Beendung eines Begriffes mit »-ismus« eine Ideologie indiziert. Aus dem Studium in Frankfurt entsinne ich mich an eine Briefstelle bei Marx, worin er an Engels auf Französisch schreibt, dass er zu seinem Wissen »je ne suit pas« kein »Marxist« sei. In diesem Sinne bin ich ein Muslim, aber kein Islamist. Islamische Offenbarung fand in den Jahren 610 bis 632 statt und endete als der Prophet Mohammad starb. Hiernach entstand ein »historischer Islam« als ein Imperium (Khalifat). In der wichtigsten Biografie über den Stifter der Religion des Islam von Maxime Rodinson, den ich zu meinen Mentoren zähle, steht: »Ein Jahrhundert nachdem […] Mohammed begonnen hatte, in seinem Hause ein Paar arme Mekkaner um sich zu versammeln, befahlen seine Nachfolger von den Ufern der Loire bis über den Indus hinaus, von Poitiers bis nach Samarkand.« (Rodinson 1975: 280f.)

Allein aus Platzgründen erspare ich den Lesern historische und theologische Einzelheiten über den Unterschied zwischen dem Schrift-Islam (Koran und Hadith) und der Realität, die ich hier mit dem Begriff »historischer Islam« erfasse. Rodinson nennt den frühen Islam und seine Welteroberung »ideologie mobilisatrice« (mobilisierende Ideologie) als »muselmanische Ideologie« (Rodinson 1975: 227) und bittet »die gläubigen Muselmanen, die diese Zeilen lesen mir meine Offenheit [zu] verzeihen«, weil sie darin »Meinungen lesen und finden, die für sie gleich Lästerungen gleichkommen« (Rodinson 1975: 209). Bis heute galt Kritik im Islam als »Lästerung«. Die obigen drei Zitate stammen aus Rodinsons 1961 in Paris erschienenen Mohammed-Biografie und sind der deutschen Übersetzung von 1975 entnommen. Im letzten davon antizipiert Rodinson eine Entwicklung, die heute 60 Jahre danach eine nicht mehr zu übergehende Realität ist. Der 2004 verstorbene Sorbonne Professor, russisch-jüdischer Herkunft war der allergrößte Islam-Forscher des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Opus Magnum »Islam et Capitalisme« ist marxistisch inspiriert und ist 1966 in Paris erschienen. Das Buch gilt als das Grundwerk der Religionssoziologie des Islam. 1986 gab ich bei Suhrkamp mit einem umfangreichen Essay »Rodinson und der Islam« eine deutsche Übersetzung dieses Buches heraus. Heute setzt der

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Zeitgeist Normen als Grenzen für die Kritik am Islam mit der Begründung: Respekt für andere Kulturen. Davon ist auch das Werk Rodinsons betroffen. Der indische, am Göttinger Max Planck Institut als Senior Fellow wirkende Muslim Irfan Ahmad schreibt verbindlich für alle in seinem Buch »Religion as Critique« auf Seite 26, man müsse die islamische Weltanschauung Allah »Himself is the source of all critque« respektieren. Nun bin ich auch ein Muslim und als Syrer ebenso wie Ahmad ein Asiate, also kein weißer Mann, folge aber der kritischen Theorie und ihrer von Menschen, nicht von Allah betriebenen Ideologiekritik. In diesem Kapitel beanspruche ich im Namen der Wissenschaftsfreiheit Geltung für meine Ideologiekritik am politischen Islam. Als kritisch denkender Muslim lehne ich Ahmads Einstufung der Reflexions-Philosophie Kants als »ethnisches Projekt«, sprich: Rassismus gegen die Muslime, ab. Auch als Muslim lehne ich Ahmads Austausch von Kant durch Maududi ab. Maududi war als führender Islamist das für Süd-Asien, was Qutb für die arabische Welt war. Mit dieser Einstellung betreibe ich als ein Mensch Ideologiekritik am politischen Islam im Geiste der Frankfurter Schule. Ich folge Jürgen Habermas, der »das Recht der Kritik als Prinzip der modernen Welt«, das von Menschen, nicht von Gott kommt, formuliert. Habermas führt aus, hierbei handele es sich »um die Struktur der Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts. […] Kant legt diesen reflexionsphilosophischen Ansatz seinen drei Kritiken zugrunde« (Habermas 1985: 27 und 29). Genau der Gegensatz hierzu steht in dem als islamistisch einzustufenden Buch »Religion as Critique«. Wenn inzwischen auch einige Sozialwissenschaftler religionskritische Äußerungen als »Lästerungen« und als »islamophob« oder »rassistisch« markieren, wird offensichtlich jene ideologische Selbstbeschreibung unhinterfragt übernommen (Cliteur/Herrenberg 2016; Cliteur 2019). Nutznießer dieser Zensur sind die Islamisten (vgl. Bruckner 2018: 39ff.). Die von Rodinson in seinem Mohammed-Buch 1961 antizipierte Entwicklung ist heute eine bedauernswerte Realität im akademischen Leben im Westen. Einige auf der Front der liberalen Demokratie stehende angesehene Wissenschaftler kritisieren diese Entwicklung. Zu Ihnen gehört der distinguierte niederländische an der Universität Leiden lehrende Jurist und Rechtsphilosoph Paul Cliteur (vgl. Cliteur/Herrenberg 2016). Zwei Jahre davor hatte der austro-neuseeländische Kulturantropologe Erich Kolig mit aufgeklärten Muslimen das Buch »Freedom of Speech and Islam« veröffentlicht. Paul Cliteur hat in seinem neuesten Buch schon im Titel vor einem geistigen »Theoterrorism versus Freedom of Speech« gewarnt (Cliteur 2019). Parallel

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zum Schreiben dieses Kapitels habe ich am Buch des afro-äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate (Asserate/Friese 2020) über Toleranz mitgearbeitet. Mein Kapitel in jenem Buch trägt die These im Titel: »Toleranz bedeutet nicht Selbstaufgabe und schließt ein, ›Nein‹ sagen zu können«. Mit dieser Einstellung sage ich also als Muslim »Nein« zur Anschauung, Gott sei die allerhöchste Quelle der Kritik. Auf dieser Grundlage betreibe ich im vorliegenden Kapitel als muslimischer Mensch Ideologiekritik im Sinne meiner jüdischen Lehrer Adorno und Horkheimer und trenne meinen islamischen Glauben von meinem auf der Vernunft basierenden Denken. Auch sage ich »Nein« zur Einstufung von Kant und seiner drei Kritiken. Kant war kein ethnischer Europäer gegen die Muslime, also kein Rassist, sondern ein Humanist. Als Muslim setze ich Kant auf dieselbe Stufe des islamischen Vernunftsphilosophen Ibn Ruschd. Die Kombination Kant-Ibn Ruschd ist für mich als Aufklärungs-Muslim die Alternative zum Islamismus Maududis und seines Anhängers Ahmad. Obwohl schon der frühe post-koranische Islam mit Politik und mit militärischer Eroberung viel zu tun hatte (vgl. Blankinship 1994), war Islam dennoch kein Islamismus, denn dieser ist neu. Die Geschichte des politischen Islam beginnt 1928 mit der Gründung der »Bewegung der Muslim-Brüder« in Ägypten (vgl. Mitchell 1969). Wie der Früh-Islam nach seiner Stiftung in Mekka sich in aller Welt verbreitete, ist diese MB-Bewegung heute eine global vernetzte Organisation deren Arm bis in das Kerngebiet der Europäischen Union reicht (vgl. Vidino 2010: 147ff.). In ihrer Frühgeschichte kannte diese Bewegung keinen Unterschied zwischen Gewalt und Arbeit in den Institutionen als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele. Muslim-Brüder haben beides gleichzeitig praktiziert. Eigentlich ist die Bezeichnung des politischen Islam als Islamismus nicht das Werk von westlichen »Islamophoben« wie linke europäische Partner im Bündnis »Islamo-Leftism« (vgl. Bruckner 2018: 39ff.) behaupten. Wer Originalquellen auf Arabisch lesen kann, der kann bei dem MB-Begründer Hasan al-Banna das arabische Wort al-Islamiyya (al-Banna 1990: 23)10 vernehmen, welches »Islamismus« heißt. Darunter versteht der Islamist al-Banna folgendes: »[H]öre zu mein Bruder […]. Islamismus hat eine große Bedeutung […]. Islamismus bringt unseren Glauben zum Ausdruck, daß der Islam ein System als Totalität (scha-

—————— 10 Auf den Seiten 163 und 190 ruft al-Banna (1990) »Oh Muslim-Bruder, der Islam ist Regierung«.

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ria) indiziert, die sämtliche Lebensbereiche regelt auf der Basis von Fatwa, die auch ein Regierungssystem vorschreibt.« (al-Banna 1990: 23)

Das ist der zentrale Inhalt des politischen Islam. Es geht nicht um das Kopftuch, wie Schröter (2019), die keine Arabisch-Kenntnisse besitzt, in ihrem Buch »Politischer Islam« behauptet. Selbst der nicht-professionelle Rezensent dieses Buches hat in der FAZ bemängelt, es »greift zu kurz«, den politischen Islam am »Kopftuch« zu fixieren (vgl. Flores 2020). Das ist schlicht falsch und ignorant. Die richtige begriffliche Definition des politischen Islam ist jene, die der Begründer dieser Bewegung gab und oben zitiert worden ist. Im Folgenden will ich in diesem Abschnitt zwei Sachverhalte erklären: die Verbindung von Gewalt und Extremismus im Islamismus, sowie, was der von mir eingeführte Begriff der »Religionisierung« bedeutet. Zuvor noch eine Anmerkung zur Quellenlage. Es ist Sachlichkeit und keine Arroganz zu sagen, Bücher, die ohne Arabisch-Kenntnisse geschrieben werden, sollten besser ignoriert werden. Im arabischen haben sich die Begriffe Islamiyun (Islamisten) für Vertreter der al-Islam al-siyasi (politischer Islam) etabliert.11 Autoritativ sind die Bücher über unser Thema der Kairoer al-Ahram-Center-Expertin Hala Mustafa (1992) und des Verfassungsrichters Mohammed S. al-Ashmawi (1989). Obwohl ursprünglich nur Buchausgabe einer Dissertation an der marokkanischen Universität zu Rabat, gilt heute in der arabischen Welt als zentrale Quelle das Buch von Mohammed Dharif (1992) »al-Islam al-siyasi«. Mich empört es, wenn manch Europäer narzisstisch unterstellend, besser als wir Muslime über den politischen Islam Bescheid zu wissen, jedoch ohne diese arabischen Originalquellen zu lesen, uns belehrt. Als die Bewegung der Muslim-Brüder 1928 gegründet wurde, haben Islamisten beides getan: Gewaltzuwendung bis zum Mord des Gegners und friedliche Arbeit in den Institutionen betrieben. Seit den Terroranschlägen von 9/11 gilt international diese strikte leider manichäische Unterscheidung innerhalb des Islamismus: zwischen den friedlichen Islamisten (Muslim-Brüder) und al-Qaida (vgl. Gunaratna 2002; Vidino 2006) – später auch ISIS (Islamic State for Iraq and Syria). Bei dieser Unterscheidung wird »Ideologie« völlig ausgelassen, weil der Fokus allein auf Gewalt, beziehungsweise auf den Verzicht darauf, gesetzt wird. Das ist falsch.

—————— 11 »Siyasi« bedeutet auf Arabisch »politisch«.

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Der einzige signifikante Unterschied für beide Richtungen bei der angesprochenen Binnendifferenzierung besteht darin, dass die friedlichen Islamisten institutionelle Partizipation akzeptieren – also vorläufig – auf Gewaltanwendung verzichten, während Djihadisten als »ungeduldige Revolutionäre« in Gewalt – verstanden als Djihadismus – das einzige Mittel zur Machteroberung sehen (vgl. Rubin 2003).12 Ich wiederhole, beide sind ideologisch einig über das Ziel: der islamische Staat – die Divergenz bezieht sich allein auf die Mittel zu diesem Ziel. Leider hat die Political Correctness-Zensur zur Verzerrung der Analyse und Sichtweise des Islamismus und seiner Ideologie geführt. 2005 habe ich dies als Gastreferent bei einer internen Konferenz der Rand Corporation in St. Monica/Cal. erlebt. Die staatlichen Geldgeber für das Projekt haben uns nicht nur die zu verwendenden Begrifflichkeiten, sondern auch vorgeschrieben, was wir sagen dürfen und worüber wir schweigen sollten. Das war 2005 Zensur. Auf diese Weise kann man weder mit Islamismus noch mit seiner Ideologie umgehen. In diesem Beitrag nehme ich mir alle Freiheiten. Ich beende die Erläuterung des ersten Sachverhalts, Gewalt und Extremismus mit diesen Anmerkungen: In den US-amerikanischen Fachzeitschriften hat sich der Ansatz der »Moderation Theory« bei der Einschätzung der institutionellen Ausrichtung des politischen Islam durchgesetzt (vgl. Schwedler 2011). Übrig bleibt »Terrorismus« (Hoffman 1998) als Tarn-Wort für Islamismus mit der Empfehlung, irgendwelche Referenz zum Islam und sei es als »politischer Islam« zu streichen. Die Begründung ist, dies wäre »offensive to Muslims as a minority«. In dem Buch »The other Muslims«, zu dessen Mitautoren ich gehöre, hat der US-Syrer Zuhdi Jasser protestiert und Westler aufgefordert, aufzuhören für uns zu sprechen (vgl. Jasser 2010). Ich fasse den ersten Sachverhalt zusammen: heute unterteilt sich der politische Islam in zwei unterschiedliche Richtungen: einerseits der friedliche Islamismus, den der deutsche Verfassungsschutz (2013) völlig falsch »den legalistischen Islam« nennt, weil er nur darauf achtet mit geltenden Gesetzen nicht in Konflikt zu geraten. Diese Problematik ist das Thema der 2014er-Neuausgabe des dritten Bandes meiner vier Monografien über den politischen Islam mit dem neuen Untertitel »From Jihadist to Institutional Islamism« (vgl. Tibi 2014). Andererseits gibt es den Gewalt-Islamismus den ich »jihadism« nenne: seine Ideologie untersuche ich in der soeben zitierten Monografie. Wie bereits ausgeführt bezieht sich der auf Binnendifferenzie-

—————— 12 »Friedliche Islamisten« sind keine Reformer, wie Barry Rubin falsch glaubt.

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rung bezogene Unterschied zwischen den angeführten zwei Richtungen des politischen Islam alleine auf die Mittel beziehungsweise Instrumente der Machtergreifung, nicht auf das Ziel und auf die Ideologie, die dieses legitimiert. Der Zweite noch zu erläuternde Sachverhalt ist die Religionisierung der Politik sowie der Konflikte. Konkret bedeutet dies das Vortragen der eigenen Ideologie in religiös-islamischen Begriffen und ebenso die Artikulation von Konflikten als solche zwischen »dem« Islam und seinen »Feinden«, also dem »Westen der Ungläubigen«, vor allem »der Juden und Zionisten« (Qutb 1989).13 In einer deutschsprachigen Monografie über die »Islamische Herausforderung« (Tibi 2007) erläutere ich diese »Religionisierung« in der Einleitung und dann in jedem der sechs Kapitel. Ich betone es immer wieder, dass die Einstufung dieser Religionisierung als Instrumentalisierung sachlich falsch ist. In den vergangenen vierzig Jahren sprach ich mit tausenden von Islamisten in 22 Ländern, ging mit ihnen zur Moschee und sie waren alle »true believers« im Sinne des gleichnamigen Buches von Eric Hoffer (1951); ich habe Islamisten als ehrlich gläubige, wenn auch schlecht informierte, Muslime, also nicht als Zyniker, erlebt.

3. Politischer Islam kombiniert Ideologie und politische Religion. Eine Realität und ihre begriffliche Klärung Unter Bezugnahme auf die eingangs angeführten drei Sozialisationsmuster meines Lebens als Sozialwissenschaftler und Philosoph beginne ich nach den einleitenden Anmerkungen und nach der Klärung des letzten Kapitels nun die dritte Stufe meiner »inquiry« in den politischen Islam als eine Ideologie. Die inhaltliche Bestimmung der verwendeten Begriffe war die wichtigste Lehre meines Studiums in Deutschland. In diesem Sinne ist die Erfüllung dieser Aufgabe der erste Schritt in dieser dritten Stufe. Zum Begriff »Ideologie« in seiner Anwendung auf »Islam« kommt ein zweiter hinzu, nämlich der der »politischen Religion«. Im Arabischen beziehungsweise in den anderen wichtigen islamischen Sprachen (unter anderem Farsi und Türkisch) gibt es kein Wort für »Ideolo-

—————— 13 »Unser Kampf gegen die Juden«. Dieses Pamphlet ist die Bibel des islamistischen Antisemitismus. Hiernach sind Juden die Strippenzieher in einer Verschwörung gegen den Islam. Mehr dazu mit Originalquellen in Kap. 3 in Tibi (2012a).

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gie«. Deswegen haben arabische Denker den europäischen, von Destutt de Tracy (Elements d’Ideologie, 1826) geprägten, Ideologie-Begriff als »al-ideologiyya« arabisiert; mit der neutralen Bedeutung »Ideenlehre«. 1980 war ich in Tunis am Centre d'Etudes et de Recherche Economiques et Sociales (C.E.R.E.S.) Zeuge einer Kontroverse hierüber zwischen den beiden arabischen führenden Philosophen Abdullah Laroui und Mohammed Lahbabi, beide Marokkaner, über die Verwendung des Ideologie-Begriffes im Arabischen und in Bezug auf den Islam (CERES 1980). Im selben Jahr erschien in Rabat/Marokko das arabische Buch »Mafhum al-ideologiyya« (»Der Begriff der Ideologie«) von Abdullah Laroui mit der entsprechenden Inhaltsfüllung des Begriffs (Laroui 1980). Sechs Jahre später, 1986, veröffentlichte ich in den USA, in der führenden Fachzeitschrift dieses Gebiets IJMES, meine Abhandlung »Islam and Modern European Ideologies« und stellte gleich zu Beginn auf der ersten Seite dieses IJMES-Artikels fest »Islam is a faith as well as a cultural commitment. Whether Islam also provides a framework of political ideology is still questionable« (Tibi 1986). Diese Abhandlung wurde autoritativ durch deren Aufnahme in das international anerkannte Handbuch »Islam and Globalization« (Akbarzadeh 2006). Für mich dienen bei der begrifflichen Klärung von »Ideologie« zwei Texte der Frankfurter Schule als die hilfreichsten; einmal der in dem vom Institut für Sozialforschung der Goethe-Universität Frankfurt herausgegebenen Band »Soziologischen Exkurse« enthaltene Text »Ideologie« (Institut für Sozialforschung 1956: 162–181) – ohne Autorangabe – und dann das Kapitel »Ideologie und Handeln« von Max Horkheimer im Instituts-Sammelband »Sociologica II« (Horkheimer/Adorno 1962: 38–47). Der erstgenannte Text enthält einen ideengeschichtlichen Überblick zum Begriff »Ideologie« von seiner Entstehung durch de Tracy bis hin zu Max Weber und Karl Mannheim, natürlich mit der Frankfurter Position als die meinige als einstiger Frankfurter Student. Die Klärung des Begriffes beginnt mit einer Auseinandersetzung mit dem Anspruch von Ideologien »auf Wahrheit«, jedoch ohne der Illusion zu verfallen »diese widerlegen« zu können. Denn Ideologien – wie der politische Islam – »erheben den Anspruch von Autonomie und Konsistenz überhaupt nicht« (Institut für Sozialforschung 1956: 169). Wenn etwa Islamisten ideologisch behaupten »al-Islam huwa al-hall« (Islam ist die Lösung),14 dann besteht kein Platz für eine Debatte, dies ist ein Glaube ohne Beweis. Aber

—————— 14 So der zurzeit einflussreichste Ideologe des Islamismus Yusuf al-Qaradawi in seiner Buchtrilogie (1980–88).

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der Frankfurter Beitrag über »Ideologie« öffnet die Möglichkeit »Ideologien« zu analysieren, um zu klären, welche Funktion diese erfüllen. Die ideologische Religionisierung der Politik im Islam hat die Funktion, eine Antwort auf die »doppelte Krise der islamischen Zivilisation« (vgl. Tibi 1981; 1985; 1987a) für die »Gläubigen« und für »Dispositionen in den Menschen« (Institut für Sozialforschung 1956: 169) zu bieten. Nach dem zitierten Frankfurter Beitrag ist Ideologie ein »objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein« (ebd.: 168). Diese Frankfurter Definition eignet sich bestens für eine Deutung des politischen Islam: er ist »wahr« und »notwendig« im Sinne einer »doppelten Krise«, die objektiv existiert und aus der er als »Antwort« (vgl. hierüber den Essay von 1991 zu der Neuausgabe von Tibi 1981) hervorgegangen ist; objektiv wahr ist auch das Scheitern aller säkularen Ideologien (vgl. Tibi 1986), was den Weg für eine religiöse Alternative öffnet. Ich komme später darauf zurück, halte hier aber vorerst fest: die islamistische »Antwort auf die doppelte Krise« spiegelt »falsches Bewußtsein« wider. Im zweiten Beitrag – von Max Horkheimer verfasst – wird eingangs beteuert, dass »unter dem Namen Ideologie heute nur selten ein prägnanter Begriff gedacht wird« (vgl. Horkheimer/Adorno 1962). »Heute« bezog sich damals auf das Erscheinungsjahr des zitierten zweiten Frankfurter Buches, also 1962. Heute, 2020, gilt diese Aussage unvermindert, ja sogar noch mehr. Auch in diesem Beitrag von Horkheimer wird die Position der Frankfurter Schule wiederholt, dass Ideologie »Schein«, also keine Wahrheit ist, dennoch ist Ideologie notwendig als Rekurs auf »geschichtlich durchschaubares Wissen« in der Form eines »bereits zum Schein herabgesunkenen Meinens im Gegensatz zur Wahrheit« (Horkheimer/Adorno 1962: 47). Der zitierte Satz Horkheimers ist die beste begriffliche Charakterisierung für die Ideologie des politischen Islam, die Realität des heutigen Elends der Welt des Islam mit der Brille der islamischen »Glory« des Mittelalters wahrnimmt, also falsch als Wahrnehmung des Westens als Verursacher des eigenen Elends. Der Iraner Daryush Shayegan diagnostizierte diese Ideologie im Titel seines Buches »Cultural Schizophrenia« (Shayegan 1992). Ich gehe nun über zum Begriff »politische Religion«, weil der politische Islam und seine politische »Ideologie« unter diesem Begriff subsumiert werden. Zunächst ist es erforderlich zu klären, was »Religion« sei und was der Begriff »politische Religion« meint. Im ersten Teil habe ich diese Problematik schon angeschnitten.

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Von Ernst Bloch und von seinem Buch über Thomas Müntzer habe ich gelernt, »Religion« als »Spiritualismus« zu verstehen und als »Umgang des ältesten Traumes […] als Ekstase des aufrechten Ganges und des […] Willen[s] zum Paradies« (Bloch 1960) zu begreifen. Als ich gläubiger Muslim in Damaskus war, lernte ich »Islam« in diesem Verständnis von Religion. Als Islam-Forscher habe ich eine Ausrichtung im Islam aus Schriften und aus teilnehmender Beobachtung erlebt, die Religion in diesem Bloch’schen Sinne praktiziert. Mein erstes Referat als Anfänger-Student bei Adorno war über Emile Durkheims Religionssoziologie. Hierbei lernte ich Religion als »fait social« zu konzeptualisieren. Ein zweites Referat unter Adornos Leitung geschrieben und in seinem Seminar gehalten, war über Karl Mannheims Ideologie und Wahrheit. Natürlich mit Adorno bieten Durkheim und Mannheim den Stern, der meine Analyse leitet. Als ich ein junger Wissenschaftler war, musste ich in diesem Sinne mich mit der Realität konfrontieren, dass »Religion«, hier »Islam«, auch zu einer politischen Ideologie werden kann. 1986 veröffentlichte ich in einer US-Zeitschrift die bereits zitierte Arbeit, in der ich mich mit dieser Erkenntnis auseinandersetzte: Islam and Modern European Ideologies (vgl. Tibi 1986). Achtzehn Jahre danach veröffentlichte ich auf Deutsch eine umfangreiche Abhandlung mit der Frage »Ist der Islam eine politische Religion?« (Tibi 2004a). Übersetzt in die Sprache des vorliegenden Bandes müsste die Frage lauten: »Ist Islam eine politische Ideologie?«. Eine Antwort hierauf zu geben ist das zentrale Anliegen dieses Kapitels.15 Man sieht, hier haben wir es schon mit unterschiedlichen Islamen zu tun. Hiermit korrespondiert die wiederholt gestellte Frage: ist der politische Islam als Ideologie auch eine politische Religion? Im deutschsprachigen Europa habe ich an drei Projekten über »politische Religion« als Ideologie mitgewirkt.16 Diese wurden an den Universitäten Dresden (2005), Frankfurt (2005) und ein Jahr zuvor in Basel (2004) durchgeführt. Diese waren respektable und beachtenswerte Versuche, politische Ideologien mit einem Religionscharakter zu verstehen und zu konzeptualisieren. Aber der Unterschied zwischen Europa und den USA schlägt sich auch nieder in der Wissenschaft:

—————— 15 Obwohl die Literatur über den politischen Islam in vielen Sprachen vom Umfang her kaum noch überschaubar ist, können gut informierte Wissenschaftler guten Gewissens nur wenige Monografien hierüber als kompetent einstufen; ich nenne positiv nun zwei hiervon: Ayubi (1991) (ein Klassiker) und Milton-Edwards (2004). 16 Die drei Buchpublikationen, die daraus hervorgegangen sind: Tibi (2004b), Besier/Lübbe (2005) und schließlich Alkier/Deuser (2005).

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Europa kann bei einem Wettbewerb mit den USA bei wissenschaftlichen Projekten nicht mithalten. Für unser Thema, Religion als politische Ideologie, ist das »Fundamentalism Project«, das jahrelang mit einem Millionen-Etat von einem ca. 40 Wissenschaftler umfassenden Forscher-Team an der American Academy of Arts and Sciences (1988–1995) durchgeführt wurde, international richtungsweisend. Ich habe einleitend zwei der hieraus hervorgegangenen fünf Bände – verlegt von The University of Chicago Press (pro Band ca. 900 Seiten) – bereits zitiert (vgl. Marty/Appleby 1993a,b). Ich war Mitglied dieses Projekts und ich möchte folgende Schande für die deutsche Universität nicht verschweigen: als der Biologie-Professor von Figura sein Amt als Präsident der Universität Göttingen antrat, rief er die Professoren des Fachbereichs Soziwalwissenschaft zu einer Arbeitssitzung, bei der sie ihm individuell über ihre Forschung informieren sollten. Ich präsentierte meine Forschung in jenem Projekt, worauf der Universitätspräsident, der keine Bücher veröffentlicht hat und verächtlich einen Geschichtsprofessor mit der Aussage öffentlich zitiert »ich schreibe Bücher keine Anträge auf Drittmittel«, prompt fragte »Wie viele Dritt-Forschungsmittel haben Sie nach Göttingen gebracht?«. Auf meine Erklärung, die Abrechnung meiner Forschungsausgaben sei in den USA erfolgt, reagierte er verächtlich: »das ist keine Forschung, wenn keine Drittmittel nach Göttingen zugeflossen sind«. Mir verschlug es die Sprache, ich schwieg und verließ den Raum. Ich werde in einem Abschnitt dieses Kapitels ausführen, wie international richtungsweisend die Beleuchtung der Entwicklung der Religion zu einem religiösen Fundamentalismus als eine politische Ideologie ist. »Fundamentalismus« ist ein analytisch-wissenschaftlicher Begriff, kein Schimpfwort, so wie es in Deutschland ist. Fundamentalismus ist die Ideologie einer politischen Religion (vgl. Tibi 2004b; Alkier/Deuser 2005; Besier/Lübbe 2005). Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich Erkenntnisse auf der Basis meiner Team-Forschung in den oben angeführten internationalen Projekten mit signifikanten Buchpublikationen; im Folgenden werden diese Erkenntnisse und Forschungsergebnisse vorgetragen: Politischer Islam ist eine politische Ideologie, aber diese Aussage gilt nicht für die Religion des Islam (vgl. Tibi 2004a). Daher stimme ich mit meinem Vorbild und Mentor bei der Grundlegung der Islamologie, Maxime Rodinson, hier nicht überein, wenn er den Begriff Ideologie schon auf die islamische Religionsstiftung anwendet. Dies tut er, wenn er in seiner schon

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zitierten Mohammed-Biografie (Rodinson 1975) den Propheten Mohammed als »Begründer einer Ideologie« (Rodinson 1975: 279) und seine Botschaft als »die muselmanische Ideologie […] [als] eine arabische Religion für die Araber« (ebd.: 227) einstuft. Ich denke, dies ist falsch. Islamismus, Integrismus, Fundamentalismus, Salafismus sind nur andere Begriffe für die Ideologie (vgl. Marty/Appleby 1993a), die auch im Arabischen al-Islam al-siyasi (politischer Islam) heißt. Politische Religion ist ein Begriff, der irreführen kann, wenn er auf säkulare Ideologien, wie etwa auf Nationalsozialismus und auf Marxismus-Leninismus, übertragen wird, wie dies bei Besier und Lübbe (2005) geschieht. Ein junges Beispiel für diese Begriffserweiterung auf Nicht-Religionen ist die Einführung der Öko-Ideologie als Öko-Religion. Mir fällt es schwer nachzuvollziehen, dass der Glaube solcher säkularer Ideologien dem authentisch-religiösen Glauben ähnelt. Kurzum, ich beschränke meine Verwendung von »politische Religion« auf die Ideologien wirklicher Religionen mit einem Gottesglauben, das heißt auf den religiösen Fundamentalismus. In der Ideologie des politischen Islam werden alle Probleme der Krise der islamischen Zivilisation (vgl. Tibi 1981; 1985; 1987a) in Kultur, Politik, Ökonomie etc. religionisiert. Konkret bedeutet diese, dass Islamisten alle Probleme und Konfliktpotenziale ihrer Gesellschaften in einer Situation der Krise in religiösen Begriffen perzipieren und als solche begreifen, also sie religionisieren und hieran glauben.

4. Zentrale Inhalte der Ideologie des politischen Islam in einer »Invention of Tradition« Es »greift« nicht nur »zu kurz« (vgl. Flores 2020), wenn Susanne Schröter in ihrem internationale Forschungsergebnisse völlig ignorierenden Buch »Politischer Islam« (2019) diese Erscheinung am Kopftuch fixiert. Dies ist auch schlicht falsch. Ich bestreite nicht die Instrumentalisierung des Kopftuchs durch den politischen Islam, aber dieses ist nicht mehr als ein »Symbol« niemals aber der Inhalt dieses Phänomens. Ich habe diesen Abschnitt mit dieser kritischen Bemerkung deshalb eingeleitet, weil ich hierdurch pointiert auf die wirklichen Inhalte des politischen Islam hinweisen kann. Nach 32-jahrelanger Forschung über den politische Islam sowohl in 22 islamischen Ländern (1980–2012) sowie in

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Harvard, Princeton Yale und Cornell habe ich 2012 bei Yale University Press das Buch »Islamism and Islam« veröffentlicht (Tibi 2012a). Darin halte ich sechs Säulen als zentrale Inhalte des politischen Islam fest. In diesem Beitrag kann und will ich nicht das zitierte Yale-Buch zusammenfassen. Ich wähle selektiv zwei der sechs Inhalte aus, um sie herauszuheben. Diese sind: 1. »Islamism and the political order« (Kap. 2 des Yale-Buches) 2. »Islamism and Law: Schari’atization« (Kap. 6) Wer Arabisch lesen kann, weiß wie zentral beide in der Ideologie des politischen Islam sind. Bereits der Begründer des politischen Islam, Hasan al-Banna, fasst seine politische Ideologie mit der Einheit der zwei Vokabeln »Din wa daula« zusammen. »Din« bedeutet Religion und kommt im Koran oft vor (so im Vers 19 von Sure 3), aber der Begriff »Daula« (Staat), taucht im Koran nicht auf, kommt im Text kein einziges Mal vor, wohl aber in der islamistischen Ideologie. In der politischen Ideologie des Islamismus wird der der islamischen Theologie unbekannte Begriff vom »Staat« an einen Begriff gebunden, der nur und bruchstückhaft ein einziges Mal im Koran vorkommt: »Schari’a«. Darum entsteht die Kombination »Daulat al-shari’a« (der Schari’a-Staat) als Bezeichnung für eine politische Ordnung, die den höchsten Rang in der islamistischen politischen Ideologie annimmt (vgl. Kap. 2 in Tibi 2012a). In dem Text »ideology« als »Part III« des besten westlichen Buches über die Muslim-Brüder zitiert Richard Mitchell einen weiteren Muslim-Brüder-Begriff der islamistischen Ideologie »al-nizam al-Islami« (das islamische System) als einen weiteren Begriff für die politische Ordnung, die die Islamisten anstreben (vgl. Mitchell 1969). In einem anderen Buch derselben Kategorie ausgezeichneter Islam-Forschung von W.C. Smith (1978) lernen wir »the term nizam […] [d]oes not occur in the Qur’an, nor indeed does any word form this root« (Smith 1978: 175f.). Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen? Ehe ich dies tue, gehe ich auf den zweiten inhaltlichen, oben angegebenen, Schwerpunkt in der politischen Ideologie des Islamismus ein: Schari’a. Diese Vokabel kommt im Koran nur einmal in Sure al-djathia, 45, Vers 18, vor; in der Übersetzung des Tübinger Islamwissenschaftlers Rudi Paret lautet die Stelle »Wir haben dich in der Angelegenheit auf eine Schari’a festgelegt, so folge« (Paret 1979: 352). Unter aufgeklärten Muslimen wird das arabische Wort »bi al-amr« (Angelegenheit) als islamische Moralität gedeutet. Islamisten machen daraus »Recht« im Allgemeinen, besonders Staats- und Verfassungsrecht. Das ist falsch. In meinem Yale-Buch (Anm. 39) ist ein

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Kap. 6 enthalten, in dem ich diese islamistische Koran-Schari’a-Fehldeutung als eine »Shari’atization« identifiziere. Der islamische Aufklärer Fazlur Rahman betont richtig, Shari’a »is not strictly speaking law«, weil sie »is basically concerned with morality« (Rahman 1982: 29 und 32). Meine oben angekündigte Schlussfolgerung lautet nun: Islamismus als politische Ideologie ist nicht Theologie, sondern das, was Eric Hobsbawm »Invention of Tradition« (Hobsbawm/Ranger 1983) genannt hat. Diese Erfindung der Tradition gehört zu den zentralen Inhalten des politischen Islam. Diese Einschätzung – hier als Schlussfolgerung vorgetragen – bedarf der Explikation und der Vertiefung. Dies tue ich auf drei Stufen: Erst erkläre ich, was Eric Hobsbawm mit »Invention of Tradition« meint, dann begründe ich warum dieser Begriff bestens dafür geeignet ist, die islamistische Ideologie zu konzeptualisieren und drittens konfrontiere ich Susanne Schröters Buch »Politischer Islam« und die deutsche, falsche, Adressierung des Islamismus als »Salafismus« mit meiner auf Hobsbawm basierenden Begrifflichkeit. Allgemeinbegrifflich schreibt Hobsbawm »Inventing traditions […] is essentially a process of formalization and ritualization, characterized by reference to the past, if only by imposing repetition […]. Tradition is deliberately invented and constructed«. Hier stehen »symbolism and ritual« im Mittelpunkt. Ich habe in meinem Leben, das reich an Erfahrungen mit Islamisten ist, keine bessere Beschreibung dessen, was diese Menschen tun beziehungsweise glauben zu tun, gelesen als diese: sie glauben auf dem Boden der Tradition zu stehen, obwohl sie sie faktisch voll verlassen. Der Standardsatz beziehungsweise das Bekenntnis der Islamisten lautet, sie stünden in der Tradition des Medina-Staates der Schari’a auf allen Ebenen. Faktisch hat ihr »Schari’a-Staat« (vgl. Tibi 2013) gar nicht mit dem von Mohammed 622 errichteten »Gemeinwesen der Umma« irgendwie zu tun. Der Prophet hat nie den Begriff »daula« (Staat) verwendet und shari’a kommt ein einziges Mal im Koran (vgl. oben) in der Bedeutung von Moralität vor, nicht von Verfassung, wie Islamisten falsch behaupten. Sehr eindrucksvoll beschreibt Hobsbawm die »practices« der Ideologen, die Tradition erfinden. Diese sind »normally governed by […] rules and of a ritual or symbolic nature«. Wenn ich Islamisten in hunderten von Interviews nach Begründungen fragte, bekam ich stets, was Hobsbawm so beschreibt: »repetition, which automatically implies continuity with the past«. Dies tun Islamisten bei ihrer »invention of tradition«, obwohl sie nicht nur wenig mit der

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islamischen Vergangenheit als »past« zu tun haben, sondern auch sehr wenig darüber wissen. Ich kann dies empirisch belegen. Nicht nur folge ich Hobsbawm, ich entwickle auch meine eigene zusätzliche Begrifflichkeit über den Umgang der Islamisten mit der islamischen Tradition. In meinem Buch Islamism and Islam (Tibi 2012a) ist Kapitel 7 über »Islamism, Purity and Authenticity« enthalten, in dem ich meine Hausaufgaben mache. Islamisten verwenden westliche Begriffe immens, aber fanatisch betonen sie ihre asala (Authentizität) und ihren Purismus. Ein Beispiel: der zentrale Denker des politischen Islam Sayyid Qutb übernimmt wortwörtlich die marxistische Formel der Weltrevolution, präsentiert sie aber als islamische thawra (Revolution) als »djihad alami« (Welt-Djihad) zur Errichtung der islamischen Weltordnung (Qutb 1992: 169–173). Auch übernimmt er Lenins Partei-Theorie und deutet sie als djihad. Wenn dies keine »invention of tradition« ist, was ist sie dann? Salafismus? Salaf bedeutet im Islam »Vorfahre«. Für alle Gläubigen im Islam ist Mohammed der Salaf. Sind also alle Muslime Terroristen, weil Deutsche hierfür falsch den Begriff »Salafismus« verwenden? Ist das politisch korrekt? Ich finde, dass das als Autorität über den politischen Islam anerkannte Buch der Direktorin von »Global Islam«, Schröter, in dieses Fahrwasser der Verwechslung von Tradition und »Invention of Tradition« gerät; sie vermischt drei Richtungen im Islam der neueren Geschichte grob falsch: Ibn Abd al-Wahhab (1703–1787) war ein Traditionalist, Afghani und Abduh des 19. Jahrhunderts waren Erneuerer/Revivalisten und Qaradawi unserer Zeit ist ein Fundamentalist. Sie werden willkürlich im Topf des politischen Islam vereint. Und dann folgt ein Skandal der deutschen Islam-Forschung: Der mittelalterliche Vertreter der Islam-Fiqh-Orthodoxie Ibn Taimiyya (1263– 1328) wird zur geistigen Quelle dieser »Islamisten«. Mir verschlägt es die Sprache und ich versage jeden Kommentar, gehe über zum nächsten Abschnitt bis auf diese Lektüre-Empfehlung: In meiner Ideengeschichte des Islam, meinem Hauptwerk, sind einzelne Kapitel über diese Denker enthalten, die als Originalquellen referiert werden, also richtig! Das Buch trägt den Titel »Der wahre Imam. Islam von Mohammed bis zur Gegenwart« (Tibi 1996).

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5. Weder Reform-Islam noch eine Befreiungstheologie ist der politische Islam – er ist der neue Totalitarismus und eine Ideologie des »new antisemitism« Ich möchte diesen Abschnitt mit dieser Information einleiten: Mit dem austro-neuseeländischen Kollegen Prof. Erich Kolig (Univerity of Otago) habe ich 2014 das oben bereits zitierte Buch »Freedom of Speech and Islam« publiziert, mit dessen Agenda ich diesen Abschnitt einleiten möchte, weil es heute riskant geworden ist, die darin behandelte Thematik frei anzusprechen. In meinem Kapitel »The Instrumental Accusation of Islamophobia« gehe ich auf die islamistische »Strategy for Curtailing the freedom of speech« ein (Tibi/Hasche 2014). In Habermas‘ Buch »Der philosophische Diskurs der Moderne« wird »Recht der Kritik« (Habermas 1985: 27) zu den größten Errungenschaften der Aufklärung gezählt. Heute wird in Deutschland nicht mehr zwischen Religionskritik und islamfeindlicher Propaganda unterschieden. Das ist Ignoranz und auch eine Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit, die ich schon oben im 2. Teil problematisiert habe. Im Islam nennen Muslime Ignoranz auf Arabisch »djahl«; wer hiervon befallen ist, wird so gering geschätzt als djahil (ignorant) und fast auf dieselbe Stufe wie kafir (ungläubig) gesetzt. Ich bin Muslim und schreibe ohne Zensur und informiert, also ohne djahl, also den Werten eines aufgeklärtem Islam folgend. Ich habe den 11. September 2001 in der Hauptstadt Usbekistans in Taschkent zur Kenntnis genommen, als ich dort auf Einladung der usbekischen Regierung Vorlesungen für höhere Beamte über den politischen Islam hielt. Anschließend flog ich nach einem Zwischenaufenthalt in Deutschland noch im September 2001 in die USA, wo ich die Folgen von 9/11 vor Ort beobachtete. Mit diesem Hintergrund schrieb ich mein Buch »Der neue Totalitarismus« (Tibi 2004c) über den politischen Islam, dessen zentrale These diesem Abschnitt zugrunde liegt. Die begriffliche Anleihe bei Hannah Arendt ist deutlich; in ihrem Buch macht sie in zwei verschiedenen Vorworten (von 1950 und 1967) sowie im gesamten »Part One« ihres Buches deutlich: Antisemitismus ist ein Bestandteil jedes Totalitarismus,17 der Aufruf

—————— 17 Ich ziehe die Verwendung des Originals vor: Arendt (1976) mit der entscheidenden Aussage im »Preface to Part one« über den Antisemitismus »religious jew hatred« und »antisemitism« sind »obviously not the same«, letzteres ist eine »Genozid-Ideologie«.

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zum Kampf gegen Juden steht im Zentrum der Ideologie des politischen Islam (vgl. Qutb 1989) und ist deshalb totalitär. Die Unterscheidung Hannah Arendts zwischen »religious jew-hatred« (Judenhaß) und Antisemitismus so wie sie in Arendt (1976) nachgewiesen wird, ist wichtig für die Beleuchtung des Schwerpunkts dieses Abschnitts, also »the new antisemitism« (Bernard Lewis) des politischen Islam. Hannah Arendt hatte mit diesem Thema zwar nichts zu tun, aber ihr Denken ist hierfür richtungsweisend. Zunächst muss ich – knapp – historisch weit ausholen. Juden im Islam ist ein komplexes Thema. Es ist falsch, wenn bestimmte Europäer das islamische Spanien als Vorbild präsentieren. Wir befinden uns im glücklichen Zustand, eine Monografie hierüber von einem unermesslichen Wert – verfasst vom jüdischen Princeton-Islam-Historiker Bernard Lewis (1916–2018) unter dem Titel »The Jews of Islam« (Lewis 1987) zu haben. Darin zeigt Lewis, dass mittelalterliche Juden im Islam es besser als im christlichen Europa hatten, mit der Alternative »Tod (unter Christen) oder Unterwerfung« unter dem Islam (Lewis 1987: 19). Es gab »Judenhaß« im Islam aber niemals einen Antisemitismus. Judenhaß basiert auf Vorurteil, aber jeder Antisemitismus ist eine Genozid-Ideologie – eine Sicht von Arendt und Lewis, die ich übernehme. Lewis spricht sogar von einer »jüdisch-islamischen Symbiose« (Lewis 1987: 170), die jedoch »nun zu Ende gegangen ist«. Warum? Weil die Ideologie des politischen Islam den »new antisemitism« (Lewis 2006) im nahöstlichen Teil des »Islamicate«, eingeführt hat. Über diese Thematik habe ich drei Jahre lang am Center for Advanced Holocaust Studies (CAHS) am US-Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. – sowie in der Welt des Islam selbst – geforscht. Im Ursprung ist Antisemitismus nicht islamisch, aber er wird in der Ideologie des politischen Islam islamisiert. Dies weise ich mit vielen Belegen in meinem Kapitel zum Buch des jüdischen US-Historikers Jeffrey Herf nach (Tibi 2017b). Auch an der Yale Initiative for the Study of Antisemitsm (YISA) habe ich das Kapitel 3 »Islamism and Antisemitism« zu meinem Buch über den politischen Islam geschrieben (Tibi 2012a). Weil ich als Schüler von Adorno und Horkheimer drei Jahre am Center for Holocaust Studies am Holocaust Museum (2007–2010) verbracht habe und mich dem Kampf gegen jeden Antisemitismus verpflichtet fühle, muss ich hier als Freund von Bernard Lewis mit Hilfe eines anderen jüdischen Freunds Michael Wolffsohn ein deutsches Tabu über »Flüchtlinge« brechen.

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Der Antisemitismus-Forscher des Landes Wolfgang Benz schreibt lapidar »es gibt keinen neuen Antisemitismus in Deutschland«. Die FAZ zitiert weiter, Benz halte es für »schrecklich«, wenn »man mit dem Finger auf andere zeigt« – so glaubt er um »einfach von hausgemachten Antisemitismus abzulenken« (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. April 2018). In meiner Rede in Wien am Gedenktag der Opfer des Antisemitismus vor dem österreichischen Parlament habe ich am dritten Mai 2019 diesen deutschen Zeitgeist kritisiert. In der Geschichte seiner deutsch-jüdischen Familie schreibt Wolffsohn über den »judenfeindlichen Islam« und berichtet, wie seine Enkel als Juden »von muslimischen Schülern oder deren Eltern bedroht sind«. Heute ist »Islam demographisch millionenfach in Deutschland präsent«; dies könne für Juden in Deutschland »möglicherweise lebensgefährlich werden« (Wolffsohn 2018: 408 und 417). Das ist der politische Islam! Nach Deutschland importiert. Ich erlebe es als Tabu hierüber zu reden und zu schreiben, dennoch spreche ich es aus: Der politische Islam ist zugleich die Ideologie des »neuen Totalitarismus« (Tibi 2004c) und seines »new Antisemitism« (Tibi 2017b).

6. Politischer Islam indiziert als Ideologie die objektive »Verschränkung des Wahren und Unwahren« in einem »falschen Bewusstsein«; er fällt nicht vom Himmel: Die doppelte Krise Die Erforschung des politischen Islam gehört zu meinem Leben gleichermaßen als Wissenschaftler und als Muslim. Nach meiner Rückkehr aus Kairo 1979 nach der oben erzählten bedrohlichen Begegnung mit den Vertretern des politischen Islam begann ich meine Arbeit an dem 1981 erschienenen Buch »Die Krise des modernen Islam«. Diese Schrift wurde Band I meiner Buch-Trilogie zur Grundlegung der Islamologie, an der ich in den gesamten 1980er Jahren arbeitete (Tibi 1981; 1985; 1987a). Jede Wissenschaftsdisziplin hat einen Gegenstand. Die von mir gegründete Islamologie (Tibi 2017a) hat in der Krise der islamischen Zivilisation als ein »Islamicate« (vgl. Hodgson 1974) und in den Konfliktpotentialen, die hieraus hervortreten, ihren Gegenstand. Das ist der globalhistorische Kontext des politischen Islam gleichermaßen als eine globale politische Ideologie und als ebenso

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globale politische Bewegung, die diese verkörpert (vgl. Anheier/Juergensmeyer 2012: 859–864). Als ich genau zehn Jahre nach dem Erst-Erscheinen von »Krise des modernen Islam« die ursprünglich 1981 bei C.H.Beck nun 1991 bei Suhrkamp als Neuausgabe veröffentlichte, fügte ich dem Buch einen umfangreichen Essay (S. 202 bis 279) hinzu, deren Überschrift so lautet: »Islamischer Fundamentalismus als Antwort auf die doppelte Krise«. Diese Antwort ist eine Ideologie, in der nach dem Vorverständnis der Frankfurter Schule (vgl. Abschnitt III) eine »Verschränkung vom Wahren und Unwahren in einem falschen Bewusstsein« (vgl. Überschrift) zum Ausdruck kommt. Die begriffliche Einordnung dieser Ideologie ist »religiöser Fundamentalismus« (vgl. Marty/Appleby 1993a). In dieser Ideologie verschränkt sich die reale doppelte Krise der islamischen Zivilisation als Wahres mit ihrer verzerrten Wahrnehmung durch die Betroffenen als Unwahres. Die Krise ist doppelt; sie ist eine Sinnkrise im Zusammenprallen einer unreformierten mittelalterlichen islamischen Religion beziehungsweise ihrer Weltbilder mit der kulturellen Moderne einerseits, und gleichzeitig ist sie eine strukturelle Krise andererseits, die aus der Stellung der Muslime und ihrer Gesellschaften als »underdogs« in der Welthierarchie resultiert, im Kontrast zu der vergangenen »Glory« der Muslime als sie im Mittelalter die Welt dominierten (vgl. Kennedy 2004; Kissinger 2014; Abschnitt 1 dieses Kapitels). Globalhistorisch lässt sich die Ideologie des politischen Islam in das Phänomen einordnen, das der einstige Oxford-Gelehrte des Fachs »Internationale Beziehungen«, Hedley Bull »The Revolt against the West« (Bull/Watson 1994: 217– 228) nannte. Im Gegensatz zu den Dekolonisations-Ideologien, die in ihrem Aufstand gegen die europäische Kolonialherrschaft auf westliche Ideen wie Nation, Nationalstaat und nationale Souveränität rekurrierten (vgl. Tibi 1987b), richten sich die neuen Ideologien – wie die des politischen Islam – »against Western values as such« (Bull/Watson 1994: 223). Auf derselben Seite fügt Bull hinzu, das angesprochene Phänomen sei »exemplified in Islamic fundamentalism«. Also, bei der angesprochenen »Revolt against the West« geht es nicht um Freiheit sondern um das Phänomen, das ich 1995 in einem schwer missverstandenen und gegen meinen Ruf als Aufklärer und Humanisten missbrauchten Buch »Krieg der Zivilisationen« über den Zivilisationskonflikt als Wertekonflikt »Entwestlichung der Welt« genannt und als Realität identifi-

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ziert habe (Tibi 1995: Kap. 6).18 Hier besteht ein riesiger Bedarf an Erklärung und an Klarstellung.19 Jedoch will ich zuvor faktisch diese Tatsache, die ich als Muslim in den vergangenen vierzig Jahren auf meinen Weltreisen – auf den Fußstapfen von Ibn Battuta (1304–1378) als mein Vorbild – beobachten konnte, »die Entwestlichung der Welt« anführen. Dies lässt sich deutlich bei der Rückkehr der Ideologien festhalten. Ibn Battuta unternahm »journeys to the other shore«, als Muslim und als »traveler in search of knowledge« (Euben 2006: 46ff.). Eben dies tat ich auch und die Feststellung der Rückkehr der Ideologien im Rahmen einer Entwestlichung der Welt ist das Ergebnis. Die Ideologie des politischen Islam ist in diesem Kontext nur ein »case in point«, wie man es in den »comparative studies« formuliert. Noch eine Bemerkung zur Klarstellung: Wertekonflikte sind kein Kampf der Kulturen (vgl. Tibi 2012b: 1–30). Der von mir erforschte Zivilisationskonflikt (vgl. Kaiser/Maull 1995) ist kein »Kulturkampf«, sondern »war of ideas« (vgl. Patterson/Gallagher 2009), ein Werte-Konflikt.20 Jede Zivilisation hat ihre eigenen Werte und eigene Weltanschauung (Braudel 1994). Es gehört zur Normalität der Weltgeschichte, dass sich Zivilisationen im Konflikt bedrohen und gleichermaßen gegenseitig befruchten. Die Metapher »Krieg der Zivilisationen« bezieht sich auf die Unvereinbarkeit von Weltanschauungen (etwa religiösen versus laizistischen), nicht auf Waffengewalt. Mir liegen Schuldzuweisungen und Schuldgefühle21 fern, und deshalb führe ich wertfrei die Tatsache an, dass die europäische imperiale Expansion die Welt besonders die damals noch dominierende Welt des Islam als

—————— 18 Krieg ist hier nicht militärisch gemeint, sondern weltanschaulich als »War of Ideas« (vgl. Patterson/Gallagher 2009). Vorurteilsbeladene »Nicht-Leser« verfemten mich als »Verkünder eines dritten Weltkrieges«, obwohl das Buch mit »Dialog« endet. Mit »arme deutsche Wissenschaftskultur!«, kommentiere ich. 19 Huntington war Direktor des Instituts in Harvard, an dem ich jahrelang Gastprofessor war; zu ihm hatte ich eine von gegenseitigen Respekt geprägte Beziehung gehabt, ohne miteinander überein zu stimmen. In Deutschland werde ich selbst im Wikipedia-Eintrag über mich wegen dieser Nähe zu Huntington verfemt. Um mich zu schützen, habe ich der 1998 erschienenen Taschenbuchausgabe von Tibi (1995), ein Kapitel 7 eingefügt, in dem ich mich von Huntingtons »clash« distanziere. Auch habe ich das Buch des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog »Wider dem Kampf der Kulturen« mitverfasst. Das half nicht gegen unbelehrbare Verfemer! 20 Vgl. die neue Einleitung zur Heyne-Ausgabe meines Buchs Tibi (1995), die 2001 in drei Auflagen erschien, unter der Überschrift »erneutes Nachdenken über den Zivilisationskonflikt«, »Zivilisationskonflikte sind kein Kulturkampf« und Dialog mit Huntingtion in Harvard ab Seite 59. 21 Der Untertitel von Bruckner (2018) lautet Islamophobia and Guilt. Schuldgefühle schüren ist auch eine Waffe.

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»Islamicate« (vgl. Hodgson 1974) zugunsten Europas massiv verändert hat.22 Die im Mittelpunkt stehende antiwestliche und eine Umkehrung der Hegemonialverhältnisse fordernde Ideologie des politischen Islam ist wegen des demographischen Gewichts der Welt des Islam (2 Milliarden Menschen) und ihrer Diaspora in Europa (ca. 35 Millionen) nicht nur die prominenteste, sondern auch gleichermaßen einflussreichste und mächtigste Variante der »Revolt against the West« als »globale Ideologie« (vgl. Abschnitt 1). Ich staune darüber, dass die europäischen Linken in dieser Krise Antikapitalismus und Antiwesten gleichsetzen und deshalb die eigentlich rechtsradikale, antisemitische und totalitäre Ideologie des politischen Islam in einem Bündnis des »Islamo-Leftism« (vgl. Bruckner 2018) nicht nur befürworten, sondern auch unterstützen; sie tun dies nur weil Islamisten gegen den Westen sind; ihre Ideologie ist Anti-Aufklärung (Finkielkraut 1989). Der Berkeley-Professor für Politikwissenschaft, Leslie Lipson, hat nach 33 Jahren Lehre und Forschung an seiner prominenten University of California Berkeley das epochale große Werk »The ethical Crises of Civilization« 1993 als Abschluss seiner Laufbahn veröffentlicht. Darin blickt er über den Tellerrand, das heißt über den Westen hinaus und schaut auf die gesamte Welt, also auch auf die Welt des Islam. Als ich 1994 in Berkeley lehrte, entdeckte ich dieses Buch und möchte seine Ideen bei der Diskussion von Krise und islamistischer Ideologie in diesem Abschnitt heranziehen. Es ist unbestreitbar, dass die europäische Eroberung der Welt als »Wahres« viel Ungerechtigkeiten verursacht hat, es ist aber zugleich auch unbestreitbar, dass Muslime in ihrer Ideologie als Reaktion »Unwahres« vertreten, wenn sie bei den christlichen Europäern Schuldgefühle (»guilt«; vgl. Bruckner, 2018) hervorrufen und ihnen für ihr Elend und die Krise der islamischen Zivilisation die Schuld zuschreiben. Lipson erkennt, die »Krise« ist global. Andere Länder – zum Beispiel China und Indien – und andere nicht-europäische Zivilisationen gehören zu den Betroffenen der europäischen Expansion, aber im Gegensatz zu dem heutigen »islamicate« geht es ihnen besser. Lipson als Amerikaner sieht – wie ich auch – kein »wave of a promising future«, ganz im Gegensatz zum konfuzianischen China, das »possesses one characteristic that could ensure it an advantage over India and Islam« (Lipson 1993: 278). Also, »culture matters« (vgl. Harrison/Kagan, 2006) und es ist schlicht dumm, ein solches Denken der kritischen Sicht des Islam und seiner Zivilisation in ihrem heutigen Zustand

—————— 22 Hierüber die Standardwerke McNeill (1963) und Curtin (2000). Beide Bücher enthalten Islam-Kapitel, sowie Bull/Watson (1994).

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als »Rassismus« zu bezichtigen. So erlebe ich den deutschen Zeitgeist als Muslim. In der politischen Ideologie des politischen Islam hindert die »Verschränkung des Wahren und Unwahren« als falsches Bewusstsein Muslime daran, klar zu blicken und vernünftige Perspektiven als Ausweg aus der Krise zu suchen. Lipson führt aus »this inherent weakness is connected with another weakness[,] […] intolerance […]. [A]s a consequence […] their true believers will fight fanatically. In the Islamic civilization violence is peculiary endemic« (Lipson 1993: 278f.). Ein liberaler Muslim, der früher ein Islamist war, Ed Husain, stellt fest: »The house of Islam is on fire […] we must act before it suffocates us […] and to do that we must turn our urgent attention to the battle of ideas« (Husain 2018: 284).23 Dies schließt eine Frontstellung gegen die Ideologie des politischen Islam ein, eine Ideologie die noch mehr Brand im »House of Islam on fire« mit ihrem falschen Bewusstsein und »Fanatismus« (Conzen 2005: Kap. 6.3) in einer Verschränkung von Wahrem und Unwahrem schürt. Ideologien können als Ursache wirken, nicht nur ein Produkt sein, besonders wenn sie religionisiert auftreten und Massen ansprechen. Bis der Wunsch von Ed Husain nach einem ent-ideologisierten Islam erfüllt wird, bleibt die Lage so, wie John Brenkman sie in einem Buch über »Political Thought since September 11« beschrieben hat: Die Welt des Islam »is in the midst of a civil war […]. The upheavals in the Muslim world are also geopolitical conflicts […]. Islam is embroiled in a geo-civil war« (Brenkman 2007: 165f.). Der New Yorker Professor fordert »the United States and Europe« dazu auf, dieser »uncomfortable truth« soll »be squarely faced« (ebd.). In diesem Kapitel habe ich versucht, über die Ideologie des politischen Islam zu informieren und über ihren Totalitarismus (Tibi 2004c) aufzuklären also das zu tun, was Brenkman fordert; und komme nun zum Abschluss. Es ehrt mich sehr, dass der Ex-Islamist und heutige muslimische Liberale Ed Husain meine Kritik am politischen Islam in einem Artikel würdigt, der in dem ältesten britischen Magazin The Spectator, Heft September 2020 erschienen ist. Der Artikel trägt die Überschrift »Bassam Tibi’s 40-year fight against Islamic fundamentalism. The philosopher on his hopes for a new Arab Enlightenment«.

—————— 23 Über seine Vergangenheit als ein Islamist schrieb Ed Husain das Buch The Islamist (Husain 2007).

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7. Policy Implications und Conclusio. Gegen die Irreführung der Moderationsthese und gegen die Duldung des institutionellen Islamismus Die Überschrift und der Inhalt dieses konkludierenden Abschnitts rechtfertigen den Beginn mit dieser Anekdote: Als ich mein akademisches Leben in den USA an der Harvard University im »Spring Term« Februar 1982 begann hielt ich meine Antrittsvorlesung über den politischen Islam; deren Text erschien als Anerkennung in der Washingtoner Fachzeitschrift The Middle East Journal im folgenden Jahr (Tibi 1983); aber der Gastgeber-Dekan bemängelte trotz Lob dies: »No Policy implications, no policy recommendation«. In meiner deutschen akademischen Sozialisation gehörte eine solche Anforderung nicht zur Ausbildung eines Sozialwissenschaftlers. Heute nach den Jahren 1982–2010 im US-Wissenschaftsbetrieb sehe ich es anders. Der Wert der eigenen Erkenntnisse für »Policy« (man beachte den sprachlichen Unterschied zwischen »politics« und »policy«, der in der deutschen Sprache fehlt) ist ebenso wichtig wie die aus einer Analyse zu ziehenden »Konklusionen«. Ich beginne mit dem sachlichen Gegenstand, ziehe Konklusionen und dann erläutere ich, was »Policy makers« mit meinen Ergebnissen tun können und was ich als »policy« empfehle. Max Weber lehrte uns, dass Rationalisierung der Welt nicht nur zur Säkularisierung beiträgt, sondern auch zur Anerkennung von »der Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis« (vgl. Weber 1964: 186–262). Diese könnte unausgesprochen zum »Ende der Ideologie« führen. Diese Entzauberung der Welt stellte der Harvard Soziologe Daniel Bell in seiner Vorlesung »The Return of the Sacred« an der Londoner School of Economics (LSE) 1977 in Frage (Bell, 1980: 324ff.). Wer hat Recht? Weber? Oder Bell? Die Antwort hierauf ist nicht leicht! Ich habe vierzig Jahre lang schriftliche Elaborate der Ideologen des politischen Islam gelesen, mit deren Verfassern geredet und hierbei nur den europäischen Beweis für das Urteil des Lehrbuchs (vgl. Institut für Sozialforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main 1956; Horkheimer/ Adorno 1962) der Frankfurter Schule bekommen, die Kritik der Ideologie könne nicht dazu dienen, »diese zu widerlegen«, weil ihr jede »Konsistenz« fehle (Institut für Sozialforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main 1956: 169). Nach Weber resultiere dies aus Mangel an Rationalität. Dem politischen Islam ist es mit seiner Ideologie des »return of the sacred«

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(Bell 1980) gelungen, alle Denk- und Lebensbereiche zu religionisieren und hierbei vor jeder rationalen Diskussion zu behüten. Ich habe zuletzt 2016 in Kairo als Cleveland B. Dodge-Professor an der American University of Cairo gelehrt und diese Beobachtung gemacht: Obwohl der einstige Präsident Ägyptens Mohammed Morsi aus der Bewegung der Muslim-Brüder seit Juli 2013 nicht mehr im Amt ist (inzwischen auch verstorben) ist der Geist der Religionisierung, den dieser Muslim-Bruder Mohammed Morsi mit Staatsgewalt durchboxte noch überall im öffentlichen Leben präsent. Ist das nun islamisch? Im wertvollen NZZ-Essay »Jesus tritt ab, die Unvernunft bleibt« schreibt Simon Hehli nüchtern und mutig »die Irrationalität grassiert in allen Schichten. Man findet sie bei Linken und Rechten, bei Akademikern und Arbeitern, bei Frauen und Männern« (Hehli 2019). Ist das der Zeitgeist? Auch in Europa? Bleiben wir bei der Welt des Islam als »Islamicate« (Hodgson 1974). Dort ist der Islamismus (mit Ausnahme der Türkei und Iran24) nicht an der Macht, aber doch dominiert er den dortigen Zeitgeist, der durch Migration – auch mit seinem Antisemitismus – nach Europa kommt (Tibi 2018). Zu den Ergebnissen dieser Abhandlung gehört die Erkenntnis, dass die Ideologie des politischen Islam binnen-differenziert in zwei Richtungen unterteilt ist, friedlich/institutionell und gewaltförmig/djihadistisch. Weil beide nicht eine rationale politische Position, sondern eine Ideologie ohne Rationalität vertreten, ist ein Dialog mit beiden nicht nur eine Illusion, sondern auch Selbsttäuschung. Zudem schließt diese totalitäre Ideologie (vgl. Tibi 2004c) jede vernünftige Inklusion aus. Ich habe schon oben (Schwedler 2011) sogenannte »Islam-Experten« kritisiert, die den Islamismus formal-demokratisch auf der Basis von Fehlinformationen »rein« waschen (white-wash). Die Vertreter der Inklusion-Moderationsthese, die als westliche Islam-Experten agieren, glauben nur, was Islamisten ihnen in Interviews erzählen. Lorenzo Vidino ist einer der wenigen, die erkannt haben (vgl. Fourest 2008; Vidino 2010), dass Islamisten mit gespaltener Zunge sprechen: unter sich sagen sie was sie wirklich denken, nicht aber, wenn sie mit Westlern reden. Ein Parade-Beispiel für dieses »Doublespeak« (Fourest 2008) ist der Islamist Tariq Ramadan, der Enkelsohn von al-Banna (al-Banna 1990), dem Begründer des Islamismus; ihm

—————— 24 Zur Begründung, dass die Türkei eine »Islamokratie« und der Iran eine Mullahkratie sind, vgl. Tibi 2019, vierter Teil über Türkei; fünfter Teil über Iran.

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dient die Erweiterung von »dar al-Islam« auf Europa als Islamisierung (vgl. Tibi 2018). Als Muslim und Islam-Forscher habe ich oft Schwierigkeiten, den westlichen Umgang mit dem politischen Islam nachzuvollziehen. Ich möchte dies illustrieren: Wenn islamische Djihadisten mit begrenzter Wirkung einen Terroranschlag verüben, gibt es einen Aufschrei. Aber wenn Islamisten demokratische Institutionen mit ihrer Ideologie infiltrieren, dann wird dies als »Erfolg der Integration« zelebriert. Was ist das für ein Wahnsinn? Die konzertierte westliche Bekämpfung der IS-Djihadisten, die im Bündnis mit Russland die Bombardierung der sunnitischen Zivilbevölkerung einschloss, wurde von Politikern geführt, die von schlecht informierten, bis ignoranten »Islam-Experten« beraten wurden, Diese verstehen die Ideologie des politischen Islam nicht und auch nicht, dass man »Ideologie« nicht bombardieren kann. Mit dem israelischen Militärhistoriker Martin van Creveld arbeitete ich an dem Band »Countering modern Terrorism« mit einem Beitrag »Countering Terrorism als Krieg der Weltanschauungen« (von Knop u.a. 2004: 131–171). Schon aus dem Titel geht hervor, dass der Islamismus nur in einem »war of ideas« (vgl. Patterson/Gallagher 2009; sowie Anm. 18–20) besiegt werden kann, gleich ob dieser djihadistisch oder institutionell ist. Für die Neuausgabe von 2014 meines Cornell-Buchs »Political Islam, World Politics and Europe« (Tibi 2014) habe ich den neuen Untertitel ausgewählt »From Jihadist to Institutional Islamism« und gezeigt, dass beide Richtungen in ihrer Ideologie zur ein und derselben Erscheinung des politischen Islam gehören. Diese 2014-Neuausgabe enthält als Kapitel 8 den neuen Text »Political Islam and Governance […] – Examining the Assumption of Moderation«. »Moderate« Islamisten verzichten aus taktischen Gründen auf Djihad-Gewalt aber nie auf ihre gleichermaßen globale wie totalitäre Ideologie des Schari’a-Staates als islamistische politische Ordnung nicht nur für den »Islamicate«, sondern auch für die gesamte Welt. Mit anderen Worten, es gilt die Erkenntnis, die ich in meinen englischsprachigen Büchern (vgl. Tibi 1998a; 2001; 2012a; 2014) geprägt habe »political Islam and Democracy do not mix«. Nun folgt der fällige und abschließende »Policy«-Gegenstand. Ich frage: Wie können diese Erkenntnisse in Policy verwandelt werden? Und welche Policy empfehle ich? Vorerst jedoch dies: die Grundvoraussetzung für eine adäquate »Policy« muss immer ein solides Wissen über den Gegenstand sein. Zu den Klassikern meiner Disziplin gehört das Buch »When knowledge is Power« (Haas 1990). In dieser Abhandlung habe ich mein auf der Basis von

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40 Jahren Forschung in der Welt des Islam und in den USA an Elite-Universitäten erworbenes Wissen gegeben. In wenigen Sätzen will ich dieses Wissen über den politischen Islam und seine globale Ideologie vermitteln: er ist ein Islamismus, also ein religiöser Fundamentalismus als zeithistorische Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Islamische Erneuerer, also Revivalisten, sind keine Vertreter des politischen Islam, sondern Reformer wie Afghani und Abduh im 19. Jahrhundert25. Ebenso sind islamische Traditionalisten, wie auch Vertreter des schriftgläubigen Islam keine Fundamentalisten eines politischen Islam (wie zum Beispiel Wahhabismus). So ist die wahhabitische Monarchie Saudi-Arabiens tribal und traditionell, aber nicht islamistisch. Wer dies nicht erkennt und »incorrectly« behauptet »that the (Saudi) regime follows fundamentalist politics« (Marty/Appleby 1993b: 115), ist schlecht informiert – so steht es in Band 3 des »Fundamentalist Project« im Kapitel von Ann Elisabeth Mayer (vgl. Marty/Appleby 1993b) klar und überdeutlich. Genau das Gegenteil hierzu steht im Buch »Politischer Islam« (Schröter 2019). Mein Urteil hierüber steht oben. Es geht hier keineswegs um einen Streit zwischen Wissenschaftlern, der Professorin Schröter und dem Autor dieser Abhandlung, sondern einzig und allein um das adäquate Wissen über eine neue, weltrelevante Ideologie namens politischer Islam. Die Autorität eines wissenschaftlichen Buches misst sich an der Nachhaltigkeit. Einer der frühen, inzwischen drei Jahrzehnte alten, Beiträge zu unserem Thema ist das auf Originalquellen basierende Buch von Nazih Ayubi von der University of Exeter. Bereits auf der ersten Seite heißt es dort: »Political Islam represents only one of several intellectual and political manifestations. […] [I]t is a modern improvision which started to emerge after the First World War« (Ayubi 1991: IX). Meine erste »Policy Recommendation« lautet, dass ohne solides Wissen, deutsche Politiker weder mit den Realitäten des »radical Islam« noch mit denen des »so-called moderate Islam« so John Brenkman (vgl. Brenkman 2007: 158 und 165) und mit der hiermit zusammenhängenden »uncomfortable truth« angemessen umgehen können. Mit dem empfohlenen soliden Wissen können wir uns mit der Ideologie des politischen Islam auseinandersetzen, der in einem heftigen »war of ideas«, »The New Cold War?« (Juergensmeyer 1993) ist. Dieser ist – in meiner Terminologie ausgedrückt – ein »Krieg der Weltanschauungen« (vgl. von Knop u.a. 2004), der einen »Zivilisationskonflikt« (vgl. Kaiser/Maull 1995) zum Ausdruck bringt.

—————— 25 Vgl. das Unterkapitel »Two forms of Islamic Revival al-Afghani and Abdul« in Tibi (1997: 88–94).

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Ehe ich die USA verließ, habe ich meine unveröffentlichten »research papers« in dem Band veröffentlicht »Islam in Global Politics« jedoch mit dem vielsagenden Untertitel »Conflict and Cross-civilizational Bridging« in New York 2012 erschienen (vgl. Tibi 2012b). Also, Konfliktanalyse und friedliche Vermittlung sind kein Widerspruch. Konfliktlösung und Brückenbau können jedoch nicht mit dem politischen Islam erreicht werden. Mit seinen Ideologen, den Islamisten, kann man nur die Sprache der Sicherheitspolitik sprechen (Tibi 2002). Die islamische Alternative zum politischen Islam ist das, was ich »Civil Islam« (vgl. Tibi 2012a) nenne, der von der »Enlightened Muslim thought« vertreten wird. Wie einer seiner Vertreter schreibt, dieser »civil Islam« – ganz im Gegenteil zum politischen Islam »opens the way to a full respect for civic spheres in which Muslims can coexist as citizens with non-Muslims« (vgl. Filali-Ansary 2003). Ich kommentiere auf Englisch abschließend »I couldn‘t agree more«. Diese Feststellungen sind primär auf den politischen Islam als »globale Ideologie« (so definiert autoritativ in Anheier/Juergensmeyer 2012, Band 2) in der Weltpolitik bezogen. Weil ich als syrischer Flüchtling in Deutschland als Wahl- beziehungsweise Notheimat lebe, muss ich mein Thema auch auf das Land, in dem ich lebe, beziehen. Mein Ideal ist auch ein kulturell, also nicht nur politisch offenes Gemeinwesen, zu dem auch Fremde wie ich als citoyens gehören können (Integration als »sense of belonging«). Wie steht der politische Islam dazu? Diese Frage habe ich in meinem Kapitel »Wie die Integration islamischer Zuwanderer nach Europa behindert wird«, das im bereits zitierten Band von Linnemann (2019) enthalten ist, beantwortet: Der politische Islam ist nicht nur mit Demokratie unvereinbar, sondern wirkt auch als eine Ideologie der Parallelgesellschaften, die als »sectarian enclave in the context of Western Culture in the West but not of it« gedeihen (Kelsey 1993: 118). Ich habe dazu nichts hinzuzufügen außer der erneuten Betonung: »den« Islam gibt es nicht. Politischer Islam ist nur eine der Facetten dieser Religion. Für Europa gibt es eine bessere Option, nämlich den europäischen Islam. Mein neuestes Buch heißt »Euro-Islam statt Islamismus« mit dem Untertitel »Ein Integrationskonzept«. Muslime sagen: Inch‘ Allah, God’s Willing! Und dies tue ich als Muslim zum Abschluss auch.

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Selbsterfüllendes Schicksal. Zur Kritik der esoterischen Ideologie Jérôme Seeburger

»Ob es uns gelingt, das Heilsversprechen als eins der Selbstzerstörung, die Symptome dieser Selbstzerstörung in ebenso viele Hilferufe zu übersetzen, ist nicht gewiß. Sicherlich ist es weder mit Beschwörung noch Aburteilung getan, nicht mit Gegenveranstaltungen, Gegenzauber.« Klaus Heinrich

Die esoterische Ideologie findet auf der Grundlage der entfalteten kapitalistischen Produktionsweise seit Beginn des 20. Jahrhunderts massenmedial vermittelt, anfangs mittels Horoskopspalten, heute mittels Podcasts, den Weg in die Gemüter. Charakteristisch für sie ist die Überzeugung, sich eine vollkommen individuelle Spiritualität zu schaffen. Diese Überzeugung ist subjektive Erscheinung wie objektiver Inhalt der Esoterik. Der Schein des Individuellen verschwindet, sobald man in der Analyse der esoterischen Medien und Gemüter die allgemeinen Bestimmungen erkennt, aus denen das Band der esoterischen Ideologie geknüpft ist. Dieses will ich im Folgenden systematisch zu entwickeln versuchen, indem ich die von Paul Heelas (1996) vorgenommene Definition der Self-spirituality als Essenz der Esoterik kritisiere. Im Zuge dieser immanenten Kritik werde ich allgemeinere ideologietheoretische Erwägungen zwar einbeziehen, aber nicht metatheoretisch diskutieren, in welchem Verhältnis Esoterik zum Ideologiebegriff steht. Erste Überlegungen zu diesem Problem habe ich in einer Vorarbeit festgehalten (vgl. Seeburger 2019). Der Eklektizismus der esoterischen Ideologie erschwert die Erkenntnis ihres Zusammenhangs. Er ist nicht bloß subjektives Rezeptionsverhalten, sondern gehört selber zur objektiven Seite der Ideologie. In der esoterischen Literatur wird er beispielsweise von Thorwald Dethlefsen (1998 [1979]) in dessen Bestseller Schicksal als Chance propagiert: »Hand in Hand mit der fortschreitenden Erkenntnis muß der Mensch sich wandeln, muß bewußter werden, um seine wahre Aufgabe und sein Ziel immer deutlicher

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verstehen zu können. Auf einem solchen Weg sind Orientierungshilfen sehr nützlich, Wegweiser und Tafeln, die eine Auskunft geben, wo an einer bestimmten Kreuzung der rechte Weg weiterführt. Solche Hilfsmittel sind die esoterischen Techniken und Disziplinen, von denen es viele gibt. Als Beispiele seien hier nur die wichtigsten erwähnt: Astrologie, Kabbalah, Tarot, Alchemie, Magie, Yoga, Meditation, I Ging. All diese Disziplinen sind kein Selbstzweck, sondern Hilfsmittel zur Orientierung, Wegweiser auf dem Weg.« (Dethlefsen 1998: 25)

Wie bei allen Momenten der esoterischen Ideologie wäre es auch in Bezug auf den Eklektizismus falsch, diesen an sich als eine Besonderheit der Esoterik auszumachen, gar als eine, die deren Modernität unter Beweis stellte und diese dann zu hypostasieren. Denn der Eklektizismus ist so alt wie die Religion, er zeichnete stets insbesondere die Laienreligiosität aus (vgl. Hammer 2006: 855; Tokarew 1976: 193; Weber 1988: 361). Genauso wenig darf aber davon abstrahiert werden, dass der esoterische Eklektizismus insofern modern ist, als er die Negation der traditionellen Religion und der aufklärerischen Trennung von Glauben und Wissen in sich aufgenommen hat. Die Tendenz der Neutralisierung der Inhalte, die in ihm zum Ausdruck kommt, ist eine, die sich in jeder Form der Religiosität seit der Krise der Religion bemerkbar macht (vgl. Adorno 1997b [1958]; Martins 2018). Gegenüber dieser allgemeinen Tendenz weist der esoterische Eklektizismus die Besonderheit auf, dass es sich um einen selbstbewussten handelt. Das heißt, er ist, wie man am Zitat Dethlefsens sehen kann, sich selber Inhalt, wird zum eigenen Prinzip erhoben. Esoteriker stellen sich über die von ihnen als Orientierungshilfen und Wegweiser verwandten Disziplinen und Techniken, indem sie sich diese nach den eigenen Bedürfnissen zurichten. Pragmatisch wird ein Inhalt durch einen anderen ersetzt, sobald sich das Gefühl einstellt, dass der neue eher dem eigenen Weg entspricht. Die Traditionen, aus denen die Lehren und Praktiken kommen, die Zusammenhänge, in denen sie stehen, sind irrelevant. Entscheidend ist nur, was die Inhalte für die Esoteriker bedeuten, ob jene sie auf ihrem spirituellen Weg weiterbringen. Sie werden rein instrumentell betrachtet, als Mittel zum Zweck angewandt (vgl. Barth 2012: 253, 278; Bock 1995: 104; Hammer 2006: 860). Hegel hat im §140 seiner Rechtsphilosophie ein derartiges Verhältnis des Subjekts zur Objektivität als die »absolute Selbstgefälligkeit« bezeichnet, in der das Subjekt einen »einsamen Gottesdienst seiner selbst« feiert (Hegel 2017 [1820]: 279). Wenn laut Dethlefsen (1998) die esoterischen Techniken und Disziplinen Mittel sind, Orientierungshilfen auf dem Weg, welchem Zweck dienen sie dann, zu welchem Ziel sollen sie führen? Seine Antwort lautet, dass man

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mit diesen Mitteln das Gesetz des Schicksals erkennt, um sich diesem dann freiwillig zu unterwerfen und darin Freiheit zu erlangen (vgl. Dethlefsen 1998: 138f.). Mit Hilfe der esoterischen Techniken könne man herausfinden, welches Opfer das Schicksal von einem verlange, um es diesem freiwillig darzubieten, bevor dieses es sich unausweichlich mit Gewalt hole (vgl. ebd.: 130f.). Seit der ersten Veröffentlichung von Schicksal als Chance im Jahr 1979 scheint sich aber diese Zielbestimmung grundlegend geändert zu haben. Sieht man sich die populäre esoterische Literatur der Gegenwart an, wirkt Dethlefsens Apologie des Schicksalsopfers anachronistisch. Heute wird als das Ziel des esoterischen Weges angegeben: das wahre Selbst zu finden (vgl. Barth 2012; Partridge 2007: 237). Für das Verständnis dieser Ablösung der Schicksalsunterwerfung durch die Selbstgefälligkeit ist Steven J. Sutcliffes (2003) Untersuchung des Bedeutungswandels des Begriffs »New Age« aufschlussreich. Sutcliffe zeigt, dass der Begriff »New Age« im esoterischen Feld eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte besitzt, in den 1960er Jahren einen Bedeutungswandel vollzogen und sich dann allmählich zu einem »catch-all label« entwickelt hat (ebd.: 125). Bis zu diesem Wandel habe die esoterische Bezugnahme auf das New Age tatsächlich die apokalyptische Erwartung eines neuen Zeitalters zum Ausdruck gebracht. Danach wurde vom Anbruch des New Age lediglich »the death of the insensitive, rationalistic ego in an ongoing process of human growth« (ebd.: 102) erwartet. Sutcliffe führt diese Transformation auf einen Wandel der Organisationsformen und der sozialen Zusammensetzung des spirituellen Publikums zurück und fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: »[B]etween around 1967 and 1974 the ›New Age‹ emblem was passed – like a relay baton – from subcultural pioneers to countercultural baby boomers, undergoing in the process a fundamental transformation in meaning and reference as it passed out of the hands of a supernaturalistic apocalypticism into a this-worldy humanism.« (Ebd.: 112)

Sutcliffe vollzieht diesen Prozess in mehreren Fallstudien zu unterschiedlichen esoterischen Gruppen und Organisationsformen nach. Seine Resultate geben Grund zur Annahme, dass die Self-spirituality sich nicht erst in den 1960er Jahren herausgebildet hat, sondern lediglich in den sozialen Bewegungen dieser Zeit zu einem Massenphänomen geworden ist. Bis dahin scheint es so gewesen zu sein, dass in der vorherrschenden Organisationsform – der kleinen, informellen spirituellen Gruppe, die sich um eine Autorität wie z. B. einem Medium gebildet hatte – nur dieser Autorität die

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Self-spirituality zugesprochen wurde, die dann im Zuge des skizzierten Wandels von allen Spirituellen für sich reklamiert wurde. Diese Popularisierung der Self-spirituality ist wiederum nur ein Moment der umfassenderen kulturellen Revolution im kapitalistischen Westen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Übereinstimmung mit der staatlichen antikommunistischen Propaganda die Freiheit des Individuums propagierte (vgl. Cubela 2019: 102–117; Hobsbawm 1998: 420ff.). In Deutschland wurde die New-Age-Spiritualität vornehmlich mit ihrer populären Gestalt seit den 1960er Jahren identifiziert und von esoterischer Seite als Kommerz abgelehnt (vgl. Schnabel 2007: 52f.). Dabei handelte es sich aber nur um ein oberflächliches Ressentiment, das die oben skizzierte Transformation allenfalls verzögern, aber nicht aufhalten konnte. Auch wenn sich in Deutschland die Bezeichnung »New Age« als Selbstbezeichnung nicht durchsetzen konnte, ist mit ihr derselbe Gegenstand bezeichnet, für den hier lange Zeit »Esoterik« die populärste Bezeichnung gewesen ist. Deshalb halte ich es für legitim, die Resultate der angelsächsischen New-Age-Forschung auf die Esoterik zu übertragen und die beiden Bezeichnungen synonym zu verwenden. In dieser Forschung gilt Heelas’ Studie The New Age Movement (1996) als Standardwerk. Darin versucht er die Self-spirituality, die er als »essential lingua franca« (ebd.: 18; Hervorhebung im Original) des New Age begreift, in einer Definition zu fassen, die ich im Folgenden ausführlich diskutieren werde. Diese Definition wurde bereits von verschiedenen Autoren kritisiert (vgl. Sutcliffe 2003: 23f.). Dominic Corrywright (2003) geht es aber nicht nur um Heelas’ Definitionsversuch, sondern er kritisiert, dass dieser im Verhältnis zu seinem Gegenstand einen agnostischen Standpunkt beansprucht, den er für »theoretically unsophisticated« (ebd.: 38) hält. Dagegen behauptet Corrywright, dass jede vorgeblich objektiv-wissenschaftliche Betrachtung des New Age dieses nicht zu fassen bekommt und schlägt vor: »A new epistemology, flexible enough to respond to New Age spiritualities, will necessarily include scientific criteria, but will equally enlarge the accepted fields of knowledge through the a priori acceptance of all worldviews. Notably, with regard to New Age spiritualities, worldviews which insist upon an underlying universal unity and those which conceive of cosmological explanations for events as pre-eminent.« (Ebd.: 44; Hervorhebung im Original)

Ferner ist es laut Corrywright notwendig, für die eigene wissenschaftliche Arbeit »some of the very challenging ideas of New Age spiritualities« zu adaptieren, »in order to capture the dynamic and manifold nature of the

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phenomena adequately« (Corrywright 2003: 45f.). In Berufung auf die »postmodern critical theory« (ebd.: 45) möchte er, im Einklang mit dem New Age (vgl. Hanegraaff 1996: 62ff.), die Grenze zwischen diesem und der Wissenschaft auflösen. Corrywrights Position stellt innerhalb der New-Age-Studies zwar ein Extrem dar, aber ein unkritisches und affirmatives Verhältnis zum Gegenstand lässt sich auch bei dem von ihm kritisierten Heelas feststellen. Obwohl dieser ausdrücklich den Anspruch formuliert, nicht bloß die Selbstauskünfte von Esoterikern zu akzeptieren (vgl. Heelas 1996: 187), übernimmt er die anti-autoritäre Selbstdarstellung, derzufolge das New Age eine Überwindung der Autoritätshörigkeit der traditionellen Religionen bedeutete (vgl. ebd.: 22). Ebenso affirmiert Heelas die für die Esoterik wesentliche Überzeugung, dass das eigene Selbst die höchste Autorität darstellt (vgl. ebd.: 21ff.). Insgesamt ist die unkritische Akzeptanz der im New Age proklamierten Self-authority, wie Wood (vgl. 2007: 36, 50) kritisch bemerkt, in den New-Age-Studies weit verbreitet (siehe kritisch zur Self-authority auch Kohn 1991; Hammer 2010). Letztlich reproduziert Heelas in Bezug auf wesentliche Aspekte das Selbstmissverständnis seines Gegenstands. Die ideologiekritische Spitze meiner Untersuchung richtet sich gleichermaßen gegen das esoterische Selbstmissverständnis wie gegen dessen wissenschaftliche Verdopplung. Heelas’ Affirmation der esoterischen Self-authority schlägt sich auch in seiner Definition nieder. Dieser will ich aber nicht einfach eine andere entgegensetzen, sondern in der Tradition der kritischen Theorie (vgl. Adorno 2008: 12) versuchen, durch die Kritik der vorgefundenen Definition diese über sich hinaus zu treiben, in dieser selbst die Notwendigkeit ihrer Überwindung zum Vorschein zu bringen. Aber immanente Kritik beschränkt sich nicht auf die Hervorkehrung der Widersprüche einer Definition, sondern konfrontiert sie mit der Sache, die sie zu definieren sucht. Inspiriert von Feuerbachs immanenter Kritik des Wesens des Christentums (1956 [1848]) bemühe ich mich zum einen darum, das Bedürfnis zu bestimmen, das die esoterische Ideologie befriedigt, die Hilferufe zu übersetzen, auf die sie antwortet und darzulegen, dass, wenn es eine Esoterik gäbe, die Heelas’ (1996) Konstruktion entspräche, diese das Bedürfnis nicht zu befriedigen vermöchte. Zum anderen konfrontiere ich Heelas’ Definition mit Stellen aus dem Werk Dethlefsens (1998) und versuche die Angemessenheit des von mir konstruierten Begriffs der esoterischen Ideologie am Material zu demonstrieren. Drittens beziehe ich die aus der Definition ausgeschlossene

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Geschichte in meine begriffliche Bestimmung ein. Mittels dieser immanenten Kritik beabsichtige ich, das in der Definition Stillgestellte in Bewegung zu versetzen, ihre abstrakten Elemente geschichtlich und materiell zu konkretisieren, um zu einem Begriff der esoterischen Ideologie zu gelangen, dessen Allgemeinheit auf dem Reichtum seiner Bestimmungen gründet.

Skizze der Self-spirituality Wie definiert Heelas (1996) nun die von ihm als »lingua franca« (ebd.: 2) des New Age bezeichnete Self-spirituality? »This is the language of what shall henceforth be called ›Self-spirituality‹. New Agers make the monistic assumption that the Self itself is sacred. […] True, many New Agers also emphasize the spirituality of the natural order as a whole. But the fact remains that they would also agree that the initial task is to make contact with the spirituality which lies within the person. There is thus general agreement that it is essential to shift from our contaminated mode of being – what we are by virtue of socialization – to that realm which constitutes our authentic nature. And these assumptions of Self-spirituality ensure that the New Age Movement is far from being a mish-mash, significantly eclectic, or fundamentally incoherent.« (Ebd.; siehe dazu auch ebd.: 29)

Genauso wenig wie Heelas halte ich es für zutreffend, in Esoterik nichts weiter als einen inkohärenten »mishmash« zu sehen. Ich wende mich aber gegen seinen Versuch, den Eklektizismus einfach mit Verweis auf die »assumptions of Self-spirituality« abzutun. Die Kohärenz der esoterischen Ideologie und der Eklektizismus der Techniken und Praktiken schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bilden eine Einheit. Der Eklektizismus ist in Wirklichkeit »significant« und die Inkohärenz »fundamental«, weil sie beide in der esoterischen Ideologie gründen und von ihr Bedeutung erhalten. Was sind nun diese »assumptions of Self-spirituality«, was ist das Vokabular der lingua franca? Als erstes die Auffassung, »that the Self itself is sacred«. Heelas räumt ein, dass viele Esoteriker außerdem »the spirituality of the natural order as a whole« vertreten. Er ist aber der Überzeugung, dass diese Esoteriker es auch als Aufgabe sehen, die Verbindung mit der Spiritualität herzustellen, die in der Person liegt. Diese Aufgabe bestimmt er weiter als den Übergang »from our contaminated mode of being« zum »realm which constitutes our authentic nature«. Dieser gegenwärtige schlechte

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Zustand wird laut Heelas in der Esoterik auf »socialization« zurückgeführt. In Heelas’ kurzer Darstellung wird ersichtlich, dass die Self-spirituality nicht bloß darin besteht, das eigene Selbst zu heiligen. Sie enthält ein dynamisches Moment und ein Telos, nämlich die Entwicklung von einem für falsch befundenen Zustand zum wahren Zustand. Es wird außerdem noch eine weitere heilige Instanz erwähnt, die »natural order«, auf die sich manche Esoteriker zusätzlich beziehen, die Heelas aber nicht zu der Self-spirituality zählt und aus der lingua franca ausschließt. Ein anderes Zitat vermittelt allerdings den Eindruck, dass Heelas selber hinsichtlich des Ausschlusses nicht ganz sicher ist, wenn er als »relatively distinctive currency« des Begriffs »New Age« festhält: »It has come to be used to designate those who maintain that inner spirituality – embedded within the self and the natural order as a whole – serves as the key to moving from all that is wrong with life to all that is right.« (Heelas 2016.: 16; Hervorhebung im Original)

Im Folgenden werde ich die Konzeption der allein auf das Selbst bezogenen Self-spirituality und den Ausschluss der »natural order as whole« kritisieren. Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen »self« und »order« wird offenbaren, dass die zeitgenössische Self-spirituality mehr mit der Schicksalsesoterik gemein hat, für die Dethlefsen exemplarisch steht, als es zunächst den Anschein macht.

Gespaltenes Selbst Auf der Grundlage von Zeugnissen unterschiedlicher esoterischer Strömungen bestimmt Heelas (vgl. 1996: 18ff.) drei Themen als für die »essential lingua franca« der Self-spirituality wesentliche. Als erstes Thema nennt er die grundlegende Ablehnung der gegenwärtigen »mainstream society and culture« (ebd.: 18f.). Esoteriker sähen in der Gesellschaft eine feindliche Macht, die die Menschen mittels ihrer Institutionen mit falschen Werten und Normen indoktriniere und auf diese Weise davon abhalte, gemäß der wahren Natur ihres Selbst zu leben. Das zweite Thema ist die Vorstellung der Erlösung von diesem schlechten Zustand, die Verwirklichung des heiligen Selbst (vgl. ebd.: 19f.). Als Resultat des schädlichen Einflusses der Gesellschaft wird in der Esoterik das Selbst in einen schlechten, indoktrinierten und einen guten, heiligen Teil aufgespalten. Für beide Teile kursieren im

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esoterischen Feld eine Vielzahl von Namen, wodurch der schillernde Eindruck der Ideologie verstärkt wird (vgl. Partridge 2007: 233, Fn. 6; Schnabel 2007: 114). Ich werde im Folgenden für den von der Gesellschaft verfälschten Teil den Begriff »Ego« und für den anderen den Begriff »wahres Selbst« verwenden. Die esoterische Erlösungsvorstellung besteht in der Verwirklichung des wahren Selbst durch Überwindung des Egos. Das Ego bestimmt Heelas (vgl. 1996: 20f.) dann als drittes essentielles Thema der lingua franca. Das gespaltene Selbst der esoterischen Ideologie ist eine Einheit der Widersprüche. Es ist in doppelter Hinsicht nicht mit sich identisch. Einmal ist es mit einem Teil von sich konfrontiert, dem Ego, mit dem es nicht identisch sein will. Auf der anderen Seite glaubt das Selbstbewusstsein über ein wahres Selbst zu verfügen, mit dem es identisch sein will, aber nicht sein kann. Es ist ein unglückliches Bewusstsein. Sein Unglück besteht nicht allein in der doppelten Nicht-Identität mit sich Selbst, sondern gleichwohl in seiner Nicht-Identität mit der Gesellschaft, die es als feindselig wahrnimmt und ablehnt. Mag Esoterik sich noch so stark von der Religion unterscheiden, auf die Marx (1956 [1844]: 378) seine berühmte Formulierung bezogen hat, ist aus ihr dennoch deutlich der »Seufzer der bedrängten Kreatur« zu vernehmen.

Ego der Gesellschaft In Heelas’ Darstellung der Essenz der Self-spirituality haben zwei von drei Themen die Bedrängnis zum Gegenstand, unter der Esoteriker leiden. Einmal die Gesellschaft und zweitens deren Repräsentation im gespaltenen Selbst in Gestalt des Egos. Wie die Analyse noch zeigen wird, nehmen diese beiden Themen nicht nur mehr Raum ein als die Bestimmung des wahren Selbst und des angestrebten Zustands, sondern sie sind auch weniger vage als diese. Da die Bestimmung des wahren Selbst wesentlich durch die Negation der Gesellschaft und des Egos erfolgt, werde ich zuerst Heelas’ Beschreibung des Jammertals untersuchen, gegen das sich die esoterische Protestation richtet: »The great refrain, running throughout the New Age, is that we malfunction because we have been indoctrinated – or, in the New Age sense of the term, been ›brainwashed‹ – by mainstream society and culture. The mores of the established order –

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its materialism, competitiveness, together with the importance it attaches to playing roles – are held to disrupt what it is to be authentically human. To live in terms of such mores, inculcated by parents, the educational system and other institutions, is to remain the victim of unnatural, deterministic and misguided routines; to be enslaved by unfulfillable desires and deep-seated insecurities; to be dominated by anxiety-generating imperatives such as creating a good impression; to be locked into the conflictual demands of the ideal relationship.« (Heelas 1996: 18f.)

Hier tritt der Individualismus der Esoterik deutlich hervor (vgl. Hammer 2010). Das Individuum wird der Gesellschaft mit all ihren Institutionen schroff gegenübergestellt, die für die »malfunction« (Heelas 1996: 18), für den »contaminated mode of being« (ebd.: 2) verantwortlich gemacht wird. In ihr wird die Macht gesehen, die mittels der Indoktrination mit falschen Gefühlen, Vorstellungen und Werten das zerstört, »what it is to be authentically human« (ebd.: 18f.). Im Verhältnis zu dieser umfassenden Macht und deren vielfältigen Emanationen erscheint das Individuum isoliert und ohnmächtig. Wem soll es vertrauen, wenn alle anderen in Verdacht stehen, Agenten der Indoktrination zu sein? Muss es nicht allen und allem mit dem größten Misstrauen begegnen? Es darf sich ja noch nicht einmal selber trauen, denn der Machtbereich der Gesellschaft reicht in das Innere des Individuums hinein, wo sie mit dem Ego einen Stützpunkt geschaffen hat. Wie Heelas im nachfolgenden Zitat ausführt, kann in der Esoterik die Erlösung nur erreicht werden, indem man dieses Ego überwindet: »Perfection, it is maintained, cannot be found by tinkering with what we are by virtue of socialization. Neither can it be found by conventional (political, etc.) attempts at social engineering. Perfection can be found only by moving beyond the socialized self – widely known as the ›ego‹ but also as the ›lower self‹, ›intellect‹ or the ›mind‹ – thereby encountering a new realm of being.« (Ebd.: 19)

Die angeführten alternativen Bezeichnungen verweisen auf die in der Esoterik verbreitete Entgegensetzung von Intuition, Gefühl auf der einen und Verstand, Ratio auf der anderen Seite. Unmittelbar, intuitiv, ohne die Vermittlung des gesellschaftlich hervorgebrachten Verstandes die esoterische Wahrheit zu erfahren, gilt als Ideal. Hierin klingt der erstmals von der Romantik geäußerte Seufzer der bedrängten Kreatur nach, die gegen ihre völlige Unterwerfung unter die Rationalität der alles umwälzenden kapitalistischen Produktionsweise protestierte. Inhaltlich ist das Ego im Wesentlichen identisch mit der Gesellschaft. Die folgende ausführliche Beschreibung des Egos enthält dennoch Aspekte,

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die noch nicht berücksichtigt wurden und für die Bestimmung der esoterischen Ideologie relevant sind: »The ego, that internalized mode of the traditions, parenting routines and all those other inputs which have constructed it, must lose authority. To this end, the New Age provides a great range of spiritual disciplines, variously known as ›processes‹, ›rituals‹ or ›psychotechnologies‹, for example. Whether they take the form of meditation, activities similar to those found in psychotherapies, physical labour, dance, shamanic practices, magic, or, for that matter, fire-walking, sex, tennis, taking drugs or using virtual reality equipment, the aim […] is to ›break on through to the other side‹. Practices provide paths within, from being ›at cause‹ to being ›at effect‹. And this they do by working on the ego to exorcize the tyrannical hold of the socialized mode of being. The Self must be liberated; ›de-identification‹ must be effected; the person must drop ›ego-attachments‹ or ›games‹. The past, for the ego is constructed from the time of birth (if not from previous lives), loses its hold – thereby enabling a new future.« (Heelas 2016.: 20)

Angesichts der Übermacht der Gesellschaft überrascht es nicht, dass dem Ego hier »authority« zugesprochen und als Zweck der vielfältigen »spiritual disciplines« benannt wird, sich aus dessen »tyrannical hold« zu befreien. Der Prozess der Befreiung ist identisch mit dem der Verwirklichung des wahren Selbst. Er wird außerdem als eine Befreiung von der Vergangenheit umschrieben. Wie ich im weiteren Verlauf der Analyse noch zeigen werde, steht diese Vorstellung im Zusammenhang mit dem Ideal der Gegenwärtigkeit. Dieses Ideal, genau wie das des unmittelbaren, intuitiven Erfahrens wird in der Esoterik offenbar nicht verdächtigt, Produkt der gesellschaftlichen Indoktrination zu sein. Es werden nur bestimmte Gefühle, Werte, Vorstellungen als sozialisierte, vom Ego herrührende interpretiert. Das Ausmaß der Ablehnung des Egos und die Methoden, sich seiner zu entledigen, variieren Heelas zufolge sehr stark (vgl. ebd.: 36). Die Variation reiche von vehementer Feindschaft gegen das Ego bis hin zur Gleichgültigkeit. Diese Gleichgültigkeit würde ich aber nicht dahingehend interpretieren, dass für diejenigen, die sich in ihr üben, das Ego überhaupt nicht mehr als Bezugspunkt existiert, sondern dass sie versuchen, sich auf diese Weise seines Einflusses zu entziehen. In diesem subjektiven Bezug der Gleichgültigkeit erkennen sie dieses genauso als objektiven Inhalt der esoterischen Ideologie an wie die Esoteriker, die sich feindselig darauf beziehen. In einem ausführlichen Interview, das ich mit einem Esoteriker geführt habe, berichtet dieser, wie er zu Beginn seines spirituellen Weges sehr feindlich gegen das Ego eingestellt gewesen war. Er hat seinerzeit an Seminaren mit einem autoritären Lehrer teilgenommen, der seine Schüler zur äußersten

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Härte gegen das Ego angehalten hat. Nach einer Weile hat sich mein Interviewpartner aber davon distanziert, weil er dazu übergegangen ist, diese Feindseligkeit gegen das Ego als von diesem selber hervorgerufen zu interpretieren. Zwar wollte er dem Ego nicht mehr länger derart konfrontativ begegnen, aber die misstrauische Prüfung seiner Wünsche und Bedürfnisse, ob sie nicht Manifestationen des Egos sind, hielt an. Seit seiner Abkehr von der Feindschaft, versucht er, den Beeinflussungen des Egos mit Gleichmut zu begegnen, und übt sich in schonenderen Verfahren, diesen Gleichmut zu erreichen. Nach dieser Dechiffrierung des esoterischen Seufzers ist das Ausmaß und die Beschaffenheit der Bedrängnis deutlicher erkennbar geworden. Die seufzende Kreatur sieht sich als ohnmächtige und vereinzelte der Übergewalt der Gesellschaft ausgeliefert, die sogar in sie eindringt, um sie dort in Gestalt des Egos zu bedrängen. Sie kann niemandem trauen, am wenigsten sich selbst – zumindest in seiner gespaltenen Existenz. Alles Zutrauen, alle Hoffnung sind dagegen auf das wahre Selbst gerichtet, das aus der Bedrängnis erlösen soll. Wie ist es beschaffen und was kann es seinem profanen, aber ungeheuer mächtigen Gegner entgegensetzen?

Unwahrheit des wahren Selbst Die Beantwortung dieser Fragen fällt um einiges schwerer als die Untersuchung des Egos der Gesellschaft. Alleine der Versuch der Bestimmung des wahren Selbst wird von esoterischer Seite oft mit der Versicherung abgewehrt, dass es sich der Beschränktheit der menschlichen Vernunft und Sprache entzöge. Dementsprechend abstrakt und vage bleiben meistens die Beschreibungen dessen, was mit diesem wahren Selbst verbunden wird (vgl. Barth 2012: 278; Hanegraaff 1996: 204). Als wesentliche positive Bestimmung muss wohl angesehen werden, »that the Self itself is sacred« (Heelas 1996: 2). Demnach wird das wahre Selbst der sakralen Sphäre zugeordnet. Im Gegensatz zum Begriff des Sakralen geht in der esoterischen Ideologie damit aber nicht die Trennung von und die Negation des Profanen insgesamt einher. Die Sakralität des wahren Selbst bezieht sich als Negation, wie deutlich geworden ist, auf die Gesellschaft. Da Heelas den Begriff des Sakralen nicht genauer bestimmt, ziehe ich Durkheims (1981 [1912]) Überlegungen zum Verhältnis vom Sakralen

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zum Profanen in den Elementaren Formen des religiösen Lebens hinzu, um die Heiligkeit des Selbst zu erhellen. Durkheim zufolge ist die Scheidung zwischen Sakralem und Profanem in der Menschheitsgeschichte die tiefgreifendste (vgl. Durkheim 1981 [1912]: 64). Wenn das zutrifft, würde das für die Konzeption der esoterischen Subjektivität bedeuten, dass von einem wahren Selbst ausgegangen wird, das absolut von der Existenz des restlichen Selbst getrennt wäre. Wie Durkheim aber selber schon bemerkt hat, wurde in der Religionsgeschichte gerade in Bezug auf den Menschen die Absolutheit der Trennung dieser beiden Sphären relativiert: »Es gibt vielleicht überhaupt keine Religion, die aus dem Menschen ein rein profanes Wesen macht« (Durkheim 1981: 186, Fn. 24). Die Trennung zwischen dem heiligen und dem profanen Selbst in der Esoterik kann alleine schon deshalb nicht absolut sein, weil die Spirituellen der Überzeugung sind, dass ihr heiliges Selbst mit ihnen kommuniziert, insoweit Beziehungen zum Profanen unterhält. Dadurch wiederum transzendiert das gespaltene Selbst die Profanität. Laut Durkheim unterscheiden sich die Religionen unter dem Gesichtspunkt der Heiligung des Menschen darin, wie hoch dieser in der Ordnung der heiligen Dinge rangiert (vgl. ebd.). Die Relativierung der Absolutheit der Trennung des heiligen Selbst vom profanen ändert nichts an dem Umstand, dass ersteres in der esoterischen Ideologie eindeutig in der höchsten Sphäre anzusiedeln ist. Wenn man die von Heelas behauptete reine Self-spirituality ernst nimmt, dann nimmt das wahre Selbst in der Sphäre des Sakralen die höchste Position ein. Folgt man Heelas’ (1996) Darstellung, dann ist das wahre Selbst nicht nur der höchsten Sphäre zugeordnet, sondern auch der innerlichsten: »The inner realm, and the inner realm alone, is held to serve as the source of authentic vitality, creativity, love, tranquility, wisdom, power, authority and all those other qualities which are held to comprise the perfect life.« (Ebd.: 19)

In diesem Zitat wird diese innerlichste Sphäre zugleich als die ursprünglichste bestimmt. Was darin seinen Ursprung haben soll, bleibt abstrakt und tautologisch, weil es sich in der Feststellung erschöpft, dass dieser wahren Sphäre alles Wahre entspringt. Etwas spezifischer wird diese Auflistung nur, wenn man sich die negative Bestimmung des Wahren in der Esoterik vergegenwärtigt: Die Imagination der aufgelisteten und aller weiteren »qualities which are held to comprise the perfect life« als wahr, innerlich und ursprünglich bedeutet vor allem, sie als ungesellschaftliche, vom Ego freie zu imaginieren. Bemerkenswert ist an dieser Innerlichkeit auch, dass sie die Verwirklichung der genannten Qualitäten in Unabhängigkeit von anderen

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Menschen in Aussicht stellt. Die Haltung der Weltverneinung hat sich in der Geschichte der Religionen schon früh insbesondere in intellektuellen Sekten ausgeprägt (vgl. Weber 1988: 206). Die Besonderheit der Esoterik besteht aber darin, dass ihre Negation sich nicht gegen die Welt im Allgemeinen richtet, sie diese nicht verneint wegen der Vergänglichkeit allen irdischen Strebens, sondern ausdrücklich gegen die Gesellschaft. Dieser versucht sie nicht durch die Flucht ins Nichts zu entkommen, sondern durch die Flucht in ein Etwas, einen phantastischen ungesellschaftlichen Zustand. Dies kommt auch in der Bestimmung des wahren Selbst als der »authentic nature« (Heelas 1996: 2) und als »what we are by nature« (ebd.: 19) zum Ausdruck. Es gibt noch einen weiteren Versuch der positiven Bestimmung des wahren Selbst in Heelas’ Darstellung der Self-spirituality: »Indeed, the most pervasive and significant aspect of the lingua franca of the New Age is that the person is, in essence, spiritual. To experience the ›Self‹ itself is to experience ›God‹, the ›Goddess‹, the ›Source‹, ›Christ Consciousness‹, the ›inner child‹, the ›way of the heart‹, or, most simply and, I think, most frequently, ›inner spirituality‹. And experiences of the ›Higher Self‹, to use another favoured term, stand in stark contrast to those afforded by the ego.« (Ebd.; Hervorhebung im Original)

Wie bei allen in der Esoterik kursierenden Bezeichnungen sind die hier aufgelisteten nicht als einander ausschließende zu verstehen, sondern als Assoziationen in Bezug auf ein und denselben Gegenstand. Niemand wird in der Esoterik darauf beharren, dass sein wahres Selbst nur das Göttliche sei, sondern es ist zugleich das Göttliche, das innere Kind und etliches mehr. Wenn man sich noch einmal die Analyse des gespaltenen Selbst in Erinnerung ruft, dann ist die Erfahrung des wahren Selbst sogar dann, wenn sie »most simply« als Erfahrung der »inner spirituality« bezeichnet wird, eine weit kompliziertere Erfahrung als Heelas es hier nahelegt. Nämlich die Erfahrung von etwas, was ich sein will, von dem ich glaube, dass ich es bin, was ich aber zugleich nicht bin und wegen der schädlichen Wirkung des Egos der Gesellschaft vorerst nicht sein kann. Das ist der Gehalt, der sogar aus der Innerlichkeit der »inner spirituality« hervorzukehren ist, die ansonsten, im Vergleich mit den anderen Bezeichnungen, die simpelste im Sinne der leersten darstellt. Als Negation enthält sie in sich die Negation des dem Spirituellen Äußerlichen, genauer: des Materialismus der Gesellschaft. Die Assoziation des höheren Selbst mit dem »inner child« ist ebenfalls im Zusammenhang der Negation der Gesellschaft zu interpretieren, weil in der Esoterik das Kind als ein ursprüngliches, noch nicht von der Gesellschaft

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verdorbenes Wesen imaginiert wird (vgl. Schnabel 2007: 209). Zu den besonderen Fähigkeiten dieses Wesens zählt auch, den »way of the heart« gehen zu können und nicht, wie die von der Gesellschaft Zugerichteten, durch den Verstand von diesem Weg abgelenkt zu werden. Die Vorstellung, das wahre Selbst sei Ursprung, Quelle, wurde oben im vorangegangenen Zitat Heelas’ bereits formuliert. Drei der Termini bringen die Erfahrung des wahren Selbst in einen Zusammenhang mit dem Göttlichen. Angesichts der dem wahren Selbst zugewiesenen Attribute des Höchsten, Heiligsten und Ursprünglichsten ist seine Vergöttlichung wenig überraschend, denn das Göttliche ist der Inbegriff dieser Attribute. Hat mit dieser Bezugnahme auf das Göttliche nicht in Heelas’ eigene Darstellung der reinen Self-spirituality unwillkürlich eine explizite Bezugnahme auf eine höhere, außerhalb des Selbst liegende Macht Eingang gefunden? Religionsgeschichtlich hat die Bezugnahme auf das Göttliche im Menschen selber stets seine besondere Beziehung zu dem auch außer ihm seienden Gott bedeutet. Wenn Durkheims (vgl. 1981: 277) These Gültigkeit besitzt, dann wird in keiner Religion die höchste Macht vollständig personalisiert. Im Hinblick auf das wahre Selbst der Esoterik würde dies bedeuten, dass in ihm sich nur ein Teil einer höheren Macht personalisiert, die neben dieser Manifestation fortbesteht. Das wahre Selbst würde zum Göttlichen nur in Beziehung zu dieser höheren Macht. In einem Interview, das Chantal Magnin und Marianne Rychner (vgl. 1996: 76) mit einer Esoterikerin geführt haben, beweist diese ein feines Gespür für dieses Verhältnis, wenn sie sagt, dass sie das Wort »Gott« vermeidet, weil es sie daran erinnert, es noch nicht zu sein. Selbst wenn es ihr gelänge, das Wort zu vermeiden, wird sie dennoch unablässig damit konfrontiert, dass sie kein Gott ist. Die genauere Gestaltung ihrer Selbstvergottungsphantasie ist bemerkenswert. Sie wünscht sich, sich über Gott und Teufel zu erheben und mit der Aufhebung der Entzweiung zwischen diesen beiden Antipoden die Entzweiung überhaupt aufzuheben, damit sich alles letztlich in der Einheit der Energie auflöse (vgl. ebd.: 75ff.). Ihr magisches Denken zeugt von einem besseren Verständnis der Logik der Selbstvergottung als es bei Heelas zu finden ist. Sie spürt, dass sie alleine durch die Verwendung des Wortes »Gott« dieses Objekt als ein von ihr unterschiedenes anerkennt. Logisch gilt dies für alle Assoziationen, die Heelas (vgl. 1996: 19) nennt. Sie alle beziehen sich auf ein Objekt, das nicht identisch mit ihrem wahren Selbst ist. Das wahre Selbst erhält seine heilige Qualität nur vermöge dieser Beziehung, ist von diesem Objekt abhängig. Folglich existiert eine Macht außerhalb des wahren Selbst, die,

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wenn sie nicht höher, dann doch wenigstens auf einer Stufe in der sakralen Ordnung steht. Worin besteht dann der Unterschied zwischen dieser Self-spirituality und derjenigen, die laut Heelas neben der Heiligkeit des Selbst außerdem die »spirituality of the natural order as a whole« (Heelas 1996: 2) vertritt? Je mehr man die Logik der esoterischen Selbstvergottung nachvollzieht, desto mehr verflüchtigt sich der von Heelas behauptete Unterschied. Heelas’ Darstellung zufolge ist das wahre Selbst heilig, der innerlichste, ursprünglichste, göttlichste Teil des Selbst. Das wahre Selbst jedoch schottet sich nicht vollkommen in seiner sakralen Sphäre ab, sondern unterhält Beziehungen zum extrem gespaltenen Selbst und damit der ganzen Sphäre des Profanen, samt seiner Antipoden Ego und Gesellschaft. Dem gespaltenen Selbst teilt es mit, dass es sich von der Gesellschaft und dem Ego abwenden und sich ihm vollkommen zuwenden soll. Das wahre Selbst erweist sich insofern wie alle Götter als unvollkommen, weil es offenbar einen Mangel leidet, das Bedürfnis nach Zuwendung von Seiten des gespaltenen Selbst besitzt. Anstelle der sich selbst genügenden Gottheit wird ein bedürftiges Mängelwesen sichtbar. Es ist nicht mit sich selbst identisch. Es ist nicht heilig, sondern gespalten. Nicht nur das gespaltene Selbst will mit dem wahren Selbst identisch sein, sondern auch umgekehrt jenes mit diesem. Anstatt in seiner sakralen Sphäre sich seiner Reinheit zu erfreuen, verstrickt es sich vermittelst seines Verkehrs mit dem gespaltenen Selbst, verunreinigt sich. Während seine Antipoden dem gespaltenen Selbst sehr konkret zusetzen, bleibt das, was das wahre Selbst dem entgegenzusetzen vermag, auffällig abstrakt. Seine Innerlichkeit, Ursprünglichkeit und Heiligkeit erschöpfen sich, wenn es wirklich nur aus sich selber schöpfen soll und nicht in Beziehung zu einer anderen Macht positive Bestimmungen erhält, in der negativen Bestimmung: die Negation des Gesellschaftlichen zu sein. Würde die von Heelas konzipierte reine Self-spirituality der Esoterik wirklich ihre »initial task« darin erblicken, »to make contact with the spirituality which lies within the person« (Heelas 1996: 2) und ausschließlich das wahre Selbst zu heiligen, müsste man sich fragen, warum sich jemand um Kontakt zu diesem wahren Selbst bemühen sollte – außer aus Mitleid für dieses erbärmliche Geschöpf, das sich in nichts von dem gespaltenen Selbst unterscheidet. Wie dieses ist es im Profanen verstrickt, gespalten, bedürftig, am Mangel und an der Nicht-Identität leidend. Seine Negation der Allmacht der Gesellschaft bedeutet seine Ohnmacht. Die Ohnmacht des wahren Selbst wird sogar von der Esoterik anerkannt, wenn sie mit der Vorstellung des

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gespaltenen Selbst zugibt, dass das wahre Selbst zu schwach ist, sich gegen das Ego, geschweige gegen die Gesellschaft durchzusetzen. Es hat hierin dem gespaltenen Selbst, dem es doch zur Hilfe kommen soll, nichts voraus. Von ihm kann die seufzende Kreatur keine Rettung aus der Bedrängnis erwarten.

Selbst nach Schicksalsmaß Wäre die Esoterik wirklich so beschaffen, wie Heelas sie konzipiert, wäre sie ein religionsgeschichtliches Kuriosum und es wäre schwer nachvollziehbar, warum sie eine derart große Anziehungskraft besitzt. Dem »tyrannical hold« und der »authority« (Heelas 1996: 20) des Egos der Gesellschaft hätte das gespaltene Selbst mit dem wahren Selbst nur ein Gespenst entgegenzusetzen, eine schemenhafte Verdopplung der eigenen Schwäche und Ohnmacht. Will das gespaltene Selbst sich wirklich des Egos entledigen, dann bedarf es der Hilfe einer Macht, die wenigstens so stark ist, dass sie der Gesellschaft Paroli bieten kann. Nach der ausführlichen Kritik der Konzeption Heelas’ möchte ich darum nun die These entwickeln, dass der Glaube an diese Macht, das Wissen ihrer Existenz, zum Wesen der esoterischen Ideologie gehört. Wie bereits in seiner ersten Skizze ersichtlich geworden ist, erkennt Heelas (1996: 2; siehe dazu auch ebd.: 16) immerhin an, dass für viele Esoteriker die Beziehung zur »spirituality of the natural order as a whole« große Bedeutung besitzt. Er kommt an anderer Stelle noch einmal darauf zurück und vermittelt einen genaueren Eindruck davon, wie sich diese Beziehung zwischen dem wahren Selbst und der Ordnung vorgestellt wird. »Another way of looking at the matter of holism is to draw attention to the fact that the term ›Self-spirituality‹ need [sic] not simply [sic] refer to the spirituality within the individual. A great many suppose that contact with their own Higher Selves ensures that contact is made with the Self/Goddess/Spirituality which belongs to the natural order, the outcome being a harmonious working relationship.« (Ebd.: 33)

Heelas erkennt also an, dass für viele Esoteriker die Beziehung auf eine höhere Ordnung zu ihrer Self-spirituality dazu gehört. Dennoch schließt er diese Beziehung und damit die höhere Ordnung aus seiner Definition der Self-spirituality aus. Von der Self-spirituality in seinem engen Sinn wähnt Heelas

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alle Esoteriker erfüllt, während die Beschreibung in dem Zitat nur auf »great many« zuträfe. Die Begründung seiner Konzeption der Self-spirituality mit Verweis auf die Verbreitung bestimmter Vorstellungen irritiert, weil er seine Bestimmungen ansonsten nicht durch diesen Verweis zu legitimieren versucht. Vielmehr möchte er mit seiner Definition der »essential lingua franca« (Heelas 1996: 18) die besondere Qualität des New Age fassen, die es von allen anderen Formen der Spiritualität unterscheidet. Vor diesem Hintergrund wirkt hier seine Relativierung mit dem Verweis auf die »great many« willkürlich, wie ein Notbehelf, um das aus der lingua franca auszuschließen, von dem er, wie oben das Zitat über die »relatively distinctive currency« (Heelas 2016: 16) belegt, selber ahnt, dass es sich nicht so leicht ausschließen lässt. Die Konzeption einer reinen Self-spirituality wird nicht nur von Heelas vertreten. Christopher Partridge (vgl. 2007: 238ff.) fasst sie als eine der drei Arten, wie sich in der Esoterik die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Göttlichen vorgestellt wird. Er schlägt vor, diese Vorstellungen in pantheistische, polytheistische und panentheistische zu unterscheiden (vgl. ebd.: 241). Da es sich bei letzterer um eine spitzfindige Abgrenzung einiger Esoteriker handelt, die sich der christlichen Tradition verbunden fühlen, werde ich nicht weiter auf sie eingehen und mich auf die ersten beiden konzentrieren. Die pantheistische Vorstellung beinhaltet laut Partridge, alles als Teil des Göttlichen zu begreifen, in das man aufzugehen anstrebe. Als »polytheistisch« bezeichnet Partridge die Vorstellung derjenigen, die sich selber als vollkommene Götter betrachten: »there seems to be no understanding of a greater authority than one’s Self, one’s own mind/soul« (ebd.: 240). Die Bezeichnung »polytheistisch« irritiert, weil es in dem von Partridge zitierten Material überhaupt nicht um andere Götter und nicht um die Anerkennung einer Vielheit von Göttern geht, sondern allein um die Göttlichkeit des eigenen Selbst. Diese Vorstellung schreibt er dem Teil der Esoteriker zu, »whose philosophies seem to have collapsed into total, sometimes narcissistic, subjectivism« (ebd.: 239). Also die, von denen Heelas glaubt, dass sie tatsächlich eine absolute Self-spirituality zelebrieren. Im Gegensatz zu Heelas klingt bei Partridge allerdings in seiner Formulierung »seems« (ebd.: 240) ein Vorbehalt gegenüber dieser Selbstdarstellung an. Überhaupt behandelt er das esoterische Selbstverständnis und die Selbstauskünfte kritischer als Heelas. Das wird besonders deutlich im Hinblick auf die vorgebliche Self-authority der Esoterik, die Partridge in Zweifel zieht (vgl. ebd.: 247ff.). Partridges Zweifel an der absoluten Selbstgefälligkeit der »poly-

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theistischen« Esoteriker halte ich mit Blick auf das von ihm herangezogene Material für berechtigt. Er analysiert die Vorstellungen der esoterischen Autorin Shirley MacLaine, von welcher der häufig zitierte Ausspruch »I am God. I am God. I am God.« stammt (vgl. Partridge 2007: 238). Dieses Statement könnte, wenn man es isoliert betrachtet, dazu verleiten, in ihr eine Vertreterin der von Heelas konstruierten reinen Self-spirituality zu sehen. Aber auf der Grundlage der Analyse der Schriften MacLaines gelangt Partridge zu dem Urteil, dass sie mit diesem Ausspruch lediglich den göttlichen Funken in sich meint und ihre Teilhabe am Göttlichen reklamiert (vgl. ebd.: 238ff.). Deshalb ordnet Partridge sie auch den pantheistischen Esoterikern zu. Vor diesem Hintergrund denke ich, sind Vorbehalte gegenüber den von Partridge angeführten »polytheistischen« Vertretern der reinen Self-spirituality angebracht (vgl. Partridge 2007: 239f.). Isoliert betrachtet erwecken deren Äußerungen gleichfalls den Anschein, als käme in ihnen die absolute Selbstgefälligkeit zum Ausdruck. Da es sich aber um sehr kurze Statements handelt, sollte man sich doch wie bei MacLaine nicht vom ersten Anschein in die Irre führen lassen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sich deren Selbstvergottung ebenso wie MacLaines bei näherer Betrachtung als eine erweist, die in Beziehung zu einer über das Selbst hinausgehenden göttlichen Macht erfolgt. Partridge zitiert Äußerungen Werner Erhards, Gründer von EST (Erhard Seminar Trainings), der behauptet, die Erfahrung gemacht zu haben, selber der Raum, der Schöpfer, die Quelle zu sein (vgl. ebd.). Es fällt hier wieder auf, dass die Selbstgefälligkeit keine absolute ist, die eigene Göttlichkeit durch Beziehung auf andere Objekte hergestellt wird, wodurch diese sakralisiert und die eigene Göttlichkeit relativiert wird. Selbstvergottung und Verschmelzung mit dem Absoluten schließen sich nicht aus, sondern bilden eine Einheit. Es ist unabdingbar die beiden Momente voneinander analytisch zu trennen, aber sie dürfen nicht als getrennte hypostasiert werden, weil gerade der Zusammenhang beider Momente für die esoterische Ideologie wesentlich ist (vgl. Kratz 1995: 183ff.). Ich werde diesen Zusammenhang jetzt ausführlicher anhand des bereits erwähnten Bestsellers Schicksal als Chance untersuchen. Für die Wahl dieses Materials spricht, dass Dethlefsens Bücher nicht nur im deutschsprachigen Raum große Verbreitung gefunden haben und das genannte als Standardwerk gilt (vgl. Schnabel 2007: 79). Mehrere kritische Studien haben sich bereits Dethlefsens Werk vorgenommen (vgl. Barth 2003; Bock 1995; Platta 1998, 2001; Schnabel 2007). Dagegen spräche im Zusammenhang meiner Untersuchung, wie eingangs angedeutet, dass Dethlefsen im Vergleich zur

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gegenwärtigen auf das Selbst bezogenen Esoterik anachronistisch erscheint. Nicht nur, weil er das Schicksal als eine Opfer fordernde Macht zeichnet und bei Unwille mit Unheil droht. Sondern vor allem, weil dem Selbst keine besondere Bedeutung zuzukommen scheint. Erst in seinem 1983 zusammen mit Ruediger Dahlke verfassten Buch Krankheit als Weg, das 2015 die 19. Auflage erreicht hat, passt er sich offensichtlich an den Trend der Self-spirituality an (vgl. Schnabel 2007: 160ff.). Dethlefsens Rede vom Schicksalsopfer kann leicht den Eindruck erwecken, als ginge es ihm nicht, wie in Heelas’ Konzeption, neben der Heiligung des Selbst auch um die Heiligung der Ordnung, sondern ausschließlich um letztere. Aber schon der Titel deutet an, dass es sich nicht so einfach verhält, denn er stellt in Aussicht, das Schicksal als Chance begreifen und nutzen zu lernen. Im Zuge meiner Diskussion ausführlicher Zitate wird deutlich werden, dass Dethlefsens Esoterik nur an der Oberfläche anachronistisch anmutet, sie bei genauerer Betrachtung im Wesentlichen mit der zeitgenössischen Self-spirituality übereinstimmt. »Gegenstand unserer Betrachtung war einzig und allein das Schicksal – jener Partner aller Menschen, mit dem zu beschäftigen sie gezwungen sind. Dieses eigene Schicksal ist das individuellste, maßgeschneidertste esoterische System, das man je finden kann. Deshalb beginnt der Weg auch damit, sich mit dem eigenen Schicksal auseinanderzusetzen. Ziel dieser Auseinandersetzung ist nicht Reichtum, Glück und Erfolg im üblichen Sinn, sondern eine tiefere Erkenntnis der Wirklichkeit, eine Erweiterung des Bewußtseins, eine Begegnung mit jener Instanz, die der Mensch Gott nennt.« (Dethlefsen 1998: 254)

Hier halte ich drei Aspekte für bemerkenswert. Erstens: Das Schicksal, das gemeinhin als eine anonym waltende Macht imaginiert wird, erfährt als »Partner« eine Anthropomorphisierung. Zum zweiten wird durch die Bezeichnung »Partner« nahegelegt, man könnte sich diesen Partner aussuchen und es handelte sich um eine ebenbürtige Beziehung. Allerdings kann man Dethlefsen nicht vorwerfen, er verschleiere das Machtgefälle zwischen diesen beiden Partnern. Drittens wird das Schicksal zuerst im Singular als ein Partner für alle eingeführt, dann im nächsten Satz als trotzdem für alle individuell maßgeschneidert bestimmt. Sich mit diesem Partner auseinanderzusetzen bestimmt der Autor als den Anfang des esoterischen Weges. Als Ziel dieses Weges bestimmt er die Begegnung mit Gott, worunter Dethlefsen die Einheit mit der kosmischen Ordnung versteht (vgl. ebd.: 268), die im Folgenden noch deutlicher konturiert wird. Dethlefsen ist sich bewusst, dass seine Schicksalspartnerschaft dem gewöhnlichen Verständnis entgegensteht. Im nächsten Zitat benennt er es

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ausdrücklich als Herausforderung des esoterischen Weges, sein Schicksal nicht länger als Feind anzusehen: »Das anonyme Schicksal, von dessen blinder Zufälligkeit die Menschheit sich bedroht fühlt, offenbart nun langsam dem Suchenden sein innerstes Gesetz: Schicksal ist jene Instanz, die dafür sorgt, daß der einzelne [sic] seine vorgeschriebene Bahn zieht. Aus dem vermeintlichen Feind Schicksal wird ein Partner, der verhindert, daß wir aus eigener Trägheit uns selbst aus der Evolution ausklammern. Je mehr ein Mensch sich weigert, bestimmte Probleme lernend zu erlösen [sic], je mehr er auf Widerstand mit seinem Schicksal geht, um so mehr wird er nur den negativen Aspekt des Schicksals, das Leid, kennenlernen.« (Dethlefsen 1998: 265f.)

Das Versprechen Dethlefsens besteht darin, dass das Schicksal auf dem Weg seinen anonymen, zufälligen und bedrohlichen Charakter verliert und sich von einem Feind in einen Partner verwandelt. Die Vertraulichkeit wird dadurch hergestellt, dass der Anschein der Zufälligkeit zum Verschwinden gebracht wird, indem das Schicksal seine Gesetzmäßigkeit offenbart. Diese besteht einmal allgemein darin, dass es für alle Menschen eine vorgeschriebene Bahn und eine Evolution gibt. Als persönliches, maßgeschneidertes System wird das Schicksal wohl dann erfahren, wenn es seinem menschlichen Partner die für ihn vorgesehene Bahn aufzeigt. Seine Partnerschaft stellt das Schicksal aber nicht allein durch das Aufweisen des Weges unter Beweis, sondern auch durch seine Sorge darum, dass dieser Weg nicht verlassen, aus der vorgegeben Bahn nicht ausgeschert wird. In diesem Fall wird der Widerständige mit der negativen Seite des Schicksals, dem Leid, konfrontiert. Es ist ein sorgender und strafender Partner. In den letzten Sätzen wird deutlich, dass die vom Schicksal vorgeschriebene Bahn Probleme bereit hält, die es zu bewältigen gilt, wenn man sich seinen Schicksalspartner nicht zum Feind machen möchte. Die esoterische Freiheit besteht laut Dethlefsen in der Befolgung der Schicksalsweisungen, in der Fügung in die vorgegebene Bahn: »Die paradoxe Wahrheit lautet: Nur wer unter dem Gesetz steht, ist frei. Die Mehrzahl der Menschen versucht jedoch, Freiheit aus der Willkür heraus zu erreichen – dieser Weg führt aber in die Unfreiheit. Leid ist lediglich die Reibung, die zwischen den Menschen und dem Gesetz dieser Welt entsteht. Das Gesetz erfüllen, heißt, keine Reibung mehr wahrzunehmen. So lauten denn die goldenen Regeln zur Erlangung absoluter Freiheit: 1. Erkenne Dich selbst (den Mikrokosmos)! 2. Erkenne die Gesetzmäßigkeiten dieses Universums (Makrokosmos)! 3. Erkenne, daß die Gesetzmäßigkeit gut ist (in Harmonie gehen)!

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4. Stelle Dich freiwillig und vollständig unter die als gut erkannte Gesetzmäßigkeit!« (Dethlefsen 1998: 138f.)

Dethlefsen stellt seine »paradoxe Wahrheit« der der Mehrzahl der Menschen zugeschriebenen Vorstellung von der Freiheit als Willkür gegenüber. In der Esoterik wird die Paradoxie aufgelöst und das, was der Mehrzahl der Menschen als Unfreiheit erscheint, die Unterwerfung unter das Gesetz des Schicksals, offenbart sich als absolute Freiheit und die gemeine Vorstellung der Freiheit erweist sich in Wahrheit als Unfreiheit, die, da sie sich gegen das Gesetz gleichgültig verhält, mit Leid sanktioniert wird. Die ersten zwei goldenen Regeln erklären sich nach dem bisher Diskutierten von selber. Die beiden letzten Regeln mögen mit Blick auf Heelas’ Bestimmung der lingua franca der Self-spirituality als durch den Konflikt mit der Gesellschaft geprägte irritieren. Derzufolge wird die Gesellschaft ausdrücklich nicht als gut anerkannt und es existiert eine Disharmonie (vgl. Heelas 1996: 18f.). Auf diesen scheinbaren Widerspruch werde ich unten eingehen. Direkt im Anschluss an die goldenen Regeln kommt Dethlefsen noch einmal auf die vorgeschriebene Bahn zurück und führt seine Erläuterungen zum Verhältnis von Freiheit und Gesetz fort. »Wer diese vier Schritte vollzieht, erntet von selbst die Quinta Essentia, die da lautet: Freiheit. Wer sich freiwillig unter das Gesetz stellt, wird eins mit dem Gesetz, wird selbst zum Gesetz – und es gibt nichts mehr über ihm, was ihn hindern könnte. So formuliert Crowly: ›Jeder Mensch soll sein wie ein Stern und seine Bahn ziehen.‹ Ein Stern ist frei, solange er seine Bahn zieht. Die Unfreiheit beginnt erst beim Verlassen seiner Bahn. Jeder Mensch besitzt ebenfalls eine Bahn, die er in diesem Kosmos zu ziehen hat, er muß sie aber kennen, sonst bekommt er die Reibungen seiner falschen Bahn zu spüren. So reden wir weder der Aktivität noch der Passivität das Wort – erst beides zusammen ergibt einen Rhythmus. Zuerst muß der Mensch still werden und lauschen, um seine Bahn zu erfahren – dann aber muß er aktiv diese seine Bahn ziehen. Eine solche Aktivität entsteht aus dem Vertrauen, nicht aus der Egodominanz des: ›Ich will, ich mache.‹ Seine höchste Freiheit hat der Mensch erlangt, wenn er die Worte sprechen kann: ›Herr, nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe.‹« (Dethlefsen 1998: 139)

Wurde im vorangegangenen Zitat das Verhältnis zwischen Mensch und Gesetz nur als eines der Unterordnung bestimmt, erfährt man hier noch weitere Aspekte. Die Unterordnung unter das Gesetz fasst Dethlefsen als eine Verschmelzung mit dem Gesetz, wodurch man selber zum Gesetz würde und am Ende dieses Prozesses nichts mehr über einem stünde. Um die dadurch gewonnene Freiheit bildlich zu veranschaulichen, verweist Dethlefsen auf ein Diktum Aleister Crowleys. Im Stern, der seine kos-

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mische Bahn zieht, wird ein Vorbild der Freiheit ausgemacht. Die Wahl des Bildes ist allein deshalb bemerkenswert, weil hier die Quinta Essentia der esoterischen Freiheit darauf hinausläuft: Sei wie ein Gesteinsbrocken – vollkommenes Objekt. Im daran anschließenden Absatz wird dieses Sollen aber wieder relativiert, indem vom esoterischen Publikum Leistungen der Subjektivität verlangt werden, von denen ein tumber Stern befreit ist. Dieser kann und muss seine Bahn weder still und lauschend erkennen, noch diese aktiv ziehen. In den letzten Sätzen wird diese Aktivität wiederum recht eigenartig bestimmt. Sie soll nicht aus der Egodominanz hervorgehen, sondern aus dem Vertrauen in das Gesetz, den Partner Schicksal, die kosmische Ordnung. Als höchste Freiheit wird zum Abschluss unter Verweis auf das Vaterunser bestimmt, sich vollkommen dem Walten des Schicksals zu überlassen. Würde man hier auf die Widersprüche hinweisen, die zwischen den einzelnen Bestimmungen bestehen, parierte Dethlefsen sie sicherlich damit, dass diese nur für den Verstand existieren und sich im esoterischen Wissen auflösen würden. Von Dethlefsens Stern fällt Licht auf das Verhältnis von Schicksal und Selbst. Wie gesagt kommt dem Selbst in Schicksal als Chance als Kategorie keine besondere Bedeutung zu. Es existiert kein besonderer Teil des Selbst, der als wahres Selbst die Beziehung zum Schicksal herstellt. Dennoch ist die Spaltung des Selbst insofern hier vorzufinden, als ausdrücklich das Ego herausgestellt und dessen Dominanz verurteilt wird (vgl. Dethlefsen 1998: 139). Die angestrebte Verschmelzung mit dem Gesetz, um selber zum Gesetz zu werden und nichts mehr über sich zu haben, würde ich als Selbstvergottung interpretieren. Im Verlauf dieses Prozesses sollte das Schicksal seinen anonymen, zufälligen und feindseligen Anschein verlieren und sich als das »individuellste, maßgeschneidertste esoterische System« (ebd.: 254), das einer strengen Gesetzmäßigkeit unterliegt, zu erkennen geben. Trotz seiner Rede vom Schicksalsopfer und Strafe bemüht sich Dethlefsen offenbar darum, dem Schicksal ein persönliches, menschliches Antlitz zu geben. In der Self-spirituality ist die Distanz zum eigenen Schicksal noch geringer und dieses kein äußerlicher Partner, sondern es wird als Teil des Selbst betrachtet: als wahres Selbst. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Vorstellung vom Verhältnis zwischen dem wahren Selbst und seinem gespaltenen, profanen Pendant (vgl. Brown 1997: 65; Hanegraaff 1996: 212ff.; Magnin/Rychner 1996: 34; Schnabel 2007: 201). Laut dieser Vorstellung ist es das höhere, wahre Selbst, das für sein profanes, gespaltenes Selbst die Probleme bestimmt, die dieses zu lösen hat, um zur Vollkommenheit zu gelan-

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gen. Es wird als eine Entität jenseits von Zeit und Raum imaginiert, die den Weg seines profanen Selbst gemäß der in der Esoterik verbreiteten Reinkarnationslehre gegebenenfalls über mehrere Menschenalter begleitet. Dem wahren Selbst kommt hier also die Funktion zu, die in Dethlefsens Esoterik noch dem Schicksal vorbehalten gewesen ist: Den Suchenden ihre vorgegebene Bahn zu offenbaren. Wollte Dethlefsen (1998: 254) durch den absurden Hyperlativ jede Steigerungsmöglichkeit ausschließen, muss im Vergleich zum Partner Schicksal wohl doch das wahre Selbst als das »individuellste, maßgeschneiderste esoterische System« angesehen werden. An dieser Vorstellung ist außerdem interessant, dass das wahre Selbst hier durch Bestimmung seiner Funktion und Praxis konkretisiert wird. Es wird nicht bloß als Gott imaginiert, sondern demonstriert seine Göttlichkeit praktisch, indem es das Schicksal seines irdischen Selbst bestimmt. Eine auf diese Weise gestaltete Self-spirituality ermöglicht es, sich vorzustellen, dass man sich sein eigenes Schicksal sogar zweimal selber ausgesucht hat. Das wahre Selbst trifft die erste Wahl, das profane die zweite, wenn es die erste affirmiert oder ablehnt. Die von Dethlefsen vorgegebene Bahn wird in der Self-spirituality weiter gezogen und sich das Schicksal noch mehr zu eigen gemacht als es die Schicksalspartnerschaft ermöglichte. Bei Dethlefsen besitzt das Subjekt nur die Möglichkeit dem vom Partner Schicksal ausgewählten zuzustimmen, das Schicksalsopfer freiwillig zu leisten oder sich zu weigern und damit die Strafe heraufzubeschwören. Ähnlich verhält es sich in der von Adorno (1997a [1957]; 1997c [1962]; 2019) Mitte der 1950er Jahre durchgeführten Astrologiestudie. In den untersuchten Horoskopspalten gibt es kein höheres, wahres Selbst, das von den Sternen Botschaften an die Erde sendet. Aber schon damals ist Adorno aufgefallen, dass dort kein reiner Determinismus propagiert wird. Das Prinzip der subjektiven Freiheit wird nicht völlig negiert, sondern die Freiheit des Publikums betont, sich aus Gründen der Vernunft für die Befolgung der vorgeblich den Sternen abgeschauten Schicksalsanweisungen zu entscheiden. Welche Konsequenzen aus der Nichtbefolgung erwachsen, ob und wie das Schicksal mangelnde Fügsamkeit sanktionieren wird, bleibt im Gegensatz zur offenen Drohung Dethlefsens in den Horoskopen unausgesprochen (vgl. Adorno 1997a [1957]: 24): »According to this concept, freedom consists of the individual’s taking upon himself voluntarily what is inevitable anyway. The empty shell of liberty is solicitously kept intact. If the individual acts according to given conjunctions, everything will go right, if he does not, everything will go wrong.« (ebd.: 28)

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Wenngleich es in der Self-spirituality nicht mehr Partner Schicksal, sondern das wahre Selbst ist, das einem die Bahn weist und das Gesetz offenbart, besteht die esoterische Freiheit nach wie vor darin, sich ins Unausweichliche zu fügen und mit dem Gesetz eins zu werden. Die »empty shell of liberty« hat bloß einen neuen Anstrich bekommen.

Schicksalsbestimmung Die Macht, von der sich die bedrängte Kreatur in der Esoterik Beistand erhofft, um sich der Zudringlichkeiten der Gesellschaft zu erwehren, hat nach der Untersuchung ihrer »harmonious working relationship« (Heelas 1996: 33) mit dem Selbst erste Konturen gewonnen. Ich werde diese natürliche oder kosmische Ordnung, die fließende Energie, die Ganzheit oder wie diese Macht sonst genannt wird im weiteren Verlauf der Untersuchung als »Schicksal« bezeichnen. Aus den verschiedenen für diese Macht kursierenden Namen habe ich mich für diesen entschieden, weil er einmal griffiger ist als beispielsweise »natural order as a whole« (ebd.: 2), zweitens in der Esoterik weit verbreitet ist und drittens über eine über diese hinausreichende Tradition verfügt. Wird das Schicksal gemeinhin mit einer unpersönlichen Macht assoziiert, hat es sich schon abgezeichnet, dass dies nicht Unbestimmtheit bedeutet. Schicksalskonzeptionen können sich voneinander unterscheiden wie persönliche Götter. Die Besonderheit des esoterischen Schicksals soll jetzt näher untersucht und dieses fortbestimmt werden. Max Weber (vgl. 1956 [1921]: 340) stellt in seiner Religionssoziologie die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Schicksalsvorstellungen heraus. Wollte man die esoterische Konzeption des Schicksals der Weber’schen Typologie subsumieren, dann könnte man sie zunächst als »providentielle Macht harmonischer und rationaler Ordnung der Welt« (ebd.) auffassen. Das Attribut der Rationalität ist hier insofern berechtigt, als die Esoterik nur die Beschränkung auf die wissenschaftliche Rationalität ablehnt und für sich eine höhere Rationalität beansprucht, die jene in sich einbegreift. Aber ist nicht in der Untersuchung der harmonischen Schicksalsvorstellung Dethlefsens eine Dissonanz aufgetreten? Der Widerspruch ist hervorgetreten zwischen der goldenen Regel Dethlefsens (vgl. 1998: 138f.), die Schicksalsordnung von Mikro- und Makrokosmos als gut anzuerkennen und in Harmonie zu leben, und dem Element der lingua franca Heelas’ (vgl. 1996: 19f.),

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das die Ablehnung der bestehenden Gesellschaft zum Inhalt hat. Vergegenwärtigt man sich aber noch einmal Dethlefsens Ausführungen zum Schicksal, dann stellt man fest, dass die Erkenntnis der Harmonie der Schicksalsordnung und die Anerkennung des Schicksals als Partner als Ziel des esoterischen Weges bestimmt werden. Wenn man auf diesem Weg noch nicht weit genug fortgeschritten ist, wie es Dethlefsen der Mehrheit der Menschen attestiert, erscheint das Schicksal als Feind, mit dem in Harmonie zu leben ausgeschlossen ist. Ich denke, dass hierin der Schlüssel zur Lösung des Problems liegt. Mit ihm lässt sich das Objekt der Gesellschaft in der esoterischen Self-spirituality als das feindliche Schicksal entschlüsseln. Der Unterscheidung Webers (1956: 340) entspricht dies der Vorstellung des Schicksals als »Verhängnis«. Die Gesellschaft steht dem Individuum am Anfang seines Weges als anonyme, zufällige, feindliche Macht gegenüber. Je weiter es auf seinem Weg voranschreitet, je mehr es sein wahres Selbst erkennt und in Harmonie mit seinem Schicksal lebt, desto mehr wird offenbar, dass die Gesellschaft gesetzmäßig und gut eingerichtet ist. Es vollzieht sich eine Verwandlung des Schicksals vom Verhängnis in eine mit der imaginierten kosmischen Harmonie übereinstimmende Vorsehung. Wenn das Individuum zu diesem Wissen gelangte, löste sich der Widerspruch zwischen Gesellschaft und Schicksal auf. Stehen sich beide zunächst als Antipoden gegenüber, als Gott und Gegengott, zerginge dieser Schein im höheren Bewusstsein und sie würden als zwei Seiten der einen harmonischen Schicksalsordnung erkennbar. Die Gesellschaft könnte als Schicksal angenommen, die Spaltung des Selbst überwunden und die vollkommene Einheit von Mikro- und Makrokosmos hergestellt werden. Das für die esoterische Ideologie Spezifische, dem keiner der von Weber dargestellten Schicksalstypen entspricht, besteht allerdings in der oben herausgearbeiteten Vorstellung, durch die Unterwerfung unter das Schicksal die Teilhabe an dessen Allmacht zu erlangen und in ihm die eigene Freiheit zu verwirklichen. Die Erlösung wird nicht wie im Buddhismus als eine Auflösung im Jenseits des Nichts imaginiert, sondern als die Verschmelzung von Schicksal und Selbst im Diesseits. In ihr fände die »Suche nach totaler Identität« (Martins 2015: 77) ihr Ende. Weber (vgl. 1956: 340) entwickelt aber nicht nur diese Typologie der Schicksalsvorstellungen, sondern er führt diese Vorstellungen auf die jeweilige Gesellschaftsformation zurück. Das ist eine der Stellen, an denen Weber, der sich ansonsten um die Widerlegung des historischen Materialismus bemüht, diesem stillschweigend Zugeständnisse macht. Nach der bisherigen

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Analyse lässt sich die Besonderheit der Schicksalskonzeption der esoterischen Ideologie so fassen, dass sie nicht nur den Widerspruch aus chaotischem Verhängnis und harmonischer Vorsehung in sich vereinigt, sondern die vollkommene Unterwerfung unter das Schicksal von den Spirituellen als Verwirklichung ihrer Freiheit im Diesseits imaginiert wird. Wie in jedem Monismus vereinigt die höchste Macht der Esoterik in sich Widersprüche und ist überdeterminiert. Mag das esoterische Schicksal auf den ersten Blick befremdlich anmuten, lässt sich in ihm bei näherer Betrachtung das Schicksal der kapitalistischen Gesellschaft erkennen, in der um so stärker ein Kult der Freiheit des Individuums betrieben wird, je mehr sich alle von einer undurchsichtigen Macht beherrscht wähnen. Der esoterische Schicksalsglauben ist nur die besondere Ausprägung einer allgemeinen Tendenz, die Ende des 19. Jahrhunderts die gesamte bürgerliche Ideologie bestimmte. Die Weltwirtschaftskrise 1873 hat die letzten Reste der liberalen Illusion zerstört, derzufolge die Verfolgung des kapitalistischen Privatinteresses wie von unsichtbarer Hand zur Verwirklichung der allgemeinen Vernunft und des allgemeinen Wohlstands führen sollte. Seit dieser Desillusionierung erscheint die Gesellschaft dem bürgerlichen Geist als ein undurchdringliches Verhängnis. Am Begriff der Freiheit wird zwar weiterhin festgehalten, aber er ist bloß eine »empty shell of liberty« (Adorno 1997a: 28). Horkheimer (vgl. 1988: 363f.) hat 1936 in seinem Aufsatz Autorität und Familie schon in der Philosophie Fichtes die Tendenz des resignierten Bürgertums ausgemacht, die innere Freiheit um so stärker zu betonen, je weniger die äußere vorhanden ist. In Arnold Gehlens 1933 vorgenommener Bestimmung der Freiheit als Bejahung dessen, was sowieso geschieht, sieht Horkheimer dann die Vollendung dieser Tendenz (vgl. ebd.: 364). Dies ist nur eine der vielfältigen Gestalten des Irrationalismus, die Ende des 19. Jahrhunderts in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften großen Einfluss gewinnen (vgl. Lukács 1984 [1955]). Dagegen attackiert der Positivismus den Begriff und die Theorie der Gesellschaft als unwissenschaftliche Spekulation. Wie sein vermeintlicher Antipode, der Irrationalismus, wird ihm, ohne dieses Vokabular zu benutzen, die Gesellschaft zum Unerforschlichen. In der Wirtschaftswissenschaft vereinigen sich beide Tendenzen in der neoliberalen Lehre, in der sich, wie Lukács bereits bemerkt hat, hinter der scheinrationalen Oberfläche der Irrationalismus verbirgt (vgl. ebd.: 613). Im Neoliberalismus ist das Verdrängte des klassischen Liberalismus, seine Irrationalität und Gewalt, an die Oberfläche gelangt (im Folgenden orientiere ich mich an Stapelfeldt 2014: 593ff.). Die Vernunft, die der

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Neoliberalismus propagiert, ist die des Selbsterhaltungskampfes des Sozialatoms, das sich an das anpasst und das nachahmt, was Erfolg hat. Die Freiheit des vom Neoliberalismus reklamierten echten Individualismus besteht im freiwilligen Sich-Fügen in das unerkennbare Gesellschaftsschicksal. Von der neoliberalen Lehre unterscheidet sich die esoterische Ideologie also weniger hinsichtlich ihres Irrationalismus als vielmehr dadurch, dass sie, wie Marx (1956 [1844]) es in Bezug auf das religiöse Elend insgesamt festhielt, nicht nur Ausdruck des wirklichen Elends ist, sondern zugleich »die Protestation gegen das wirkliche Elend« (ebd.: 378; Hervorhebung im Original). Der Protest gegen die totale Vergesellschaftung ist kein vorgeblicher, nur weil in der Esoterik der Konflikt durch Unterwerfung unter die Gesellschaft gelöst wird. Esoterik ist genauso ein Versuch, die Irrationalität der kapitalistischen Gesellschaft zu rationalisieren, deren Sinnlosigkeit Sinn abzupressen, wie sie gegen diese einen schwachen Einspruch erhebt. Die Vermenschlichung des Schicksals lässt sich als die Ahnung deuten, dass das gesellschaftliche Verhängnis von Menschen gemacht ist, deren eigene Gattungskräfte ihnen als fremde gegenübertreten. Die angestrebte Verschmelzung mit dem Schicksal kann als Ausdruck des Wunsches verstanden werden, diese Entfremdung aufzuheben und an den Gattungskräften teil zu haben, nicht länger ihr Objekt zu sein, sondern ihr Subjekt. Zugleich kommt in diesem Wunsch zum Ausdruck, mit welcher Gewalt das Gesellschaftsschicksal wie ein Alp auf die Gehirne der Lebenden drückt. Einmal, weil in ihm die Schicksalshaftigkeit affirmiert und nur die Teilhabe an der Schicksalsmacht gewünscht wird, zum zweiten wegen seines Individualismus, der nicht die Form der kapitalistischen Monade zu transzendieren vermag. Dazu im Widerspruch stehend ist in der esoterischen Schicksalskonzeption gleichzeitig ein Wunsch der Überwindung des Atomismus enthalten, das ozeanische Bedürfnis, mit allem eins zu sein, die Beschränkungen der Subjektform zu transzendieren.

Ritual der Schicksalsgefälligkeit Alles, was in diesen widersprüchlichen Attributen dem Schicksal zu widersprechen scheint, wird aber, wie ich in der Analyse herausgearbeitet habe, integriert, indem die Esoterik als einzigen Ausweg aus dem Schicksal dessen Bejahung propagiert: »Der Protest bleibt hilflos und verwandelt sich in

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Assimilation an die Schicksalskonzeptionen« (Zinser 2009: 134). Die esoterische Ideologie verspricht die Überwindung der Ohnmacht durch Identifizierung mit der Allmacht des Verhängnisses (vgl. Barth 2012: 97; Bock 1995: 337; Magnin/Rychner 1996: 67, 96; Platta 1998: 128). Dies lässt sich nicht nur anhand der Schriften zeigen, sondern auch an der esoterischen Praxis, die um so mehr nach einer ideologiekritischen Analyse verlangt, als in der Esoterik der Primat der Praxis behauptet wird (vgl. Corrywright 2003: 8; Hammer 2006: 856). Mit Verweis auf diesen Primat wird von esoterischer Seite Kritik abgewehrt, die sich alleine auf die esoterische Literatur bezieht. Im Verhältnis zur Praxis wird alles, was geschrieben steht und gesagt wird, als unverbindlich und sekundär erachtet (vgl. Hammer 2010: 49f.). Das Entscheidende bestünde alleine darin, was jeder ganz individuell aus all den esoterischen Inspirationsquellen machte und ob es für ihn funktionierte. Der Primat der Praxis wird auch von Dethlefsen (1998) betont: »Den Weg gehen, heißt, alle, auch noch so kleine Erkenntnisse sofort in die Wirklichkeit umsetzen, heißt, ständig sein eigenes Leben und Erleben, sein Verhalten zu ändern, immer anders zu werden, immer neu sein, kurzum, Esoterik heißt Entwicklung. Diese notwendige Umsetzung nenne ich die Verbindlichkeit der esoterischen Lehre.« (Ebd.: 23)

Die Verbindlichkeit, die Dethlefsen der Umsetzung zuspricht, steht im Kontrast zu der Unverbindlichkeit, mit der er sich in der oben zitierten Passage auf die unterschiedlichen esoterischen Techniken und Disziplinen als Orientierungshilfen bezieht (vgl. ebd.: 25). In dem Zitat hier wird nicht nur die Verbindlichkeit der praktischen Umsetzung betont, sondern auch der totale Anspruch. Die Spirituellen sollen ihr ganzes Leben gemäß der Lehre ausrichten. An dieser Stelle könnte man noch den Eindruck gewinnen, diese beständige Änderung, die Entwicklung mit der Dethlefsen hier Esoterik identifiziert, sei ihr eigener Inhalt und Zweck. Dass dem nicht so ist, wird in Dethlefsens Erläuterungen zum Ritualcharakter der esoterischen Praxis deutlich: »Ein Ritual ist die bewußte mikrokosmische Nachbildung einer makrokosmischen Wirklichkeit. So sehe ich die anspruchsvollste esoterische Übung darin, das tägliche Leben zum Ritual zu erheben. Wollen wir die Polarität überwinden, so müssen wir zuerst die Trennung zwischen ›esoterischen Übungen‹ und ›normalem Leben‹ aufheben – sonst degradiert Esoterik zur Freizeitbeschäftigung. Ziel dieser Anstrengung ist es, einen jeden Handgriff, jedes Wort, jedes Tun zum Gottesdienst zu erheben.« (Ebd.: 262)

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Die esoterische Entwicklung ist nicht Selbstzweck. Ihr Zweck besteht in der »Nachbildung einer makrokosmischen Wirklichkeit« in den mikrokosmischen alltäglichen Empfindungen und Regungen. Es verwundert, dass er hier den unbestimmten Artikel »einer« verwendet, obwohl Dethlefsen doch eine bestimmte makrokosmische Wirklichkeit im Sinn hat: die schicksalhafte kosmische Ordnung. Das »tägliche Leben zum Ritual erheben« bedeutet, das tägliche Leben in Übereinstimmung mit der kosmischen Ordnung zu bringen. Diese Identität zwischen Mikro- und Makrokosmos bedeutet in Dethlefsens Kosmos »Gott« (vgl. Dethlefsen 1998: 268), ihrer Herstellung dient der Gottesdienst des esoterischen Rituals. Setzt man diese Ausführungen in Beziehung zu Dethlefsens Rede vom Opfer, das man dem Schicksal darzubringen hat (vgl. Dethlefsen 1998: 130f.), dann ist die von ihm propagierte Erhebung des Alltags zum Ritual als Darbietung der freiwilligen Opfergabe an das Schicksal zu interpretieren. Kurzum: Esoterik heißt »ständig sein eigenes Leben und Erleben, sein Verhalten zu ändern, immer anders zu werden« (ebd.: 23) – wie es das Schicksal verlangt. Der einsame Gottesdienst seiner selbst ist in Wirklichkeit einer der absoluten Schicksalsgefälligkeit. Wie gestaltet sich nun die Erhebung des alltäglichen Lebens zum Ritual konkret? Einen Einblick bieten die von Claudia Barth (2012) durchgeführten Fallstudien, in denen sichtbar wird, dass diese Erhebung als ein Interpretationsritual des alltäglichen Lebens praktiziert wird. Die Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos wird einmal dadurch hergestellt, dass Esoteriker alles, was ihnen widerfährt, als schicksalsgemäß anzunehmen versuchen. Sollte zunächst noch etwas in ihnen dieser Affirmation widerstreben, dann gilt es, dieses Widerstreben als Regung des Egos zu bekämpfen oder eine Deutung der Schicksalsbegebenheit zu entwickeln, die ihr einen guten Sinn verleiht. Eine Esoterikerin legt mit Verweis auf die Familienaufstellung nach Bert Hellinger dar, dass eigene Opfererfahrungen als selbstgewählte angenommen werden müssen, um die Opferrolle zu überwinden (vgl. ebd.: 131f.). Dem Schicksal werden auch Erwartungen und Wünsche als Opfer dargebracht. Eine andere Esoterikerin berichtet Barth davon, dass sie ihr Leiden an unbefriedigten Bedürfnissen nach Zärtlichkeit und körperlicher Nähe überwunden hat, indem sie sich einfach nicht mehr wünscht, in den Arm genommen zu werden (vgl. ebd.: 159). Weil sie nach der Überwindung der in ihren Erwartungen bestehenden Unfreiheit nicht mehr enttäuscht werden könne, ärgere sie sich auch nicht mehr. Diese Befreiung gehört zu ihrem größeren esoterischen Selbstbefreiungsprogramm, das in der Kulti-

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vierung einer allgemeinen Passivität besteht. Sie versucht sich vertrauend dem Weltlauf hinzugeben, weil sie glaubt, dass dann die Dinge sich von alleine verbessern würden (vgl. Dethlefsen 1998: 157). Ihre Zukunftsangst will sie dadurch bewältigen, dass sie sich keine Pläne mehr macht und versucht, ganz im Moment zu leben (vgl. ebd.: 164). Das Ideal der absoluten Gegenwärtigkeit umfasst in der Esoterik ebenfalls das Bestreben, sich vom Ballast des Vergangenen zu befreien. Laut Heelas (1996: 20) gehört es zur Befreiung des Egos, dass die Vergangenheit, »for the ego is constructed from the time of birth (if not from previous lives), loses its hold – thereby enabling a new future«. Ein Interviewpartner Barths (vgl. 2012: 243) gibt als sein Ziel an, alles gleichmütig und offen zu erleben, die Erfahrungen durch sich hindurch ziehen zu lassen und nichts anzusammeln, weil das ihn daran hindern könnte, das Neue ganz anzunehmen. Keine Vergangenheit, keine Zukunft – ganz im Jetzt, in der Schicksalszeit sein, auf dass man gar nicht mehr merkt, dass das Immerneue das Immergleiche ist. In den letzten Jahren hat sich dieses Ideal im Zuge des Achtsamkeitstrends verselbständigt und eine enorme Popularität erlangt (vgl. Barth 2016: 911). In diesen Ritualen lernen die Esoteriker, was das Schicksal von ihnen verlangt: niemand zu sein. Das ist keine ideologiekritische Zuspitzung, sondern wurde in der Zeitschrift Esotera selbstbewusst als Losung ausgegeben (vgl. Jung 2002: 111). Überhaupt stellt sich die Frage, ob die mühselige Häutung der esoterischen Ideologie nicht müßig ist, wenn Bhagwan Shree Rajneesh, der Führer der Kommunen von Poona und Oregon, die Wahrheit des Selbst in wenigen Worten offenbart: Dass es die Zwiebel ohne Häute ist (vgl. Karow 1990: 10, 293). Die esoterische Erhebung des alltäglichen Lebens zum Ritual bedeutet, diese Häute zum Schicksalsaltar zu tragen. Alles, was in irgendeiner Weise den Forderungen des Schicksals widerstreben könnte, wird diesem geopfert. Im Gegensatz zu Heelas, der das wahre Selbst als ein Positivum behandelt, hat Bhagwan dessen Negativität gesehen. Heelas (1996: 2) begreift nicht, dass von der Protestation gegen den »contaminated mode of being«, von dem anti-autoritären Gebaren genau so viel übrig bleibt wie von Bhagwans Zwiebel. Er akzeptiert die Selbstinszenierung der Selbstsucher, die in Wirklichkeit ihren Konflikt mit der Gesellschaft dadurch zu lösen versuchen, dass sie sich dem Gesellschaftsschicksal mit Haut und Haaren ausliefern. Die Wahrheit des Selbst erschließt sich offenbar nicht allen derart intuitiv, dass die Kritik der esoterischen Ideologie überflüssig würde. Trotz seines unkritischen Verhältnisses zum Gegenstand sieht Heelas immerhin, dass das Ziel der Self-spirituality nicht erreicht werden

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kann (vgl. Heelas 1996: 206, 214). Allenfalls existieren kurze Momente der Gleichgültigkeit oder Ekstase, in denen Esoteriker glauben, die Einheit mit dem Schicksal hergestellt zu haben. Jenseits dieser Momente, in ihrem zum Ritual erhobenen Alltag, werden sie beständig damit konfrontiert, dass sie sich, so sehr sie sich auch bemühen, nicht mit allem abzufinden vermögen, was das Schicksal ihnen zumutet. Mag sich das vom esoterischen Opiat berauschte Bewusstsein noch so sehr an die Zumutungen der auf Herrschaft gegründeten Gesellschaft anschmiegen, werden sich der quälbare Leib und die egoistischen Triebe dem Schicksal weniger bereitwillig ergeben. Der Widerspruch zwischen dem Verlangen des Schicksals, niemand, und dem Unglück der esoterischen Spirituellen jemand zu sein – bestimmt durch die Gesellschaft, die Geschichte, den Leib, Bedürfnisse und Wünsche – bleibt nicht latent. Seine Manifestationen in der esoterischen Ideologie erinnern an die von der Psychoanalyse entdeckten Kompromissbildungen, auf die sich das Ich einlässt, um sowohl den Forderungen der versagenden Autorität wie den abgewehrten Triebregungen gerecht zu werden. Besonders anschaulich wird dies an einer Auffassung des Wunsches, die auf den ersten Blick im Widerspruch zur Schicksalsforderung steht, sich aller Wünsche zu entledigen. Sie wird in einer Reihe von Büchern vertreten, in denen die Leserschaft dazu ermuntert wird, die eigenen Wünsche an das Universum wie Bestellungen bei einem Versandhaus aufzugeben. Offenbar wünschen sich viele derartige Gebrauchsanweisungen fürs Wünschen: Das Buch Bestellungen beim Universum (Mohr 2016) liegt seit seiner Erstveröffentlichung 1998 inzwischen in der 48. Auflage vor und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Als mir 2017 beim Besuch eines esoterischen Stammtisches einige Teilnehmer die Bestell- und Lieferkonditionen erläuterten und von ihren Erfahrungen berichteten, gewann ich den Eindruck, dass in diesem Verhältnis keineswegs der Kunde König ist. Der Wunsch wird nämlich nur dann erfüllt, wenn er vom Schicksal genehmigt ist, in Übereinstimmung mit dem Seelenplan steht. Wünsche, die dagegen vom Ego herrühren, werden nicht erfüllt oder ziehen Strafen nach sich. Nirgendwo offenbart sich die Macht des Schicksals mehr als hier, wo der Anschein erweckt wird, als wollte man ihr trotzen. Das Schicksal, das hier den Wunsch ereilt, demonstriert mit aller Gewalt, dass man ihm in der esoterischen Ideologie nicht entkommen kann.

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Personenverzeichnis

Herausgeberin und Herausgeber Beyer, Heiko: Dr. disc. pol., Professor für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der HHU Düsseldorf. Forschungsgebiete: Politische Soziologie, Religionssoziologie, Geschichte der Soziologie. Neuere Veröffentlichungen: Amerika – Europa. Transatlantizismus als Erkenntnisstrategie, Berlin 2020 (mit M. Krauß). Examining Discrimination in Everyday Life: A Stated Choice Experiment on Racism in the Sharing Economy, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, 2020 (mit U. Liebe). Religious Freedom and Equality Rights, and their Contentious Implementation, in: Religion, Migration, and Existential Wellbeing (hrsg. von M. Kindström Dahlin, O. L. Larsson, A. Winell), London 2020 (mit A. Schnabel & K. Behrens) Schauer, Alexandra: Dr. phil., Gastprofessorin für Kritische Gesellschaftstheorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie, Sozialpsychologie und Subjekttheorie, Theorien der Moderne und Spätmoderne, Soziologie und Nationalsozialismus, Veröffentlichungen: »…daß die offizielle Soziologie versagt hat«. Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS, 2., überarbeitete und ergänzte Auflage, Wiesbaden 2015 (mit Silke van Dyk).

Autorinnen und Autoren Demirović, Alex: Apl. Prof. Dr. an der Goethe Universität Frankfurt. Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Gastwissenschaftler am Center for Humanities and Social Change der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kritische Gesellschaftstheorie, Demokratietheorie. Veröffentlichungen: Emanzipation. Zur Geschichte und Aktualität eines politischen Begriffs, Münster 2019 (als Hrsg., mit S. Lettow und A. Maihofer. Handbuch Kritische Theorie, Wiesbaden 2019 (als Hrsg., mit U. Bittlingmayer und T. Freytag).

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PERSONENVERZEICHNIS

Gränitz, Saskia: M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Soziologie, LMU München. Forschungsgebiete: Politische Soziologie sozialer Ungleichheit, psychoanalytische Sozialpsychologie, Kapitalismusanalyse. Veröffentlichungen: Grauzonen der Wohnungsnot – Empirische Impulse zur Typologisierung entsicherter Wohnverhältnisse. In: Figurationen der Wohnungsnot (hrsg. von F. Sowa). Weinheim i. E. Hidalgo, Oliver: Prof. Dr. phil., außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg und Akad. Oberrat a. Z. am Institut für Politikwissenschaft, WWU Münster. Forschungsgebiete: Politische Theorie und Ideengeschichte, Demokratietheorie, Politik und Religion. Neuere Veröffentlichungen: Politische Theologie. Beiträge zum untrennbaren Zusammenhang zwischen Religion und Politik. Wiesbaden 2018; Rechtspopulismus und Religion (mit Alexander Yendell und Philipp Hildmann). Sonderheft der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik (ZRGP) 2/2 (2018); Flucht und Migration in Europa. Neue Herausforderungen für Parteien, Kirchen und Religionsgemeinschaften (mit Gert Pickel). Wiesbaden 2019. Jost, John T.: Ph.D., Professor an der New York University. Forschungsgebiete: Social, Personality, Political Psychology, Social Justice, Ideology. Veröffentlichungen: A Theory of System Justification. Harvard University Press, 2020. Social and Psychological Bases of Ideology and System Justification. Oxford University Press, 2009 (mit A. Kay und H. Thorisdottir). The Psychology of Legitimacy. Cambridge University Press, 2001 (mit B. Major). Knappertsbusch, Felix: Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fakultät für Geistesund Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg. Forschungsgebiete: Methoden und Methodologie empirischer Sozialforschung, Vorurteils- und Diskriminierungsforschung, Kritische Theorie und Soziologie der Kritik. Veröffentlichungen: »Fractal Heuristics« for Mixed Methods Research, in: Journal of Mixed Methods Research, 2019; Ökologische Validität durch Mixed-Methods-Designs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2017; Antiamerikanismus in Deutschland, Bielefeld, 2016. Kusche, Isabel: Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Forschungsgebiete: Politische Soziologie, Soziologie digitaler Medien, Soziologische Theorie. Veröffentlichungen: The Old in the New: Voter Surveillance in Political Clientelism and Datafied Campaigning. Big Data & Society, 2020; What Difference Does it Make? Gendered Campaigning in the Irish General Election 2016. Politics & Gender, 2019 (FirstView). Politischer Klientelismus: Informelle Macht in Griechenland und Irland. Frankfurt/New York, 2016. Marz, Ulrike: Dr. rer. pol., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock. Forschungsgebiete: Kritische Theorie, Theorien und Entwicklungen des Antisemitismus, Rassismus und Autoritarismus.

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Veröffentlichungen: Kritik des islamischen Antisemitismus. Zur gesellschaftlichen Genese und Semantik des Antisemitismus in der Islamischen Republik Iran. Münster 2014; Kritik des Rassismus. Eine Einführung. Stuttgart 2020. Pflücke, Virginia Kimey: Dr. rer. pol., akademische Mitarbeiterin an der Wirtschaftsund Arbeitssoziologie der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Forschungsgebiete: Kritik der Arbeits- und Geschlechterverhältnisse, Methoden der qualitativen Sozialforschung, der postindustrielle Strukturwandel und seine sozialen Folgen. Veröffentlichungen: Wenn Hausarbeit bezahlt wird: Der Wandel der Arbeitsbeziehung im Privathaushalt in Spanien und Uruguay. Dissertationsschrift. Frankfurt a.M. 2018; Work in Progress? In: Feministisch streiten (Hrsg. Koschka Linkerhand). Berlin 2020 (mit Anna Kow). Rensmann, Lars: Dr. phil., Professor für Europäische Politik und Gesellschaft und Direktor des Research Centre for the Study of Democratic Cultures and Politics an der Rijksuniversiteit Groningen (Niederlande). Forschungsgebiete: Europäische Politik im globalen Vergleich; Demokratieforschung und Demokratiekrisen im digitalen Zeitalter; rechtspopulistische Parteien, Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Europa; globale politische Theorie und Ideengeschichte; Politik und Sport. Veröffentlichung zum Thema u.a.: The Politics of Unreason: The Frankfurt School and the Origins of Modern Antisemitism (Albany, NY: SUNY Press, 2017). Schmidt, Christian: Dr. phil., Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftlicher Referent am Humanities and Social Change Center Berlin. Forschungsgebiete: Sozial-, Geschichts- und Rechtsphilosophie. Veröffentlichungen: Karl Marx – Zur Einführung. Hamburg 2018; Politik der subjektiven Rechte, Rechtsphilosophie – Zeitschrift für die Grundlagen des Rechts 3, 2017 (als Herausgeber mit B. Zabel); Können wir der Geschichte entkommen? (als Hrsg.). Frankfurt/M. und New York 2013. Schnabel, Annette: Professorin für Soziologie und Soziologische Theorien der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: religiöse und nationale Identitäten, Wohlfahrtsstaatsforschung, Geschlechterforschung und soziale Bewegungen. Ausgewählte aktuelle Veröffentlichungen: Sich sorgen – Eine Skizze zur Theorie der Rationalität von Sorge. In Henkel, A., Karle, I., Lindemann, G., Werner, M. (Hg.): Sorget nicht – Kritik der Sorge: Dimensionen der Sorge (Vol. 2). Baden-Baden: Nomos Verlag, 2019, S. 99–117; Religion im Kontext/Religion in Context – Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden: Nomos 2018 (zusammen mit M. Reddig & H. Winkel); Theorien sozialer Bewegungen, Frankfurt, New York: Campus-Verlag 2017 (zusammen mit H. Beyer). Seeburger, Jérôme: Diplomsoziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Merseburg. Forschungsgebiete: Kritische Theorie, Psychoanalyse, Antisemitismusforschung, Religionssoziologie, Zensurforschung. Der vorliegende Beitrag ist ein Resultat des laufenden Dissertationsprojekts »Das Schicksal des Selbst. Studien

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PERSONENVERZEICHNIS

zum autoritären Charakter der Esoterik«; gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, der Stiftung für Psychotherapie und Psychoanalyse und der Stiftung Zeitlehren. Stögner, Karin: Dr. habil., Professorin für Soziologie an der Universität Passau. Forschungsgebiete: Antisemitismus-, Sexismus- und Nationalismusforschung; feministische und kritische Theorie. Veröffentlichungen: Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen. Baden-Baden 2004; Sozialwissenschaftliche Denkweisen. Eine Einführung (mit Friedhelm Kröll). Wien 2015; Handbook of Prejudice, Amherst 2009 (mit Anton Pelinka und Karin Bischof.). Tibi, Bassam: Emerit Prof., Uni Göttingen und Cornell University, Ithaca/New York und zuvor The Bosch Fellow of Harvard mit dem Status Research Professor. Forschungsgebiet: Begründer der Islamologie als historisch-sozialwissenschaftliche Erforschung der islamischen Zivilisation, ihrer Krisen und Konflikte. Menschenrechte, »Cultural Change in Transition«, Antisemitismus und Islamismus. Veröffentlichungen: Der wahre Imam. Der Islam vom Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996. Islam‘s Predicament with Modernity. Religious Reform and Cultural Change, London 2009. Weyand, Jan: Dr. phil., derzeit Vertretung der Professur für Arbeits- und Organisationssoziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsgebiete: Wissenssoziologie, Soziologische Theorie, Soziologie kollektiver Stereotypen. Veröffentlichungen: Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Göttingen 2016; Ernst Cassirer’s Cultural Theory – Culture as symbolical Practice, in: Jovanović, Ratner, Allolio-Näcke (Hg.): Challenges of Cultural Psychology. Reviving Historical Legacy, Engaging for Future Responsibility. London & New York 2018; Der Aufstieg des Nationalismus und die Theorie des autoritären Charakters, in: Henkelmann, Katrin u.a.: Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters, Berlin 2020. Zwarg, Robert: Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der International Psychoanalytic University Berlin. Forschungsgebiete: Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, insb. Kritische Theorie, Psychoanalyse. Veröffentlichungen: Kritische Theorie in Amerika. Das Nachleben einer Tradition. Göttingen 2017; Destruktive Charaktere. Hipster und andere Krisenphänomene, Mainz 2017 (mit Chris W. Wilpert).